Verfassungsrechtliche Argumentation - zwischen dem Optimismus und der Skepsis [1 ed.] 9783428525133, 9783428125135

Die Beschäftigung der Verfassungsrechtler mit den Besonderheiten der verfassungsrechtlichen Argumentation konzentriert s

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Verfassungsrechtliche Argumentation - zwischen dem Optimismus und der Skepsis [1 ed.]
 9783428525133, 9783428125135

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 233

Verfassungsrechtliche Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis Von Pavel Holländer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PAVEL HOLLÄNDER

Verfassungsrechtliche Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis

Schriften zur Rechtstheorie Heft 233

Verfassungsrechtliche Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis Von Pavel Holländer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12513-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Judith

Vorwort Wenn das 19. Jh., selbstverständlich mit bestimmter Übertreibung, im kontinentalen Europa die Ära des Privatrechts darstellt, so kann die zweite Hälfte des 20. Jh. als Ära des öffentlichen Rechts, genauer gesagt des Verfassungsrechts, bezeichnet werden. Die Akzeptanz der unmittelbaren Bindung der Grundrechtskataloge und die Durchsetzung der Verfassungsgerichtsbarkeit brachte auch für die juristische Argumentation eine neue Herausforderung mit sich. Diese Herausforderung stellt aber ein fundamentales Paradox dar, ein Paradox, das auf der einen Seite auf der Spannung zwischen dem Charakter der Verfassung mit ihrer typischen Allgemeinheit und Unvollständigkeit sowie dem Umstand, daß insbesondere der die Grundrechte und Freiheiten verankernde Teil nur Prinzipien, aber keine Normen enthält, beruht, und auf der anderen Seite dem Paradigma der direkten Anwendbarkeit der Verfassung, die allerdings die Existenz einer anwendungsfähigen Norm voraussetzt. Die Erwägungen der Verfassungsrechtler über die Besonderheiten der verfassungsrechtlichen Argumentation konzentrieren sich auf die grundlegende methodologische Frage, auf die „Rekonstruktion“ des Zwecks des anzuwendenden Verfassungsprinzips und auf die Methodologie der Konkretisierung dieses Verfassungsprinzips. Daran schließt sich eine Reihe weiterer Fragen an: Welche Rolle spielt das Vorverständnis der Interpreten bei der Anwendung der Verfassung? Gibt es nur eine universelle Struktur oder eine eventuelle Variabilität der Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes? Zu welchen Folgen führt die Spannung zwischen Kognitivismus und Dezisionismus bei der Anwendung der Verfassung? Hat die inhaltliche hierarchische Struktur der Verfassung, also der Schutz des Verfassungskerns, auch bestimmte Folgen für die Interpretation der Verfassung? Spielt die verfassungsrechtliche Argumentation auch bei der Bewältigung der Externalitäten, also der ungünstigen Begleiterscheinungen des Rechtsstaats, wie etwa die Überlastung der Verfassungsgerichte einerseits und deren Aktivismus andererseits, eine bestimmte Rolle? Einen Rahmenkonsens über die Methoden der verfassungsrechtlichen Argumentation halte ich für eine der Bedingungen des rationalen juristischen Diskurses bei der Anwendung der Verfassung. Der Zweck des Konsenses liegt nicht in der inhaltlichen Übereinstimmung, er dient vielmehr der Klarheit und der Überzeugungskraft der Argumentation und zwingt die Diskursteilnehmer, auf ein Argument mit angemessenen Gegenargumenten zu reagieren.

8

Vorwort

Die vorliegenden Erwägungen spiegeln das bisherige, vierzehn Jahre dauernde Wirken des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik wider, beinhalten, mit aller Zurückhaltung, die Bemühung, meine subjektive Reflexion dieser Zeitperiode und zugleich eventuelle Antworten auf die aufgeworfenen Fragen anzubieten. Der Humboldt-Stiftung gebührt mein besonderer Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Den Kollegen Prof. Dr. Jan-Reinard Sieckmann, Anja Hippe und Martin Ondrejka danke ich herzlichst für die kritische Prüfung meines Manuskriptes. Brno, im Januar 2007

Pavel Holländer

Inhaltsverzeichnis A. Verfassungsrechtliche Auslegung: Methodologisches Kopfzerbrechen . . . .

13

I.

Böckenfördes Paradox: Ausgangspunkt einer strukturellen Überlegung . .

13

II.

Der Sinn der Auslegung – Entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung der Methode im Bezug zum Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1. Der Sinn der Auslegung im einfachen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2. Der Sinn der Auslegung im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

a) Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts im Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

b) Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts im Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

3. Abhängigkeit des Maßes der Bedeutung des Vorverständnisses beim Interpreten von der Abstraktion des Auslegungsgegenstandes . . . . . . .

30

B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Variabilität seiner Struktur? . . . . . . .

32

I.

Genese des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht . .

32

1. Von Forsthoff bis Böckenförde: Identität oder Unterschiedlichkeit der Verfassung und des Gesetzes als Interpretationsgegenstand? . . . .

32

2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Ergebnis judiziellen Bestrebens bei der Verfassungsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – doktrinäre Bildung . . . . . . . . . . . . . .

37

1. Dworkins Theorie von Grundsätzen als naturrechtliche Kritik des hartschen Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2. Alexys Verbindung zwischen der Prinzipientheorie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Aufnahme kollektiver Güter in den Bereich von abwägungstauglichen Rechtsgrundsätzen – Optimierungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht? . . . . . . . . . . . . . . .

42

1. Kann das Verfassungsgericht Prozentsätze überprüfen? . . . . . . . . . . . .

42

2. Europäische Umschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

3. Problem des Funktionierens einer Theorie: Führt eine Ausnahme zur Modifikation der Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II.

I.

Fünfzehn Jahre der Anwendung der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II.

Unterschiede in der Anwendung der Charta und des einfachen Rechts – ein Blick prima facie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

10

Inhaltsverzeichnis III. Dezisionistische Revolte und die einander durchdringenden Wellen beider Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Anwendung von Verfassungskatalogen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kognitivistische und dezisionistische Versuche des Verfassungsgerichtes VI. Zusammenfassung bzw. Rückkehr zum Applikationsmodell der Charta . . 1. Kognitivistische und dezisionistische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf dem Wege zum Modell unvollständiger Kognition . . . . . . . . . . . . .

D. Der materielle Verfassungskern und der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsgesetz Nr. 69/1998 des Gesetzblattes über die Verkürzung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses: Postulieren der Frage zum Umfang des Ermessensspielraumes des Verfassungsgebers bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Imperativ der Unabänderlichkeit und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weyrs Argument per petitionem principii und Art. 9 Abs. 2 der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ermessensspielraum des Verfassungsgebers, „konstruktive Metaphysik“ und gerichtliche Überprüfung „des einfachen Verfassungsrechtes“ . . . . . E. Der Richter von heute: Eine Barriere der postmodernen Dekonstruktion oder eine industrielle Entscheidungsfabrik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Merkmale zusammenbrechender Paradigmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsparadigmen der industriellen Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Externalitäten und deren Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lösung von Externalitäten im Rechtsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Klassisches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Modernes Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Argumentation durch Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit als Rückkehr zur einleitenden Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenbruch des „Richterstaats“: Count-down läuft? . . . . . . . . . . . . . . . I. Epoche starker oder schwacher Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Albert Camus: „Eine Sache falsch zu benennen heißt das Unglück der Welt zu vermehren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Richterstaat“: Gerichte als Garantie ultima ratio des Rechtsstaates . . a) Rückgang der Einflüsse nichtrechtlicher Normativsysteme . . . . . . b) Hypertrophie des geschriebenen Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Theoretische und empirische Auswirkungen der Idee eines Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

11

2. Externalitäten bzw. ungünstige Begleiterscheinungen der Expansion richterlichen Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Gerichtlicher Aktivismus versus Selbstbegrenzung der Gerichte . . . . . 126 III. Schlußfolgerungen bzw. empirische sowie theoretische Projektionen . . . . 130 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

A. Verfassungsrechtliche Auslegung: Methodologisches Kopfzerbrechen I. Böckenfördes Paradox: Ausgangspunkt einer strukturellen Überlegung Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde enthält die Verfassung „neben den vergleichsweise detaillierten Regelungen im Kompetenzbereich und bei einigen Organisationsfragen – im wesentlichen Prinzipien, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein; Zielbestimmungen, die nur das – zuweilen in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität der Verwirklichung offen lassen; Lapidarformen, die – oft aus der Verfassungstradition überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind.“1 Böckenfördes Paradox beruht auf der Spannung zwischen dem Charakter der Verfassung auf der einen Seite mit ihrer typischen Allgemeinheit und Unvollständigkeit sowie dem Umstand, daß insbesondere der die Grundrechte und Freiheiten verankernde Teil nur Prinzipien, aber keine Normen2 enthält, und auf der anderen Seite dem Paradigma der direkten Anwendbarkeit der Verfassung, die allerdings die Existenz einer anwendungsfähigen Norm voraussetzt. Für die weiteren Überlegungen sei von folgenden Thesen ausgegangen: Die erste ist die These, nach der die Auslegung als Bestandteil der juristischen Argumentation im Prozeß der Rechtsanwendung anzusehen ist, was insbesondere für richterliche Argumentationen gilt. Dworkins Richter „Herkules“, im Unterschied zu den Prozeßparteien, deren Interesse an einem partikularen Zweck orientiert ist, artikuliert in seiner Suche nach dem Sinn und der Bedeutung des Gegenstands seiner Interpretation ganz allgemeine Gesichtspunkte. Die Auslegung als eine Komponente der richterlichen Argumentation werden wir dabei nicht nur im Blickfeld eines Außenbetrachters untersuchen (z. B. durch mögliche Gesichtspunkte eines Rechtswissenschaftlers), sondern insbe1 E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik. (1975); wiederabgedruckt: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1991, S. 58. 2 Zum Unterschied zwischen dem Rechtsprinzip und der Rechtsnorm siehe P. Holländer, Abriß einer Rechtsphilosophie. Strukturelle Überlegungen. Berlin 2003, S. 46 ff.

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

sondere vom Blickwinkel eines Teilnehmers dieses gedanklichen und entscheidungsorientierten Prozesses, d.h. vom Gesichtspunkt eines Richters aus. Die Schlussfolgerungen einer solchen Überlegung werden dann notwendigerweise sowohl deskriptiver als auch präskriptiver Art sein. Die Durchsetzung der These der direkten rechtlichen Verbindlichkeit verfassungsrechtlicher Normen ist im europäischen Denken mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. J. Prazˇ ák, die führende Persönlichkeit der damaligen tschechischen Verfassungslehre, stellt gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest, daß Bestimmungen über Grundrechte und Freiheiten aufgrund unrichtiger theoretischer Konstruktionen3 in Verfassungsurkunden erscheinen. Noch 1937 vertritt F. Weyr, der Kopf der „Brünner Schule“, in der europäischen „Fehde“ zwischen der deutschen und der französischen Theorie des Verfassungsrechts hinsichtlich der unmittelbaren Verbindlichkeit einzelner Bestimmungen der Verfassung die Ansicht, nach der „vom juristischen Gesichtspunkt . . . entschieden den deutschen Theorien der Vorrang gehört“, in denen „die entsprechenden Verfassungsbestimmungen über Bürgerrechte und Freiheiten und deren Garantien größtenteils lediglich für akademische Grundsätze, für ,Monologe des Gesetzgebers‘ gehalten werden, die in der Praxis keine Bedeutung für die Frage besitzen, welche Normen für Gerichte und Verwaltungsbehörden verbindlich sind“4. Weyrs Verständnis verfassungsrechtlich verankerter Rechte und Freiheiten korrespondiert nicht nur mit Ansichten der damaligen deutschen Verfassungslehre, sondern auch mit der positivrechtlichen Gestaltung in der Verfassung der Weimarer Republik, „wo viele Grundrechte als bloße Programmsätze eingestuft wurden, deren Verletzung daher gerichtlich nicht geltend gemacht werden konnte. Gerade letzteres ist für die praktische Wirksamkeit der Grundrechte entscheidend.“5 Im Zuge der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die französische (und zweifelsohne auch die amerikanische) Konzeption der unmittelbaren Verbindlichkeit der Verfassungsregelungen von Grundrechten und Freiheiten für die Gerichte und Verwaltungsbehörden konsequent durchsetzen. Jeder Zweifel in dieser Richtung wird beseitigt, Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes hält fest: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Das Grundgesetz schuf weiter die Institution des Bundesverfassungsgerichts, das mit der Einführung des Instituts der Verfassungsbeschwerde die Prüfungskompetenz auch in bezug 3 J. Praz ˇ ák, Rakouské právo ústavní. III. (Österreichisches Verfassungsrecht), 2. Aufl., Praha 1900, S. 48. 4 F. Weyr, C ˇ eskoslovenské ústavní právo (Das Tschechoslowakische Verfassungsrecht), Praha 1937, S. 248. 5 H. D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz für die BRD. Kommentar. 5. Aufl., München 2000, Art. 1, Rn. 18.

I. Böckenfördes Paradox

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auf die Entscheidungen von anderen Gerichten erhielt. Infolgedessen wurde der Verfassungskatalog von Grundrechten und Freiheiten von natürlichen und juristischen Personen zum unmittelbar anwendbaren und vor allem auch wirksamen Recht. Die Folgen der Übernahme der theoretischen Konzeption der direkten Verbindlichkeit der Grundrechte im Wortlaut des Grundgesetzes 1949 wurden im demokratischen europäischen Umfeld durch die Aufnahme des Europäischen Menschenrechtskatalogs vom Jahre 1950 und die Errichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch potenziert. Diese Verbindlichkeit wurde dann im Rahmen der Signatarländer zur Grundlage der direkten Anwendbarkeit des Katalogs der Menschenrechte und seiner gerichtlichen Vollstreckbarkeit. Die direkte Verbindlichkeit einer demokratischen Verfassung wurde somit in der vorangegangenen Jahrhunderthälfte zum unbezweifelten Kulturphänomen, das, ohne jede Übertreibung, die Humanisierung und Kultivierung des europäischen rechtlichen Milieus außerordentlich beeinflusst hat. Die Doktrin der direkten Verbindlichkeit der Verfassung konnte dabei durch die Durchsetzung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Verfassungssystemen demokratischer Länder, bzw. durch die Bildung einer speziellen gerichtlichen Institution mit der Kompetenz zur Verfassungsanwendung, noch an Bedeutung gewinnen. Das Phänomen der unmittelbaren Verbindlichkeit der Verfassung, das mit der Verfassungsgerichtsbarkeit institutionell verbunden ist, ist also in den Überlegungen zur Auslegung des Verfassungsrechts im Sinne eines paradigmatischen Ausgangspunkts zugrundezulegen. Die zweite Komponente des Paradoxes von Böckenförde ist der spezielle Charakter bedeutsamer Teile der Verfassung (die verfassungsmäßige Regelung einiger Fragen der Organisation der staatlichen Gewalt und einige Kompetenzund Prozeßfragen ausgenommen), deren Bestimmungen den Charakter von Prinzipien tragen, nicht den von Normen, und daher im einfachen Recht nicht analog anwendbar sind. Als die ersten Verfassungen der Geschichte im modernen Sinne des Wortes werden die Charten amerikanischer Siedlungen angesehen, die von den Einwohnern niedergeschrieben, ursprünglich vom englischen König bestätigt und später, nach der Unabhängigkeitserklärung der USA, als Verfassung eines Mitgliedstaats der amerikanischen Union bestätigt wurden. Zu den ersten dieser Charten zählen die Fundamental Orders of Connecticut vom Jahre 1639 (von Puritanern, die aus Massachusetts ausgezogen sind), die Grundlage der von Karl II. erteilten Charta wurden und nach Bestätigung im Jahre 1776 bis 1818 als die Verfassung von Connecticut galten. Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Rhode Island statt, das von Karl II. eine Charta auf der Grundlage von Siedlerverträgen erlangte, die als Verfassung bis 1848 in Kraft war. Zur Zeit des Ausbruchs der Unabhängigkeitsbewegung hatten bereits alle 13 amerikanischen Siedlungen

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

solche Charten. Nach 1776 verabschiedeten die neuen Staaten ihre Verfassungen bereits in ihren gesetzgebenden Versammlungen: „In diesen ersten Verfassungsurkunden von der ersten Epoche der amerikanischen Unabhängigkeit sind die ältesten Vorbilder der europäischen Konstitutionen zu suchen, da sie in größerem Maße, als man bis in die neueste Zeit wußte, auf die französische Verfassungsgesetzgebung von 1789–1791 eingewirkt haben. Diese Urkunden pflegen in der Regel aus zwei Hauptteilen zu bestehen. Sie sind meistens eingeleitet durch eine Bill oder Declaration of Rights, die . . . einen kurzgefaßten Kodex der gesamten öffentlichen Rechte des einzelnen in sich einschließen. Daran reiht sich ein Plan oder Frame of Government, die Bestimmungen über die obersten Organe des Staates und deren Funktionen.“6 Es sei hinzugefügt, daß die Idee eines solchen Grundgerüsts, das die Struktur der Verfassung bildet, bis in die heutigen Tage überleben konnte. Das abstrakte Wesen von Verfassungen sowie der Umstand, das deren Inhalt größtenteils in entscheidendem Maße aus Prinzipien, nicht Normen besteht, ist für die weiteren Überlegungen zur Auslegung des Verfassungsrechts auf der Ebene eines politisch-rechtlichen Paradigmas der heutigen demokratischen Welt festzuhalten. Eine demokratische Verfassung, die eine Fiktion des Gesellschaftsvertrages ist, drückt in der allgemeinsten Form einen Rahmen der menschlichen Freiheit aus, der mit der Freiheit der anderen vereinbar ist, ein System konstitutiver Werte, und endlich eine Struktur von Grundinstitutionen der öffentlichen Gewalt und des Prozesses, durch den sie Legitimität erlangen. Zweck dieser Institutionen ist es, den Verfassungsrahmen der Freiheit, den internen Frieden sowie sonstige von der Verfassung vorausgesehene öffentliche Formen des Guten zu garantieren. Vom regulativen Blickwinkel aus enthält eine moderne Verfassung, auch wenn dies ihr kleinerer Teil sein mag, Torsen von Normen, insbesondere im prozeßorientierten und institutionellen Bereich. Das heißt, sie enthält in der Regel keine Normen, wie wir sie von der Ebene des einfachen Rechts kennen und verstehen – des Öfteren finden wir in der Verfassung keine Abgrenzung der Subjekte, keine Definition der wesentlichen Merkmale von Tatbeständen, keine Sanktionen etc. Größtenteils enthält also die Verfassung Prinzipien, insbesondere bezüglich des Katalogs der Grundrechte und Freiheiten, wobei das Definitionsmerkmal der Prinzipien deren Zweck- und Wertgebundenheit darstellt. Angesichts ihres Maßes an Allgemeinheit sind die Prinzipien jedoch nicht ohne weiteres direkt anwendbar und brauchen zur Anwendung eine weitere Konkretisierung. Das Paradox von Böckenförde besteht also darin, daß nach dem Zweiten Weltkrieg – und dies ist eine äußerst positive, humanisierende und kultivierende 6

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1922, S. 518.

I. Böckenfördes Paradox

17

Erscheinung –, sich in Europa das Paradigma der unmittelbaren und direkten Verbindlichkeit des Katalogs von Grundrechten und Grundfreiheiten durchsetzte, wobei aus diesem Zusammenhang eine Spannung entsteht zwischen der mangelnden inhaltlichen Anwendbarkeit der Verfassung, soweit nicht eine weitere Konkretisierung erfolgt, und dem Paradigma ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit im ganzen gerichtlichen System sowie im System der öffentlichen Verwaltung. Eines der Grundprobleme des modernen Rechts, das Problem der Spannung zwischen dem Verbotsgrundsatz denegationis justitiae und der sich aus der Natur der Sache ergebenden Unvollständigkeit des Rechts, d.h. der Unvollständigkeit des geschriebenen Kontinentalrechtes, wird dadurch um „ein Stockwerk“ höher verschoben. Dieses Fundamentalproblem, das auf der Ebene des einfachen Rechtes präsent ist, ist also auch auf der Ebene des Verfassungsrechtes gegenwärtig. Die Diskrepanz zwischen der ohne weitere inhaltliche Konkretisierung bestehenden Unanwendbarkeit und dem Paradigma der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfassung kann theoretisch mit Hilfe von drei Verfahren gelöst werden. Das erste ist legislativ, es geht um die Prägung des Inhalts der Verfassung durch Regelungen des Gesetzgebers (z. B. die Fortbildung von prozeduralen Verfassungsmaximen durch Geschäftsordnungen der Parlamente). Das zweite Verfahren ist die ergänzende Gestaltung des Verfassungsgesetzes durch nichtgeschriebene Prinzipien, Normen und Verfassungsgewohnheiten. Die dritte Möglichkeit schließlich ist die richterliche Fortbildung der Verfassung, und dies geschieht derzeit insbesondere durch Verfassungsgerichte. Diese Modalitäten sind auch mögliche Wege zur Auflösung der Spannung zwischen der Unvollständigkeit des einfachen Rechtes und dem Verbotsgrundsatz denegationis justitiae im europäischen Kontinentalrecht. Die erste Antwort, bzw. die erste mögliche Lösung, durch welche die Praxis auf die riesige Spannung zwischen der Notwendigkeit zu entscheiden und der Unvollständigkeit des Rechtes reagiert, ist ein legislativer Optimismus, eine naive Vorstellung, nach der jedes gesellschaftliche Problem durch die Verabschiedung einer Rechtsvorschrift zu lösen sei, eine Gesetzgebungseuphorie, ein kulturelles Phänomen, dessen wir alle Zeugen sind. Ihm zugrunde liegt die Hoffnung, daß durch die Zulieferung normativer Informationen in das System menschlicher Beziehungen jedes gesellschaftliche Problem lösbar sei. Dem legislativen Optimismus, der so typisch für die Sphäre des einfachen Rechts ist, stehen auf dem Gebiet des Verfassungsrechts zwei grundlegende Barrieren entgegen. Die erste besteht in der qualifizierten Mehrheit, die zur Novellierung der Verfassung erforderlich ist, im Vergleich zu der Novellierung von Gesetzen, also dem Quorum und in der Regel einer anspruchsvolleren Prozedur. Die zweite Barriere ist ein Kulturphänomen, nämlich das Verständnis dafür, daß die Verfassung keine technische Norm darstellt, sondern die Grundwerte einer be-

18

A. Verfassungsrechtliche Auslegung

stimmten menschlichen Gemeinschaft fixiert. Allerdings ist die Kultivierung, die Akulturation durch diese Werte, mit einer gewissen Dauer verbunden (in manchen historischen Situationen sogar mit einer Krise, da die Verfassungen schlechthin in den meisten Fällen Derivate von gesellschaftlichen Krisen sind und einen Ausweg zu deren Lösung durch das Formulieren wertbezogener, institutioneller und legitimierender Grundlagen der Gesellschaft bieten). In anderen Worten: permanente Änderungen der Verfassung können lediglich zur Dekonstruktion konstitutiver Werte und Ziele und zur Verneinung des Modells und deren Akzeptanz führen. Auch das geschriebene, kodifizierte europäische Kontinentalrecht beruft sich des Öfteren – zum Zweck einer Überbrückung der Spannung zwischen der Unvollständigkeit des Rechtes und dem Grundsatz des Verbots denegationis justitiae – auf andere, nicht geschriebene Normativsysteme. Zur Illustration seien naturrechtliche Grundsätze gemäß § 7 des österreichischen ABGB oder gute Sitten nach § 3 Abs. 1, § 39 des tschechischen BGB und nach § 8 Abs. 2, § 44 Abs. 1 des tschechischen Handelsgesetzbuchs erwähnt. Ungeschriebene Normativsysteme, d.h. Gewohnheiten, nicht geschriebene Grundsätze bzw. Normen dienen zur nachträglichen Fortbildung jeder demokratischen geschriebenen Verfassung. Dies kann auf zweierlei Arten erfolgen. Entweder werden diese Gewohnheiten, Prinzipien oder Normen unter den Subjekten des Verfassungsrechts allgemein akzeptiert und es kommt nicht zu einem Streit unter ihnen über deren Existenz oder Inhalt, oder aber es entsteht eine solche Diskrepanz und dies wird gerichtlich entschieden, derzeit in der Regel durch das Verfassungsgericht. Ziel der folgenden Überlegung ist jedoch keine an Gesetzgebung oder Sitten orientierte Untersuchung, sondern die des gerichtlichen Instrumentariums zur Lösung von Böckenfördes Paradox. II. Der Sinn der Auslegung – Entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung der Methode im Bezug zum Gegenstand 1. Der Sinn der Auslegung im einfachen Recht Versuchen wir nun, die eigentliche Analyse mit Hinweis auf „die alte Erfahrung der Methodendiskussion von der wechselseitigen Abhängigkeit von Gegenstand und Methode“7 zu entwickeln. Über den Auslegungsgegenstand im Recht gibt es im Rechtsdenken einen Streit. Die Frage ist, ob dieser Gegenstand „die Norm als der Sinn eines Willensaktes ist“ und „eine konsequente positivistische Auslegungstheorie also auf die Erfassung des Inhaltes dieses Willensaktes gerichtet sein muss“, wobei „daher interpretationstheoretisch alle Mittel zulässig sind, die darauf abzielen, diesen Willen zu erfassen“8, oder aber 7

E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, Fn. 1, S. 82.

II. Der Sinn der Auslegung

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ob der Gegenstand „ein Text einer Rechtsvorschrift, die eine Verfassungsnorm, in der Regel mit recht breitem Eingriff enthält“9. Ohne uns mit diesem Problem grundlegend auseinanderzusetzen, akzeptieren wir doch die Lösung von Knapp, entsprechend der „die traditionelle Auffassung, nach der die Auslegung eine Klärung eines unklaren Wortlauts des Gesetzes ist . . . heute bereits überwunden ist. Die Auslegung ist, allgemein gesagt, das Zuordnen des Sinnes an Zeichen, d.h. in bezug auf unser Recht ist es die Zuordnung von Bedeutung an die im Gesetz verwendeten sprachlichen Ausdrücke, die Bestimmung deren Designats.“10 Sind Gegenstand der Rechtsinterpretation Komplexe von Zeichen, die eine Information über den Inhalt einer rechtlichen Regelung tragen, so ist ein Komplex im System des geschriebenen Rechts in erster Linie eine Rechtsvorschrift. Vom Wesen der Rechtsregelung her ergibt sich allerdings ein Unterschied zwischen der Systematisierung des Rechts und dem Strukturieren von Rechtsvorschriften auf der einen Seite, und der Struktur einer Rechtsnorm auf der anderen Seite. Dies ist ein Unterschied, der lediglich durch ein gewisses Auslegungsinstrumentarium, und in einer Reihe von Fällen lediglich durch kreative gedankliche Aktivität, überbrückbar ist. „Eine Rekonstruktion des im Gesetz enthaltenen Gedankens“ nach Savigny bedeutet also „eine Konstruktion“ der Rechtsnorm, deren Elemente (der Tatbestand und die normative Folge)11 regelmäßig in verschiedenen Teilen der Vorschrift bzw. in mehreren Vorschriften enthalten sind, sowie das Formulieren des Inhalts, des Sinns und der Bedeutung solcher Elemente. Zur Auslegung des einfachen Rechts (oder des „Unterverfassungsrechts“) ist es dann typisch, daß solche Elemente in der Regel explizit, mit einem größeren oder kleineren Maß an Bestimmtheit, im Sinne der Vorschrift ausgedrückt werden (im entgegengesetzten Fall sprechen wir von Rechtslücken oder leges imperfectae). Die Auslegungsmethode ist dabei nicht nur durch den Gegenstand, sondern auch seinen Sinn, seine Funktion bestimmt. Ist die Rechtsauslegung Bestandteil einer juristischen Argumentation im Prozeß der Rechtsanwendung, dann besteht dieser Sinn im Formulieren einer höheren Prämisse des Subsumtionssyllogismus (des logischen Schlusses) mit dem Zweck, die Unterordnung der Tatbestandser-

8 R. Walter/H. Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 8. Aufl., Wien 1996, S. 53. 9 J. Filip, Ústavní právo. 1. Základní pojmy a instituty. Ústavní základy C ˇ R (Verfassungsrecht. 1. Grundbegriffe und Grundinstitutionen. Verfassungsgrundlagen der Tschechischen Republik), 4. Aufl., Brno 2003, S. 305. 10 V. Knapp, Zákonodárná moc Ústavního soudu (Gesetzgeberische Gewalt des Verfassungsgerichts), Právník, Nr. 2, 1993, S. 108. 11 Zur Frage der logischen Struktur der Rechtsnorm siehe P. Holländer, Fn. 2, S. 33 ff.

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

mittlungen eines konkreten Falls und die Deduktion einer konkreten Folge zu ermöglichen. Sind einzelne Teile einer Rechtsnorm in einer Rechtsvorschrift (oder in Rechtsvorschriften) explizit ausgedrückt, so stellt die Auslegung auf der einen Seite deren Bedeutungsverbindung dar (z. B. in Form der gegenseitigen Verbindung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge, oder zwischen der Negation des in der Rechtsfolge enthaltenen Verhaltens und Sanktionen), und auf der anderen Seite eine Bestimmung des Inhalts und Umfangs der im Tatbestand und in der normativen Folge der Norm enthaltenen Ausdrücke (Begriffe) mit einem Maß an Genauigkeit, das die Subsumtion von konkreten Tatumständen und die Ableitung einer konkreten Pflicht (Berechtigung) ermöglicht. Ist ein Teil einer Rechtsnorm in der Rechtsvorschrift nicht wörtlich ausgedrückt, so handelt es sich entweder um einen Fall der Unvollständigkeit einer Rechtsregelung (um eine Gesetzeslücke, und zwar entweder eine echte oder unechte), oder um den Fall einer Rechtsnorm, die in der Rechtsordnung implizit enthalten ist und deren Inhalt von den explizit ausgedrückten Normen logisch abzuleiten ist. So kann z. B. von der explizit ausgedrückten Pflicht eines Schuldners, seine Verpflichtung zu erfüllen, die Berechtigung des Gläubigers abgeleitet werden, eine solche Handlung des Schuldners anzufordern. Das Verfahren, das zur Ausfüllung der Unvollständigkeit der rechtlichen Regelung dienen kann, wird Fortbildung des Rechts (Ausfüllung von Lücken) genannt; zu deren Methoden gehören insbesondere die Analogie, Argumente a fortiori, Argumente a minori ad maius und a maiori ad minus, Argumente aus der Natur der Sache, etc. Ein Verfahren, durch welches von einer explizit verankerten eine in der Rechtsordnung implizit enthaltene Norm abgeleitet werden kann, wird als Auslegung largo sensu bezeichnet (im Gegensatz zur Auslegung stricto sensu, die eine Auslegung von im Gesetz explizit enthaltenen Merkmalen darstellt).12 Einem derart abgegrenzten Gegenstand und Sinn der Auslegung des einfachen Rechts korrespondieren Auslegungsmethoden der Struktur, wie sie sich in Anlehnung an Savignys Paradigmen entwickelt haben. An dieser Stelle sei ein für die Charakterisierung des einfachen Rechtes als Schlüsselaspekt zu betrachtender Gedanke erwähnt, und zwar daß den Gegenstand der Auslegung Normen von klassischer Struktur bilden mit der Folge, daß an allgemein abgegrenzte Tatbestände allgemein formulierte Rechte und Pflichten anknüpfen, aber keine Zwecke, deren Erzielen die normativ bestimmten Verhaltensmuster verfolgen. 12 Zur Unterscheidung der Auslegung stricto und largo sensu siehe Z. Ziembin ´ ski, Problemy podstawowe prawoznawstwa. Warszawa 1980, S. 275–276; J. Wróblewski, Legal Reasoning in Legal Interpretation. In: J. Wróblewski, Meaning and Truth in Judicial Decision. 2. Ed., Helsinki 1983, S. 72 ff.; R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1995, S. 72 ff.

II. Der Sinn der Auslegung

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Ich abstrahiere dabei von Ausnahmen, welche die sog. teleologischen Normen darstellen. Es gibt zweierlei Zwecke der normativen Regelung: die axiologische (insbesondere bezogen auf Gerechtigkeit) und die funktionelle Gestaltung von Verhältnissen. Das Oszillieren von Teilnehmern einer methodologischen Diskussion (manchmal sogar einer Polemik) zwischen der Gebundenheit an den Wortlaut (und dem entsprechenden Vorrang einer sprachlichen Auslegung) und der Akzeptanz der Möglichkeit, unter bestimmten Umständen von der wörtlichen Fassung einer Vorschrift abzuweichen (mit der damit verbundenen Wichtigkeit insbesondere der objektiv-historischen und aktuell-teleologischen Auslegung), ist von zwei entscheidenden Momenten geprägt. Das erste ist die Ausgangskonzeption der Bestimmung der Rechtsanwendung, d.h. dessen, ob Inhalt der Anwendung lediglich eine autoritative institutionelle Geltendmachung einer im Vorhinein allgemein bestimmten normativen Regelung ist, oder ob zu deren Inhalt auch die Erwägung des Zwecks der normativen Regelung und die Finalität (die axiologische, gerechtigkeitsbezogene, sowie die der funktionalen Konsequenzen) einer Entscheidung gehört. Das zweite Moment ist die Beziehung zwischen der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt im System der Gewaltenteilung im kontinentalen Rechtssystem, ausgehend vom Grundsatz der Souveränität des Volkes und von der institutionellen Verbindung der normbildenden Kompetenz mit der Legitimität der gesetzgebenden Versammlung. Dies lässt jedoch keine richterliche Rechtsfortbildung zu, und infolgedessen auch keine Möglichkeit einer gerichtlichen Rechtsanwendung praeter oder contra legem in Fällen extremer Spannungen zwischen einer wörtlichen Fassung und dem Zweck des Gesetzes gibt. Die Argumente beider Seiten sind bekannt: auf der einen Seite die sich aus der Natur der Sache ergebende Allgemeinheit, Unbestimmtheit und Unvollständigkeit des Rechts, und der sich daraus ergebende Widerspruch zum Grundsatz des Verbots denegationis iustitiae, ferner die Frustration und Entfremdung, die infolge mechanischer Rechtsanwendung ohne Berücksichtigung des Zwecks entsteht, auf der anderen Seite die Furcht vor dem Durchbrechen der Grundprinzipien der Souveränität des Volkes, die im System indirekter Demokratie in der Souveränität des Parlaments Ausdruck findet, und ferner Befürchtungen der Willkür und Unvorsehbarkeit der richterlichen Rechtsanwendung. 2. Der Sinn der Auslegung im Verfassungsrecht Machen wir nun in unseren Überlegungen einen Schritt vom einfachen Recht zum Verfassungsrecht. Kann in seinem Fall die Identität des Gegenstands und des Auslegungssinns mit dem Gegenstand und Zweck der Deutung des einfachen Rechtes angenommen werden?

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

Forsthoffs These der Übereinstimmung des Gegenstands des Verfassungsrechts und des einfachen Rechts13 ist z. Zt. größtenteils bereits aufgegeben14 und findet nicht einmal unter Theoretikern Unterstützung, die (wie Böckenförde) gewissermaßen an seine Gedanken anknüpfen. Gegenstand der Auslegung des Verfassungsrechts sind in den entscheidenden Bereichen der Regelung von Grundrechten und Freiheiten, und zu einem bedeutenden Teil auch der Regelungen des Frame of Government, Prinzipien, jedoch nicht Normen. In diesem Zusammenhang sei in Erinnerung gerufen, daß Prinzipien, im Gegensatz zu Normen, grundlegende axiologische und funktionelle Ausgangspunkte eines normativen Systems darstellen. Sie sind mit ihm auch inhaltlich mehr verbunden, sind im normativen System am allgemeinsten formuliert und enthalten in der Regel keine für die Norm typischen strukturellen Teile (d.h. einen Tatbestand, eine relativ konkrete Verhaltensregel, sowie eine Sanktion). Beispiele für solche Auffassungen sind die Ansicht von Canaris, dem zufolge für Prinzipien eine explizite Äußerung des wertbezogenen Inhaltes typisch sei15, sowie die Ansicht von Larenz, dem zufolge Prinzipien durch ihren moralischen Inhalt und den Bezug zur Idee des Rechts charakterisiert seien16. Ferner ist, ausgehend von wesentlichen Gedanken Dworkins,17 für die Anwendung von Verfassungsnormen im Gegensatz zu den Normen des einfachen Rechtes ein unterschiedliches Vorgehen notwendig. Nach der Feststellung des Tatbestands einer solchen Norm ergibt sich entweder ein gewisses Recht oder eine Pflicht, oder aber dies ist nicht der Fall. Beim Prinzip hingegen ist seine

13 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes. In: Festschrift für C. Schmitt. Berlin 1959. S. 36; wiederabgedruckt in: E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950–1964. Stuttgart 1964; ders., Zur Problematik der Verfassungsinterpretation. Stuttgart 1961. In diesem Punkt knüpft Forsthoff an die Ideen von C. Schmitt; siehe dazu C. Schmitt, Verfassungslehre. 1928, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 14. 14 Als vereinzelte Ausnahme kann Buchwalds Ansicht aufgeführt werden, der meint, daß die besondere Vagheit, Mehrdeutigkeit und evaluative Offenheit der Verfassung im Vergleich „zur allgemeinen juristischen Interpretation“ lediglich „quantitative, nicht qualitative Unterschiede“ zur Folge hat. Nach seiner Auffassung gibt es dafür den folgenden Grund: „die Interpretation des Grundgesetzes ist zunächst Interpretation eines positiven Gesetzwerks“. Besondere Interpretationsgesichtspunkte, zu denen insbesondere die Einheit der Verfassung, die praktische Konkordanz u.dgl. zählen, hält er für einen Teil „systematischer oder historischer Auslegung“ oder „der objektiv-teleologischen Auslegung“. Siehe D. Buchwald, Die canones der Auslegung und rationale juristische Begründung. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 79, 1993, S. 28. 15 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Berlin 1969, S. 50. 16 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl., Berlin/Heidelberg/ New York 1979, S. 207, 410. 17 R. Dworkin, Taking Rights Seriously. 2. Ed., London 1978. Deutsche Ausgabe: Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt a. M. 1990, S. 54 ff.

II. Der Sinn der Auslegung

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Anwendung im Falle gewisser Umstände des Tatbestandes eine Sache der Abwägung, der Optimierung. Der Auslegungsgegenstand des Verfassungsrechts ist daher mit dem Gegenstand der Auslegung des einfachen Rechts nicht äquivalent. Der Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts als ein Teil der juristischen Argumentation im Prozeß seiner Anwendung ist vielmehr von den Grundtypen der Entscheidungen von Verfassungsgerichten (bzw. der ordentlichen Gerichte, die die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben) abzuleiten. Dies sind die Normenkontrolle und die Überprüfung von Entscheidungen der allgemeinen Justiz. a) Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts im Normenkontrollverfahren Die Normenkontrolle bedeutet die Überprüfung der Übereinstimmung einer gesetzlichen oder untergesetzlichen Norm mit der Verfassung, bei einer abstrakten Normenkontrolle ohne Rücksicht und ohne jeden Zusammenhang mit der Behandlung und Entscheidung eines konkreten Falls, bei einer konkreten unter Berücksichtigung einer solchen konkreten Rechtssache. Sie setzt also, als ihren ersten Schritt, die Auslegung des einfachen Rechts und seine „Rekonstruktion“ als Bedingung für einen Vergleich mit dem Verfassungsrecht voraus. Dem entspricht die sowohl in der Praxis als auch in der Doktrin akzeptierte Priorität einer verfassungskonformen Auslegung vor der Derogation, wobei erster Schritt der Überprüfung der Verfassungskonformität das Formulieren möglicher Auslegungsalternativen des einfachen Rechts ist. Das Verfassungsgericht Tschechiens hat in mehreren Urteilen das Prinzip der Priorität der verfassungskonformen Auslegung vor der Aufhebung eines Gesetzes bzw. einer anderen Rechtsvorschrift oder ihrer Bestimmungen ausgesprochen. Erstmals tat es dies in der Sache VerfGE, Bd. 5, Nr. 21: „In der Situation, in der eine konkrete Bestimmung einer Rechtsvorschrift zwei verschiedene Interpretationen ermöglicht, wobei eine mit dem Verfassungsgesetz und den Völkerverträgen über Grundrechte und Grundfreiheiten übereinstimmt und die zweite diesen widerspricht, ist kein Grund für die Aufhebung dieser Bestimmung gegeben. Bei der Anwendung dieser Bestimmung ist die Aufgabe der Gerichte, die betreffende Bestimmung auf verfassungskonforme Art zu interpretieren.“ In der erwähnten Angelegenheit hat das angefochtene Gesetz die Restitution vom Vermögen an Personen deutscher oder ungarischer Nationalität geregelt, denen auf der Grundlage der Dekrete des Präsidenten der Republik Nr. 12/1945 bzw. Nr. 108/1945 der Gesetzessammlung die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit genommen und das Vermögen beschlagnahmt worden war, und die nachfolgend die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit wiedererworben haben. Die Fachgerichte haben bei der Geltendmachung dieser Bestimmung bei diesen berechtigten Personen, die die Staatsbürgerschaft nie ver-

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

wirkt haben, die Restitution vom Vermögen mit dem Argument e contrario nicht anerkannt. Das Verfassungsgericht hat die verfassungskonforme Auslegung des angefochtenen Gesetzes aus dem logischen Argument a minori ad maius zugelassen: „Wird das Vermögen denjenigen zurückgegeben, die dieses gemäß dem Dekret verwirkt hatten und ausgebürgert worden sind und danach die Staatsbürgerschaft zurückerworben haben, muß das Vermögen erst recht jenen zurückgegeben werden, bei denen es nicht nötig war, ihnen die Staatsbürgerschaft zurückzuerteilen, weil diese infolge ihres Verhaltens überhaupt nicht ausgebürgert worden waren. Eine andere Auslegung würde den Prinzipien der Restitutionsgesetze vollkommen widersprechen.“ Die angegebene verfassungskonforme Auslegung wurde dann der Derogation vorgezogen. Wie durch eine ganze Reihe von weiteren Entscheidungen des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik dokumentiert ist, besteht der Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts, als einer Interpretation von Prinzipien, beim Verfahren der Normenkontrolle in der „Rekonstruktion“ des Sinns und Ziels des Verfassungsprinzips, im Hinblick worauf der Sinn und das Ziel der zu beurteilenden Norm des einfachen Rechtes beurteilt und verglichen werden kann. Für diesen Zweck haben die Verfassungsgerichte eine entsprechende Methodologie zur Auslegung des Verfassungsrechts entwickelt. So untersucht das Oberste Gericht der USA bei der Beurteilung der Verfassungskonformität eines Gesetzes den Zweck und das Mittel des betreffenden Gesetzes auf ihre Verfassungsmäßigkeit.18 Bei der Ermittlung der Verfassungsmäßigkeit der Verbindung zwischen dem Mittel und dem Zweck verwendet es drei Vorgehensweisen.19 Die erste Möglichkeit ist der rational basis test, nach dem für die Verfassungskonformität einer Rechtsregelung ausreichend ist, daß sie sich in einer rationalen Beziehung zum Zweck des Gesetzes befindet, d.h. daß sie auf irgendeine Weise das Erreichen dieses Zwecks fördern kann. Eine Verfassungswidrigkeit ist unter diesem Blickwinkel lediglich dann gegeben, wenn die staatliche Regelung willkürlich ist und auf keine erdenkliche Weise das Erreichen des Zwecks beeinflussen kann. In der Praxis des Obersten Gerichts wird regelmäßig dieses Verfahren angewendet. Lediglich dann, wenn eine sog. verdächtige Klassifikation (suspect classification) vorliegt, wie zum Beispiel in Fällen von Rassendiskriminierung, wendet das Gericht strengere Kriterien an (strict scrutiny test). Nach diesem Verfahren ist die Verfassungskonformität lediglich dann gegeben, wenn eine enge Verbindung des gesetzlichen Mittels (Absonderung) mit dem Zweck des Gesetzes gegeben ist. In anderen Worten muss diese Verbindung geeignet und soweit wie nur möglich zum Erreichen eines überaus wichtigen all-

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W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA. München 1993, S. 116. Ibidem S. 117 ff.; siehe auch J. E. Nowak/R. D. Rotunda, Constitutional Law. 4. Ed., St. Paul 1991, S. 568 ff. 19

II. Der Sinn der Auslegung

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gemeinen Ziels notwendig sein. Die dritte mögliche Vorgehensweise des Obersten Gerichts der USA ist die Beurteilung, ob die gesetzliche Regelung zum Erzielen des gesetzlichen Zwecks nicht nur potentiell, sondern tatsächlich unterstützend wirkt (intermediate level of scrutiny). Dabei wird keine optimale Beziehung zwischen dem Zweck und dem Mittel gefordert, allerdings muss ein bedeutendes, wenngleich kein überragend wichtiges, öffentliches Interesse gegeben sein. Ähnlich ist auch eine europäische Herangehensweise, die als Verhältnismäßigkeitsprinzip bezeichnet wird. Dieses Prinzip beruht methodologisch auf drei Schritten: Der erste ist die Beurteilung des einfachen Rechts unter dem Kriterium der Geeignetheit. Das gewählte normative Mittel wird vom Blickwinkel der möglichen Erfüllung des erstrebten Ziels beurteilt. Ist das gegebene Normativmittel nicht geeignet, den erwünschten Zweck zu fördern, handelt es sich um eine willkürliche Maßnahme des Gesetzgebers, die für mit dem Prinzip des Rechtsstaats unvereinbar angesehen wird. Der zweite Schritt ist die Beurteilung des einfachen Rechts mittels des Kriteriums der Erforderlichkeit, wobei eine Analyse alternativer möglicher Mittel in bezug auf den verfolgten Zweck und deren Subsidiarität unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung eines durch die Verfassung geschützten Wertes – eines Grundrechts oder eines kollektiven Guts – durchgeführt wird. Ist der vom Gesetzgeber erstrebte Zweck durch alternative Normativmittel in gleicher Weise erreichbar, so ist nur dasjenige von ihnen verfassungskonform, das den durch die Verfassung geschützten Wert im geringsten Maß einschränkt. Der dritte Schritt erfolgt, wenn das zu beurteilende einfache Recht auf der einen Seite den Schutz eines gewissen, durch die Verfassung geschützten Wertes beabsichtigt, aber auf der anderen Seite zur Einschränkung eines anderen Wertes führt. Dieser dritte Schritt der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist die Abwägung der in Kollision stehenden Verfassungsrechte und Verfassungsgüter. Er läßt sich in drei Teilschritte zerlegen. Erstens sind die relativen Gewichte der kollidierenden Rechte oder Güter zu bestimmen. Zweitens ist zu bestimmen, in welchem Maß diese Rechte und Güter durch die zur Wahl stehenden Entscheidungsalternativen beeinträchtigt bzw. realisiert werden. Drittens ist eine Lösung zu wählen, die mit Rücksicht auf diese relativen Gewichte und Beeinträchtigungsgrade optimal ist, d.h. die gewichteten Beeinträchtigungen der kollidierenden Rechte oder Güter minimiert. Lediglich zur Illustration einer Reihe von Fällen, bei denen das Verfassungsgericht die Argumentation mittels Verhältnismäßigkeit einsetzte, sei der Fall der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Instituts der Geheimhaltung der Personalien der Zeugen im Strafprozeß (VerfGE, Bd. 2, Nr. 46) angeführt, in dem das Gericht feststellte: „Es ist der Sinn des Rechts auf öffentliche Verhandlung

