Verfassungsänderungen: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15. bis 17. März 2010 [1 ed.] 9783428536870, 9783428136872

"Verfassungsänderungen" ist ein vielschichtiger Begriff. Er verweist unter anderem darauf, dass "Verfassu

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Verfassungsänderungen: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15. bis 17. März 2010 [1 ed.]
 9783428536870, 9783428136872

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Beiheft 20

Verfassungsänderungen

Verfassungsänderungen

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger (†), Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch (†), Barbara Stollberg-Rilinger, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl

Heft 20

Verfassungsänderungen Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15. bis 17. März 2010

Für die Vereinigung herausgegeben von

Helmut Neuhaus

Duncker & Humblot · Berlin

Redaktion: Helmut Neuhaus, Erlangen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-13687-2 (Print) ISBN 978-3-428-53687-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83687-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung Zum 15. Mal erscheint die Dokumentation der seit 1977 – in der Regel alle zwei Jahre – veranstalteten Tagungen der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in der Reihe der Beihefte der Zeitschrift DER STAAT; nur die Vorträge und Aussprachen der Jahre 1985 und 2003 gelangten aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Druck. Vorliegender Band geht auf das vom 15. bis 17. März 2010 wiederum in der Evangelischen Akademie Hofgeismar veranstaltete Symposion zum Thema „Verfassungsänderungen“ zurück und enthält sämtliche dort gehaltenen Vorträge, die die Autoren für den Druck überarbeitet und mit Fußnoten versehen haben. Abgedruckt werden auch wieder die Aussprachen zu den einzelnen Vorträgen. Eine Schlußdiskussion konnte – und mußte aus Zeitgründen – entfallen, da viele zusammenfassende und weiterführende Gedanken in den Debatten zu den einzelnen Vorträgen zur Sprache gekommen waren. Ich danke den Autoren für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes sowie Herrn Daniel Stanin, Erlangen, für seine Mithilfe bei den redaktionellen Arbeiten zur Herstellung von Druckfassungen der mitgeschnittenen Diskussionen. Den Herausgebern von DER STAAT ist einmal mehr für die Aufnahme der Dokumentationen der Tagungen der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in ihre Beihefte-Reihe vielmals Dank zu sagen. Dieses Beiheft erscheint in dankbarer Erinnerung an Helmut Quaritsch, den Mitbegründer und ersten Vorsitzenden des Vorstandes der Vereinigung für Verfassungsgeschichte von 1977 bis 1981, der am 19. August 2011 in Speyer verstorben ist. Erlangen, im September 2011

Helmut Neuhaus

Inhaltsverzeichnis Franz-Reiner Erkens Teilung und Einheit, Wahlkönigtum und Erbmonarchie: Vom Wandel gelebter Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Maximilian Lanzinner Recht, Konsens, Traditionsbildung. Die Goldene Bulle im Verfassungsleben des Alten Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werner Frotscher Ringen um den Verfassungsstaat. Verfassungsänderungen in der Zeit des Deutschen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Reimund Schmidt-De Caluwe „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung.“ Änderungen des Reichsverfassungsrechts zwischen 1871 und 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Christoph Gusy Demokratische Verfassungsänderung – Selbstschutz oder Selbstpreisgabe der Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Wilhelm Brauneder Verfassungsänderungen als Systemwechsel: Österreich 1848 – 1938 . . . . . . . . . . . . 195 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Thomas Nicklas Konstitutionelle Metamorphosen. Verfassungsänderung und Systemstabilisierung in den fünf französischen Republiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Rolf-Ulrich Kunze War die DDR ein Verfassungsstaat? Aspekte der Verfassungsentwicklung 1949 – 1968 – 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Würtenberger Verfassungsänderungen und Verfassungswandel des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . 287 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Teilung und Einheit, Wahlkönigtum und Erbmonarchie: Vom Wandel gelebter Normen Von Franz-Reiner Erkens, Passau

Heribert Müller zum 16. März 2011

Wer sich mit einer ungeschriebenen Verfassung beschäftigt, hat es in mancher Hinsicht leichter als derjenige, der es mit aufgezeichneten Verfassungsnormen zu tun hat, muss er doch nicht ein oft polyphones Schrifttum theoretischer oder juristischer Natur durcharbeiten oder der Kluft zwischen dem Normensystem und der Verfassungswirklichkeit, zwischen ideellem Anspruch und praktischer Ausgestaltung nachsinnen. Er hat es aber auch schwerer, denn er muss die Verfassungsvorstellungen erst aus der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens bergen, was für quellenarme Zeiten, wie sie etwa im Mittelalter über weite Strecken herrschten, nicht nur äußerst mühsam sein kann, sondern zugleich auch mehrfach mit der Gefahr einer interpretatorischen Verirrung behaftet ist – denn: Weder die zu befragenden Quellen sind in ihren Aussagen immer eindeutig noch ist es die aus ihnen herauszuschälende ‚Wirklichkeit‘, die ja nur ein Konstrukt des Historikers1 sein kann und zudem nur schwer mit modernen Begriffen angemessen zu erfassen ist.2 Noch schwieriger zu greifen ist natürlich der Wandel einer ungeschriebenen Verfassung, die nicht als Konstitution, sondern allein als konkrete Beschaffenheit einer politischen und sozialen Ordnung begriffen werden kann. Wird ein solcher Wandel nämlich festgestellt, könnte es sich ja lediglich und allein um die Wandlung jenes Bildes handeln, das man sich zuvor von den Verfassungsverhältnissen machte, und nicht um deren tat1 Vgl. dazu etwa Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (= Beiträge zur Geschichtskultur 13), Köln 1997. 2 Vgl. dazu schon Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 51967, sowie allgemein das von diesem und von Werner Conze sowie Reinhart Koselleck herausgegebene „Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“: Geschichtliche Grundbegriffe, 6 Bde., Stuttgart 1972 – 1990, und aus diesem die (für die weiteren Ausführungen benutzten) Artikel: Reich (von Peter Moraw), Bd. 5, S. 423 – 456; Verfassung I (von Heinz Mohnhaupt), Bd. 6, S. 831 – 862; Verfassung II (von Dieter Grimm), Bd. 6, S. 863 – 899).

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sächliche Veränderung. Da sich gerade in den letzten Jahrzehnten unsere Vorstellungen vom Mittelalter insgesamt und im Besonderen von der Ordnung der gesellschaftlichen Zustände stark gewandelt haben, drängt sich natürlich die Frage auf, wie es nach diesem Veränderungsprozess, der in starkem Maße einen Perspektivenwechsel zur Folge hatte, um das Verständnis vom Wandel der Verfasstheit des mittelalterlichen Herrschafts- und Gesellschaftssystems steht. Dieser Perspektivenwechsel erbrachte nämlich nicht nur eine spürbare Weitung des historischen Blickfeldes, indem etwa die Alltagsgeschichte, die Geschlechtergeschichte oder die Mentalitätsgeschichte ein stärkeres Interesse fanden3, sondern er bewirkte auch eine Lösung gerade der Mediävistik von einer starken Orientierung an einer auf die Rechtssystematik ausgerichteten Verfassungsgeschichte.4 Zugespitzt formuliert wird nunmehr nicht mehr versucht5, das von den Zeitgenossen vermeintlich Versäumte nachzuholen und ein vergangenes Rechtssystem einwandfrei und in schriftlicher Form zu erfassen; und auch die Defizite dieses Systems im Vergleich zu dem in der Moderne erreichten Entwicklungsstand interessieren heute kaum noch. Vielmehr wird mittlerweile stärker versucht, die mittelalterliche Herr3 Vgl. dazu etwa Franz-Reiner Erkens, Moderne und Mittelalter, oder Von der Relevanz des praktisch Untauglichen. Ein Plädoyer für das historische Interesse an älteren Epochen, in: ders. (Hrsg.), Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung IV 2), Berlin 1999, S. 95 – 122, besonders S. 99, sowie allgemein Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik – Methoden und Inhalte heutiger Mittelalterforschung, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 273 – 286, und ders., Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999 (besonders den zweiten Teil: „Neue Ansätze, Themen und Methoden der Mediävistik“). 4 Vgl. dazu bereits Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Hellmut Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 2), Darmstadt 1956, S. 1 – 19 [veränderte Fassung eines erstmals 1939 in MIÖG Erg.Bd. 14 (= Festschrift für Hans Hirsch), S. 513 – 528, erschienenen Beitrags], sowie Karl Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31. März 1982 (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 6), Berlin 1983, S. 47 – 77, besonders S. 47 – 58, und Otto Gerhard Oexle, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 30), Frankfurt am Main 1987, S. 77 – 107, aber auch die in Anm. 3 verzeichnete Literatur. 5 Vgl. Bernd Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: ZfG 53 (2005), S. 485 – 500. Allerdings zeigt auf mehr als zwölfhundert Seiten das Buch von Ernst Pitz, Verfassungslehre und Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 75), Berlin 2006, trotz eines eigentümlichen und eigenwilligen Bestrebens nach einem aggiornamento der Verfassungsgeschichtsschreibung, dass die traditionelle deutsche Verfassungslehre auch nach der zweiten Jahrtausendwende noch nicht völlig erloschen gewesen ist.

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schaftspraxis und staatliche Organisationsform aus den Bedingungen, Möglichkeiten und vor allem Erwartungshorizonten der jeweils eigenen Zeit heraus zu begreifen. Dabei ist sogar die Existenz des Staates zumindest für das frühere Mittelalter6 und besonders publikumswirksam für die ottonische Zeit7 in Frage gestellt worden, was vielleicht als übertrieben erscheinen mag, aber insofern berechtigt ist, als sich der Staatsbegriff8 des 19. und 20. Jahrhunderts stark von dem der mittelalterlichen Epochen unterscheidet und man daher nicht mehr ohne gehörige Einschränkungen vom „frühmittelalterlichen Staat“ oder vom „Staat des hohen Mittelalters“9 sprechen 6 Vgl. dazu wie zum Folgenden Jörg Jarnut, Anmerkungen zum Staat des frühen Mittelalters: Die Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, in: Dieter Hägermann / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und Frühmittelalter (= Ergänzungsbde. zum RGA 41), Berlin / New York 2004, S. 504 – 509 (und die dort auf S. 508 verzeichnete Literatur), sowie – auch zu dem in der folgenden Anmerkung genannten Titel – August Nitschke, Karolinger und Ottonen. Von der „karolingischen Staatlichkeit“ zur „Königsherrschaft ohne Staat“?, in: HZ 273 (2001), S. 1 – 29, und neuestens Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (= Mittelalter-Forschungen, Bd. 25), Ostfildern 2009, S. 535 ff. 7 Vgl. etwa den Untertitel des Buches von Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000, ²2005. 8 Zu diesem vgl. den von mehreren Verfassern stammenden Artikel ‚Staat und Souveränität‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 1 – 154, besonders S. 25 – 77, und den ebenfalls von mehreren Verfassern geschriebenen Artikel „Staat“, in: Staatslexikon, Bd. 5 (1989), S. 133 – 170, besonders S. 134 – 143. 9 Vgl. den Titel des berühmten Buches von Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, Darmstadt 91974 [erstmals Weimar 1940], oder die jüngeren Publikationen von Stuart Airlie / Walter Pohl / Helmut Reimitz (Hrsg.), Staat im frühen Mittelalter (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl., Denkschriften 334; = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 11), Wien 2006 [und darin besonders die Überlegungen zum Staatsbegriff von Walter Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter: Überlegungen zum Forschungsstand, S. 9 – 38, hier S. 9 – 16; HansWerner Goetz, Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, S. 39 – 58, hier S. 39 ff., und Patrick Wormald, ‚State‘ and ‚Nation‘: definite or indefinite?, S. 179 – 189], und besonders von Walter Pohl / Veronika Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl., Denkschriften 386; = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 16), Wien 2009, sowie die Kontroverse zwischen Georg von Below (Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte I. Die allgemeinen Fragen, Leipzig ²1925 [¹1914]) und Otto von Gierke (Das deutsche Genossenschaftsrecht 1. Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, 2. Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriff, 3. Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, 4. Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Durchgeführt bis zur Mitte des siebzehnten, für das Naturrecht bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1868 – 1913 [zu dessen Staatsvorstellung vgl. Pitz, Verfassungslehre (FN 5), S. 31 – 33]); vgl. darüber hinaus (auch zum Folgenden) Roman Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, Bd. 20), Ostfildern 2006, S. 398 f.

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sollte. Dass die von Königen beherrschten, in starkem Maße als Personenverbände10 strukturierten und vom Adel und seinem Rangdenken und Machtstreben beeinflussten Reiche aber auch Staatswesen waren, das versteht sich wohl von selbst. Das nach modernem Verständnis Unstaatliche an dieser politischen Organisationsform zeigt sich etwa am Fehlen eines staatlichen oder auch nur herrscherlichen Gewaltmonopols und – daraus resultierend – an der prinzipiellen Legitimität der Fehde11, es zeigt sich an den autogenen Herrschaftsrechten des Adels12 und des aus diesen abgeleiteten Anspruchs der Großen auf Beteiligung an den politischen Geschäften des Herrschers, mithin auf Teilhabe13 am Reich, die der König gewähren musste, wollte er nicht Unruhe und Konflikt provozieren14, an der feudalen Herrschaftsordnung15 und dem Lehnswesen als einem wesentlichen Element dieses Ordnungsprinzips16, an der vom adligen Rangdenken17 geprägten Sozialordnung, in 10 Vgl. etwa Theoder Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, in: Hellmut Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 2), Darmstadt 1956, S. 289 – 331 [erstmals 1939, in: HZ 159, S. 457 – 487], und ders., Der Staat der Herzoge von Zähringen, in: ders., Mittelalterliche Studien, Lindau 1959, S. 350 – 364 [erstmals 1935 (Freiburger Universitätsreden, Bd. 20)]. 11 Zu dieser vgl. Brunner, Land und Herrschaft (FN 2), Kap. 1; Elsbeth Orth, Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter. Fehderecht und Fehdepraxis im 14. und 15. Jahrhundert (= Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 6), Wiesbaden 1973, und Christine Reinle, Bauernfehden. Studien zur Fehdeführung Nichtadeliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, besonders in den bayerischen Herzogtümern (= VSWG, Beihefte 170), Wiesbaden 2003. 12 Vgl. dazu Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems (= Mittelalter-Forschungen, Bd. 17), Ostfildern 2005 (S. 692 unter dem Stichwort ‚autogene Herrschaftsrechte‘), und ders., Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 72), München 2004. 13 Vgl. dazu Heinrich Mitteis, Land und Herrschaft. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch Otto Brunners, in: HZ 163 (1941), S. 255 – 281 und S. 471 – 489, besonders S. 280, sowie Theodor Mayer, Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters, Weimar 1950, S. 219 f. 14 Vgl. dazu etwa Franz-Reiner Erkens, Fürstliche Opposition in ottonisch-salischer Zeit. Überlegungen zum Problem der Krise des frühmittelalterlichen deutschen Reiches, in: AKG 64 (1982), S. 307 – 370, besonders S. 315 – 338. 15 Vgl. dazu Otto Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Göttingen ²1970, S. 84 – 119 [erstmals 1929], sowie Otto Brunner, Feudalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2 (1975), S. 337 – 350, und Heide Wunder (Hrsg.), Feudalismus. Zehn Aufsätze (= Nymphenburger Texte zur Wissenschaft, Bd. 17), München 1974. 16 Vgl. als Zusammenfassung der traditionellen Lehre Egon Boshof, Lehnswesen, in: TRE 20 (1990), S. 602 – 608, neuere Tendenzen finden sich bei Susan Reynolds, Fiefs and Vassals: the Medieval Evidence Reinterpretated, Oxford 1994 (dazu vgl. Johannes Fried, in: Bulletin of the German Historical Institute London 19 [1997], S. 28 – 41, und Klaus-Peter Matschke, Feudalismus ade? Ein Byzantinist liest S. Rey-

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welcher der König freilich – zumindest der Idee nach – niemals nur ‚primus inter pares‘ unter den Fürsten gewesen ist18, sondern aus der er vor allem durch eine besondere, nicht zuletzt in religiösen Vorstellungen wurzelnde Autorität herausragte19, und es zeigt sich schließlich auch an der Art und Weise von Herrschaftsrepräsentation und Herrschaftspraxis, für die Zeichen und Gesten eine von der älteren Geschichtsforschung stark unterschätzte Bedeutung besaßen, stellten sie doch eine den Herrschaftsverband strukturierende, verbindende und abbildende Kommunikation durch Gesten und Symbole dar20, die – für den Uneingeweihten leicht irreführend – meist als „symbolische Kommunikation“ bezeichnet wird, deren Erforschung jedoch zweifellos von höchster Bedeutung ist und mittlerweile in eine ausufernde

nolds, in: Rechtshistorisches Journal 14 [1995], S. 87 – 92) sowie dies., Afterthoughts on „Fiefs and Vasalls“, in: The Haskins Society Journal 9 (2001), S. 1 – 15, und bei Roman Deutinger, Seit wann gibt es die Mehrfachvasallität?, in: ZRG GA 119 (2002), S. 78 – 105, aber auch bei Karl-Heinz Spiess, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter, Stuttgart ²2009 (besonders S. 17 – 22), sowie neuestens bei Brigitte Kasten, Das Lehnswesen – Fakt oder Fiktion, in: Pohl / Wieser (Hrsg), Der frühmittelalterliche Staat (FN 9), S. 331 – 353 (vgl. hier besonders die Sichtung des Forschungsstandes S. 331 – 335). 17 Vgl. dazu etwa Karl-Heinz Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum (= Residenzenforschung, Bd. 6), Sigmaringen 1997, S. 39 – 61, und Hans-Werner Goetz, Der „rechte Sitz“. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im Hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Gertrud Blaschitz [u. a.] (Hrsg.), Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel zum 65. Geb., Graz 1992, S. 11 – 47. 18 Vgl. dazu jetzt Hagen Keller, in: ders. / Gerd Althoff, Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen. 888 – 1024 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 3), Stuttgart 2008, S. 147. 19 Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006. 20 Vgl. dazu etwa Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: FmaSt 31 (1997), S. 370 – 389 (besonders S. 373 zur Definition des Begriffs ‚symbolische Kommunikation‘); ders. / Ludwig Siep, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution. Der neue Münsterer Sonderforschungsbereich 496, in: FmaSt 34 (2000), S. 393 – 412; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003 (dazu Hanna Vollrath, Haben Rituale Macht? Anmerkungen zu dem Buch von Gerd Althoff: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, in: HZ 284 [2007], S. 385 – 400); ders., Rituale als ordnungsstiftende Instrumente, in: Pohl / Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat (FN 9), S. 391 – 398 (wo auf Kritik – vgl. die folgende FN – des Interpretationsansatzes eingegangen wird), und Barbara Stollberg-Rilinger, Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?, in: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233 – 246, besonders S. 239; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489 – 527 (etwa S. 500: „Kommunikation mittels Symbolen“).

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Beschäftigung mit Ritualen21 einmündete. Da die genannten Aspekte und noch einige andere mehr heute stark berücksichtigt werden bei der Betrachtung der mittelalterlichen Verfassungszustände, ist der perspektivisch einengende und von problematischen Prämissen ausgehende herkömmliche Deutungszugang der deutschen Verfassungsgeschichte zur mittelalterlichen Geschichte zunehmend ersetzt worden durch eine Betrachtung der Geschichte der politischen Ordnungen in europäischem Rahmen.22 Dieser Perspektivenwechsel bewirkte eine Lösung von gewohnten Deutungsmustern der deutschen Geschichtswissenschaft. Vor allem wurde die Germanenlastigkeit mancher historischen Interpretation aufgegeben: Auf die Vorstellung von einer besonderen germanischen Treue musste ebenso verzichtet werden23 wie auf diejenige von den deutschen Stämmen, die nach traditioneller Ansicht ein gleichsam überzeitliches Deutschtum verkörpert und sich im 10. Jahrhundert das staatliche Gehäuse eines eigenen Reiches geschaffen haben sollen.24 Das häufig angeführte ‚germanische Sakralkönigtum‘ erwies sich darüber hinaus ebenfalls als ein Trugbild der Forschung25; und die Idee einer germanisch-romanischen Kultursynthese muss insofern modifiziert werden, als es immer deutlicher wird, dass bei dem zweifellos nicht wegzudisputierenden Verschmelzungsprozess, der mit der germanischen Landnahme auf dem Boden des Imperium Romanum einsetzte, römische Elemente wesentlich stärker nachwirkten als germanische Komponenten – etwa bei der Entwicklung der frühmittelalterlichen Grundherrschaft26 (deren im Agrarsektor dominante Existenz in klassisch-zwei-

21 Vgl. dazu und auch zu einer Kritik, die auf die Grenzen dieses Forschungsansatzes hinweist, Thomas Ertl, Von der Entsakralisierung zur Entpolitisierung ist es nur ein kleiner Schritt. Gedanken zur Rolle des Politischen und Rituellen anlässlich einer neueren Arbeit zum ottonischen Königtum, in: ZfG 52 (2004), S. 297 – 317, besonders S. 303 ff., und Philipp Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Pinceton 2001; ders., Ritual and Interpretation: the Early Medieval Case, in: Early Medieval Europe 9 (2000), S. 183 – 210; Pohl, Staat und Herrschaft (FN 9), S. 18 – 24; Peter Dinzelbacher, „Warum weint der König?“ Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009, S. 11 – 78, sowie – zwischen den Positionen vermittelnd – Patzold, Episcopus (FN 6), S. 527 – 532. 22 Vgl. FN 5. 23 Vgl. František Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243 (1986), S. 529 – 589, und allgemein Kroeschell, Verfassungsgeschichte (FN 4), S. 55 f. 24 Vgl. dazu Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln ²1995; Joachim Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 31), München ²1998; Franz-Reiner Erkens, Einheit und Unteilbarkeit. Bemerkungen zu einem vielerörterten Problem der frühmittelalterlichen Geschichte, in: AKG 80 (1998), S. 269 –295. 25 Vgl. Erkens, Herrschersakralität (FN 19), Kap. II 6, und den Artikel ‚Sakralkönigtum‘ im RGA 26 (2004), S. 179-320. 26 Vgl. Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter (FN 12), S. 135 – 138, sowie Werner Rösener, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 13), München 2000, S. 7 ff.,

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geteilter Form seit einiger Zeit sogar für den rechtsrheinischen Raum des Reiches in Frage gestellt wird27) oder bei der Formung einer die europäischen Monarchien prägenden Ideenwelt vom sakralen Königtum28, aber auch im Bereich der Rechtsvorstellungen.29 Ja, mittlerweile ist es sogar mehr als zweifelhaft, ob es ein einheitliches, alle (als germanisch betrachteten) Stämme überwölbendes Germanentum überhaupt gegeben hat30, weswegen vereinzelt auch gefordert worden ist, für ethnische und politische Verbände auf die Bezeichnung ‚germanisch‘ zu verzichten.31 Will man vor dem Hintergrund solcher Feststellungen die Frage nach dem Verfassungswandel im Mittelalter aufgreifen, und zwar nach einem Wandel der großen Zusammenhänge und nicht des alltäglichen aggiornamento, wie er in einer von gelebten Normen geprägten Gesellschaft natürlich permanent vorkommen kann, dann eröffnet sich für dieses Unterfangen ein weites Feld, und J. Müller / H.-G. Hermann, Grundherrschaft, in: RGA 13 (1999), S. 112 – 118, besonders S. 133 ff. Wie sehr die Vorstellungen über eine romanisch-germanische Kultursynthese im Agrarbereich in Fluß geraten sind, zeigen etwa die Beiträge von Joachim Henning (Germanisch-romanische Agrarkontinuität und -diskontinuität im nordalpinen Kontinentaleuropa – Teile eines Systemwandels? Beobachtungen aus archäologischer Sicht) und Dieter Hägermann (Wandel in Technik und Gesellschaft: Neuansatz und Verlust, Angleichung und Transformation im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter) in dem in FN 6 verzeichneten Band „Akkulturation“ (S. 396 – 435 und S. 491 – 503). Zum Problem der germanisch-romanischen Synthese vgl. auch Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter I. Stammesverband, Gefolgschaft, Lehnswesen, Grundherrschaft, Stuttgart ²1990, S. 99 – 106. 27 Vgl. Ludolf Kuchenbuch, Abschied von der „Grundherrschaft“. Ein Prüfgang durch das ostfränkisch-deutsche Reich 950 – 1050, in: ZRG GA 121 (2004), S. 1 – 99. 28 Vgl. dazu Joachim Ehlers, Grundlagen der europäischen Monarchie in Spätantike und Mittelalter, in: MAJESTAS 8 / 9 (2000 / 01), S. 49 – 80, und Erkens, Herrschersakralität (FN 19), S. 86 ff. 29 Vgl. etwa Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I: Bis 1250, Köln ¹³2008, S. 19 f. und S. 64 ff., sowie ders., Verfassungsgeschichte (FN 4), S. 64 mit Anm. 97, oder auch Jürgen Hannig, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 27), Stuttgart 1972, S. 299 f., sowie Stefan Esders, Rechtliche Grundlagen frühmittelalterlicher Staatlichkeit: der allgemeine Treueid, in: Pohl / Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat (FN 9), S. 423 – 432, und – für einen speziellen Fall in einem besonderen Raum – ders., Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des MPI für Geschichte, Bd. 134), Göttingen 1997. 30 Vgl. dazu die Diskussion der Literatur bei Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit (= Ergänzungsbände zum RGA, Bd. 80), Berlin / New York 2008, S. 17 – 25, sowie Walter Pohl, Die Germanen (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 57), München ²2004. 31 Vgl. Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffs der Frühmittelalterforschung, in: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters (= Österreichische Akad. d. Wiss., Philos.-Hist. Kl., Denkschriften 322; = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 8), Wien 2004, S. 107 – 113.