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

der Sache, in Verbindung mit dem Recht, sich zu allen durchgeführten Beweisen zu äußern, dem Beschuldigten im Strafprozeß die Möglichkeit der Überprüfung der Beweise, die gegen ihn gerichtet sind, vor der Öffentlichkeit zu gewähren. Die Überprüfung enthält im Falle der Zeugenaussage zwei Komponenten: die erste ist die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Tatsachenbehauptungen, die zweite ist danach die Möglichkeit der Überprüfung der Glaubwürdigkeit und Unvoreingenommenheit des Zeugen. Das Institut der anonymen Zeugen beschränkt also die Möglichkeit der Beschuldigten, den Wahrheitsgehalt der gegen ihn gerichteten Zeugenaussage zu überprüfen, weil es die Möglichkeit ausschließt, sich zur Person des Zeugen und seiner Glaubwürdigkeit und Unvoreingenommenheit zu äußern. Es beschränkt daher sein Recht auf Verteidigung und ist im Widerspruch mit dem Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens und dem Prinzip der Gleichheit der Prozeßbeteiligten, weil die gleiche Beschränkung für die Anklage nicht angeführt ist, und somit im Widerspruch mit dem Prinzip des fairen Verfahrens. . . . Im zu beurteilenden Fall spricht eine Reihe von Argumenten zugunsten des Instituts des anonymen Zeugen: insbesondere das empirische Argument (der Anstieg der organisierten Kriminalität und der damit verbundenen Fälle von Bedrohung des Zeugen), das systematische Argument (die Störung des Spielraums der Justiz infolge der Zeugenbedrohung), das wertbezogene Argument (der Schutz des Lebens und des Vermögens der Bürger).“ Die Aufhebung der entsprechenden Gesetzesbestimmungen begründete das Verfassungsgericht mit dem Grundsatz der Minimalisierung des Eingriffes in das kollidierende Grundrecht: „Bei einem ernsthaften Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf Verteidigung und damit auch in die Prinzipien des gerechten Prozesses war es somit die Verpflichtung des Gesetzgebers, auch die Möglichkeit der Minimalisierung eines solches Eingriffes zu suchen und dem entsprechende Mittel zu vorzusehen. Solche Mittel können die bereits erwähnten prozessualen Mechanismen oder die Festsetzung von Ausnahmen vom allgemeinen Prinzip der freien Beweiswürdigung durch den Richter durch Auferlegung der Verpflichtung an das Gericht, bei der Beweiswürdigung des anonymen Zeugen insbesondere zu überprüfen, ob dem Gericht und dem Beteiligten eine ausreichende Möglichkeit geboten wurde, sich mit der Glaubwürdigkeit und Unvoreingenommenheit des Zeugen und der Beweiskraft seiner Aussage auseinanderzusetzen. Diese Fälle dokumentieren die Tatsache, daß im Rahmen der Regelung des Instituts des anonymen Zeugen der Gesetzgeber einen Spielraum für die Regelung der Mittel hat, die den Eingriff auf das Recht der Verteidigung und die Rechte, die aus dem gerechten Prozeß hervorgehen, hat. Die Wahl des Mittels, das den Eingriff in das Grundrecht bzw. Grundfreiheit minimalisiert, liegt bereits in der Kompetenz des demokratischen Gesetzgebers.“ In einer weiteren Entscheidung (Aktenzeichen Pl. ÚS 41/02) im Zusammenhang mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei einer Kolli-

II. Der Sinn der Auslegung

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sion der Grundrechte, Grundfreiheiten bzw. kollektiven Güter spricht das Verfassungsgericht ausdrücklich von einem Optimierungsgebot. Gegenstand eines Verfahrens über Normenkontrolle ist daher ein Vergleich der Zwecke: es geht um die Beantwortung der Frage, ob der Zweck einer Norm des einfachen Rechts einem Zweck eines Prinzips des Verfassungsrechts untergeordnet werden kann. Das angeführte Merkmal ist fundamental. Während das Ergebnis der Auslegung einer Norm des einfachen Rechts bei der Rechtsanwendung eine „Rekonstruktion“ einer Verhaltensregel (einer Pflicht oder Berechtigung) für den Zweck der Subsumtion der Tatermittlung ist, geht es hingegen im Falle der Interpretation eines Verfassungsprinzips als Teil der Normenkontrolle um eine „Rekonstruktion“ des durch die Verfassung geschützten Zwecks. Im Rahmen des angeführten Gedankenganges können grundsätzlich zwei Situationen vorkommen: Die erste ist der Fall, daß dem durch die Norm des einfachen Rechts verfolgten Zweck keiner der von der Verfassung geschützten Zwecke korrespondiert. Die zweite ist der Fall, daß die zu beurteilende Norm des einfachen Rechts einen von der Verfassung geschützten Zweck verfolgt, allerdings gerät dieser Zweck in Kollision mit einem anderen, auch durch die Verfassung geschützten Zweck. Die erstgenannte Situation ist außerordentlich, die zweitgenannte regelmäßig. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kommt gerade in der zweiten Gruppe von Fällen zur Geltung, die einer transparenten Methodologie zur Transparenz der Entscheidungen bedürfen. Ist der Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts, als Auslegung von Prinzipien, die „Rekonstruktion“ von Zwecken, und dies insbesondere im Rahmen des Verfahrens mittels des Algorithmus des Verhältnismäßigkeitsprinzips, so bezieht sich die grundlegende methodologische Frage auf die Art und Weise der „Rekonstruktion“ dieses Verfassungszwecks. Zu ihrer Reflexion werden wir uns nach der Erkundung des Sinns der Auslegung des Verfassungsrechts dem zweiten Gebiet der juristischen Argumentation im Prozeß der Verfassungsanwendung zuwenden, der Revision von Entscheidungen der Fachgerichte im Verfahren vor den Verfassungsgerichten, das im europäischen Bereich als Verfahren der Verfassungsbeschwerde bezeichnet wird.

b) Sinn der Auslegung des Verfassungsrechts im Verfassungsbeschwerdeverfahren In der unter Aktenzeichen III. ÚS 256/01 geführten Sache hatte das Verfassungsgericht die Verfassungskonformität der Entscheidungen ordentlicher Gerichte zu beurteilen, die eine Klage auf Persönlichkeitsschutz unter § 11 ff. des tschechischen BGB zurückgewiesen hatten. Der Beschwerdeführer wandte sich dagegen, daß seine Fotos, als einer an dem Strafverfahren nicht beteiligten Person, ohne seine Zustimmung zum Zweck der Gegenüberstellung verwendet

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

wurden. Im ersten Schritt seiner Argumentation akzeptierte das Gericht die Verfassungskonformität des Zwecks der Gegenüberstellung mittels Fotografie im Strafverfahren: „Es gibt keine Zweifel darüber, daß das Institut der Gegenüberstellung mit Hilfe von Fotografien ein effektives Beweismittel ist, also ein Institut, das die Erreichung des öffentlichen Guts ermöglicht, nämlich der Klärung von Straftaten und gerechter Bestrafung der Täter. Darüber hinaus erfüllt die Gegenüberstellung noch einen weiteren Zweck. Angesichts des Umstands, daß die Gegenüberstellung ein Mittel zum Überprüfen der Wahrhaftigkeit eines direkten Zeugnisses ist, erfüllt sie auch den Zweck, unschuldige Personen vom Verdacht zu entlasten, und daher auch den Zweck des Schutzes individueller Rechte vor unbegründeter Verfolgung und Aburteilung.“ Anschließend beurteilte das Gericht in einem weiteren Schritt die gesetzliche Erlaubnis zur Verwendung der Bildnisses ohne Zustimmung des Betroffenen (§ 12 Abs. 2 i.V. m. § 12 Abs. 1 des tschechischen BGB) im Hinblick auf die Bedingung der Erforderlichkeit (Subsidiarität) und stützte sein Urteil auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip: „Das Erreichen des Zwecks der Klärung von Straftaten und der Bestrafung deren Täter im Strafverfahren in einer demokratischen Verfassungsordnung ist in der Regel mit einer Reihe unumgänglicher Eingriffe in individuelle Rechte anderer Personen als der des Verdächtigen bzw. Beschuldigten verbunden. Ein Beispiel ist die Möglichkeit der Anordnung einer Durchsicht und Obduktion des Leichnams und deren Exhumierung (§ 115 des tschechischen StGB), bzw. die Pflicht ein Zeugnis abzugeben (§ 97 des tschechischen StGB), und in diesem Zusammenhang auch die eigene Glaubwürdigkeit berührende Fragen zu dulden, die von der Natur der Sache den Rahmen des Persönlichkeitsschutzes unter § 11 des tschechischen BGB überschreiten. Das in der betreffenden Sache erörterte Institut der Gegenüberstellung mit Fotos weicht vom Rahmen dieser allgemein akzeptierten Beispiele von Kollisionen nicht ab.“ Das Verfassungsgericht erörterte also im gegebenen Fall, ob die Subsumtionsbedingungen legi specialis in Bezug zum allgemeinen Schutz von Persönlichkeitsrechten erfüllt sind, oder nicht. Ein analoges Verfahren wählte das Bundesverfassungsgericht der BRD in der Causa Lebach20 (BVerfGE, 35, 202 ff.), die in der Doktrin oft analysiert wird. Es urteilte dabei über den Fall der Ausstrahlung einer Fernsehsendung u. a. über einen Häftling, der gerade entlassen werden sollte und der diesen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte im Hinblick auf die damit verbundenen Komplikationen seiner Resozialisierung verbieten lassen wollte. In diesem Fall handelte es sich um eine bürgerliche Unterlassungsklage, mit der der Kläger verlangte, dem Beklagten die Ausstrahlung einer Fernsehsendung zu verbieten, die einen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht darstellte. Das Gericht erwog, ob die tatbestandlichen Bedingungen der Bestimmungen zum Persönlichkeitsschutz gegeben 20

Siehe R. Alexy, Theorie der Grundrechte. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 84 ff.

II. Der Sinn der Auslegung

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waren, die im Gesetz über Kunst- und Urheberrechte auf dem Gebiet der bildenden Kunst und Fotografie enthalten sind, und ob es notwendig war, die Bestimmungen dieses Gesetzes, durch die die in der Verfassung garantierte Meinungsfreiheit zur Geltung gebracht wird, für eine lex specialis zum Schutze der Persönlichkeit zu halten. Im gegebenen Fall war, ähnlich wie in der Causa „Gegenüberstellung“ am Verfassungsgericht der Tschechischen Republik, Gegenstand der Beschlussfassung die Erwägung, ob die Bedingungen der Anwendung legi speciali erfüllt sind, oder nicht. In beiden Fällen kommt es zur Kollision der Prinzipien bei der Prüfung, ob die Bedingungen des Tatbestandes der Rechtsnorm erfüllt sind, wobei die Lösungsmethode auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip beruht, und in seinem Rahmen dann die verfassungsgeschützten Zwecke bemessen werden. Beim Verfahren der Verfassungsbeschwerde stellen die erste Gruppe die Fälle dar, bei denen das Verfassungsgericht den Umstand abschätzt, ob die in der Sache verwendete Norm des einfachen Rechts, die einen gewissen, von der Verfassung geschützten Zweck verfolgt, vom Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips berechtigt den Vorrang bekommen hat vor einer anderen Norm des einfachen Rechts, die das Erreichen eines anderen, durch die Verfassung geschützten Zwecks zum Ziel hat. Eine weitere Gruppe sind Fälle, bei denen keine Konkurrenz der möglichen Anwendung mehrerer Normen des einfachen Rechtes besteht, sondern wo es um die Lösung der Frage der Akzeptanz einer von mehreren Auslegungsalternativen einer Norm des einfachen Rechts geht. Zum Beispiel befasste sich das Verfassungsgericht in der Sache des Aktenzeichens III. ÚS 114/1994 mit der Verfassungskonformität der gerichtlichen Entscheidungen, durch die ein Antrag auf Vollstreckung eines Urteils über die Räumung einer Wohnung abgelehnt wurde. Dieses Urteil, der auf der Interpretation des Begriffs der „Angemessenheit einer Ersatzwohnung“ nach § 712 Abs. 2 des tschechischen BGB beruhte, wurde vom Verfassungsgericht für unvereinbar mit dem Verfassungsschutz des Eigentumsrechts erklärt. In anderen Worten, eine mögliche prozedurale Folge des Gebots einer verfassungskonformen Interpretation des einfachen Rechts ist im Verfahren über Verfassungsbeschwerden ist die Kassation der Entscheidung eines Fachgerichts. Die Untersuchung der Verfassungskonformität von Auslegungsalternativen erfordert jedoch wieder das Vergleichen der Zwecke der Prinzipien des Verfassungsrechts und der Normen des einfachen Rechts. Die dritte Gruppe von Fällen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde bilden Fälle willkürlicher Anwendung einer Norm des einfachen Rechts seitens eines Fachgerichts, wo eine sinnvolle Verbindung mit irgendeinem durch die Verfassung geschützten Zweck fehlt. Als Illustration dazu dienen Urteile des Verfassungsgerichts, in denen es feststellte, daß der Rechtsentscheid eines Fachgerichts sich „in extremer Diskrepanz zu den durchgeführten Tatbestands- und

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A. Verfassungsrechtliche Auslegung

Rechtsermittlungen befindet, bzw. daß sich in keiner möglichen Auslegung die Begründung der gerichtlichen Entscheidung ableiten läßt“ (z. B. die Fälle der Aktenzeichen III. ÚS 84/94, III. ÚS 166/95, I. ÚS 401/98, II. ÚS 252/99, I. ÚS 129/2000, I. ÚS 549/2000). Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde können also Fälle einer Konkurrenz von Normen des einfachen Rechts, einer Konkurrenz von Auslegungsalternativen und schließlich Fälle der willkürlichen Anwendung des einfachen Rechtes unterschieden werden. In allen drei Gruppen von Fällen, die für die Überprüfung der Verfassungskonformität im Verfahren über Verfassungsbeschwerden typisch sind, ist die Interpretation des Verfassungsrechts, ähnlich wie dies beim Verfahren über Normenkontrolle der Fall ist, an der „Rekonstruktion“ des rechtlichen Sinns und Zwecks orientiert. 3. Abhängigkeit des Maßes der Bedeutung des Vorverständnisses beim Interpreten von der Abstraktion des Auslegungsgegenstandes Sofern, im Gegensatz zur Auslegung des einfachen Rechts, die Auslegung des Verfassungsrechtes mehr auf der Interpretation der Zwecke als der Interpretation der Pflichten und Berechtigungen beruht, so ist die grundlegende methodologische Frage der Interpretation des Verfassungsrechts, als einer Interpretation von Prinzipien, die Art und Weise der „Rekonstruktion“ des Verfassungszwecks. Meines Erachtens ist bei der Beantwortung dieser Frage vom Prinzip der Abhängigkeit des Maßes der Bedeutung des Vorverständnisses beim Interpreten von der Abstraktion des Auslegungsgegenstandes auszugehen. Je abstrakter, je allgemeiner die Formulierung des Gegenstands, umso größer ist die Rolle, die das Vorverständnis des Interpreten bei der Interpretation spielt, und umso kleiner ist die Rolle des eigentlichen Wortlauts. Die Beurteilung der Auswirkung dieses Prinzips ist in erster Reihe davon abhängig, ob die Interpretation im Sinne eines Mittels zur Rechtsfindung oder eines Mittels der Rechtsbegründung verstanden wird.21 Als eine radikale Konzeption, nach der die Interpretation ein Mittel der Begründung darstellt, kann Essers Ansicht gelten, der die Funktion von Interpretationsmethoden in der dogmatischen Begründung einer im vorhinein getätigten Entscheidung sieht, die insbesondere von den Gerechtigkeitsvorstellungen des Interpreten ausgeht.22 Eine Identifikation der Auslegung mit der juristischen Begründung stößt auf gewisse Gegenargumente. Das erste ist das kulturelle, nicht lediglich formell 21 Detaillierter zur Frage des Kognitivismus und Dezisionismus in der Rechtsanwendung siehe Kapitel C. 22 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Frankfurt a. M. 1970, S. 16, 123.

II. Der Sinn der Auslegung

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rechtliche Prinzip der Bindung des Richters an das Gesetz, das eine Äußerung des demokratischen Gesetzgebers darstellt. Das zweite Argument ist die Möglichkeit eines natürlichen Funktionierens der Justiz nur im Umfeld einer überwiegenden öffentlichen Akzeptanz ihrer Entscheidungen. Diese Akzeptanz beruht dabei vorrangig auf der Akzeptanz allgemein verstandener Werte, die in einem demokratischen Rechtsstaat ihren Ausdruck in der Gesetzgebung finden. Die Auslegung des Rechts hat somit sowohl eine heuristische als auch eine Argumentationsfunktion inne. Der Anteil beider Momente ist zum Teil von der Identität der im Recht erhaltenen Werte sowie der Werte, an denen der Interpret orientiert ist, abhängig; zum Teil hängt er vom Niveau der Richterschaft im Hinblick auf Bildungsstand und professionelle Ethik ab. Damit kehren wir wieder zurück zum Begriff des Vorverständnisses, und dies insbesondere bezüglich seines Inhalts. Der besteht zum Teil in der sprachlichen Kompetenz des Interpreten, d.h. dem Standard seiner allgemeinen und professionellen Bildung, zum Teil in seiner Werteorientierung.23 Als Orientierung auf Werte verstehe ich dabei keine Willkür des Interpreten, sondern eine Orientierung, die sich in einem von der freien und demokratischen Umwelt akzeptierten Bereich befindet. Die Auslegung des Verfassungsrechts, als Auslegung von Prinzipien in der Rechtsprechung von Verfassungsgerichten und somit als eine „autoritative Interpretation“, ist somit von den folgenden Faktoren abhängig: – vom Maß des beruflichen Konsensus über den Inhalt fachlicher, verfassungsrechtlicher Institute, – von der Homogenität allgemein akzeptierter konstitutiver Werte einer demokratischen Gemeinschaft und – von fachlichen und ethischen Kriterien, mit denen eine demokratische Umgebung die „autoritativen Interpreten“ generiert.

23 Ausführlicher zum Problem des Vorverständnisses siehe T. Gizbert-Studnicki, Der Vorverständnisbegriff in der juristischen Hermeneutik. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Heft 4, 1987; ders., Das hermeneutische Bewusstsein der Juristen. Rechtstheorie, Heft 3, 1987, S. 344–367; K. Pleszka/T. Gizbert-Studnicki, Empirisches Wissen als Grundlage der teleologischen Interpretation. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 53, Praktische Vernunft und Rechtsanwendung. Legal System and Practical Reason. Hrsg. H.-J. Koch/U. Neumann, Stuttgart 1994, S. 184–192.

B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Variabilität seiner Struktur? I. Genese des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht 1. Von Forsthoff bis Böckenförde: Identität oder Unterschiedlichkeit der Verfassung und des Gesetzes als Interpretationsgegenstand? Die Zeitspanne von fünfzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der demokratischen Konstitutionalistik kann als die Ära der Grundrechte und Freiheiten sowie der Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet werden. An der Wende der vierziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzte sich die Konzeption der unmittelbaren Verbindlichkeit der in der Verfassung enthaltenen Grundrechte und Freiheiten für die Gerichte und Verwaltungsorgane durch. Jeden Zweifel in dieser Richtung beseitigend, verankert Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes der BRD: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Das Grundgesetz konstituierte weiters die Institution des Bundesverfassungsgerichts, das mit Einführung des Instituts der Verfassungsbeschwerde das Überprüfungsrecht gegenüber der allgemeinen Justiz erlangte, wodurch der Verfassungskatalog von Grundrechten und Freiheiten für natürliche und juristische Personen zum unmittelbar anwendbaren und durchsetzbaren Recht geworden ist. Die Folgen der Übernahme des theoretischen Konzepts der direkten Verbindlichkeit der Verfassung in den Wortlaut des Grundgesetzes der BRD im Jahre 1949 wurden in der europäischen demokratischen Umwelt durch die Unterzeichnung des Abkommens über den Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten vom Jahre 1950 und durch die Errichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch potenziert, was im Rahmen der Signatarländer zur Grundlage für die direkte Anwendbarkeit des menschenrechtlichen Katalogs für und seine gerichtliche Erzwingbarkeit geworden ist. Die direkte Verbindlichkeit der demokratischen Verfassung ist somit im vergangenen halben Jahrhundert zum unangefochtenen Kulturphänomen geworden, das, ohne jede Übertreibung, die Vermenschlichung und Kultivierung des europäischen Rechtsbereichs entscheidend geprägt hat. Die Doktrin der direkten

I. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht

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Verbindlichkeit der Verfassung hat auf dem Wege der Durchsetzung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Verfassungssystemen demokratischer Länder, bzw. durch die Bildung einer speziellen gerichtlichen Institution zum Zweck der Verfassungsanwendung, noch an Bedeutung gewonnen. Wollen wir nun die Formulierung des Problems, das den Gegenstand der folgenden Überlegung bildet, mit einem Hinweis beginnen, und zwar auf „die alte Erfahrung der Methodendiskussion von der wechselseitigen Abhängigkeit von Gegenstand und Methode“.24 Das neu sich konstituierende kulturelle und rechtliche Phänomen der Verfassungsgerichtsbarkeit brachte die Notwendigkeit der Suche nach einer Methodologie der Verfassungsanwendung mit sich. Insbesondere stellte sich die Frage, ob vom Blickwinkel der Auslegungsmethoden die Verfassung dem Gesetz gleichzustellen ist oder nicht, ob also ihre Interpretation und Applikation durch identische oder abgesonderte Methoden erfolgen soll. Nach Forsthoff bildet der abstraktere Charakter der Verfassung im Vergleich zu den einfachen Gesetzen, bzw. der Unterschied in der Rangstufe lediglich einen quantitativen, jedoch keinen prinzipiellen Unterschied.25 Durch die Besonderheit des Verfassungsgesetzes wird daher nichts Wesentliches am Charakter der Verfassungsauslegung als Gesetzesauslegung geändert. Forsthoff vertritt die These, nach der „die Verfassung als Gesetz den für Gesetze geltenden Interpretationsregeln unterworfen ist. Dadurch wird die Verfassung in ihrem Sinn nachweisbar und in ihrer Anwendung kontrollierbar.“26 In den fünfziger und sechziger Jahren akzeptierten nicht nur seine Gegner, wie Konrad Hesse und Peter Häberle, Forsthoffs These, sondern auch die gemäßigten Konservativen mit Ernst-Wolfgang Böckenförde27 an der Spitze.

24

E.-W. Böckenförde, Fn. 1, S. 82. Forsthoff knüpft in diesem Punkt an Schmitts Gedanken; siehe C. Schmitt, Fn. 13, S. 14: „Verfassung wird also = Gesetz, wenn auch Gesetz besonderer Art, und steht als lex skripta im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht.“ 26 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes. In: Festschrift für C. Schmitt. Berlin 1959. S. 36; wiederabgedruckt in: E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950–1964. Stuttgart 1964, S. 148. 27 Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde enthält die Verfassung „neben den vergleichsweise detaillierten Regelungen im Kompetenzbereich und bei einigen Organisationsfragen – im wesentlichen Prinzipien, die erst der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein; Zielbestimmungen, die nur das – zuweilen in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität der Verwirklichung offen lassen; Lapidarformen, die – oft aus der Verfassungstradition überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind.“ (E.-W. Böckenförde, Fn. 1, S. 57–58.) Als vereinzelte Ausnahme kann Buchwalds Ansicht aufgeführt werden. Siehe D. Buchwald, Fn. 14. 25

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Böckenförde formuliert dabei ein aus der gegebenen These entspringendes Paradox, das auf einer Spannung beruht, und zwar auf der einen Seite der Beschaffenheit der Verfassung, für die ihre Allgemeinheit und Unvollständigkeit charakteristisch sind, und dem Umstand, daß insbesondere im die Grundrechte und Freiheiten verankernden Teil lediglich Grundsätze, jedoch keine Normen28 enthalten sind, und auf der anderen Seite dem Paradigma der direkten Anwendbarkeit der Verfassung, das jedoch die Existenz einer anwendbaren Norm voraussetzt. Somit wurde eines der fundamentalen Probleme des modernen europäischen Kontinentalrechts um ein „Stockwerk“ hochgeschoben; es geht um das Problem der Spannung zwischen dem Grundsatz des Verbotes der Rechtsverweigerung (denegationis iustitiae) und der sich aus der Natur der Sache ergebende Unvollständigkeit des geschriebenen Rechts. Akzeptieren wir dabei die Hypothese, daß auf dem Gebiet des Verfassungsrechts neben der Existenz der echten sowie unechten Lücken im Verfassungsrecht diese Spannung des weiteren durch die Allgemeinheit und Unbestimmtheit der in der Verfassung enthaltenen Begriffe, welche die Frage ihres Anwendungsbereichs (Extension) aufwerfen, und letztendlich auch durch die mögliche Kollision der vom Verfassungsrecht geschützten Werte und Zwecke (Grundrechte und Freiheiten, ggf. der kollektiven Güter) gegeben ist. Bietet sich für die Methodik der Ausfüllung von Lücken im Verfassungsrecht und zum Bestimmen der Extension von Verfassungsbegriffen ein Instrumentarium zum Auslegen an, das bei der Anwendung des einfachen Rechts eingesetzt wird (Analogie, Argumentation mit der Natur der Sache, Argumente a fortiori, teleologische Reduktion u.dgl.), so existierte kein solches Pendant zum Lösen einer Kollision verfassungsrechtlich geschützter Werte (Auslegungsregeln: lex superior derogat legi inferiori, lex specialis derogat legi generali, bzw. lex posterior derogat legi priori, beziehen sich lediglich auf Fälle von Normenkonflikten, bzw. „Entweder-oder“-Entscheidungen, aber nicht auf Kollisionsfälle, d.h. Fälle, wo die beiden in Kollision stehenden Grundsätze in verschiedenem Maße erfüllt werden). 2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Ergebnis judiziellen Bestrebens bei der Verfassungsanwendung Die Suche nach Besonderheiten der Interpretation des Verfassungsrechts, insbesondere der Kataloge von Grundrechten und Freiheiten, deren Verständnis als eine Voraussetzung für Voraussagen über deren Anwendbarkeit erscheint, verlief parallel über zwei Wege: den judiziellen und den doktrinären.

28 Zum Unterschied zwischen dem Rechtsprinzip und der Rechtsnorm siehe P. Holländer, Fn. 2, S. 46 ff.

I. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht

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Der judizielle Weg, insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der BRD, brachte allmählich in den fünfziger und sechziger Jahren die „Genese“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – einer Methode zur Anwendung von Grundrechten und Freiheiten, die im Falle einer vor dem Gericht zu lösenden Streitigkeit in der Regel, angesichts der gegenläufigen Interessen der Prozesseiten, in gegenseitige Kollision geraten. Das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland leitete diesen Grundsatz der Proportionalität vom Prinzip des Rechtsstaats ab (BVerfGE, 61, 126 (134), BVerfGE, 80, 109 (120)). Es erarbeitete auch die Struktur dieser Methode zur Anwendung des Verfassungsrechts. Zum Inhalt ihrer ersten Komponente, dem Grundsatz der Geeignetheit (BVerfGE 30, 292 (316), BVerfGE 67, 157 (173)), wurde die Beurteilung des gewählten normativen Mittels vom Blickwinkel einer möglichen Erfüllung des verfolgten Zwecks. Die nächste Komponente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, in Bezug zum erstgenannten eine ergänzende, ist der Grundsatz der Erforderlichkeit (BVerfGE 53, 135 (145 u. folg.). BVerfGE 68, 193 (219)) formuliert das Postulat einer Analyse einer ganzen Pluralität möglicher normativer Mittel im Hinblick auf den verfolgten Zweck und deren Subsidiarität vom Blickwinkel einer Beschränkung eines durch die Verfassung geschützten Wertes – eines Grundrechts oder eines kollektiven Guts. Die dritte Teilkomponente des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist schließlich der ergänzende Grundsatz der Abwägung (BVerfGE 67, 157 (172 u. f.)), der eine Methodologie zur Abwägung der kollidierenden Verfassungswerte darstellt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dann dadurch zu charakterisieren, daß „als Verhaltensnorm das Grundgesetz nun eine geeignete Entscheidung erwartet, die fähig ist, die beteiligten Interessen optimal zu unterstützen“.29 Die Verhältnismäßigkeitsmethode wird allmählich zur Standardmethode bei der Auslegung des Verfassungsrechts durch die Verfassungsgerichte der europäischen Länder30, und insbesondere ihre ausdrückliche Verankerung in Art. 21 Abs. 2 der EU-Charta der Grundrechte zeigt ihre allgemeine Anerkennung. 29

K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. 2. Aufl., München 1991, S. 247. Die Verhältnismäßigkeitsmethode wird allmählich zur Standardmethode bei der Interpretation des Verfassungsrechts durch Verfassungsgerichte europäischer Länder. Zur Illustration sei auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichthofes Österreichs hingewiesen (siehe H. Mayer, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht. Kurzkommentar. 2. Aufl., Wien 1997, S. 472–475, und die dort angegebenen Entscheidungen), des weiteren des Bundesgerichts der Schweiz (siehe U. Häfelin/ W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 6. Aufl., Zürich 2005, S. 99–100, 113–114, und die dort angegebenen Entscheidungen) sowie des Verfassungsgerichtes Polens (zum ersten Mal wurde die Verhältnismäßigkeitsmethode vom Gericht ausführlich im Befund vom 26. April 1995, K 11/94, OTK 1995, I, S. 133, erklärt, woran es später in seiner Rechtsprechung oft anknüpfte – siehe G. Brunner/L. L. Garlicki, Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen. Baden-Baden 1999, S. 74). Komponenten der Verhältnismäßigkeitsmethode finden sich auch in einigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts der Slowakei (siehe A. Bröstl/J. Kl’ucˇ ka/ 30

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik kann durch folgende Situationen kurz beschrieben werden: Sie führt vom Befund in der Sache der Verfassungskonformität des Instituts eines anonymen Zeugen im Strafverfahren (Pl. ÚS 4/94), über den Befund in der Sache der Verfassungskonformität der Begrenzung der Verfügungsberechtigung der Gemeinde über Wohnungen der Gemeinde, die für den Bedarf von Mitgliedern der Streitkräfte und der bewaffneten Körper (Pl. ÚS 15/96) dienen, ferner über den Befund in der Sache der Verfassungskonformität des Verwendens von Vergleichsfotos nicht beteiligter Personen ohne deren Zustimmung im Strafverfahren bei der Gegenüberstellung mit Fotografien (III. ÚS 256/01), bis zum Befund in der Sache der Verfassungskonformität der Sicherheitsüberprüfung als Bedingung für die Bekanntgabe geheimgehaltener Tatsachen an die Verteidigern im Strafverfahren (Pl. ÚS 41/02). Im Befund in der Sache Pl. ÚS 4/94 erläuterte das Verfassungsgericht zum ersten Mal umfassend den Inhalt aller Teilkomponenten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, in dessen Rahmen dabei auch das Prinzip der Minimierung der Beschränkung des in Kollision stehenden Grundrechts, bzw. der Grundfreiheit, oder mit anderen Worten das Optimierungsgebot. Den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wandte es dabei auf eine Kollision von zwei Grundrechten an – einerseits das Recht zur Verteidigung einschließlich des Rechts, sich zu allen im Verfahren erhobenen Beweisen zu äußern (d.h. im Falle eines Beweises durch Verhör eines Zeugen das Recht, sich nicht nur zur Wahrhaftigkeit der Tatsachenbehauptungen, sondern auch zur Person des Zeugen zu äußern, zu seiner eventuellen Befangenheit und Glaubwürdigkeit) und andererseits das Grundrecht auf Schutz des Lebens und der Gesundheit (des Zeugen) sowie das Prinzip der Waffengleichheit (Gleichheit der Verfahrensteilnehmer). Zum Grund der Derogation ist gerade die fehlende Beachtung des Optimierungsgebotes geworden, d.h. der Umstand, daß das Verfassungsgericht im Falle der Priorität des einen Grundrechts die mangelnde Nutzung aller möglichen Mittel zur Minimierung der Beschränkung eines der kollidierenden Grundrechte feststellte. In der Sache Pl. ÚS 15/95 wandte das Verfassungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum ersten Mal im Falle der Kollision eines Grundrechts (des Eigentumsrechts) und eines kollektiven Gutes (Gewährleistung der Staatssicherheit) an. Seine Entscheidung stützte es dabei auf eine Teilkomponente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, den Grundsatz der Erforderlichkeit. Während die vorangegangenen Anwendungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit einem Normkontrollverfahren verbunden waren, bildet die J. Mazák, Ústavny´ súd Slovenskej republiky. Organizácia, proces, doktrína (Organisation, Verfahren, Doktrin), Košice 2001, S. 150–152, und die dort angeführten Entscheidungen).

II. Doktrinäre Bildung

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Kausa der Gegenüberstellung (III. ÚS 25/01) ein Beispiel der komplexen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde, d.h. bei der Überprüfung der Verfassungskonformität von Gerichtsbeschlüssen. Im Befund zur Sache Pl. ÚS 41/02 hat das Verfassungsgericht im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Kollision des Grundrechts auf Verteidigung (dessen Komponente die Wahlfreiheit des Verteidigers darstellt) und des kollektiven Gutes der Staatssicherheit (deren Bestandteil auch der Schutz geheimzuhaltender Tatsachen ist) explizit mit Hilfe des Optimierungsgebotes entschieden. II. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – doktrinäre Bildung 1. Dworkins Theorie von Grundsätzen als naturrechtliche Kritik des hartschen Rechtspositivismus Der doktrinäre Weg der Analyse des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet seine Grundlage eher in der rechtsphilosophischen Diskussion. Sie knüpfte an Dworkins Theorie der Rechtsgrundsätze an, die als Argumentationsinstrumentarium zur Kritik der rechtspositivistischen Konzeption von Hart formuliert wurde. In die ewige Diskussion zwischen dem Rechtspositivismus und Iusnaturalismus brachte Dworkin ein neues Argument hinein, das als Strukturargument bezeichnet werden kann. Es hat eine These zum Inhalt, nach der Rechtsgrundsätze auch Prinzipien sind, die keine ausreichende institutionelle Stützung besitzen (d.h. keine Verankerung in der Verfassung, den Gesetzen, den Rechtsgepflogenheiten oder der Doktrin haben), da sie jedoch Bestandteil der politischen oder gesellschaftlichen Moral sind, gelten sie aufgrund ihres Inhalts. Dworkin subsumiert dabei unter den Begriff der Rechtsargumentation auch den Ausschluss der Gültigkeit von Grundsätzen infolge deren Widerspruchs nicht nur mit der Verfassung, sondern auch mit grundlegenden moralisch-politischen Prinzipien, wodurch solche Grundsätze den Charakter legitimer Gründe des richterlichen Entscheidungsprozesses verlieren.31 Er weist dabei darüber hinaus auch auf die Tatsache hin, daß sich die Grundsätze durch ihre Struktur von den Regeln (Normen in strikten Sine) unterscheiden. Zum Beispiel gilt für sie nicht das logische Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten; deren Gültigkeit wird also nicht, wie bei den Normen, nur in den Modalitäten der Gültigkeit oder Ungültigkeit beurteilt, sondern auch nach dem mehr oder weniger hohen Maß an Intensität dieser Gültigkeit.32 Mit Hilfe von Alexys Terminologie können sie Op31 32

R. Dworkin, Fn. 17, S. 119 ff. Ibidem, S. 54 ff.

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

timierungsgebote genannt werden, in anderen Worten ist es für Grundsätze maßgeblich, daß sie anordnen, etwas (ein Ziel oder ein Wert) solle in einem höchstmöglichen Maße realisiert werden33: „Rechtlich geltende Prinzipien sprengen kraft ihrer Struktur den positivistischen Rechtsbegriff, weil sie die approximative Realisierung eines moralischen Ideals zur Rechtspflicht machen.“34 Nach Dworkin ist also „der Unterschied zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien . . . ein logischer Unterschied“.35 Dieser Unterschied beruht erstens in der Anwendung von Regeln auf eine „Alles oder Nicht“-Weise, d.h. wenn die Subsumtionsbedingungen der Anwendung einer Regel gegeben sind, dann ist die Regel entweder gültig, so daß ihre Rechtsfolge eintritt, oder aber ungültig. Die erwähnte Art und Weise der Anwendung ist jedoch nach ihm bei den Grundsätzen nicht möglich. Davon leitet er den zweiten Unterschied zwischen Regeln und Grundsätzen ab, und zwar die Dimension der Wichtigkeit, wobei die Regeln keine solche Dimension haben sollten. Diesen Unterschied dokumentiert er am Beispiel einer Kollision zwischen Grundsätzen und einem Konflikt zwischen Regeln: Im Falle einer Kollision von Grundsätzen bestimmt derjenige Entscheidung, der ein größeres Gewicht hat, wobei der zweite, weniger wichtige Grundsatz deshalb nicht seine Gültigkeit verliert. Im Falle eines Konflikts zwischen Normen (d.h. bei einer normativen Streitigkeit) gilt jedoch nur eine der im Konflikt stehenden Regeln.36 2. Alexys Verbindung zwischen der Prinzipientheorie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Aufnahme kollektiver Güter in den Bereich von abwägungstauglichen Rechtsgrundsätzen – Optimierungsgebot Obschon Alexy die Dworkinsche Theorie von Rechtsgrundsätzen akzeptiert, kritisiert er den Wortlaut von dessen erster These. Danach werden die Regeln auf eine „Alles oder Nichts“-Weise angewendet, d.h. wenn die Subsumtionsbedingungen gegeben sind, dann ist die Regel anzuwenden, oder sie ist ungültig, was jedoch bei Grundsätzen nicht anwendbar ist. Hingegen meint Alexy, daß die Abgrenzung des Unterschieds zwischen einer Regel und einem Grundsatz mittels eines Prozesses der Subsumtion, bzw. durch das Kriterium der Erfüllung von Merkmalen des Tatbestandes, nicht haltbar ist, da nicht einmal bei den Regeln in deren Tatbestand alle Ausnahmen erfasst werden können (dies insbesondere unter Berücksichtigung der Bestimmung der Anwendbarkeit von Grundsätzen, die eine Ausnahme von der Regel begründen können).37 33 34 35 36

R. Alexy, Fn. 20, S. 75 ff. R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt a. M. 1991, S. 105. R. Dworkin, Fn. 17, S. 58. Ibidem, S. 54 ff.

II. Doktrinäre Bildung

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Der logische Unterschied zwischen einer Regel und einem Grundsatz kann daher nach Alexy lediglich im Falle einer Kollision (eines Konflikts, einer Streitigkeit) bestimmt werden. Wenn die Lösung einer Kollision durch das Abwägen beider kollidierender Normen gegeben ist, dann handelt es sich um Grundsätze. Ist die Anwendung eindeutig, ohne Abwägen gegeben, dann handelt es sich um eine Regel. Im Gegensatz zu Dworkin stellt Alexy allerdings fest, daß ein Konflikt von Regeln zweierlei Lösungen hat: Durch Einführung einer Ausnahme oder durch die Erklärung der Ungültigkeit einer im Konflikt stehenden Regel.38 Alexy lehnt ferner den Bezug des Begriffs „Grundsatz“ lediglich auf solche Normen ab, die individuelle Rechte begründen können. Er glaubt, daß, obschon „die Unterscheidung von individuellen Rechten und kollektiven Gütern ohne Zweifel wichtig ist . . ., es aber weder erforderlich noch zweckmäßig ist, den Begriff des Prinzips an den Begriff des individuellen Rechts zu binden“.39 Das Argument ist für ihn dieselbe logische Beschaffenheit der „principles“ und „policies“, sowie deren Einbeziehung in den Rahmen der Abwägungsmethode.40 Er schließt daher mit einer Feststellung ab: „Prinzipien können sich auf kollektive Güter oder individuelle Rechte beziehen.“41 Für Alexy sind daher Prinzipien Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, daß sie zu einem unterschiedlichen Grad erfüllbar sind, sowie dadurch, daß der angeordnete Umfang ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen Umständen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängig ist: „Prinzipien sind Normen, die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.“42 Ein Prinzip wird daher durch die Abwägungsfähigkeit in einer Kollision definiert sowie durch seinen approximativen, also nicht absoluten Charakter. Aus diesem Grunde kann Alexy z. B. nicht einmal dem Satz nullum crimen sine lege die Eigenschaft eines Rechtsprinzips zuerkennen und sieht ihn lediglich als eine Rechtsregel an: „Da diese Norm häufig als ,Prinzip‘ bezeichnet wird, ist sie ein Beispiel für Fälle, in denen die hier vertretene Prinzipientheorie vom eingebürgerten Sprachgebrauch abweicht.“43

37

R. Alexy, S. 193 ff. R. Alexy, Fn. 20, S. 77–78. Alexys Konzeption findet ihre weitere Detaillierung insbesondere bei Arbeiten von J. R. Sieckmann, siehe z. B. J. R. Sieckmann, Logische Eigenschaften von Prinzipien. Rechtstheorie, 25, 1994, Heft 2, S. 163–189. 39 R. Alexy, Fn. 20, S. 99. 40 Ibidem. 41 R. Alexy, Fn. 20, S. 98 (auch S. 94–95). 42 Ibidem, S. 75 u. f. 43 Ibidem, S. 92–93. 38

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der Umstand, daß eine Kollision nicht nur zwischen den Grundrechten und Freiheiten untereinander entstehen kann, sondern auch zwischen Grundrechten bzw. Freiheiten und kollektiven Gütern bestehen kann, dokumentiert auch ein Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Ist das Lebach-Urteil eine Illustration zur Kollision von zwei Prinzipien – des Rechts auf Persönlichkeitsschutz und der Rundfunkfreiheit,44 so ist die Entscheidung in der Frage der Zulässigkeit einer Gerichtsverhandlung45 ein Beispiel der Kollision zwischen dem Recht auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit einerseits und dem Prinzip der Absicherung eines wirksamen strafrechtlichen Schutzes (d.h. eines Kollektivguts) andererseits.

44 Im Lebach-Urteil (BVerfGE, 35, 202 ff.) behandelte das Bundesverfassungsgericht der BRD den Fall eines Fernsehspiels über einen Häftling, der gerade entlassen werden sollte und der eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts infolge der mit der Veröffentlichung verbundenen Erschwerung seiner Resozialisation behauptete. In der Rekonstruktion des Falles hält Alexy die Kollision des Schutzes der Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) mit der Freiheit der Medienberichterstattung (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) für das Kernproblem. Doch muß der Fall m. E. juristisch anders rekonstruiert werden: Es ging um eine zivilrechtliche Unterlassungsklage, die mit dem durch die Verfassung gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht begründet wird, das u. a. durch das Gesetz über das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie konkretisiert wird. Der Kläger sah in der geplanten Ausstrahlung des Fernsehspiels eine rechtswidrige Verletzung seines Persönlichkeitsrechts, seines Namensrechts und seines Rechts am eigenen Bild. Sein Antrag, dem ZDF im Wege der einstweiligen Verfügung die Ausstrahlung des Spiels zu verbieten, soweit darin seine Person dargestellt oder namentlich erwähnt werde, wurde vom Landgericht und vom Oberlandesgericht abgelehnt. Beide Entscheidungen wurden auf §§ 22 und 23 des genannten Urhebergesetzes gestützt. Die zweitinstanzliche Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 5. Oktober 1972 (NJW 1973, S. 251 = JZ 1973, S. 279) ist im wesentlichen wie folgt begründet: Im vorliegenden Fall sei eine Güterabwägung vorzunehmen zwischen dem Recht am eigenen Bild im Sinne von §§ 22 und 23 des Kunsturhebergesetzes, das als besondere Erscheinungsform des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter den Wertvorstellungen der Art. 1 und 2 Abs. 1 GG zu sehen sei, und dem Bedürfnis nach sachgerechter Information über im öffentlichen Interesse stehende Personen, das in § 23 des Kunsturhebergesetzes anerkannt werde und im Hinblick auf die in Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsfreiheit und Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk auszulegen sei. Schließlich stünden berechtigte Interessen des Klägers im Sinne von § 23 Abs. 2 des Kunsturhebergesetzes dem Vorhaben des ZDF, so das Oberlandesgericht, nicht entgegen. Entscheidend ist also die Frage, ob die Bedingungen für die Anwendung der legis specialis (des § 23 Abs. 2 des Kunsturhebergesetzes) gegenüber der legi generali (§ 22 und § 23 Abs. 1 des Kunsturhebergesetzes) erfüllt sind oder nicht. Die Prinzipienkollision entsteht damit bei der Beurteilung der Erfüllung des Tatbestandes einer Rechtsnorm, und nicht, wie dies bei einem normativen Widerspruch der Fall ist, als Widerspruch der normativen Folgen von zwei Rechtsnormen. 45 In der Sache BVerfGE 51, 324 u. f., behandelte das Bundesverfassungsgericht die Frage der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten, der durch Gehirnschlag und Herzinfarkt gefährdet war, wobei das „Spannungsfeld“ zwischen der Pflicht des Staates, einen funktionellen strafrechtlichen Schutz zu gewährleisten, und dem Recht des Angeklagten auf den Schutz des Lebens und der persönlichen Integrität abgewogen wurden.

II. Doktrinäre Bildung

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Alexy verband in seinen Erwägungen eine gegenüber der Dworkins modifizierte Konzeption der Rechtsgrundsätze mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: „Zwischen der Prinzipientheorie und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besteht ein Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist so eng wie nur möglich: Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und dieser impliziert jenen. Daß der Prinzipiencharakter den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz impliziert, bedeutet, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit seinen drei Teilgrundsätzen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit (Gebot des mildesten Mittels) und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (eigentliches Abwägungsgebot) aus dem Prinzipiencharakter logisch folgt, also aus ihm ableitbar ist . . . Prinzipien sind Optimierungsgebote relativ auf die rechtlichen und die tatsächlichen Möglichkeiten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also das Abwägungsgebot, folgt aus der Relativierung auf die rechtlichen Möglichkeiten . . . Die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit folgen demgegenüber aus dem Charakter der Prinzipien als Optimierungsgebote relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten.“46 Alexys These, die größtenteils akzeptiert wird,47 kann also folgendermaßen formuliert werden: • Prinzipien/Grundsätze sind eine Art von Normen, für die ihre approximative, nicht absolute Gültigkeit charakteristisch ist. • Gegenstand von Prinzipien sind sowohl Grundrechte und Freiheiten, als auch kollektive Güter. • Der Charakter eines Prinzips, d.h. der Umstand, das eine gewisse Norm ein Prinzip darstellt, ist lediglich im Falle einer Kollision mit einem anderen Prinzip erkennbar, sowie durch seine Eigenschaft, in verschiedenem Maße erfüllbar zu sein. • Die Kollision von Prinzipien ist anhand der Methode des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu lösen, bzw. gemäß dem Optimierungsgebot hinsichtlich der Erfüllung beider kollidierender Prinzipien. In der Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spielt das Abwägungsgebot die Hauptrolle bei der Optimierung des Ergebnisses. • Aus dem Obigen ergibt sich, daß Prinzipien als Optimierungsgebote definiert werden. Lassen wir in unseren Erwägungen die wichtigsten Einwände der Opponenten der Abwägungsmethode beiseite, seien sie gegen die judizielle Praxis bei der Anwendung von Grundrechten48 oder aber lediglich gegen die Optimie46

Ibidem, S. 100–101. Siehe z. B. J. R. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems. Baden-Baden 1990, S. 52 u. f.; M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien. Baden-Baden 1998. 47

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

rungskonzeption gerichtet.49 Ihr gemeinsamer Nenner ist der Einwand der Abwägungswillkür, der Verlust der Rechtssicherheit und die negative Entwicklung in Richtung zum Richterstaat, verbunden mit einer richterlichen Beschränkung des Raumes für die Fortbildung des Rechts durch die gesetzgebende bzw. die exekutive Gewalt. Diese Einwände betreffen die Problematik des Kognitivismus und Dezisionismus im richterlichen Entscheiden, aber auch die Probleme eines Richterstaates, mit denen ich mich an einer anderen Stelle auseinandergesetzt habe.50 Die kritische Prüfung von Alexys These wird andere Wege gehen. Sie wird der Frage nachgehen, ob im Falle einer Kollision von Grundrechten bzw. von Grundrechten und kollektiven Gütern das Optimierungsgebot universell gültig ist. Ob also die These Gültigkeit hat, nach der „die Abwägungsprobleme eigentlich Optimierungsprobleme sind“.51 III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht? 1. Kann das Verfassungsgericht Prozentsätze überprüfen? Am 18. August 2004 entschied das Verfassungsgericht durch Befund Akte Nr. Pl. ÚS 7/03 über die Verfassungskonformität der Verordnung des Finanzministeriums Nr. 487/2001 des Gesetzblattes, durch die die Verordnung des Finanzministeriums Nr. 125/1993 des Gesetzblattes, die Bedingungen und Tarife der gesetzlichen Versicherung der Haftung des Arbeitgebers für den Schaden bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten regelte, geändert wird. Der Antragsteller, eine Gruppe von Senatoren, bemängelte neben dem Fehlen der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verabschiedung der angefochtenen Verordnung auch ihren Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Gleichheit und Verhältnismäßigkeit. Der Antragsteller führte an, daß die Erhöhung der Prämie unregelmäßig durchgeführt wurde, da bei einigen Wirtschaftstätigkeiten der Anstieg mehr als das Vierfache erreicht, bei allen anderen aber höchstens ein Viertel. Diese Unregelmäßigkeit hielten die Senatoren für unvereinbar mit der Forderung, nach der die eventuellen Unterschiede sachlich zu begründen sind, z. B. durch ein nachweislich höheres Maß an Risiko. Durch 48 Siehe besonders B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht. Berlin 1976, S. 134 u. f.; E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. In: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1991, S. 159, 189 u. f. 49 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992, S. 310 u. f. 50 Siehe Kapitel C. und D. 51 J. R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen. Rechtstheorie, Heft 1, 1995, S. 47.

III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht?

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diese Änderung wurden nach deren Ansicht gewisse Arbeitgeber merklich mehr belastet als einige andere, ohne daß eine höhere Wahrscheinlichkeit von Verletzungen oder Berufskrankheiten gegeben wäre. Soweit der Antragsteller eine verfassungswidrige Ungleichheit und eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch die besagte Verordnung geltend machte, erklärte der Beteiligte am Verfahren, d.h. das Finanzministerium, in seiner Stellungnahme diese Tatsache dadurch, daß eine markantere Erhöhung von Versicherungssätzen (Koeffizient 4,2) sich bei solchen ökonomischen Tätigkeiten als unerläßlich erwies, die langfristig den ungünstigsten Schadenverlauf ausweisen (beim Kohlenbau entsprachen im Jahre 2000 die Versicherungserfüllung 778,9% der eingezahlten Prämien, bei Urangewinnung 509,0% und bei Erzgewinnung 118,6%). Das Verfassungsgericht stand damit vor der Frage der Methode der Entscheidung in Fällen der Beurteilung der Verfassungskonformität von Steuern, Gebühren, bzw. einer anderen gesetzlich bestimmten Zahlungspflicht (in diesem Rahmen auch der gesetzlich bestimmten Pflichtversicherung), sowie der Geldstrafen. Zur Frage der Qualifikation der Regelung der gesetzlich vorgesehenen Pflichtversicherung als Enteignung, bzw. als Begrenzung des Eigentumsrechts nach Art. 11 Abs. 4 der Charta von Grundrechten und Freiheiten, äußert sich das Verfassungsgericht in seinem Befund Pl. ÚS 12/94. Es stellt fest, daß die rechtliche Regelung beim Einzahlen von Prämien keine Enteignung darstelle, da „Art. 11 Abs. 4 der Charta materielle Rechte voraussetzt“, wobei „der Erlös aus Erwerbstätigkeit nicht zu diesen gehört“. In Sachen Pl. ÚS 3/02 und Pl. ÚS 12/03 beurteilte das Verfassungsgericht die Frage der Verfassungskonformität einer anderen gesetzlichen Zahlungspflicht, und zwar die Höhe der Strafe im Bauverfahren. Es stellte fest, daß „die gesetzlich bestimmte Minimalhöhe der Strafe so zu bestimmen ist, daß mindestens zu einem gewissen Maße die Eigentumslage und die Personalbedingungen des Delinquenten berücksichtigt werden, im gegebenen Falle so, daß die auferlegte Strafe, obschon in Minimalhöhe, keinen Liquidationseffekt für den Delinquenten herbeiführt, bzw. daß infolge dessen jede unternehmerische Tätigkeit während einer beträchtlichen (mehrjährigen) Zeitspanne jeden Sinn verliert“. Wird dieser Grundsatz nicht berücksichtigt, so handelt es sich nach der Überzeugung des Verfassungsgerichts um einen Eingriff in die Eigentumsrechte des Einzelnen, der angesichts seiner Intensität eine Verletzung des Art. 11 Abs. 1 der Charta und Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention über den Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten darstellt. Von den obigen Ausgangspunkten aus versuchte dann das Gericht, für die Überprüfung der Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelungen der Steuern, Gebühren, ähnlichen gesetzlich bestimmten Pflichtabgaben (in diesem Rah-

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

men auch der gesetzlich vorgegebenen Pflichtversicherung) sowie Geldstrafen folgende Kriterien zu entwickeln: Aus dem Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung (Art. 2 Abs. 1 der Verfassung) sowie der verfassungsrechtlichen Abgrenzung der gesetzgebenden Gewalt (Art. 15 Abs. 1 der Verfassung) ergibt sich dem Gericht zufolge für den Gesetzgeber ein breiter Raum zur Entscheidung über den Gegenstand, das Maß und den Umfang der Steuern, Gebühren und Geldsanktionen. Der Gesetzgeber trägt dabei für die Folgen dieser Entscheidungen politische Verantwortung. Obschon eine Steuer, eine Gebühr oder eine Geldstrafe eine Geldleistungspflicht zugunsten des Staats im Rahmen des öffentlichen Rechts darstellt und daher einen Eingriff in das Eigentumssubstrat darstellt, und also auch das Eigentumsrecht des pflichtigen Subjektes betrifft, stellt es keine Verletzung der durch die Verfassungsordnung geschützten Eigentumslage dar, wenn nicht weitere Bedingungen hinzukommen (Art. 11 der Charta, Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention). Eine verfassungsrechtliche Überprüfung einer Steuer, einer Gebühr und einer Geldsanktion umfaßt dann nach Ansicht des Verfassungsgerichts eine Prüfung der Voraussetzungen, die sich aus dem Verfassungsprinzip der Gleichheit ergeben, und dies sowohl nichtakzesorisch (Art. 1 der Charta), d.h. aus der Forderung, jede Willkür bei der unterschiedlichen Behandlung von Subjekten und Rechten auszuschließen, als auch akzessorisch in dem Umfang, der durch Art. 3 Abs. 1 der Charta vorgesehen ist (eine hypothetische Illustration der Verletzung von Zulässigkeitsvoraussetzungen akzessorischer Ungleichheit wäre eine Regelung, die die Besteuerung unter Berücksichtigung des Glaubensbekenntnisses differenzierte, und daher im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Charta diskriminierend wäre, und gleichzeitig die Glaubensfreiheit – Art. 15 Abs. 1 der Charta – verletzte). Sofern der zu beurteilende Gegenstand die Verfassungskonformität einer akzessorischen Ungleichheit unter Ausschluss einer Vermögensdiskriminierung ist, bzw. lediglich die Prüfung, ob eine Steuer, eine Gebühr bzw. eine Geldsanktion eine eventuelle Verletzung des Eigentumsrechtes darstellt (Art. 11 der Charta, Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention), so ist eine solche Revision lediglich auf Fälle begrenzt, in denen die Grenze einer öffentlich-rechtlichen Geldleistungspflicht eines Einzelnen dem Staat gegenüber dem Eigentumssubstrat des Einzelnen eine erdrosselnde Wirkung erlangt; in anderen Worten, sofern die zu beurteilende Steuer, die Gebühr bzw. die Geldsanktion in ihren Folgen eine Konfiskationswirkung für das Eigentumssubstrat des Einzelnen hat. Vor vielen Jahren ist Miroslav Hornícˇ ek, berühmter tschechischer Schauspieler und Humorist, in einem Fernsehprogramm mit einem Monolog zu seinem Wirken in der Operette zurückgekehrt. Um die Pointe der Erzählung auszuspielen, beschrieb er detailliert die Bekleidung der Kollegin, die in der Titelrolle sang und spielte. Nach einer kurzen dramatischen Pause beendete er die Be-

III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht?

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schreibung mit den Worten: „Ich hätte sie schon anders angezogen, allerdings habe ich nicht die Regie geführt.“ In der Sache der Verfassungskonformität der Tarife der gesetzlichen Versicherung der Haftung des Arbeitgebers für den Schaden bei einem Arbeitsunfall oder bei einer Berufskrankheit könnte man das Entscheidungsergebnis des Verfassungsgerichts mit einem ähnlichen Bonmot charakterisieren. Vom methodologischen Blickwinkel verwendete also das Verfassungsgericht zur Lösung der Kollision von Grundrecht (des Rechts auf Eigentum und des Grundrechtes, das sich aus der Gleichheit ergibt) und kollektivem Gut (präventive Absicherung von Mitteln zur Deckung von Schäden durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) auf der einen Seite den Grundsatz des Ausschlusses einer extremen Disproportionalität, und auf der anderen Seite wandte es bei der Beurteilung der Verfassungskonformität der unterschiedlichen Behandlung von Rechten und Subjekten von den Teilkomponenten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lediglich den Grundsatz der Geeignetheit an, allerdings nicht den Grundsatz der Erforderlichkeit und das Gebot der Abwägung. Implizit verneinte es also die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einem Falle, in dem die Beurteilung der Verfassungskonformität eines Gesetzes, einer sonstigen Rechtsregelung, einer gerichtlichen Entscheidung oder eines anderen Eingriffs einer Behörde der öffentlichen Gewalt von der Beurteilung der Kollision zwischen einem Grundrecht bzw. einer Freiheit und einem gewissen Typ eines kollektiven Gutes abhängt, und damit die Universalität des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 2. Europäische Umschau Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält in seiner Rechtsprechung die Besteuerung nach unterschiedlichen Vermögens- und Einkommenskriterien für sachlich gerechtfertig, womit keine Verletzung der Rechte vorliegt, die aus Art. 14 der Konvention folgen.52 Obschon die Berechtigung des Staates zur Erhebung von Steuern und sonstigen Gebühren sowie zur Festsetzung von Geldstrafen aus Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Konvention gegeben ist, kann immerhin aus der Rechtsprechung des Gerichts und der Kommission entnommen werden, daß dadurch der Eigentumsschutz auf dem Gebiet der Steuern, Gebühren und Geldstrafen nicht voll beseitigt ist. Die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Steuern, Gebühren und Geldstrafen nicht mißbraucht werden oder unverhältnismäßig sind, bleibt nämlich erhalten. Ein Beispiel für solche Fälle sind Steuern mit Konfiskationsfolgen, die der Steuerzahler lediglich mit der Substanz seines Eigentums abdecken kann.53 52 Siehe J. A. Frowein/W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention. EMRKKommentar, 2. Aufl., Kehl/Straßburg/Arlington 1996, S. 476.

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts der BRD entschied in seinem Befund BVerfGE, 93, 121 u. f. über die Verfassungskonformität einer gesetzlichen Bestimmung, die eine Ungleichheit der Vermögensteuer bei Landbesitz bewirkte, und zwar in Abhängigkeit davon, ob die Bewertung des Vermögensguts nach einem „Einheitswert“ erfolgt oder nicht. Aufgrund der Annahme einer nicht gerechtfertigen Ungleichbehandlung schaffte das Gericht die gegebene Bestimmung ab. Darüber hinaus formulierte es, ohne Bezug zu den tragenden Entscheidungsgründen, die Rechtsansicht, nach der die Steuern einen Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Eigentumspositionen darstellen; die Vermögensteuer interpretierte es im Sinne der Besteuerung des Erlöses vom Vermögen (und zwar auch eines potentiellen), wobei es die Grenze der Verhältnismäßigkeit und damit der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Steuer auf der Höhe von etwa der Hälfte der Erlöse bestimmte. Ernst-Wolfgang Böckenförde resümiert in seiner abweichenden Stellungnahme zur Begründung (also nicht zum Tenor) dieser Entscheidung zunächst die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts bei der Beurteilung der Verfassungskonformität von Steuern. Jene Konzeption beruhte auf drei Thesen. Nach der ersten These stellt eine Steuer einen Eingriff in die Eigentumsposition des Steuerpflichtigen dar. Nach der zweiten These ist dieser Eingriff allerdings keine Verletzung der verfassungsrechtlich geschützten Vermögensposition, es sei denn, nach der dritten These, der Eingriff erdrosselnde Wirkung, also de facto Konfiskationsfolgen, hätte. Böckenförde bemängelt an der Entscheidung, daß sie die Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs von Steuern in das Eigentumsrecht angestellt habe, obwohl sie nicht tragende Entscheidungsgründe, sondern lediglich ein „obiter dictum“ gewesen seien, und als solche seien diese Erwägungen im Entscheidungskontext überflüssig. Ferner habe das Gericht somit in die Kompetenz des Gesetzgebers eingegriffen, ohne das Gebot des „judicial self-restraint“ zu respektieren. Dadurch seien die von der Verfassung festgesetzten Grenzen der Gewaltenteilung zwischen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht verschoben worden. Nach Böckenfördes Überzeugung wurde vom Gericht nicht anerkannt, daß die Bestimmung der Steuerlast wesentlich sowohl von wirtschaftlichen als auch von politischen Faktoren abhängig ist; die letzteren sind von historischen Bedingungen beeinflusst und veränderbar. Das erste Senat des Bundesverfassungsgerichts blieb im Gegensatz zum zweiten Senat nachfolgend in der Entscheidung BVerfGE 97, 350 bei der traditionellen Formulierung, daß ein Eingriff in das Eigentum lediglich bei erdrosselnder Wirkung einer Steuer gegeben ist, und stellte gleichzeitig fest, daß es keine Divergenz zwischen den Senaten gebe.54 53

Ibidem, S. 824. Zur Interpretation der erwähnten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe z. B. J.-R. Sieckmann, Grundrechtliche Abwägung als Rechtsanwendung – das 54

III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht?

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Meines Erachtens könnten die Rechtsansichten des Bundesverfassungsgerichts in dem Sinne interpretiert werden, daß sie zwischen der Verhältnismäßigkeit im Sinne des Optimierungsgebotes und der Verhältnismäßigkeit im Sinne des Ausschließens einer extremen Unverhältnismäßigkeit oszillieren. Dies deutet an, ähnlich wie bei den Befunden des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik Pl. ÚS 12/94, Pl. ÚS 3/02, Pl. ÚS 12/03, Pl. ÚS 7/03, daß im Falle der Beurteilung einer Kollision zwischen einem Grundrecht auf der einen Seite und einem kollektiven Gut auf der anderen Seite die Lösung mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht universell durch ein Optimierungsgebot gegeben ist, sondern auch mittels der Maxime des Ausschlusses lediglich einer extremen Unverhältnismäßigkeit bestimmt werden kann. 3. Problem des Funktionierens einer Theorie: Führt eine Ausnahme zur Modifikation der Theorie? Die Anwendung des Grundsatzes des Ausschlusses einer extremen Unverhältnismäßigkeit im Falle der Kollision zwischen einem Grundrecht und einem kollektiven Gut ist auch in einem anderen Umfeld vorstellbar, nämlich in Fällen von Kollisionen zwischen einerseits kollektiven Gütern, die mittels Steuern, Gebühren, sonstigen Zahlungspflichten und Geldstrafen gewährleistet werden, und dem Eigentumsrecht auf der anderen Seite. Wahrscheinlich ist es lediglich der mangelnden Findigkeit des Rechtsanwaltstandes zu verdanken, daß das Verfassungsgericht bisher mit keinem Antrag nach § 74 Gesetz Nr. 182/1993 des Gesetzblattes (d.h. einem zur Verfassungsbeschwerde akzessorischen Antrag auf Normenkontrolle) konfrontiert wurde, mit dem ein Beschuldigter in einer Strafsache gegen die Unverhältnismäßigkeit einer strafrechtlichen Sanktion zu Felde gezogen wäre und mit dem Optimierungsgebot argumentiert hätte. Wäre überhaupt die Anwendung des Optimierungsgebotes denkbar, ohne daß dem Gericht die Frage der Gewaltenteilung gestellt wäre? Beispiele aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik, des Bundesverfassungsgerichts der BRD oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deuten an, daß in gewissen Fällen die Kollisionen zwischen Grundrechten und kollektiven Gütern mittels einer anderen Struktur der Proportionalität als der des Optimierungsgebots zu beurteilen sind. Ronald Dworkin hätte wahrscheinlich auf diese Frage, ohne zu widersprechen, mit Hinweis auf seine eigene Konzeption des Rechtsgrundsatzes reagiert, d.h. mit Hinweis auf das Ausschalten von Politiken im Rahmen der Abwägung Problem der Begrenzung der Besteuerung. Der Staat, 41. Band, 2002, Heft 3, S. 385– 405; Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Hrsg. K. H. Friauf/W. Höfling, Berlin 2003, C Art. 14.

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

geeigneter Prinzipien. In seiner Konzeption von Grundsätzen und deren Abwägung (sowie Optimierung) ist nämlich eine Kollision des Grundrechts mit dem kollektiven Gut im Sinne einer Kollision von Prinzipien nicht denkbar. Vom Blickwinkel der gerichtlichen Praxis ermöglicht allerdings eine solche „Beseitigung“ des Problems keine befriedigenden Ergebnisse. Man kann nämlich eine ganze Reihe von Beschlüssen verschiedener Verfassungsgerichte anführen, in denen eine solche Kollision eines Grundrechts mit dem kollektiven Gut mit Hilfe der Methodologie des Optimierungsgebots behandelt wurde, und die dabei auch vom Blickwinkel sonstiger Verfassungsprinzipien (d.h. auch der Gewaltenteilung) zu einem akzeptablen Ergebnis gelangten – ein Beispiel dazu ist der bereits erwähnte Befund in der Sache der Verfassungskonformität der Begrenzung der Dispositionsberechtigung einer Gemeinde über Gemeindewohnungen, die für den Bedarf von Zugehörigen der Streitkräfte und der bewaffneten Körper dienten (Pl. ÚS 15/96), und eventuell der Befund in der Sache der Verfassungskonformität der Sicherheitsüberprüfung als Bedingung des Zugangs von Verteidiger im Strafverfahren zu geheimgehaltenen Tatsachen (Pl. ÚS 41/02). Robert Alexy würde mit aller Wahrscheinlichkeit einen Teil der kollektiven Güter zu Regeln erklären, die zum Abwägen ungeeignet sind, und würde sie vom Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (des Optimierungsgebots) ausschließen, und dadurch diese dem Anwendungsrahmen „Konflikt von Regeln“, bzw. dem „Entweder-oder“-Verfahren unterwerfen. Der Beschluß des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik in der Sache der Verfassungskonformität der Tarife der gesetzlichen Versicherung der Arbeitgeber für Schäden durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit ist ein Beispiel der Lösung einer Kollision des kollektiven Gutes, abgesichert durch das Institut einer Zahlungspflicht und des Eigentumsrechts, bei der das Gericht das Optimierungsgebot nicht einsetzte, gleichzeitig sich aber nicht der Lösungsmethode von Normkonflikten bediente (bzw. der „Entweder-oder“-Methode), sondern eine abweichende Struktur der Verhältnismäßigkeit verwendete, wobei lediglich eine extreme Unverhältnismäßigkeit ausgeschlossen wurde. Das Gericht fand Inspiration in einer inhaltlich identischen, ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der BRD zur Verfassungskonformität von Steuern, Gebühren, sonstigen Pflichtzahlungen und Geldstrafen. Sofern beide Gerichte in den erwähnten Sachen zu befriedigenden und akzeptablen Resultaten gelangen konnten, so wäre dies auch eine Abweichung von der vermutlichen Konzeption Alexys. Das Oberste Gericht der USA würde auf das obige Problem durch die Differenzierung der Überprüfung der Verfassungskonformität reagieren, einerseits mit einer Methode die als „rational basis test“ bezeichnet wird, andererseits mit einer Methode, die im Falle der sog. „suspect classification“ Anwendung findet. Zwischen diesen beiden Extremfällen befindet sich ferner eine mittlere Intensität der Überprüfung (intermediate scrutiny). Nach der ersten der angeführten

III. Proportionalität und Optimierung: Identität oder nicht?

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Methoden zur Bestimmung der Verfassungskonformität irgendeiner rechtlichen Regelung ist es ausreichend, wenn sie sich in einer rationalen Beziehung zum Zweck des Gesetzes befindet, d.h. sofern sie auf irgendeine Art und Weise das Erreichen dieses Zweckes unterstützen kann. Eine Verfassungswidrigkeit ist unter diesem Gesichtspunkt lediglich dann gegeben, wenn die staatliche Regelung willkürlich ist und auf keine denkbare Weise das Erreichen des Zweckes beeinflussen kann. In der Praxis des Obersten Gerichtes wird in der Regel gerade das obige Verfahren angewendet. Lediglich dann, wenn eine sog. verdächtige Klassifikation (suspect classification) erörtert wird, wie z. B. in Sachen der Rassendiskriminierung, werden vom Gericht strengere Kriterien angewendet (strict scrutiny test). Nach diesem Verfahren ist die Verfassungskonformität lediglich dann gegeben, wenn eine enge Verbindung zwischen den gesetzlichen Mitteln (einer Ungleichbehandlung) und dem Zweck des Gesetzes gegeben ist, in anderen Worten muß dieses Mittel geeignet und so nützlich wie nur möglich zur Verwirklichung eines über alle Maße wichtigen allgemeinen Zwecks sein.55 Die Menge von Fällen, auf die ein „strict scrutiny test“ (bzw. Optimierungsgebot) anzuwenden ist, bildet das Gericht a posteriori. In anderen Worten, das regelmäßige Verfahren im Kollisionsfall ist der „rational basis test“ (d.h. lediglich extreme Unverhältnismäßigkeiten werden ausgeschlossen), wobei das Optimierungsgebot nur in einem beschränkten Rahmen Anwendung findet. Es scheint also, und dies ist die Hauptthese der vorliegenden Erwägung, daß in einem Teil der kollektiven Güter im Falle ihrer Kollision mit Grundrechten eine andere Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gilt als diejenige eines Optimierungsgebots. Es scheint, daß diese Verhältnismäßigkeitsstruktur auf dem Ausschluß lediglich extremer Unverhältnismäßigkeit beruht. Akzeptieren wir die Voraussetzung, nach welcher der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in einer durch das Optimierungsgebot gegebenen Struktur in der Rolle eines Paradigmas des Verfassungsrechts angewendet wird, so taucht die Frage der Interpretation der angedeuteten Ausnahmen auf. Nach Thomas Kuhn wird auf dem Gebiet der Wissenschaft im Falle, daß Ausnahmen von der Wirkung eines Paradigmas vorkommen, wie folgt verfahren: „Den anfänglichen Versuchen, ein andauerndes Problem zu lösen, werden fast ausnahmslos paradigmatische Regeln verfolgen. Dauert jedoch die Anomalie an, so werden immer mehr Lösungsversuche kleinere oder größere Modifikationen des Paradigmas enthalten.“56 Führt keine der Lösungen zu befriedigenden Ergebnissen, so

55 W. Brugger, Fn. 18, S. 117 u. f.; siehe auch J. E. Nowak/R. D. Rotunda, Fn. 19, S. 568 u. f.; K. M. Sullivan/G. Gunther, Constitutional Law. 14. Ed., New York 2001, S. 605 u. f., 628 u. f.; M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S.Supreme Court. Berlin 1997, S. 49 u. f., 68 u. f., 256, 258, 262. 56 T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970. Zit. nach der slowakischen Ausgabe: Štruktúra vedecky´ch revolúcií. Bratislava 1982, S. 134.

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B. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

öffnet sich nach Kuhn der Raum für das Formulieren, das Überprüfen sowie die Annahme eines neuen Paradigmas.57 Eine Modifikation des bestehenden Paradigmas zur Lösung einer Kollision des Grundrechts mit dem kollektiven Gut könnte durch zweierlei mögliche Verfahren erzielt werden: entweder durch judizielle, aposteriore Formulierung von Ausnahmen vom Optimierungsgebot oder durch die Formulierung einer generellen Regel apriori, die eine Subsumtion ermöglicht. Für eine allgemeine Abgrenzung kollektiver Güter, bei denen im Falle einer Kollision mit Grundrechten lediglich der Grundsatz des Ausschlusses einer extremen Disproportionalität (und kein Optimierungsgebot) zu verwenden ist, fehlt ein genaues Kriterium.58 Nicht einmal die Gewaltenteilung kann ohne weiteres ein solches Kriterium bieten. Es gibt nämlich Fälle eines von der gesetzgebenden Gewalt formulierten kollektiven Gutes, das im Falle einer Kollision mit einem Grundrecht intuitiv als geeigneter Gegenstand der Abwägung gemäß einem Optimierungsgebot erscheint. Es ist anzunehmen, daß die angedeuteten Ausnahmen, die zum Formulieren der These über verschiedene Strukturen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führen, noch keine Formulierung einer allgemeinen Regel zum Modifizieren des Paradigmas ermöglichen. Eher ist ein Verfahren auf dem zweiten der angedeuteten Wege zu erwarten, d. h. die Formulierung von Ausnahmen von der Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, verstanden als Optimierungsgebot, die allmähliche Präzisierung des Prinzips des Ausschlusses einer extremen Disproportionalität sowie die Erweiterung des empirischen Materials, das künftig eine ausreichende Basis zur Verallgemeinerung bilden kann.

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Ibidem, S. 136. Dies konnte bisher nicht einmal als Ergebnis theoretischer Arbeiten abgeleitet werden, die der rechtlichen Analyse der Problemkreise der kollektiven Güter gewidmet waren, siehe z. B. R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse. Tübingen 1999. 58

C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten I. Fünfzehn Jahre der Anwendung der Charta Die Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten ist in der Geschichte des öffentlichen Rechtes auf dem Gebiet der Tschechischen Republik der erste Katalog der Menschenrechte, der mit der Ambition moderner Kataloge auftritt, d.h. mit dem Anspruch auf unmittelbare Verbindlichkeit, dem Anspruch in keiner Position einer teleologischen Proklamation, sondern einer unmittelbaren Rechtsquelle zu wirken, der auch die institutionelle – gerichtliche – Erzwingbarkeit zukommt. Unter diesen Umständen standen 1991 die Gerichte vor die Aufgabe, die Charta in der Entscheidungspraxis anzuwenden. Im reellen Leben begann die Erfüllung dieser Aufgabe mit der zehnmonatigen Tätigkeit des Verfassungsgerichtes der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik im Jahre 1992, seit Herbst 1993 dann mit der Aktivität des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik (im folgenden „Verfassungsgericht“), in allen beiden in Verfahren über Verfassungsbeschwerden und im Laufe der Zeit auch in einer Reihe von Fällen, insbesondere unter dem Einfluss der Judikatur des Verfassungsgerichtes, auch durch die Entscheidungstätigkeit der ordentlichen Gerichte. Die Anwendungspraxis stand allerdings unvorbereitet vor der gestellten Aufgabe. Die mangelnde Vorbereitung war durch dreierlei Defizit bedingt: Das erste Defizit ist die Absenz einer kulturellen Tradition der direkten Anwendbarkeit der Verfassung. Noch im Jahre 1937 vertritt F. Weyr, die leitende Persönlichkeit der Tschechoslowakischen Konstitutionalistik, in der europäischen „Fehde“ zwischen der deutschen und der französischen Theorie des Verfassungsrechtes bezüglich der unmittelbaren Verbindlichkeit einzelner Verfassungsbestimmungen die Ansicht, nach der „vom juristischen Standpunkt entschieden den deutschen Theorien der Vorrang zu geben ist“, die „die dazugehörigen Verfassungsbestimmungen über bürgerliche Rechte und Freiheiten und deren Garantien größtenteils lediglich für akademische Prinzipien halten, für ,Monologe des Gesetzgebers‘, die in der Praxis nicht die Bedeutung von verbindlichen Normen für die Gerichte und Verwaltungsämter haben“59. 59

F. Weyr, Fn. 4, S. 248.

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

Vierzig Jahre des kommunistischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg machten dann aus der Verfassung einen bloßen „Papierfetzen“ ohne jegliche Relevanz (vielleicht mit Ausnahme der propagandistischen). Das zweite Defizit ist die Nichtexistenz eines modernen Katalogs von Grundrechten und Freiheiten bis zur Zeit der Annahme der Charta, d.h. der Umstand, daß Generationen von Juristen mit der Entwicklung des demokratischen menschenrechtlichen Denkens überhaupt nicht konfrontiert wurden. Und endlich das dritte Defizit ist die Abwesenheit der doktrinären Orientierung auf Fragen der rechtlichen Argumentation, Interpretation, des Richterrechts, auf Fragen nicht nur in bezug auf moderne Argumentationsweisen, wie die Argumentation durch Prinzipien und das Verhältnismäßigkeitprinzip, sondern auch des traditionellen Argumentierens, wie z. B. die Argumentation beruhend auf Analogie, auf der Natur der Sache u. dgl. Weder im wissenschaftlichen noch im pädagogischen Bereich sind in diesem Kontext in den vergangenen dreißig bis vierzig Jahren Arbeiten erschienen, die das Denken von juristischen Generationen geformt hätten, keine Arbeiten, für die in der deutschen und österreichischen Rechtswissenschaft die Werke von Karl Larenz,60 Karl Engisch,61 Martin Kriele,62 Josef Esser,63 Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann,64 Friedrich Müller65 und Franz Bydlinski66, bzw. im englischen Rechtsdenken die Arbeiten von Ronald Dworkin,67 Neil MacCormick68 oder Joseph Raz69 beispielhaft sind. Die Folge dieser Defizite ergibt sich im Formieren der Anwendung und der Auslegung der Charta, die der Applikation und Interpretation des einfachen Rechts analogisch sind. II. Unterschiede in der Anwendung der Charta und des einfachen Rechts – ein Blick prima facie Für das traditionelle europäisch-kontinentale Herantreten zur Anwendung des einfachen Rechts ist die kognitivistische Konzeption maßgeblich, die aus dem 60

K. Larenz, Fn. 16. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken. 8. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 1989. 62 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl., Berlin 1976. 63 J. Esser, Fn. 22. 64 H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre. München 1982. 65 F. Müller, Juristische Methodik. 3. Aufl., Berlin 1989. 66 F. Bydlinsky, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff. 2. Aufl., Wien/New York 1991. 67 R. Dworkin, Fn. 17. 68 N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory. Oxford-New York 1978. 69 J. Raz, Practical Reason and Norms. 3. Ed., Oxford/New York 1999. 61

II. Unterschiede der Charta und des einfachen Rechts

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Erbe der begrifflichen Jurisprudenz stammt. In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung M. Pavcˇ niks begründet: „Obwohl die Begriffsjurisprudenz keine Anhänger mehr hat, die sich völlig auf ihre Ausgangspunkte festlegen würden, muß man immer noch damit rechnen, daß sie als Ideologie der ,Rechtsanwendung‘ zumindest latent vorhanden ist. Dabei handelt sich um eine unkritische Gleichsetzung des Gesetzes mit dem Recht, der richterlichen Entscheidung mit der Wiederholung der Gesetzesnorm im Hinblick auf den konkreten Fall und um die Übertragung der Verantwortung auf einen imaginären Gesetzgeber.“70 Die Anwendung der Charta verläuft daher in der Regel durch Unterordnung der Tatbestandsfeststellung eines konkreten Falles unter den entsprechenden Normativrahmen des einfachen Rechts, zu dem auf dem Gebiet des Verfassungsrechtes, d.h. im Verfahren über Verfassungsbeschwerden in der Charta ein Verfassungspendant ausgesucht wird (ausgehend von der These, nach der die Grundrechte und Freiheiten auf dem Gebiet des einfachen Rechts als Regulativideen wirken, wodurch auf sie inhaltlich auch Normkomplexe des einfachen Rechts anknüpfen (z. B. Befunde des Aktenzeichens III. ÚS 224/98, III. ÚS 150/99, III. ÚS 545/99, III. ÚS 269/99). Von der Verletzung einer Norm des einfachen Rechts durch Eingriff eines Organs der öffentlichen Gewalt wird dann mehr oder minder „automatisch“ die Berührung des „führenden“ Verfassungsprinzips abgeleitet, das in der entsprechenden Bestimmung der Charta enthalten ist. Das angegebene kognitivistische Anwendungsmodell der Charta ist allerdings mit einer Klippe behaftet, die mit der Tatsache zusammenhängt, daß es aus zweierlei Subsumtion besteht: Die erste Subsumtion ist die Unterordnung der Tatbestandsfeststellung unter das einfache Recht (ausgehend von der Voraussetzung, daß nur in einer minimalen Anzahl praktischer Fälle eine Situation der Anwendung der Charta bei Absenz der durchführenden Gesetzgebung entsteht). Die Akzeptierbarkeit eines einfachen kognitivistischen Modells der Rechtsanwendung erscheint allerdings vom Gesichtspunkt der europäischen und angelsächsischen Rechtserfahrung sowie vom Blickwinkel der theoretischen Reflexion eher zweifelhaft.71 Es sei nur wiederholt bemerkt, daß Generationen tschechischer Juristen in diesem Zusammenhang mit Hinweis auf die einfachste Form des kognitivistischen Modells der Rechtsanwendung ausgebildet worden sind.72 70 M. Pavc ˇnik, Juristisches Verstehen und Entscheiden. Wien/New York 1993, S. 132. 71 Genau in diesem Zusammenhang bemerkt F. Bydlinski (Fn. 66, S. 396): „Die Problematik der Rechtsanwendung liegt jedoch nicht in diesem Schlußverfahren, sondern in der Vorbereitung des Ober- und Untersatzes, bis der Schluß endgültig gezogen (oder verneint) werden kann.“ 72 Obschon die bestehenden jüngeren Lehrbücher der Rechtstheorie auf die Kompliziertheit und Uneindeutigkeit der Subsumtion hinweisen (siehe z. B. V. Knapp, Teorie

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

Die zweite Subsumtion ist die Unterordnung des einfachen Rechts unter das Verfassungsrecht. Geht die Konzeption dieser Subsumtion von der These aus, nach der jede im einfachen Recht enthaltene Rechtsnorm ihr Verfassungskorrelat, bzw. ihre Verfassungsgrundlage, ihr leitendes Verfassungsprinzip besitzt, so entsteht die Frage, ob vom Blickwinkel der Anwendung der Charta zwischen ihr und dem einfachen Recht eine Äquivalenz besteht, die zur einfachen Deduktion über die Verletzung der einschlägigen Bestimmung der Charta führt, die sich ohne weiteres vom Spruch über die Verletzung der entsprechenden Durchführungsbestimmung des einfachen Rechtes ergibt. Wie auch seine bisherige Praxis belegt, ist die angedeutete Anwendungsweise der Charta für die Judikatur des Verfassungsgerichts in dem Verfahren über Verfassungsbeschwerden typisch. Daraus ergibt allerdings die Nichtabsonderung des Verfassungsrechtes vom einfachen Recht, die oftmalige Trivialisierung der Grundrechte und Freiheiten, und letztendlich die Überlastung des Verfassungsgerichts, was Grundfragen seiner Bestimmung aufwirft, d.h. Fragen der Beziehung zwischen dem faktischen Gerichtsschutz von Grundrechten und dem Prinzip der Gleichbehandlung im Verfahren vor dem Verfassungsgericht. III. Dezisionistische Revolte und die einander durchdringenden Wellen beider Tendenzen Das kognitivistische Dogma ist in Kontinentaleuropa mit dem Paradigma des legislativen Optimismus verbunden. Dessen Geburt kann gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. datiert werden. Gedankliche Quellen des Glaubens in die normbildende Aktivität der Gewalten waren der Rationalismus und die Aufklärung, die eng mit Erkenntnisoptimismus (Descartes, Kant) verbunden waren sowie mit der Vorstellung über die Mächtigkeit des menschlichen Denkens, beruhend in der Fähigkeit, a priori die Welt in Griff zu bekommen (im Rechtsdenken in Kodifikationskonzepte mündend), weiters waren dies auch die radikalen, die Französische Revolution begleitenden Interpretationen der Souveränität des Volkes, und endlich kann zu ihnen auch das aus den Zeiten des „ancien régime“ kommende Mißtrauen gegenüber den Gerichten gerechnet werden73. Nepráva (Rechtstheorie), Praha 1995, S. 187: „die Koinzidenz des faktischen Tatbestandes und des gesetzlichen Tatbestandes muß nicht eindeutig sein“, oder J. Boguszak/J. Cˇ apek, Teorie práva (Rechtstheorie), Praha 1997, S. 115: „in der Bestimmung sowie der Auslegung einer Rechtsnorm kann zwischen den Prozessen des Erkennens, der Logik und der Auswertung unterschieden werden“), wird immerhin den Interpretations- und Applikationsmethoden begrenztes Augenmerk geschenkt. 73 Interessante Beobachtungen zu gedanklichen Kontexten der Französischen Revolution siehe J. H. Merriman, Francouzská úchylka (Französische Abweichung), Právník, Nr.12, 1998 und besonders Ch. Perelman, Logik und Argumentation. Königstein 1994, S. 64: „Die Französische Revolution wollte, daß die Rolle des Richters restlos passiv sei, daß er sich lediglich auf die Anwendung von Gesetzen als klarem

III. Dezisionistische Revolte

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ben den gedanklichen Quellen sind auch die Umwandlungen der statischen und autarken mittelalterlichen Gesellschaft auf die dynamische und sich entwikkelnde Industrialgesellschaft zum Akzelerationsfaktor der Bildung von neuen Paradigmen geworden. Ein Beweis einer unbedingten Notwendigkeit der Beschleunigung von normativen Reaktionen auf gesellschaftliche Umwälzungen ist dann auf dem Rechtsgebiet die Wende vom Gewohnheitsrecht zum geschriebenen Recht geworden (was nicht nur für den europäisch-kontinentalen Typ der Rechtskultur, sondern auch für den angelsächsischen Typ, bzw. sonstige von Geltung ist). Die Folge dieser Wende ist die Kodifikationsära im 19. Jahrhundert und endlich die Hypertrophie von Rechtsvorschriften im 20. Jh. Auf das kognitivistische Paradigma knüpfen dann unumgänglich die Paradigmen der Rationalität, der Vollkommenheit, der Konsistenz und der hierarchischen Gestaltung der Rechtsordnung an. Bereits die zweite Hälfte des 19. Jh. brachte ausreichende Erfahrung bezüglich der Externalitäten (der ungewollten negativen Begleiterscheinungen) der erwähnten Paradigmen. Das Bild eines Richters in Form einer Maschine, die lediglich zur mechanischen Subsumtion von Tatbestandsfeststellung eines konkreten Falles unter eine a priori vollständige normative Regelung berufen wird, konnte in der Praxis, in der Konfrontation mit reellem Leben nicht funktionieren und funktionierte auch nicht. Der Grund des Versagens eines Richterbildes als Subsumtionsmaschine74 ist die Spannung zwischen dem Prinzip des Verbotes von denegatio iustitiae75 auf der einen Seite und der Unvollkommenheit des Rechtes auf der anderen Seite. Diese Unvollkommenheit ist von der Natur der Sache her durch eine Reihe von Ursachen gegeben76: Die erste und wahrscheinlich auch die grundlegende ist mit der Unmöglichkeit verbunden, die Vielfalt und die Entwicklung der Sachen und Beziehungen a priori zu erfassen. Die zweite Ursache der Unvollkommenheit des Rechts ergibt sich aus dem Charakter des Kommunikationsmittels, in dem die Rechtsvorschriften formuliert werden. Ohne Mitteilungsfähigkeit für die Adressaten verAusdruck des Staatswillens konzentrierte und, daß er wie ein Werkzeug wirke, das ganz unpersönlich und gleichmäßig den Willen des Gesetzgebers vollstreckt.“ 74 Siehe die klassische Äußerung von Ch. Montesquieu, nach der die Richter lediglich „Münder sind, durch die Worte des Gesetzes gesprochen werden; sie sind geistlose Wesen, die weder die Macht, noch die Strenge des Gesetzes lindern können“ (Ch. Montesquieu, Oeuvres complètes. Paris 1961. Tschechische Ausgabe: O duchu zákonu˚ . Praha 1947 (reprint 2003), S. 198). 75 Dieses Prinzip wurde erstmalig explizit in Artikel 4 des Code civil verankert, der dem Richter nicht gestattet, aus Gründen „des Schweigens, der Unklarheit oder Unzulänglichkeit des Gesetzes“ den Beschluß zu verweigern, wobei der Richter, der es täte, sich durch „Abneigung der Gerechtigkeit“ verschulden würde. 76 Ausführlicher siehe Kapitel E.

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

liert das Recht seinen vernünftigen Sinn, und in diesem Zusammenhang ist die Rechtssprache als Kommunikationsmittel ein fachbezogener Typ der natürlichen Sprache. Für eine natürliche Sprache sind allerdings semantische sowie syntaktische Ungenauigkeiten und Unbestimmtheiten sehr typisch, daher ist ein Subsumtionsprozeß des Öfteren auch ein Prozeß der kreativen Suche nach sprachlichen Bedeutungen. Auf diesen Umstand knüpft noch ein weiterer an, und zwar die Allgemeinheit der Rechtsnorm, die ihr Definitionsmerkmal ist. Die Allgemeinheit, die mit der Anwendung von Termina (sprachlichen Ausdrücken) verbunden ist, die Begriffe, nicht individualisierte Einheiten bezeichnen, ist von der Natur der Sache (der Sprache) her mit einer gewissen unscharfen Abgrenzung des Inhalts und des Umfangs von Begriffen verbunden. Die dritte Ursache, die die Unvollkommenheit des Rechts beeinflußt, ist wiederum von der Natur der rechtlichen Regelung her bedingte Unterschied in den Gesichtspunkten der Systemisierung des Rechts und der Strukturierung von Rechtsvorschriften auf der einen Seite und der Struktur der Rechtsnorm auf der anderen Seite geprägt, also einem Unterschied, der lediglich mit einem gewissen Interpretationsinstrumentarium, und in einer Reihe von Fällen nur mit kreativer Gedankenaktivität überbrückbar ist. Das theoretische Rechtsdenken in Kontinentaleuropa reagierte auf die entstandenen Spannungen durch Konzeptionen, die bemüht waren, die allgemeinen kulturellen Zeitparadigmen auch weiterhin zu respektieren, allerdings die negativen Einwirkungen der mit ihnen verbundenen Externalitäten zu lösen (und dies bereits in der Lehre von F. C. von Savigny, der im 19. Jh. Grundlagen der Methodologie der Auslegung des Rechtes in Kontinentaleuropa formulierte, einer Auslegung im Sinne der Rekonstruktion des im Gesetz enthaltenen Gedankens). Von der wachsenden Spannung zwischen den Thesen der im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa dominanten Begriffsjurisprudenz (Puchta, Bergbohm, Windscheid, der frühe Jhering) und der Realität der rechtlichen Praxis wird gegen Ende des 19. Jh. die dezisionistische Revolte gegen die kognitivistische Konzeption der Rechtsanwendung geboren. Grundströme dieser Orientierung wurden Interessensjurisprudenz (beginnend mit spätem Jhering und endend mit Heck), und insbesondere die Konzeption der Freirechtschule (Kantorowicz, Ehrlich, Gény). Diese neuen Wellen des Rechtsdenkens wurden mit Bemühungen gekennzeichnet, auf die angedeutete Spannung durch Analyse des möglichen Raumes für richterliche Aktivität auf dem Gebiet der Lücken im Recht zu reagieren.77 Aus analogen Anregungen formiert sich auch die dezisionistische Konzeption des amerikanischen Rechtsrealismus (Oliver Wendell Holmes). 77 Für alle sei in diesem Zusammenhang das Werk angegeben, das H. Kantorowicz unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlichte: Der Kampf um die Rechtswissenschaft. Heidelberg 1906 – wiederholt veröffentlicht in: H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre. Karlsruhe 1962, S. 13 ff.

III. Dezisionistische Revolte

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Als die nächste Welle des dezisionistischen Herantretens zur Anwendung des Rechtes, die sich allerdings aus anderen Anregungen als die vorangegangene Welle ergab, können Konzeptionen bezeichnet werden, die an die moderne hermeneutische Philosophie anknüpfen, insbesondere Gadamers78 Ideen zur entscheidenden Rolle des Interpreten bei der Zumessung der Bedeutung der Sprache. Der von Esser gebildete Termin Vorverständnis79 wird dann zum Ausgangspunkt von Konzeptionen der Rechtsanwendung, denen allerdings das vom Kognitivismus „zugeschnittene“ Kleid etwas zu eng ist. Parallel mit dem „Einbruch“ der Hermeneutik in das Rechtsdenken erscheinen auch neue kognitivistische Konzeptionen, die zu den Möglichkeiten der Akzeptanz eines deduktiven Schemas der Rechtsanwendung zurückkehren. Aus den sechziger Jahren sind insbesondere die Arbeiten von Engisch und Klug, aus den achtziger Jahren die von Koch und Rüßmann, aus den neunziger Jahren die Arbeiten von Sartor und Prakken erwähnenswert.80 Ein neuer Impuls zur Diskussion zwischen dem kognitiven und dem dezisionistischen Begreifen der Rechtsanwendung wird Dworkins These über die einzig richtige Antwort auf Rechtsfragen (the „One Right Answer“ Theory).81 Dworkin geht von der Idee aus, nach der „Aber ohne irgendwelche speziellen Wahrheitsbedingungen, die uns in die Lage versetzen, der Folgerung zu widerstehen, daß ein Satz, wenn er nicht wahr ist, falsch ist, lässt sich die These, daß es keine richtige Antwort gibt, überhaupt nicht aufrechterhalten. . . . Kontroverse Rechtssätze behaupten oder bestreiten die Existenz eines juristischen Rechts oder einer anderen juristischen Relation. Die Kontroverse betrifft genau die Frage, ob die Behauptung oder Verneinung richtig ist. Wenn wir einmal annehmen, daß ein Recht auf Ersatz für ökonomischen Schaden nicht existiert, dann ist der Satz, daß der Kläger in einem solchen Fall ein Recht auf Schadenersatz hat, nicht problematisch. Er ist schlicht falsch.“82 Er gibt an, daß: „Ein Rechtsatz als wahr behauptet werden kann, wenn er mit der Rechtstheorie, die das bestehende Recht am besten rechtfertigt, besser vereinbar ist als der entgegen78 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl., Tübingen 1990. 79 J. Esser, Fn. 22. 80 K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit. Heidelberg 1953; ders., Fn. 61; ders., Subsumptiom und Rechtsfortbildung. In: Richterliche Rechtsfortbildung. Erscheinungsformen, Auftrag und Grenzen. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Hrsg. G. Reinhart, Heidelberg 1986, S. 3–8; U. Klug, Juristische Logik. Berlin/Heidelberg/New York 1982; H.-J. Koch/H. Rüßmann, Fn. 64; G. Sartor, A Formal Model of Legal Argumentation, Ratio Juris, Vol. 7, No. 2, 1994; H. Prakken, Logical Tools for Modelling Legal Argument. A Study of Defeasible Reasoning in Law. Dordrecht/Boston/London 1997. 81 R. Dworkin, Fn. 17, S. 448 ff. 82 Ibidem, S. 464–465.

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

gesetzte Rechtssatz. Er kann als falsch bestritten werden, wenn er mit dieser Theorie weniger vereinbar ist als der entgegengesetzte Satz. . . . Richter sind oft einer Meinung über die Wahrheitswerte von Rechtssätzen, und wenn sie verschiedener Meinung sind, verstehen sie die Argumente ihrer Gegner hinreichend gut, um in der Lage zu sein, die Ebene zu lokalisieren, auf der die Meinungsverschiedenheit besteht, und diese Argumente grob in der Reihenfolge ihrer Plausibilität anzuordnen.“83 Dworkin glaubt weiters, die Stellungnahmen zur Aufnahme dieser „richtigen Antwort“ seien auch in schwierigen Fällen allgemein formulierbar.84 Dworkins kognitivistische These beruht auf dem logischen Argument, das sich aus dem logischen Gesetz des Ausschlußes des Dritten ergibt, ferner auf kognitiver Überzeugung, nach der auch im normativen Denkbereich mit der Kategorie der Wahrhaftigkeit gearbeitet werden kann, und letztendlich auf der Bearbeitung der Methodologie zur Lösung schwieriger Fälle (hard cases). Diese Thesen werden jedoch kritisch von einer ganzen Reihe von Theoretikern85 abgelehnt. Gemeinsamer Nenner dieser Kritik ist eine Polemik mit kognitivistischer Vorstellung der Verbindung des normativen Denkens mit erkenntnistheoretischen Werten der Wahrhaftigkeit86 und der traditionelle Hinweis auf die Grenzen der Bestimmtheit und der Exaktheit des juristischen und des damit zusammenhängenden moralischen Diskurses. Über den Rahmen der angeführten zwei Argumentationsgruppen, die gegen Dworkins Thesen gerichtet sind, können noch weitere formuliert werden. Ich glaube, daß der Zweck des juristischen Diskurses, dessen institutioneller Ausdruck ein gerichtliches (administratives) Verfahren ist, darin besteht, einen Konsens zur Strukturierung des normativen und des rechtlich argumentationstechnischen Raumes des zu lösenden Falles zu erzielen. Der strukturelle Konsens ermöglicht dann, in schwierigen Fällen transparent einen Beschluß zu fassen durch Hinwendung zu gewissen Werten (deren Spannweite in der Spannweite der verfassungsrechtlich geschützten Werte enthalten ist). Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Kognition einer alleinigen richtigen Lösung des Falles wird dann in die Regelung des Prozesses der Entscheidungsnahme projiziert.