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das dringend der Einfriedung bedarf, weswegen im Folgenden nur wenige Aspekte aus diesem Bereich aufgegriffen und beleuchtet werden sollen – Aspekte freilich, die eine gewisse Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen, da sie Königtum und Reich betreffen, also zentral sind, immer beachtet wurden und auch leidlich greifbar sind: Gemeint ist die Entwicklung der zentraleuropäischen Staatsgebilde des frühen Mittelalters hin zu unteilbaren Königreichen und das sich mit dieser Entwicklung verknüpfende Problem einer Regelung der Thronfolge. Im fränkischen Reich, das in Zentraleuropa über gut vierhundert Jahre hinweg die dominierende Herrschaftsformation gewesen ist und in seiner größten Ausdehnung von der Eider bis zum Ebro, von der Biskaya bis zur Saale und von der Nordsee bis in den Mezzogiorno hinein reichte, in diesem lange Zeit wachsenden Herrschaftsraum galt spätestens seit der Herausbildung des Großreichs unter Chlodwig I. († 511) die Teilungspraxis bei der Thronfolge.32 Das war nicht, wie behauptet worden ist33, ein gemeingermanischer Brauch, sondern eine fränkische Besonderheit34, für die sicherlich einerseits die Größe des Reiches eine gewisse Voraussetzung bildete und bei der andererseits die Vorstellung vom regnum als einem erblichen Besitz der Königsfamilie35 wirksam geworden ist. Die traditionelle Ansicht, nach der diese paternalistische Auffassung vom Königtum vor allem begründet worden sei durch die Vorstellung von einem heidnische Wurzeln besitzenden Königsheil, das allen Mitgliedern der Herrscherdynastie inhärent gewesen 32 Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Divisio legitima und unitas imperii. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, in: DA 52 (1996), S. 423 – 485, besonders S. 428 f. 33 Hans-Walter Klewitz, Germanisches Erbe im fränkischen und deutschen Königtum, in: ders., Ausgewählte Aufsätze zur Kirchen- und Geistesgeschichte des Mittelalters, Aalen 1971, S. 55 – 70 [erstmals 1941, in: Welt als Geschichte 7, S. 201 – 216]. 34 Vgl. Erkens, Divisio legitima (FN 32), S. 423 f. Die von Sören Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht (= Schriften zur Mediävistik, Bd. 7), Hamburg 2006, S. 11 f., angeführten Beispiele von Reichs- oder Herrschaftsteilungen sprechen nicht gegen diese Feststellung, da gelegentliche Samtherrschaften und Herrschaftsteilungen noch kein allgemeines Prinzip begründen; außerdem sollten mit Blick auf die fränkische Praxis nur vergleichbare Königreiche zum Vergleich herangezogen werden, dann zeigt sich nämlich, dass die Thronfolge weder im Ost- und Westgotenreich noch im Vandalenoder Langobardenreich einem Teilungsprinzip unterworfen war, und auch die angelsächsische Thronfolge kann kaum vom Teilungsgedanken her beschrieben werden. 35 Vgl. Reinhard Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 3), Stuttgart 1972, S. 250 f. Matthias Becher, Dynastie, Thronfolge und Staatsverständnis im Frankenreich, in: Pohl / Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat (FN 9), S. 183 – 199, betont hingegen – etwa auf S. 198 – „dass nicht die Dynastie die Art der Thronfolge vorgab, sondern das Volk bzw. der Adel großen Einfluß nahm und die Dynastie gewissermaßen formte“, ohne dabei allerdings darüber Auskunft zu geben, inwieweit dieses auf die Teilungspraxis bezogene Urteil auch auf den Erbgang selbst zu beziehen ist.

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sein soll36, ist freilich in dem Maße zweifelhaft geworden, in dem sich die Idee von einem gemeingermanischen Sakralkönigtum als eine Chimäre der Forschung erwies37; doch ist nicht auszuschließen, dass stattdessen neben den Herrschaftserfolgen der frühen Merowinger die Verchristlichung der Königsidee, durch welche Chlodwig und seine Nachkommen zu Erwählten und irdischen Sachwaltern Gottes wurden, nicht nur eine herrschaftslegitimierende und -stabilisierende, sondern auch den Erbgedanken fördernde Wirksamkeit entfaltete. Wenn bei dem Übergang der Herrschaft vom Vater auf den Sohn auch Konsenshandlungen nötig gewesen sein werden38, so ist an dem Erbcharakter des merowingischen Königtums doch nicht zu zweifeln. Dieser manifestiert sich nicht nur in dem Umstand, dass nach Chlodwigs Tod rund ein Vierteljahrtausend lang nur Merowinger auf dem Thron saßen, sondern noch mehr in der Tatsache, dass allein Merowinger eine Chance hatten, Könige zu werden: Usurpatoren erklärten sich daher zu Mitgliedern der Königsfamilie39 oder griffen, wie der Pippinide Grimoald in der Mitte des 7. Jahrhunderts, zum Mittel der Ansippung durch Adoption40 und blieben trotzdem immer ohne Erfolg. Selbst in der rund hundert Jahre währenden Schwächephase der merowingischen Dynastie, an deren Ende der Aufstieg der Karolinger zum Königtum stand, ist das merowingische Thronrecht offenbar nicht prinzipiell in Frage gestellt gewesen. Mitbewirkt haben dürften adlige Interessen diese Konstanz einer schließlich geschwächten und am Ende nur noch schemenhaften Herrschaft der Merowinger, von denen Gregor von Tours gegen Ende des 6. Jahrhunderts behauptete, dass aus deren Geschlecht alle Könige der Franken stammten41, was zwar nicht nachprüfbar ist, aber für die nachchlodwigische Zeit die unbestrittene Erblichkeit der Königswürde in der Merowingerfamilie zusätzlich bezeugt. Die Karolinger hatten bereits als Hausmeier die merowingische Tradition der Herrschaftsteilung bei der Nachfolge und damit auch den Erbgedanken 36

Vgl. dazu ebd., S. 431 ff. (und die dort verzeichnete Literatur). Vgl. dazu FN 25 sowie (wie auch zum Folgenden) Erkens, Herrschersakralität (FN 19), Kap. II 6 und 7 sowie S. 105 – 109. 38 Vgl. Schneider, Königswahl (FN 35), S. 255 f., sowie Becher, Dynastie (FN 35), passim (etwa S. 185 – 191 und S. 198 f.), der den Einfluss des merowingischen Adels auf die Herrschaftsnachfolge zu Recht hervorhebt, aber wohl gleichzeitig auch überbewertet. 39 Vgl. Erkens, Divisio legitima (FN 32), S. 430 mit Anm. 29 und 30, und Ulrich Nonn, „Ballomeris quidam“. Ein merowingischer Prätendent des VI. Jahrhunderts, in: Ewald Könsgen (Hrsg.), Arbor amoena comis. Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Mittellateinischen Seminars der Universität Bonn, Stuttgart 1990, S. 35 – 39, sowie Ian Wood, Usurpers and Merovingian Kingship, in: Matthias Becher / Jörg Jarnut (Hrsg.), Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, Münster 2004, S. 15 – 31. 40 Vgl. Erkens, Divisio legitima (FN 32), S. 430 mit Anm. 33 . 41 Gregorii episcopi Turonensis historiarum libri decem, ed. Bruno Krusch / Wilhelm Levison, MGH SS rer. Merov. 1, Hannover 1937/1951, S. 57 (II 9). 37

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übernommen42; beide Verfassungselemente des fränkischen Reiches blieben daher bis zur Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert wirksam. Der Bruch in der Kontinuität, den die Vertreibung der Merowinger vom Thron bedeutet hatte, ist mithin rasch überspielt worden. Allein bei der Auswahl der Nachfolger trat eine gewisse Änderung ein: Konnten unter den Merowingern alle Königssöhne, auch wenn sie von unfreien Frauen abstammten, im Königtum folgen, sofern sie nur von ihrem Vater anerkannt worden waren43, so grenzte sich dieser Kreis unter den Karolingern zunehmend und offenkundig wegen der stetigen Verchristlichung des Alltags auf die legitimen Söhne ein44, während den illegitimen Nachkommen allenfalls ein subsidiäres Anrecht auf die Nachfolge blieb, das sich schließlich aber auch nur dann verwirklichen ließ, wenn die politischen Verhältnisse günstig dafür waren.45 Der Konsens des Adels war natürlich auch weiterhin nötig für die Anerkennung der Herrschaft46, ist zumeist aber nicht verweigert worden, da die Adligen den Erbgang nicht in Frage gestellt haben, solange sich die Könige in ihren Aufgaben halbwegs bewährten. Erst die während des 9. Jahrhunderts zunehmende Schwäche und das mit dieser verbundene Versagen der Königsherrschaft47 stärkten die Bedeutung der Großen beim Thronwechsel und ließ deren Konsenshandlungen schließlich zu wirklichen Wahlen werden, als man bei Herrschaftswechseln nicht mehr auf Mitglieder der karolingischen Dynastie zurückgriff und Könige aus anderen Familien erhob. Vor diesem Zeitpunkt kann nur in sehr eingeschränktem Sinne von „karolingischen Königswahlen“ gesprochen werden48, und auch die meist in Teilungsplänen 42 Vgl. Erkens, Divisio legitima (FN 32), S. 466 – 485, und ders., Einheit und Unteilbarkeit (FN 24), S. 273 – 291. 43 Vgl. Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (= MGH Schriften, Bd. 44), Hannover 1997, S. 9 und S. 564 ff.; Martina Hartinger, Die Königin im frühen Mittelalter, Stuttgart 2009, S. 142. 44 Vgl. Kasten, Königssöhne (FN 43), S. 566; dies., Chancen und Schicksale „unehelicher“ Karolinger im 9. Jahrhundert, in: Franz Fuchs / Peter Schmid (Hrsg.), Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, München 2002, S. 17 – 52. 45 Vgl. Brühl, Deutschland – Frankreich (FN 24), S. 372 f. (der jedoch deutliche Vorbehalte gegen die Charakterisierung von Söhnen karolingischer Herrscher als illegitim formuliert), und Rudolf Schieffer, Väter und Söhne im Karolingerhause, in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum (= Beihefte der Francia, Bd. 22), Sigmaringen 1990, S. 149 – 164, besonders S. 151. 46 Gerd Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronerhebung. Zugleich eine Studie über kollektive Willensbildung und kollektives Handeln im neunten Jahrhundert, in: FmaSt 13 (1979), S. 184 – 302 (der daher auf S. 220 betont, „daß es in karolingischer Zeit schon immer eine Königswahl gegeben hat“). 47 Vgl. dazu wie zum Folgenden Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart 42004, Kap. VII – IX. 48 Vgl. Walter Schlesinger, Karolingische Königswahlen, in: Eduard Hlawitschka (Hrsg.), Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit (= Wege der For-

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greifbaren Nachfolgeverfügungen der Väter zu Gunsten ihrer Söhne besaßen kaum einen designativen Charakter49 in dem Sinne, dass ohne eine solche Handlung die Nachfolge zweifelhaft gewesen wäre: Vor dem letzten Viertel des 9. Jahrhunderts gibt es daher auch nicht den leisesten Hinweis auf die Möglichkeit einer Ablösung der Karolingerherrschaft, die Regino von Prüm sogar noch um 900 durch das Erbrecht charakterisiert sah.50 Die Stärkung des Wahlgedankens in der ausgehenden Karolingerzeit brachte jedoch nahezu automatisch die Aufgabe der Teilungspraxis mit sich. Diese ursprünglich merowingische Praxis war im Kern fast unverändert auch von den karolingischen Herrschern geübt worden, und zwar bis in die Zeit um 900 hinein51, nachdem der Versuch Ludwigs des Frommen, die Einheit des Reiches im Jahre 817 durch Gesetz dauerhaft zu bewahren, nicht zuletzt an dem Kaiser selbst gescheitert war.52 Bis in das 10. Jahrhundert hinein spielte außer für die erwähnte Phase unter Ludwig dem Frommen und dessen einheitsbewegten Ratgebern die Bewahrung der Reichseinheit keine besondere Rolle im politischen Denken oder herrschaftlichen Handeln. Zwar hat es die Einheit des fränkischen Reiches bereits vor Ludwig dem Frommen schon für lange Zeiträume gegeben53, ist sie zudem aufgrund dynastischer Entwicklungen und biologischer Zufälle immer wieder hergestellt worden, wenn es zu Teilungen gekommen war, und lässt sich darüber hinaus das intensive Streben mancher Könige nach Alleinherrschaft (die ja auch immer die Einheit des Reiches bedeutete) feststellen, aber die Einheit an sich ist – bis auf die Ausnahme von 817 – niemals ein vorrangiges oder schung, Bd. 247), Darmstadt 1975, S. 190 – 266 [erstmals 1958, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, S. 207 – 264; wiederabgedruckt 1963, in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters I, S. 88 – 138]. 49 Wolfgang Giese, Die designativen Nachfolgeregelungen der Karolinger 714 – 979, in: DA 64 (2009), S. 437 – 511. 50 Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon a. 882, hrsg. von Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. [50.] 1890, S. 119: Ea tempestate Carolus imperator in Italia morabatur, ubi diversis legationibus Germaniae ac Galliae pulsatur, ut ad suscipienda regna sibi hereditario iure competentia festinaret … 51 Vgl. Theodor Schieffer, Die lothringische Kanzlei um 900, in: DA 14 (1958), S. 16 – 148, besonders S. 27 und S. 104; ders., Die rheinischen Lande an der Schwelle der deutschen Geschichte, in: Karl Erich Born (Hrsg.), Historische Forschungen und Probleme. Peter Rassow zum 70. Geburtstag dargebracht, Wiesbaden 1961, S. 17 – 31, besonders S. 23 – 26 [1960 auch separat als Heft 13 der „Veröffentlichungen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde“]; Eduard Hlawitschka, Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte (= MGH Schriften, Bd. 21), Stuttgart 1968, Kap. III und IV. 52 Vgl. Erkens, Divisio Legitima (FN 32), S. 469 – 485; Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen (FN 34), S. 324 – 353, und Rudolf Schieffer, Die Einheit des Karolingerreiches als praktisches Problem und als theoretische Forderung, in: Werner Maleczek (Hrsg.), Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (= Vorträge und Forschungen, Bd. 63), Ostfildern 2005, S. 33 – 47, besonders S. 43 – 47. 53 Vgl. Erkens, Divisio legitima (FN 32), S. 447 – 469.

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gar erstrebenswertes Ziel gewesen. Im Gegenteil! Gerade die Herrscher, die sich stark um die Alleinherrschaft bemühten, teilten ihr Reich wieder unter ihre Söhne auf oder unternahmen nichts, um eine Teilung nach dem Tode zu verhindern.54 Die Herrschaft wurde offenkundig als Erbbesitz betrachtet und fiel mithin an alle berechtigten Erben (wie auch noch im Spätmittelalter die weltlichen Fürstentümer als dynastischer Besitz aufgeteilt wurden55, obwohl das Reich seit langem unteilbar war und Karl IV., selbst ein Sammler und dann doch Aufteiler von Herrschaftsräumen56, in der Goldenen Bulle von 1356 die Unteilbarkeit der weltlichen Kurfürstentümer aus rechtspraktischen Gründen verfügt hatte57). Für die Staatswesen jedoch, die sich seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert auf dem Boden des zerfallenden Großreichs der Karolinger bildeten, schlug bereits im 10. Jahrhundert die Stunde der Unteilbarkeit58, womit das Ende eines rund vierhundert Jahre lang geübten Brauchs besiegelt wurde, obwohl man in den neuen Reichen ansonsten durchaus an die fränkische Tradition anknüpfte. Gründe für die Abkehr von der traditionellen Thronfolge- und Reichsteilungspraxis gab es verschiedene. Da war einerseits die zunehmende Verfestigung der spätkarolingischen Herrschaftsgebiete östlich des Rheins und entlang der Biskaya bis hin zum Ärmelkanal, die seit dem Vertrag von Verdun (843) nur noch für wenige Jahre geteilt worden waren und in denen sich auch, aber nicht nur wegen der langen Regierungszeiten einzelner Herrscher ein eigenes Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl der politisch aktiven Gesellschaftsschicht, hauptsächlich also des Adels, entwickeln konnte. Andererseits waren die neuen Herrschaftsgebilde deutlich kleiner als das untergehende Großreich und boten, was besonders für Hoch- und Niederburgund galt, kaum noch Möglichkeiten für eine sinnvolle Teilung. Das West- und Ostfrankenreich (natürlich auch das regnum Italiae) besaßen zwar noch genügend Teilungsmasse, allerdings verhinderten hier wohl konvergierende Interessen von Adel und Königtum eine weitere Aufteilung, wäre durch sie doch einerseits die materielle Basis der Könige zu sehr geschmälert worden und hätten diese sich andererseits in einem noch weiter verkleinerten Herrschaftsgebiet einem wohl übermächtigen Adel gegenüber Vgl. ebd., passim, bes. S. 439 – 457. Vgl. Erich Meuthen, Das 15. Jahrhundert (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 9), München, 4. Aufl. überarbeitet von Claudia Märtl, 2006, S. 34 f. 56 Vgl. Jörg K. Hoensch, Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie gesamteuropäischer Bedeutung. 1308 – 1437, Stuttgart 2000, Kap. 4e, und Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im Spätmittelalter 1250 bis 1490 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3), Berlin 1985, S. 252 und S. 256. 57 Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1536, ed. Wolfgang D. Fritz (= MGH Font. iur. Germ. Ant., Bd. 11), Weimar 1972, S. 60 ff. (c. 7). 58 Vgl. dazu wie zum Folgenden Erkens, Einheit und Unteilbarkeit (FN 24), S. 290 – 295 (und die dort verzeichnete Literatur). 54 55

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gesehen. Wenn auch die seit dem 9. Jahrhundert deutlicher spürbare (und sich noch über Jahrhunderte fortsetzende) Konzentration von Herrschaftsrechten und Machtmitteln in den Händen eines überschaubaren Kreises von Adelsfamilien nicht unbedingt das Königtum treffen musste, ja, von diesem sogar zeitweise gefördert worden ist und vor allem zu Lasten der übrigen Adelsfamilien ging59, so bewirkte sie doch zweifellos auch eine Stärkung, die das politische Gewicht der führenden Großen in Krisensituationen des Königtums erhöhte und den Königen (niemals jedoch der von diesen repräsentierten Institution60) gefährlich werden konnte. In solchen Momenten jedenfalls wuchs der fürstliche Einfluss erheblich bei Findung und Bildung jenes Konsenses, auf den jede legitime Herrschaft bis heute angewiesen ist61 und der gerade im Mittelalter von besonderer Bedeutung war62 für das Funktionieren der politischen Ordnung63, und trug eben auch bei zur Verfestigung der Staatswesen im 10. Jahrhundert. Wie sehr diese nun als eigenständige und unteilbare politische Gebilde galten, zeigte sich auch daran, dass im 10. – anders als im 9. – Jahrhundert keine Versuche mehr von Königen unternommen worden sind, die Herrschaft in einem fremden Reich zu übernehmen, solange es hier eine anerkannte Herrscherdynastie gab. Als nach einer raschen Konsolidierung der liudolfingischen Monarchie Otto der Große bereits in der Mitte des 10. Jahrhunderts eine hegemoniale Stellung unter den Königen Kontinentaleuropas gewonnen hatte und schlichtend in Konflikte des westfränkischen Reiches eingriff, geschah dies niemals mit der Absicht, den westfränkischen Thron für sich selbst zu gewinnen. Im Gegenteil! Otto stabilisierte nach Kräften die schwankende Herrschaft seines westfränkischen Schwagers64, was sicherlich nicht nur aus Familiensinn geschah, sondern vor allem aus monarchischer Solidarität und natürlich nicht ausschloss, auch mit dem Gegner des westfränkischen Herrschers zu paktieren. Wenn es schließlich doch einmal zur Übernahme fremder Königreiche kam wie die des italischen regnum noch durch Otto den Großen selbst in der Mitte des 10. Jahrhunderts und jene des aus Hoch- und Niederburgund entstandenen burgundischen Reiches durch Konrad II. im Jahre 1033, dann setzte dies das Aussterben des 59 Vgl. Deutinger, Königsherrschaft (FN 9), S. 391 f., sowie auch Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge (FN 46), S. 249 – 253. 60 Vgl. Keller, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen (FN 18), S. 96. 61 Vgl. Dieter Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon, Bd. 5, Freiburg 1989, S. 633 – 643, besonders S. 636 f. 62 Vgl. Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig [u. a.] (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000, S. 53 – 87. 63 Dazu vgl. etwa Deutinger, Königsherrschaft (FN 9), S. 249 – 254. 64 Vgl. Keller, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen (FN 18), S. 166 – 177, besonders S. 171 und S. 176.

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legitimen Herrscherhauses voraus und führte keinesfalls zu einer Verschmelzung mit dem angestammten Königreich des neuen Herrschers. Italien und Burgund blieben daher als eigene Herrschaftsräume erhalten und wurden zusammen mit dem – wie man wohl seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert sagen darf – deutschen Reich bis in die Neuzeit hinein in der überwölbenden Einheit des Imperium zusammengefasst. Mitgetragen worden ist diese im 10. Jahrhundert greifbare Änderung des – sit venia verbo – Verfassungsdenkens, ist dieser Wandel weg von der Teilung der Herrschaft bei der Thronfolge hin zur Unteilbarkeit und – besonders was Westfranken-Frankreich und Ostfranken-Deutschland angeht – Dauerhaftigkeit der aus dem Verfallsprozess des karolingischen Großreiches hervorgegangenen Staatswesen von einer identifikatorischen Konzentration auf den je eigenen Herrschaftsverband. Für das Ostreich ist dieser Prozess in seinen Anfängen nur schwer zu durchschauen, aber er muss – gefördert von der auf Reich und Königtum ausgerichteten Kirchenorganisation65 – in den ersten beiden Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts immerhin schon so weit Fortschritte gemacht haben, dass das ostfränkische Reich trotz der unverkennbaren Schwäche der Königsgewalt sich 919 nicht in mehrere Königreiche auflöste, was immerhin denkbar gewesen ist66, sondern nach einem im Zeichen von amicitia und gegenseitiger Anerkennung stehenden Ausgleich zwischen dem neuen liudolfingischen König und den aufstrebenden und nunmehr anerkannten Herzogsgewalten67 fortbestand68 und seit Otto dem Großen schließlich im römisch fundierten Kaisertum seine identitätsstiftende Orientierung fand.69 Dieser Ausgleich und damit die WeiterexisVgl. Erkens, Einheit und Unteilbarkeit (FN 24), S. 286 – 290. Vgl Johannes Fried, Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Michael Borgolte (Hrsg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (= HZ, Beiheft 20), München 1995, S. 267 – 318; Herwig Wolfram, Bayern, das ist das Land, genannt die Neˇ mci. Gedanken zu „in regno Teutonicorum“ aus Cod. Admont. 718, in: Österreichische Osthefte 33 (1991), S. 598 – 604 = ders., Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (= MIÖG, Ergbd. 31), München 1995, S. 59 – 66, sowie Roman Deutinger, „Königswahl“ und Herzogserhebung Arnulfs von Bayern. Das Zeugnis der älteren Salzburger Annalen zum Jahr 920, in: DA 58 (2002), S. 17 – 68, und ders., Die Schlacht bei Pressburg und die Entstehung des bayerischen Herzogtums, in: Roman Zehetmayer (Red.), Im Schnittpunkt frühmittelalterlicher Kulturen. Niederösterreich an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert (= Nöla. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv, Bd. 13), St. Pölten 2008, S. 58 – 70, besonders S. 67. 67 Vgl. dazu zusammenfassend Franz-Reiner Erkens, Herzog, Herzogtum, in: HRG S. 321 – 332, besonders S. 324 ff. 68 Vgl. dazu Keller, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen (FN 18), S. 95 – 98 und S. 115 – 123, sowie zur Amicitia-Politik auch Gerd Althoff, Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (= MGH Schriften, Bd. 37), Hannover 1992. 69 Vgl. dazu etwa Eckhard Müller-Mertens, Römisches Reich im Frühmittelalter: kaiserlich-päpstliches Kondominat, salischer Herrschaftsverband, in: HZ 288 (2009), 65 66

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tenz des ostfränkischen Reiches sind um so bemerkenswerter, als die Herzöge (die nun gegen ihre Feinde gestärkt waren70, in ihrem Ansehen sowie in der Sozialordnung sofort nach dem König kamen und zumindest unter Heinrich I. eine vizekönigliche Stellung in ihren Provinzen einnahmen) auch als amici des Herrschers dem König nachgeordnet blieben, denn dieser überragte sie in seinem königlichen Ansehen nicht zuletzt wegen seiner sakralen Würde.71 Dass die Herzöge diese Nachrangigkeit trotz allen königlichen Entgegenkommens akzeptierten, lässt sich wohl am ehesten durch einen gewissen Machtvorsprung erklären, den Heinrich I. als von Franken und Sachsen 919 erhobener König besaß und der mit der Anerkennung des liudolfingischen Königtums durch den in Bedrängnis geratenen schwäbischen Herzog Burkhard im Jahre 920 noch wuchs, weswegen sich schließlich Arnulf von Baiern 921 ebenfalls zur Huldigung gezwungen sah. Daneben aber wird auch die Gewöhnung an die Existenz des ostfränkischen Reiches eine Rolle gespielt haben, der Gedanke an eine über einen langen Zeitraum hinweg recht gut funktionierende politische Gemeinschaft, an deren Spitze die karolingischen Herrscher ihre Aufgabe der Konsensfindung und des Interessensausgleichs innerhalb der Adelsgesellschaft zumeist erfolgreich gelöst hatten.72 Diese Gewöhnung muss besonders in dem Fall sehr wirkmächtig gewesen sein, wenn die von der neueren Forschung vertretene Ansicht73 zutrifft, dass der Liutpoldinger Arnulf nach Konrads I. Tode gar nicht – wie eine berühmte Notiz der älteren Salzburger Annalen nahelegt74 – nach der Königswürde, sondern allein nach der herzoglichen Stellung in Baiern gestrebt habe (was sich freilich nicht mit letzter Sicherheit beweisen lässt und immer noch die Frage offen lässt, wie Arnulf selbst sich vor der Anerkennung Heinrichs I. als König des gesamten ostfränkischen Reiches sein Verhältnis zu dem neuen Herrscher vorgestellt haben mag). Die Gefahr eines Auseinanderfallens dieses Reiches bestand freilich nur für sehr kurze Zeit S. 51 – 92; vor allem aber Peter Moraw, Vom deutschen Zusammenhalt in älterer Zeit, in: Jenaer Beiträge zur Geschichte 1 (1997), S. 27 – 59, besonders S. 37 ff., und ders., Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, Sigmaringen 1995, S. 47 – 71, besonders S. 55 – 61 [erstmals 1993, in: Lectiones eruditorum extraneorum in Facultate Philosophica Universitatis Carolinae Pragensis factae, fasc. 2, S. 29 – 59]. Zum römischen Reich als ‚Erinnerungsort‘ der mittelalterlichen Geschichte vgl. jetzt auch Johannes Fried, Imperium Romanum. Das römische Reich und der mittelalterliche Reichsgedanke, in: Millenium Jahrbuch 3 (2006), S. 1 – 42. 70 Vgl. Keller, Die Zeit der späten Karolinger und Ottonen (FN 18), S. 119 f. 71 Vgl. Erkens, Herrschersakralität (FN 19), S. 126 ff., und ders., Der Herrscher als gotes drút. Zur Sakralität des ungesalbten ostfränkischen Königs, in: HJb 118 (1998), S. 1 – 39. 72 Vgl. Deutinger, Königsherrschaft (FN 9), passim. 73 Vgl. FN 66. 74 Zu der Quelle und den Problemen, die sich mit ihr verbinden, vgl. Brühl, Deutschland – Frankreich (FN 24), S. 227 – 233 und S. 419 ff.

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und wurde durch die rasche Konsolidierung des neuen Königtums und die erfolgreiche Integration der fürstlichen Gewalten in das neuaustarierte Herrschaftsgefüge bald gebannt. Anders hingegen sah es im Westfrankenreich aus.75 Dort blieb das Königtum lange schwach und ragte an Macht kaum über die einzelnen, hier mittlerweile ebenfalls entstandenen und besonders im Süden des Reichsgebietes sehr unabhängigen Fürstentümer76 hinaus. Obwohl die westfränkischen Großen dem König aber äußerst selbstbewusst gegenüber treten konnten und ihm zeitweise noch nicht einmal alle durch eine persönliche Huldigung verbunden waren77, strebte von ihnen keiner aus dem seit 843 bestehenden Herrschaftsverband heraus, vielmehr wurde das regnum als unteilbar und als Aufgabenbereich des Königtums betrachtet, das faktisch freilich nur etwa zehn Prozent des gesamten Reichsgebietes herrschaftlich direkt erfasste. Doch bekannte sich selbst der ferne Süden prinzipiell zum weit im Norden residierenden König, wie die Datierungen einer Reihe von sog. Privaturkunden zeigen.78 Im fränkischen Westreich war der Zusammenhalt mithin ebenfalls durch Gewöhnung und Erinnerung gesichert und wurde vor allem auch durch eine ideelle Bindung garantiert, die sich sehr stark auf das regnum und die Institution des Königtums richtete79 und deren bestimmende Elemente sich früher und besser fassen lassen als im Ostreich: der durch den Vertrag von Coulaines 843 begründete Bund des Königtums mit 75 Vgl. zum Folgenden grundsätzlich Joachim Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter, Stuttgart 1987 (= Darmstadt 2009), Kap. 1 und 2, besonders S. 51 f. (= S. 52 f.); ders., Die Kapetinger, Stuttgart 2000, Kap. 1 und 2, besonders S. 25, und Bernd Schneidmüller, Die Entstehung Frankreichs (9. Jahrhundert bis 1270), in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2002, S. 11 – 54, besonders S. 20 – 33. 76 Zu diesen vgl. Karl Ferdinand Werner, Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums (9. – 10. Jahrhundert), in: Welt als Geschichte 18 (1958), S. 256 – 289; 19 (1959), S. 146 – 193; 20 (1960), S. 87 – 119 [nachgedruckt mit französischer Übersetzung, in: Instrumenta 14 (2004), S. 20 – 249]; ders., Königtum und Fürstentum im französischen 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (= Vorträge und Forschungen, Bd. 12), Konstanz 1968, S. 177 – 225, und Jean-François Lemarignier, Le gouvernement royal aux premiers temps capétiens (987 – 1137), Paris 1965, S. 41. 77 Vgl. Bernd Schneidmüller, Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum. Untersuchungen zur Herrschaftslegitimation der westfränkisch-französischen Monarchie im 10. Jahrhundert (= Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 22), Wiesbaden 1979, S. 195 – 198; ders., Frankenreich – Westfrankenreich – Frankreich, in: GWU 44 (1993), S. 755 – 772, besonders S. 759 ff.; François Lemarignier, Les fidèles du roi de France (936 – 987), in: Recueil de travaux offert à M. Clovis Brunel II (= Mémoires et documents publiés par la société de l’Ecole des chartres, Vol. 12), Paris 1955, S. 138 – 162. 78 Vgl. Walther Kienast, Der Wirkungsbereich des französischen Königtums von Odo bis Ludwig VI. (888 – 937) in Südfrankreich, in: HZ 209 (1969), S. 529 – 565, besonders S. 554 – 562. 79 Vgl. Joachim Ehlers, Frankreich im Mittelalter. Von der Merowingerzeit bis zum Tode Ludwigs IX. (5. / 6. Jahrhundert bis 1270) (= HZ, Sonderheft 11), München 1982, S. 102 f.

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Geistlichkeit und Adel, der über alle Gefährdungen hinweg Bestand hatte und nicht in Vergessenheit geriet80, die durch eine intensive Salbungspolitik geförderte besondere Sakralisierung des Königtums81, die sich seit dem 12., vor allem jedoch seit dem 13. Jahrhundert hin zum Thaumaturgentum und der vermeintlichen Fähigkeit der französischen Könige steigerte, an Skrofeln Erkrankte nach der Salbung heilen zu können82, und schließlich die bereits im 10. Jahrhundert spürbare Monopolisierung der fränkischen Tradition zu Gunsten des westfränkischen Königtums83, die aus dem Westfrankenreich Frankreich und aus den westfränkisch-französischen Königen eine die merowingischen und karolingischen Vorgänger umfassende Familie machte und deren legitimatorische Kraft im hohen Mittelalter durch den reditus regni Francorum ad stirpem Karoli Magni, durch die publikumswirksame Betonung der herrschaftsbekräftigenden und ansehensteigernden Rückkehr der französischen Monarchie zum karolingischen Ursprung, noch weiter intensiviert werden konnte zugunsten der erstarkten kapetingischen, nun direkt mit Karl dem Großen propagandistisch verknüpften Monarchie.84 Die seit dem 10. Jahrhundert dauerhafte, bis auf randständige Grenzverschiebungen stabile Abgrenzung der beiden ursprünglich fränkischen Staatswesen östlich und westlich des Rheins, die in den folgenden Zeiten das Werden und – wenn man so will – die nationale Selbstfindung des deutschen und des französischen Volkes in den bereits angedeuteten Bahnen mitbestimmte, die Dauerhaftwerdung der seit der Mitte des 9. Jahrhunderts entstandenen Herrschaftsgebilde bewirkte zwangsläufig auch eine Änderung der Thronfolgepraxis, denn die Unteilbarkeit der Reiche ließ nur noch eine Individualsukzession zu, die theoretisch entweder durch Erbgang oder durch Wahl geregelt sein konnte, zunächst aber auch durch eine eigentümliche Verschränkung beider Möglichkeiten85 charakterisiert gewesen ist. 80 Vgl. Erkens, Einheit und Unteilbarkeit (FN 24), S. 280 ff. (und die dort angeführte Literatur), sowie Ehlers, Frankreich im Mittelalter (FN 79), S. 101. 81 Vgl. Erkens, Herrschersakralität (FN 19), S. 117 – 121. 82 Vgl. Marc Bloch, Die wundertätigen Könige, München 1998 [französisch 1924], und Jacques LeGoff, La genèse du miracle royal, in: Hartmut Atsma /André Burguière (Hrsg.), Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée et Sciences sociales, Paris 1990, S. 147 – 156, sowie Frank Barlow, The King’s Evil, in: English Historical Review 95 (1980), S. 3 – 27. 83 Vgl. dazu wie zum Folgenden Schneidmüller, Karolingische Tradition (FN 77), passim, besonders S. 200 – 204; ders., Nomen Patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10. – 13. Jahrhundert) (= Nationes, Bd. 7), Sigmaringen 1987, sowie ders., Frankenreich (FN 77), S. 765 – 771. 84 Vgl. Karl Ferdinand Werner, Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des „Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli“, in: Welt als Geschichte 12 (1952), S. 203 – 225; Gabrielle M. Spiegel, The Reditus Regni ad Stirpem Karoli Magni: A New Look, in: French historical studies 7 (1971), S. 145 – 174. 85 Vgl. Egon Boshof, Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 27), München ²1997, S. 56, und Heinrich

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Zuvor schon hatte sich angesichts der zunehmenden Schwäche des karolingischen Königtums seit dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts die Mitwirkung des Adels bei der Regelung der Thronfolge zunächst im West- und dann im Ostreich intensiver bemerkbar gemacht. Freilich ist es müßig, darüber zu spekulieren, ob die nun stärker ins Gewicht fallenden Zustimmungshandlungen des Adels als richtige oder echte Wahl oder als Scheinwahl, als freie oder gebundene Auswahl86 verstanden werden sollten, wichtig war nur eines: Sie mussten Konsens finden oder stiften, wozu ein bestimmter formaler Ablauf der Wahl im übrigen nicht nötig gewesen ist.87 Die Konsenshandlungen jedoch, die wohl schon immer bei Nachfolgeregelungen eingeholt worden waren, ohne dabei in der Regel allerdings irgendwelche Probleme aufzuwerfen, wurden seit der Urenkelgeneration Karls des Großen politisch immer bedeutsamer, weswegen der Erbcharakter des Königtums langsam verblasste, bis er ganz verloren ging und sogar Nichtkarolinger auf den Thron erhoben wurden.88 Im 10. Jahrhundert überwog jedenfalls der WahlMitteis, Die deutsche Königswahl. Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle, Wien ²1944, S. 21 – 33, sowie – auch zum Folgenden – die Diskussion um Geblütsrecht oder freie Wahl als leitende Prinzipien der Thronfolge im frühen Mittelalter und um den Zeitpunkt, an dem das salisch-staufische Reich zum Wahlreich wurde, Fritz Rörig, Geblütsrecht und freie Wahl in ihrer Auswirkung auf die deutsche Geschichte. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Königserhebung (911 – 1198), in: Eduard Hlawitschka (Hrsg.), Königswahl und Thronfolge in ottonisch-frühdeutscher Zeit (= Wege der Forschung, Bd. 178), Darmstadt 1971, S. 71 – 147 [erstmals 1948, in: Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1945 / 46, Phil.-hist. Kl., Heft 6, S. 1 – 51]; Heinrich Mitteis, Die Krise des deutschen Königswahlrechts, ebd., S. 216 – 302 [erstmals 1950, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., Heft 8, S. 1 – 92]; Walter Schlesinger, Rezension zu: Heinrich Mitteis, Die Krise des deutschen Königswahlrechts, ebd., S. 303 – 308 [erstmals 1952, in: HZ 174, S. 101 – 106]; Hermann Jakobs, Zum Thronfolgerecht der Ottonen, ebd., S. 509 – 508, und neuestens Steffen Patzold, Königserhebungen zwischen Erbrecht und Wahlrecht? Thronfolge und Rechtsmentalität um das Jahr 1000, in: DA 58 (2002), S. 467 – 507. 86 Vgl. dazu etwa Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. bis zum 16. Jahrhundert. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates, 2 Bde., Darmstadt ²1960, Bd. I, S. 102, und Mitteis, Die deutsche Königswahl (FN 85), S. 22. 87 Die Quellen jedenfalls lassen, soweit sie überhaupt einen Wahlverlauf etwas ausführlicher schildern, keine Regeln, sondern eher Vielfalt erkennen: Vgl. Schramm, Der König von Frankreich I (FN 86), S. 76, S. 86 und S. 100. 88 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden für die westfränkisch-französischen Verhältnisse, da als die Ereignisse erfassende Übersicht immer noch hilfreich, Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München / Berlin 1910, S. 104 – 114, und Achille Luchaire, Manuel des institutions françaises. Période des capétiens directs, Paris 1892, S. 464 ff., sowie vor allem Schramm, Der König von Frankreich I (FN 86), S. 75 – 87 und S. 111, und Ulrich Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich. Untersuchungen zur Entwicklung des rechtsförmlichen Wahlaktes bei der Königserhebung im 11. und 12. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des MPI für Geschichte, Bd. 64), Göttingen 1979, Kap. 2, aber auch noch Jan Dhondt, Königswahl und Thronerbrecht zur Zeit der Karolinger, in: Hlawitschka (Hrsg.), Königswahl und Thronfolge in fränkischkarolingischer Zeit (FN 48), S. 144 – 189 [erstmals 1939, in: Revue belge de philologie

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gedanke das Erbprinzip, und zwar im Westfrankenreich deutlicher als im Ostfrankenreich. Hatten hier, und zwar erst nachdem die heimische Linie der Karolinger ausgestorben war, doch nur zwei Wahlen auch zu Dynastiewechseln geführt, nämlich 911 und 919 als Konrad I. und Heinrich I. erhoben wurden, während bei Wahlhandlungen westlich des Rheins gleich dreimal Mitglieder nichtkarolingischer Familien gegen noch vorhandene Karolinger auf den Thron geführt worden sind, nämlich 922 und 923 sowie schließlich 987, als das definitive Ende der karolingischen Königsherrschaft kam und die letzten, nicht dem geistlichen Stand angehörenden männlichen Mitglieder dieser ahnenstolzen Familie ihr Dasein nur noch als Herzöge von Niederlothringen fristen konnten. Wenn aus Sicht der neuen Herrscherdynastien auch noch nicht das letzte Wort über den Wahlcharakter des Königtums gesprochen war, so trugen diese doch gelegentlich den vorwaltenden Realitäten Rechnung. Der westfränkische Karolinger Lothar wies etwa am 1. Januar 955 auf die Wahl als Rechtsgrundlage seiner Königsherrschaft hin89 und Otto der Große gedachte in seiner Urkunde vom 13. September 936 zumindest der Möglichkeit, dass die Königswürde nicht in der eigenen Familie bleiben und jemand anderer aus dem Volk zum König gewählt werden könnte.90 Unabhängig davon jedoch waren die Herrscherfamilien im Osten wie Westen trotzdem darum bemüht, das dynastische Prinzip durchzusetzen, das in beiden Königreichen ja auch in der berühmten Sta et retine-Formel der Krönungsordines angesprochen wurde, wenn die Geistlichen den frisch geweihten Herrscher aufforderten91: „Stehe fest und et d’histoire 18, S. 913 – 953 (Élection et Hérédité sous les Carolingiens et les premiers Capétiens)]; für die ostfränkisch-deutschen Verhältnisse vgl. etwa Reuling, a. a. O., Kap. 1 und 3. 89 Recueil des actes de Lothaire et de Louis V, rois de France (954 – 987), edd. Louis Halphen / Ferdinand Lot, Paris 1908, S. 9 (Nr. 4: ab omnibus Francorum proceribus electus sum). 90 Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., hrsg. von Theodor Sickel (= MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser I), Hannover 1879 – 1884, S. 90 (Nr. 1: Et si aliquis generationis nostrae in Francia ac Saxonia regalem potestativa manu possideat sedem, …, si autem alter e populo eligatur rex, …, nostrae namque cognationis, qui potentissimus sit, advocatus habeatur …). Zur Deutung dieser Stelle vgl. Joachim Ehlers, Heinrich I. in Quedlinburg, in: Gerd Althoff / Ernst Schubert (Hrsg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (= Vorträge und Forschungen, Bd. 46), Sigmaringen 1998, S. 235 – 266, besonders S. 255 f. und die dort in Anm. 134 angeführte Literatur. 91 Der Mainzer Ordo von etwa 960, ed. Cyrille Vogel / Reinhard Elze, Le pontifical romano-germanique du dixième siècle. Le Texte I (= Studi e Testi 226), Città del Vaticano 1963, S. 246 – 259 Nr. 72, hier S. 258 (nr. 25) = Ordo of Eleven Forms (900 – 950), ed. Richard A. Jackson, Ordines Coronationis Franciae. Texts and Ordines for the Coronation of Frankish and French Kings and Queens in the Middle Ages I, Philadelphia 1995, S. 154 – 167 (Ordo XIV), hier S. 163 (nr. 8) = Ratold Ordo (ca. 980), ed. Jackson, a. a. O., S. 168 – 200 (Ordo XV), hier S. 190 (nr. 34) = Royal Ordo in Cologne Dombibliothek 141 (1000 – 1050), ed. Jackson, a. a. O., S. 201 – 216 (Ordo XVI), hier S. 212 (nr. 39): Sta et retine amodo locum, quem hucusque paterna successione tenuisti, hereditario iure tibi delegatum, per auctoritatem Dei omnipotentis …

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bewahre fortan den Platz, den du bislang aus väterlicher Erbfolge innegehabt hast und der dir kraft Erbrecht zugefallen ist, nun durch die Autorität des allmächtigen Gottes …“ Das Mittel zur Förderung des dynastischen Interesses war die Thronerhebung eines Königssohnes noch zu Lebzeiten des Vaters. Otto der Große hat 961 vor seinem Aufbruch zu Romzug und Kaiserkrönung den in der fränkischen Geschichte nicht unbekannten, aber mittlerweile seit mehr als 100 Jahren nicht mehr geübten Brauch wiederaufgegriffen, und seine Nachfolger sind nach Möglichkeit diesem Beispiel gefolgt (wobei es schließlich zur freilich nicht zwingenden Regel wurde, einen Sohn erst nach der Kaiserkrönung des Vaters zum Mitkönig wählen zu lassen). Auch im Westfrankenreich griff man auf die Methode der Sohneswahl vivente rege zurück, so dass hier seit 979, als der vorletzte Karolingerkönig seinen ältesten Sohn Ludwig V. zum Mitregenten machte, bis 1179 jeder Herrscher einen Sohn noch zu Lebzeiten zum König und Nachfolger erheben ließ. Der Nutzen dieser Maßnahme, bei der sich in Frankreich allmählich das Primogeniturprinzip durchsetzte92, lag zunächst nur in der Sicherung der dynastischen Kontinuität um jeweils eine Generation; die fortgesetzte Übung dieser Praxis jedoch bewirkte Unterschiedliches: In Frankreich führte sie zur Erbmonarchie, in Deutschland hingegen verhinderte sie die Entwicklung zur Wahlmonarchie nicht. In Frankreich mussten die frühen Kapetinger zwar Widerstände überwinden bei dem Versuch, die Thronfolge schon zu Lebzeiten zu regeln, aber gegen diese setzte sich der König immer durch93; und seine in der Regel kaum zu missachtende Autorität stand natürlich hinter jeder angestrebten Sohneswahl, gegen die es seit 1059, seit der Erhebung und Weihe Philipps I., offenbar keine prinzipiellen Einwände mehr gab94, so dass sie im 12. Jahrhundert zu einer reinen Formsache wurde.95 Ein zeitgenössischer Beobachter konnte daher bereits mit Blick auf die mit dem Tode des Vaters beginnende Alleinherrschaft des natürlich längst geweihten Ludwig VII. im Jahre 1137 davon sprechen, dass der Kapetinger „die ihm nach Erbrecht gebührende Herrschaft“ übernommen habe.96 Ludwigs Sohn Philipp II. August ist dann der letzte französische König gewesen, der zum Mitregenten erhoben 92 Vgl. Schramm, Der König von Frankreich (FN 86), S. 98, sowie allgemein zur Entwicklung der kapetingischen Thronfolge Andrew W. Lewis, Royal Succession in Capetian France: Studies on Familial Order and the State (= Havard Historical Studies, Vol. 100), Cambridge (Mass.) / London 1981. 93 Vgl. Schramm, Der König von Frankreich (FN 86), S. 98 f. 94 Vgl. ebd., S. 99 – 103, besonders S. 101 f. 95 Vgl. dazu wie zum Folgenden ebd., S. 104 – 111. 96 Mauriniacensis monasterii chronicon auct. Teulfo et aliis ejusdem loci monachiis, ed. Migne, PL 180, Paris 1855, S. 131 – 176, hier S. 166 D (ibique [in Paris] haereditali sibi lege debitum regni imperium suscipiens).