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Ibidem, S. 454. Ibidem, S. 144 ff. 85 Siehe N. MacCormick, Fn. 68, S. 246 ff.; J. Levin, How Judges Reason. New York 1992, S. 209 ff. 86 Ausführlicher zu Begriffen Kognitivismus und Nonkognitivismus siehe P. Holländer, Fn. 2, S. 13–16. 84

IV. Anwendung von Verfassungskatalogen der Grundrechte

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IV. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Anwendung von Verfassungskatalogen der Grundrechte Der Kongreß der USA, in Reaktion auf die Überlastung des Obersten Gerichtes in den zwanziger Jahren, führte bei Verfahren vor dem Obersten Gericht (das auch die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit ausübte) vom Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses und der Gerechtigkeit aus ein Institut der Auswahl ein (im Verfahren genannt writ of certiorari). Zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit erarbeitete allerdings das Oberste Gericht der USA einen gewissen kognitivistischen Algorithmus. Danach kann die Verletzung von Grundrechten, die dem Gleichheitsprinzip folgen, zum Teil durch die Verfassungswidrigkeit des Zwecks des betroffenen Gesetzes gegeben sein, und zum Teil daraus, daß das gewählte Mittel, d.h. Klassifikation (Absonderung), zum Erzielen des Erfolgs nicht geeignet oder optimal ist.87 Bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bindung zwischen dem Mittel und dem Zweck verfährt das Oberste Gericht der USA auf dreierlei mögliche Weisen.88 Eine spezielle Fachkommission, ernannt vom Justizminister der BRD, zusammengesetzt aus Richtern des Bundesverfassungsgerichtes und auch aus sonstigen bedeutsamen Rechtsspezialisten, empfahl 1997 in der BRD die Übernahme des amerikanischen Auswahlmodells.89 Das von der Kommission vorgeschlagene dezisionistische Konzept wurde jedoch weder auf der legislativen, noch auf der theoretischen Ebene akzeptiert.90 In Deutschland kann in diesem Zusammenhang eher die Tendenz beobachtet werden, bei der Anwendung des Verfassungskatalogs der Grundrechte die kognitivistische Methode einzusetzen. Beispiele werden zum Teil von der Gerichtspraxis des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 94, 1 (10)), zum Teil durch Modelle aus der Theorie des Rechts geliefert. Im angeführten Urteil erwog das Bundesverfassungsgericht der BRD die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidungen von ordentlichen Gerichten in Sache der Unterlassungsklage der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben gegen den Verein für Fortentwicklung und Reform der psychosozialen Versorgung, der in einem vor der Bundestagung herausgegebenen Flugblatt die Aktivität des Klägers als unzulässige Euthanasie kritisch bewertet hat. Das Gericht der ersten 87

W. Brugger, Fn. 18, S. 116. Ibidem, S. 117 ff.; J. E. Nowak/R. D. Rotunda, Fn. 19, S. 568 ff. Ausführlicher dazu siehe Kapitel A. II. 89 Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Bericht der Kommission. Bonn 1998, S. 15–20. 90 Siehe dazu G. Roellecke, Zum Problem einer Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit. Juristen Zeitung, N. 3, 2001, S. 117. 88

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

Stufe lehnte die Klage ab, nachdem es feststellte, daß die zweifelhaften Äußerungen den Charakter von Werturteilen haben, die durch Meinungsfreiheit geschützt sind. Das Berufungsgericht änderte den vorliegenden Urteil, nachdem es zum Schluß gekommen war, daß ein Teil der erwogenen Äußerungen den Charakter von Tatsachenbehauptung haben, die den Anforderungen an den Schutz der Meinungsfreiheit in bezug auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten nicht entsprechen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Verfassungsbeschwerde ab, nachdem es feststellte, daß die Deutung des Berufungsgerichts verfassungsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden ist wie diejenige des Erkenntnisgerichts, als „beide Gerichte sich auch im Bewußtsein der Mehrdeutigkeit des Textes mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt und für ihre jeweilige Entscheidung nachvollziehbare Gründe angegeben haben“. In anderen Worten hat das Bundesverfassungsgericht dadurch den Raum, der vom Gesichtspunkt des Verfassungsrechtes geschützt ist von dem abgesondert, der vom Blickwinkel des ordentlichen Rechtes Schutz genießt, als es die gegensätzlichen Ergebnisse der Auslegung und der Anwendung des einfachen Rechtes, die allerdings alle beide allen Anforderungen der verfassungskonformen Interpretation gerecht waren, als verfassungsrechtlich unbedenklich befand. Ch. Stark91 konzipiert sein kognitivistisches Modell der Findung des Inhalts des Verfassungsschutzes der Grundrechte (im Zusammenhang mit dem Verfahren über Verfassungsbeschwerden) durch die Akzeptanz von drei Gesichtspunkten: Nach dem einen, der auf die Verfassungsmäßigkeit der Überprüfung der Sachverhaltsermittlung gezielt ist, steht diese im Widerspruch zum verfassungsrechtlichem Schutz, sofern es sich um Ausdruck von Willkür handelt, das heißt sofern im Hinblick auf das einschlägige Grundrecht im Verfahren, das der verfassungsmäßigen Überprüfung unterworfen wird, ein völlig falscher Sachverhalt angenommen wurde. Der zweite Gesichtspunkt geht von Schumanns Formel92 aus und konzipiert die Überprüfung der Beschlüsse von Organen der öffentlichen Gewalt (insbesondere der ordentlichen Gerichte) auf Verfassungsmäßigkeit als quasi Normenkontrolle. Das heißt, daß nach diesem Gesichtspunkt die Verfassungsmäßigkeit der Beschlüsse von Organen öffentlicher Gewalt im Konkretfall so zu beurteilen ist, daß das Ergebnis der erwogenen Auslegung und An91 Ch. Stark, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte. Juristen Zeitung, N. 21, 1996, S. 1033–1042; ders., Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess. In: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. Hrsg. P. Badura/H. Dreier, Erster Band, Verfassungsgerichtsbarkeit. Verfassungsprozess. Tübingen 2001, S. 12–14. 92 E. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen. Berlin 1963, S. 206 ff. Auf die Wichtigkeit Schumanns Formel für die tschechische Theorie des Verfassungsrechtes hat als erster V. Šimícˇ ek hingewiesen: V. Šimícˇ ek, Imperativ ústavneˇ konformní interpretace a aplikace právních prˇedpisu˚ (Imperativ der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung der Rechtsvorschriften), Právník, N. 12, 1999, S. 1083–1084.

V. Versuche des Verfassungsgerichtes

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wendung in Form einer allgemeinen Norm gedacht ist. Vom angegebenen ergibt sich die Notwendigkeit, die Möglichkeit der Interpretationspluralität und den Inhalt der verfassungskonformen Interpretation des einfachen Rechtes zu überprüfen. Und endlich der letzte Gesichtspunkt, der für die Überprüfung der Verfassungsrechtlichkeit von Ch. Stark formuliert wird, ist die Untersuchung, ob das ordentliche Gericht (ein Organ der öffentlichen Gewalt) die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten habe. R. Alexy legt sein kognitivistisches Modell93 vor, in dem er aus seiner Konzeption von Grundrechten als Prinzipien94 ausgeht. Nachdem er das dezisionistische Herantreten ablehnt, wie es z. B. in Schlinks95 Stellungnahme enthalten ist, formuliert er die folgende Lösung: Sofern die Grundrechte als Prinzipien charakterisierbar sind, d.h. als Optimierungsgebote, bei denen zwischen der Gültigkeit prima facie und der definitiven Gültigkeit zu unterscheiden ist, die durch Abwägung gegeben ist (in Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips), so fließen das kognitive Modell der Applikation der Verfassungsregelung von Grundrechten mit der Methodologie des Verhältnismäßigkeitsprinzips ineinander. V. Kognitivistische und dezisionistische Versuche des Verfassungsgerichtes In seiner bisherigen Judikatur versuchte das Verfassungsgericht auf der einen Seite kognitivistische Algorithmen der Anwendung der Verfassungsregelung von Grundrechten (d.h. insbesondere der Charta), auf der anderen Seite jedoch auch dezisionistische Methoden zu formulieren. Immerhin haben sich dieser Versuche vom Gesichtspunkt der gesamten Judikatur des Gerichtes nicht als seine Doktrinen, d.h. als allgemeine Interpretations- und Argumentationszutritte durchgesetzt. Nur zur Illustration einige Beispiele von beiden Gruppen: Im Befund des Aktenzeichens III. ÚS 159/97 stellt das Verfassungsgericht fest, daß die Erwägung der Verfassungsmäßigkeit des Eingriffes eines Organs der öffentlichen Gewalt in Grundrechte und Freiheiten von einigen Komponenten besteht: Die erste ist die Erwägung der Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Bestimmung der Rechtsvorschrift (ausgehend von § 78 Abs. 2 des Geset93 R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Bd. 61, Hrsg. R. Alexy/Ph. Kunig/W. Heun/G. Hermes, Berlin 2002, S. 7 ff. 94 R. Alexy, Fn. 20, S. 71 ff. 95 B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion. EuGRZ, 1984, S. 462: „Operation der Wertung und Bemessung bei der Überprüfung der Proportionalität im engeren Sinne ist letztendlich nur dezisionistisch durchführbar“.

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

zes über das Verfassungsgericht96). Die nächste Komponente ist die Erwägung der Einhaltung der Verfassungsprozeßrechte und endlich, in der letzten Erwägung, geht es um die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des materiellen Rechtes. Bei Entscheidungen in Verfahren über Verfassungsbeschwerden hat sich das Verfassungsgericht in seinem Ermessen nicht nur auf die in der Beschwerde enthaltene verfassungsrechtliche Argumentation begrenzt gefühlt, wobei die angefochtene Entscheidung in erster Reihe vom Gesichtspunkt des Respektierens der Verfassungsprozeßregeln behandelt wurde. Nachdem das Verfassungsgericht zum Schluß kam, daß beim Verfahren vor dem ordentlichen Gericht die Prinzipien eines gerechten Prozesses nicht eingehalten worden sind und, da durch die Aufhebung des Urteils eines ordentlichen Gerichtes Raum zur neuen Beurteilung der Sache und für den Kläger die Möglichkeit des Gehörs vor einem ordentlichen Gericht entstand, und dadurch auch die Möglichkeit der Geltendmachung seiner Argumentation in bezug auf den Tat- und Rechtsstand gegeben wurde, setzte sich dann das Verfassungsgericht nicht mehr mit der Verfassungsmäßigkeit des angefochtenen Urteils des ordentlichen Gerichtes vom Gesichtspunkt der subjektiven materiellen Verfassungsrechte auseinander. Nach Überzeugung des Verfassungsgerichtes ist der Schutz der Verfassungsmäßigkeit mit der Minimierung von Eingriffen in die Rechte anderer Organe zu verbinden, oder, in anderen Worten: sofern durch den Befund, der die Entscheidung über das letzte Prozeßmittel, das vom Gesetz zum Schutz des Rechts bietet, aufhebt, ein Prozeßraum für den Schutz dieses Rechtes innerhalb des Systems von ordentlichen Gerichten gebildet wird, so gilt für die Verfassungsüberprüfung der Entscheidung eines ordentlichen Gerichtes die Subsidiarität der materiellrechtlichen zu prozeßrechtlichen Überprüfung. In diesem Kontext auch auf den Zusammenhang mit dem Prinzip der Selbstbegrenzung in der Judikatur des Verfassungsgerichtes97 hingewiesen werden. Um den Schutz von Grundrechten und Freiheiten vom Schutz der Rechte, die von der einfachen Gesetzgebung ausgehen, zu unterscheiden, versuchte das 96 Kommt der Senat beim Entscheiden über eine Verfassungsbeschwerde zum Schluß, daß ein Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift oder deren einzelne Bestimmungen, durch deren Anwendung die Tatsache entstand, die Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, im Widerspruch zum Verfassungsordnung, bzw. mit dem Gesetz, sofern es sich um eine andere Rechtsvorschrift handelt, stehen, so unterbricht er das Verfahren und legt dem Plenum den Vorschlag zur Aufhebung einer solchen Rechtsvorschrift vor. 97 Dar erwähnte Prinzip äußerte das Verfassungsgericht besonders klar in folgenden Urteilen: III. ÚS 148/97, III. ÚS 49/96, III. ÚS 337/97, und zwar folgender Maße: „Nach Überzeugung des Verfassungsgerichtes ist der Schutz der Verfassungsmäßigkeit mit der Minimierung von Eingriffen in die Kompetenz sonstiger Organe verbunden; anders gesagt wird der Schutz der Verfassungsmäßigkeit erreicht, so muß das Verfassungsgericht lediglich solche Kassations- bzw. Derogations-(Abrogations-)maßnahmen treffen, die im minimalen Maße in die Kompetenzen sonstiger Organe der öffentlichen Gewalt eingreifen.“

VI. Zusammenfassung

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Verfassungsgericht in seiner Judikatur eine ausführlichere Darlegung zu treffen (Befunde der Aktenzeichen III. ÚS 224/98, III. ÚS 150/99, III. ÚS 545/99, III. ÚS 269/99): „Vom verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt sind Bedingungen festzusetzen, bei deren Nichterfüllung die nicht richtige Anwendung des einfachen Rechtes durch ordentliche Gerichte die Verletzung von Grundrechten und Freiheiten zur Folge hat. Das Verfassungsgericht sieht diese Bedingungen in den folgenden Umständen: Die Grundrechte und Freiheiten wirken auf dem Gebiet des einfachen Rechtes als Regulativideen; demzufolge knüpfen auf sie inhaltlich die Normkomplexe des einfachen Rechts an. Die Verletzung irgendeiner dieser Normen, entweder infolge von Willkür (z. B. Nichtrespektieren einer kogenten Norm), oder infolge der Interpretation, die in extremen Gegensatz zu Gerechtigkeitsprinzipien steht (z. B. überspitzter Formalismus), begründet das Berühren von Grundrecht und Freiheit.“ Soweit Beispiele des kognitivistischen Herantretens. Als Beispiel der dezisionistischen Methode dient der folgende Befund (Pl. ÚS 15/99), in dem den Durchbruch des Subsidiaritätsgrundsatzes im Verfahren über Verfassungsbeschwerden begründet wurde. Dies zuerst mit dem Umstand, daß die Verfassungsbeschwerde durch ihre Bedeutung die eigentlichen Interessen des Klägers wesentlich übertrifft, wobei diese Tatsache sei in der Forderung einer allgemeinen Reichweite der Entscheidung in der gegebenen Sache zu sehen. Nach dem Verfassungsgericht aber ist die Allgemeinheit der Reichweite alleine keine ausreichende Bedingung. Für solche Bedingung haltet es das Merkmal der Bedeutung, welche die eigenen Interessen des Klägers wesentlich überschreitet. Die Erwägung der Erfüllung dieses Merkmals ist „vom Akzent abhängig, der vom Verfassungsgericht den allgemeinen Folgen der Entscheidung mit Blick auf das betroffene Grundrecht oder die berührte Freiheit zugemessen wird“. VI. Zusammenfassung bzw. Rückkehr zum Applikationsmodell der Charta 1. Kognitivistische und dezisionistische Dilemmata Die Aufnahme kognitivistischer Modelle stößt, meines Erachtens, auf einige Einwendungen: • Sofern wir den von Dworkin formulierten Fundamentalunterschied zwischen den Prinzipien und Normen akzeptieren, aus dem sich Alexys Auffassung der Grundrechte als Prinzipien, bzw. Optimierungsgebote ergibt, so ist die definitive Gültigkeit des Grundrechts vorerst durch die Ermittlung gegeben, ob es sich nicht in Kollision mit einem anderen Grundrecht befindet, und sollte dies der Fall sein, dann ist seine definitive Gültigkeit durch das Ergebnis der Abwägung gegeben. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bietet jedoch in diesem Zusammenhang eher ein Instrumentarium zum Strukturieren des Entschei-

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

dungsprozesses als die Methodologie der Erkenntnis. In anderen Worten, die Abwägung von gegensätzlichen Argumenten, die sich vom verfassungsmäßig akzeptierbaren Rahmen nicht überschreiten, ist dann jedoch Sache des Akzentes, der ihnen seitens der Teilnehmer des Diskurses, bzw. des Entscheidungsprozesses, zugemessen wird. Am Rande der Struktur dieser Argumente stellte das Verfassungsgericht das folgende fest: „Ein Vergleich der Wichtigkeit der in Kollision stehenden Grundrechte bzw. kollektiven Güter (nach Erfüllung der Bedingung der Geeignetheit und Erforderlichkeit) besteht in der Abwägung der empirischen systematischen, kontext- und wertbezogenen Argumente. Unter dem empirischen Argument kann man die faktische Erscheinung verstehen, die mit dem Schutz eines bestimmten Grundrechts verbunden ist. Das systembezogene Argument bedeutet die Abwägung des Sinns und der Einordnung des betreffenden Grundrechts oder der Grundfreiheit in das System der Grundrechte und Grundfreiheiten. Unter dem kontextbezogenen Argument kann man weitere negative Auswirkungen der Beschränkung eines Grundrechts infolge der Bevorzugung eines anderen verstehen. Das wertbezogene Argument stellt die Abwägung der in Kollision stehenden Grundrechte mit Blick auf die akzeptierte Hierarchie der Werte dar.“ (Pl. ÚS 4/94). • Die kognitivistischen Modelle der Applikation von Grundrechten stoßen weiter auf Klippen der notwendigen Allgemeinheit, bzw. einer unbedingten Verbindung mit unbestimmten Begriffen. Thesen, die in der theoretischen Ebene attraktiv klingen, bieten jedoch des Öfteren nur begrenzte Ansatzpunkte für Lösung der konkreten Fälle. • Kognitivistische Modelle, und zwar insbesondere solche, die durch die Theorie weiterentwickelt wurden, sind auch durch ihre Kompliziertheit gekennzeichnet, die eine reelle Barriere für deren praktische Anwendung in der gerichtlichen Praxis darstellt. • Sinnreich wie die kognitivistischen Modelle konzipiert sind, können sie in Konfrontation mit der Allgemeinheit und mit dem Charakter des sprachlichen Ausdrucks der Regelung von Grundrechten lediglich eine Einengung, bzw. eine Präzisierung des Entscheidungsrahmens anbieten, ohne etwas an der Tatsache ändern zu können, daß die Anwendung von Grundrechten alle beide Komponenten enthält – die kognitivistischen wie die dezisionistischen. Die grundlegende Einrede, die gegen die dezisionistischen Modelle bei der Applikation der Charta in der Judikatur des Verfassungsgerichts98 eingesetzt 98 Ein Entwurf eines solchen Modells siehe P. Holländer, Legislativní reflexe dosavadního pu˚ sobení Ústavního soudu (Legislative Reflexionen der bisherigen Wirkung des Verfassungsgerichtes). In: Aktuálnost zmeˇ n Ústavy Cˇ eské republiky (Aktualität der Änderungen der Verfassung der Tschechischen Republik). Eds. B. Dancˇ ák/V. Šimícˇ ek, Brno 1999, S. 178–186.

VI. Zusammenfassung

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werden kann, ist die Einwendung der Willkür und der Resignation auf das Prinzip der Gleichbehandlung beim gerichtlichem Schutz der Verfassungsmäßigkeit. Eine sonstige Einrede ist die Tatsache, daß sofern ein dezisionistisches Modell mit der Präzedenzwirkung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts99 verbunden ist, und dabei in einer Situation, in der für Präzedenzeffekte von Entscheidungen des Verfassungsgerichts nach Ansicht einer Reihe von Autoren keine Verfassungsunterlage vorliegt,100 das Modell selbst nicht erfolgreich einsetzbar ist. Keine Einwendung, lediglich eine Präzisierung, beinhaltet die Bemerkung, daß die dezisionistischen Methoden auf materielle (auf die wertenden und Willensaspekte des Prozesses der Rechtsanwendung hinweisend) und auf prozeßorientierte (deren klassisches Beispiel das amerikanische Modell a certiorari darstellt) zu gliedern sind. 2. Auf dem Wege zum Modell unvollständiger Kognition Führen diese Dilemmata zur Skepsis? Ich glaube, dies ist nicht der Fall. Eine befriedigende Lösung ist wahrscheinlich vom Erzielen einer gewissen Übereinstimmung in den Ausgangsthesen abzuleiten: Die erste These ist der Gedanke, daß der Schutz der Verfassungsmäßigkeit in einem demokratischen Rechtsstaat nicht ausschließlich die Aufgabe des Verfassungsgerichtes sein kann und darf, sondern er muß die Aufgabe der ganzen Justiz (bzw. des ganzen Bereiches der öffentlichen Gewalt) sein. In diesem Zusammenhang liegt es in den Möglichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit, Akzente auf die wichtigsten Fragen zu setzen, bzw. die extremen Exzesse zu korrigieren. Die nächste These ist in der Begründung der Entscheidung des Verfassungsgerichtes in der Sache Aktenzeichen Pl. ÚS 15/01 enthalten: „Keine Rechtsord99 Siehe P. Holländer, The Role of the Constitutional Court for the Application of the Constitution in Case Decisions of Ordinary Courts. Archiv für Rechts und Sozialphilosophie, Bielefeld 2000, Nr. 4, S. 547; des gleichen Z. Kühn, K otázce závaznosti rozhodnutí Ústavního soudu (Zur Frage der Bindung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes), Právník, Nr. 9, 2001, S. 876. 100 Siehe insbesondere V. Mikule/V. Sládec ˇ ek, O závaznosti rozhodnutí Ústavního soudu (Über der Verbindlichkeit der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes), Bulletin advokacie, Nr. 8, 1995; V. Pavlícˇ ek/J. Hrˇebejk, Ústava a ústavní ˇrád Cˇ eské republiky (Verfassung und Verfassungssystem der Tschechischen Republik), 1. Teil, Ústavní systém (Verfassungssystem), Praha 1994, S. 307–308; V. Šimícˇ ek, Mohou by´t vykonatelná rozhodnutí Ústavního soudu Cˇ R všeobecneˇ závazná? (Können die vollzugsfähige Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik allgemein verbindlich zu sein?), Správní právo Nr. 2/1996; ders., Vybrané problémy ˇ eské republice a v Polsku (Die ausgewählten Probleme der ústavního soudnictví v C Verfassungsgerichtsbarkeit in Tschechien und Polen), Právník, Nr. 7, 1998, S. 645; J. Filip, Fn. 9, S. 309.

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C. Kognitivismus versus Dezisionismus in der Gerichtsanwendung

nung wird – vom Gesichtspunkt des Systems von Prozeßmitteln zum Schutz von Rechten sowie vom Gesichtspunkt des Systems der Anordnung von Überprüfungsinstanzen – ad infinitivum gebaut, und kann es auch nicht werden. Jede Rechtsordnung generiert Fehler und muß auch unbedingt eine gewisse Anzahl von Fehlern generieren. Zweck des Überprüfungsverfahrens, bzw. mehrerer Überprüfungsverfahren besteht realistisch in der Approximativen Minimierung solcher Fehlleistungen, ohne sie restlos zu beseitigen. Das System von Überprüfungsinstanzen ist daher das Ergebnis von Abwägung; auf der einen Seite des Bestrebens, die Herrschaft des Rechtes zu erzielen, auf der anderen Seite der Entscheidungseffektivität und der Rechtssicherheit.“ Die dritte ist die These, daß in einem demokratischen System analoge Zwecke durch eine Pluralität institutioneller Lösungen erzielbar sind. Die Einführung des Modells der spezialisierten konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, für welche die Überprüfungskompetenz in Bezug zur ordentlichen Justiz typisch ist, erweist sich vom Blickwinkel der europäischen Erfahrung aus als besonders sinnvoll in historischen Wendezeiten, in Situationen, in denen die Erfüllung der neuen Funktion (Schutz der Grundrechte, der demokratischen Verfassungsmäßigkeit) die bestehenden Institutionen (die ordentliche Justiz) überfordert (kulturell, bzw. fachlich), und daher ist es unerlässlich, in das Rechtssystem „ein fremdes Element“ zu implantieren, wie es richtig, obschon in einem anderen Kontext und mit pejorativen Nachgeschmack, ein gewisser mitteleuropäischer Politiker feststellte. Anwendungsbeispiele dieses Modells ergeben sich in den Umbruchlagen nach Fall eines totalitären bzw. autoritativen Systems bei der Bildung eines demokratischen Systems, wie in Deutschland oder Spanien, von den postkommunistischen Ländern z. B. in der Tschechischen Republik, Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien. Die Unterschiedlichkeit der Anwendung der Charta zeigt sich vom Gesichtspunkt des Modells prima facie in der Anwendung des einfachen Rechts durch die zweite Subsumtion, d.h. Unterordnung des Spruchs über die Verletzung des einfachen Rechtes unter die entsprechende Bestimmung der Charta. Die „mechanische“ Deduktion einer Verletzung der Charta, abgeleitet von der Verletzung des einfachen Rechts, führt jedoch zum Verlust der Fähigkeit, zwischen dem Sinn und Zweck des Verfassungsrechts und des einfachen Rechts zu unterscheiden, zum Situieren des Verfassungsgerichts in eine andere Position, nämlich einer zur Superrevision bestimmten Überprüfungsinstanz auf der Ebene des einfachen Rechts, und zuletzt notwendigerweise zum Effekt seiner Überlastung und zum Verlust seiner Aktionsfähigkeit. Lediglich als Ausnahme sind in diesem Kontext auch einige positive Momente nicht zu leugnen: Beseitigung einer gewissen Menge von Fehlern, die vom Gerichtssystem generiert werden (von der bisherigen Praxis des Verfassungsgerichts sei als Beispiel seine Restitutionsjudikatur angeführt), bzw. ein gewisser Druck im Sinne der Kultivierung

VI. Zusammenfassung

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und Humanisierung der Rechtsanwendung (zum Beispiel in Zusammenhang mit der gerechtigkeits- oder prozeßorientierten Argumentation des Verfassungsgerichts). In der Situation, in der kaum die Akzeptanz des amerikanischen prozeßorientierten dezisionistischen Modells zu erwarten ist, bin ich der Auffassung, daß wir bezüglich der Anwendung der Charta vor zwei Alternativen stehen: Die erste ist die Fortsetzung der bestehenden Praxis, in der das Verfassungsgericht keine Doktrin der Anwendungsmethodologie für die Charta erarbeitet hat, bzw. in der es entweder durch „mechanische“ Deduktion einer Verletzung der Charta auf der Grundlage festgestellter Verletzungen des einfachen Rechts, oder aber durch mehr oder minder zufällige „implizite“ Auswahl entschieden wird. Eine andere Möglichkeit wäre das Gestalten eines Modells der „unvollständigen Kognition“, das den Entscheidungsprozeß transparenter machen würde, wobei auch eine gewisse Unterscheidung zwischen dem Verfassungsrecht und dem einfachen Recht möglich wäre.

D. Der materielle Verfassungskern und der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers I. Verfassungsgesetz Nr. 69/1998 des Gesetzblattes über die Verkürzung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses: Postulieren der Frage zum Umfang des Ermessensspielraumes des Verfassungsgebers bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen Die politische Krise im Herbst 1997 mündete unter anderem auch in einer Vereinbarung der Schlüsselparteien, vorzeitige Wahlen abzuhalten. Da den Beteiligten dieser Vereinbarung der Verfassungsmechanismus einer vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode des Parlaments für die gegebene Situation nicht geeignet schien, wurde dem Parlament eine Gesetzesvorlage zur Verkürzung der Wahlperiode der Abgeordnetenversammlung vorgelegt. Eine Diskussion zu dieser Vorlage warf auch die Frage zum Ermessensspielraum des Verfassungsgebers beim Verabschieden von Verfassungsgesetzen auf. Ein Teil der Abgeordneten und Senatoren legte dabei Wert auf die Dringlichkeit der Lösung der Parlamentskrise sowie auf die Erfüllung von Prozeduralbedingungen zur Verabschiedung von Verfassungsgesetzen. In diesem Zusammenhang seien mindesten zwei Stimmen erwähnt: Stanislav Gross verteidigte in der Diskussion im Abgeordnetenhaus am 13. Januar 1998 die Vorlage mit den Worten: „Die Vorlegenden sind sich dessen bewußt, daß die Verfassung, als das grundlegende Rechtsdokument, keinen häufigen Änderungen unterworfen werden sollte, und daß die Verfassungsordnung der Tschechischen Republik nicht geändert, und nur unter außerordentlichen Bedingungen ergänzt werden dürfe. Die Vorlage seitens des Parlamentsklubs der Sozialdemokratie stelle keinen Eingriff in die Verfassung dar, d.h. es handele sich um keine Verankerung eines Mechanismus, der zum untrennbaren Bestandteil der Tschechischen Republik werden sollte, sondern nur um einen Vorschlag, der ad hoc in diesem Moment die entstandene Lage löse und gleichzeitig Raum schaffe, um unter ruhigeren Bedingungen eine tiefgründigere Diskussion zum Thema einer eventuellen direkten Änderung der Verfassung der Tschechischen Republik einzuleiten und die Mechanismen nachzuarbeiten, die sich nach gewissen Erfahrungen als in der Verfassung der Tschechischen Republik fehlend erweisen sollten.“101 Zde101 http: / / www.psp.cz / eknih / 1996ps / stenprot / 018schuz / s018008.htm#r1 (Einsicht vom 3. Februar 2005).

I. Verfassungsgesetz Nr. 69/1998

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neˇ k Jicˇ ínsky´ bemerkte am selben Tag und am selben Ort zur obigen Argumentation: „Das Grundproblem, vor dem dieses Land steht, und auch wir als diejenigen, die als Vertreter unserer Bürger gewählt worden sind, besteht darin, verhältnismäßig schnell eine verbindliche verfassungsrechtliche und politische Entscheidung zu treffen, wie wir zu den Wahlen gelangen. . . . Ich möchte sagen, daß es hier keine Ideallösung gibt. Ein Verfassungsgesetz über die Verkürzung der Wahlperiode ist möglich, da es sich um ein Instrument handelt, das in den Verfassungen einiger Länder, die dem Parlament das Recht geben, über einer Kürzung der Wahlperiode zu entscheiden, bekannt ist.“102 Es seien auch zwei Stimmen vom Lager der Gegner angeführt: Jirˇí Novák verwendete mehrere Argumente in seiner kritischen Überlegung vom 24. Februar 1998: „Können wir uns gestatten, bei der Erfüllung formeller Angelegenheiten, ein Verfassungsgesetz eines beliebigen Inhalts zu verabschieden? Die Frage ist umso dringlicher, da es für Verfassungsgesetze keine weitere Kontrolle gibt, wie es dies bei Gesetzen in Form der Kontrolle hinsichtlich deren Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht der Fall ist. Die Verfassungsgesetze sind nämlich an sich verfassungsmäßig. Trotzdem glaube ich, daß hier gewisse materielle Inhaltbegrenzungen vorhanden sein müssen . . . Die Verfassung verankert doch eine gewisse Ordnung, sowie Regeln, und die können nicht willkürlich, momentan und je nach Bedarf geändert werden . . . Oder aber glauben Sie, daß es in Ordnung wäre, wenn wir – nachdem wir einen Präsidenten der Republik für die Dauer von fünf Jahren gewählt haben – ein Verfassungsgesetz verabschiedeten würden, durch das wir nachträglich seine Amtszeit auf ein oder zwei Jahre verkürzten, und dabei so täten, als sei alles in Ordnung, nur weil dies durch ein Verfassungsgesetz geschehen ist? Und wo ist hier der Unterschied zum Abgeordnetenhaus des Parlaments? Man könne vielleicht einwenden, daß im Falle des Abgeordnetenhauses so etwas möglich sei, da es durch Verfassungsgesetz über sich selbst entscheide, und daher eine Verkürzung der Amtszeit eigentlich einer gewissen kollektiven Abdankung gleichkäme. Sollte dem so sein, so müßten zweifelsohne absolut alle Abgeordneten einverstanden sein, ausnahmslos alle, und zwar ausdrücklich und nicht stillschweigend, indem sie an der Abstimmung nicht teilnehmen. Ansonsten führe ein solches Verfassungsgesetz dazu, daß wir die Abgeordneten, die mit der Verkürzung der Amtszeit nicht einverstanden sind, gewissermaßen des Mandats entheben würden. Ich frage: Kann ein Verfassungsgesetz auch so etwas? . . . Auch mag es vorkommen, daß Situationen entstehen, die nach der geltenden Verfassung schwer zu lösen sind und eine Ergänzung der Verfassung verlangen. Aber jede Änderung, einschließlich einer Ergänzung der Verfassung, muß beachten, daß die Verfassung eine demokratische und auf Recht basierende Ordnung und Re102 http: / / www.psp.cz / eknih / 1996ps / stenprot / 018schuz / s018009.htm#r7 (Einsicht vom 3. Februar 2005).

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

gel darstellt, und das heißt vor allen Dingen, daß solche Änderungen nie die Eigenschaft der Lösung eines Einzelfalles oder einer konkreten Lage besitzen dürfen. So etwas widerspricht dem Wesen jeder Rechtsnorm als allgemeine Regel, und erst recht einer Verfassungsnorm, da jede Ausnahme davon das Merkmal eines Privilegiums oder eines sonstigen Vorteils besitzt. Das heißt also, daß jede Änderung allgemeinen Charakter haben und für jedermann gelten sollte, der sich in einer vergleichbaren Situation befindet. Für selbstverständlich halte ich die Forderung, daß die Änderungen nur für die Zukunft gelten sollen, ohne die bereits existierenden und erworbenen Rechte zu berühren. Sie betreffen nur eine konkrete Situation, und dies nur für dieses eine Mal. Darüber hinaus sollte die bereits existierende Amtszeit geändert werden, ohne daß dazu die von der Verfassung vorgegebenen Voraussetzungen erfüllt wären. Es schaudert mich, wenn ich bedenke, daß ein solches Gesetz künftig als Muster oder Präzedenzfall genutzt werden könnte.“103 In einer ähnlichen Weise tritt Michael Zˇ antovsky´ in dieser Sache bei der Debatte auf, die im Senat am 19. März 1998 stattfand: „Die Gefährlichkeit des vorgeschlagenen Gesetzes beruht insbesondere darauf, daß hier ein Präzedenzfall von größter Tragweite gebildet wird, ein Präzedenzfall, der besagt, daß aus augenblicklichen, utilitären politischen Gründen ein Grundgesetz des Landes geändert werden darf. Ist es einmal möglich, so ist es immer wieder möglich. Aus denselben Gründen könnte das Parlament die Rechtskraft der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes suspendieren, sofern die Beschlüsse des Verfassungsgerichtes dem politischen Willen im Moment widersprechen; aus denselben Gründen könnten die Befugnisse des Präsidenten suspendiert werden, sofern sie sich im Widerspruch zum momentan herrschenden politischen Willen befinden; aus denselben Gründen könnte man die Charta der Grundrechte und Freiheiten außer Kraft setzen, sofern sie ein Hindernis für die Erfüllung politischer Ziele darstellte. Das Anzweifeln der grundlegenden Rechtssicherheiten aus politischen Gründen ist das Anzweifeln der Demokratie, und dies bildet eine potentielle Gefahr des Aufmarsches einer autoritären und totalitären Ordnung. Es hilft nicht, daß die Autoren eines solchen Präzedenzfalles keine entsprechende Absicht hatten oder haben, da sie – wie ich überzeugt bin – und mit ihrer Vorlage nur die Ausübung vorzeitiger Wahlen absichern möchten. Die politische Logik nimmt keine Rücksicht auf Absichten, und diejenigen, die das nächste Mal den von einem solchen Präzedenzfall erschlossenen Weg beschreiten, könnten andere, wesentlich dunklere Absichten hegen. Gerade aus diesen Gründen besagt die Verfassung der Tschechischen Republik in Art. 9 Abs. 2 ausdrücklich, daß es unzulässig ist, die grundlegenden Gegebenheiten eines demokratischen Rechtsstaates zu ändern.“104

103 http: / / www.psp.cz / eknih / 1996ps / stenprot / 021schuz / s021004.htm#r4 (Einsicht vom 3. Februar 2005).

I. Verfassungsgesetz Nr. 69/1998

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Ähnlich wie in der Welt der Politik teilte die Frage des Ermessensumfanges bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen auch die Verfassungsrechtler in zwei Lager. Jan Filip lehnte die Gründe zur Verabschiedung eines Verfassungsgesetzes über die Verkürzung der Wahlperiode ab.105 Vor allen Dingen klassifiziert er die Problematik der Wahlperiode zu den wesentlichen Merkmalen eines demokratischen Rechtsstaates im Sinne des Art. 9 Abs. 2 der Verfassung106, weist des weiteren auf die Verfassungsgarantien der Unantastbarkeit eines Abgeordnetenmandats (Art. 26 der Verfassung) hin und macht letztendlich auch auf die Rückwirkung einer solchen Regelung aufmerksam (was sich auch aus dem Vergleich mit der Vorgangsweise bei der Verkürzung der Amtszeit der Föderativen Versammlung der Tschechoslowakei, Verfassungsgesetz Nr. 46/1990 des Gesetzblattes, und des Tschechischen Nationalen Rates, Verfassungsgesetz Nr. 64/ 1990 des Gesetzblattes, ergibt). Da es sich beim Verfassungsgesetz Nr. 69/1998 des Gesetzblattes um keine Änderung der Verfassung handelte, zumal Art. 16 Abs. 1 und Art. 35 der Verfassung dadurch nicht berührt waren, formuliert er zu deren Akzeptabilität die folgenden Fragen: Läßt Art. 9 Abs. 1 der Verfassung eine Änderung der Verfassung zu, ohne daß sich ihr Wortlaut tatsächlich ändern würde, und kann eine Rechtsvorschrift verabschiedet werden, die als „Verfassungsgesetz“ bezeichnet ist, in der eine individuelle Situation geregelt wird? Die Antwort darauf ist im Abschluß der Erwägung von Filip enthalten: „Eine Verkürzung der Amtszeit auf diese Art und Weise ist daher dermaßen rechtlich unsauber, wie es die Rechtsexperten in ihren Äußerungen in verschiedenen Medien behaupten.“107 Obschon die Causa des Verfassungsgesetzes über die Verkürzung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses die Frage des Umfangs des Ermessens des Parlaments bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen eröffnete, hat sich daraus keine allgemeine und akzeptierte Schlußfolgerung für das politische und fachlich rechtliche Milieu ergeben, die damit verbundene Debatte (oder Polemik?) generierte keine Bewertungskriterien, hat das Problem nicht strukturiert und behielt daher die Unsicherheit für die Fälle einer Wiederholung ähnlicher Situationen.

104 http: / / www.senat.cz/xqw/webdav/pssenat/original/28682/24578 (Einsicht vom 3. Februar 2005). 105 J. Filip, Zkrácení volebního období (Verkürzung der Wahlperiode), Parlamentní zpravodaj, Nr. 12, 1997, S. 132–134. 106 Er beruft sich dabei auf die Feststellung von James Madison, nach dem die Frage der Wahlperiode „ein Eckstein“ der „freien Regierung“ ist (A. Hamilton/J. Madison/J. Jay, The Federalist Papers. New York 1961, S. 332). 107 J. Filip, Fn. 105, S. 133.

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

II. Europäischer Rückblick Der Gedanke der materiellen und nicht nur prozeßbezogenen Beschränkung des Raumes für eine Revision der Verfassung ist eine Reflexion der Verfassungsgeschichte Frankreichs des 19. Jh. als Folge von Verfassungsrückschlägen und Änderungen der republikanischen oder der monarchistischen Ordnung. Art. V. des französischen Verfassungsgesetzes vom 14. August 1884 bestimmt ausdrücklich: „Die republikanische Regierungsform kann kein Revisionsgegenstand sein.“108 Mit Abstand einiger weniger Jahre inkorporiert bereits Georg Jellinek den Imperativ der Unabänderlichkeit in den Rahmen der Kategorien der modernen Staatslehre: „Souveräne Gewalt ist demnach nicht staatliche Allmacht. Sie ist rechtliche Macht und daher durch das Recht gebunden. . . . Durch Anerkennung des Völkerrechts und durch die auf Grund dieser Anerkennung vorgenommenen, ihn bindenden Akte schränke der Staat sich sodann rechtlich ohne weiteres durch selbsteigenen Entschluß von solchem Bande lösen könnte. Aber auch nach ihnen sind Fälle möglich, in denen selbst auf dem Wege der Verfassungsänderung ein geltender Rechtssatz nicht geändert werden kann. Das französische Gesetz vom 14. August 1884 verbietet, die republikanische Regierungsform zum Gegenstand eines Antrages auf Verfassungsrevision zu machen. Dieser Satz kann durch Gewalt, aber nicht durch Recht aufgehoben werden. Ferner gibt es Fälle, in denen die politische Unmöglichkeit der Rechtsänderung so unzweifelhaft ist, daß sie den soeben erwähnten unmittelbar angeschlossen werden können, da das faktisch Unmögliche niemals als rechtliche Möglichkeit konstruiert werden darf. Dazu zähle ich z. B. das Verbot der bill of attainder in der Verfassung der Vereinigten Staaten. Gerade an solchen politische unmöglichen Fällen wird die ,Rechtsmacht über die Kompetenz‘ als bloßer Hilfsbegriff deutlich erkannt.“109

Zur Frage des Ermessens bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen seitens des Verfassungsgebers verlief in den Jahren des Ersten Weltkrieges auf den Seiten der Zeitschrift Juristische Blätter eine inhaltlich brillante und formell durch Noblesse geprägte Diskussion der damaligen großen Gestalten der Lehre des öffentlichen Rechtes. Sie wurde von Alfred Verdross110 angebahnt, und zwar durch die Erwägung der Möglichkeit, eine Rechtsverbindlichkeit von zwei Staaten nicht lediglich durch einen internationalen Vertrag (Staatsvertrag) zu gründen, sondern auch durch Selbstbindung der beiden Legislativen, wodurch die Verfassung die Klau108 Die angegebene Bestimmung ist durch den identischen Wortlaut auch in Art. 89 der bestehenden Verfassung der Französischen Republik verankert. 109 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1922, S. 482–484. 110 A. Verdross, Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der der österreichisch-ungarischen Monarchie. Juristische Blätter, Nr. 11, 12, 1916.

II. Europäischer Rückblick

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sel der Unabänderlichkeit enthalten würde, gebunden auf die Erfüllung einer von ihrem Willen unabhängigen Bedingung.111 František Weyr hält in seiner Reaktion eine solche Klausel für logisch unrichtig.112 Durch ihre Verallgemeinerung in die Form einer Annehmbarkeit (Unannehmbarkeit) des Prinzips der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns polemisiert er vor allem mit der Ansicht von Georg Jellinek: „Bestimmt z. B. das französische Gesetz vom 14. August 1884 (Art. V), daß die republikanische Regierungsform nicht Gegenstand eines Entwurfes zur Revision der Verfassung gemacht werden darf, so ist und kann dadurch nicht gesagt werden, wie Jellinek meint, daß ,eine solche Bestimmung durch Gewalt, nicht jedoch rechtlich abgeschafft werden kann‘. Die richtige Auslegung ist diejenige, daß ein Vorschlag zur Verfassungsrevision mit ähnlichem Inhalt nur insoweit juristisch unmöglich ist, sofern jene Norm Gültigkeit hat. Weiß ich jedoch, unter welchen Bedingungen diese Norm nach der Rechtsordnung, deren Bestand sie ist, rechtsgültig entstanden ist, so muß ich notwendigerweise logisch anerkennen, daß unter solchen Bedingungen auch ihre Abänderung, bzw. ihre Abschaffung juristisch möglich ist. Ein Änderungsvorschlag einer solchen Norm kann daher nicht als juristisch unmöglich erachtet werden. Dieser und der oben erwähnte Entwurf sind jedoch nicht inhaltlich identisch!“.113 111

Ebd., S. 135. F. Weyr, Zur Frage der Unabänderlichkeit von Rechtssätzen. Juristische Blätter, Nr. 33, 1916. 113 F. Weyr, Základy filosofie právní (Grundlagen der Rechtsphilosophie), Brno 1920, S. 106 – es sei bemerkt, daß die Handschrift dieser Arbeit nach Weyr in den Jahren 1914 bis 1915 vollendet wurde (siehe ebd., Vorwort S. 1), allerdings ist es offensichtlich, daß er an diesem Werk auch später arbeitete und die erwähnte Erwägung erst nach einer Serie von Aufsätzen in der Zeitschrift Juristische Blätter in das Buch aufnahm. Diese dargestellte Ansicht vertritt Weyr auch weiterhin. Er akzeptiert dabei die Vorstellung der Unveränderlichkeit durch Verbindung des Begriffes der Grundnorm und der Identität eines Normensatzes: „Sind wir von der Vorstellung eines Normbildners getragen, der zu seiner Tätigkeit durch eine Norm berufen wurde, so ist es offensichtlich, daß in der Fähigkeit (Beschaffenheit, Kompetenz) eine gewisse Norm festzusetzen, überhaupt nicht die Fähigkeit inbegriffen sein muß, diese nachträglich aufzuheben oder zu ändern, und daß daher eine prinzipiell unveränderliche Norm sehr wohl denkbar ist, wenn es hier eben niemanden gibt, der nach dem Normensatz, zu dem jene Norm gehört, berufen wäre, sie aufzuheben oder zu ändern, ja man kann sogar behaupten, daß jede ursprüngliche Norm (Kern, Urnorm), die wir gleich am Anfang oder am Kulminationspunkt jedes Normsatzes uns vorstellen, notwendigerweise jeweils unveränderlich ist, sofern überhaupt die normative Identität des Normsatzes beizubehalten ist.“ (F. Weyr, Teorie práva [Theorie des Rechts], Brno/Praha 1936, S. 105) Gleichzeitig verbindet Weyr den Begriff des Rechtes mit der Kategorie heteronomer, nicht autonomer Normen, und er macht auf die Möglichkeit einer Änderung derselben Norm aufmerksam, deren Inhalt der Imperativ der Unabänderlichkeit ist, zu deren Ausgabe nach ihm auch eine Ermächtigungsnorm existieren muß, deren Bedingungen wiederholt erfüllbar sind: „Eine solche Verbindung des souveränen Normsetzers kann jedoch keine Rechtsverbindung sein wegen ihrer offensichtlichen Autonomie. Letztendlich verursacht auch die Vorstellung eines souveränen Normbildners, der 112

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

Mit anderen Worten wäre Art. 9 Abs. 2 der Verfassung nach Weyr in dem Sinne zu interpretieren, daß die darin enthaltene Bestimmung den Verfassungsgeber durch das Verfahren nach Art. 39 Abs. 4 der Verfassung seiner Kompetenz, wesentliche Gegebenheiten eines demokratischen Rechtsstaates zu ändern, enthoben hat, was allerdings nichts an der Tatsache ändert, daß durch das erwähnte Verfahren Art. 9 Abs. 2 der Verfassung selbst änderbar ist. Auf Weyrs Artikel reagiert Verdross mit seiner Replik,114 in der zwei Grundargumente enthalten sind. Auf dem Gebiet der Rechtsfindung vertritt Verdross konsequent eine positivistische Stellung, nach welcher der Rechtsinhalt aus Quelldaten zu ermitteln ist, die lediglich einer immanenten, nicht jedoch einer transzendentalen Kritik unterworfen werden können. Die letzte rechtliche Grundlage, von der sämtliches Recht eines gewissen Staates abgeleitet werden kann, ist seine Verfassung, die aus seiner Souveränität entstanden ist, und daher „ist es jedem Forscher der gegebenen verfassungsrechtlichen kontinuierlichen Materie verschlossen, die aus der Verfassung entwickelte Rechtsordnung normativ aus irgendeiner anderen Ordnung abzuleiten“.115 Des weiteren spricht Verdross die folgende These aus: „Denn soll der ,Staat‘ souverän sein, so kann er dies nur durch seine Verfassung sein, da er ja rechtlich erst durch sie zum Staate wird“, wobei er bei deren Bildung allerdings „ganz frei, d.h. autonom“ ist, und die Gebundenheit der Legislative, der Justiz und der Verwaltung durch die Verfassung „aber die Souveränität des Staates nicht aufhebt, sondern sie erst recht zur Geltung bringt“.116 Adolf Merkl knüpft an die Überlegung von Verdross an und setzt diese fort.117 Die Verfassungsgebung ist nach seiner Ansicht nicht mit der Verfassung selbst zu verwechseln, nach ihm geht es, paradox wie es klingen mag, ebenso

zugleich auch ein Pflichtenträger wäre, beträchtliche Schwierigkeiten . . . Also: sofern der Grundsatz gilt, daß die Norm, die die Unabänderlichkeit der republikanischen Staatsform bestimmt. selbst unabänderlich ist, so können wir, wenn wir wollen, zulassen, daß der Normbildner tatsächlich diese republikanische Form nicht ändern kann (z. B. in eine monarchistische), es gibt jedoch eine andere Frage, jener Grundsatz der die Unabänderlichkeit der republikanischen Staatsform festsetzt, selbst unveränderlich ist, was wieder ein neues Problem der Möglichkeit einer autonomen Selbstbindung des Normbildners darstellt. Beantworten wir dieses Problem negativ, so ist es klar, daß dadurch auch die Möglichkeit gegeben ist, die Norm, die für unabänderlich erklärt wurde, zu ändern, und zwar nicht so, daß sie unmittelbar geändert würde (also z. B. eine republikanische Staatsform in eine monarchistische), sondern vorerst vom Normsatz das Prinzip beseitigt würde, daß sie für unabänderlich erklärt, wodurch sie eben veränderlich wird.“ (Ebd., S. 106.) 114 A. Verdross, Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers. Juristische Blätter, Nr. 40, 41, 1916. 115 Ebd., S. 472, 473. 116 Ebd., S. 485. 117 A. Merkl, Die Unabänderlichkeit von Gesetzen – ein normologisches Prinzip. Juristische Blätter, Nr. 9, 10, 1917.