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wurde, und zwar 1179. Danach war die französische Krone unbestritten erblich und selbst der Form nach keine Wahl mehr nötig. Nur Modifizierungen und Präzisierungen des Erbrechtes sind in späterer Zeit noch vorgenommen worden, vor allem der Ausschluss der weiblichen Thronfolge zu Beginn des 14. Jahrhunderts97, als die in Frankreich ungewohnte Situation eintrat, dass beim Tode eines Königs kein Sohn vorhanden und bald danach sogar der gesamte Mannesstamm des kapetingischen Hauses erloschen war. Damals entschied man aus der Gewohnheit heraus, immer einen König gehabt zu haben, sowie aufgrund von Erwägungen politischer Opportunität gegen eine weibliche Nachfolge und griff zur rechtlichen Absicherung dieser Entscheidung schließlich auf eine entsprechend interpretierte Bestimmung des salfränkischen Rechts aus dem 6. Jahrhundert zurück. Damit schuf man im Interesse der neuen Herrscher aus der kapetingischen Nebenlinie der Valois das salische Thronrecht, das bis zum Ende der französischen Monarchie in Geltung blieb. Gewohnheit, konkret: die Gewöhnung an die kapetingische Herrschaft, hatte aber zweifellos bereits im 11. und 12. Jahrhundert eine Rolle gespielt bei dem Prozess der Erblichwerdung des Königtums, der zudem wohl auch von der damals in Frankreich einsetzenden Intensivierung der herrscherlichen Sakralität98 und vor allem durch den Umstand gefördert worden ist, dass sich damals die Erblichkeit in den Fürstentümern verfestigte.99 Wichtig für ihn war natürlich auch das Vorhandensein eines Königssohnes, der die Nachfolge antreten und auf den die Wahl gelenkt werden konnte (solange sie – in welcher Form auch immer – vollzogen wurde), denn dadurch blieben Gelegenheiten aus, bei denen das Wahlprinzip hätte gestärkt werden können. Insofern spielte der biologische Zufall ebenfalls eine Rolle bei der Erblichwerdung des französischen Königtums: das Glück der französischen Könige nämlich, über Jahrhunderte hinweg immer einen Erben besessen zu haben – ein Glück, das die Ottonen und Salier nicht hatten. Im ostfränkisch-deutschen Reich allerdings ist in der Zeit, in der sich in Frankreich das Erbkönigtum herausbildete, nicht nur die Sohnesfolge häufig unterbrochen worden (nämlich 1002, 1024, 1125, 1138 und 1152), wodurch es mehrmals zu Dynastiewechseln kam, sondern es gab in diesem Zeitraum auch drei Erhebungen von Gegenkönigen (1077, 1081 und 1127), weswegen es innerhalb von rund anderthalb Jahrhunderten insgesamt achtmal zu Wahlen kam, die nicht vom regierenden Herrscher gelenkt worden sind. Sie stärkten alle, auch wenn bei den Thronerhebungen von 1002 und 97 Vgl. Schramm, Der König von Frankreich (FN 86), S. 230 – 235, sowie Ehlers, Geschichte Frankreichs (FN 75), S. 197 – 200 = S. 202 – 205, und Heribert Müller, Frankreich im Spätmittelalter: Vom Königsstaat zur Königsnation (1270 – 1498), in: Hinrichs (Hrsg.), Geschichte Frankreichs (FN 75), S. 55 – 101, besonders S. 64 f. 98 Vgl. FN 82. 99 Vgl. dazu etwa Schramm, Der König von Frankreich (FN 86), S. 107 f.

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1024 erbrechtliche Kriterien beachtet worden sind100, das Wahlprinzip und taten dies 1077 in einem besonderen Maße, denn damals musste der Gegenkönig Rudolf von Rheinfelden ausdrücklich auf die Designation eines Sohnes zum Nachfolger verzichten.101 Daher reichte, obwohl, wie bereits angemerkt, auch die ottonischen und salischen Herrscher ihre Söhne ansonsten zu Mitregenten erhoben, diese Praxis allein nicht aus, um ein Erblichwerden der Königswürde zu bewirken, und dies um so weniger als dafür die heftigen Konflikte des sog. Investiturstreits wenig förderlich waren, da sie immer wieder Teile des Adels und der Geistlichkeit in einen gravierenden Gegensatz zur salischen Monarchie brachten und zudem ein eigenes Verantwortungsgefühl der Fürsten für das Reich wachsen ließen.102 Als daher nur drei Jahre nach dem Wormser Konkordat von 1122, mithin kurz nach der unter erheblichem fürstlichem Druck erfolgten Beendigung des Ringens um das Investiturrecht103, die salische Dynastie im Mannesstamm erlosch und eine Königswahl notwendig wurde, setzte sich bei dieser das Wahlprinzip gegen das von den Staufern als Verwandten der Salier repräsentierte Denken in erbrechtlichen Bahnen durch104, und zwar grundsätzlich: Von 1125 an war das Reich unverkennbar eine Wahlmonarchie, was eine Generation 100 Vgl. Stefan Weinfurter, Heinrich II. (1002 – 1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg ³2002, Kap. 3, und Franz-Reiner Erkens, Konrad II. (um 990 – 1039). Herrschaft und Reich des ersten Salierkaisers, Regensburg 1998, S. 13 ff., sowie allgemein Eduard Hlawitschka, Die Thronkandidaturen von 1002 und 1024. Gründeten sie im Verwandtenanspruch oder in Vorstellungen von freier Wahl?, in: Gertrud Thoma / Wolfgang Giese (Hrsg.), Stirps regia. Forschungen zu Königtum und Führungsschichten im früheren Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, S. 495 – 510 [erstmals 1985, in: Karl Schmid (Hrsg.), Kirche und Reich vor dem Investiturstreit, Sigmaringen 1985, S. 49 – 64]. 101 Vgl. Wilfried Hartmann, Der Investiturstreit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 21), München ³2007, S. 25 und S. 91 f., sowie Hermann Jakobs, Rudolf von Rheinfelden und die Kirchenreform, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung (= Vorträge und Forschungen, Bd. 17), Sigmaringen 1973, S. 87 – 115, besonders S. 87 – 92, und Hagen Keller, Schwäbische Herzöge als Thronbewerber: Herzog Hermann II. (1002), Rudolf von Rheinfelden (1077), Friedrich von Staufen (1125). Zur Entwicklung von Reichsidee und Fürstenverantwortung, Wahlverständnis und Wahlverfahren im 11. und 12. Jahrhundert, in: ZGOrh 131 (1985), S. 123 – 162, besonders S. 130 und S. 145. 102 Vgl. Keller, Schwäbische Herzöge als Thronbewerber (FN 101), etwa S. 159 ff. 103 Vgl. Egon Boshof, Die Salier, Stuttgart 52008, S. 293 f., sowie allgemein Peter Classen, Das Wormser Konkordat in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit (FN 101), S. 410 – 460. 104 Zur Wahl selbst vgl. die Narratio de electione Lotharii in regem Romanorum, ed. Wilhelm Wattenbach (= MGH SS 12), Hannover 1856, S. 509 – 512; Keller, Schwäbische Herzöge als Thronbewerber (FN 101), S. 123 f., und Ulrich Schmidt, Königswahl und Thronfolge im 12. Jahrhundert (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 7), Köln 1987, S. 46 – 59, sowie neuestens – mit neuer Interpretation – Bernd Schneidmüller, Mittelalterliche Geschichtsschreibung als Überlieferungsstrategie. Eine Königswahl des 12. Jahrhunderts im Wettstreit der Erinnerungen, in: Heidelberger Jbb. 52 (2009), S. 167 – 188.

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später sowohl von Otto von Freising105 als auch durch Friedrich Barbarossa106 ausdrücklich betont worden ist und auch nicht mehr zu ändern war, wie der gegen Ende des 12. Jahrhunderts von Heinrich VI. unternommene und gescheiterte Versuch belegt, das Imperium in ein Erbreich umzuwandeln.107 Obwohl weiterhin die von den Staufern natürlich auch gern genutzte Möglichkeit bestand, dynastische Politik zu betreiben durch eine Sohneswahl bei Lebzeiten des Herrschers, änderte dies nichts mehr an dem Wahlcharakter des Reiches. Vielmehr ist dieser bald auch theoretisch begründet worden, wofür ein frühes Beispiel der bereits erwähnte Otto von Freising liefert, der es als ein besonderes Vorrecht betrachtete, dass die Herrschaft über das römische Reich durch die Wahl der Fürsten und nicht durch Erbgang (non per sanguinis propaginem) weitergegeben wurde.108 Spätere Gelehrte haben diese „Prärogative“ des römischen Reiches mit dem universalen Charakter des Imperiums oder dessen Heiligkeit erläutert, dessen Herrscher unter den Besten ausgewählt werden müsse.109 Aber auch die Entwicklung des Wahlrechtes selbst ließ keine Möglichkeit mehr offen, aus dem Wahlein Erbreich zu machen. Das Scheitern von Heinrichs VI. Erbreichsplan hatte schon gezeigt, wie wenig durchführbar eine vom Herrscher betriebene 105 Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris II 1, ed. Georg Waitz und Bernhard von Simson ( = MGH SS rer. Germ. [46.]), 1912, S. 103. 106 Vgl. den Rundbrief Friedrich Barbarossas von 1157, ed. Friedrich Appelt, Die Urkunden Friedrich Barbarossas I (= MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 10), Hannover 1975, S. 315 (Nr. 186). 107 Vgl. dazu Ernst Perels, Der Erbreichsplan Heinrichs VI., Berlin 1927, und Ludwig Vones, Confirmatio Imperii et Regni. Erbkaisertum, Erbreichsplan und Erbmonarchie in den politischen Zielvorstellungen der letzten Jahre Kaiser Heinrichs VI., in: Stefan Weinfurter (Hrsg.), Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas (= Mittelalter-Forschungen, Bd. 9), Stuttgart 2002, S. 312 – 334. Zu angeblichen späteren Versuchen, ein deutsches Erbreich zu schaffen, vgl. Franz-Reiner Erkens, Siegfried von Westerburg (1274 – 1297). Die Reichs- und Territorialpolitik eines Kölner Erzbischofs im ausgehenden 13. Jahrhundert (= Rheinisches Archiv, Bd. 114), Bonn 1982, Kap. VI 3. 108 Vgl. FN 105. 109 Vgl. etwa Alexander von Roes, Memoriale de prerogativa Romani imperii c. 24 und Notitia Seculi c. 16, hrsg. von Herbert Grundmann und Hermann Heimpel, Alexander von Roes. Schriften (= MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters I, Bd. 1), Stuttgart 1958, S. 124 (non enim convenit sanctuarium dei, id est regnum ecclesie, iure hereditario possideri) und S. 164 (quod ad sacerdotium et ad regnum ecclesie catholice, que utraque tamquam dei sanctuarium iure hereditario possideri non convenit); Peter von Andlau, Libellus de cesarea monarchia II 1, ed. Rainer A. Müller, Peter von Andlau. Kaiser und Reich (= Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 8), Frankfurt am Main 1998, S. 174 (fuit … ordinatum, ut tante potestatis fastigium, quod non debetur sanguini sed virtuti, non per viam successionis sed eleccionis procederet, ut dignissimus habeatur ad dignitatem imperii gubernandam.), sowie allgemein Friedrich Andrae, Das Kaisertum in der juristischen Staatstheorie des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der „Kaiseridee“ im späten Mittelalter, Diss. (masch.) Göttingen 1951, S. 9, 21, 44, 82.

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Beseitigung des fürstlichen Wahlrechts war. Nach der Verengung dieses Rechtes auf die sieben Kurfürsten110, nach einem Exklusivierungsprozess also, der von mehreren Faktoren, nicht zuletzt von dem durch Gewohnheit gefestigten Umstand beeinflusst worden ist, dass die eigentliche Auswahl eines Königskandidaten immer nur in der Hand einer überschaubaren Zahl von Fürsten gelegen hat111, und an dessen Ende sieben Königswähler aus der Schar der übrigen principes herausragten, nach der Konzentration des aktiven Königswahlrechtes in den Händen weniger hätte für diese Bevorrechteten die Beseitigung des Wahlrechtes einen Ansehensverlust bedeutet, der in der mittelalterlichen Ranggesellschaft kaum hinnehmbar gewesen wäre. Durch die 1356 mit der Goldenen Bulle vollzogene reichsrechtliche Verankerung des zu diesem Zeitpunkt bereits seit etwa hundert Jahren allein durch die Kurfürsten praktizierten Wahlrechtes wandelte sich dieses nicht noch einmal, vielmehr wurden von Karl IV. nur die noch bestehenden Probleme bei der Ausübung des Kurrechts gelöst; ansonsten ist festgeschrieben worden, was längst schon Brauch war.112 Aber zwanzig Jahre später erleichterte die nunmehrige Rechtssicherheit es den Kurfürsten ganz offenkundig, erstmals wieder nach rund 140 Jahren eine Sohneswahl, und zwar bei Lebzeiten des Vaters, durchzuführen.113 Es sollte zwar noch einmal gut hundert 110 Vgl. dazu Franz-Reiner Erkens, Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums (= MGH Studien und Texte, Bd. 30), Hannover 2002 (und dazu die Kontroverse zwischen Armin Wolf, in: ZRG GA 120 [2003], S. 535 – 548, und FranzReiner Erkens, Vom historischen Deuten und Verstehen: Noch einmal zu einer neueren Theorie über die Entstehung des Kurfürstenkollegiums, in: ZRG GA 122 [2005], S. 327 – 351, besonders S. 331), sowie zu Detailaspekten Ernst Schubert, Erb- und Erzämter am hoch- und spätmittelalterlichen Königshof, in: Peter Moraw (Hrsg.), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter (= Vorträge und Forschungen, Bd. 48), Stuttgart 2002, S. 191 – 237; Thomas Ertl, Alte Thesen und neue Theorien zur Entstehung des Kurfürstenkollegiums, in: ZRG GA 122 (2005), S. 327 – 351, und Peter Landau, Eike von Repgow und die Königswahl im Sachsenspiegel, in: ZRG GA 125 (2008), S. 18 – 49. 111 Vgl. dazu außer der in der vorstehenden FN genannten Literatur auch FranzReiner Erkens, Multi oder pauci? Überlegungen zur fürstlichen Wahlbeteiligung an den Königswahlen der staufischen Epoche, in: ders. / Hartmut Wolff (Hrsg.), Von Sacerdotium, und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag (= Passauer Historische Forschungen, Bd. 12), Köln 2002, S. 135 – 152. 112 Zur Goldenen Bulle und ihrer Bedeutung vgl. Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., Bd. I: Entstehung und Bedeutung der Goldenen Bulle (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. II 11), Weimar 1908 (besonders das 3. Kapitel und S. 226); Bernd-Ulrich Hergemöller, Fürsten, Herren und Stände zu Nürnberg 1355 / 56. Die Entstehung der „Goldenen Bulle“ Karls IV. (= Städteforschung, Bd. A 13), Köln 1983, S. 73 f.; Hoensch, Die Luxemburger (FN 56), S. 145 – 148. 113 Vgl. Moraw, Von offener Verfassung (FN 56), S. 253; Hoensch, Die Luxemburger (FN 56), S. 168 f.

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Jahre dauern, bis sich 1486 dergleichen wiederholte114, doch ist trotzdem schon unter Karl IV. eine praktische Auswirkung des gefestigten Wahlrechts der Kurfürsten einerseits und der Etablierung eines Hausmachtkönigtums mit hegemonialen Zügen im dualistischen Herrschaftssystem des Reiches andererseits spürbar: Die Zeit der zwischen verschiedenen Dynastien springenden Königswahlen, die von 1246 bis 1346 dauerte und in der anfänglich eine Reihe von Grafen auf den Thron gelangten, ging zu Ende. Stattdessen trat eine dynastische Konzentration zugunsten der Luxemburger, Habsburger und Wittelsbacher ein, die sich schon seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts abzeichnete, aber unter Karl IV. unumkehrbar wurde, weil seit seiner Regierungszeit nicht mehr genügend Reichsgut zur Verfügung stand115, auf das sich ein Königtum ohne entsprechende Hausmacht hätte stützen können. Allein Mitglieder aus den drei genannten Familien116 konnten zukünftig noch das Reich angemessen regieren. Übrig blieben von diesen thronfähigen Dynastien im Laufe des 15. Jahrhunderts aber, nachdem die Luxemburger ausgestorben waren und die Wittelsbacher sich doch nur als zweitrangige Repräsentanten der Kaiserwürde erwiesen hatten, allein noch die Habsburger, deren Mitglieder von 1438 bis 1806 mit einer kurzen Unterbrechung117 zwischen 1740 und 1745 auf dem Thron des Reiches saßen. Was durch diese Entwicklung zurückkehrte, das ist die aus dem früheren Mittelalter bekannte Sohnes- oder gelegentlich auch Verwandtenwahl vivente imperatore gewesen, allerdings unter veränderten Bedingungen – denn: Wenn auch die Habsburger dank ihrer herausragenden Position als einer europäischen Großdynastie und wegen der sich herausbildenden Wahltradition zugunsten ihres Hauses einen Anspruch auf den Kaiserthron geltend machen konnten und außer ihnen, wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts das gescheiterte Kaisertum des Wittelsbachers Karl VII. (1742 – 1745) lehrt, tatsächlich keine andere Dynastie mehr thronfähig gewesen ist im Reich, so bedurfte es doch jedes Mal der nunmehr an feste Formen gebundenen Wahl, um auf den Thron zu gelangen, und entsprechender Zusagen, von denen seit 1519 die Wahlkapitulationen118 zeugen. War, so darf man vielleicht zugespitzt formulieren, im früheren Mittelalter häufig der Erbgedanke vorrangig vor dem 114 Vgl. Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 1: Jugend, burgundisches Erbe und Römisches Königtum bis zur Alleinherrschaft. 1459 – 1493, München 1971, S. 182 – 194, besonders S. 190 f. 115 Vgl. Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (= Veröffentlichungen des MPI für Geschichte, Bd. 63), Göttingen 1979, S. 151 – 171, besonders S. 162 f. 116 Vgl. Moraw, Neue Ergebnisse (FN 69), S. 63. 117 Vgl. Peter Claus Hartmann, Karl Albrecht – Karl VII. Glücklicher Kurfürst, unglücklicher Kaiser, Regensburg 1985. 118 Vgl. Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion (= Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 1), Karlsruhe 1968.

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Wahlprinzip, so entwickelte sich seit dem 15. Jahrhundert zu Gunsten der Habsburger eine dynastische Kontinuität im Wahlreich. Die aus hoher Warte und mit weiter Perspektive geschilderten Entwicklungen von Jahrhunderten sind natürlich, das sei zum Schluss ausdrücklich betont, nicht linear verlaufen, sondern nahmen unter dem Einfluss vielfältiger Faktoren ihren Verlauf. Neben konkreten politischen Situationen wirkten auf sie nicht zuletzt auch eingeübte Gewohnheiten, allgemeine Vorstellungen und zufällige Konstellationen ein (die hier freilich nicht im Einzelnen interessierten). Gerade der Kontingenz wird bei manchem Formungsprozess eine erhebliche Rolle zugefallen sein; aber auch die Gewohnheit darf als prägende Kraft nicht unterschätzt werden. Besonders in ihr – oder genauer: in dem fehlenden Bedürfnis nach Änderung – spiegelt sich nicht zuletzt die Akzeptanz eines politischen Zustands wieder und in gewissem Sinne auch die Zustimmung zu den Verhältnissen. Wie sehr jedoch die unterschiedliche Mischung der genannten Faktoren zu grundverschiedenen Ergebnissen führen konnte, lehrt die divergierende Entwicklung der unteilbar gewordenen Staatswesen Westfranken-Frankreich und Ostfranken-Deutschland hin zu Erbmonarchie und Wahlreich, obwohl beide Herrschaftsgebilde trotz divergierender Grundierung ihrer frühen Staatlichkeit119 ursprünglich aus vergleichbaren Verhältnissen hervorgegangen waren. Veränderungen, Wandlungen, Umformungen im Kleinen wie im Großen hat es dabei natürlich immer gegeben, und sie beeinflussten, wie zu zeigen war, auch die grundlegende Verfasstheit der staatlichen Verbände nachhaltig.

119 Vgl. Joachim Ehlers, Strukturen früher Staatlichkeit. West- und Ostfrankenreich im Vergleich (9. / 10. Jahrhundert), in: Pohl / Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat (FN 9), S. 89 – 97.