II. Europäischer Rückblick

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um die bloße Durchführung der Verfassung, zu der sie eine Einwilligung gegeben hat, ebenso wie bei allen Akten der gewöhnlichen Gesetzgebung, wobei diese Durchführung lediglich in der Änderung von Verfassungsbestimmungen besteht, zu denen die Verfassung selbst die Ermächtigung lieferte, also gilt: „Ohne Ermächtigung der Verfassung keine Verfassungsänderung“118. Die Unabänderlichkeit, und nicht die Abänderlichkeit ist nach Merkl maßgeblich: „Die Souveränität des Staates scheint sich mir nicht in der Abänderlichkeit, sondern gerade in der Unabänderlichkeit der Staatsverfassung am ansprechendsten zu äußern“119. Eher als eine Rekapitulation, als in Form einer Fortsetzung, schließt F. Brychta die Diskussion zum Ermessensspielraum des Gesetzgebers ab, indem er sich den Ansichten von Verdross und Merkl anschließt.120 Obschon sie in einer Reihe von Fällen in krassem Widerspruch standen, in der Frage des Ermessens zur Abänderungen der Verfassung vertraten Carl Schmitt und Hans Kelsen, zwei Schlüsselfiguren des europäischen Rechtes zwischen den Weltkriegen, verwandte Positionen. Nach Schmitt ist eine Kompetenz zur Verfassungsabänderung lediglich unter der Bedingung gegeben, nach der die „Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleiben“.121 Prinzipiell unterscheidet er dabei auf der einen Seite die verfassungsgebende Kompetenz und den Begriff des Verfassungsgebers, und auf der anderen Seite die Kompetenz zum Erlaß von Verfassungsgesetzen und den Begriff des Subjektes der verfassungsgesetzlichen Normbildung (Verfassungsgesetzgeber). Den Abriß des Begriffes der Verfassungsabänderung gibt er durch negative Aufzählung: Eine Verfassungsänderung kommt seiner Meinung nach keiner Liquidation der Verfassung gleich: „Eine Verfassungsänderung, die einen auf dem monarchistischen Prinzip beruhenden Staat in einen von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes beherrschten Staat verwandelt, ist auf keinen Fall verfassungsmäßig. . . . Auf legalem Wege konnte diese Verfassung überhaupt nicht in eine demokratische Verfassung verwandelt werden; der freiwillige Verzicht des Monarchen auf das monarchische Prinzip hätte nur einen Verzicht auf den Kampf bedeutet und einen friedlichen Wechsel der verfassunggebenden Gewalt ermöglicht. Deshalb wäre aber das neue Subjekt der verfassunggebenden Gewalt nicht zum Rechtsnachfolger des Monarchen geworden.“122

118

Ebd., S. 109. Ebd., S. 111. 120 F. Brychta, Otázka nezme ˇ nitelnosti ústav (Die Frage der Unabänderlichkeit der ˇ asopis pro právní a státní veˇ du. Jahrg. I, 1918, S. 4–15. Verfassungen), C 121 C. Schmitt, Fn. 13, S. 103. 122 Ebd., S. 103–104. 119

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

Eine Verfassungsabänderung ist Schmitt zufolge auch keine Beseitigung der Verfassung: „Die grundlegenden politischen Entscheidungen der Verfassung sind Angelegenheiten der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes und gehören nicht zur Zuständigkeit der für verfassungsgesetzliche Änderungen und Revisionen zuständigen Instanzen. Solche Änderungen bewirken einen Verfassungswechsel, nicht eine Verfassungsrevision.“123 Beispiele, die den Rahmen einer möglichen Revision sprengen, sieht er dann z. B. im Ersetzen des demokratischen Wahlsystems durch ein „Rätesystem“, des Föderalismus durch Unitarismus: „Wird durch ausdrückliche verfassungsgesetzliche Bestimmung eine bestimmte Verfassungsänderung verboten, so handelt es sich nur um eine Bestätigung dieser Unterscheidung von Verfassungsrevision und Verfassungsbeseitigung.“124 Eine Verfassungsänderung stellt weiter auch keine Durchbrechung der Verfassung dar: „Bei einer Durchbrechung wird die verfassungsgesetzliche Normierung nicht geändert, sondern nur im Einzelfall – unter Aufrechterhaltung ihrer Geltung im übrigen und im allgemeinen – eine abweichende Anordnung getroffen. . . . Solche Durchbrechungen sind ihrer Natur nach Maßnahmen, keine Normen, daher keine Gesetze im rechtsstaatlichen Sinne und infolgedessen auch keine Verfassungsgesetze. . . . Wer zu solchen Handlungen befugt und imstande ist, handelt souverän. . . . Der Gesetzgeber kann als Gesetzgeber nur Gesetze geben, nicht durchbrechen; die Frage betrifft nicht die Gesetzgebung, sondern die Souveränität.“125 Eine Verfassungsänderung nach Schmitt ist letztendlich auch keine Suspendierung der Verfassung: Er unterscheidet dabei „die Verfassung im eigentlichen Sinne, d.h. die grundlegenden politischen Entscheidungen über die Existenzform eines Volkes, die selbstverständlich nicht zeitweilig außer Kraft gesetzt werden können, und die rechtsstaatlichen Normierungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheit, die einer zeitweiligen Suspension unterliegen“, wobei auf folgenden Umstand hingewiesen wird: „Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der sog. Belagerungs-, Kriegs- oder Ausnahmezustand zu einem Rechtsinstitut.“.126 Carl Schmitt vertritt also nicht nur die Position der materiellen Begrenzung von Verfassungsänderungen, sondern bietet auch den Abriß einer Struktur des die Identität der Verfassung abgrenzenden Raumes, dessen Berührung zu ihrer Negation führt.

123 124 125 126

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

105. 105. 106–107. 109–110.

II. Europäischer Rückblick

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Hans Kelsen richtet sein Augenmerk in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Aspekt. Er geht konsequent von der Absonderung der Welt des Faktischen und des Normativen aus, der Absonderung zwischen dem, was faktisch (d.h. kausal) möglich ist, und dem, was rechtlich (normativ) möglich ist. Obschon nach ihm eine Verfassungsänderung trotz der rechtlichen Unmöglichkeit „ohne weiteres möglich und häufig auch wirklich ist“, gilt für die Welt des Sollens allerdings eine andere Behauptung: „Wie die Verletzung der die Rechtserzeugung betreffenden Norm . . . Nichtigkeit der normwidrig gesetzten Norm bedeutet, d.h. eine normwidrige Setzung von Normen rechtlich unmöglich ist, so ist auch die Änderung einer als unabänderlich bezeichneten Verfassung oder Verfassungsbestimmung rechtlich unmöglich.“127 Mit anderen Worten fehlt nach Kelsen für eine Änderung von Verfassungsbestimmungen, die durch die Verfassung selbst als unveränderlich bestimmt sind, eine Kompetenz bzw. Ermächtigungsnorm (eine Regelung der Prozedur der Revision und der Ergänzung der Verfassung und des Verabschiedens von Verfassungsgesetzen können nicht unter einen solchen Begriff fallen). Die Verfassungspraxis der Weimarer Republik in den Jahren 1919 bis 1933 war durch regelmäßige Durchbrüche der Verfassung auf dem Wege spezieller Verfassungsgesetze gekennzeichnet, was zur Unübersichtlichkeit der Verfassung und zu ihrer Labilität führte. Nach Konrad Hesse hat mit seiner „streng juristischen“ Konzeption der „damalige formalistische Positivismus dazu beigetragen, daß die Weimarer Reichsverfassung durch das nationalsozialistische Regime in den Formen scheinbarer Legalität beseitigt werden konnte“.128 Erinnert uns Hesses Bemerkung nicht an unsere eigene Geschichte im Jahre 1948? Die Autoren des Grundgesetzes der BRD von 1949 reagierten auf die deutsche Geschichte der Jahre 1919 bis 1945 nicht nur mit einer Verfahrensänderung, sondern auch mit zwei weiteren Beschränkungen: Nach der ersten kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. (Art. 79 Abs. 1 erster Satz des Grundgesetzes). Zum Charakter dieser Maßnahme bemerkt die deutsche Verfassungslehre, daß es sich um eine Regelung „des positiven Verfassungsrechts“ handelt, wobei diese „nicht unlösbar mit dem Rechtsstaat verbunden ist“.129 Die zweite Maßnahme war das Herausnehmen des „materiellen Verfassungskerns“ aus dem Ermessen des Verfassungsgebers, mit anderen Worten ausgedrückt ist so die sog. „Ewigkeitsklausel“ entstanden. Danach ist eine Änderung 127

H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre. 1925. Nachdruck, Wien 1993, S. 254. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 17. Aufl., Heidelberg 1990, S. 265. 129 T. Maunz/G. Dürig, et alii, Grundgesetz. Kommentar. München 1997, Art. 79, S. 5. 128

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit, die Souveränität des Volkes und das Widerstandsrecht berührt werden, unzulässig (Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes). Die formell-rechtlichen Folgen dieser Regelung der Unantastbarkeit des „materiellen Kerns“ der Verfassung sind nach der Doktrin und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wie folgt: • ein auf eine solche Verfassungsänderung gerichteter Antrag darf im Bundestag nicht behandelt und nicht zur Abstimmung gebracht werden; • würde dennoch über ihn abgestimmt werden, so kann er mit keiner Mehrheit angenommen werden; selbst seine einstimmige Annahme wäre nicht imstande, die Verfassung zu ändern; • würde ein dennoch angenommener Gesetzentwurf dem Bundespräsidenten vorgelegt, so dürfte ihn dieser nicht verkünden; • würde ihn der Bundespräsident dennoch verkünden, so müsste das Bundesverfassungsgericht die Änderung als rechtsungültig erklären; freilich kann streitig sein, ob im Einzelfall eine Unantastbarkeit des Grundgesetzes berührt wird, auch über diese Frage entscheidet endgültig das Bundesverfassungsgericht.130 Die doktrinäre Ansicht, nach der das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, über die Ungültigkeit eines Verfassungsgesetzes zu entscheiden, welches das Grundgesetz im Widerspruch zu seinem Art. 79 Abs. 3 ändert, setzte sich unmittelbar nach Inkrafttreten der Wirkung des Grundgesetzes131 durch, und wurde zuletzt auch durch die eigentliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bestätigt (BVerfGE, 30, 1/24). Es sei allerdings bemerkt, daß die doktrinäre und judizielle Begründung der Kompetenz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Verfassungsänderungen in bezug auf den Imperativ der Unabänderlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland mit einer anderen Auffassung des Verfahrens über Normenkontrolle im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit, als die Auffassung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik, verbunden wird. Das Bundesverfassungsgericht nimmt nämlich keine Aufhebung verfassungswidriger Gesetze (Rechtsvorschriften) vor (mit Wirkungen ex nunc), sondern es (analog zum Beschluß eines Zivilgerichtes über die Nichtigkeit eines Rechtsaktes) deklariert autoritativ deren Ungültigkeit (Nichtigkeitserklärung – § 78, § 82 und § 95 des Gesetzes des Bundesverfassungsgerichtes der BRD), und dies mit Wirkungen ex tunc (natürlich wird dabei das Prinzip des berechtigten Vertrauens in das Recht geschützt). Es geht dabei von der These aus, nach der ein verfassungswidriges Gesetz (eine Rechtsvorschrift) vom Anfang an ungültig ist, bereits durch die bloße Existenz eines solchen Wi130 131

Ebd., S. 14. O. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? Tübingen 1951, S. 35, 47 ff.

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derspruchs. Von der Verfassungslehre wird dabei dem Grundsatz von der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze Verfassungsrang zugesprochen.132 Von der obigen Konstruktion wird dann im Falle der Akzeptanz von zwei Ebenen verfassungsrechtlicher Normen (denen, die in den Rahmen des Imperativs der Unabänderlichkeit fallen, bzw. den materiellen Kern der Verfassung bilden, und der anderen) und unter der Voraussetzung des formellen Verstehens des Gesetzes (was zweifelsohne auch ein das Grundgesetz änderndes Verfassungsgesetz ist) die Berechtigung des Gerichtes abgeleitet, einen Satz über die Nichtigkeit einer Verfassungsänderung wegen ihres Widerspruchs zu Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes auszusprechen. Es muß natürlich bemerkt werden, daß, obschon das Bundesverfassungsgericht in der angeführten Rechtsprechung auf seine Kompetenz aufmerksam machte, in seiner bisherigen Praxis bislang davon kein Gebrauch gemacht wurde. Die Frage der Grenzen des Ermessensspielraumes des Verfassungsgebers wird auch in weiteren europäischen Ländern diskutiert. In der Schweiz vertreten Ulrich Häfelin und Walter Haller die Auffassung, daß „zwingende Bestimmungen des Völkerrechts gemäß Art. 139 Abs. 3, 193 Abs. 4 und 194 Abs. 2 der Bundesverfassung eine Schranke der Verfassungsrevision bilden. Ob weitere inhaltliche Schranken der Verfassungsrevision bestehen, lässt die neue Bundesverfassung – wie schon diejenige von 1874 – offen“.133 Die Schweizer Verfassungslehre ist in dieser Sache gespalten. Einige lehnen dermaßen weitreichende Beschränkungen des Verfassungsgebers ab (insbesondere Jean-Francois Aubert), andere vertreten dagegen den Standpunkt, nach dem die tragenden Grundwerte der Bundesverfassung nicht abgeändert werden könnten (Hans Nef), bzw. ein allgemein anerkanntes „ethisches Minimum der Rechtsordnung“, das sich unmittelbar aus der Idee des Rechtsstaates ableitet, als unantastbar betrachtet wird (Yvo Hangartner).134 In der österreichischen Verfassungslehre der Nachkriegsjahre stellt Felix Ermacora die Frage des Ermessens des Verfassungsgebers vom Gesichtspunkt der Reinen Rechtslehre über den Stufenbau der Rechtsordnung: „Eine bedeutende Frage im Verfassungsrecht ist die nach dem Rang von Verfassungsnormen. Die Frage ist die, ob Normen gleichen formellen Ranges aufgrund ihrer inhaltlichen Bedeutung in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen oder gleich geordnet sind.“135 Zudem stellt er fest, daß „die Wiener Rechtsschule und der ihr folgende Verfassungsgerichtshof ein Rangverhältnis unter verfassungsgesetz132

K. Schlaich, Fn. 29, S. 201. U. Häfelin/W. Haller, Fn. 30, Zürich 2005, S. 10. 134 Ebd., S. 10, siehe auch and jener Stelle angeführte Quellenreferenzen. 135 F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre. Zweiter Teilband. Berlin 1970, S. 797. Zur Stufenbau der Rechtsordnung siehe A. Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues. In: Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen 133

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

lichen Bestimmungen nicht anerkennt“.136 Der angegebene Schluß ist eine logische Folge der bereits angedeuteten Erwägung Kelsens: der Imperativ der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns und die Unabänderlichkeit der Verfassung sind seiner Meinung nach nicht durch den inneren hierarchischen Stufenbau von Normen des Verfassungsrechts, sondern durch die Absenz einer Ermächtigungsnorm gegeben. Immerhin eröffnet die Verfassung der Österreichischen Republik einen gewissen Raum der prozessualen Einschränkung des Ermessens des Verfassungsgebers für das Gebiet des materiellen Verfassungskerns, und legt in diesem Zusammenhang gleichzeitig die Grundlagen der Kompetenz des Verfassungsgerichts. Heinz Mayer zufolge sind „Bundesgesetze und Landesgesetze und zwar sowohl einfache Gesetze wie auch Verfassungsgesetze“ Gegenstand der Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofes.137 Aus den Bundesverfassungsgesetzen wird diese Kompetenz von den Bestimmungen des Art. 140 der Bundesverfassung abgeleitet, die allgemein die Kompetenz des Gerichtes in Sachen der Normenkontrolle bestimmt, und zwar in Verbindung mit Art. 44 Abs. 3 der Bundesverfassung, nach dem jede Gesamtänderung, bzw. eine Teiländerung, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder Bundesrates verlangt wird, einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen ist. Heinz Mayer vertritt die Ansicht, nach der dem Verfassungsgerichtshof das Ermessen zusteht, und zwar auch in Form einer aposterioren Normenkontrolle, ob die erwähnte Prozedur vom Gesichtspunkt eines ändernden Eingriffes des Verfassungsgebers in den „materiellen Verfassungskern“ eingehalten wurde. Zu den einzelnen Komponenten zählt er die mittelbare Demokratie, den Bundesstaat, den liberalen Rechtsstaat, die Gewaltentrennung.138 Seine Ansicht stützt er auch auf die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofs von Österreich, wie in den Beschlüssen VfSlg. 11.584, 11.756, 11.827, 11.916, 11.918, 11.927, 11.972 ausgedrückt. Ausgehend von der Kritik der legislativen Praxis, die in Form der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen auf den materiellen Gebieten des einfachen Rechtes die Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtes umgeht, kommt das Gericht zum Schluß, daß der Verfassungsgeber auf eine diese Art und Weise nicht zum Durchbrechen von Grundprinzipien der Bundesverfassung „tendieren darf“. Die angeführte Stellungnahme teilt auch eine Reihe weiterer Autoren der österreichischen Verfassungslehre, sei es Peter Pernthaler139 oder Ludwig Adamovich, Bernd-Christian Funk und Gerhard Holzinger.140

Rechtslehre. Hrsg. A. Verdross, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstage gewidmet. Wien 1931, S. 252–294. 136 F. Ermacora, Fn. 135, S. 797. 137 H. Mayer, Fn. 30, S. 336. 138 Ebd., S. 156.

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Diese Entscheidungslinie wurde auch durch die bestehende Rechtsprechung des Gerichtes bestätigt. Im Urteil vom 11. November 2001 (VfGH 16.327) wurde die Verfassungskonformität einer Gesetzesbestimmung erwogen, der das Parlament die Kraft einer Verfassungsbestimmung zuerkannte, und zwar § 126a des Gesetzes über die Vergabe von Aufträgen, entsprechend dem „die am 1. Jänner 2001 in Geltung stehenden landesgesetzlichen Bestimmungen betreffend die Organisation und Zuständigkeit von Organen, denen der Rechtsschutz hinsichtlich der Vergabe öffentlicher Aufträge obliegt, als nicht bundesverfassungswidrig gelten.“. Der Verfassungsgerichtshof machte im Vorhinein eine Unterscheidung zwischen dem einfachen und dem qualifizierten Verfassungsrecht (d.h. Verfassungsrecht, das den materiellen Kern der Verfassung nach Art. 44 Abs. 3 bildet). Es stellte fest, daß zum Zweck des Schutzes „des bestehenden Verfassungskerns“ dem einfachen Gesetzgeber nicht gestattet ist, die Bundesverfassung in ihrer Verbindlichkeit für ein Teilbereich der Rechtsordnung (abgesehen von der Bedeutung dieses Teilbereiches) voll zu suspendieren. Der Verfassungsgerichtshof hielt es in diesem Zusammenhang nicht für notwendig zu prüfen, ob ein Verfahren nach Art. 44 Abs. 3 der Bundesverfassung in Frage kam. Es führte an, daß sich das Suspendieren der Verfassung im Widerspruch zum Prinzip der Demokratie und des Rechtsstaates befindet und der Verfassungsgeber141 im Sinne des Art. 44 Abs. 1 der Bundesverfassung142 darüber nicht verfügt. Auf der Grundlage der angeführten Argumentation und trotz des Wortlauts des Art. 140 Abs. 1 der Bundesverfassung (wonach das Verfassungsgericht „über die Verfassungswidrigkeit von Bundes- und Landesgesetzen“ entscheidet), hob der Verfassungsgerichtshof § 126a des Gesetzes über die Aufgabe von öffentlichen Aufträgen, der vom Gesetzgeber als eine Bestimmung des Verfassungsgesetzes gekennzeichnet und durch ein Verfahren entsprechend Art. 44 Abs. 1 der Bundesverfassung verabschiedet worden war, auf. Die Abgrenzung des materiellen Kerns zugleich mit dem Imperativ der Unabänderlichkeit ist auch in anderen modernen europäischen Verfassungen enthalten: Die Verfassung der Griechischen Republik bestimmt in Art. 110 Abs. 1 die Unabänderlichkeit der Grundlagen des Staates, seiner parlamentarischen 139 P. Pernthaler, Der Verfassungskern. Gesamtänderung und Durchbrechung der Verfassung im Lichte der Theorie, Rechtsprechung und europäischen Verfassungskultur. Wien 1998, S. 46 ff, 80 ff. 140 L. Adamovich/B.-C. Funk/G. Holzinger, Österreichisches Staatsrecht. Band 1, Wien/New York 1997, S. 128 ff. 141 An dieser Stelle kann der terminologische Einfluß von Karl Schmitt nicht unbemerkt bleiben. 142 Nach der angegebenen Bestimmung gilt: „Verfassungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen können vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden.“

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

Form sowie einer Reihe ausdrücklich angeführter Grundrechte und Freiheiten. Auf umfangreiche kasuistische Art und Weise definiert die Verfassung der Portugiesischen Republik in Art. 288 ihre wesentlichen und unabänderlichen Vorhaben, insbesondere die Souveränität des Staates, seine unitäre Anordnung, die republikanische Form, die Trennung zwischen Staat und Kirche, die Rechte und Freiheiten der Bürger und deren Garantien, den politischen Pluralismus, die Gewaltenteilung, den Schutz der Verfassungskonformität, die Unabhängigkeit der Gerichte und die kommunale Selbstverwaltung. Das Prinzip der Einschränkung des verfassungsgeberischen Ermessensraumes in Verbindung mit dem materiellen Kern der Verfassung erhält somit im europäischen Verfassungsdenken Relevanz, eröffnet jedoch gleichzeitig die Frage der reellen und funktionellen Garantien des Imperativs der Unabänderlichkeit. III. Imperativ der Unabänderlichkeit und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik Die Regierungsvorlage der Verfassung der Tschechischen Republik enthielt keinen Imperativ der Unabänderlichkeit.143 Bestandteil der behandelten Gesetzesvorlage wurde er erst auf Grundlage der Empfehlung im Gemeinsamen Bericht zum Regierungsentwurf der Verfassung der Tschechischen Republik vom 12. Dezember 1992 von den Ausschüssen des Tschechischen Nationalrates und zwar des verfassungsrechtlichen Ausschusses, des Ausschusses für Rechtsschutz und Sicherheit, des Petitionsausschusses, des Ausschusses für Menschenrechte und Nationalitäten, des Haushaltsausschusses, des Wirtschaftsausschusses, des Agrarausschusses, des Ausschusses für öffentliche Verwaltung, regionale Entwicklung und Umwelt, des Ausschusses für Sozialpolitik und für das Gesundheitswesen, des Ausschusses für Wissenschaft, Bildung, Kultur, Jugend und Körpererziehung sowie des Auslandsausschusses.144 Bereits in seinem ersten Urteil im Normenkontrollverfahren hinsichtlich der Verfassungskonformität des Gesetzes Nr. 198/1993 des Gesetzblattes über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und dem Widerstand ihm gegenüber (Aktenzeichen Pl. ÚS 19/93), formulierte das Verfassungsgericht zur Auslegung und zum Verstehen des Imperativs der Unabänderlichkeit seine grundlegenden Thesen zum materiellen Verfassungskern. Es stellte insbesondere fest, daß die konstitutiven Grundsätze der demokratischen Gesellschaft im Rahmen der Verfassung über die gesetzgebenden Kompetenzen gestaltet werden, 143 http://www.psp.cz/eknih/1992cnr/tisky/t0152_01.htm (Einsicht vom 3. Januar 2005). 144 http://www.psp.cz/eknih/1992cnr/tisky/t0154_01.htm (Einsicht vom 3. Januar 2005).

III. Die Rechtsprechung der Tschechischen Republik

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und dadurch „ultra vires“ des Parlaments sind, wobei die Beseitigung irgendeines dieser Prinzipien durch beliebige, ob mehrheitliche oder einstimmige Entscheidungen des Parlaments, nicht anders ausgelegt werden könnte als die Beseitigung dieses Verfassungsstaates als solchen.145 Im Urteil Pl. ÚS 36/01 wendete das Verfassungsgericht Art. 9 Abs. 2 der Verfassung als grundlegende Regel für die Auslegung der Verfassung und deren Änderungen an: „Aus der Verfassungsmaxime nach Art. 9 Abs. 2 der Verfassung ergeben sich Konsequenzen nicht nur für den Verfassungsgeber, sondern auch für das Verfassungsgericht. In der Unzulässigkeit von Änderungen der wesentlichen Merkmale eines demokratischen Rechtsstaates ist auch ein Hinweis an das Verfassungsgericht enthalten, nach dem keine Novelle der Verfassung in dem Sinne ausgelegt werden darf, daß in ihrer Konsequenz der bereits erzielte 145 Für seine Bedeutung kann auch ein umfangreicheres Zitat vom angegebenen Urteil als angebracht gehalten werden: „Die rechtspositivistische Tradition, die auch in die Nachkriegsverfassungen (einschließlich unserer Verfassung vom Jahre 1920), übertragen wurde, enthüllte . . . im Laufe der weiteren Entwicklung mehrere Male ihre schwachen Seiten. Die auf solchen Grundlagen konstruierten Verfassungen sind wertneutral: sie bilden einen institutionellen und prozessualen Rahmen, der mit sehr unterschiedlichen politischen Inhalten befüllbar ist, da als Kriterien der Verfassungskonformität die Einhaltung der Ermächtigung und des Verfahrensrahmens der Verfassungsinstitutionen und Verfahren, und daher Kriterien des formell-rationellen Charakters gehalten. Infolge dessen wurde in Deutschland die nationalsozialistische Herrschaft als legal akzeptiert, obschon sie den Inhalt ausräumte und zuletzt das eigentliche Wesen der Weimarer Demokratie vernichtete. Die legalistische Auffassung der politischen Legitimation erleichtert nach dem Krieg für Klement Gottwald, ,die alten Fasse mit neuem Wein zu füllen‘, und dann die Machtübernahme vom Februar 1948 durch das formelle Einhalten von Verfassungsprozessen zu ,legitimieren‘. Das Prinzip ,Gesetz ist Gesetz‘ erwies sich gegen Unrecht in Form vom Gesetz als machtlos. Das Bewußtsein, daß ein Unrecht einfach Unrecht bleiben muß, obschon sie sich in den Mantel des Gesetzes hüllt, wurde auch in die Nachkriegsverfassung Deutschlands aufgenommen und derzeit auch in die Verfassung der Tschechischen Republik. Unsere neue Verfassung ist auf keiner wertmäßigen Neutralität begründet, sie ist keine bloße Definition von Institutionen und Prozessen, sondern integriert in ihrem Text auch gewisse regulative Ideen, die die grundlegenden unantastbaren Werte der demokratischen Gesellschaft ausdrücken . . . Das tschechische Recht ist nicht auf der Souveränität des Gesetzes gegründet. Die Überordnung von Gesetzen den niedrigeren Rechtsnormen bedeutet noch nicht ihre Vorrangigkeit. Nicht einmal im Sinne des Umfangs der gesetzgebenden Ermächtigung im Rahmen des Verfassungsstaates ist Rede von der Souveränität des Gesetzes. In der Auffassung des Verfassungsstaates, auf dem die tschechische Verfassung gegründet ist, sind Recht und Gerechtigkeit kein Gegenstand des freien Ermessens des Gesetzgebers, und dadurch auch nicht des Gesetzes, da der Gesetzgeber durch gewisse Grundwerte gebunden ist, die von der Verfassung als unantastbar erklärt werden. Die tschechische Verfassung bestimmt z. B. in Art. 9 Abs. 2, daß eine Änderung der wesentlichen Mermale des demokratischen Rechtsstaates unzulässig ist‘. Dadurch werden die konstitutiven Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft im Rahmen dieser Verfassung über die gesetzgebende Kompetenz, und daher ,ultra vires‘ des Parlaments gesetzt. Mit diesen Prinzipien steht und fällt ein Verfassungsstaat. Die Beseitigung eines dieser Grundsätze durch beliebige, sei es durch mehrheitliche oder voll einstimmige Entscheidung des Parlaments, könnte nicht anders ausgelegt werden, als die Beseitigung dieses Verfassungsstaates als solchen.“

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

prozessuale Schutz der Grundrechte und Freiheiten beschränkt wäre.“ In diesem Zusammenhang sei auch das Urteil Pl. ÚS 11/02 erwähnt, in dem das Gericht im Rahmen des Art. 9 Abs. 2 der Verfassung auch die Garantie des Willkürverbots im Falle seiner eigenen Auslegung der Verfassungsordnung vorsieht: „Soll das Verfassungsgericht selbst als Verfassungsorgan, d.h. als ein Organ der öffentlichen Gewalt, keinerlei Willkür begehen, deren Verbot es selbst auch unterworfen ist, ist vor allem das Verfassungsgericht den Rahmen eines Verfassungsstaates zu respektieren verpflichtet, in welchem jede Willkür den Organe öffentlicher Gewalt strikt verboten ist, so daß es sich an seine eigenen Entscheidungen, die es nur unter gewissen Bedingungen in seine Rechtsprechung übernehmen kann, gebunden fühlen muß. Dieses Postulat kann dabei als ein wesentliches Merkmal des demokratischen Rechtsstaates (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 der Verfassung) charakterisiert werden.“ In einer Reihe von Entscheidungen gab das Verfassungsgericht auch einen Abriß des begrifflichen Inhalts der „wesentlichen Mermale des demokratischen Rechtsstaates“ nach Art. 9 Abs. 2 der Verfassung. Im Urteil III. ÚS 31/97 wurde in diesem Zusammenhang angegeben: „Der Begriff eines demokratischen Staates nach Art. 9 Abs. 2 der Verfassung wird sowohl durch das Verfassungsgericht, als auch durch die Doktrin interpretiert. In seiner Entscheidung, die unter Pl. ÚS 19/93 geführt wird, setzte das Verfassungsgericht den erwähnten Begriff des demokratischen Staates mit der materiellen, nicht aber mit der formellen Auffassung des Rechtsstaates gleich.“ Des weiteren verwies das Gericht auf doktrinäre Standpunkte, wonach zu wesentlichen Merkmalen des demokratischen Staates im Sinne des Art. 9 Abs. 2 und 3 der Verfassung vor allem die Souveränität des Volkes und die in Art. 5 und 6 der Verfassung enthaltenen Prinzipien und das gesetzliche Recht auf Widerstand (Art. 23 der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten)“146 zu zählen sind, bzw. anders ausgedrückt, daß diese Merkmale „in einigen Artikeln des Kapitels I. der Verfassung und I. und V. der Charta sowie festlich in der Präambel zur Verfassung deklariert“ sind.147 Vom komparativen Gesichtspunkt aus verwies das Verfassungsgericht auch auf Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, sowie auch auf Art. 110, Abs. 1 der Verfassung der Griechischen Republik und Art. 288 der Verfassung der Portugiesischen Republik. Das Verfassungsgericht integrierte in den Rahmen des materiellen Kerns der Rechtsordnung auch die Grundsätze des Wahlrechts (Urteil Pl. ÚS 42/2000), und dies in der Position eines der Derogationsgründe.

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V. Pavlícˇek/J. Hrˇebejk, Fn. 100, S. 55. ˇ eské republiky. Základy A. Gerloch/J. Hrˇebejk/V. Zoubek, Ústavní systém C ústavního práva (Verfassungssystem der Tschechischen Republik. Grundlagen des Verfassungsrechtes), 2. Aufl., Praha 1996, S. 84. 147

IV. Weyrs Argument per petitionem principii und Art. 9 Abs. 2

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Von den obigen Entscheidungen sind einige verallgemeinernde Schlußfolgerungen ableitbar. Das Verfassungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung mit Nachdruck die Unentbehrlichkeit des Schutzes des materiellen Kerns der Verfassungsordnung gezeigt, zum Teil mittels der abstrakten und zum Teil mittels der kasuistischen Methode seine Struktur geschildert. Das Gericht hat betont, daß sich aus dem Schutz des Verfassungskerns ergebenden Folgen nicht nur auf den demokratischen Rechtsgeber auswirken, sondern auch auf das Verfassungsgericht selbst (und dies in dem Sinne, daß die Grundmethode zur Interpretation der Verfassungsordnung eine teleologische Auslegung ist, die sich aus ihrem materiellen Kern ergeben). Mit Ausnahme des Schutzes des materiellen Kerns der Verfassung in Form interpretativer Entscheidungen (im Urteil Pl. ÚS 36/01, durch das Akzentuieren der systematischen und objektiven teleologischen Auslegung der Verfassung), ließ das Gericht die Frage der Garantien des Imperativs der Unveränderlichkeit offen. IV. Weyrs Argument per petitionem principii und Art. 9 Abs. 2 der Verfassung Petitio principii stellt einen der Deduktionsfehler dar, die bereits Aristoteles erkannte, der darin besteht, daß in der Ableitung, die eine gewisse These erst nachweisen soll, eine unwahre Prämisse verwendet wird. Weyrs Skepsis gegenüber dem Imperativ der Unabänderlichkeit ist dann durch den Vorwurf – sagen wir mal – einer unwahren Prämisse gegeben: „Weiß ich jedoch, unter welchen Bedingungen diese Norm (das Imperativ der Unabänderlichkeit) entsprechend der Rechtsordnung, deren Bestandteil sie ist, gültig entstand, so muß ich notwendigerweise logisch akzeptieren, daß unter solchen Bedingungen auch ihre Änderung, bzw. ihre Beseitigung juristisch möglich ist. Ein Entwurf zur Änderung einer solchen Norm ist daher nicht für juristisch unmöglich zu halten.“148 Ein aufmerksamer Leser wird bereits auf Weyrs Argument ein Gegenargument entdeckt haben, das sich anbietet. Konrad Hesse hat es deutlich und überzeugend formuliert, indem er anführt, daß in dem Rahmen, auf den sich der Imperativ der Unabänderlichkeit bezieht, notwendigerweise auch er selbst aufzunehmen ist: „Vor allem darf Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht dadurch gegenstandslos gemacht werden, daß er selbst im Wege der Verfassungsänderung beseitigt wird.“149 Ergänzen wir noch, daß im entgegengesetzten Fall der Imperativ der Unabänderlichkeit und seine Verankerung in demokratischen Verfassungen jeden vernünftigen Sinn verlieren. Durch dieses Argument bzw. per reductionem ad absurdum, oder durch teleologische Reduktion, kann man nur 148 F. Weyr, Základy filosofie právní (Grundlagen der Rechtsphilosophie), Brno 1920, S. 106. 149 K. Hesse, Fn. 128, S. 269–270.

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

zum Schluß gelangen, daß auch Art. 9 Abs. 2 der Verfassung oder der Imperativ der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskerns dem Rahmen des begrifflichen Inhalts der „wesentlichen Merkmale des demokratischen Rechtsfalles“ unterzuordnen ist. Des weiteren enthält Weyrs Überlegung noch einen weiteren logischen Fehler, auf den Merkl aufmerksam macht, und mit dem sich dann insbesondere Schmitt meritorisch auseinandersetzt. Argumentiert Weyr mit logischer Unmöglichkeit, so kann er sie lediglich in einem einzigen Bezugssystem, und nicht in zwei zugleich betrachten. Merkl weist auf die Tatsache hin, daß die Unabänderlichkeit der Verfassung die Äußerung der Souveränität eines Souveräns darstellt; die Möglichkeit ihrer Änderung und Ergänzung ist also nur durch seinen Willen gegründet, der durch die Ermächtigung ausgedrückt wird. Der Imperativ der Unveränderlichkeit, welcher der Identität des Verfassungssystems zugrunde liegt, ist also der Verfassung immanent, und ist auch dann darin enthalten, wenn es nicht explizit ausgesprochen wurde. Die Ansicht Merkls teilt auch die derzeitige deutsche Verfassungslehre: „Die Frage, ob Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes selbst aufhebbar wäre, ist nach der hier vertretenen Auffassung falsch gestellt, weil Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes den Bestandsanspruch der Verfassung in ihrer Identität nicht begründet, sondern die Abänderlichkeit der Verfassung nach Art. 79 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes mit dem verfassungsimmanenten Bestandsanspruch des Grundgesetzes in Einklang hält.“150 Wie es begründeterweise Schmitt konstatiert, stellt eine Liquidation, Beseitigung, Durchbrechung, oder Suspendierung der Verfassung im Widerspruch zu ihrem materiellen Kern einen Wechsel des Souveräns dar – ein Verfassungssystem ändert sich somit auf ein anderes Verfassungssystem. Dadurch gelangen wir allerdings zum Übergang in ein anderes Bezugssystem, zu einem Übergang, der bestimmt empirisch möglich ist, allerdings ist es unmöglich, anhand eines in einem Bezugssystem durchgeführten Argumentes logische Schlußfolgerungen für ein anderes Bezugssystem abzuleiten. V. Ermessensspielraum des Verfassungsgebers, „konstruktive Metaphysik“ und gerichtliche Überprüfung „des einfachen Verfassungsrechtes“ In Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 der Verfassung stehen wir an dieser Stelle vor einer Kernfrage: was ist der Sinn dieser Bestimmung, und wie sind die Garantien ihrer Akzeptanz, bzw. welche Garantien gegen eine auf legalisti150 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten. In: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band I, Grundlagen von Staat und Verfassung. Hrsg. J. Isensee/P. Kirchhof, Heidelberg 1987, S. 802.

V. Gerichtliche Überprüfung „des einfachen Verfassungsrechtes‘‘

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schem Wege durchgeführte Zurückstellung gibt es? Ähnlich fragt auch Jan Filip: „Vorerst ist zu betonen, daß sich hier der Verfassungsgeber selbst bindet. Niemand steht über ihm, der seine Akte, die Art. 9 Abs. 2 widersprechen, aufheben könnte. Erst die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes und die Praxis sonstiger Verfassungsorgane werden den Wert einer solchen Verfassungsbestimmung bestätigen. Meines Erachtens wird es in diesem Zusammenhang darum gehen, ob eine Kategorie von Verfassungsgesetzen gebildet wird, die der Verfassung entgegenstehen, bzw. verfassungswidrig sind. Nach Art. 87 Abs. 1 der Verfassung der Tschechischen Republik scheint es von der Kompetenz des Verfassungsgerichtes ausgeschlossen zu sein, denn es kann nicht die Übereinstimmung von Rechtsvorschriften derselben Rechtskraft beurteilen. Allerdings bedeutet es nicht, daß wir keine sonstigen Rechtsmittel in der Verfassung der Tschechischen Republik und in der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses hätten, die der Verabschiedung eines ,verfassungswidrigen‘ Verfassungsgesetzes entgegenstünden.“151 Sein Optimismus in dieser Richtung stimmt jedoch nicht mit seiner Bemerkung überein, nach der „angesichts dessen, daß der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses die Abstimmung zum Vorschlag eines evident verfassungswidrigen Gesetzes (Einführung der Todesstrafe) zugelassen hatte, es bislang keinen großen Grund für Illusionen“ gibt.152 Das Hauptargument der Skeptiker gegen die Verankerung des Imperativs der Unabänderlichkeit des materiellen Verfassungskernes in der Verfassung ist der Hinweis auf seinen autonomen Charakter und die daraus folgende Absenz heteronomer Garantien seiner Anwendung. Robert Alexy stellt in einem seiner letzten Aufsätze die Frage, ob wir in der Lage sind, in unseren an das eigentliche Wesen gehenden Analysen die Kategorien der Menschenrechte ohne Metaphysik zu behandeln.153 Diese Überlegung Alexys inspiriert zu einer weiteren, analogischen: Die Legitimität der Gewalt (ihre theoretische Konzeption) wurde über Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende, durch die Idee einer von Gott verliehenen Legitimität begründet. Obschon sich im Verlauf des Mittelalters das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, die Beziehung zwischen dem Papst und dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und später dann die Beziehung zwischen dem Papst und dem König Frankreichs geändert haben, obschon die Art und Weise der Bestimmung des Herrschers Änderungen unterworfen war, die Symbolik seiner Legitimität blieb die gleiche. Das biblische Gleichnis der

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J. Filip, Fn. 9, S. 111–113. Ebd., S. 112. 153 R. Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52 (2004) 1, S. 15–24. 152

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

Ölung des weltlichen Herrschers vom Priester (des Königs Saul vom Propheten Samuel154) wurde in den Ritus der Inauguration des Herrschers übertragen, als Symbol dieses Typs der Legitimierung der Gewalt.155 Die von Gott gegebene Legitimität enthält auch die Maxime der Beschränkung der weltlichen Macht (die im Verlauf des Mittelalters eine ganze Reihe von Äußerungen fand: vom Widerstandsrecht156 bis zum Konzept von Monarchomachen157). Die Französische Revolution, die Geschichte des auslaufenden 18. und des ganzen 19. Jahrhunderts brachten eine dramatische Wende: Ein 154 „Aber der Herr hatte Samuel das Ohr aufgetan einen Tag bevor Saul kam und gesagt: ,Morgen um diese Zeit will ich einen Mann zu dir senden aus dem Lande Benjamin, den sollst du zum Fürsten salben über mein Volk Israel, daß er mein Volk errette aus der Philister Hand.‘ . . . Da sprach Samuel zu Saul: ,Sage dem Knecht, daß er uns vorangehe – und er ging voran – ,du aber steh jetzt still, daß ich dir kundtue was Gott gesagt hat.‘ Da nahm Samuel den Krug mit Öl und goß es auf sein Haupt, küßte ihn und sprach: ,Siehe der Herr hat dich zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt.‘“ (Altes Testament. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Berlin 1967, Das Erste Buch Samuel 9,10.) 155 „Während der erste Capet, Hugo Capet, sein Amt im Jahre 987 durch Wahl und Weihe erlangen mußte, erzielten seine Nachfolger, daß das Königreich zur Erbschaft, und der gewählte König zur Erbmonarchie wurde. . . . Das neue Königreich schuf auch neue Symbole. Der Legende nach kam das Öl, mit dem seinerzeit König Chlodwíg bei seiner Taufe von Bischof Remigius gesalbt wurde, direkt vom Himmel. Mit diesem himmlischen Öl, das in der Obhut des Klosters St. Remy in Reims war, wurden dann alle französischen Könige gesalbt. . . . Der König, sitzend auf seinem Thron, wurde mit Hoheitszeichen des Reiches versehen – Krone, Fahne, Schwert, Ring, Stock und Zepter und mit heiligem Öl gesalbt. Eine geringe Menge dieses heiligen Öls entnahm der Erzbischof mit goldener Nadel von der heiligen Ampulle, vermengte es mit Heiligungsöl und salbte den König.“ (H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte. 2. Aufl., Heidelberg 1994, zit. nach der tschechischen Ausgabe: Evropské deˇ jiny práva. Praha 1998, S. 277–278.) 156 „Sofern Gott für die Quelle des Rechtes gehalten wurde, ergab sich daraus, daß das Recht weder ungerecht oder schlecht sein konnte, durch sein Wesen selbst stellte es das Gute und Vorteilhafte dar. Recht und Gerechtigkeit waren Synonyme. . . . Der Gepflogenheit und den Gesetz waren alle unterworfen, vor allem der Herrscher. Seine wichtigste Funktion war es, das Recht zu schützen und zu pflegen . . . Wenn der König den Thron betritt, gab er einen Eid auf das Recht ab. Kein gesondertes Herrscherrecht ist im Mittelalter bekannt. Der Herrscher muß den Usus respektieren und dementsprechend herrschen. Verletzt er das Gesetz, so sollen sich die Untertanen der Ungerechtigkeit nicht unterwerfen: ,Der Mensch ist verpflichtet, sich dem König und dem Richter zu stellen, wenn er Böses tut, und soll ihn da mit allen Mitteln hindern, auch wenn es sein Verwandter ist. Dadurch wird sein Treueid nicht verletzt‘, bekundet ,der Sächsische Spiegel‘. . . . Eine willkürliche Verletzung des Rechtes enthebt den Herrscher der gesetzlichen Grundlagen seiner Macht und entbindet die Untertanen vom Treueid.“ (A. J. Gurevicˇ, Kateˇ gorii sredneˇ vekovoj kultury. Moskva 1972, zit. nach der tschechischen Ausgabe: Kategorie strˇedoveˇ ké kultury [Kategorien der mittelalterlichen Kultur], Praha 1978, S. 128–130.) 157 C. J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik. Berlin 1975; E. Quin, Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600. Berlin 1999.

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neues Legitimitätskonzept, eine Legitimität, die von der Souveränität des Volkes abgeleitet wird. Sie brachten auch die Vorstellung von der „unbeschränkten Macht des Souveräns“. Brachte die Moderne eine Ambition zur Bildung eines Systems von Gewalteninstitutionen, die in Bezug zu den wertmäßigen Grundlagen der Gesellschaft die Maxime einer Vollständigkeit erfüllte, so versagte das angegebene Konzept in gewissen historischen Situationen.158 Insbesondere im Verlauf des 20. Jahrhunderts lieferten die entsetzlichen Erfahrungen ausreichende Argumente für die Begründung eines naturrechtlichen Korrelats der Gewalt, das wir auch anders benennen können: ein metaphysisches Korrelat, oder aber, in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichtes der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Begriff „des überpositiven Rechts“.159 Die Metaphysik, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Staats- und Rechtslehre, ist, wie ich meine, die menschliche Reaktion auf die Unvollständigkeit des Rationellen160 (wie es sich von der Natur der Sache ergibt). Wenn wir die empirisch nachprüfbare These akzeptieren, nach der einen Menschen, dieses denkende und freie Wesen, unter anderem die Ambition erfüllt, die ihn umfassenden Erscheinungen, mit denen er konfrontiert wird, zu erklären, so ist die Metaphysik Ausdruck der Spannung zwischen dem Postulat der Vollständigkeit und dem Theorem der Unvollständigkeit. In der physikalischen Terminologie ist die Metaphysik (Gott) eigentlich eine Konstante an Stelle von Variablen, deren Werte zu vermessen wir nicht in der Lage sind. Ein metaphysisches Korrelat in der demokratischen Konstitutionalistik des 19. und 20. Jahrhunderts war und ist Reaktion auf die historische Erfahrung – in Frankreich auf die Änderungen von Regierungsformen infolge einer Reihe dramatischer Gesellschaftsänderungen, in der Bundesrepublik Deutschland auf die Greueltaten des Nationalsozialismus und den „legalistischen“ Weg der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933, in Griechenland und Portugal auf die Erpressung des autoritativen bzw. totalitären Regimes, in der Tschechischen

158 „Auch eine demokratische Regierung unterliegt jedoch der Überzeugung, sie habe das Recht zur absoluten Souveränität (d.h. Macht), was zum Zentralisieren der Gewalt führen kann, des Öfteren mit Hilfe verfassungswidriger Mittel und in der Regel mit schlechten Ergebnissen.“ (F. Zakaria, The Future of Liberty. 2003, zit. nach tschechischer Ausgabe: Budoucnost svobody. Praha 2004, S. 125.) 159 BVerfGE 23, 98: „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzpositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch Gesetzgeber Unrecht setzen kann.“ (BVerfGE 3, 225 [232]) 160 In diesem Zusammenhang kann der berühmte Gödels Theorem der Unvollständigkeit nicht unerwähnt bleiben. Zu seinem Inhalt siehe E. Nagel/J. R. Newman, Gödel’s Proof. Revised Edition. Ed. D. R. Hofstadter, New York 2001.