Aussprache Gesprächsleitung: Neuhaus

Neuhaus: Vielen Dank, Herr Erkens, für diesen Überblick über tausend Jahre europäischer Geschichte mit dem West- und dem Ostfrankenreich im Zentrum. Sie haben eine Fülle von verfassungsgeschichtlichen Problemen angesprochen, die uns sicher während dieser Tagung immer wieder beschäftigen werden – dafür danke ich Ihnen ganz besonders. Meine Herren, damit eröffne ich die Aussprache und bitte um Wortmeldungen. Herr Weitzel. Weitzel: Danke. Ich folge der Chronologie und wende mich dem Frankenreich zu: Es ist seit geraumer Zeit Mode, den Charakter des Merowingerreiches als „römisch“ neu zur Diskussion zu bringen. Was mir allerdings etwas fehlt, das ist: Wenn Sie sagen, das Germanische tritt zurück, dass Sie dann einen gewissen Ausgleich schaffen. Ich hätte erwartet, dass Sie jetzt die römischen Elemente betonen. Also die Übernahme des Purpurs durch den fränkischen König usw. Sie haben aber weder das eine noch das andere getan, und da bleiben die ersten Jahrhunderte des Frankenreiches doch sehr farblos. Man weiß gar nicht, was das ist. Sie haben sich noch auf die Christianisierung berufen, aber das scheint mir nicht so recht tragfähig. Um das Ganze etwas präziser zu machen: Vielleicht können Sie noch etwas dazu sagen, wo diese Teilungssitte herkommt. Und woher kommt die frappierende Stabilität dieses merowingischen Königtums, das ja über mehr als hundert Jahre praktisch machtlos ist und trotzdem weiter existiert. Kommt das aus dem Christentum? Wenn wir zu den Westgoten schauen, da haben Sie alle paar Jahrzehnte eine andere Dynastie, die bringen sich fortwährend gegenseitig um. Das machen die Merowinger auch, aber die bleiben trotzdem bei ihrer Sippe, bei ihrer Dynastie. Das sind doch merkwürdige Dinge – also jetzt im positiven Sinne merkwürdig. Und was ist mit den heidnischen Elementen? Es ist mir nicht ausreichend, wenn Sie sagen, die spielen heute keine Rolle mehr. Der Begründer dieses Reiches war Heide. Und es gibt auch schon vor Chlodwig Könige – natürlich sogenannte Kleinkönige, das ist klar, aber immerhin ist es ja auch so, dass Einhard berichtet über die langen Haare, dass er berichtet über den Ochsenkarrenumzug usw. Natürlich ist das möglicherweise karolingische Schmähkritik an den Vorgängern, aber irgendetwas sollte man doch dazu sagen. – Schönen Dank.

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Neuhaus: Herr Erkens, bitte gleich dazu. Erkens: Herr Weitzel, da haben Sie natürlich ein großes Fass aufgemacht, und ich gestehe Ihnen natürlich gerne zu, dass ich das von Ihnen Benannte hier sehr knapp abgehandelt habe. Wenn ich all die Dinge, die Sie gerne noch gehört hätten, mit hineingebracht hätte, hätte ich nicht nur fünf Minuten, sondern wesentlich länger überzogen. Nur um kurz darauf einzugehen (ich kann auch dies nur in Stichworten machen): Wenn wir etwa die römischen Elemente nehmen, da haben Sie selber zu Recht auf die formalen Dinge hingewiesen, auf das, was aus dem spätrömischen, byzantinisch vermittelten Herrscherzeremoniell übernommen worden ist. Darüber hinaus ist die Bedeutung des Schatzes zu nennen, die Möglichkeiten, die die Merowinger noch hatten, über die Reste, die Ruinen, die von der römischen Staatsverwaltung übrig geblieben waren, an Finanzen zu kommen. Sehr wichtig ist auch das Problem der Treue: Man hat vor kurzem gezeigt, dass die besondere, ursprünglich als germanisches Element charakterisierte Treuevorstellung aus dem römischen Militäreid her gekommen ist. Hier werden römische Traditionselemente natürlich besonders deutlich, während auf der anderen Seite die Dinge, die Sie angesprochen haben, die die heidnische Tradition betreffen, heute zum Teil etwas anders gesehen werden. Das heißt nicht – und ich habe das auch nicht gesagt –, dass diese Elemente überhaupt keine Rolle mehr gespielt haben, aber wenn Sie etwa die von Ihnen erwähnten langen Haare der Merowinger nehmen, dann werden heute hauptsächlich biblische Vorbilder (Samson) für sie angenommen. Auch das Königsheil wird nicht grundsätzlich bestritten, es wird nur bestritten, dass es eine spezifische Ausprägung germanischer Art gegeben habe. Königsglück ist eine Konstante, die wir in der gesamten Antike finden, die auch über das Glück der römischen Kaiser ins Mittelalter zu den Merowingern hin weitertransportiert worden ist. Wir finden sie sehr stark ausgeprägt im irischen, im keltischen Bereich und hier auch sehr gut dokumentiert. Hier begegnet uns alles das, was wir bei den Germanen nicht finden, und was durch eine germanenlastige Forschung bedenkenlos und durch das Zusammenziehen von Quellen, die über Jahrhunderte und über hunderte oder tausende Kilometer voneinander getrennt sind, auf die germanischen Gesellschaften übertragen worden ist. Hinsichtlich der Herrschersakralität ist der römische Aspekt wesentlich wichtiger, und in diesen Zusammenhang gehört dann auch – wie ich gesagt habe – die Christianisierung der Königsidee. Auch diese ist hauptsächlich über das spätantik-kaiserliche, dann natürlich byzantinisch vermittelte Vorbild geprägt worden. Dort hat man die ideellen Vorbilder und natürlich auch die Vorbilder der Macht gefunden. Wir können heute die fränkische (und mittelalterliche) Herrscheridee wesentlich besser erklären, wenn wir die antike Tradition – die römische steht ja ihrerseits in einer hellenistischen

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Tradition – betonen und wenn wir darüber hinaus die biblische Tradition hervorheben, aus der weitere Elemente der Herrscheridee kamen. Was an germanischen Vorstellungen übrig bleibt, das ist kaum zu fassen. Natürlich hat es die Glücksvorstellung bei den Germanen auch gegeben, aber kaum in der von der Forschung vorgestellten Weise, dass der König ein besonderes Glück besessen habe, das ihm inhärent war, ohne dass er etwas dafür tun musste, das aber dazu führte, dass er, wenn das Korn auf den Feldern nicht mehr gedieh, beseitigt wurde – entweder aus dem Königtum oder sogar aus dem Leben. Alles das können wir in der germanischen Realität aber nur sehr mühsam oder gar nicht fassen. Von daher geht die Forschung dazu über, die germanische Komponente der ideellen Herrscheridee geringer einzuschätzen – aber nicht die grundsätzliche Ausrichtung des germanischen Königs am Sakralen und Religiösen! Diese wird auch für die Germanen angenommen, und gerade diese prinzipielle Offenheit für eine religiös geprägte Herrscheridee hat es den Germanen sehr rasch ermöglicht, den ausgebauten ideologischen Apparat nach dem Vorbild des römischen Kaisertums zu übernehmen. Das ist der eine Punkt, den Sie angesprochen haben, der andere war die Frage, wo die Teilungssitte herkommt? Das ist eine zentrale Frage, die zurzeit auch wieder intensiv erörtert wird. Wie es vor Chlodwig gewesen ist, können wir nur etwas verschwommen aus den Quellen entnehmen. Aber wir müssen uns klarmachen: Die Vorgänger Chlodwigs waren Kleinkönige, die haben eine civitas, also etwa die Größe eines Bistums, beherrscht. Was wollte man da teilen? Da konnte es allenfalls zur Samtherrschaft unter Königssöhnen kommen. Das haben wir einmal belegt: Da hat ein König mehrere Söhne, und die haben alle das Königtum repräsentiert, der älteste wahrscheinlich intensiver als die anderen; aber wenn man das „Reich“ geteilt hätte, wäre nicht viel übrig geblieben. Erst die Großreichsbildung schafft hier andere Möglichkeiten: Nun war die Masse da, die man auch teilen konnte. Die große Frage ist für meine Begriffe aber nicht geklärt: Warum verfahren die Franken so und warum verfährt man etwa im West- und Ostgotenreich, im Vandalenreich anders? Wahrscheinlich kamen hier verschiedene Momente zusammen, die zur fränkischen Teilungspraxis führten: Auf der einen Seite natürlich der Umstand, dass Chlodwig einen älteren Sohn hatte aus einer früheren Ehe, der schon herrschaftserfahren war und der sich durchsetzen konnte, der die Machtmittel und ein Gefolge hatte, der sich in der Politik schon als fähig erwiesen hatte; und dann gab es die drei Söhne aus der späteren Ehe mit der katholischen Chrodechilde, die offenbar als Mutter versucht hat, ihren Söhnen einen Anteil an der Herrschaft zu bewahren, so dass es sozusagen aus erbrechtlichem Denken und politischem Anspruch heraus erstmals 511 zu dieser Teilung gekommen ist. Aus der weiteren Entwicklung heraus hat sich dann im Frankenreich dieser Teilungsgedanke durchgesetzt, wobei wohl auch politische Erwägungen der

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verschiedenen Herrschaftsverbände eine Rolle gespielt haben dürften. Politische Erwägungen werden auch dazu beigetragen haben, dass die Merowinger in einer langen Schwächephase auf dem Thron bleiben konnten, der ihnen erhalten blieb zunächst durch den Herrschaftserfolg, dann durch Gewöhnung und schließlich durch Erwägungen der Adelsspitzen (Hausmeier), nach denen es leichter war, unter einem König die Macht auch gegenüber widerstrebenden Adelsfamilien auszuüben als auf dem Thron. Neuhaus: Das Wort hat Herr Burkhardt. Burkhardt: Wenn ich mich denn schon als letzter zur Tagung angemeldet habe und vom Vorsitzenden noch zugelassen wurde, will ich doch nicht auch als letzter das Wort ergreifen. Ich fand es sehr spannend, Herr Erkens, dass Sie die klassische Frage aufgenommen und von der Wurzel her entwickelt haben: Warum haben die Franzosen eine Erbmonarchie und wir eine Wahlmonarchie bekommen? Beides hat sich ja lange fortgesetzt. Es hat mir sehr eingeleuchtet, dass Sie sagen: Wenn die Entscheidung einmal gefallen war, dann war sie gefallen – das war dann auch eine Gewohnheitssache hier oder da, das kam mehrfach in Ihrer Argumentation zum Vorschein. Aber Sie haben noch ein weiteres Argument sehr stark gemacht: den biologische Zufall. Die Franzosen haben danach „Glück“ gehabt, weil sie die dynastische Kontinuität wahren konnten. Mich erinnert das etwas an Ernst Schubert, der auch gesagt hat, die ganze sogenannte Territorialpolitik des Mittelalters ist eigentlich nur biologischer Zufall gewesen, welche Dynastie ausstarb und welche die andere beerbte, auch wenn die Leute dann auf jeden Fall ihre Söhne alle ausgestattet haben, um die Dynastie bei der hohen Mortalität am Leben zu erhalten. Nun ist es für den Historiker etwas fachfern, wenn es der biologische Zufall gewesen sein soll – man hätte es doch lieber etwas struktureller. Und deshalb überlege ich, ob auch politisch-strukturelle Erklärungen möglich wären. Mir fällt spontan eine sehr alte ein: Könnte es sein, dass auf der – einfachheitshalber sage ich jetzt „deutsch“ und „französisch“ – deutschen Seite relativ stark und relativ früh selbstständige Gewalten da waren und man dieses Gemeinwesen nur zusammenhalten konnte mit einem verstärkten Konsensprinzip der Wahlherrschaft, während es auf der französischen Seite anders war? Das wäre eine Möglichkeit. Und dann fiel mir in Ihrem Vortrag an einer Stelle der schöne Satz auf: „Wahlreiche sind nicht teilbar.“ Das hat bei mir einen richtigen Aha-Effekt ausgelöst. Man denkt ja immer, dynastische Monarchien seien besonders stark und stetig – aber ist es tatsächlich so? Im Wahlreich herrscht nicht uneingeschränkt das dynastische Prinzip, sondern – was ist es eigentlich? – das institutionelle Prinzip. Nicht: „Ich bin an der Herrschaft, und was ich beherrsche ist mein Reich“, sondern die politische Einheit ist als solche da, und wir wählen jemanden hinein. Ich weiß, das ist idealtypisch gegenübergestellt. Die Frage wäre: Kann man noch weitergehen? Ist es so, dass Wahl-

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reiche eine große Integrationskraft durch diese Konsenshandlung der gemeinsamen Rekrutierung des obersten Amtsträgers produzieren? Dann wären wir in Deutschland eigentlich auch auf der guten Seite der Entwicklung, und es gibt eine Erklärung dafür, warum dieses oft verlästerte Alte Reich so lange zusammengehalten hat. Neuhaus: Bitte, Herr Erkens. Erkens: Zunächst zur ersten Frage, Herr Burkhardt: Mir läge fern zu behaupten, dass alles nur der biologische Zufall war. Ich habe ja versucht, verschiedene Elemente namhaft zu machen. Man muss aber wohl auch einfach sehen: Wenn es im Westfrankenreich so häufig zu Dynastiewechseln durch Aussterben der Königsfamilie gekommen wäre wie im Ostreich, dann wäre es unter Umständen nicht zur Erbmonarchie gekommen. Ich will nicht behaupten, dass dies eine zwangsläufige Kausalität ist, aber es ist doch auffällig, wie wichtig dieser Aspekt ist. Es dürfte nach meinem Empfinden anfänglich auch die relative Machtlosigkeit des Königs eine Rolle gespielt haben – obwohl das schwerer zu beweisen ist. Die Anerkennung, von der ich gesprochen habe, die die südfranzösischen Großen dem fernen König gewährten, war ohne weitere Folgen problemlos möglich, denn ansonsten haben die Fürsten in ihren Bereichen das Sagen gehabt, da besaß der König überhaupt keine Einflussmöglichkeiten. Erst das 13. Jahrhundert hat hier eine grundsätzliche Änderung im Süden Frankreichs gebracht. Das evoziert natürlich auch die Frage: Warum haben die Fürsten im Süden sich nicht selbstständig gemacht? Warum sind sie nicht selber in ihrem Bereich zur Königswürde aufgestiegen? Das hat man offenbar nicht als nötig empfunden. Man hat den fernen König weiterhin anerkannt – man konnte das tun, weil er auch nicht gefährlich war, und hierbei kamen dann die anderen Momente zum Tragen: auf der einen Seite die besondere Sakralisierung des französischen Königs, die ja schon mit Karl dem Kahlen 849 eingesetzt und die sich im Lauf der Jahrhunderte in einem gewaltigen Maße gesteigert hat, wie das bei keinem anderen Monarchen in Europa der Fall war, dann aber wohl auch sehr stark die fränkischen Traditionen: dass man sich als Franke, als Franzose fühlte, dass das (französische) Königtum in einen Zusammenhang mit Karl dem Großen gestellt worden ist. Der Bezug auf Karl den Großen – den König schlechthin – ist hier die definierende Kraft gewesen. Das alles dürfte zusammengespielt haben, und nachdem man sich dann an dieses System gewöhnt hatte, brach man nicht mehr aus diesem Denkhorizont aus, als die westfränkisch-französische Monarchie immer stärker wurde und die Loyalität nun auch erzwingen konnte. Schauen wir dagegen auf den Osten. Da haben wir das Phänomen, dass das Königtum unter den Ottonen im Vergleich zum Westreich wesentlich stärker gewesen ist. Und trotzdem ist es nicht gelungen, eine Erbmonarchie zu bilden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die biologischen Umstände

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auf diese Entwicklung einwirkten, aber auch die Tatsache, dass der König zunächst relativ mächtig gewesen ist. Dies verhinderte nämlich offenbar, dass im Ostreich die Substruktur der Königsherrschaft ausgebaut wurde, während die Könige im Westen in ihrer Krondomäne eine solche Substruktur aufbauen konnten. Dies erschien im Reich zunächst nicht notwendig und wäre, wie Sie zu Recht sagen, gegenüber den großen fürstlichen Gewalten natürlich auch nicht überall durchzusetzen gewesen. Deshalb war hier die integrative Kraft besonders wichtig. Es kommt also nach meinem Verständnis immer Strukturelles mit dem biologischen Zufall zusammen. Hinsichtlich des Wahlreichs habe ich nicht so scharf formuliert, wie Sie es getan haben („Wahlreiche sind nicht teilbar“). Ob dies so war, das hing sicherlich auch von den äußeren Umständen ab. Wenn Sie etwa an das polnische Königtum des 18. Jahrhunderts mit dem liberum veto des Adels denken, dann sehen Sie eine andere Konsequenz. Es kommen bei der Bewertung der Einheit sicherlich immer auch noch andere Momente hinzu, die zeitbedingt sind. Aber: Sobald es nur noch ein Reich und einen König gibt (wie es im West- und Ostfrankenreich seit dem 10. Jahrhundert der Fall war), dann stellt sich bei der Thronfolge automatisch die Alternative ein von dynastischer Nachfolge oder Wahl. Sobald das Reich und seine Einheit sozusagen zu einer Institution geworden waren, kann der Wahlgedanke ein einheitbewahrendes Element sein. Entscheidend hierfür scheint die institutionelle Verfestigung gewesen zu sein, die auch im Westfrankenreich eintrat, das seit dem 10. Jahrhundert ebenfalls nicht mehr geteilt worden ist. Neuhaus: Danke schön. Dann hat Herr Härter das Wort. Härter: Vielen Dank, Herr Erkens, für diesen magistralen Überblick, in dem Sie uns Verfassungsänderung als allmählichen Verfassungswandel geschildert haben, beruhend auf Gewohnheit und Verfestigung – sozusagen evolutionär. Dann aber haben Sie das Moment der Kontingenz eingeführt, und genau danach – ähnlich wie Herr Burkhardt – wollte ich auch noch einmal fragen, würde aber vielleicht weniger das Wahlreich als einen Moment von Zusammenhalt und Einheit betonen, sondern eher nach dem Element des Konfliktes fragen wollen. Welche Rolle spielt „Konflikt“ für Verfassungsänderungen? Letztlich geht ja diese Verfassung, wenn man so will, im Konflikt und im Krieg unter. Führt man das weiter, dann könnte man sich vorstellen, dass gerade die Intensität und destruktive Kraft von Konflikten und auch die Versuche, Konflikte nicht völlig zu vermeiden, aber soweit einzudämmen, dass nicht völlige Instabilität eintritt, dass alles dies eigentlich ein zentrales Element sein könnte, das zu dieser abweichenden Verfassungsentwicklung und letztlich zur Verfassungsänderung im Sinne von allmählichem Verfassungswandel führt oder jedenfalls neben der Kontingenz doch eine gewisse Rolle spielt.

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Erkens: Vielen Dank, Herr Härter. Die Kontingenz ist für mich, um es noch einmal zu betonen, nur ein Element, denn es hat immer besondere Rahmenbedingungen gegeben. Daher konnten natürlich die Konflikte beziehungsweise die Konfliktmomente entscheidend mit einwirken auf die Entwicklung. Die Hauptaufgabe des mittelalterlichen Königs ist es ja gewesen, solche Konflikte auszugleichen. Das müssen wir uns vor Augen halten. Dem König ist es wohl weniger darum gegangen, eine besondere Machtposition durchzusetzen, als vielmehr eine allgemeine Autorität zu behaupten. Der König gewann Anerkennung und Autorität, wenn es gelang, die Konflikte innerhalb einer Adelsgesellschaft auszugleichen. Wenn das nicht (mehr) gelang, dann entstand eine eigene Dynamik; und das ist genau das, was zum Ende des 9. Jahrhunderts passiert ist: Die Könige versagen bei dem Konfliktausgleich, und zu den Konflikten innerhalb der Adelsgesellschaft treten die Konflikte, die durch äußere Bedrohungen entstanden; und auf einmal entstand eine neue machtpolitische Situation, in der etwa bei den Königswahlen das Gewicht des Adels wesentlich größer wurde. Konflikte spielen mithin eine erhebliche Rolle, und das gilt natürlich auch für das weitere Geschehen. Ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, als ob das alles sehr gradlinig und harmonisch verlaufen wäre. Vielmehr haben gerade die Konflikte die Entwicklung vorangetrieben. Ich habe dies ein wenig angedeutet, etwa mit Blick auf den sogenannten Investiturstreit, der ja auch ein Konflikt des Königs mit den oppositionellen Adeligen gewesen ist. Gerade dieser Konflikt hat die Reichsverfassung in einem entscheidenden Maße verändert und nicht zuletzt die Entwicklung hin zum Wahlreich vorangetrieben. Neuhaus: Danke. – Herr Brauneder, Sie haben das Wort. Brauneder: Ja, danke. Eine Bemerkung zu Polen, weil es erwähnt worden ist: Dieser Gedanke „ein Wahlreich schützt eher die Einheit“, ist eigentlich sehr einleuchtend. Dass Polen schwach ist, sagt ja noch nichts über die innere Einheit aus. Parallel dazu könnte man Ungarn erwähnen und vielleicht auch das Reich im Jahr 1806: Der Anstoß zum Zerfall kommt von außen. Die Teilungen Polens sind ja keine innerpolnische Angelegenheit, und bei Ungarn und dem Reich 1806 ist es doch ähnlich. Aber ich wollte noch etwas anderes fragen: Wenn man von Teilung spricht: Ist Teilung gleich Teilung? Ich frage im Hinblick auf zwei Aspekte. Zum einen: Gibt es trotz Teilung etwas Gemeinsames? Zumindest gemeinsame Titelführung oder ähnliches? Zum zweiten: Gibt es bei Teilungsabkommen Vorsorge dafür, dass die Teilung gegebenenfalls doch wieder überwunden werden soll? Bei mittelalterlichen Teilungen auf landesfürstlicher Ebene ist ja beides dann der Regelfall. Ist das in Ihrem Untersuchungszeitraum auch so feststellbar?

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Erkens: Ja, Herr Brauneder, das ist so: Die Teilung des Fränkischen Reiches führte nicht zu einer Aufteilung des Reiches, sondern zur Abgrenzung von Herrschaftssphären innerhalb des Reiches. Der Titel war identisch: Alle Herrscher waren rex Francorum. Von daher ist auch immer wieder die Möglichkeit gegeben gewesen, dass diese Herrschaftsteilung überwunden wurde und die einzelnen Gebiete wieder zu einer größeren Einheit zusammenwachsen konnten. Keine dieser Teilungen bis hin zum Vertrag von Verdun 843 bedeuteten eine wirkliche Aufteilung des Reiches in modernem Sinne. Wo gibt es Elemente, an denen die Einheit deutlich wird oder wo sie zumindest postuliert werden konnte? Die Frankentage, die es nach 843 noch gibt (die Zusammenkünfte der karolingischen Brüder) sind hier zu nennen. Man traf sich, um gemeinschaftliche Probleme zu lösen. Da fassen wir noch ein Moment des Zusammenhalts. Aber auf der anderen Seite sieht man an diesen Frankentagen auch die Problematik des Ganzen: Es gab drei Brüder. Dreimal haben sich alle drei getroffen. Wesentlich häufiger trafen sich nur zwei. Dann war der Dritte in Sorge über das Vorgehen der anderen. Die Frankentage sind daher ein schönes Beispiel für die noch vorhandene Idee der Einheit, machen aber in der Praxis sehr deutlich, wie gefährdet dieses Zusammenwirken war. Neuhaus: Dann habe ich noch eine Wortmeldung von Herrn Kühne, bitte sehr. Kühne: Ich habe eine Frage, Herr Erkens, die die juristischen Aspekte ein wenig stärker, und zwar durchaus auch heuristisch einzubringen versucht: Könnte der Unterschied, den Sie zwischen Westfranken und Ostfranken herausgestellt haben nicht auch damit zu tun haben, dass sich im westfränkischen Bereich die römischen Strukturen der gallischen Provinz wesentlich stärker erhalten hatten als im Bereich Germaniens und insbesondere zur Ottonenzeit in der Germania Germanica? Das wäre ja ein Unterschied vom rechtlichen Untergrund her, dass man sich dort stärker und früher als hierzulande an Fortsetzungen römischer Rechtsvorstellungen orientiert hätte. Und auf der deutschen oder ostfränkischen Seite geht meine Frage dahin: Ist eigentlich die Gegenüberstellung von Erbe und Wahl derart grundsätzlich zu sehen? Wenn ich das Modell der Erbengemeinschaft anführe, dann sei dazu noch gesagt, dass die Kaiser und Könige bis zum Schluss, bis 1806, die Kurfürsten – deren Kreis ja interessanterweise auch sehr eng gehalten worden ist – als „meine Vettern“ angeredet haben. Damit habe ich eine Situation ähnlich wie heute, wenn es im Sterbefall der Eltern zur Erbengemeinschaft kommt und man sich einigen muss, was oft nicht ohne weiteres geht. Insofern also die Frage, ob wahl- und erbrechtliches Element nicht stärker zusammengehören, also weniger kontrovers zu sehen sind? Neuhaus: Danke schön, Herr Kühne. Abschließend nun Herr Erkens.

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Erkens: Ja, Herr Kühne, das ist ein sehr wichtiger Gedanke, den Sie vortragen. Er führt zu der Frage, ab wann man überhaupt von einer so scharfen juristischen Trennung zwischen Wahl und Erbe sprechen kann. Die Quellen geben da leider, nach meinem Empfinden, nicht so viel her. Ich persönlich habe den Eindruck, dass diese Dichotomie, in der also mein Vortrag endet, in der fränkischen Epoche noch nicht so scharf gewesen ist. Sie haben vielleicht gemerkt, dass ich den Begriff der Wahl grundsätzlich zu vermeiden versuche für die Frühzeit der fränkischen Epoche. Ich habe sehr stark von Zustimmungshandlungen, von Konsenshandlungen und dergleichen gesprochen, weil ich mir nicht sicher bin, ob hier für die Zeitgenossen eine strikte juristische Alternative zwischen Wahl oder Auswahl auf der einen und Erbgang auf der anderen Seite gegeben war, und ob die Dinge nicht eher auf die Weise ineinander liefen, wie Sie das charakterisiert haben. Erst im weiteren Verlauf der Entwicklung – wohl erst seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert – spielt die juristische Präzisierung zunehmend eine Rolle auf der Ebene der Thronfolge und setzte Alternativen gegeneinander. Die Erbengemeinschaft – stirps regia – ist durchaus belegt, gerade für die fränkische Epoche. Der Anspruch, den die Königssöhne auf Herrschaft entwickeln konnten, erwächst natürlich aus der Erbengemeinschaft dieser stirps regia. Nur, davon hören wir nach dem 10. Jahrhundert nichts mehr. Ob man jedoch von einer Erbengemeinschaft König/Kurfürsten reden könnte oder sollte, da hätte ich persönlich meine Zweifel. Karl IV. hat zwar die Kurfürsten sehr bevorzugt durch die Goldene Bulle. Er hat sie zum Körper des Reiches hinzugerechnet und als besondere Mitglieder des Reiches deklariert, auf die der König sich stützen kann. Es gibt sicherlich, rechtlich gesehen, auch politisch gesehen, einen engen Wirkverbund zwischen König und Kurfürsten, aber ich glaube nicht, dass man diesen Wirkverbund soweit dehnen darf, dass aus ihm eine Erbengemeinschaft des Reiches wird. Denn letztlich sind bei den Wahlen andere Kriterien für die Auswahl hinzugekommen, seit 1438 auch wieder sehr stark der dynastische Gedanke, in der Zeit davor aber eher politische Umstände. Hinsichtlich der Frage nach den stärkeren und daher wirkmächtigeren Strukturen im Westfrankenreich kann unumwunden festgestellt werden: Die gab es in der Tat. Im Moment ist in meinem Fach wieder die Diskussion aufgelodert, wie es um den Staat im früheren Mittelalter steht. Das ist ja immer wieder in gewissen Abständen diskutiert worden. Heute spricht man lieber von Staatlichkeit. Von diesem Aspekt her kann man die beiden Staatswesen Ost- und Westfrankenreich – Deutschland /Frankreich – miteinander vergleichen und nach den Elementen der Staatlichkeit fragen. Dann wird klar, dass die römische Substruktur, die sich links des Rheins stärker erhalten hat, für die Ausprägung des Staatscharakters von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen ist. Allerdings denke ich, dass dies für die Erblichwerdung des Königtums von nachgeordneter Bedeutung war. Wenn Sie sich an

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meine Bemerkung erinnern, dass zu Beginn des 10. Jahrhunderts der Wahlgedanke und der Einsatz der Wahlmöglichkeit im Westfrankenreich offenbar wesentlich intensiver gewesen sind als im Ostfrankenreich, dann lässt sich das kaum von den römischen Strukturen her erklären, sondern dadurch, dass die Adelsverbände politisch wesentlich aktiver und agiler gewesen sind als das im Osten der Fall war. Das mag seinerseits wieder auf einen Vorsprung in der Entwicklung des herrschaftlichen Denkens im Westen zurückzuführen sein, den man romanisch unterfüttern kann, aber hinsichtlich der Frage, warum das Westreich eine Erbmonarchie wurde, muss deutlich betont werden, dass im Westen zunächst gewählt und mit größerem Effekt gewählt worden ist als im Ostreich. Erst in der weiteren Entwicklung, als sich die Rahmenbedingungen ändern, wird das Westreich zur Erbmonarchie. Wenn man die Verhältnisse des 10. Jahrhunderts nimmt, kann man sagen, das Westreich sei prädestiniert gewesen, eine Wahlmonarchie zu werden – aber genau das geschieht nicht. Neuhaus: Vielen Dank, Herr Erkens, für Ihre eingehenden Antworten, Präzisierungen und Weiterführungen. – Meine Herren, hier unterbreche ich jetzt die Ausprache, damit wir in die Kaffeepause gehen können. Wenn nachher noch Bedarf bestehen sollte, die Diskussion des Vortrages von Herrn Erkens fortzusetzen, können wir das gerne für etwa zehn Minuten tun, und dann leite ich über zum Vortrag von Herrn Lanzinner.

Recht, Konsens, Traditionsbildung Die Goldene Bulle im Verfassungsleben des Alten Reiches Von Maximilian Lanzinner, Bonn I. Zur Fragestellung Der Beitrag befasst sich zwar allgemein mit der Geltung der Goldenen Bulle im Verfassungsleben des Heiligen Römischen Reiches, dabei stehen jedoch gemäß der Thematik des Tagungsbandes die Verfassungsänderungen im Mittelpunkt.1 Es ist bekannt, dass bei der Anwendung der Goldenen Bulle nicht nur Änderungen, sondern auch die Nichtbeachtung mancher Bestimmungen von 1356 geradezu kennzeichnend waren, und das fortgesetzt in den 450 Jahren, in denen das kaiserliche Rechtsbuch Karls IV. in Kraft war. Ziel ist es aber nicht, die Normen, die sich änderten oder unbeachtet blieben, chronologisch-systematisch zu erfassen und zu erläutern. Das haben schon rechtswissenschaftliche Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert unternommen2, und auch in der Geschichtswissenschaft ist die Goldene Bulle mehrfach in dieser Weise behandelt worden.3 Um freilich eine 1 Wichtige neuere Publikationen: Evelyn Brockhoff / Michael Matthäus (Hrsg.), Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356 – 1806. Eine Ausstellung des Instituts für Stadtgeschichte, des Historischen Museums, des Dommuseums und des Museums Judengasse (Dependance des Jüdischen Museums), Frankfurt am Main 30. September 2006 bis 14. Januar 2007, Bd. 2: Aufsätze, Frankfurt am Main 2006; Ulrike Hohensee [u. a.] (Hrsg.), Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption, Bd. 2 (= Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, Sonderband 12), Berlin 2009; Helmut Neuhaus, Die Goldene Bulle von 1356 in der Frühen Neuzeit, in: Matthias Stadelmann / Lilia Antipow (Hrsg.), Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 77), Stuttgart 2011, S. 27 – 43. 2 Beginnend 1612, wurden solche Arbeiten um 1700 häufiger. Vgl. Johann Samuel Stryk, Disputatio Iuris Publici exhibens Aureae Bullae controversias potiores, Halle 1699; Jakob Brunnemann, Dissertatio Iuris Publici de Aureae Bullae mutatione, Halle 1700. 3 Zusammenfassend Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Teil 1: Entstehung und Bedeutung der Goldenen Bulle. Teil 2: Text der Goldenen Bulle und Urkunden zu ihrer Geschichte und Erläuterung, Weimar 1908; Armin Wolf, Das „Kaiserliche Rechtbuch“ Karls IV. (sogenannte Goldene Bulle), in: Helmut Coing (Hrsg.), Jus Commune II (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main), Frankfurt am Main 1969, S. 1 – 32; Winfried Dotzauer, Überlegungen zur Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. unter beson-

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knappe Orientierung zu geben, findet sich später4 eine geraffte Übersicht zu den Änderungen und zu dem Nichtbeachteten. Das Erkenntnisziel ist ein anderes. Der Begriff Verfassungsleben bezeichnet grundsätzlich die Anwendung der Verfassungsnormen durch die unmittelbar Beteiligten, allerdings wird dies hier nicht in einem engen verfassungsrechtlichen Sinn verstanden. Vielmehr schließt „Verfassungsleben“ darüber hinaus die Veränderungen des Verfassungsverständnisses ein, ferner die Politik, die für die Anwendung der Normen maßgebend war. Schließlich werden auch die kommunikativen Vorgänge beachtet, etwa das Zeremoniell oder der mediale Diskurs zur Goldenen Bulle. Der Begriff „Verfassungsleben“ kennzeichnet also eine kultur- und kommunikationsgeschichtliche Perspektive. Sie folgt aus der Überzeugung, dass es nicht genügt, die Geltungsansprüche vormoderner Verfasstheit allein auf vereinbarte und verfasste Gesetzestexte zurückzuführen. Für die Legitimation waren zwar das informell gehandhabte oder formell gesetzte Recht und nicht zuletzt der politische Konsens ausschlaggebend, doch die konkrete Ausformung und nachhaltige Legitimierung des Rechts konstituierten sich erst im Handeln. Mitunter setzte allein das wiederholte Handeln den Geltungsanspruch, ohne dass eine Norm formuliert worden wäre. In allen Fällen wurde die anerkannte Rechtsnorm im Handeln interpretiert, bekräftigt oder relativiert. Dabei hatten rituelle und zeremonielle Praktiken, Herkommen und Befolgung, Schriftlichkeit und Publizistik beachtenswerte Bedeutung. Auch das Sprechen und Schreiben über das gesetzte und praktizierte Recht wirkte handlungsleitend und traditionsbildend. Die folgende Analyse trägt dem Rechnung und damit zugleich der Einsicht, dass „Politik“ und „Gesellschaft“ der Vormoderne noch keine ausdifferenzierten Systeme bildeten und dass es noch keine funktionale Autonomie des Rechts- und „Verfassungssystems“ gab. Dennoch sind Begriffe wie „Recht“ oder „Verfassungsrecht“ unverzichtbar, nicht nur um sich zu verständigen, sondern auch weil sich die Sphäre des Rechts schon in der Vormoderne fortschreitend ausdifferenzierte. Wenn man von einem solchen Ansatz ausgehend das Verfassungsleben als „Verfassungskultur“ versteht, in der „Verfassung und ihre laufende symbolische, performative Reproduktion in eins fallen“5, und wenn man diese Perspektive auf die Goldene Bulle derer Berücksichtigung des rechtlichen Hintergrundes, in: Landesgeschichte und Reichsgeschichte. Festschrift für Alois Gerlich zum 70. Geburtstag, hrsg. von dems. [u. a.] (= Geschichtliche Landeskunde, Bd. 42), Stuttgart 1995, S. 165 – 193. 4 Siehe unten IV. 5 Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 127 (2010), S. 1 – 31, hier S. 15; vgl. auch Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte, 5. verb. und erg. Aufl., Frankfurt am Main 2006; Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven, Stuttgart [u. a.] 2003; Silvia Serena Tschopp / Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.),

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anwendet, öffnet sich ein weiter Fragehorizont, der sich im Rahmen einer kleinen Studie nicht annähernd in ganzer Breite beantworten lässt. Daher gehe ich von einem Fallbeispiel aus, dessen Analyse zu allgemeinen Beobachtungen zum Verfassungsleben führen soll. Was könnte ein solches Fallbeispiel sein? Im Diskurs der Juristen und Historiker zur Goldenen Bulle galt stets die „Kurfürstenverfassung“6 als „rechtliches Kernstück“ des Reichsgrundgesetzes. Maßgebend für dieses Kernstück war bekanntlich die Festlegung, wer zu den Kurfürsten gehörte, sodann die Königswahl, die Rolle der Kurfürsten im Reich sowie ihr Rang.7 Fragt man nach Verfassungsänderungen innerhalb der „Kurfürstenverfassung“, ist die Übertragung der pfälzischen Kurwürde auf den bayerischen Herzog Maximilian I. ein wesentliches Fallbeispiel. Die Konsequenz daraus war die neue, achte Kurwürde, die mit dem Westfälischen Friedensvertrag geschaffen wurde. Demgemäß beschäftigt sich der erste Teil der Ausführungen mit der Übertragung der Kur auf den Bayernherzog. Welche Bedeutung hatte die Goldene Bulle für das Zeremoniell und die rechtliche Anerkennung bei der Kurtranslation des Jahres 1623? Zweitens werden die Novellierungen des Westfälischen Friedenskongresses zur Kurfürstenverfassung bewertet. Wie wurde die Verfassungsänderung 1648 verstanden und legitimiert? Drittens folgen verallgemeinernde Überlegungen, wie Änderungen der Goldenen Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007; Marcel Senn / Dániel Puskás (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft? Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte, Bd. 115), Stuttgart 2007. 6 Adolf Laufs, Art. Goldene Bulle, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, Sp. 1739 – 1746, hier Sp. 1741. 7 Weitere Elemente der „Kurfürstenverfassung“: der Vorrang vor den Reichsfürsten generell, die besondere Stellung des Erzbischofs von Mainz und des Reichserzkanzlers (Ladung, inquisitio votorum, ultimum votum), Reichsvikariat, Korporationsbildung mit Majoritätsprinzip, Krönungszeremoniell und Hofdienst, Verpflichtung zu jährlichen Versammlungen und den beiden allgemeinen Verboten (Verbot von Bündnissen, Verbot der Pfahlbürger). Unter den besonderen Rechten der Kurfürsten sind hervorzuheben die Privilegia de non evocando und de non appelando, Primogenitur und Unteilbarkeit. Ausgaben: Wolfgang D. Fritz (Hrsg.), Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Einleitung zur Edition, in: MGH Fontes iuris antiquis XI, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Zentralinstitut für Geschichte, Weimar 1972, S. 9 – 35, besonders S. 13 – 21; ders. (Hrsg.), Die Goldene Bulle vom 10. Januar und 25. Dezember 1356. Einleitung zur Edition in: MGH Constitutiones XI, Weimar 1988, S. 535 – 558, besonders S. 540 – 550; Nachweise von 76 weiteren lateinischen Abschriften, 63 Handschriften mit einer deutschen, drei mit einer französischen und eine mit einer spanischen Übersetzung in ders., Die Goldene Bulle vom 10. Januar und 25. Dezember 1356, S. 553 – 556; Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356. Faksimile der Ausfertigung für den Kurfürsten von Köln, mit einer Einleitung von Kurt Hans Staub und Jörg-Ulrich Fechner sowie einer Übersetzung von Konrad Müller, Darmstadt 1982; Wolf, Das „Kaiserliche Rechtbuch“ (FN 3); Bernd-Ulrich Hergemöller, Fürsten, Herren und Städte zu Nürnberg 1355 / 56. Die Entstehung der „Goldenen Bulle“ Karls IV. (= Städteforschung, Reihe A, Bd. 13), Köln [u. a.] 1983; Dotzauer, Überlegungen zur Goldenen Bulle (FN 3).

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Bulle in der Verfassungswirklichkeit umgesetzt wurden und Geltungskraft erlangten. Viertens werden zusammenfassend Zeremoniell, publizistischmediale Traditionsbildung, Politik und Recht aufeinander bezogen. Ihre Wechselwirkung meint der Begriff Verfassungsleben. II. Zeremoniell und Rechtsakt – Die Belehnung Maximilians I. von Bayern mit der vierten Kurwürde 1623 Beginnen wir mit dem Zeremoniellen, um seine Geltungskraft anhand des gewählten Beispiels zu untersuchen. Obwohl die Belehnung Maximilians I. von Bayern gravierend die Regelung der Goldenen Bulle zur vierten Kur veränderte, ging ihr keine öffentliche Verlautbarung des Wiener oder Münchener Hofs voraus. Der Akt selbst, die „öffentlich“ genannte Belehnung am 25. Februar 1623, konstituierte die Veränderung nach einem urkundlichen Vorlauf.8 Er bestand darin, dass Kaiser Ferdinand II. am 22. September 1621 dem bayerischen Herzog in einer streng geheimen Urkunde die pfälzische Kur übertrug. Der amtierende Kurfürst Friedrich V. war zuvor am 29. Januar 1621 geächtet worden; damit musste der Kaiser sein Versprechen einlösen, das er Maximilian I. für die Waffenhilfe gegen die böhmischen Aufständischen gegeben hatte. Von der förmlichen Belehnung erwartete Ferdinand II., dass sie den Herzog von Bayern unmittelbar zum Kurfürsten erhob. Die Frage ist im Folgenden, in welcher Weise diese Erwartung eintraf, darüber hinaus, welche Geltungskraft Belehnungsrituale im Sinn der Goldenen Bulle im Allgemeinen hatten. Betrachten wir das Ereignis selbst. Die Belehnung fand statt im Rittersaal des Bischofshofs zu Regensburg. Begleitet von Herolden und Höflingen betrat morgens um 10 Uhr der Kaiser den Saal und nahm auf einem erhöhten, mit goldenem Tuch bespannten Thron Platz. Neben ihm saßen oder standen die Kurfürsten von Mainz und Köln, die Bischöfe von Regensburg, Eichstätt und Augsburg, der päpstliche Nuntius Carlo Carafa und die Landgrafen von Hessen-Darmstadt, dazu Herolde, Räte, Gesandte und Geistliche in unbekannter Zahl. Im Vorzimmer wartete Herzog Maximilian. Der Akt der Investitur wurde eröffnet durch eine Rede des Reichsvizekanzlers von Ulm, der eine Stunde lang begründete, warum nun die Kurwürde 8 Drucke und Berichte u. a. bei: Michael C. Londorp, Acta publica: Das ist […] Reichshandlungen. Von Ursachen des Teutschen Kriegs, weyland Keysers Matthiae und Ferdinandi II., wider die Böhmen, Ungarn u. a. Stände des Reichs von 1617 biss 1627, Frankfurt am Main 1627, S. 674; Briefe und Akten zur Geschichte des Dreissigjährigen Krieges. Neue Folge: Die Politik Maximilians I. von Baiern und seiner Verbündeten 1618 – 1651. Teil 2, Bd. 1: 1623 / 1624, bearb. von Walter Goetz, Leipzig 1907, S. 44 f.; Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, hrsg. von Karl Bosl, Abt. 1: Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 3, Teil 2: Altbayern 1550 – 1651, bearb. von Walter Ziegler, München 1992, S. 938 f.

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vom pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. auf Maximilian I. von Bayern übertragen werde. Nach der Antwort des bayerischen Obersthofmeisters begannen die Förmlichkeiten. Der Herzog im Vorzimmer wurde in einem komplizierten Verfahren verständigt und eingelassen. Er schritt durch den Saal, dreimal niederkniend, bat den Kaiser um Belehnung, der Reichsvizekanzler antwortete, der Herzog dankte. Nach der Einkleidung mit „Churhütlein“ und Kurmantel sprach Maximilian den Eid und küsste das Schwert, das ihm der Reichserbmarschall darbot. Der Kaiser reichte ihm abschließend die Hand. Maximilian verließ rückwärtsgehend, mit dreimaligem Kniefall, den Saal, der Kaiser folgte. Zu diesem Vorgang existieren gedruckte und ungedruckte Berichte9, die eine zuverlässige Rekonstruktion ermöglichen. Mehrere zeitgenössische Publikationen verbreiteten das Ereignis, teils als knappe Meldung, teils als detailreiche Beschreibung des Vorgangs, aber immer ohne Kommentierung, wie das üblich war. Die Beschreibungen stimmen mit jenen überein, die durch Gesandte überliefert sind. Die mehrfachen Publikationen belegen das öffentliche Interesse. Als Bild hingegen wurde die Belehnung zeitnah nicht bekannt gemacht, weder auf einem illustrierten Flugblatt noch auf einem anderen Einblattdruck. Jedoch existiert eine einzige ausgeführte Abbildung, ein Ölbild auf Holz, freilich erst aus dem Jahr 1624. Es stammt von einem unbekannten Künstler10, der sein Werk allerdings nicht für eine breite Öffentlichkeit schuf, sondern für die Kapitelkirche des Klosters Scheyern, die älteste Grablege der Wittelsbacher. Das Bild verfälscht das tatsächliche Geschehen nicht nur in Details, sondern enthält wesentliche Abweichungen, die offenkundig tendenziös sind. Ich nenne nur zwei: Zum einen verlegt das Scheyerner Bild die Investitur ins Freie. Zum anderen zeigt es weniger Personen, als nach den Berichten anwesend waren. Vor allem jedoch fügt es Kurfürsten hinzu, die ohne Zweifel nicht dem Zeremoniell beigewohnt haben. Tatsächlich am 25. Februar 1623 anwesend waren allein der Mainzer und Kölner Kurfürst.11 Ins Scheyerner 9 Zusammenfassend Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573 – 1651, München 1998, S. 571 (dort Anm.109 mit weiterführender Literatur). 10 Es gibt noch einen flüchtigen Stich, der dem Augsburger Stadtmaler Johann Matthias Kager zugeschrieben wird: Heinz Schilling [u. a.] (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 – 1806. 29. Ausstellung des Europarates in Berlin und Magdeburg, Bd. 1: Katalog, Dresden 2006, S. 284 f.; daneben existiert noch eine ebenso flüchtige Zeichnung: Michael Meuer, Die gemalte Wittelsbacher Genealogie der Fürstenkapelle zu Scheyern (= Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München, Bd. 79), München 1975, S. 109 – 113; Farbtafeln u. a. in Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 2, Teil 2: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Katalog der Ausstellung in der Residenz in München 12. Juni – 5. Oktober 1980, München 1980, S. 352 – 356. 11 Zum Geschehen auch Maximilian Lanzinner, 25. Februar 1623. Der Regensburger Deputationstag – Bayern wird Kurfürstentum, in: Alois Schmid / Katharina Weigand (Hrsg.), Bayern nach Jahr und Tag. 24 Tage aus der bayerischen Geschichte, München 2007, S. 248 – 262.