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Republik auf die Verbrechen des Kommunismus und den ähnlich „legalistischen“ Weg der kommunistischen Machtübernahme im Jahre 1948. Dieses Korrelat ist kein „moralisierender Aufschrei“. Ganz im Gegenteil, es ist ein Verfassungsschritt mit einer ganzen Abfolge von Konsequenzen, eine Verfassungsakte, die – und in diesem Zusammenhang teile ich Alexys These über „konstruktive Metaphysik“161 – eine rationelle Begründung hat. Obschon zu den Begriff der „wesentlichen Bestandteile eines demokratischen Rechtsstaates“ zweifelsohne auch das Prinzip der Gewaltenteilung und der Herrschaft des Rechtes gehören, folgt immerhin aus dem Theorem der Unvollständigkeit die Unmöglichkeit, ein solches System demokratischer Institutionen öffentlicher Macht zu bilden, das imstande wäre, in allen Fällen und unter allen Situationen die institutionellen Mechanismen der Beibehaltung der wertmäßigen Grundlagen der Freiheit und Demokratie zu garantieren. Ohne eines bedeutenden Maßes an Identifikation mit diesen Grundsätzen, d.h. ohne eines bedeutenden Maßes autonomer Akzeptanz insbesondere von Seiten der gesellschaftlichen Eliten, kann ein auf der Freiheit und Demokratie basierendes Verfassungssystem nicht funktionieren. Es kann „außerhalb eines von der Öffentlichkeit akzeptierten Kontextes von Werten, von Vorstellungen über die Gerechtigkeit, sowie Vorstellungen über den Sinn, Zweck, sowie die Art und Weise des Funktionierens demokratischer Institutionen nicht existieren. In anderen Worten kann es außerhalb eines gewissen minimalen wertmäßigen und institutionellen Konsens nicht funktionieren.“162 Der Verfassungsakzent, der Ausdruck des metaphysischen Korrelats des Theorems der (institutionellen) Unvollständigkeit, ist also ein rationelles Konzept des Verfassungssystems der Freiheit und Demokratie. Immerhin kann die Frage gestellt werden, ob auch gewisse heteronome institutionelle Garantien des Imperativs der Unveränderlichkeit denkbar wären. Wenn wir die Erwägung der Übereinstimmung zwischen den Vorlagen der Verfassungsgesetze mit Art. 9 Abs. 2 der Verfassung seitens des Parlamentes selbst, seiner Kammern und Organe beiseite lassen, wenn wir auch die theoretischen Möglichkeiten der Ingerenz des Präsidenten der Republik und deren hypothetische Folgen (z. B. die Ablehnung der Signierung) beiseite lassen und wenn wir zuletzt auch die Kategorie des bürgerlichen Ungehorsams (Art. 23 der Charta der Grundrechte und Freiheiten)163 außer Acht lassen, so bleibt immerhin die 161 R. Alexy, Fn. 153, S. 24: „Eine konstruktive Metaphysik hat einen zugleich rationalen und universellen Charakter.“ 162 Urteil des Aktenzeichens Pl. ÚS 33/97. 163 R. Dworkin, Fn. 17, S. 340: „Zumindest in den Vereinigten Staaten wäre fast jedes Gesetz, das eine signifikante Anzahl von Leuten aus moralischen Gründen zu mißachten versucht ist, auch aus verfassungsrechtlichen Gründen zweifelhaft, wenn es nicht schon klarerweise ungültig ist. Die Verfassung macht unsere konventionelle politische Moral für Fragen der Gültigkeit relevant; jede Gesetzesbestimmung, die Kompromisse mit dieser Moral einzugehen scheint, wirft verfassungsrechtliche Fragen auf,

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gerichtliche Kontrolle des Einklangs zwischen dem „einfachen“ und dem „qualifizierten“ Verfassungsrecht als Erwägungsgegenstand. In diesem Zusammenhang wäre es möglich, eine Diskussion über drei denkbare Alternativen zu eröffnen. Für die erste Alternative halte ich die Prozeßgarantie der Akzeptanz gemäß Art. 9 Abs. 2 der Verfassung, die im Wege der Verfassungsgepflogenheit in Form einer a priori gerichtlichen Kontrolle des einfachen Verfassungsrechtes gebildet wurde. Ich halte für eine solche Garantie ein Verfahren, in dem eine Kammer des Parlaments, von der eine Vorlage zur Verabschiedung irgendeines Verfassungsgesetzes stammt, eine Anfrage über die Beschaffenheit dieser Vorlage dem Verfassungsgericht vorlegt. Das Gericht soll prüfen, ob – vom Gesichtspunkt des Inhalts des Entwurfes des Verfassungsgesetzes – ein Eingriff in den materiellen Verfassungskern vorliegt, oder nicht, wobei sich das Parlament in der Praxis nach der Entscheidung des Gerichtes richten würde. Von Seiten des Verfassungsgerichtes würde der angegebene Mechanismus Selbstbeschränkung verlangen, ein sehr zurückhaltendes und umsichtiges Herantreten. Man könnte über die Einführung eines Elementes kooperativer, nicht konkurrierender Demokratie sprechen. Ein unterstützendes Argument für diese Alternative ist der neue, durch die Euronovelle in die Verfassung aufgenommene Art. 87 Abs. 2. Dieser begründet in Verbindung mit Art. 10a und Art. 39 Abs. 4 der Verfassung die Rechtskraft des Verfassungsgerichtes, ex ante die Verfassungskonformität völkerrechtlicher Verträge zu überprüfen, die in der Folge in der inkorporierten Position de facto den Rang eines Verfassungsgesetzes innehaben: „sofern es sich um Verträge nach Art. 10a handelt, so ist bei deren Auslegung das Wort ,Gesetz‘ in Art. 10 im Satz hinter dem Strichpunkt als ,Verfassungsgesetz‘ zu interpretieren.“164 Mit anderen Worten: Das Verfassungsgericht verfügt bereits derzeit über die Rechtskraft, die Konformität von Normen, die potentiell die Kraft eines Verfassungsgesetzes haben, mit der Verfassungsordnung der Tschechischen Republik zu überprüfen. Ein weiteres unterstützendes Argument werden in der Zukunft die analogen Fälle zu den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes der Bundesrepublik Deutschland Solange I, Solange II, Maastricht-Urteil sein, wobei sich das Verfassungsgericht mit der Frage auseinandersetzen wird, ob der Vorrang völkerrechtlicher Verträge nach Art. 10a der Verfassung vor der Verfas-

und wenn der Kompromiß schwerwiegend ist, sind auch die Verfassungsrechtlichen Zweifel schwerwiegend.“ Detailliert zum Widerstandsrecht und Zivilungehorsam siehe R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat? Bemerkungen zum zivilen Ungehorsam. In: R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt a. M. 1991, S. 39–72. 164 J. Malenovsky ´, Mezinárodní smlouvy podle cˇ l. 10a Ústavy Cˇ R (Völkerrechtliche Verträge nach Art. 10a der Verfassung der Tschechischen Republik), Právník, cˇ . 9, 2003, S. 849.

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sungsordnung, begründet auf der Grundlage der Spezialität, auch den materiellen Verfassungskern nach Art. 9 Abs. 2 der Verfassung165 berührt. Für die zweite Alternative halte ich die österreichische Inspiration. Auf dem Gebiet der Normenkontrolle verfügt der Verfassungsgerichtshof der Österreichischen Republik, ähnlich wie das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik, über die Kompetenz zur Aufhebung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften, bei denen ein Widerspruch zur Verfassung (Verfassungsordnung) festgestellt wurde. Gegen diese Möglichkeit wendet Filip jedoch ein, daß das Gericht lediglich über die Möglichkeit verfüge, eine Diskrepanz zwischen Rechtsvorschriften, die einen unterschiedlichen Grad an Rechtskraft haben, festzustellen, wobei sich innerhalb der Verfassungsordnung keine Stütze für die Reduzierung der Rechtskraft finden lasse.166 Die österreichische Inspiration ist letztendlich eine Inspiration durch Kelsen. Ihm zufolge fehlt für eine Änderung von Verfassungsbestimmungen, die durch die Verfassung selbst als unabänderlich bezeichnet werden, eine Ermächtigungsnorm, d.h. deren Verabschiedung stellt eine Verletzung des Verfahrens dar. Das bedeutet, daß für das Verfassungsgericht der Österreichischen Republik kein inhaltlicher Widerspruch zum materiellen Verfassungskern einen Derogationsgrund zur Aufhebung der Rechtskraft eines Verfassungsgesetzes, sondern die Absenz einer Ermächtigung, also ein verfassungsrelevantes Verfahrensdefizit, bildet. Solche Überlegungen, abgesehen von deren Semantik, knüpfen auf Gedanken von Siéyès an.167 Nach E. J. Siéyès ist eine Verfassung eine Äußerung der Souveränität des Volkes, das die verfassungsgebende Gewalt darstellt (le pouvoir constituant). Alle anderen Gewalten, als konstituierte Gewalten (les pouvoirs constitués), müssen daher ihre Existenz und Rechtskraft von der Verfassung ableiten. Die Verfassung wird damit zum „Brennpunkt“ der staatlichen und rechtlichen Anordnung des Ganzen. Sie konstituiert ein System von Organen, die die konstituierte Gewalt darstellen, und begründet deren Rechtskraft. Die konstituierte Gewalt kann sich daher nicht über die konstituierende Gewalt stellen, da

165 Zu den Zusammenhängen zwischen völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 10a der Verfassung und Art. 9 Abs. 2 der Verfassung siehe übereinstimmend Z. Kühn, Rozšírˇení evropské unie a vztahy šestadvaceti ústavních systému˚ (Erweiterung der Europäischen Union und die Beziehungen von sechsundzwanzig Verfassungssystemen), Právník, cˇ . 8, 2004, S. 779. 166 Siehe Fn. 151. 167 E. J. Siéyès, Politische Schriften 1788–1790 mit Glossar und kritischer SiéyèsBibliographie. Darmstadt 1975. Zur Konzeption von Siéyès siehe z. B. K. Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. München 1922; E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution. Tübingen 1909.

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sie lediglich in den Grenzen der Ermächtigung funktioniert, die ihr von der konstituierenden Gewalt verliehen wurden. Diese Spaltung findet sich auch in der Konzeption von Carl Schmitt wieder, der auf der einen Seite die verfassungsgebende Kompetenz und den Begriff des Verfassungsgebers und auf der anderen Seite die Kompetenz zum Erlass von Verfassungsgesetzen und den Begriff des Subjektes der verfassungsgesetzlichen Normbildung (des Verfassungsgesetzgebers) kennt. Letztendlich entspricht diese Trennung auch der Terminologie des Verfassungsgerichthofes der Österreichischen Republik, wenn es zwischen dem qualifizierten Verfassungsrecht (d.h. dem materiellen Verfassungskern, dessen Änderung einer speziellen Prozedur, der Volksbefragung unterliegt) und dem einfachen Verfassungsrecht (d.h. allem anderen) unterscheidet. Bemerken wir noch, daß in der tschechischen Verfassungslehre die Terminologie zum Festhalten des obigen Unterschieds fehlt. Der Terminus „Verfassungsgeber“ wird sowohl im Sinne des Subjektes der konstituierenden Gewalt, als auch im Sinne des Subjektes der konstituierten Gewalt, welche ermächtigt ist, die Verfassung zu ändern und zu ergänzen, verwendet. Es wäre angebracht, zwecks Benennung dieser wichtigen Unterscheidung die Einführung zweier Termini zu erwägen: „originärer Verfassungsgeber“ (zum Bezeichnen des Subjektes der konstituierenden Gewalt) und „ermächtigter (abgeleiteter) Verfassungsgeber“ (zum Bezeichnen des Subjektes der konstituierten Gewalt, mit der Ermächtigung, die Verfassung zu ändern und zu ergänzen). Es ergibt sich aus dem Kontext der vorangegangenen Erläuterung, in der die beiden Bedeutungen des Terminus „Verfassungsgeber“ verwendet werden. Wenn wir also von der Kelsens Konzeption ausgehen, so kommt es, im Falle der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen, die in Widerspruch zu Art. 9 Abs. 2 der Verfassung geraten, beim ermächtigten Verfassungsgeber zur Verletzung der Ermächtigungsnorm. Auch durch restriktive Auslegung von Art. 87 Abs. 1. a) der Verfassung der Tschechischen Republik in Verbindung mit § 68 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfassungsgericht kann man nach meiner Auffassung zum Schluß gelangen, daß obwohl das Verfassungsgericht nicht ermächtigt ist, die materielle Konformität mit der Verfassungsordnung mit Derogationsfolgen zu überprüfen, so ist es immerhin zur Überprüfung der Verfassungskonformität der Prozedur bei der Verabschiedung von Verfassungsgesetzen ermächtigt, und darf im Falle einer Verletzung (Nichteinhaltung) zur Aufhebung greifen. Aus dem Obigen ergibt sich die Ermächtigung zu deren Aufhebung auch im Falle der Verletzung der (negativen) Ermächtigungsnorm, die in Art. 9 Abs. 2 der Verfassung enthalten ist. Und zuletzt die dritte Alternative, die keine hypothetische Überlegung darstellt, sondern eine reelle funktionierende Wirklichkeit. Das Verfassungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung mit Nachdruck die Notwendigkeit des

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Schutzes des materiellen Verfassungskerns geäußert. War es in einer Sache (Aktenzeichen Pl. ÚS 36/01) mit einem Verfassungsgesetz konfrontiert (zur Änderung und Ergänzung der Verfassung), das vom Gericht als im Widerspruch zum materiellen Verfassungskern stehend gehalten wurde (Art. 9 Abs. 2), so setzte es dann die Methode einer Interpretation ein, die konform war mit Kautelen, die aus Art. 9 Abs. 2 folgten (bzw. in Analogie zum Grundsatz der Priorität der verfassungskonformen Auslegung vor einer Derogation).168 Bei der angeführten Rechtsansicht verblieb das Gericht auch in seiner weiteren Rechtsprechung.169 Ich glaube, daß der allgemeine Sinn und die Bedeutung dieser These 168 Zum obigen Urteil des Aktenzeichens Pl. ÚS 36/01 siehe insbesondere J. Filip, Nález cˇ . 403/2002 Sb. jako rukavice hozená ústavodárci Ústavním soudem (Urteil Nr. 403/2002 des Gesetzblattes als von Verfassungsgericht geworfener Handschuh), Právní zpravodaj, Nr. 11, 2002, S. 12–15; Z. Kühn/J. Kysela, Je Ústavou vzˇ dy to, co Ústavní soud ˇrekne, zˇ e Ústava je? (Ist die Verfassung immer das, was das Verfasˇ asopis pro právní veˇ du a praxi, Nr. 3, 2002, sungsgericht sagt, daß Verfassung ist?), C S. 199–214; P. Holländer, Dotvárˇení Ústavy judikaturou Ústavního soudu (Fortbildung ˇ eské der Verfassung mittels Judikatur des Verfassungsgerichtes). In: Deset let Ústavy C republiky. Vy´chodiska, stav, perspektivy. Red. J. Kysela, Praha 2003, S. 131–135; J. Malenovsky´, Euronovela Ústavy: „Ústavní inzˇ eny´rství“ ústavodárce nebo Ústavního soudu cˇ i obou? (Euronovelle der Verfassung: „Verfassungsingenieur“ – Verfassungsˇ eské republiky. geber oder Verfassungsgericht, bzw. beide?). In: Deset let Ústavy C Vy´chodiska, stav, perspektivy. Red. J. Kysela, Praha 2003, S. 173–189. 169 Siehe besonders Urteile der Aktenzeichen Pl. ÚS 44/02 und I. ÚS 752/02. Im erstgenannten wurde der folgende Schluß formuliert: „Wie bereits das Verfassungsgericht in seinem Urteil des Aktenzeichens Pl. ÚS 36/01 schlußfolgerte, wie unter Nr. 403/2002 des Gesetzblattes veröffentlicht, kann die Verfassungsverankerung der allgemeinen Inkorporationsnorm, und dadurch die Überwindung des dualistischen Konzeptes der Beziehung zwischen dem internationalen und nationalen Recht (Verfassungsgesetz Nr. 395/2001 des Gesetzblattes), nicht in dem Sinne interpretiert werden, als daß es die Beseitigung des Referenzgesichtspunktes ratifizierter und erklärter internationaler Konventionen über Menschenrechte und Grundfreiheiten von der Beurteilung des nationalen Rechtes seitens des Verfassungsgerichtes brachte, und dies mit den möglichen Derogationsfolgen. Der Umfang des Begriffes der Verfassungsordnung ist nämlich nicht lediglich unter Berücksichtigung des Art. 112 Abs. 1 der Verfassung, sondern auch unter Berücksichtigung des Art. 1 Abs. 2 der Verfassung auszulegen.“ Das Verfassungsgericht bestätigte diesen Schluß auch in seiner weiteren Entscheidungspraxis. Im zweitgenannten, d.h. im Urteil des Aktenzeichens I. ÚS 752/02 führte das Gericht an: „Der Vorrang von Verpflichtungen aus den Konventionen über den Schutz von Menschenrechten im Falle einer Kollision von Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen ergibt sich insbesondere aus dem Inhalt dieser Verträge in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung, nachdem die Tschechische Republik ein Rechtsstaat ist. Achtung und Schutz der Grundrechte sind Definitionsmerkmale eines materiell verstandenen Rechtsstaates, und daher für den Fall, daß nebeneinander eine Vertragsverbindlichkeit zum Schutz eines Grundrechtes und eine Vertragsverbindlichkeit, die zur Gefährdung desselben Rechtes tendiert, nebeneinander stehen, so muß die erste Verbindlichkeit Vorrang erhalten. Das Verfassungsgericht bleibt bei seiner Ansicht, daß keine Novelle der Verfassung in dem Sinne interpretiert werden darf, daß es in der Folge zu einer Beschränkung des bereits erzielten Niveaus des Verfahrensschutzes der Grundrechte und Freiheiten (Pl. ÚS 36/01, veröffentlicht unter Nr. 403/2002 des Gesetzblattes) käme. Den Umfang des Begriffes der Verfassungsordnung ist daher nicht unter Berücksichtigung des Art. 112 Abs. 1 der Verfassung auszulegen, sondern

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und dieser Orientierung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes im Akzentuieren der wertmäßigen Konsistenz der ganzen Verfassungsordnung liegen. Aus dem Angegebenen ergibt sich auch die Notwendigkeit, jede seiner Bestimmungen vom Blickwinkel der Konformität mit dem materiellen Kern der Verfassung zu interpretieren. *** Die turbulente parlamentarische Debatte zum Entwurf des Verfassungsgesetzes über die Verkürzung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses ist bereits vor mehreren Jahren abgeklungen. In der Zwischenzeit wurden einige Verfassungsgesetze verabschiedet, ohne im geringsten die Frage deren Konformität mit Art. 9 Abs. 2 der Verfassung anzuschneiden. Dies ist weder bei der Verabschiedung der sog. „Euronovelle“ (Nr. 395/ 2001 des Gesetzblattes), noch im Falle des Verfassungsgesetzes über Volksbefragung (Nr. 515/2002 des Gesetzblattes) geschehen. Ja, dies erinnert mich an eine uralte jüdische Anekdote. Doktor Abeles war gut siebzig, als man ihn zu Kohn rief, der älter war und noch nie im Krankenbett gelegen hatte. Kohn hatte einen entsetzlichen Husten. Er hustete so fürchterlich, daß sich alle künftigen Erben freuten, wie sie über seinem Sarg wehklagen würden. „Herr Doktor,“ stöhnte Kohn, „ich huste so schrecklich. Das ist ein Elend . . .“ „Herr Kohn,“ fragte Doktor Abeles, „sage er doch, hustete er, als er vierzig war?“ „Nein, gar nicht,“ seufzte der unglückliche Kohn, „nein, ich hustete nicht, mein Gott ist es eine Plage mit diesem fürchterlichen Husten, mein Gott, mein Gott, warum strafst Du mich so?“ Und er jammerte und jammerte, als daß Doktor Abeles, der eigentlich viel mehr krank war als sein neuer Patient, ihn nicht einmal richtig untersuchen konnte. „Aber Herr Kohn,“ fragte doch Doktor Abeles, „er sage mir, hustete er, als er sechzig war?“ „Ich hustete nicht,“ klagte Kohn noch elender, „das ist der Weltuntergang, was hab ich Dir, Allmächtiger, getan, daß Du mich so strafst! Ojojoj!“ Da hatte es der Doktor satt und schrie den Patienten an: „Er gehe zu allen Teufeln mit seinen Klagen. Er ist achtzig, mit vierzig hat er nicht gehustet, mit sechzig hat er nicht gehustet – wann will er eigentlich mit dem Husten anfangen, wenn nicht mit achtzig?!“170 mit Bezug auf Art. 1 Abs. 1 und 2 der Verfassung müssen in diesem Rahmen auch die ratifizierten und erklärten internationalen Konventionen über Menschenrechte und Grundfreiheiten integriert werden. Obschon nach der Änderung der Verfassung (Verfassungsgesetz Nr. 395/2001 des Gesetzblattes) die Verträge zum Schutz von Menschenrechten keine selbständige Kategorie von Rechtsnormen mit Anwendungsvorrang im Sinne des früheren Wortlauts des Art. 10 bilden, bleiben sie trotzdem eine gesonderte Gruppe von Normen und bilden zugleich einen Bezugspunkt sowohl für die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 87 Abs. 1 Verfassung, als auch für Verfahren der Verfassungsbeschwerden.“

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D. Der Ermessensspielraum des Verfassungsgesetzgebers

O ja, es scheint mir, daß wir uns mit der Diskussion über die Grenzen des Ermessensspielraumes des ermächtigten Verfassungsgebers in Bezug zum materiellen Verfassungskern noch eine Weile gedulden müssen, bis Herr Kohn wieder mal einen Hustenanfall bekommt.

170 Nach J. Martinec, Potkal Kohn Rabínovic ˇ e (Kohn traf sich mit Rabinowich), Praha 1968, S. 94–95.

E. Der Richter von heute: Eine Barriere der postmodernen Dekonstruktion oder eine industrielle Entscheidungsfabrik? I. Merkmale zusammenbrechender Paradigmen? Bereits eine geraume Zeit vor dem Auftritt der Propheten der Postmoderne J. F. Lyotard, M. Foucault oder J. Derride zeichnet der Schweizer Arzt Max Picard ein Bildnis der Dekonstruktionsepoche: Ich habe mir erlaubt, in der deutschsprachige Ausgabe die Zitate nachzuschauen: Das Wort wurde so zum puren Zeichen, das man nur vom äußeren Laut her kennt, nicht mehr vom Sinn her. Das Wort hörte auf, einen Sinn zu haben – dieser braucht eine Dauer, einen Zusammenhang, um zustande zu kommen und um sich zu verwirklichen –, das Wort wird zum Gekreisch des Augenblicks . . . In der Welt der Diskontinuität, des Zusammenhangslosen und des Augenblickshaften aber gilt anstatt der Wahrheit die bloße Feststellung einer Tatsache. Die Feststellung wird nur vom Augenblick her gewonnen und gilt nur für den Augenblick. Die Feststellung ersetzt hier die Wahrheit. Irgend eine Situation des Augenblickes wird erhascht und an ihr eine Feststellung gemacht, – diese Feststellung stimmt meistens, jedoch stimmt sie nur für die Situation dieses Augenblickes und für eine Welt, in welcher nur vom Augenblickshaften her gelebt wird, aber sie stimmt nicht für die Welt der Dauer. Die Feststellung ist nur eine Zufälligkeit des Augenblicks, sie enthält nicht einmal das Wesen dessen, was im Augenblick ist, sondern nur das, was in ihm zufällig ausgeschieden wurde. Die Wahrheit hingegen bezieht sich auf das Wesen in der Dauer.“171 Am Anfang der 80er Jahre beschreibt Alvin Toffler die Dekonstruktion der Rechtsordnung in den USA bzw. in Großbritannien mit folgenden Worten: „Die außer Kontrolle geratene Verordnungsmaschinerie produziert ein immer undurchdringlicheres Netz von Vorschriften . . . Dieser exotische Wildwuchs der Bürokratie überlastet die Wirtschaft, während die Mal-so-mal-so-Entscheidungen der Behörden das allgemeine Gefühl von Anarchie noch verstärken. . . . Ein Geplagter britischer Abgeordneter klagt: ,Wir haben alle Probleme mit Gesetzen gelöst. Wir haben sieben Gesetze gegen die Inflation erlassen. Wir haben in zahlreichen Fallen Ungerechtigkeiten beseitigt. Wir haben die ökologische Frage gelöst. Jedes Problem ist von der Gesetzgebung unzählige Male gelöst worden. Aber die Probleme bleiben. Die Gesetze funktionieren nicht.‘ . . . Heut171

M. Picard, Hitler in uns selbst. Zürich 1946, S. 83, 92.

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E. Der Richter von heute

zutage können die Eliten die Folgen ihres eigenen Handelns nicht mehr voraussagen. . . . Die Macht wird nicht übertragen; sie wird statt dessen immer mehr vom Zufall geleitet.“172 Mit aller Wahrscheinlichkeit sind wir Zeugen eines allgemeineren Phänomens, Zeugen der Spannung zwischen den Paradigmen des Rechtsdenkens der vergangenen zwei Jahrhunderte und den Veränderungen des heutigen Zeitalters, einer Spannung, deren Folgen auch auf das Rechtsleben der Länder des sich transformierenden Mitteleuropas einwirken. Im Jahre 2000 umfaßte die Gesetzessammlung in der Tschechischen Republik sechs, 2001 sieben und 2002 bereits acht voluminöse Bände. Nach den unerlässlichen Reformschritten zu Beginn der 90er Jahre setzt sich der normbildende Galopp nicht nur fort, sondern verzeichnet sogar eine weitere Beschleunigung. Der Grund ist dabei nicht nur die Annäherung an das EU-Recht, der Grund liegt insbesondere im anhaltenden legislativen Optimismus, in der naiven Vorstellung, daß jedes gesellschaftliche Problem durch die Verabschiedung einer Rechtsvorschrift lösbar sei; es geht um eine Kodifikationseuphorie, eine unaufhörliche Implementierung, eine zunehmend schwache Qualität der akzeptierten legislativen Texte (die in einer Reihe von Fällen mißlungene Übersetzungen ausländischer Vorlagen darstellen). Dem folgen improvisierte Reaktionen auf erschrockene Reaktionen des praktischen Lebens (bestimmt jedoch auch legislative Eingriffe, die einen Bestandteil des politischen Lobbyismus bilden). Im Ergebnis stellt sich kein Transformationserfolg, sondern vielmehr eine Dekonstruktion der Rechtsordnung ein (Dekonstruktion als die Einführung eines Zustands, nicht im Sinne negativer Änderungen irgendeiner positiven Sache). Als Begleiterscheinung folgt die Unmöglichkeit einer Absorption jeglicher Ordnungskriterien für die einfache Informationsüberflutung, wo es zur Regel wird, daß indirekte Novellen verabschiedet werden, zur Regel gehört, daß die bestätigten Gesetze als Gesetze über die Änderung und Ergänzung sonstiger Gesetze bezeichnet werden und zur Regel wird schließlich die wiederholte Novellierung von Gesetzen im Verlauf eines einzigen Jahres (nach Inkrafttreten einer grundsätzlichen Rekodifikation der Zivilprozeßordnung am 1. Januar 2001 wird bereits im Verlauf des Frühlings im legislativen Rat ihre nächste Novelle behandelt, bis Sommer 2002 wird die Zivilprozeßordnung geändert und ergänzt, oft durch indirekte Novellen, zusammen 18-mal; drei bis vier Novellierungen derselben Steuergesetze im Verlauf eines Jahres sind eine Selbstverständlichkeit). In der Konsequenz kommt es zur Resignation, des öfteren verbunden mit Zynismus (in der Praxis der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte, insbesondere prozeduralen Charakters), zum Verlust der Fähigkeit, sich in der Rechtsordnung zu orientieren, zu einer engen Spezialisierung, in der das Imstandesein verloren geht, den Sinn und Zweck der verwendeten Normen sowie 172 A. Toffler, Third Wave. 1980. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Die dritte Welle. München 1980, S. 392–394.

II. Rechtsparadigmen der industriellen Epoche

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deren axiologischen und teleologischen Hintergrund zu reflektieren; die Folge ist ferner der Formalismus des praktischen Rechtes, der uns zu treuen Trägern des Nachlasses von Kafka und Hašek macht. Diese einführenden Bemerkungen abstrahieren von weiteren Begleiterscheinungen, zu denen ein eventuelles Vorkommen von Korruption und Klientelismus gehören, und weiter Bildungsdefizite der gerichtlichen Sphäre. II. Rechtsparadigmen der industriellen Epoche Das Paradigma des legislativen Optimismus in Kontinentaleuropa ist historisch gesehen relativ neu, seine Genesis kann in der Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert datiert werden. Zu den gedanklichen Quellen des Glaubens an die normbildende Aktivität der Institutionen der Staatsgewalt sind der Rationalismus und die Aufklärung geworden, in enger Verbindung mit dem noetischem Optimismus (Descartes, Kant), mit der Vorstellung von der Mächtigkeit des menschlichen Denkens, beruhend in der Fähigkeit, a priori die Welt in den Griff zu nehmen (im rechtlichen Denken in Kodifikationskonzepten ausmündend), weiterhin auch die radikalen Interpretationen der Souveränität des Volkes, Begleiterscheinungen der Französischen Revolution und letztendlich kann hierzu auch das Mißtrauen gegenüber den Gerichten aus den Zeiten des „ancient régime“173 gezählt werden. Neben gedanklichen Quellen sind auch die Umwandlungen der statischen und autarken mittelalterlichen Gesellschaft in eine veränderliche und sich entwickelnde industrielle Gesellschaft zum Beschleunigungsfaktor der Bildung neuer Paradigmen geworden. Eine Veränderung ist eigentlich eine neue Information. Eine spontane Ordnung hat allerdings gewisse Grenzen, bis wann sie in der Lage ist, auf eine Änderung (neue Information) zu reagieren. Die Unfähigkeit, auf eine Anregung (eine Änderung, eine Information) zu reagieren, wirkt (bzw. kann sich auswirken) in der Entstehung neuer gesellschaftlicher Institutionen, bzw. in einem Verschieben ihrer Verhaltensweisen. Eine solche Institution hat eine Beschleunigung der normativen Reaktion auf Änderungen zur Aufgabe. Ein Beweis der Unerläßlichkeit der Beschleunigung normativer Reaktionen auf Änderungen auf dem Gebiet des Rechts ist die Zuwendung vom Sittenrecht zum geschriebenen Recht, verbunden mit dem Aufmarsch der industriellen Ära (was nicht nur für den europäisch-kontinentalen Typ der Rechtskultur, sondern auch für den angelsächsischen, bzw. für sonstige Typen gilt). Die Folge dieser Wende ist die Kodifika-

173 Interessante Beobachtungen zu den gedanklichen Kontexten der Französischen Revolution siehe J. H. Merriman, Fn. 73, und insbesondere Ch. Perelman, Fn. 73, S. 64: „Die Französische Revolution wollte, daß die Rolle des Richters restlos passiv sei, daß er sich lediglich auf die Anwendung von Gesetzen als klarem Ausdruck des Staatswillens konzentrierte und, daß er wie ein Werkzeug wirke, das ganz unpersönlich und gleichmäßig den Willen des Gesetzgebers vollstreckt.“

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tionsära im 19. Jh. und letztendlich auch die Hypertrophie der Rechtsvorschriften im zwanzigsten Jahrhundert. An die angeführten Paradigmen des Kodifikations- bzw. Legislativoptimismus knüpfen unbedingt die Paradigmen der Rationalität, der Vollständigkeit, der Konsistenz und der hierarchischen Anordnung des Rechtssystems an. III. Externalitäten und deren Ursachen Bereits die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts brachte ausreichende Erfahrung bezüglich der Externalitäten (der unerwünschten negativen Begleiterscheinungen) der erwähnten Paradigmen. Die Vorstellung eines Richters in Form einer Maschine, also einer mechanischen Subsumtion der Sachermittlungen eines konkreten Falles unter eine a priori vollständige normative Bestimmung in der Praxis, konnte in der Konfrontation mit dem wirklichen Leben nicht funktionieren, und hat auch nicht funktioniert. Grund des Versagens der Vorstellung über einen Richter als Subsumtionsmaschine ist die Spannung zwischen dem Prinzip des Verbots denegationis justitiae174 auf der einen Seite und der Unvollständigkeit des Rechtes auf der anderen Seite. Diese Unvollständigkeit ist vom Wesen der Sache durch eine Reihe von Ursachen gegeben: Die erste und wahrscheinlich die grundlegende ist mit der Unmöglichkeit verbunden, a priori die Mannigfaltigkeit und die Entfaltung der Sachen und Beziehungen zu erfassen. Diese Behauptung gilt an sich, hat jedoch um so mehr Gültigkeit, wie das Recht im System der demokratischen Legitimität nicht nur Ergebnis einer „wissenschaftlichen“ Erkenntnis ist, und auch nicht sein kann oder darf (die Folge einer solchen gedanklichen Hypothese wäre notwendigerweise ein Totalitärsystem), sondern das Resultat eines kompliziert geformten politischen Konsenses. Eine weitere Ursache der Unvollständigkeit des Rechtes ergibt sich aus dem Wesen des Kommunikationsmittels, in dem die Rechtsvorschriften formuliert werden. Ohne für die Adressaten vermittelbar zu sein, verliert das Recht seinen zweckvollen Sinn, die Rechtssprache als ein Kommunikationsmittel ist daher eine fachliche Art der natürlichen Sprache. Für eine natürliche Sprache sind allerdings sowohl die semantische, als auch die syntaktische Ungenauigkeit und Unbestimmtheit ganz typisch, und daher ist der Prozeß einer Subsumtion des Öfteren auch ein Prozeß der kreativen Suche sprachlicher Bedeutungen. An diesen Umstand knüpft noch ein weiterer an, und zwar die Allgemeinheit der 174 Dieses Prinzip wurde erstmals explizit im Art. 4 des Code civil verankert, der dem Richter nicht gestattet, aus Gründen „des Schweigens, der Unklarheit oder Unzulänglichkeit des Gesetzes“ eine Entscheidung abzulehnen, wobei der Richter, der dies täte, durch „Verweigerung der Gerechtigkeit“ sich schuldhaft machen würde.

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Rechtsnorm, die zu ihren Definitionsmerkmalen gehört. Der Grad der Allgemeinheit, der einer Rechtsnorm eigen ist, wird dabei dadurch abgegrenzt, daß eine Rechtsnorm ihren Gegenstand sowie die Subjekte als Klassen durch Definitionsmerkmale bestimmt, anstatt durch eine Aufzählung ihrer Elemente (siehe Beschluß des Verfassungsgerichtes in der Sache Pl. ÚS 24/99).175 Die Allgemeinheit, die mit der Anwendung von Termini (sprachlichen Ausdrücken) verbunden ist, die keine individualisierten Entitäten, sondern Begriffe beschreibt, ist vom Wesen der Sache (der Sprache) mit einer gewissen verwischten Schärfe bei der Abgrenzung des Inhalts und des Umfangs von Begriffen verbunden. Die dritte, die Unvollständigkeit des Rechtes beeinflussende Ursache, beruht wieder im Wesen der Rechtsregelung, durch die Differenz zwischen den Blickwinkeln der Rechtssystemisierung und der Strukturierung von Rechtsvorschriften auf der einen Seite, und der Struktur der Rechtsnorm auf der anderen Seite, also einem Unterschied, der lediglich durch ein gewisses Instrumentarium der Auslegung, und in einer Reihe von Fällen ausschließlich durch kreative gedankliche Aktivität überbrückbar ist. IV. Lösung von Externalitäten im Rechtsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts Das theoretische Rechtsdenken in Kontinentaleuropa reagierte auf die entstandenen Spannungen durch Konzeptionen, die auch weiterhin versuchten, die allgemein kulturellen Paradigmen der Zeit zu respektieren, dabei jedoch die negativen Konsequenzen der zusammenhängenden Externalitäten zu lösen (dies bereits in der Lehre F. C. von Savignys, der im 19. Jahrhundert die methodologische Grundlagen der Rechtsauslegung in Kontinentaleuropa schuf, Auslegungen im Sinne einer Rekonstruktion des im Gesetz enthaltenen Grundgedankens, verschiedene Modifikationen der Interessensjurisprudenz, beginnend bei R. Jhering und endend bei Ph. Heck, darüber hinaus vor allem das Konzept der Freirechtsbewegung von H. Kantorowicz, das auf die angedeutete Spannung durch eine Analyse des möglichen Raumes der kreativen richterlichen Aktivität auf dem Gebiet der Rechtslücken zu reagieren versucht). Eine Reaktion auf die entstandene Lage bringen auch juristische Stellungnahmen. An dieser Stelle sei zumindest die Ansicht des Reichgerichts aus dem Jahre 1889 erwähnt, nach der „es für den Gesetzgeber eine unerfüllbare Aufgabe ist, jedes allgemeine gesetzliche Prinzip in einem Satz mit einer solchen Klarheit auszudrücken, um aus diesem Satz durch einfache Einsicht Schlußfolgerungen für alle gesonderten, vom berührten Prinzip beherrschten Fälle abzuleiten. Weiter ist es keine Auf175 Detaillierter zu den Problemen der Allgemeinheit einer Rechtsnorm siehe P. Holländer, Fn. 2, S. 25 ff. Zur Allgemeinheit des Gesetzes siehe H. Schneider, Gesetzgebung. 2. Aufl., Heidelberg 1991, S. 21 ff.

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gabe des Gesetzgebers, eine gesonderte Norm für jede sich heranbildende Lebensbeziehung zu verabschieden. Letztendlich ist es keine Sache des Gesetzgebers, an alle juristisch technische Formen zu denken, die in der Lage sein könnten, die Ziele des Gesetzes nichtig zu machen (im Widerspruch zur Rechtsanwendung, die an jedem Buchstaben des Gesetzes haftet). Vielmehr ist es Sache der Jurisprudenz, und insbesondere eine Aufgabe . . . der Judikatur.“176 Der technologische Optimismus der industriellen Ära des 20. Jahrhunderts und seine totalitären Derivate (Nationalsozialismus und Kommunismus), die eine Fixierung des Paradigmas des geschriebenen Rechtes sowohl als eine Technologie der Macht, als auch als eine Technologie der Steuerung der Gesellschaft festigten, ferner die stürmische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert verbunden mit den Kataklysmen von Weltkriegen, Genoziden, Vertreibungen, Umbrüchen und dadurch auch mit der Unerläßlichkeit neuer Anfänge (begleitet von legislativer Hyperaktivität), all dies potenzierte die Spannung zwischen den Paradigmen und der Praxis. Ein weiterer Grund, der darüber hinaus schließlich zur normbildenden Hyperaktivität auch in der Zeit des Übergangs vom 20. zum 21. Jahrhundert führt, ist die Intensität technologischer und daran anknüpfender gesellschaftlicher Umwandlungen. Das Rechtsdenken reagiert auf diese Situation differenziert, je nach den einzelnen einflußnehmenden Faktoren. Mit außerordentlicher Dringlichkeit brachte der Zweite Weltkrieg auf dem Gebiet des Rechtsdenkens eine kritische Reaktion auf die Unmenschlichkeiten des positiven Rechtes, und zwar in der Form einer Erneuerung der naturrechtlichen Erwägungen.177 Es wurde eine theoretische Konzeption formuliert, nach der es unter gewissen Bedingungen notwendig ist, das positive Recht als Unrecht zu betrachten: „Die übliche Version des Unrechtsarguments geht daher dahin, daß ein positives (also autoritativ gesetztes und/oder sozial wirksames) Normensystem nur dann und insoweit nicht als Recht angesehen werden könne, wenn und soweit es gegen elementare und weithin anerkannte Grundsätze der Moral in eklatanter Weise verstoße.“178 Für den bedeutendsten Vertreter der Konzeption der Priorität des natürlichen vor dem positiven Recht, die gerade in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurde, kann der deutsche Rechtsphilosoph und Theoretiker des Strafrechtes Gustav Radbruch gehalten werden, der seine These, die später nach ihm als „Radbruchsche Formel“ bezeichnet wurde, unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen wie folgt konzipierte: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und 176

Zit. nach J. Esser, Grundsatz und Norm. 4. Aufl., Tübingen 1990, S. 3. Siehe dazu A. Kaufmann, Über Gerechtigkeit. Dreißig Kapitel praxisorientierender Rechtsphilosophie. Köln/Berlin/Bonn/München 1993, S. 221 ff. 178 P. Koller, Theorie des Rechts. Eine Einführung. Wien/Köln/Weimar 1992, S. 28. 177

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unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ zu weichen hat.“179 Radbruch geht also von der Notwendigkeit aus, die Gültigkeit des positiven Rechtes zu akzeptieren. und dies auch dann, „wenn es inhaltlich ungerecht und zwecklos ist“. Als einzige Ausnahme, wo es möglich und notwendig ist, den Vorrang des natürlichen vor dem positiven Recht zu akzeptieren, beschreibt er die Situation, in der „der Widerspruch des positiven Gesetzes mit der Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht hat“. Die Radbruchsche Formel fand breite Anwendung, nicht nur im rechtsphilosophischen Denken, sondern auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Am Berühmtesten wurde in diesem Zusammenhang der Beschluß in der Sache der Staatsangehörigkeit aus dem Jahre 1968 (BVerfGE 23, 98). Das Gericht beurteilte darin den Erlaß Nr. 11 zum Gesetz über die Reichsbürgerschaft vom 24.11.1941 (GBl. I., S. 772), auf dessen Grundlage den Juden, die emigriert sind, die Staatsbürgerschaft und das Vermögen entzogen wurden.180 Das Bundesverfassungsgericht setzte im obigen Beschluß für die Priorität des natürlichen gegenüber dem positiven Recht, ausgehend von der „Radbruchschen Formel“, zwei Bedingungen: die erste ist der Widerspruch einer positiven Norm zu „fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien“, die zweite ist die Intensität eines solchen Widerspruchs, d.h. der Widerspruch muß „evident“ sein und muß ein „unerträgliches Maß“ erreichen. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, daß solch eine fehlerhafte Rechtsvorschrift ex tunc ungültig ist und nicht einmal durch Einhaltung und Anwendung über einen gewissen Zeitraum Geltung erlangen kann. 179 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. 1946. Wiederabgedruckt in: G. Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe. 2. Aufl., Hrsg. R. Dreier/S. L. Paulson, Heidelberg 2003, S. 216. 180 Der Kern der Überlegung des Gerichts ist in der folgenden Passage enthalten: „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ,ein Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzpositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch Gesetzgeber Unrecht setzen kann‘ (BVerfGE 3, 225 [232]). Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen ,Rechts‘-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. . . . Die 11. Verordnung verstieß gegen diese fundamentalen Prinzipien. In ihr hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß. . . . Sie ist auch nicht dadurch wirksam geworden, daß sie über einige Jahre hin praktiziert worden ist oder daß sich einige der von der „Ausbürgerung“ Betroffenen seinerzeit mit den nationalsozialistischen Maßnahmen im Einzelfall abgefunden oder gar einverstanden erklärt haben. Denn einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird.“

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Die Folgejahre brachten danach weitere Versionen des Arguments der Rechtswidrigkeit, sei es von deutschen Rechtsdenkern (insbesondere M. Kriele181) oder von angelsächsischen Autoren (L. L. Fuller,182 J. Finnis183). Die naturrechtliche Reflexion der Spannung zwischen dem positiven Recht und der daraus resultierenden vom Gesichtspunkt der Werte nicht akzeptablen Lösung konkreter Fälle wirkt sich auch auf die Rolle des Richters aus. In seiner Reaktion auf das positivrechtliche Konzept H. L.A. Harts, eines Giganten des europäischen Rechtsdenkens der Nachkriegsära, der einen Ausweg aus der erwähnten Spannung im bürgerlichen Ungehorsam sieht, bemerkt R. Dreier, daß eine solche Lösung den Richter seiner Pflicht, das in Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit stehende Recht anzuwenden, nicht entbindet, wobei er es für nicht akzeptabel hält, die Fehde über den Begriff des Rechtes „auf die Rücken der Bürger“ zu übertragen.184 In diesem Zusammenhang, als Assoziation zu Dreiers Kritik des Hartschen Konzeptes des bürgerlichen Ungehorsams, kann von den naturrechtlichen Theorien eine widersprüchliche Erwägung von H. Coing zur strafrechtlichen Verantwortung der Richter für die Anwendung von Gesetzen, die im Widerspruch zum Naturrecht sind, erwähnt werden. Coing kommt zum Schluß, daß das moralische Gebot höher steht, als die Subordination im Bezug zur Gesellschaft, seine Nichteinhaltung begründet jedoch keine strafrechtliche Verantwortung.185 Die Nachkriegsära bringt in Europa auch bedeutende institutionelle Impulse hervor, die auf das Durchbrechen bestehender Paradigmen abzielen. Es kommt zum Konstituieren spezieller Verfassungsgerichte, dieser „fremdartigen Elemente“ im System der Justiz. Die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Gebiet des Rechtsdenkens bringt nicht nur neue Ideen der Durchdringung der Rechtsordnung mit dem System der Grundwerte und in der Verfassung enthaltenen Prinzipien, sondern öffnet auch die Frage der allgemeinen Bindungswirkung der Entscheidungen von Verfassungsgerichten im Verhältnis zur allgemeinen Gerichtsbarkeit, d.h. deren Funktionieren in der Position eines Präzedenten.186 In diesem Zusammenhang darf der gerichtliche Aktivismus des 181 M. Kriele, Recht und praktische Vernunft. Göttingen 1979, S. 117; ders., Rechtspflicht und die positivistische Trennung von Recht und Moral. In: ders., Recht – Vernunft – Wirklichkeit, Berlin 1990. 182 L. L. Fuller, Positivism and Fidelity to Law – A Reply to Professor Hart. Harvard Law Review 71, 1958, S. 630 ff.; ders., The Morality of Law. New Haven/London 1964, 2. Ed., New Haven/London 1969. 183 J. Finnis, Natural Law and Natural Right. New York 1986. 184 R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt a. M. 1991, S. 101. 185 H. Coing, Zur Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter wegen Anwendung naturrechtswidriger Gesetze. Süddeutsche Juristenzeitung, 1947, S. 61. 186 Zu der Diskussion der gegebenen Frage im deutschen Milieu siehe z. B. E. Benda/E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts. Heidelberg 1991, S. 511 ff.; zu der Diskussion in der tschechischen Umgebung dann insbesondere V. Mikule/V.