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Bild gesetzt sind jedoch mit dem belehnten alle sechs Kurfürsten, nämlich auch Trier, Sachsen und Brandenburg, die gar nicht nach Regensburg angereist waren. Die böhmische Kur ruhte. Das Bild war für die Nachwelt bestimmt, daher die verfälschende Darstellung. Ob der Maler von Kurfürst Maximilian I. zu genau dieser Abbildung beauftragt war, wissen wir nicht, aber sie kam sicher seinen Wünschen entgegen, da die Regensburger Translation offenkundig Mängel hatte, die das Bild retuschierte. Der große Mangel war, dass nur zwei Kurfürsten die Translation durch ihre Anwesenheit legitimierten. Die Anwesenheit von sechs Kurfürsten, die das Bild zeigt, sollte demgegenüber sinnfällig machen, dass das gesamte Kurkolleg den Bayernherzog aufgenommen hatte und ihn uneingeschränkt anerkannte. Der Künstler verlegte außerdem die Belehnung vom Rittersaal ins Freie, um sie dem Erinnerungshorizont vergangener feierlicher Akte besser anzupassen. Welche Wirkung hatte das Zeremoniell? Tatsächlich war im Jahr 1624 die Translation weder im Reich noch in Europa vollständig anerkannt.12 Lag dies, wenigstens zum Teil, an den Schwächen der Regensburger Translation, also an den Schwächen des konstituierenden Rechtsakts, wie er gemäß der Goldenen Bulle für feierliche Kurbelehnungen herkömmlich geworden war? Folgt man der jüngeren Zeremonialforschung, wäre die Frage bei oberflächlicher Betrachtung zu bejahen. Ihre These ist, dass Ritual und Zeremoniell als konstituierende Rechtsakte „transformativ“13 wirkten, d. h. dass exakt formalisierte Handlungssequenzen in ihrer Wiederholung Sinn stifteten, einen Sinn, der bekannt war und der durch die exakt ausgeführte Form erinnert und konstitutiv wurde. Er stellte unmittelbar verbindliches Recht her. Genügte die Kurtranslation in diesem unvollkommenen Vollzug in Regensburg also nicht, um Legitimität und rechtliche Akzeptanz zu begründen? Rufen wir uns die Kurbelehnungen seit dem 15. Jahrhundert in Erinnerung, die noch den Vorgaben der Goldenen Bulle folgten. Sie waren der entscheidende „Rechtsakt“14 gegenüber den Urkunden mit ihrer fortdauernden Beweiskraft. Das turnierähnliche Ritual15 der Belehnung fand üblicherweise 12 Albrecht, Maximilian I. (FN 9), S. 574; Andreas Kraus, Maximilian I. Bayerns Großer Kurfürst, Graz [u. a.] 1990, S. 325. 13 Harriet Rudolph, Kontinuität und Dynamik – Ritual und Zeremoniell bei Krönungsakten im Alten Reich. Maximilian II., Rudolf II. und Matthias in vergleichender Perspektive, in: Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im interkulturellen Vergleich, Köln [u. a.] 2005, S. 377 – 399, hier S. 381. 14 Alexander Begert, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des alten Reiches. Studien zur Kurwürde und staatsrechtlichen Stellung Böhmens (= Historische Studien, Bd. 475), Husum 2003, S. 275. 15 Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsakt oder Fest? Die „solemnis curia“ der Goldenen Bulle und ihr Fortleben in der Frühen Neuzeit, in: Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher (FN 1), S. 94 – 104.

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unter freiem Himmel statt, in Anwesenheit des Kaisers und der Kurfürsten zu seiner Rechten und Linken, wie die Goldene Bulle vorschrieb, und ebenso gehörte das anwesende Volk zum öffentlichen Akt. Zunächst traten hochrangige Fürsprecher für den zu Belehnenden auf, zu Pferd wie die begleitenden Vasallen und Söldner mit den Fahnen, die das Land und das Gericht symbolisierten. Sie umritten dreimal die kaiserliche Empore, dann erst baten Fürsprecher und Lehensmann kniend um die Investitur. Bei der Erstinvestitur, damit auch bei einer Kurübertragung, gab der Investiend dem Kaiser seine Fahnen, leistete den Vasalleneid auf das Evangelium, küsste das Reichsschwert und nahm dann seine Fahnen aus der Hand des Kaisers zurück. Dabei reichte der Kurfürst von Mainz beim Eid das Evangelium und sprach für den Kaiser. Links von ihm saßen der Pfälzer Kurfürst mit dem Reichsapfel, der sächsische mit dem Reichsschwert und der brandenburgische mit dem Zepter. Nach kurzer ritueller Beratung des Kaisers mit den Kurfürsten teilte der Mainzer Kurfürst dem Investienden die Zustimmung mit. Die öffentliche Fahnenbelehnung in dieser Form war im 15. Jahrhundert im Gebrauch, im 16. Jahrhundert sogar noch einmal mehrfach im pompösen Vollzug beim Reichstag zu Augsburg 1530. Die Gründe für die Belehnungen des Jahres 1530 sind hier nicht zu erörtern. Wichtig sind allein die beiden letzten öffentlichen Fahnenbelehnungen in den Jahren 1548 und 1566, weil sie für die Belehnung von 1623 das Vorbild abgaben, nicht weil sie zeitlich am nächsten lagen, sondern weil auch sie eine Änderung der Goldenen Bulle bedeuteten. Wie 1623 die vierte, wurde 1548 die fünfte Kurwürde von einem Zweig einer Dynastie auf den anderen übertragen. Es war die erste Translation in der Reichsgeschichte überhaupt. Der Vergleich allein des Zeremoniells mit 1623 ist bemerkenswert. Später wird noch über die Geltungskraft von Urkunden und politischem Konsens bei beiden Translationen zu sprechen sein. 1548 fand die Belehnung während des Augsburger Reichstags statt16, als Kaiser Karl V. dem Albertiner Herzog Moritz von Sachsen die wettinische Kur übertrug, die er dem geächteten Johann Friedrich I. aus der ernestinischen Linie entzogen hatte. Der Akt von 1548 folgte dem großen Zeremoniell „unter dem Himmel“. 1566 belehnte Kaiser Maximilian II. in Augsburg den Bruder und Nachfolger von Moritz, Kurfürst August.17 Tausende Bürger 16 Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Augsburg 1547/1548, Bd. 3, bearb. von Ursula Machoczek, München 2006, S. 2532 – 2545; Urkunde für die Belehnung von Kurfürst Moritz in: Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, Bd. 3: 1. Januar 1547 – 25. Mai 1548, bearb. von Johannes Herrmann und Günther Wartenberg (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, Bd. 68, Heft 3), Berlin 1978, S. 727 – 732. 17 Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556 – 1662. Der Reichstag zu Augsburg 1566, Bd. 2, bearb. von Maximilian Lanzinner und Dietmar Heil, München 2002, S. 1498; Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Bei-

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und Besucher bestaunten wie schon 1548 das großartige Schauspiel auf dem Augsburger Weinmarkt. Vor dem mit kostbaren Teppichen errichteten „Palast“ des Kaisers paradierten fast 1200 prächtig in Gelb und Schwarz gekleidete sächsische Reiter, gaben Trompeter und Heerpauker die akustischen Signale, bevor die Elemente des im 15. Jahrhundert ausgebildeten Belehnungszeremoniells im feierlichen Akt vorgeführt wurden. Von den Kurfürsten fehlte 1566 nur der bereits kränkliche Joachim II. von Brandenburg. Der Ablauf 1623 war, wie gezeigt, ganz anders. Im Rittersaal fehlten sogar Gesandte von Sachsen und Brandenburg, nicht nur die Kurfürsten persönlich. Kur- und Lehenfahnen konnten „in der Kammer“ ohnehin nicht überreicht werden. 1566 sprach für den Kaiser noch der Mainzer Kurfürst selbst zum Belehnten, nun lediglich der Reichsvizekanzler, faktisch ein Amtsträger des Kaisers, und auch sonst wich das Zeremoniell in vielen Einzelheiten ab. Zur Genügsamkeit der Feier passte es, dass Maximilian 1623 „bei beschehener danksagung ganz forchtsamb geret“, wie der kursächsische Gesandte Friedrich Lebzelter nach Dresden meldete. Nicht die Kurfürsten wie in der Darstellung zu Scheyern, sondern Geistliche bestimmten tatsächlich das Bild im Rittersaal, in den Worten Lebzelters „etliche capuciner, jesuwider und sonsten eine grosse anzal pfaffen […], welche alle mit grossem frolocken zugesehen haben und inen kräftig eingebildet, es werde numer aller [!] nach iren willen und wunsch hinauslauffen“.18 Die Belehnung 1623 hatte sich also weit von der Goldenen Bulle und dem Herkommen entfernt, die zusammen genommen eigentlich nur noch Vorlagen lieferten, um Handlungssequenzen zusammenzustückeln. Das Zeremoniell beachtete die Regeln nur selektiv, es projizierte allein noch wesentliche Elemente eines Erinnerungshorizonts.19 Konnte ein derart aufgelöstes Zeremoniell noch der Belehnung Geltungskraft verleihen oder gar, wie es Bernd Schneidmüller für die Handlungssequenzen der Goldenen Bulle formulierte, im konstituierenden Akt das Reich erstehen lassen, „materiell wie imaginär“.20 träge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18), Göttingen 1980, S. 288 – 293; Jutta Bäumel, Das Zeremoniell der Belehnung Herzog Augusts von Sachsen mit der sächsischen Kurwürde 1566 in Augsburg, in: Dresdener Kunstblätter 30 (1986), S. 71 – 77; Nikolaus Mameranus, Kurtze unn eigentliche verzeychnus der Teilnehmer am Reichstag zu Augsburg 1566, wiederveröffentlicht und eingeleitet durch Hanns Jäger-Sunstenau (= Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen, Bd. 29), Neustadt an der Aisch 1985, S. 125 – 140. 18 Die Zitate aus: Goetz, Die Politik Maximilians I. (FN 8), S. 44 f. 19 Jenny Rahel Oesterle, Kodifizierte Zeiten und Erinnerungen in der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV., in: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), S. 1 – 29, hier S. 18. 20 In dieser Form: „Alle sahen es, erlebten es, fühlten es, hörten es.“; Bernd Schneidmüller, Die Aufführung des Reichs. Zeremoniell, Ritual und Performanz in der Goldenen Bulle von 1356, in: Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher (FN 1), S. 76 – 92, hier S. 87.

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Die Antwort ist keineswegs ein klares Nein.21 Änderungen und Störungen des Zeremoniells der Goldenen Bulle wurden zu allen Zeiten hingenommen, solange das Regelhafte bei den Wahlen, Belehnungen oder Krönungen vorherrschte. Die Belehnung am 25. Februar 1623 hielt allerdings auch das Elementare nicht ein. Einer der nahezu peinlichen Regelverstöße war, dass bayerische Amtsträger die Rollen der nicht anwesenden Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen übernahmen und sogar deren Insignien trugen.22 Ähnliches ist zur Reichsversammlung zu sagen, die den Rahmen für die Translation 1623 bildete. Es war kein Reichstag wie noch 1548 oder 1566, sondern ein Fürstentag, wie er in der gegebenen Form noch nie zusammengetreten war. Der Kaiser hatte alle Kurfürsten mit Ausnahme des geächteten Pfälzers Friedrich V. geladen und einige Fürsten, die ihm politisch zu passen schienen, weil sie wie die Landgrafen von Hessen-Darmstadt die protestantischen Reichsstände repräsentierten oder wie die Bischöfe keine Schwierigkeiten machten. Der Regensburger Tag 1623 bildete zwar einen Reichsdeputationstag nach, weil die Kurfürsten und ein Teil der Fürsten repräsentiert waren. Er war aber in der vom Kaiser arrangierten Zusammensetzung in keiner Weise eine reguläre Reichsversammlung23 und konnte an das Reich als rituelle und zeremonielle Gemeinschaft nur sehr unzureichend erinnern. Trotzdem erreichte das rudimentäre Zeremoniell seinen Zweck, erreichten der Kaiser und der Belehnte Maximilian I. von Bayern sogar mehr als die großen Inszenierungen „unter dem Himmel“ 1548 und 1566, die nicht die Translation konstituierten, sondern nur noch bekräftigten. Der öffentliche Akt im Jahr 1623 aber stellte her, was er so unzureichend abbildete: die Übertragung der Kur. Denn Maximilian nannte sich erst seit dem 25. Feb21 Aus den Diarien, die seit 1562 zu den Wahl- und Krönungsakten angelegt wurden, geht hervor, dass selbst dabei das Zeremoniell der Goldenen Bulle ständig abgewandelt wurde. Auch wurden Veränderungen gar nicht erwähnt. Dass etwa Kaiser Maximilian II. 1562 bei seiner Krönung zum Römischen König auf die Kommunion verzichtete, verzeichneten weder die meisten Berichte noch das Diarium Habersacks; Rudolph, Kontinuität und Dynamik (FN 13), S. 397; Friedrich Edelmayer [u. a.] (Hrsg.), Die Krönungen Maximilians II. zum König von Böhmen, Römischen König und König von Ungarn (1562/63) nach der Beschreibung des Hans Habersack, ediert nach CVP 7890 (= Fontes rerum Austriacarum, Österreichische Geschichtsquellen, Abt. 1: Scriptores, Bd. 13), Wien 1990, S. 155 – 161. 22 Beschreibung bei Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale HistoricoPoliticum, Oder Historisch- und Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien, Welche bey Päbst- und Käyser-, auch Königlichen Wahlen und Crönungen […] Ingleichen bey Grosser Herren und dero Gesandten Einholungen […] beobachtet werden, Bd. 2, Leipzig 1720, S. 951 f., URL: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/drwLuenig1720/ 1425?sid=1c3da590540647425c74a73e928efa5e; ihre Sequenzen „bewirkten“ demnach keinesfalls, „was sie abbildeten“; Stollberg-Rilinger, Verfassungsakt oder Fest? (FN 15), S. 95. 23 Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im neuzeitlichen Reichsverband. Teil 1: Der Kurverein. Kurfürstentage und Reichspolitik (= Historische Studien, Bd. 457 /1), Husum 1999, S. 323.

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ruar 1623 Kurfürst. Sogar die französische Krone titulierte ihn jetzt so, und er führte fortan den Kurhut und den Reichsapfel der vierten Kur im Wappen, wie zuvor die Pfälzer Vettern. Flugblätter, die 1624 auch in protestantischen Territorien auf den Markt kamen, bildeten ihn als Kurfürsten ab.24 Dass dennoch viele Reichsstände und europäische Mächte dem Bayernfürsten den neuen Titel nicht zuerkannten, lag nicht an den Mängeln des Zeremoniells. Umstritten war die Translation aus politischen und rechtlichen Gründen, wie noch erkennbar wird.

III. Politik und Verfassungsrecht – Die Änderung der „Kurfürstenverfassung“ beim Westfälischen Friedenskongress 1644 – 1648 Das Ringen um die Geltungskraft der Translation von 1623 hielt bis zur Unterzeichnung des Westfälischen Friedens 1648 an. Es wurde vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Kriegs politisch, rechtlich und publizistisch ausgetragen. Maximilian I. war 1623 nur ad personam belehnt worden, nicht erblich, wie die Geheimbelehnung 1621 zugesagt hatte. Erst die Friedensverhandlungen ab 1645 führten eine Lösung herbei, die eine erbliche Translation nachhaltig legitimierte. Der Friedensvertrag beendete zugleich den Streit um die vierte Kur, der seit 1356 angedauert hatte. Die Geschichte dieses Streits dokumentiert, wie die Änderung der „Kurfürstenverfassung“ im Gesamtzeitraum vom Kaiser und der Münchener Linie der Wittelsbacher rechtlich und politisch behandelt wurde, und dabei auch, wie sich das Beziehungsfeld von Recht und Politik wandelte. Zentral ist hier die Frage nach der Legitimation, die Goldene Bulle substantiell zu verändern. Die Kurtranslation wurde auch nach 1623 nicht etwa auf Grund des unzureichenden Zeremoniells, sondern vorwiegend aus politischen Gründen nicht allgemein anerkannt. Im Kurkolleg verweigerten sich Kursachsen und Kurbrandenburg, ebenso im Reich die meisten protestantischen Fürsten, in Europa sogar Spanien.25 Die Genannten hatten verschiedene Beweggründe. Für alle aber spielte eine Rolle, dass die Translation eine Fortsetzung der Kriegshandlungen geradezu unvermeidlich machte. Sie zerrüttete den Reichsfrieden und verhinderte auf europäischer Ebene den Ausgleich Spaniens mit England. Denn Philipp III. von Spanien wollte England gewinnen, um die Generalstaaten niederringen zu können. England verhandelte, 24 Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 2, Teil 1: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur bayerischen Geschichte und Kunst 1573 – 1657, München 1980, S. 353 f. 25 Eberhard Straub, Pax et Imperium. Spaniens Kampf um seine Friedensordnung in Europa zwischen 1617 und 1635 (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, Heft 31), Paderborn [u. a.] 1980, S. 179 f.

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forderte jedoch wie protestantische Reichsstände die Wiedereinsetzung des geächteten Kurfürsten Friedrich V. Deshalb hatte der spanische König schon 1622 seinem Vetter Ferdinand II. die Einstellung jeder Finanz- und Militärhilfe angedroht, sollte dieser tatsächlich die Translation vollziehen.26 Für die Weltmacht Spanien ging es allein um Politik. Die Reichsstände, die Maximilian I. nicht anerkannten, argumentierten mit Verfahrensmängeln. Der Geächtete sei vom Kaiser nicht gehört, die Kur ohne Zustimmung der Kurfürsten und der Reichsstände übertragen worden. Der Rechtsakt vom 25. Februar 1623 hat somit die Kurtranslation konstituiert, war in seiner Wirkung jedoch limitiert. Er gestattete dem Belehnten, den Titel zu führen. Aber Maximilian I. konnte das politische Gewicht nicht geltend machen, das die Kurfürsten unter den Reichsständen auszeichnete. Kursachsen und Kurbrandenburg versperrten ihm die Aufnahme ins Kurkolleg. Dadurch war die Belehnung zwar durch legalisierende förmliche Akte, durch Urkunden von 1621 und 1623 (24. Februar), ferner durch die Belehnung vollzogen, aber ungesichert. Die Belehnung sollte sich später als Zwischenstufe erweisen, als einer von mehreren rechtlich bedeutsamen, legitimierenden Akten im Zeitraum von 1619 bis 1648. Im Jahr 1619 hatte Kaiser Ferdinand II. bei der Unterzeichnung des Münchener Vertrags mündlich das Versprechen gegeben, die Kurwürde erblich auf Maximilian und die bayerischen Wittelsbacher zu übertragen.27 Das Versprechen hatte eine Vorgeschichte, die bis 1356 zurückreicht. Seitdem versuchten die Herzöge in Bayern, die Regelung zur vierten Kurwürde zu ihren Gunsten zu ändern. Diese Vorgeschichte offenbart ein dezidiert politisches Verständnis des „kaiserlichen Rechtbuchs“. Ihre Kenntnis trägt dazu bei, die Beratungen des Westfälischen Friedenskongresses angemessen zu bewerten. Seit 1356 betrachteten die Münchener Wittelsbacher die Regelung zur vierten Kur nie als rechtlich gültig und bindend und fanden dabei wiederholt die Unterstützung des Kaiserhofs. Denn der Wittelsbachische Hausvertrag von 1329 hatte die Kurwürde noch als gemeinsames Recht der pfälzischen und oberbayerischen Linie behandelt. Demgemäß sollte die Kur alter26 Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008, S. 47 f.; Maximilian Lanzinner, Spanien. Bayern an der Seite einer Weltmacht im Dreißigjährigen Krieg, in: Alois Schmid / Katharina Weigand (Hrsg.), Bayern mitten in Europa. Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 2005, S. 152 – 167, hier S. 159. 27 Quellen zum Münchener Vertrag in: Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Neue Folge: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten 1618 – 1651. Bd. 1, Teil 1: Januar 1618 bis Dezember 1620, bearb. von Georg Franz, München [u. a.] 1966, S. 231 – 258; die Form des Versprechens ist nicht gesichert; der Editor Georg Franz verweist lediglich auf zwei Notizen aus den Jahren 1621 und 1622, in denen der Kaiser gegenüber spanischen Korrespondenzpartnern betont, er habe sein Versprechen „ex consilio legati regis“ (Franz, Die Politik Maximilians I., S. 250), also auf den Rat des Gesandten Oñate hin gegeben.

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nieren.28 Die Goldene Bulle übertrug sie jedoch allein den Pfälzern. Die bayerischen Herzöge ließen sich in der Folge ihr Kurrecht, das ihnen seit 1356 entzogen war, fortgesetzt vom Kaiserhof bestätigen, allein siebenmal zwischen 1414 und 1495.29 Im 16. Jahrhundert rückte die Kur bereits in Reichweite. Karl V. stellte sie 1546 den Münchener Herzögen in Aussicht, weil er die bayerische Hilfe gegen die protestantischen Schmalkaldener brauchte. Anders als im Fall Sachsens löste der Kaiser seine Zusagen jedoch nicht ein. Beim Reichstag 1547 / 48 berieten die Kurfürsten grundsätzlich über die bayerischen Ansprüche30, wiesen sie jedoch zurück unter Hinweis auf die „gulden bull“ und „sondere decreta und spruch, welche alle churfursten derzeit confirmirt“.31 Der pfälzische Kurfürst Friedrich II., den Karl V. 1546 wegen seiner Hilfe für die Schmalkaldener geächtet, aber nicht vertrieben hatte, blieb im Amt. Die bayerische Linie der Wittelsbacher suchte also mithilfe von kaiserlichen Urkunden und Verhandlungen eine Änderung der Goldenen Bulle herbeizuführen. Diese wurde weder von den Bayernherzögen noch vom jeweiligen Reichsoberhaupt bis hin zu Kaiser Karl V. als „Reichsgrundgesetz“ behandelt, als das sie später bezeichnet wurde, dessen Änderung einer verfahrensrechtlichen Legitimation bedurfte. Auch die Kurfürsten beim Augsburger Reichstag 1547 / 48 reihten sie unter andere „decreta und spruch“ ein. Bemerkenswert erscheint außerdem, dass von 1546 bis 1548 weder für die nicht realisierte bayerische noch für die sächsische Translation ein Beschluss des Reichstags angestrebt wurde. Rechtliche Erwägungen standen noch ganz hinter den politischen zurück. Das war dann bei den Westfälischen Friedensverhandlungen ganz anders, als Kaiser und Reichskurien zwar politisch, aber gemeinsam entschieden. Aber betrachten wir noch die Entwicklung seit dem Beginn des Dreißigjährigen Kriegs. Auf rechtliche Überlegungen zur Translation der vierten Kur stoßen wir erst in Denkschriften des Jahres 1619, als die Münchener Räte die Verhandlungen mit dem Kaiser vorbereiteten, die zum Kurversprechen führten. Ihr Kernargument lautete, dass der Wittelsbachische Hausvertrag von 1329 durch die Goldene Bulle keineswegs aufgehoben sei. Denn die Kaiser hätten fortgesetzt das Kurrecht der Münchener Linie bestätigt. Außerdem habe Karl V. 1546 die Translation in Aussicht gestellt. Wenn also Pfalzgraf Friedrich V., der unmittelbar zuvor die böhmische Krone angenommen hatte, in die Acht falle, so argumentierten die Münchener Räte, könne der Kaiser Kurwürde und Kurlande neu vergeben, und eben dann an das „haus Bayrn“, „in ansehung, wie unumgenglich und hoch“ die 28 29 30 31

Schneidmüller, Die Aufführung des Reichs (FN 20), S. 80. Lanzinner, 25. Februar 1623 (FN 11), S. 256. Machoczek, Der Reichstag zu Augsburg 1547/1548 (FN 16), S. 2499 – 2530. Ebd., S. 2530.