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Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, dessen Ergebnis das Präzedenzrecht ist (sowohl das materielle als auch das prozessuale) nicht unerwähnt bleiben.187 Zur Begleiterscheinung wissenschaftlicher Forschungen wird manchmal eine Situation, in der die realistische praktische Auswirkung neuer Gedanken andere, als die beabsichtigten Gebiete trifft (mit einer Prise von Ironie gegenüber den pharmakologischen Wissenschaftlern könnte ich als Beispiel die Entdeckung von Viagra erwähnen). Kehren wir jedoch zum Recht zurück. Ist bei R. Dworkin sein neues und originelles Verständnis der Probleme der Rechtsprinzipien das Instrumentarium seiner kritischen Bewertung der Hartschen positivrechtlichen Theorie,188 so zielt bei R. Alexy189 die Implantation der Ideen Dworkins in das europäische kontinentale Rechtsdenken hin zum Gebiet der Kultivierung des Rechtsgedankens, zu einer Befreiung vom seelenlosen Formalismus, zur Findung eines Instrumentariums, das bei der Anwendung des einfachen Rechts seine Verbindung mit den grundlegenden axiologischen und teleologischen Grundlagen ermöglicht. Die Konzeption der Grundrechte und Freiheiten in der Position von Rechtsprinzipien, verbunden mit dem Verstehen der Verfassung als einer unmittelbaren Rechtsquelle und mit der Theorie des Durchstrahlens der Rechtsordnung mit den Verfassungsprinzipien190, bietet in ihren Folgen der gerichtlichen Sphäre ein theoretisches Instrumentarium zur Lösung von „hard

Sládecˇek, Fn. 100; V. Pavlícˇek/J. Hrˇebejk, Fn. 100, S. 307–308; V. Šimícˇ ek, Fn. 100; J. ˇR Filip, Fn. 9, S. 261–262; A. Procházka, Závaznost rozhodnutí Ústavního soudu C (Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik), Bulletin advokacie Nr. 8, 1995; E. Wagnerová, Ústavní soudnictví (Verfassungsgerichtbarkeit), Praha 1996, S. 86–87; J. Boguszak/J. Cˇ apek, Fn. 72, S. 58; D. ˇ eské republiky (Verfassung der Tschechischen Hendrych/C. Svoboda et alii, Ústava C Republik). Kommentar. Praha 1997, S. 150; J. Blahozˇ , Soudní kontrola ústavnosti. Srovnávací prˇehled (Gerichtskontrolle der Verfassungskonformität. Vergleichsübersicht), Praha 2001, S. 426–427; Z. Kühn, Fn. 99. 187 Siehe z. B. S. Breithenmoser, Praxis des Europarechts. Zürich 1996, S. 66 ff.; P. Fische/H. F. Köck, Europarecht. Wien 1997, S. 325; L. Tichy´ /R. Arnold et alii, Evropské právo (Europäisches Recht), Praha 1999, S. 165–167. 188 R. Dworkin, Fn. 17. 189 R. Alexy, Fn. 12; ders., Fn. 20. 190 Siehe zur Anwendung dieses Gedankens eine Reihe von Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik: „Eine der Funktionen der Verfassung, insbesondere der verfassungskonformen Behandlung der Grundrechte und Freiheiten, ist ihr ,Durchstrahlen‘ der ganzen Rechtsordnung. Der Sinn der Verfassung beruht nicht nur in der Gestaltung der Grundrechte und Freiheiten sowie im institutionellen Mechanismus und Prozess der Bildung legitimer Entscheidungen des Staates (bzw. der Organe der öffentlichen Gewalt), nicht nur in der direkten Verbindlichkeit der Verfassung und in ihrer Position einer unmittelbaren Rechtsquelle, sondern auch in der notwendigen Pflicht der Staatsorgane bzw. der Organe der öffentlichen Gewalt, das Recht vom Blickwinkel des Schutzes der Grundrechte und Freiheiten aus auszulegen und anzuwenden.“ (Siehe insbesondere III. ÚS 33/99, I. ÚS 315/99, III. ÚS 210/ 2000.)

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cases“,191 also zur Lösung der Spannung zwischen der Unvollständigkeit des geschriebenen Rechtes und dem Charakter des konkreten Falles. Diese Spannung, noch immer im Rahmen des bisherigen, zweihundert Jahre gültigen begrifflichen Guts, wird vom gegenwärtigen europäischen rechtstheoretischen Denken durch ein etwas nominalistisches Herantreten behandelt. Der erste Lösungsversuch beruht in der Differenzierung der Rechtsquellen, z. B. in autonome und nicht autonome,192 wobei gerichtliche Beschlüsse als nicht autonome Quellen klassifiziert werden (d.h. lediglich unter der Bedingung wirkend, wenn sie sich auf ein und dieselben autonome Quelle berufen). Die nächste Methode, allerdings auch eine nominalistische, verläßt den Begriff der Rechtsquellen und arbeitet mit dem Begriff von Quellen der richterlichen Argumentation, bei denen unterschieden wird zwischen den notwendigen („must sources“), die durch das geschriebene Recht bestimmt sind, und den anderen, die durch das geschriebene Recht nicht gegeben sind, beim Begründen richterlicher Entscheidungen jedoch nach dem akzeptierten Stil des Argumentationsdenkens angewendet werden.193 Vor dem Hintergrund einer nominalistischen Lösung sind allerdings auch sehr bedeutende Fragen der Legitimität (der richterlichen Bildung des Rechtes) und der Grenzen der normbildenden juristischen Aktivität zu beantworten. Die Reaktionen auf solche Fragen führen uns in der Diskussion zu den anfänglichen Fragen der ordnenden Grundsätze der Rechtsordnung zurück, zum Verlassen einiger Paradigmen des europäisch-kontinentalen Rechtsdenkens u. dgl. Sie bringen uns auch zu allgemeineren Gedanken der Wissenschaftstheorie, bis hin zur Spannung zwischen der Theorie und der Wirklichkeit. Ein grundlegendes Werk auf diesem Gebiet ist die Arbeit von T. S. Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen194. Nach ihm werden auf dem Gebiet der Wissenschaft „die anfänglichen Versuche zur Lösung eines fortbestehenden Problems fast ausschließlich nach paradigmatischen Regeln verlaufen. Dauert jedoch die Anomalie fort, werden immer mehr Versuche ihrer Lösung kleinere oder größere Modifikationen des Paradigmas enthalten.“195 Führt keine der Lösungen zu befriedigenden 191 Unter dem Begriff hard case verstehe ich dabei eine Sache, bei deren Lösung auf dem Gebiet des einfachen Rechtes entweder eine normative Gestaltung gänzlich fehlt, oder aber, ausgehend von der bestehenden Regelung [/normativen Gestaltung] durch eine korrekte, d.h. im Rechtsdenken übliche Anwendung von Standardverfahren der Auslegung, eine entgegengesetzte Lösung denkbar ist [erreicht wird/erreicht werden kann . . .]. 192 L. Morawski/M. Zirk-Sadowski, Precedent in Poland. In: Interpreting precedents: a comparative study. Ed.: N. MacCormick/R. S. Summers, Darmouth/Aldershot 1997, S. 233 u. f. 193 J. Wroblewski, The Judicial Application of Law. Dordrecht/Boston/London 1992, S. 85. 194 T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970. Zit. nach slowakischer Ausgabe: Štruktúra vedecky´ch revolúcií. Bratislava 1982.

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Resultaten, so öffnet sich nach Kuhn ein Raum zum Formulieren, Testen und zur Aufnahme eines neuen Paradigmas.196 Durch den Vergleich des Kuhnschen Schemas mit der bestehenden Situation im europäisch-kontinentalen Rechtsdenken kann man, meines Erachtens, zum Schluß gelangen, daß in der Reflexion der andauernden Spannungen der Paradigmen der Vollständigkeit, Rationalität, Konsistenz sowie der hierarchischen Gestaltung der Rechtsordnung und dem Paradigma in Verbindung mit dem Prinzip des Verbots denegationis iustitiae auf der einen Seite, und der Realität des praktischen Funktionierens des Rechts auf der anderen Seite, die Entwicklung des Rechtsdenkens bereits vom Stadium der auf paradigmatischen Regeln (z. B. Kantorovicz) beruhenden Lösungen bis zum Stadium der Modifikation von Paradigmen (z. B. Wroblewski)197 fortgeschritten ist. Aus diesem Schluß ergibt sich ohne weiteres die Frage: befinden wir uns in den Anfängen des Formulierens, der Prüfung und der Aufnahme eines neuen Paradigmas? V. Klassisches Instrumentarium Der Konflikt der Unvollständigkeit des Rechtes und des Prinzips des Verbots denegationis iustitiae in Verbindung mit einem konkreten zu entscheidenden Fall wird im Rechtsdenken traditionell im Rahmen der Kategorie der Rechtslükken198 erörtert. Als eine Lücke im Recht (im Gesetz), die als eine echte bzw. technische Lücke bezeichnet wird, versteht sich die Unvollständigkeit des geschriebenen Rechtes (in gewissen Fällen vom Gesetzgeber vorgesehen, in den meisten allerdings unabsichtlich) für eine gewisse Komponente des behandelten Falles, d.h. eine Situation, in der einige Bestandteile des Falles vom geschriebenen Recht explizit, einige nicht explizit geregelt werden, wobei es im letztgenannten Fall keine Möglichkeit gibt, die Sache ohne rechtliche Erwägung als Ganzes zu entscheiden. Zur einführenden Illustration sei der Fall der Absenz einer gesetzlichen Regelung zum Verfahren allgemeiner Gerichte nach Kassationsbeschlüssen des Verfassungsgerichtes in den Verfahrensordnungen der 195

Ebd., S. 134. Ebd., S. 136. 197 Ein Beweis der Existenz des Stadiums der Modifikation von Paradigmen ist, meiner Ansicht nach, die in der heutigen Rechtstheorie dominierende Stellungnahme, die das Verstehen der Anwendung einer gesetzlichen Norm vom Richter im Falle von hard cases lediglich im Sinne einer bloßen logischen Subsumtion ablehnt: siehe z. B. K. Larenz, Fn. 16, S. 154; H.-J. Koch, H. Rüßmann, Fn. 64, S. 58 ff.; A. Peczenik, On Law and Reason. Dordrecht/Boston/London 1989, S. 19 ff.; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 17 ff.; M. Pavcˇ nik, Fn. 70, S. 98. 198 Die Literatur zu diesem Thema ist „unendlich“. Nur zur Illustration verweise ich auf folgende Quellen: C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 2. Aufl., Berlin 1983; K. Engisch, Fn. 61, S. 180 ff. 196

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Tschechischen Republik (im Strafverfahren bis 1. Januar 2002, bzw. bis zum Inkrafttreten der Novelle der Strafprozeßordnung Nr. 265/2001 Sb.) erwähnt, die Absenz einer expliziten Regelung zur Methode der Fristbestimmung in der Verfassung der Tschechischen Republik, und andere mehr. Eine unechte Lücke ist die Unvollständigkeit des geschriebenen Rechtes (seine Absenz) im Vergleich mit der expliziten Regelung analoger Fälle, d.h. vom Blickwinkel des Gleichheitsprinzips (nach welchem Gleiches gleich zu behandeln ist), oder aber vom Blickwinkel allgemeiner Rechtsgrundsätze aus.199 Die angegebene Unterscheidung richtet sich, in anderen Worten ausgedrückt, nach dem Umstand, ob es sich um die Absenz einer expliziten normativen Regelung (d.h. um eine sog. echte oder offensichtliche Lücke), oder aber um die Absenz einer normativen Reflexion eines gewissen Zwecks handelt (d.h. um die sogenannte teleologische Lücke)200. Das Feststellen einer Rechtslücke setzt dabei einen Vergleich der existierenden Form des geschriebenen Rechtes mit seiner ideellen gedanklichen Vorstellung voraus. Es geht daher im entscheidenden Maße um einen wertenden Akt des Interpreten, der die (mehr oder minder) allgemein geteilte Vorstellungen über den Sinn, den Zweck und die Moralität des betroffenen Rechtsgebietes reflektiert.201 Zu den beabsichtigten Rechtslücken können Fälle einer legislativen Verwendung breit konzipierter unbestimmter Rechtsbegriffe, einer Verankerung eines Ermessenspielraums, einer Referenz auf sonstige Normativsysteme, z. B. Treu und Glauben, und gegebenenfalls auch das Übertragen der Ausgestaltung der Regelung an die Auslegungs- und Anwendungspraxis gezählt werden. Die beabsichtigten und nicht beabsichtigten Lücken können darüber hinaus nach ihrem Umfang unterschieden werden, d.h. danach, ob die Lücke lediglich eine Rechtsnorm, oder ein Gesetz, oder sogar einen Rechtsbegriff betrifft. Je nach der Art ihrer Entstehung gibt es Primärlücken (die seit der Verabschiedung der Rechtsregelung existieren) und Sekundärlücken (die durch die Unfähigkeit der gegebenen Regelung, die neu entstehenden Beziehungen zu umfassen, zustande gekommen sind). Zu den wichtigsten Instrumenten „der Ausfüllung“ der Rechtslücken gehört bereits traditionell die Argumentation mittels Analogie, ferner der Gegenschluß (argumentum a contrario), die teleologische Reduktion (argumentum a minori ad maius, argumentum a maiori ad minus), die systematische Auslegung und die Argumentation aus der Natur der Sache.

199 Die Unterscheidung der Rechtslücken in echte und unechte führte E. Zitelmann im Rechtsdenken ein (E. Zitelmann, Lücken im Recht, Leipzig 1903, S. 27). 200 Zu einer Reihe sonstiger Gesichtspunkte zur Klassifikation von Rechtslücken siehe B. Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. München 1999, S. 467 ff. 201 Ähnlich siehe ibidem, S. 463.

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Ich werde versuchen, die angegebenen Unterscheidungen im folgenden mit einigen Beispielen aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik zu illustrieren: Die grundlegende Frage, die das Verfassungsgericht in der Sache Pl. ÚS 4/99 bei der Erörterung des Vorschlags zur Aufhebung des § 202 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches zu lösen hatte, war die Frage, ob dadurch, daß in der Ermächtigungsbestimmung der Gesetzgeber Raum zur Valorisierung des Ersatzes für einen Erwerbsverlust, der den Arbeitnehmern nach Beendigung der durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit entstanden ist, den Verfassungsgrundsatz der Gleichheit nicht verletzt habe, sofern dies nicht auch für den Fall des Ersatzes des Lebensunterhaltes der Zurückgebliebenen vorgesehen war. Nachdem das Gericht zum Schluß kam, daß die somit entstandene Lücke, beruhend in der Absenz einer einzelnen Norm, eine verfassungsrechtlich unakzeptierbare Ungleichheit begründet, wobei es sich auch auf das Prinzip der Priorität einer verfassungskonformen Auslegung vor einer Derogation stützte, postulierte es die Frage, ob hier Raum gegeben sei für eine verfassungskonforme Auslegung des § 202 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches, der das Prinzip der Gleichheit zwischen den Instituten des Ersatzes für den Erwerb, der einem Arbeitnehmer nach Beendigung seiner durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit entstandenen Arbeitsunfähigkeit zugemessen wird, und dem Ersatz für den Lebensunterhalt der Zurückgebliebenen bestätigt. Laut § 202 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches kann die Regierung angesichts der bei der Entwicklung des Lohnpegels entstandenen Änderungen die Bedingungen, die Höhe und die Art der Entschädigung für den Erwerbsverlust, der den Arbeitnehmern nach Beendigung einer durch Arbeitsunfall oder durch Berufskrankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit entstanden war, modifizieren. Die erwähnte gesetzliche Ermächtigung gibt daher der Regierung die Möglichkeit, durch Verordnung den Ausgleich für Erwerbsverlust zu valorisieren, wenn dieser den Arbeitnehmern nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit durch Arbeitsunfall oder durch Berufskrankheit entstanden war. Der Mechanismus der Bestimmung der Gesamthöhe des Ersatzes für den Lebensunterhalt der Zurückgebliebenen richtet sich dabei nach § 199 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches nach der Höhe des Betrags, bis zu welchem dem Verstorbenen ein Ersatz für den Verlust am Erwerb nach § 195 zustehen würde, der allerdings im Sinne des § 202 Abs. 2 valorisiert ist (sofern die Regierung von der ihr durch Gesetz eingeräumten Ermächtigung Gebraucht macht). Durch die Verbindung der obigen Bestimmungen der § 199 Abs. 2, § 195 und § 202 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches ist das Verfassungsgericht zur verfassungskonformen Interpretation des § 202 Abs. 2 gelangt, nach der die Valorisierung des Ausgleichs nach § 195 entsprechend § 199 Abs. 2 auch die Erhöhung des Betrages zur Folge hat, der den Ersatz der Lebenshaltungskosten der Zurückgebliebenen bestimmt. Hier ist

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es zur „Ausfüllung“ der Rechtslücke durch die Anwendung der Methode einer systematischen Auslegung gekommen. In der Sache III. ÚS 467/98 wurde das Verfassungsgericht mit der Absenz einer gesetzlichen Regelung zum Verfahren der allgemeinen Gerichte nach einem von ihm abgegebenen Kassationsbeschluß konfrontiert. Es versuchte, die Gesetzeslücke (im gegebenen Fall in der Zivilprozeßordnung) durch eine Argumentation von der Natur der Sache her „auszufüllen“. Nachdem das Gericht den Umstand festlegte, daß es sich eines Defizits der Prozeßordnungen im Verfahren nach einem Kassationsbeschluß des Verfassungsgerichtes wohl bewußt ist, formulierte es die Stellungnahme, nach der sich die Verbindlichkeit der Rechtsansicht, die in der Begründung des Kassationsbeschlusses des Verfassungsgerichtes enthalten ist, für die weiteren gerichtlichen Maßnahmen in derselben Sache nicht nur aus Art. 89 Abs. 2 der Verfassung, sondern auch aus dem eigentlichen Begriff der Kassation ergibt. Sollte dies nicht der Fall sein, so hätte die Kassationsrechtskraft höherer Gerichte (im gegebenen Fall des Verfassungsgerichtes) keinen vernünftigen Sinn und müsste durch eine Appellationsrechtskraft ersetzt werden. In der Sache III. ÚS 188/99 geriet das Verfassungsgericht in eine Lage, wo es einen Haftbefehl rückgängig machte, dessen Entscheidungsgründe nicht nur auf den Verfassungsbeschwerdeführer, sondern auch auf weitere Mitbeschuldigte einwirkten, wobei die Verfahrensvorschrift (Gesetz über das Verfassungsgericht) die subsidiäre und angemessene Anwendung der Zivilprozessordnung im Verfahren vor dem Verfassungsgericht voraussetzt. Ausgehend von der Vorstellung der Vollständigkeit der Rechtsregelung, die Spezifika des Verfahrens reflektierend, an welches der Prozess vor dem Verfassungsgericht anknüpft, d.h. im gegebenen Falle von der Begründung des Einsatzes des Instituts beneficii cohaesionis, argumentierte das Verfassungsgericht durch systematische Auslegung sowie im Lichte der Natur der Sache: „Nach der marginalen Rubrik zu § 63 des Gesetzes Nr. 182/1993 Sb., in der Fassung späterer Vorschriften, wird für ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht der Einsatz von Prozeßordnungen vorausgesetzt, wobei sich der eigentliche Wortlaut der angeführten Bestimmung dann nur noch auf die Zivilprozeßordnung und die zu ihrer Durchführung ausgegebenen Vorschriften beruft. Die angeführte Diskrepanz zwischen dem Plural in der marginalen Rubrik und dem konkreten Hinweis im Wortlaut der Norm ist in dem Sinne auszulegen, dass, sofern das Gesetz über das Verfassungsgericht nichts anderes bestimmt, für das Verfahren vor dem Verfassungsgericht die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung sowie die zu ihrer Durchführung erlassenen Vorschriften auf angemessene Weise verwendet werden, sofern von der Natur der Sache für die gegebene Verfahrenssituation nicht ausschließlich die Verwendung des Strafrechtes als angemessen erscheint.“

V. Klassisches Instrumentarium

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Ein Verwendungsbeispiel der Methode teleologischer Deduktion zur „Ausfüllung“ einer Gesetzeslücke ist der Beschluß des Verfassungsgerichtes in der Sache Pl. ÚS 48/95, bezüglich der Restitutionsansprüche nach Gesetz Nr. 243/ 1992 Sb. der Personen deutscher oder ungarischer Nationalität, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nicht verloren hatten und diese daher auch nicht zurückerhielten: „Die Bestimmung über die Bedingung des Wiedererlangens der Bürgerschaft, die in § 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 243/1992 Sb., im Wortlaut späterer Vorschriften, enthalten ist, ermöglicht bei ihrer Anwendung zweierlei Interpretation: Die erste auf der Grundlage des Argumentes a contrario, die zweite auf der Grundlage des Argumentes a minore ad maius. Ein Argument aus dem Gegenschluß, auf dessen Grundlage das Bezirksgericht in Brünn die Bestimmung des § 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 243/1992 Sb., im Wortlaut späterer Vorschriften, interpretierte, führt notwendigerweise zum Schluß, daß die Nichterfüllung der Bedingung des Rückerwerbs der Staatsbürgerschaft ein Fehlen der Aktivlegitimation zur Geltendmachung von Ansprüchen aus dem zitierten Gesetz zur Folge hat. Das Argument vom Geringeren zu dem Größeren führt jedoch zum entgegengesetzten Schluß (sofern die Norm eine Berechtigung in Verbindung mit dem kleineren Rahmen ihrer Begründung gewährt, so gewährt sie, nach diesem Argument, diese umso mehr bei der Existenz eines schwerwiegenderen Rahmens).“ Ausgehend von der angedeuteten Unterscheidung gewährte das Gericht auch denjenigen Personen Restitutionsansprüche, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nicht verloren, und sie daher auch nicht zurückbekommen hatten. Eine Illustration zur Lösung einer sekundären Rechtslücke, diesmal aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, ist der Beschluß in der Sache Soraya (BVerfGE 34, 269–293). Ausgehend von der Auslegung des Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, nach dem das Gericht bei der Rechtsfindung durch „das Gesetz und das Recht“ gebunden ist, wovon die Existenz des überpositiven Rechts in der Verfassungsordnung abgeleitet wird, wurde vom Bundesverfassungsgericht durch die erwähnte Verfassungsbestimmung „nach allgemeiner Meinung ein enger Rechtspositivismus abgelehnt“, was zum Schluß führt, daß das Gesetz und das Recht sich zwar faktisch in der Allgemeinheit überdecken, allerdings nicht notwendigerweise und nicht immer. Das Recht ist nicht identisch mit der Gesamtheit geschriebener Gesetze. Gegen die positiven Bestimmungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Rechtszuwachs existieren, der seiner Quellen in der verfassungskonformen Rechtsordnung als einer Bedeutungsentität hat und gegenüber dem geschriebenen Gesetz als ein Korrektiv wirken kann; diesen zu finden und in den Beschlüssen zu realisieren, ist die Aufgabe der gerichtlichen Rechtsanwendung . . . Der Richter muß sich dabei jeder Willkür enthalten; seine Entscheidungen müssen durch rationelle Argumentation begründet sein. Der Fakt, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion – ein Rechtsproblem gerecht zu lösen – nicht erfüllt, sei umsichtig zu behandeln.

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E. Der Richter von heute

Das Bundesverfassungsgericht äußerte gleichzeitig seine Position, nach der die Kriterien eines solchen Vorgehens je nach Rechtsbereich unterschiedlich sind. In der zu entscheidenden Sache akzeptierte das Gericht angesichts der Entwicklung der Gesellschaftsverhältnisse seit der Entstehungszeit des betroffenen Gesetzes (es handelte sich um das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1900) eine Entschädigung des immateriellen Schadens in Geld, obschon das erwähnte Bürgerliche Gesetzbuch eine solche Zuerkennung im gegebenen Fall nicht vorsieht. VI. Modernes Instrumentarium 1. Argumentation durch Grundsätze Das moderne theoretische Rechtsdenken reagiert auf die Spannung zwischen der Unvollständigkeit des Rechtes und der Notwendigkeit, in einer konkreten Sache auch durch Argumentation mit Hilfe von Grundsätzen zu entscheiden.202 Die angegebene Argumentationsmethode gewinnt derzeit insbesondere in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte an Bedeutung. Ein Beispiel dazu ist der Beschluss des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik zur Frage der Bestimmung von Fristen im Verfassungsrecht (Pl. ÚS 33/97): „Der Umstand, daß die Verfassung keine Spezialbestimmung über die Fristbestimmung enthält, ist sowohl vom komparativen Gesichtspunkt, als auch von der sachlichen Perspektive aus natürlich . . . die Verfassungen demokratischer Länder enthalten in der Regel keine Spezialregelungen über das Bestimmen von Fristen, so daß in dieser Hinsicht die Verfassung der Tschechischen Republik keine Ausnahme bildet. Eine moderne, demokratische, geschriebene Verfassung ist eine gesellschaftliche Vereinbarung, durch die sich das Volk, welches die verfassungsgebende Gewalt darstellt (pouvoir constituant), als ein politisches (staatliches) Gebilde konstituiert und die Beziehung des Individuums zur Gesamtheit sowie ein System Staatsgewaltausübender Institutionen verankert. Ein Dokument, das das System grundlegender, allgemein akzeptierter Werte institutionalisiert und einen Mechanismus sowie den Prozeß der Bildung legitimer Gewaltentscheidungen gestaltet, kann nicht außerhalb eines von der Öffentlichkeit akzeptierten Kontextes von Werten, Gerechtigkeitsvorstellungen sowie Vorstellungen über den Sinn und Zweck und die Art und Weise des Funktionierens demokratischer Institutionen existieren. In anderen Worten gibt es kein Funktionieren außerhalb eines minimalen wertbezogenen und institutionellen Konsenses. Für das Gebiet des Rechtes ergibt sich daraus der Schluß, daß auch elementare Rechtsgrundsätze und Gepflogenheiten eine Rechtsquelle im allgemei202 Von den grundlegenden Arbeiten, die die Möglichkeit der Argumentation mittels Grundsätze analysieren, siehe J. Esser, Fn. 176; R. Dworkin, Fn. 17; R. Alexy, Fn. 12, S. 177 ff.

VI. Modernes Instrumentarium

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nen Sinne, sowie eine Quelle des Verfassungsrechtes, und dies auch innerhalb des Systems des geschriebenen Rechtes, bilden . . . Im System des geschriebenen Rechts hat dabei eine allgemeine Rechtsregel den Charakter einer selbständigen Rechtsquelle lediglich praeter legem (sofern das geschriebene Recht nichts anderes bestimmt). Zahlreiche allgemeine Rechtsgrundsätze, die in den Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich enthalten sind, gelten auch im tschechischen Recht und werden üblicherweise angewendet. Ein Beispiel dafür sind etwa der Rechtsgrundsatz, nach dem die Unkenntnis des Rechtes keine Entschuldigung ist, oder aber das Prinzip des Rückwirkungsverbotes, und dies nicht nur auf dem Gebiet des Strafrechts . . . Der Sinn des Rechtsinstituts einer Frist ist die Reduzierung der Entrophie (Ungewissheit) bei der Anwendung von Rechten bzw. der Rechtskraft, die zeitliche Begrenzung des Zustandes einer Unsicherheit in Rechtsbeziehungen (was eine besonders wichtige Rolle unter dem Gesichtspunkt der Beweisführung in streitigen Fällen spielt) sowie die Beschleunigung des Entscheidungsprozesses um die beabsichtigten Ziele reell zu erreichen. Bereits vor Tausenden von Jahren führten solche Gründe zur Einführung von Fristen. Sofern die Anwendung eines gewissen Rechtes bzw. einer Rechtskraft zeitlich begrenzt ist, ist es andererseits unerläßlich, gewisse Tatsachen (Hindernisse) auf der Seite des Subjekts eines solchen Rechtes oder einer solchen Rechtskraft zu berücksichtigen, die ohne Verschulden auf der Seite des Subjektes die Durchführung der Rechte hindern. In anderen Worten, es ist eine Konstruktion zu bilden, die es reell ermöglicht, ein Recht bzw. eine Rechtskraft in einem gegebenen zeitlichen Limit anzuwenden. Zu diesem Zweck schuf das Rechtsdenken bereits in der römischen Zeit gewisse gedankliche Konstruktionen, Fiktionen der Fristenstellung und des Zeitablaufes bzw. Fiktionen des Verschiebens des Fristendes. Solche allgemeinen Rechtsregeln (im gegebenen Fall rechtliche Fiktionen), die dem Wesen nach rechtliche Reaktionen auf praktische Probleme sind, gelten in der europäischen Rechtskultur seit Tausenden von Jahren . . . Es gehört zur Disposition des Verfassungsgebers bzw. des Gesetzgebers, auch anders zu verfahren, in einem solchen Falle ist er jedoch verpflichtet, ein solches Verfahren ausdrücklich zu bestimmen. Da dies im Falle der Fristenbestimmung nach § 50 Abs. 1 der Verfassung nicht geschehen ist, kann der Beginn und das Ende der Frist nicht anders als den allgemein geltenden Grundsätzen entsprechend interpretiert werden.“ 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Gerichtlicher Aktivismus wird ferner in den Fällen gefordert, in denen das Gericht gezwungen ist, eine konkrete Sache in der Situation eines Konflikts einwirkender Normen bzw. einer Kollision der sich darauf beziehenden Grundsätze zu entscheiden. Indem das Rechtsdenken zur Lösung des erstgenannten Falles ein klassisches Instrumentarium von Interpretationsargumenten anbietet (lex su-

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E. Der Richter von heute

perior derogat legi inferiori, lex specialis derogat legi generali, lex posterior derogat legi priori), wird zur Lösung des zweiten Falles in den letzten Jahrzehnten intensiv die Methode des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herausgearbeitet.203 In diesem Zusammenhang mache ich auch auf Art. 52 Abs. 2 der EU Charta der Grundrechte aufmerksam, wo zum ersten Mal das Prinzip der Proportionalität explizit in der Position eines Auslegungs- und Anwendungsinstrumentariums verankert wurde, was zweifelsohne einen weiteren Impuls für seine Erforschung bringen wird. Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik hat den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum ersten Male komplex im Falle der Erörterung der Verfassungskonformität des Instituts der Geheimhaltung persönlicher Daten von Zeugen im Strafprozeß erläutert (Pl. ÚS 4/94). Es ging dabei von der Analyse der Problematik der Kollision im Verfassungsrecht aus: „Zur Einschränkung von Grundrechten oder Freiheiten, auch wenn deren Verfassungsregelung keine Schranken voraussetzt, kann es im Falle ihrer Kollision bzw. im Falle der Kollision mit einem anderen verfassungsrechtlich geschützten Wert, der den Charakter eines Grundrechtes oder einer Freiheit nicht besitzt (einem öffentlichen Gut) kommen. Die verfassungsrechtliche Regelung der Stellung eines Einzelnen in der Gesellschaft enthält den Schutz individueller Rechte und Freiheiten sowie den Schutz öffentlicher Güter. Der Unterschied zwischen den beiden beruht in deren Distributivität. Für öffentliche Güter ist es typisch, daß der aus ihnen gezogene Vorteil unteilbar ist und Personen von seiner Nutzung nicht auszugrenzen sind. Beispiele öffentlicher Güter sind die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die gesunde Umwelt. Zu einem öffentlichen Gut wird daher ein gewisser Aspekt der menschlichen Existenz unter der Bedingung, dass er begrifflich, sachlich und rechtlich nicht in Einzelteile gespalten werden kann, die den Einzelnen als Beteiligungen zuzuordnen wären.204 Für Grundrechte und Freiheiten ist – im Gegensatz zu öffentlichen Gütern – ihre Distributivität typisch. Aspekte der menschlichen Existenz, wie z. B. persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Teilnahme an politischem Geschehen und das damit verbundene Wahlrecht, das Recht öffentliche Funktionen inne zu haben, das Recht, sich in politischen Parteien zu organisieren u. dgl. können begrifflich, sachlich sowie rechtlich in Teile gegliedert, und diese den Einzelnen zugeordnet werden. Im Falle einer Kollision müssen die Bedingungen bestimmt werden, wann ein 203 Siehe z. B. die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, beginnend mit dem Beschluß BVerfGE 7, 198 (205). Von den jüngsten theoretischen Arbeiten siehe z. B. R. Alexy, Fn 20, S. 262 ff.; J.-R. Sieckmann, Fn. 51; ders., Abwägung von Rechten. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Heft 2, 1995. 204 Zum Begriff der öffentlichen Güter in ökonomischer Literatur siehe z. B. P. A. Samuelson/W. Nordhaus, Economics. 15. Ed., New York 1995. Deutsche Ausgabe: Volkswirtschaftslehre. Wien/Frankfurt 1998; in der rechtlichen Literatur z. B. J. Raz, Right-Based Moralities, in: Theories of Rights. Ed. J. Waldron, Oxford 1984, S. 187; R. Alexy, Fn. 12, S. 239 ff.

VI. Modernes Instrumentarium

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Grundrecht oder eine Freiheit den Vorrang hat und wann ein anderes bzw. ein bestimmtes öffentliches Gut vorrangig ist. Grundlegend in diesem Zusammenhang ist die Maxime, daß ein Grundrecht oder eine Freiheit lediglich im Interesse eines anderen Grundrechtes oder einer anderen Freiheit, bzw. eines öffentlichen Guts beschränkbar ist.“ Die Struktur der Methode der Abwägung wurde dann folgendermaßen angedeutet: „Die gegenseitige Abwägung der in Kollision stehenden Grundrechte und Freiheiten oder öffentlichen Güter beruht auf folgenden Kriterien: das erste ist das Kriterium der Eignung, d.h. die Erwägung, ob ein Institut, das ein gewisses Grundrecht beschränkt, das Erreichen des verfolgten Ziels (den Schutz eines anderen Grundrechts oder öffentlichen Guts) ermöglicht. Das zweite Kriterium zum Bemessen von Grundrechten und Freiheiten ist das Kriterium der Notwendigkeit. Es beruht im Vergleich eines legislativen Mittels, das Grundrechte bzw. Freiheiten beschneidet, mit anderen Maßnahmen, die das Erreichen desselben Zieles ermöglichen, allerdings ohne Grundrechte und Freiheiten zu berühren, bzw. die diese mit geringerer Intensität berühren. Das dritte Kriterium ist der Vergleich, wie schwerwiegend beide in Kollision stehenden Grundrechte oder öffentliche Güter sind. Diese Grundrechte bzw. öffentlichen Güter, sind prima faciae gleichwertig. Ein Vergleich der Wichtigkeit kollidierender Grundrechte bzw. öffentlicher Güter (nach Erfüllung der Bedingung der Eignung und Notwendigkeit), beruht im Erwägen empirischer, systembezogener, kontextueller und wertmäßiger Argumente. Mit Hilfe eines empirischen Arguments ist die faktische Bedeutsamkeit einer Erscheinung begreifbar, die mit dem Schutz eines gewissen Grundrechtes verbunden ist. Ein systembezogenes Argument bedeutet das Erwägen des Sinnes und die Eingliederung des berührten Grundrechtes oder der berührten Freiheit in das System der Grundrechte und Freiheiten. Als kontextuelles Argument können weitere negative Folgen der Begrenzung eines Grundrechts zugunsten der Priorisierung eines anderen verstanden werden. Das wertbezogene Argument bringt das Erwägen der positiven Aspekte der in Kollision stehenden Grundrechte im Hinblick auf die zu akzeptierende Hierarchie von Werten.“ In seiner Judikatur wendet das Verfassungsgericht nicht nur die Postulate der Eignung, der Notwendigkeit und der Proportionalität im engen Sinne an, sondern auch das Postulat der Minimierung des Eingriffes in die Grundrechte (dessen Anwendung gerade der Grund des Derogationsbeschlusses in der angegebenen Sache war): „Es ist daher festzustellen, daß im Falle von zwei in Kollision stehenden Grundrechten bei der Feststellung einer Begründetheit des Vorranges des einen vor dem anderen, eine notwendige Bedingung zur endgültigen Entscheidung auch die Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Minimierung des Eingriffes in das hier nachrangige darstellt. Diese Schlußfolgerung ist auch von der Bestimmung des Art. 4 Abs. 4 der Charta der Grundrechte und Freiheiten ableitbar, und zwar in dem Sinne, daß die Grundrechte und Freiheiten nicht nur

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E. Der Richter von heute

bei der Anwendung der Bestimmung über die Grenzen der Grundrechte und Freiheiten zu schonen sind, sondern analog auch im Falle ihrer Einschränkung infolge ihrer gegenseitigen Kollision.“ Das Prinzip der Proportionalität ist zum regelmäßigen Bestandteil der Argumentation des Verfassungsgerichtes geworden (z. B. Pl. ÚS 16/98), und zwar unter Anwendung all seiner Postulate. Im Falle Pl. ÚS 43/93 wurde die entsprechende Bestimmung des Gesetzes (ein Teil des § 102 des Strafgesetzes) wegen einer Verletzung des Postulats der Eignung, d.h. dem Verhältnis zwischen den eingesetzten Rechtsmitteln und den Zielen des Gesetzgebers, abgeschafft.205 Im Falle Pl. ÚS 15/96 wurde die gesetzliche Regelung wegen einer Verletzung des Postulats der Notwendigkeit rückgängig gemacht. In der Sache ging es um die Abschaffung einer Bestimmung des Gesetzes, die das Dispositionsrecht der Gemeinden als Eigentümer von Wohnungen für den Bedarf der bewaffneten Streitkräfte einschränkte. Im bereits erwähnten Fall des Instituts des anonymen Zeugen verwendete das Verfassungsgericht alle Komponenten des Prinzips der Proportionalität, und konnte die Verfassungswidrigkeit (und daher auch den Derogationsgrund) erst auf der Grundlage der Berührung des Postulats der Minimierung von Eingriffen in Grundrechte und Freiheiten feststellen. VII. Fazit als Rückkehr zur einleitenden Frage In der Rechtspolitik der Gegenwart sind wir Zeugen einer nachhaltigen Dominanz des legislativen Optimismus, eines Glaubens an die Effektivität des Beeinflussens von Einzelheiten des menschlichen Handelns durch normatives Reglementieren, verbunden mit der Hypertrophie von Rechtsvorschriften, der Unübersichtlichkeit, Unbeständigkeit, Unverständlichkeit der Rechtsordnung, mit 205 Den erwähnten Schluß drückte das Gericht folgendermaßen aus: „Nach Erwägung aller Umstände und Zusammenhänge, in die § 102 des Strafgesetzes eingebettet ist, kam das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik zum Schluß, daß der unbestimmte und unbegrenzte strafrechtliche Schutz des Parlaments, der Regierung und des Verfassungsgerichtes in § 102 des Strafgesetzes über den Rahmen der Verfassungsordnung und der internationalen Verpflichtung der Tschechischen Republik geht, da beim ausreichenden Strafschutz staatlicher Organe in §§ 154 Abs. 2 und 156 Abs. 3 durch seine Allgemeinheit und Unbestimmtheit ein Element eines redundanten Schutzes eingebracht wird, das durch eine mangelnde Abgrenzung des zu schützenden Objektes sowohl von den allgemein anerkannten Grundsätzen eines Rechtsstaates, als auch vom Rahmen, der in Art. 17 der Charta die Eingriffe des Staates in Bürgerrechte auf Maßnahmen, die durch ihr Wesen zum Bewahren gewisser Werte unerlässlich sind, beschränkt, ausweicht. In § 102 des Strafgesetzes kann es schon aus dem Grunde, daß der den Staatsbehörden im §§ 154 und 156 gewährte Schutz ausreichend und vom Blickwinkel der Abgrenzung des zu schützenden Objektes genauer ist, nicht um eine unerlässliche Maßnahmen gehen. Die Auffassung des § 102 des Strafgesetzes befindet sich in dieser Hinsicht auch im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Tschechischen Republik sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.“

VII. Fazit als Rückkehr zur einleitenden Frage

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ihrer Dekonstruktion. Es stellt sich daher die Frage, ob die Sphäre der Justiz in Konfrontation mit der Realität des Lebens und mit den Erkenntnissen der Rechtswissenschaft genug Kraft und Mut in sich selbst finden kann, um eine gewisse Barriere zu bilden, die der Dekonstruktion zu trotzen vermag. Es stellt sich weiter die Frage, ob sie ihre Position einer industriellen Fabrik der Entscheidungen nicht verlassen wird, um mit aller Zurückhaltung und aller Demut gegenüber ihrem öffentlichen Auftrag, nicht doch versuchen wird, die Lösung konkreter Sachen in dem im voraus gegebenen normativen Rahmen zu suchen, und dies im Lichte der elementaren Grundsätze (geschrieben und nicht geschrieben), im Lichte der allgemein gültigen Vorstellungen über die Axiologie und Rationalität des Rechtssystems. Ob sie versuchen wird, der Öffentlichkeit die Suche nach dem Sinn und Zweck anzubieten, die Suche nach den Möglichkeiten, aus einem zersplitterten Mosaik ein sinnvolles Bild zusammenzustellen?

F. Zusammenbruch des „Richterstaats“: Count-down läuft? I. Epoche starker oder schwacher Gerichte? Im September 2003 sorgte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit, u. zw. in der Sache der Zulässigkeit des Kopftuchs als eines Symbols des islamischen Glaubens bei einer Lehrerin im Rahmen des Unterrichts an einer staatlichen Schule. In der Entscheidung die Benennung „Kopftuchurteil“ erhielt, entschied das Gericht über die Verfassungskonformität der Beschwerde von Fereshta Ludin, Lehrerin aus Afghanistan, der eine Lehrerstelle an einer staatlichen Schule aus Gründen einer offensichtlichen Präsentation ihrer religiösen Orientierung206 verweigert wurde. In der Begründung seines Urteils sprach das Gericht drei Grundthesen aus: Die erste These war die Betonung des Schutzes der Freiheit der religiösen Überzeugung, die zweite das Prinzip der staatlichen Neutralität in religiösen Sachen auf dem Gebiet des Schulwesens (von dem das Gericht die Schlußfolgerung ableitete, daß die Zurückhaltung auch in äußeren Ausdrücken der religiösen Orientierung in den Schulen seitens des Lehrers begründet sei, zum Zweck „der Vorbeugung von Konflikten mit Schülern, Lehrern oder anderen Lehrern“). Die 206 Muslimská uc ˇ itelka vyhrála spor o šátek (Moslemische Lehrerin gewann den Kopftuchstreit). Lidové noviny, 26.9.2003, S. 9: „Die Moslemin Fereshta Ludin durfte seit 1998 an einer Grundschule in Baden-Württemberg nicht lehren, da sie sich weigerte, das Kopftuch abzunehmen. Nach langen fünf Jahren bekam nun die 31jährige Deutsche afghanischer Abstammung ihren Anspruch vom Gericht bestätigt: An der staatlichen Schule darf sie auch verhüllt lehren. Der gestrige Spruch des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe setzte – zumindest bisher – den Punkt nach einem langwierigen und scharf verfolgten Fall. Bei Erlaß des Verbots gingen die Behörden von Gesetzen aus, die das Einhalten religiöser Neutralität auf schulischem Boden fordern. Ludin wollte dementgegen ihr Recht auf Glaubensfreiheit und gleichen Zugang zur Beschäftigung in der staatlichen Sphäre geltend machen, allerdings wurden bis gestern von den Gerichten ihre Argumente abgelehnt. Eine Änderung kam erst vom Verfassungsgericht. Es hat zwar Frau Ludin und anderen Mitgliedern der zahlenmäßig großen moslemischen Gemeinschaft in Deutschland das Recht, in der Schule das Kopftuch zu tragen, nicht zuerkannt, allerdings entschied es, daß dies von keinem Gesetz verhindert wird, und daher nicht behördlich verboten werden kann. Das gerichtliche Verdikt enthält jedoch gleichzeitig eine Anleitung für die Behörden der einzelner Bundesländer, wie ein eventuelles Verbot einführbar ist: sie müssten ein Gesetz verabschieden, das in den Schulen das Tragen eines Kopftuchs ausdrücklich verbietet. Die Landesregierung von Hessen teilte gleich gestern mit, sie beabsichtige, das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts zu verbieten. Die Niedersächsischen Behörden sprachen sich demgegenüber in dem Sinne aus, daß dies genehmigt wird.“

I. Epoche starker oder schwacher Gerichte?

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dritte These, die zum ratio decidendi wurde, war die Verweisung auf die Kompetenzenteilung zwischen dem Bundesstaat und den Ländern, wonach das Gebiet der Gestaltung des Schulwesens gerade den Ländern überlassen wird, so daß das Bundesverfassungsgericht zum einen die Lösung des Falles auf die Ebene der Landesbehörden zurückverwies, zum anderen die gegebene Frage als eine politische (political question) kennzeichnete, die einer gesetzlichen Regelung seitens des Landes bedürfe. Dabei „könnten die einzelnen Länder zu unterschiedlichen Regelungen gelangen“, wozu entsprechend dem Gericht die schulische Tradition, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder minder starke religiöse Verankerung als Gesichtspunkte dienen sollten. Danach hob es die Entscheidung der Landesgerichte von Baden-Württemberg auf, da ein Verbot des Tragens eines Kopftuches seitens einer Lehrerin der staatlichen Schule nach seiner Meinung lediglich auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung des Landes akzeptierbar wäre. In Abwesenheit einer solchen Regelung ist das Tragen eines Kopftuches zu akzeptieren. Das Urteil rief eine recht widersprüchliche Reaktion von Medien und Politikern hervor. Ein Teil der linksliberalen Presse lehnte das Urteil als eine Flucht vor der Realität ab, als Unverständnis der bestehenden Herausforderungen der multikulturellen Gesellschaft.207 Der Bundesinnenminister Otto Schily bezeichnete den Beschluß ausdrücklich als „Entscheidungs-Verweigerung“ und warnte vor einem möglichen Chaos.208 Paradoxal tat er dies im Einklang mit Sprechern der bayerischen CSU, die dem Verfassungsgericht auch Passivität und Versagen vorhielten. CDU Vorsitzende Angela Merkel sprach sich, nachdem das Gericht die Möglichkeit des gesetzlichen Verbots des Tragens eines Kopftuches durch eine Lehrerin einer staatlichen Schule feststellte, auch zugunsten einer solchen Regelung aus.209 Ungefähr zur selben Zeit, in der zweiten Augusthälfte 2003, veröffentlichten mehrere Zeitschriften den Aufsatz von Ralf Dahrendorf unter dem Titel Ist die Ära der Richter gekommen?210 Er stellt dabei die Frage, ob die Kräfte der Richterschaft nicht zu weit gewachsen seien, . . . ob das Pendel nicht zurück zu politischeren Gewalthabern, insbesondere zum gesetzgebenden Kollegium ausschwenken sollte? Nachdem er zum eindeutigen Schluß kommt, daß „eine solche Bewegung notwendig sei“, gelangt er zu seinem grundlegenden Argument: „Je stärker in einem Land die richterliche Gewalt ist, umso langsamer wird das Reformtempo. . . . Mehr selbstbewußte Politiker und weniger Zutrauen für Ha-

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M. Klingst, Feige Richter. Die Zeit, Nr. 40, 25.9.2003, S. 7. Das Kreuz mit dem Koran. Spiegel, Nr. 40, 29.9.2003, S. 83. 209 Kopftuch für Lehrerinnen. SME, 29.9.2003. 210 R. Dahrendorf, Nadešla éra soudcu ˚ ? (Ist die Ära der Richter gekommen?), Ekonom, 28.8.2003; ders., Epocha silny´ch sudcov (Epoche der starken Richter), SME, 15.8.2003. 208

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F. Zusammenbruch des „Richterstaats‘‘: Count-down läuft?

miltons dritte Komponente der Gewalt würden der Gesellschaft mehr Flexibilität bringen.“ Bernd Rüthers kommt in seinem Aufsatz, der durch seinen Stil einem Manifest211 ähnelt, nachdem er die Ursachen „des Vormarsches des Richterrechts gegenüber dem Gesetzesrecht“212 angedeutet hat, zu einem fast pathetischen Aufruf: „Die neue Rolle der Justiz und Jurisprudenz als Vorreiter der Gesetzgebung führte zu einem Mentalitätswandel der Rechtsanwender. Aus den traditionellen Dienern der Gesetze wurden Umgestalter und Erneuerer, ja Herren der Rechtsordnung. Das war die Geburtsstunde eines ganz neuen Selbstverständnisses der Richter. Die traditionelle Bindung an das Gesetz, wie sie für den Rechtsstaat kennzeichnend ist, wurde gelockert, ja zeitweise durch die Parole ersetzt: ,Los vom Gesetz!‘“. Seine Kritik trifft speziell das Verfassungsgericht: „Vom Hüter der Verfassung wird das Gericht zur Richtlinieninstanz der Gesetzgebung.“213 Wohin schwenkt also „Dahrendorfs Pendel“ aus? Konnten die Gerichte im derzeitigen Kontinentaleuropa die Stellung eines dominanten Elementes des Rechtsstaates erlangen, sind sie stark, aktivistisch, neben dem Gesetzgeber das Recht bildend, oder aber sind sie überlastet, entscheiden sie in unangemessenen Fristen, entweichen sie des Öfteren der Entscheidungsverantwortung, sei es durch „Flucht“ in das Gebiet des Verfahrensrechtes, oder aber durch Übertragung der Entscheidungslast auf das politische Gebiet (wie dies gerade im Fall des Kopftuchurteils zustande kam)? II. Albert Camus: „Eine Sache falsch zu benennen heißt das Unglück der Welt zu vermehren“ Das Ziel meiner Bemerkungen am Rande der Krankheiten eines „Richterstaates“ ist es lediglich, zur Rationalisierung des Diskurses beizutragen. Den 211 B. Rüthers, Der Richterstaat. Verfassungswandel und Politisierung der Justiz. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.87, 15.4.2002, S. 7. Ausführlicher ders.: Demokratischer Rechtstaat oder oligarchischer Richterstaat? Juristen Zeitung, Nr. 8, 2002, S. 365–416. 212 B. Rüthers, Der Richterstaat. Verfassungswandel und Politisierung der Justiz. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.87, 15.4.2002, S. 7: Es gehört dazu die Notwendigkeit einer Konkretisierung der in den Gesetzen enthaltenen allgemeinen Regelungen bei der gerichtlichen Rechtsanwendung, des weiteren die Unvollständigkeit des Rechtes beim Lösen systemrelevanter Probleme und Systemkonflikte, insbesondere vom Blickwinkel gesellschaftlicher Änderungen, bzw. Rechtslücken, drittens gehört unter dieselben die Absenz des Willens der politischen Welt einige sensitive Gesellschaftsfragen, z. B. des Rechts bei Arbeitsstreitigkeiten und ferner die der Durchsetzung allgemeiner Klauseln und offener, nicht bestimmter Begriffe in der Sprache moderner Gesetze. Darüber hinaus, zu den sogenannten technischen, nicht abwehrbaren Gründen kommen zum immer steigenden Richterrecht auch weitere Ursachen dazu, und zwar Systemänderungen. 213 Ebd.

II. Albert Camus

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Weg zu dieser Rationalisierung sehe ich im Bestreben um einen strukturellen Konsens, d.h. im Bestreben, die Struktur der diskutierten Problemkreise begrifflich abzudecken, die einflußnehmenden Faktoren herauszufinden und Argumente anzudeuten, die über die Gewichtung dieser Faktoren eine Aussage treffen. Ein struktureller begrifflicher Konsens kann danach eine Methode einer rationellen Debatte anbieten, und letztendlich auch eine rationelle Wertung und Bemessung des reellen Zustands, gegebenenfalls auch seiner künftigen Trajektorie. Mein Blickwinkel ist also eher deskriptiv als preskriptiv. 1. „Richterstaat“: Gerichte als Garantie ultima ratio des Rechtsstaates Die grundlegende Funktion des Rechts ist die Absicherung des inneren Friedens der menschlichen Gemeinschaft durch das Garantieren allgemein geteilter Vorstellungen über die Freiheit, Gerechtigkeit und Rationalität. Die Entwicklung des Rechtsdenkens im 18. und 19. Jh. brachte die Geburt der Idee eines Rechtsstaates (rule of law), die zwangsläufig die Folge mit sich brachte, daß die Aufmerksamkeit auf die institutionellen Garantien des Rechtsstaates, insbesondere auf die unabhängige Gerichtsbarkeit als Garantien ultima ratio, gelenkt wurde. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg führt dann zum Entstehen des Begriffes eines „Richterstaats“. Im Rechtskreis der Bundesrepublik Deutschland „hat man gesagt, daß die Bundesrepublik Deutschland sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes von einem formalen Gesetzesstaat zu einem materiellen Rechtsstaat entwickelt habe, indem das ehemalige Gesetz-vor-Recht-Denken einem Recht-vor-Gesetz-Denken gewichen sei. Man hat sogar von einem ,Richterstaat‘ gesprochen.“214 Hat der Begriff eines „Richterstaats“ bei Arthur Kaufmann eine positive, mit der Kategorie des überpositiven Rechts verbundene Konnotation, so ist es bei Bernd Rüthers umgekehrt, er verbindet den Begriff des „Richterstaats“ mit negativer Konnotation. Setzen wir voraus, daß der Termin „Richterstaat“ in der Rechtssprache zum Kennzeichnen des Anwachsens der Einflußnahme der richterlichen Gewalt im Rechtsstaat allmählich verwendet wird, sei es durch die Anordnung in Form einer parlamentarischen Demokratie oder in Form einer markanteren Anwendung der Gewaltenteilung zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt. Dieser Einfluß ist mit dem Heranwachsen der Entscheidungslast verbunden, in anderen Worten mit der Expansion der richterlichen Entscheidung, die sich quantitativ, institutionell, und letztendlich auf dem Gebiet der Kompetenzen widerspiegelte. Diese Expansion ist im 20. Jh., insbesondere gegen Ende des 20. Jh., in Kontinentaleuropa durch die Anwesenheit einer Reihe von Faktoren gegeben. Bevor ich ihre Struktur anzudeuten versuche, noch eine terminolo214

A. Kaufmann, Fn. 177, S. 256.

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gische Anmerkung: Der Begriff des „Richterstaats“ ist ein parabolischer Begriff, der eher eine Tendenz umfaßt, als inhaltlich und sinngemäß ein reelles Denotat, d.h. den Umstand, daß ein derzeitiger demokratischer Rechtsstaat reell ein Staat mit dominierender richterlicher Gewalt sei, zu kennzeichnen vermag. Aber zurück zum Abriß von Faktoren, die unsere Überlegungen zur Stärkung der richterlichen Gewalt initiieren und mit dem Begriff des „Richterstaates“ verbunden werden können: a) Rückgang der Einflüsse nichtrechtlicher Normativsysteme Als hätte der Aufruf von Friedrich Nietzsche: „Gott ist tot“215, die stürmische Geschichte des Europa des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet, die mit Kataklysmen von Weltkriegen, Völkermord, Vertreibungen, Revolutionen und dadurch auch mit der Notwendigkeit neuer Anfänge verbunden war. Diese Erschütterungen, gemeinsam mit anderen Faktoren (z. B. mit dem technologischen Optimismus, den massiven demografischen Verschiebungen u. dgl.) konnten nichts anderes, als den Rückgang der Einflußnahme der Religion, der Moral, der Tradition und der Anständigkeit zur Folge haben. Der Verfall nichtrechtlicher Normativsysteme überträgt dann zwangsläufig die Last der gesellschaftlichen Entscheidungen zur Absicherung des internen Friedens auf die Gerichte; wir werden Zeugen des dramatischen Heranwachsens dieser Belastung. Die Absenz eines autonomen Potentials der Gesellschaft, Fälle interner Spannungen zu lösen, führt somit zur paradoxalen Folge – dem Effekt des Hineinziehens und Herausdrückens. Das Hineinziehen gilt als Äußerung der Absenz eines autonomen Potentials der Gesellschaft, das Herausdrücken als Reaktion auf die Überlastung der Gerichte. Illustrationen dazu sind die derzeit so modernen Abweichungen auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts. b) Hypertrophie des geschriebenen Rechtes Der technologische Optimismus der industriellen Epoche des 20. Jahrhunderts, der eine Fixation des Paradigmas des geschriebenen Rechts als der Technologie der Gewalt, als der Technologie der Steuerung der Gesellschaft zur Folge hat, ferner die stürmische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, verbunden mit der Notwendigkeit neuer Anfänge (begleitet durch legislative Hyperaktivität), die Intensität technologischer und der daran anknüpfender gesellschaftlicher Umwälzungen – all dies führte und führt zu einer nie dagewesenen Hypertrophie des geschriebenen Rechtes. In den postkommunistischen Ländern Mitteleuropas beteiligen sich noch weitere Momente an der Expansion des ge215 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Tschechische Ausgabe, Praha 1968, S. 259.

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schriebenen Rechtes: nach 1989 die Notwendigkeit einer radikalen, systembezogenen Veränderung, eine Welle neuer Regelungen, verbunden mit dem Entstehen eines Staats, danach der Assoziierungsprozeß und der sich anschließende Beitritt zur EU. All dies geschieht unter dem nachhaltigen legislativen Optimismus, einer naiven Vorstellung, nach der jedes Gesellschaftsproblem durch die Verabschiedung einer Rechtsvorschrift lösbar sei. Dabei wird das Recht angewendet, durchgeführt, und zwar entweder direkt durch Rechtsfakten, insbesondere Rechtshandlungen, d.h. ohne Eingriff des Staates (was insbesondere für das Privatrecht gilt), oder aber mittels seiner Anwendung durch die staatlichen Behörden. Die reglementierende Expansion, die sich in der Expansion des öffentlichen Rechts widerspiegelt, führt damit zum Wachstum der Anwendungssphäre, insbesondere im Verwaltungsrecht und demzufolge auch in der Gerichtsbarkeit. Die Hypertrophie des geschriebenen Rechts und seine ständigen Veränderungen führen dann zum Verlust der natürlichen Fähigkeit des gesellschaftlichen Umfelds, das Recht anzuwenden, sich seinen Sinn durch Gewohnheit und Gepflogenheiten anzueignen und das Recht durch praktischen Einsatz zu interpretieren. Die Dynamik des Rechtes, die keine allmähliche Absorption seines Inhalts, Sinns und Zwecks ermöglicht, führt notwendigerweise zum Druck auf dessen autoritative Interpretation bzw. zu seiner Fortbildung seitens der Gerichte. Der Druck auf die gerichtliche Fortbildung des Rechts, bzw. auf die Beseitigung von Auslegungsunklarheiten durch die Gerichte, ist in der Tschechischen Republik in bedeutendem Maße auch durch die niedrige Qualität der verabschiedeten legislativen Texte gegeben (die in einer Reihe von Fällen eher mißlungene Übersetzungen ausländischer Vorlagen darstellen). Neben der quantitativen Hypertrophie macht I. Kanárik auch auf das Vorliegen von Extensionen der derzeitigen Legislative aufmerksam, auf Fällen von Unstimmigkeiten zwischen der Form und dem Inhalt eines Gesetzes beruhend, was zum Übergreifen der Legislative auf die Gebiete der Exekutive und der Gerichtsbarkeit führt.216 c) Theoretische und empirische Auswirkungen der Idee eines Rechtsstaates Die Idee eines Rechtsstaates, verbunden mit der Maxime der Gebundenheit des Staates durch das Recht sowie der Kategorie des Verfassungsstaates und der Gebundenheit des Gesetzgebers durch die Gesamtheit der für die Gesellschaft konstitutiven Werte217, brachte notwendigerweise auch die Stärkung der Wirk-

216

S. 17.

I. Kanárik, Zvrchovanost’ zákona (Souveränität des Gesetzes), Košice 2003,

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samkeit der gerichtlichen Gewalt, und dies sowohl gegenüber der gesetzgebenden Gewalt im Zuge der Durchsetzung des Instituts der Verfassungsgerichtsbarkeit als auch gegenüber der vollziehenden Gewalt (insbesondere gegenüber der Staatsverwaltung), Letzteres durch die Erweiterung der Wirksamkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und teilweise in diesem Kontext auch durch die Einwirkungen der eingeführten Verfassungsgerichtsbarkeit. 2. Externalitäten bzw. ungünstige Begleiterscheinungen der Expansion richterlichen Entscheidens Natürliche Begleiterscheinungen des Anwachsens der Entscheidungslast von Gerichten, verbunden mit der Hypertrophie des normativen Umfelds, sind eine beschränkte Absorptionsfähigkeit der Applikationsumgebung, eine Überlastung der Gerichte verbunden mit einem Verlust ihrer Funktionsfähigkeit sowie mit einer zunehmenden Zahl von Fehlentscheidungen. Diese Externalitäten haben des Öftenen paradoxale Reaktionen zur Folge: Auf die Zunahme von Fehlentscheidungen reagiert die legislative Praxis durch Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Konversion des Systems als solchem. Sie reagiert darauf im Glauben an die Möglichkeit institutioneller Lösungen durch die Verankerung weiterer und weiterer institutioneller Kontrollmechanismen des Gerichtsverfahrens, durch Einführung weiterer Verfahren zum Rechtsschutz, durch Erweiterung des Kreises ihrer Zulässigkeitsgründe, sowie des Kreises aktiv legitimierter Subjekte und letztlich auch durch Einführung weiterer Gerichtsinstanzen. Eine Illustration dieses Typs von Denkweise ist die Entwicklung der Berufung in Zivilsachen von den neunziger Jahren bis zur Gegenwart. Der Übergang von der Funktion der Absicherung von Universalität (Gesetz Nr. 519/1991 der Gesetzessammlung) hin zu der Beseitigung von Diformität kulminierte durch die Novelle der Zivilprozeßordnung durch das Gesetz Nr. 30/2000 der Gesetzessammlung. Hier fügte der Gesetzgeber unter § 237 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung in den Rahmen der legalen Definition des begrifflichen Inhalts und Umfangs einer Rechtsfrage wesentlicher Bedeutung auch das Definitionsmerkmal „Lösung einer Rechtsfrage im Widerspruch zum gültigen Recht“ ein, wodurch er „aus dem Obersten Gericht faktisch die dritte 217 Siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts der BRD in der Sache der Verordnung Nr. 11 zum Gesetz über die Reichsbürgerschaft vom 24.11.1941 (GBl. I., S. 772), auf deren Grundlage den Juden, die emigriert waren, die Staatsangehörigkeit und das Vermögen entzogen wurden (BVerfGE 23, 98): „Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein ,Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann.‘“

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ordentliche Instanz machte“.218 Im Bestreben, eine Art Notbremse angesichts der prozeduralen Euphorie zu ziehen, formulierte das Verfassungsgericht eine Maxime, die zum Beurteilen der Verfassungsmäßigkeit der gerichtlichen Instanzenüberprüfung im Urteil Az. Pl. ÚS 15/01 ausgesprochen wurde: „Eine Rechtsordnung wird nicht und kann nicht unter dem Gesichtspunkt des Systems von Rechtsschutzmöglichkeiten sowie unter dem Gesichtspunkt des Systems der Anordnung von Überprüfungsinstanzen ad infinitum aufgebaut werden. Jede Rechtsordnung muß notwendigerweise eine gewisse Zahl von Fehlern generieren und tut dies auch. Der Zweck eines Überprüfungsverfahrens bzw. einiger Überprüfungsverfahren kann reell darin bestehen, solche Verfehlungen approximativ zu minimieren, nicht jedoch darin, sie rückstandslos zu beseitigen. Ein System von Überprüfungsinstanzen ist daher das Ergebnis der Bemessung des Bestrebens, auf der einen Seite die Herrschaft des Rechtes und auf der anderen Seite Entscheidungseffektivität und Rechtssicherheit zu erzielen.“ Die Überlastung der Gerichte ist regelmäßig mit Verfahrensverzögerungen verbunden, d.h. mit dem Verlust der Fähigkeit, in angemessenen Fristen zu entscheiden, die Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit sowie Rechtssicherheit herbeibringen. Auch in diesem Falle kopiert die Reaktion die Paradigmen unseres Denkens: Dies ist die Skepsis bezüglich der Möglichkeit, die Grundlagen der gegebenen Problematik zu beeinflussen, sowie der Glaube an institutionelle Lösungen durch Einführung prozeduraler Mechanismen, seien es Kontrollmechanismen oder sonstige Maßnahmen (z. B. gesetzliche Prozessfristen für Gerichtshandlungen). In der Position eines neu eingeführten Kontrollmechanismus, und dies als offensichtliche legislative Reaktion auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Kucharˇ und Štis versus Tschechische Republik, Hartman versus Tschechische Republik), findet man seit der Novellierung des Gesetzes über Gerichte und Richter, durchgeführt durch das Gesetz Nr. 192/2003 der Gesetzessammlung, das Institut des gerichtlichen Vorschlags zur Bestimmung der Frist für die Durchführung einer prozeduralen Handlung verankert (§ 174a Ges. Nr. 6/2002 der Gesetzessammlung in der Fassung des Ges. Nr. 192/2003 der Gesetzessammlung). Die mit der Expansion der richterlichen Entscheidung verbundenen Reaktionen auf Externalitäten sind nicht nur legislativ, sondern können auch richterlich sein. Eine äußerst negative ist Resignation, des öfteren mit Zynismus verbunden (in der gerichtlichen Praxis und im Verwaltungsrecht, insbesondere im Verwaltungsprozeß, insbesondere prozedural orientiert), einhergehend mit dem Verlust der Fähigkeit, sich in der Rechtsordnung zu orientieren, weiter eine enge 218 L. David, R ˇ ešení právní otázky v rozporu s hmotny´m právem – Achillova pata prˇípustnosti dovolání (Die Lösung einer Rechtsfrage im Widerspruch mit dem materiellem Recht – die Achillesferse der Zulässigkeit der Berufung), Právník, Nr. 10, 2003, S. 995.

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Spezialisierung, in der sich die Fähigkeit verliert, den Sinn und Zweck der verwendeten Normen, sowie deren axiologischen und teleologischen Hintergrund zu reflektieren, was den Formalismus des praktischen Rechtes zur Folge hat. Als Illustration dient die Überprüfungspraxis von Berufungsgerichten, die zur Entscheidung mittels Kassation tendieren, und dies aus prozeduralen Gründen. Eine Illustration ist auch die Auslegungskonfrontation, die in den neunziger Jahren zwischen dem Verfassungsgericht und den ordentlichen Gerichten verlief, als das Verfassungsgericht wiederholt die Doktrin des Verbots des überzogenen Formalismus bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts formulierte (III. ÚS 127/96, III. ÚS 283/96). Eine in Europa reflektierte Illustration der Hinwendung zum Formalismus auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Entwicklung der Judikatur des ungarischen Verfassungsgerichtes nach 1999, u. zw. nach dem Wechsel der ersten Generation von Richtern.219 Wird die Justiz zur Garantie ultima ratio des Rechtsstaates, so wird in diesem Zusammenhang in der Position der Externalität die Frage gestellt „wer wird den Wächter bewachen?“220. Auf diese Frage versuchte das Verfassungsgericht im Urteil Az. Pl. ÚS 33/97 eine Antwort zu formulieren, indem es feststellte: „Ein demokratisches System begegnet einer möglichen Willkür beim Formulieren des ,ungeschriebenen Rechtes‘ auf zweierlei Art. Es teilt nicht die in unserer Gesellschaft so tief verwurzelte Skepsis zur Möglichkeit, verantwortungsvolle Individualentscheidungen zu fassen und diese auf der Grundlage überzeugender Argumentation der Öffentlichkeit zur Beurteilung vorzulegen. Die erste Garantie gegen Willkür ist daher der kulturelle und moralische Kontext der Verantwortung. Die zweite Art ist das die Gewaltenteilung bildende System demokratischer Institutionen. In anderen Worten, die erste ist eine autonome, die zweite eine heteronome Garantie der Normenbildung.“ 3. Gerichtlicher Aktivismus versus Selbstbegrenzung der Gerichte Die Probleme der Analyse des Begriffes des „Richterstaates“, seiner Ursachen und der mit ihm verbundenen Externalitäten hängen eng mit der Diskussion zur Frage des gerichtlichen Aktivismus und der gerichtlichen Autolimitierung zusammen. Nach H. Ch. Röhl bezeichnen diese Begriffe eine subjektive

219 K. L. Scheppele, The New Hungarian Constitutional Court. East European Constitutional Review, Vol. 8, Nr. 4, 1999. 220 V. Šimíc ˇek, Mohou by´t vykonatelná rozhodnutí Ústavního soudu Cˇ R všeobecneˇ závazná? (Können die ausführbaren Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der Tschechischen Republik allgemein verbindlich sein?), Správní právo Nr. 2, 1996; ders., Vybrané problémy ústavního soudnictví v Cˇ eské republice a v Polsku (Ausgewählte Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit in Tschechien und in Polen), Právník, Nr. 7, 1998, S. 645.

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Perspektive des Richters: Der „Aktivismus“ impliziert die Motivation des Richters, seine richterliche Macht zur Ausführung von Zwecken anzuwenden, die sich außerhalb seiner Befugnis befinden, die „Autolimitierung“ ist ein Begriff zur Einschränkung des Richters in Fragen, in denen er zwar entscheiden kann, aber nicht muß.221 Dieser Auffassung entspricht auch die bekannte kritische Überlegung des amerikanischen Richters R. H. Bork über den gerichtlichen Aktivismus in der Judikatur des Obersten Gerichtes der USA.222 Zu den Grundmethoden der Rechtsanwendung, mit deren Einsatz die Bezeichnung gerichtlicher Aktivismus des Öfteren verbunden wird, gehört die Ausfüllung von Rechtslücken, und zwar sowohl der echten (technischen), als auch der unechten in Form von Analogie, durch Argumentation mittels Natur der Sache, durch Applikation von Argumenten a fortiori sowie durch Argumentation mittels Prinzipien, insbesondere durch das Prinzip der Gleichheit.223 Ferner können dem angegebenen Rahmen auch das Judizieren praeter und contra legem224 oder die Lösung von Konflikten zwischen den Ergebnissen einzelner Interpretationsmethoden zugunsten der aktuellen objektiven Auslegung225 zugeordnet werden. Der gerichtliche Aktivismus ist also eine Reaktion auf mehrere Faktoren: Zu ihnen gehören die Spannung zwischen der Unvollständigkeit des geschriebenen Rechtes auf der einen Seite und dem Grundsatz des Verbots denegationis iustitiae auf der anderen Seite, weiterhin die Spannung zwischen dem Inhalt und dem Ausmaß einer Norm, die als Ergebnis verschiedener Interpretationsmetho221 H. Ch. Röhl, The Role of Judges in the Formation of Public Law: Activism or Autolimitation? European Rewiew of Public Law, vol. 10, No. 3, 1998, S. 895. 222 R. H. Bork, The Tempting of America. Tschechische Ausgabe: Amerika v pokušení. Právo vystavené svodu˚ m politiky. Praha 1993. 223 Zum Begriff der Rechtslücken und deren Ausfüllung siehe C.-W. Canaris, Fn. 198; B. Rüthers, Fn. 200, S. 467 ff.; Z. Kühn, Aplikace práva ve slozˇ ity´ch prˇípadech. K úloze právních principu˚ v judikaturˇe (Anwendung des Rechts in hard cases. Zur Aufgabe der Rechtsprinzipien in der Judikatur), Praha 2002, S. 200 ff.; zu den Folgen einer aktivistischen Anwendung des Gleichheitsprinzips siehe z. B. W. Heun, Das Debakel der amerikanischen Präsidentenwahlen – eine juristische Analyse. Juristen Zeitung, Nr. 9, 2001, S. 421–428; R. Dworkin, A Badly Flawed Election. New York Review of Books, 11.1.2001, S. 53 ff. 224 Ausführlicher siehe P. Holländer, Fn. 2, S. 780 ff.; Z. Kühn, K moz ˇ nosti soudu rozhodovat contra legem; ke vztahu zákona a práva (Soraya) (Zur Möglichkeit des Gerichtes contra legem Entscheidungen zu treffen [Soraya]), Jurisprudence, Nr. 1, 2001, S. 30 ff.; I. Pelikánová, Konkurencˇ ní dolozˇ ky a cˇ esky´ právní stát. Právní praxe v podnikání (Die Wettbewerbsklausel und der tschechische Rechtsstaat), Nr. 7–8, 1997, S. 16 ff. 225 Kritisch B. Rüthers, bzw. R. Bork. Stellungnahmen zugunsten einer aktuellen teleologischen Auslegung, siehe z. B. I. Pelikánová/R. Pelikán, Ješteˇ k prˇíspeˇ vkovy´m organizacím ÚSC (Noch einmal zur Beitragsorganisationen der territorialen Selbstverwaltungseinheiten), Právní zpravodaj, Nr. 10, 2003, S. 10–11, P. Holländer, Fn. 168, S. 130–135.

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den, insbesondere einer ursprünglichen subjektiven und einer aktuellen objektiven Auslegung, festgestellt werden. Eine andere Art der gerichtlichen Aktivität, der die Bezeichnung Gerichtsaktivismus zugeordnet wird, sind Entscheidungen der Verfassungsgerichte über politische Fragen, die traditionell als Gegenstand normativer Regelung durch die gesetzgebende Gewalt empfunden werden (ein Beispiel dazu ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über den Bundeswehreinsatz) bzw. die Abgrenzung des verfassungslegislativen Rahmens neuer gesetzlicher Regelungen in Begründungen der Entscheidungen auf dem Gebiet der Normenkontrolle. Als Gegenpol des gerichtlichen Aktivismus wird die gerichtliche Autolimitation (gerichtliche Selbstbegrenzung, judicial self restraint) erachtet. Im Bezug auf seine eigene Judikatur gab das Verfassungsgericht einen Abriß des obigen Herantretens an die gerichtliche Rechtsanwendung programmatisch im Urteil Az. III. ÚS 148/97 vor: „Nach Überzeugung des Verfassungsgerichtes ist der Schutz der Verfassungsmäßigkeit mit der Minimierung von Eingriffen in die Kompetenz sonstiger Behörden verbunden, in anderen Worten im Falle des Erreichens des Schutzes der Verfassungskonformität soll das Verfassungsgericht lediglich solche Kassations-, bzw. Derogations (Abrogations-)Maßnahmen wählen, die in einem minimalen Maß in die Rechtsbefugnis sonstiger Behörden der öffentlichen Gewalt eingreifen.“ Setzen wir voraus, daß auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit die Autolimitation vor allem durch folgende drei Methoden erreichbar ist: Die erste Methode ist die Anwendung des Prinzips des Gebots der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechtes, also das Verabschieden der sog. interpretativen Entscheidungen. Vom angegebenen Prinzip ergibt sich dann für das Gebiet der Normenkontrolle der Grundsatz der Priorität einer verfassungskonformen Interpretation vor einer Derogation. Eine weitere Methode der Autolimitation ist die Zurückhaltung in Entscheidungen über politische Fragen und schließlich ist die dritte Methode eine Auswahl bzw. das Entscheiden über einen lediglich begrenzten Kreis von Sachen aus dem gesamten Rahmen, der sich aus den verliehenen Kompetenzen ergibt (vor dem Obersten Gericht der USA im Verfahren a certiorari). In einer Situation, in der die Verfassung nicht nur als das Grundgesetz aufgefaßt, sondern auch als die Verankerung grundlegender Werte der Gesellschaft verstanden wird, geht das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechtes und der Stellung der Verfassung im System der Rechtsquellen von der direkten Bindungswirkung der Verfassung und vom Gebot einer wertorientierten Auslegung aus. Das Verfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von der quer durch die ganze Rechtsordnung ausstrahlenden Wirkung der Verfassung bzw. vom Effekt der Durchstrahlung des einfachen Rechtes von der Verfassung (III. ÚS 129/98; III. ÚS 257/98): „Eine der Funktionen der Ver-

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fassung, insbesondere der verfassungskonformen Behandlung der Grundrechte und Freiheiten, ist ihr ,Durchstrahlen‘ der ganzen Rechtsordnung. Der Sinn der Verfassung beruht nicht nur in der Gestaltung der Grundrechte und Freiheiten sowie im institutionellen Mechanismus und Prozess der Bildung legitimer Entscheidungen des Staates (bzw. der Organe der öffentlichen Gewalt), nicht nur in der direkten Verbindlichkeit der Verfassung und in ihrer Position einer unmittelbaren Rechtsquelle, sondern auch in der notwendigen Pflicht der Staatsorgane bzw. der Organe der öffentlichen Gewalt, das Recht vom Blickwinkel des Schutzes der Grundrechte und Freiheiten aus auszulegen und anzuwenden.“ Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik bekennt sich zur Methode der Priorität der verfassungskonformen Auslegung vor der Abrogation eines Gesetzes bzw. einer anderen Rechtsvorschrift oder Bestimmung, und dies in einer Reihe seiner Entscheidungen. Zum ersten Mal tat es so im Urteil Az. Pl. ÚS 48/95, später dann in einer Reihe weiterer Beschlüsse in Verfahren der Normenkontrolle (z. B. Pl. ÚS 5/96; Pl. ÚS 19/98; Pl. ÚS 15/98; Pl. ÚS 4/99; Pl. ÚS 10/99; Pl. ÚS 17/99). Wie bereits angegeben, führt dieses Prinzip auf dem Gebiet der Normenkontrolle zur Selbstbegrenzung und zu einer zurückhaltenden Position des Verfassungsgerichtes im Verhältnis zum Gesetzgeber (auf der anderen Seite führt es jedoch die ordentlichen Gerichte zur Notwendigkeit der Akzeptanz der Rechtsansichten des Verfassungsgerichtes). Im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde hat das Gebot der verfassungskonformen Auslegung allerdings die Aufhebung von verfassungswidrigen Beschlüssen der ordentlichen Gerichte zur Folge (z. B. III. ÚS 86/98, III. ÚS 257/98; III. ÚS 293/98; I. ÚS 282/01; IV. ÚS 143/01; III. ÚS 52/2000, III. ÚS 202/2003). Die nächste Methode der Selbstbegrenzung des Verfassungsgerichts ist die Zurückhaltung in Sachen, die ihrem Wesen nach politische Fragen sind. Eine Illustration dazu ist das Urteil Az. Pl. ÚS 5/01, in dem sich das Verfassungsgericht zurückhaltend zur Aufforderung äußerte, vom Gesichtspunkt der Unerlässlichkeit und wirklichen Notwendigkeit aus eine Rechtsregelung, durch die der Staat in die Wirtschaft eingreift einer strengen Kontrolle zu unterziehen. Es betonte, daß zur Wahl der Wirtschaftspolitik das Parlament der Tschechischen Republik zuständig sei, als ein politisches Organ, das gegenüber den Wählern politische Verantwortung trägt, u. zw. sowohl für das Erkennen von Problemen in der Wirtschaft als auch für die Auswahl von Instrumenten zu deren Lösung. Ähnlich hat es sich auch im Urteil Az. Pl. ÚS 39/01 ausgesprochen, als es festhielt, daß „eine Hinwendung zur strengen Auswertung eines Systems von Produktionsquoten das Verfassungsgericht zur Wertung der Notwendigkeit und Nützlichkeit der staatlichen Förderungs- und Privilegierungspolitik zugunsten der Landwirtschaft zwingen würde. Das Verfassungsgericht müßte sich dabei zu einer ökonomisch-politischen Doktrin, in diesem Falle zum Liberalismus, hin-

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wenden. Ein solcher Schritt entspricht jedoch nicht der relativen politischen Neutralität des Grundgesetzes und der Verfassung.“ Der Kongress der USA führte, auf die Überlastung des Obersten Gerichtes der 20er Jahre reagierend, im Verfahren vor dem Obersten Gericht (das auch die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit inne hat) das Institut der Auswahl unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses und der Gerechtigkeit ein (in einem Verfahren, das writ of certiorari benannt wurde).226 Eine Fachkommission, die vom Justizminister der BRD nominiert wurde und aus Richtern des Bundesverfassungsgerichtes und weiteren bedeutenden Rechtsexperten zusammengesetzt war, empfahl 1997 die Übernahme des amerikanischen Auswahlmodells für das Konzept der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit.227 Das von der Kommission vorgeschlagene dezisionistische Konzept wurde allerdings weder in der legislativen, noch in der theoretischen und judizialen Ebene akzeptiert,228 immerhin entspricht zumindest die novellierte Bestimmung des § 93a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht den Vorstellungen der Kommission.229 Eine Auswahl bzw. ein Verfahren a certiorari kann also als eine sonstige Methode der Autolimitation von Verfassungsgerichten betrachtet werden, insbesondere unter dem Blickwinkel der ihnen anvertrauten Kompetenz und des Prinzips der Gleichbehandlung. III. Schlußfolgerungen bzw. empirische sowie theoretische Projektionen Wenn wir die Vorstellung des „Richterstaats“ im Sinne einer quantitativen, institutionellen sowie kompetenzbezogenen Expansion der richterlichen Entscheidung akzeptieren, so steht die Tschechische Republik nicht außerhalb dieses Phänomens des Zeitgeistes, im Gegenteil, seine Einwirkungen sind durch eine Reihe der bereits angeführten Faktoren noch vervielfacht. Unter dem Blickwinkel der Parameter des Gerichtsaktivismus, d.h. einer Orientierung auf die teleologische Interpretation und die Nachbildung des geschriebenen Rechtes, kann die tschechische Justiz kaum für aktivistisch gehalten werden, ganz im Gegenteil. Allerdings wird hier die überwiegende Autolimitation eher durch Formalität als durch andere Gründe gegeben sein. 226

W. Brugger, Fn. 18, S. 116. Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Bericht der Kommission. Bonn 1998, S. 15–20. 228 Siehe G. Roellecke, Fn. 90, S. 116–118. 229 Siehe K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung. Verfahren, Entscheidungen. 5. Aufl., München 2001, S. 171–172: „Die Annahmeverpflichtung verbindet § 93 a II BVerfGG allerdings mit Voraussetzungen, die dem Gericht erhebliche Entscheidungsspielräume eröffnen und eröffnen wollen.“ Versuch eines legislativen Abrisses einer Auswahlmethode in der tschechischen Verfassungsgerichtsbarkeit siehe P. Holländer, Fn. 98, S. 178–186. 227

III. Schlußfolgerungen

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Beim Verfassungsgericht kann das Maß an Aktivismus und Autolimitation etwas anders bewertet werden. Wenn wir von den vorschnellen, zumeist nicht schlecht informierten Reaktionen der Medien einmal absehen, können zwei Gruppen von Entscheidungen ausgemacht werden, die als aktivistisch zu beurteilen sind: Die erste Gruppe bilden Beschlüsse, die im inneren Diskurs für aktivistisch gehalten werden. Ein Beispiel ist das Urteil Az. Pl. ÚS 33/2000 zur Frage der Erörterung der Verfassungskonformität einer ungültigen Rechtsvorschrift, von deren Anwendung der Beschluß im laufenden Gerichtsverfahren abhängig ist. Das Grundproblem der Sache beruhte im sogenannten Überlappen der Wirkung einer bereits aufgehobenen (geänderten) Rechtsnorm. In anderen Worten geht es um eine Lage, in der nach § 66 und § 67 des Gesetzes über das Verfassungsgericht Gründe zur Ablehnung des Vorschlags bzw. zur Einstellung des Verfahrens gegeben sind, aber der Gegenstand des Normenkontrollverfahrens, das auf Vorschlag eines ordentlichen Gerichtes nach Art. 95 Abs. 2 der Verfassung eingeleitet wurde, eine Rechtsnorm ist, die, obschon aufgehoben (bzw. verändert), die Rechtsgrundlage zum Beurteilen einer konkreten Sache bildet, über die ein ordentliches Gericht entscheidet (z. B. im Sinne des § 154 der Zivilprozeßordnung).230 Hat das Gericht die Sache meritorisch entschieden, so hat es nach der abweichenden Meinung von sechs Richtern dadurch seine von der Verfassung eingeräumte Kompetenz überschritten. Für aktivistisch werden auch einige Entscheidungen des Verfassungsgerichtes vom äußeren Diskurs gehalten. Als Illustration dient hier die Fachkritik des gerichtlichen Aktivismus bei der Abgrenzung einer Extension des Begriffes „Verfassungsordnung“, der sich im Art. 122 Abs. 1 und Art. 87 Abs. 1 Buchst. a), b) der Verfassung befindet, im Urteil des Verfassungsgerichtes Az. Pl. ÚS 36/01231. 230 Die angegebene Entscheidung begründete das Verfassungsgericht auf folgender Argumentation: „Der Richter eines ordentlichen Gerichtes ist beim Entscheiden durch das Gesetz gebunden und erörtert den Einklang einer anderen Rechtsvorschrift mit dem Gesetz. Kommt er jedoch zum Schluß, daß ein, bei der Lösung der Sache zu verwendendes Gesetz (also nicht nur ein derzeit gültiges, sondern auch ein derzeit nicht mehr gültiges, jedoch noch anwendbares Gesetz) im Widerspruch zum Verfassungsgesetz steht, ist er verpflichtet, die Sache dem Verfassungsgericht (Art. 95 Abs. 2) vorzulegen. Aus dieser Bestimmung leitete das Verfassungsgericht seine Pflicht, über den Vorschlag zu entscheiden ab. Sollte sich auch das Verfassungsgericht weigern, dem ordentlichen Gericht durch seinen Bescheid über die Verfassungskonformität oder Verfassungswidrigkeit des anwendbaren Gesetzes Hilfe zu leisten, entstünde eine nicht lösbare Situation eines künstlichen rechtlichen Vakuums . . . Sollte jedoch ein ordentliches Gericht selbst auf der Grundlage seiner eigenen Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der angewendeten Bestimmungen entscheiden, würde es im Widerspruch zur Verfassung handeln. Die Verfassung stützt sich auf Art. 83 und Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2, wo die Zugehörigkeit zu einer solchen Konzeption der Kontrolle der Verfassungskonformität ausgedrückt wird, die in einer einzigen Institution, d.h. im Verfassungsgericht konzentriert ist.“

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Eine interessante Frage, die zum Teil die Grenzen zwischen Aktivismus und Autolimitation eines Gerichtes, und zum Teil die Akzeptanz seiner Entscheidungen berührt, ist die Abgrenzung des Rahmens zum Verabschieden einer neuen gesetzlichen Regelung nach einem Derogationsurteil des Verfassungsgerichtes. In einer Reihe von Fällen respektierte der Gesetzgeber ohne weiteres den angegebenen Rahmen in der neuen gesetzlichen Regelung (z. B. in der Novellierung der Strafprozeßordnung, durchgeführt im Gesetz Nr. 152/1995 der Gesetzessammlung, ging es um die Grenzen, die durch Urteil Az. Pl. ÚS 4/94 in Sachen der Verfassungskonformität des Instituts eines anonymen Zeugen im Strafverfahren vom Verfassungsgericht gesetzt wurden), in einer Reihe von Sachen war es jedoch nicht der Fall (z. B., nach dem Erlassen des Urteils AZ. Pl. ÚS 53/2000 in Sachen der Finanzierung politischer Parteien durch die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 170/2001 der Gesetzessammlung, das mit Sicherheit durch die „Konsistenz“ seines Inhalts sowie die Promptheit seiner Verabschiedung in der tschechischen Legislative Geschichte machte232). In den Rahmen der durch äußeren Diskurs als aktivistisch gewerteten Entscheidungen kann auch eine Reihe von Beschlüssen auf dem Gebiet der Restitutionsjudikatur und auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts aufgenommen werden, und dies insbesondere beim Verfahren über Verfassungsbeschwerden. Ein interessanter Moment der Judikatur des Verfassungsgerichtes im Zusammenhang mit der Analyse des Aktivismus ist seine Skepsis, ob im Falle einer Ablehnung des Antrags auf Aufhebung einer Rechtsvorschrift aus Gründen der Existenz einer Alternative der verfassungskonformen Interpretation, eine solche Auslegung von Seiten der ordentlichen Justiz akzeptiert wird. In seiner abweichenden Meinung zum Urteil in der Sache Az. Pl. ÚS 15/98 bemerkte Richter Pavel Varvarˇovsky´ pessimistisch: „Das Verfassungsgericht sollte jedoch eine gewisse Grenze nicht übertreten, und diesen Weg in Fällen wählen, wo es ganz

231 Siehe die kritische Reflexion in Artikeln von Jan Filip, Zdene ˇ k Kühn und Jan Kysela (J. Filip, Fn. 168, S. 12 bis 15; Z. Kühn/J. Kysela, Fn. 168, S. 199 bis 214). Die Zuerkennung der Priorität einer subjektiven Auslegung zugleich mit wörtlicher linguistischer Darlegung des Artikels 112 Abs. 1 und Art. 87 Abs. 1 der Verfassung ist den beiden Aufsätzen gemeinsam. 232 Das angegebene Gesetz ist betitelt: Gesetz „über das staatliche Obligationsprogramm zur Abdeckung von Verpflichtungen, die sich aus dem Vertrag zwischen der Regierung der Tschechischen Republik, der Regierung der Slowakischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Beendigung der gegenseitigen Rechnungsbeziehungen in konvertiblen Rubeln und über den Ausgleich gegenseitiger Verpflichtungen und Forderungen, die als Saldo in konvertiblen Rubeln zugunsten der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, über die Änderung des Gesetzes Nr. 407/2000 Sb., über das staatliche Obligationsprogramm zur Teilabdekkung von Schäden landwirtschaftlicher Subjekte, die im Jahre 2000 durch Dürre heimgesucht wurden, und über die Änderung des Gesetzes Nr. 424/1991 Sb., über die Vereinigung in politischen Parteien und in politischen Bewegungen im Wortlaut späterer Vorschriften“.

III. Schlußfolgerungen

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offensichtlich ist, daß die ordentlichen Gerichte nicht bereit sein werden, eine solche Auslegung auf allgemeiner Ebene zu akzeptieren, und dies insbesondere aus dem Grunde, daß sie unter Berücksichtigung einer gewissen Trägheit ihrer Entscheidungsprozesse nicht fähig oder willens sein werden, über den eigentlichen Wortlaut des Gesetzes hinauszugehen.“ Die Skepsis bezüglich der Akzeptanz der in der Begründung des Urteils ausgedrückten verfassungskonformen Interpretation auf Seiten der ordentlichen Gerichte führte das Gericht in einigen Fällen zum Erlassen eines Derogationsspruchs in der gegebenen Sache. Beispiele sind das Urteil Az. Pl. ÚS 18/96 und das Urteil Az. Pl. ÚS 2/97, zu dem der Verfasser dieser Überlegungen in seinem Sondervotum bemerkte: „In der Sache des Antrags auf Aufhebung der Bestimmung des § 14 Abs. 1 Buchst. d), e) des Gesetzes über die Polizei der Tschechischen Republik geriet das Gericht zwischen die Scylla der Absonderung von zweierlei Auslegungen, wovon eine verfassungskonform und die andere verfassungswidrig war, und die Charibda der Ablehnung einer offensichtlich verfassungskonformen Interpretationsalternative, zu der man durch übliches Interpretationsherantreten gelangen kann . . . Im Urteil des Verfassungsgerichtes und in dessen Begründung, gegen die die abweichende Meinung gerichtet ist (und dies auch anknüpfend an das Urteil in der Sache AZ. Pl. ÚS 18/96, durch das nach einer Serie von Urteilen, die Entscheidungen ordentlicher Gerichte aus Gründen der nicht verfassungskonformen Interpretation von § 250f der Zivilprozeßordnung aufgehoben hatten, das Verfassungsgericht über eine Aufhebung entschied), sehe ich einen Ausdruck der Skepsis bezüglich der Bereitwilligkeit ordentlicher Gerichte, bei der Anwendung von Rechtsvorschriften nach Fragen ihrer verfassungskonformen Interpretation und deren Lösungen zu suchen sowie die Verfassung als eine unmittelbare Rechtsquelle zu verstehen, die auch Auslegungsgrundsätze abstrakter und des Öfteren unbestimmter, manchmal nicht ganz exakt formulierter Rechtsbestimmungen enthält.“233 Auf mangelnde Konsequenz des Vorgehens des Verfassungsgerichtes bei der Anwendung des Prinzips der Priorität einer verfassungskonformen Interpretation vor der Derogation macht auch Vojteˇ ch Šimícˇ ek aufmerksam, und dies in Verbindung mit der Schlussfolgerung, nach der „ein Schlüsselproblem sowie ein praktisches Problem, das eng mit dem Gedanken der verfassungskonformen Interpretation verbunden ist, in der Bindungswirkung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes beruht“.234 Entschied das Verfassungsgericht in seiner ersten Dekade aktivistisch in Restitutionssachen, geführt durch eine gerechtigkeitsorientierte Argumentation in 233 Detaillierter zur Frage der Verbindlichkeit der Entscheidungen des Verfassungsgerichtes für die ordentlichen Gerichte siehe P. Holländer, Fn. 99, S. 537–552; Z. Kühn, Fn. 99, S. 866. 234 V. Šimíc ˇek, Fn. 92, S. 1088–1089, 1091.

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F. Zusammenbruch des „Richterstaats‘‘: Count-down läuft?

Konfrontation mit der Fülle von Unrecht in der Zeit vor November 1989, trat es ähnlich auch an verwaltungsrechtliche Sachen heran, gezwungen durch die Nichtexistenz des Obersten Verwaltungsgerichtes und durch die materielle Unerläßlichkeit, die Gerichtsjudikatur zu harmonisieren, – kann dieser Aktivismus mit einer negativen Konnotation verbunden werden? Trat das Verfassungsgericht hingegen aktivistisch hervor (und zwar durch Erlaß der Derogationsurteile), hat es das Maß der Akzeptanz seiner Auslegungsurteile von der äußeren Umwelt skeptisch bewertet, kann wiederum dieser Aktivismus mit einer negativen Konnotation verbunden werden? Die angegebenen Überlegungen führen mich zum Formulieren der folgenden These: Die Begriffe des richterlichen Aktivismus und der richterlichen Autolimitation können ohne weiteres weder mit einer positiven, noch einer negativen Konnotation verbunden werden. Lediglich die Kenntnis des Kontextes einer gegebenen Sache macht es möglich, einen solchen Schluß zu ziehen. Die quantitative, institutionelle und kompetenzbezogene Expansion der Entscheidungsaktivität der Gerichte wandelt die Gerichte in industrielle Entscheidungsbetriebe um. Industrielle, zur Zeit des Öfteren auch virtuell postmoderne Fabriken, gekennzeichnet durch die Akzentuierung formeller Aspekte der Prozedur, durch die Schriftlichkeit des Verfahrens, die Legitimität mittels Bezugnahme auf eine Autorität (gegeben durch eine Bestimmung des geschriebenen Rechtes)235, statt einer Bezugnahme auf allgemein geteilte Werte. Die Spannung zwischen zeitgebundenen Paradigmen des Verhaltens und den Externalitäten ist durch keine einfachen Rezepte lösbar. Erst eine weitere Steigerung der Intensität dieser Spannung und die praktische Erfahrung, daß das wiederkehrende Versagen des Systems mit keinen Werkzeugen zu beseitigen ist, die auf bisher geltenden Paradigmen beruhen, kann einen ausreichenden, zur Änderung führenden Impuls bringen. Eine solche Verschiebung könnte vielleicht mit der Artikulierung anderer Grundwerte verbunden werden, als der Werte der Wirtschaftlichkeit und Geschwindigkeit, die, obschon bedeutend, immerhin nur abgeleitete Werte darstellen. Was ich für grundsätzlich halte, das sind die Werte der Demassifikation, der persönlichen Kommunikation, und inhaltlich dann die der Gerechtigkeit, Rationalität und Rechtssicherheit. In der Projizierung in das System der Gerichtsbarkeit ergibt sich daraus als Folge die Notwendigkeit, die Stellung der rechtsfindenden Gerichte zu stärken sowie das Paradigma der gerichtlichen Entscheidung in einer Instanz, das Paradigma der Außerordentlichkeit einer Überprüfung und in diesem Rahmen auch die Außerordentlichkeit der

235 Zur Frage der Begründung gerichtlicher Entscheidungen siehe H. Hattenhauer, Zur Theorie und Praxis der Rezeption richterlicher Entscheidungsgründe. In: Wirkungsforschung zum Recht III. Hrsg. H. Hof/M. Schulte, Baden-Baden 2001, S. 25– 32; U. Kischel, Die Begründung. Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger. Tübingen 2003; Z. Kühn, Fn. 223, S. 340 ff.

III. Schlußfolgerungen

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Kassation, um die krebsartige Aufblähung des Prozeßrechtes einzuschränken, und sowohl im materiellen Recht, als auch in verfahrensrechtlichen Fragen das teleologische Denken in der Rechtsanwendung zu akzentuieren, also die Notwendigkeit der Suche nach dem Sinn und Zweck der angewendeten Normen, das Legitimieren gerichtlicher Entscheidungen nicht nur durch Bezugnahme auf eine Autorität (Gesetzesbestimmung), sondern auch durch ihren Zweck und Wert.

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