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Truppenhilfe Maximilians für den Kaiser gegen die böhmischen Rebellen sein würde.32 Das gleiche Argumentationsmuster findet sich in den juristisch deduzierenden Schriften nach 1623. Gutachten der Ingolstädter Juristenfakultät, Flugschriften und gedruckte Abhandlungen der Münchner Räte verbreiteten, die Goldene Bulle habe den Hausvertrag von 1329 nicht außer Kraft setzen können.33 Im Gegensatz dazu vertraten die Druckschriften der pfälzischen Kontrahenten den Standpunkt, Kaiser Ferdinand II. habe weder den Geächteten, Friedrich V., gehört noch eine reguläre Reichsversammlung zur Beratung hinzugezogen. Deshalb gelte die Goldene Bulle für die vierte Kur nach wie vor. In einem Punkt freilich stimmten die Kontrahenten überein: Weder die Bayern noch die Pfälzer erklärten die Goldene Bulle als grundsätzlich unabänderlich. Die gleiche Haltung bezogen unabhängig vom Streit der Wittelsbacher namhafte Publizisten. Sehr weit ging dabei Bogislaw Philipp von Chemnitz in seiner „Dissertatio de ratione status“. Nur die beim Reichstag versammelten Stände, heißt es dort, jedoch niemals der Kaiser allein, könnten die leges fundamentales des Reichs ändern.34 Chemnitz stand in schwedischen Diensten. Daher ist seine Zurücksetzung des Kaisers verständlich, war doch die Reichspublizistik auch sonst oft das Echo der Politik. Aber die „Dissertatio“ war nicht nur Echo, sie hatte in den 1640er Jahren beachtliches Gewicht in politischen Debatten. Im Hinblick auf die Friedensverhandlungen ist festzuhalten, dass die Reichspublizistik bereits ein rechtlich legitimierendes Verfahren im Rahmen des Reichsverbands diskutierte, wenn die Goldene Bulle verändert wurde. Bis dahin, bis zum Beginn der Verhandlungen in Münster und Osnabrück, war Maximilian I. mit der rechtlichen und politischen Sicherung der Kur mit Erfolg vorangekommen. Kursachsen und Kurbrandenburg billigten 1624 bzw. 1627 die Aufnahme ins Kurkolleg und damit zumindest die Belehnung ad personam, noch nicht die erbliche Belehnung. Erst auf dem Höhe32 Zit. nach Franz, Die Politik Maximilians I. (FN 27), S. 249; federführend bei den Münchener Gutachten zum Münchener Vertrag vom 8. Oktober 1619 waren die Geheimen Räte Christoph Gewold und Wilhelm Jocher; zu Jocher siehe Maximilian Lanzinner, IUD Wilhelm Jocher 1565–1636: Geheimer Rat und „Kronjurist“ Kurfürst Maximilians I. von Bayern“, in: Michael Kaiser / Andreas Peçar (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten im 17. und 18. Jahrhundert (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 32), Berlin 2003, S. 177 – 196. 33 Von Christoph Gewold, dem bayerischen Hofkammerpräsidenten Johann Mändl, dem Hofhistoriographen Nikolaus Burgundius oder dem Geheimen Rat Johann Adlzreiter (bis 1643). 34 Bogislaw Philipp von Chemnitz, Dissertatio […] in imperio nostro […], pars 1, Cap. 6, Sectio 3, zit. nach Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7), Göttingen 1966, S. 575.

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punkt des bayerisch-kaiserlichen Waffenglücks 1628 sprach Ferdinand II. dann offen von der erblichen Kur.35 Sie wurde schließlich 1638 von Ferdinand III. förmlich beurkundet. Dennoch waren die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück durch diese legitimierenden Akte keineswegs präjudiziert. Der Kaiserhof selbst plante am Beginn der Gespräche im Jahr 1645, eine alternierende Kur anzustreben und damit zum Hausvertrag von 1329 zurückzukehren.36 Auf Druck Frankreichs mussten die Kaiserlichen allerdings 1646 nachgeben und eine achte Kurwürde für die Pfalzgrafen vorsehen.37 Auf Drängen Bayerns bat sodann der kaiserliche Obersthofmeister Trauttmansdorff im März 1647 die Reichsstände, der Errichtung einer achten Kur und der Änderung der Goldenen Bulle zuzustimmen.38 Verfassungs- oder verfahrensrechtliche Debatten oder auch nur Erwägungen in Gutachten gingen diesen Vorentscheidungen nicht voraus.39 35 Bezogen auf die Linie des Vaters Maximilians I., Wilhelm V., da Maximilian noch ohne Erben war. 36 Acta Pacis Westphalicae. Hrsg. von der ([bis 1992] Rheinisch-Westfälischen) [seit 1993] Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. durch Max Braubach [bis 1976], Konrad Repgen und Maximilian Lanzinner [seit 2003]. Serie I: Instruktionen. Bd. 1: Frankreich – Schweden – Kaiser, bearb. von Fritz Dickmann [u. a.], Münster 1962, S. 443 (Geheiminstruktion Kaiser Ferdinands III. für Maximilian Graf von Trauttmansdorff zu den Verhandlungen in Münster und Osnabrück, 16.10.1645). 37 Acta Pacis Westphalicae. Serie II: Korrespondenzen. Abt. A: Die kaiserlichen Korrespondenzen. Bd. 2: 1644 – 1645, bearb. von Wilhelm Engels, mit einem Nachtrag von Karsten Ruppert, Münster 1976, S. 582 ff. (Trautmansdorff an Ferdinand III., 17.11.1645); Acta Pacis Westphalicae. Serie II: Korrespondenzen. Abt. A: Die kaiserlichen Korrespondenzen. Bd. 3: 1645 – 1646, bearb. von Karsten Ruppert, Münster 1985, S. 39 (Trautmansdorff an Ferdinand III., 12.12.1645 mit dem Hinweis auf reichsständische Bedenken bezüglich einer Änderung der Goldenen Bulle). 38 Johann Gottfried von Meiern (Hrsg.), Acta Pacis Westphalicae Publica oder Westphälische Friedens-Handlungen und Geschichte. Bd. 4: Worinnen enthalten, was vom Anfang des Jahrs 1647 biß gegen Ende desselben zwischen Ihro Roemisch=Kayserlichen Majestät, dann der beyden Cronen Frankreich und Schweden, ingleichen des Heiligen Roemischen Reichs Chur=Fuersten, Fuersten und Staenden, zu Osnabrueck und Muenster gehandelt worden, Hannover 1734 – 1736, S. 83 (13.3.1647); siehe auch Acta Pacis Westphalicae. Serie II: Korrespondenzen. Abt. A: Die kaiserlichen Korrespondenzen. Bd. 5: 1646 – 1647, bearb. von Antje Oschmann, Münster 1993, S. 625; siehe auch Gerhard Immler, Kurfürst Maximilian I. und der Westfälische Friedenskongress. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand (= Schriftenreihe zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bd. 20), Münster 1992, S. 382 – 385. 39 Die Kurfürsten in Münster und Osnabrück beriefen sich zwar immer wieder auf die Goldene Bulle, um ihre Prärogative zu festigen, und auch die Kaiserlichen suchten die Goldene Bulle für sich in einseitiger Weise auszulegen, indem sie im März 1647 gegenüber den Schweden erklärten, der Kaiser dürfe laut Goldener Bulle über die pfälzische Kur verfügen. Dennoch wussten sie, dass ihren Forderungen die Verfassungswirklichkeit des Reichs entgegenstand; Winfried Becker, Der Kurfürstenrat. Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichsverfassung und seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., Bd. 5), Münster 1973, S. 315; APW II A 5 (FN 38), S. 589 (2.3.1647).

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Es herrschte offenbar Konsens, dass Kaiser und Reichsstände wie bei Reichstagen einen Beschluss fassen mussten, um die Änderung herbeizuführen. Demgemäß verliefen die Beratungen ohne größere Kontroversen. Nicht nur in den begleitenden Gutachten, ebenso in den Resolutionen und Voten innerhalb der Reichskurien wurde das Argument, man dürfe die Goldene Bulle grundsätzlich nicht ändern, nur selten geäußert. Für die Beschlussfassung war es ohne Belang. In nur wenigen Umfragen einigten sich die Kurfürsten wie die Gesandten beider Konfessionen im Fürstenrat auf eine Neuregelung mit der Begründung, Kaiser und Fürsten hätten die Goldene Bulle beschlossen und könnten sie deshalb auch jederzeit novellieren, zumal in der bestehenden Lage – ob „maius malum evitandum“.40 Welche Schlussfolgerungen ergeben sich? Die heutige Bewertung könnte lauten, dass der verfassungsrechtliche Kern der Goldenen Bulle wenig geschützt war und geändert wurde, um die Interessen Kurbayerns und der Kurpfalz zu berücksichtigen. Damit freilich wäre das zeitgenössische Verständnis und dessen Wandel im Lauf der Jahrhunderte außer Acht gelassen. Zu beachten sind also die Sichtweise und Reaktion der Beteiligten seit 1356. Schon die Münchener Wittelsbacher ließen, wie erläutert, die Zuweisung der vierten Kur seit 1356 nicht gelten, weil die Goldene Bulle den zuvor vereinbarten Hausvertrag nicht berücksichtigte. Für sie stand Vertrag gegen Vertrag. Kaiser des 15. und 16. Jahrhunderts unterstützten ihren Wunsch nach weiterhin alternierender Kur aus Opportunität. Daraus folgt, dass die Goldene Bulle selbst als bereits anerkanntes, fundamentales Reichsgesetz so verstanden wurde, dass der Kaiser sie auch im Kernbereich ändern konnte. Karl V. brachte durch sein Handeln außerdem zum Ausdruck, dass er dazu nicht die Zustimmung der Reichsstände benötigte, und zwar sowohl im Fall Bayerns als auch Kursachsens. Denn er versprach 1546 die vierte und übertrug 1547 aus eigenem Entschluss die fünfte, sächsische Kurwürde und holte dazu anschließend auch nicht mehr die Zustimmung des Reichstags ein. Lediglich Moritz von Sachsen bat die Kurfürsten um Bestätigung seiner Belehnung, um ins Kurkolleg aufgenommen zu werden.41 Eine solche Eigenmächtigkeit war hundert Jahre später nicht mehr möglich. 1647 mussten die Reichskurien beschließen. Der Wandel lässt insbesondere erkennen, dass der Handlungsraum der Politik schrittweise durch das Reichsrecht schärfer konturiert wurde. Dazu hatte der allgemeine Prozess der Verrechtlichung beigetragen, der im 16. Jahrhundert in den Territorien des Reichs rasant einsetzte. Auf Reichsebene sensibilisierte der Augsburger 40 Acta Pacis Westphalicae. Serie III: Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia. Abt. A: Protokolle. Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück. Teil 4: 1646 – 1647, bearb. von Maria-Elisabeth Brunert, Münster 2006, S. 99 – 143 (Sitzung des Fürstenrats, 6. /16.3.1647); Vgl. Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 5. Aufl., Münster 1972, S. 399 f. 41 Machoczek, Der Reichstag zu Augsburg 1547/1548 (FN 16), S. 2537 f.

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Frieden die fürstliche Politik, Fragen des Reichsrechts zu beachten. Die Reichspublizistik begleitete und förderte diesen Prozess. In den größeren Territorien waren es seit Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend die juristisch geschulten Berater an der Seite der Fürsten, welche die Reichspolitik gestalteten.42 Dies alles trug dazu bei, dass rechtliche Normen im politischen Handeln größere Beachtung fanden. Eine eigene Bedeutung hatte die Erfahrung von Gewalt und Missachtung des Rechts im Krieg. Vor diesem Hintergrund ist die Beschlussfassung des Westfälischen Friedenskongresses zu sehen. Sie bestätigte zwar, dass der politische Wille den Ausschlag für die Änderung gab. Aber sie legitimierte ihn durch den Konsens und ein Verfahren. Welche Konsequenz hatte die Entscheidung 1647 / 48? Zum einen wirkte der Beschluss selbst als Präjudiz, dass Kaiser und Reichsstände gemeinsam das bestehende Recht und auch die leges fundamentales des Reichs abändern konnten, zum anderen hatte die Art der Entscheidung Folgen. Demnach bedurfte es keines Regelwerks, um die Goldene Bulle zu novellieren. Legitimierend war vielmehr der politische Wille von Kaiser und Reichsständen.43

IV. Die Legitimierung von Änderungen der Goldenen Bulle Inwieweit lassen sich Verallgemeinerungen aus den Fallbeispielen der Kurübertragungen für die Frühe Neuzeit im Ganzen ableiten? Erinnern wir uns zunächst, in welchen Punkten die Goldene Bulle verändert oder nicht beachtet wurde. Auf dieser Grundlage lässt sich nachfolgend die Legitimierung von Änderungen bestimmen, die durch Zeremoniell, Recht und Politik hergestellt wurde. Die Änderungen der Goldenen Bulle waren bereits ein oft und gern behandeltes Thema der Reichspublizistik im 17. und 18. Jahrhundert. Ihre Vertreter machten in ungezählten Varianten bekannt, welche Verfügungen strittig waren und welche geändert oder nie beachtet wurden. Erstes markantes Werk war Gerlach von Buchstorfs „Dissertatio historico-juridica“, die 1612 die 17 Kapitel der Goldenen Bulle kommentierte. Mit dem Aufblühen des 42 Kaiser / Peçar (Hrsg.), Der zweite Mann (FN 32); Maximilian Lanzinner, Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486 – 1654, in: Friedrich Battenberg / Berndt Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 57), Köln [u. a.] 2010, S. 351 – 384. 43 Sehr klar kam dies bei den Beratungen des Fürstenrats zu Osnabrück zum Ausdruck. Der Tenor der Äußerungen war: „Summa necessitas salusque rei publica“ machten es nötig, die Goldene Bulle zu ändern. Sie sei vom Kaiser mit dem Konsens der Reichsstände aufgerichtet worden und könne deshalb vom Kaiser und den Reichsständen geändert werden. Beratungen vom 16. März 1647; APW III A 3 / 4 (FN 40), S. 134.

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Ius publicum Romano-Germanicum publizierten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Dominicus Arumaeus und Johannes Limnaeus vollständige Kommentare, wobei Arumaeus im Wesentlichen auf frühere rechtliche Erörterungen verwies. Die Kommentare und gelehrten Abhandlungen häuften sich, bis Johann Peter (von) Ludewig 1716 in der „Vollständigen Erläuterung der güldenen Bulle“ den Wissensbestand des 17. Jahrhunderts kompilierte.44 Den Schlusspunkt setzte Johann Daniel (von) Ohlenschlagers „Neue Erläuterung der Guldenen Bulle“ 1766.45 Die Kommentare und Dissertationen und die daraus ermittelten „mutationes“ oder „numquam observata“ fassten in handlicher Form Johann Stephan Pütter46 und Johann Jakob Moser47 zusammen. Es war in der Tat nicht wenig. Pütter nennt als wichtige „mutationes“: Änderungen bei den Erzämtern, die Zuordnung von Unterämtern bei den Erzämtern, die Kurübertragungen, die achte Kurwürde, die Kurwürde für Braunschweig-Lüneburg und anderes. Primogenitur und Sukzession seien nicht immer eingehalten worden, auch Regeln zum Reichsvikariat, zur Kaiserwahl und -krönung. Moser nennt als „numquam observata“: Nie sei beachtet worden, dass die Kurprinzen mehrere Sprachen, darunter die slawische, lernen sollten, ebenso nicht das Geleit für die Kurfürsten vor und nach der Wahl und vieles mehr bis hin zur Bestimmung, dass die Kurfürsten nach 30 Tagen der Wahlhandlung nur noch Wasser und Brot bekämen. Die Publizistik des Alten Reichs komplettierend, könnte man außerdem von modifizierenden Ergänzungen der Goldenen Bulle sprechen, welche die Kurfürstenverfassung erweiterten und dadurch veränderten. Betrachten wir die herausragenden Beispiele genauer, zum einen die Wahlkapitulationen, zum anderen die Königswahlen vivente imperatore. Wahlkapitulationen, wie sie seit dem Herrschaftsantritt Kaiser Karls V. 1519 zwischen den Kur44 Johann Peter von Ludewig, Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle, in welcher viele Dinge aus dem alten Teutschen Staat entdecket, verschiedene wichtige Meynungen mit andern Gründen besetzet, und eine ziemliche Anzahl von bishero unbekannten Wahrheiten an das Licht gegeben werden, mit einer Vorrede begleitet von Johann George Estor, Frankfurt am Main 1752, Neudruck hrsg. und eingeleitet von Hans Hattenhauer, 2 Bde. (= Historia Scientiarum, Geschichte und Politik), Hildesheim [u. a.] 2005. 45 Johann Daniel Olenschlager, Neue Erläuterung der Guldenen Bulle Kaysers Carls IV. aus den älteren Teutschen Geschichten und Gesezen zur Aufklärung des Staatsrechts mittlerer Zeiten als dem Grunde der heutigen Reichsverfassung, Frankfurt am Main und Leipzig 1766, Neudruck hrsg. und eingeleitet von Arno Buschmann, 2 Bde. (= Historia Scientiarum, Geschichte und Politik), Hildesheim 2008; die Streitpunkte bei der Auslegung der Goldenen Bulle listete u. a. die zeitgenössische Dissertation von Stryk in 136 Punkten auf; Johann Samuel Stryk, Dissertatio aureae bulae controversiae potiores, Halle 1699. 46 Johann Stephan Pütter, Institutiones iuris publici Germanici, Göttingen 1787. 47 Johann Jakob Moser, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, nach denen Reichs-Gesetzen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung […], Stuttgart 1766.

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fürsten und dem Gewählten geschlossen wurden, waren in der Goldenen Bulle noch nicht vorgesehen, sie gehörten aber seit 1519 zum Regelungsbereich der Königswahl. Um die Wahlkapitulationen rechtlich – d. h. nicht nur durch Herkommen, sondern durch eine geschriebene Rechtsnorm – zu implementieren, gerade in Zeiten des Kriegs und nach Erfolgen des Kaisers, wurden sie beginnend mit der Kapitulation Ferdinands III. 1636 als ein lex fundamentalis des Reichs ausdrücklich der Goldenen Bulle selbst gleichgestellt. Nahezu zwei Jahrhunderte lang umstritten waren die Königswahlen vivente imperatore, weil sie das freie Wahlrecht der Kurfürsten in der Goldenen Bulle einschränkten. Zum ersten Mal wurde dies im Jahr 1376 bei der Wahl Wenzels praktiziert, danach seit der Wahl Maximilians I. 1486 bis zur Wahl Josephs II. 1764 insgesamt acht Mal.48 Die Kaiser bemühten sich um stichhaltige Begründungen. Meist konnten sie auf Kriegsbedrohungen des Reichs verweisen, etwa im 15. Jahrhundert auf die Ungarn unter König Matthias Corvinus. Für die Wahl Maximilians I. zu Lebzeiten Friedrichs III. 1486 gab die Türkengefahr den Ausschlag. Proteste von Kurfürsten und Gegenmeinungen wurden bis 1531 vorgebracht, als Kurfürst Johann von Sachsen gegen die Wahl Ferdinands I. noch einmal alle Hebel in Bewegung setzte.49 Spätere Einwände der Pfälzer Kurfürsten, 1562 bei der Wahl Maximilians II. und 1576 bei der Wahl Rudolfs II., blieben ohne Resonanz. Ausdrücklich hatte Kurfürst August von Sachsen schon während des Frankfurter Wahltags am 31. Oktober 1562 erklärt, die Wahl vivente imperatore sei „der gulden Bul nit zuwider und den kurf[ursten] unverpotten“.50 Sie gefährde die Wahlfreiheit nicht und müsse, um das Reich und das Kaisertum zu sichern, Vorrang vor den Reichsvikariatsansprüchen Kursachsens und der Kurpfalz haben. Letztlich akzeptierten die Kurfürsten nach 1576 eine Wahl vivente imperatore als den Bestimmungen der Goldenen Bulle gemäß. Helmut Neuhaus sieht in einer solchen Novellierung „unabsehbare verfassungsrechtliche Folgen“, weil sie sich deuten lasse „als ein erster Schritt des Reiches weg“ von einer Wahlmonarchie und hin zu einer Erbmonarchie.51 Diese Beispiele für Änderungen, Nichtbeachtung, ferner die mitunter übersehenen modifizierenden Ergänzungen mögen genügen. Sie könnten den Ein48 Helmut Neuhaus, Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit. Zum Problem der Kontinuität in einer frühneuzeitlichen Wahlmonarchie, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 19), Berlin 1997, S. 1 – 53, hier S. 9. 49 Alfred Kohler, Antihabsburgische Politik in der Epoche Karls V. Die reichsständische Opposition gegen die Wahl Ferdinands I. zum römischen König und gegen die Anerkennung seines Königtums (1524 – 1534) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 19), Göttingen 1982, S. 127 f. 50 Neuhaus, Die Römische Königswahl (FN 48), S. 14. 51 Ebd., S. 15.

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druck erwecken, als sei die Goldene Bulle geradezu missachtet worden. Das wäre freilich ein grobes Fehlurteil. Gänzlich vernachlässigt wurde am Ende des 18. Jahrhunderts nur das Zeremoniell, zu dem ich mich auf die jüngste Synthese von Barbara Stollberg-Rilinger berufe.52 Sie stellt zur curia solemnis im Sinn der Goldenen Bulle fest, dass sie für die Hoffeste und Reichsversammlungen im 18. Jahrhundert nicht mehr existierte, in ihren Worten: „Verfassungsakte und solenne Feierlichkeiten waren zunehmend auseinander getreten – sieht man von den Wahl- und Krönungstagen selbst einmal ab.“53 Um nicht nur im Hinblick auf die modifizierenden Erweiterungen, sondern noch einmal explizit im Hinblick auf die Implementierung klarer Veränderungen der Goldenen Bulle zu verallgemeinern, soll nach der Analyse der bayerischen Kurtranslation 1623 diejenige der kursächsischen 1548 genügen. Beginnen wir wieder mit dem Zeremoniell. Eine gesonderte Belehnung von Kurfürsten mit ihrem Territorium und Erzamt, die den Vorgaben der Goldenen Bulle folgte, lässt sich erst im 15. Jahrhundert belegen. Es war der entscheidende „Rechtsakt“54 gegenüber den Urkunden mit ihrer fortdauernden Beweiskraft. Das Zeremoniell orientierte sich an der Goldenen Bulle, speziell den Vorgaben für Prozessionen und Festtafeln. Demgemäß brachten etwa die geistlichen Kurfürsten neben ihren Lehensfahnen auch die an einem Stab befestigten Siegelstempel des Reichsoberhaupts mit und erhielten diese von ihm zurück. Die weltlichen Kurfürsten nahmen analog dazu, wie schon beschrieben, die Reichsinsignien (Reichsapfel, Zepter, Schwert) in Empfang. Aber dieser Rechtsakt war äußert kostspielig und aufwändig, so dass er im 16. Jahrhundert, zumal unter freiem Himmel, immer weniger praktiziert wurde. Die Akte im 16. Jahrhundert dienten bereits vorwiegend der Politik55, zum einen dem Kaiser, der die symbolhafte und reale Konstituierung von Herrschaft, Rang und Distanz als politisches Kapital nutzen konnte, zum anderen in vieler Hinsicht den Belehnten, speziell den Kurfürsten von Sachsen, Moritz und August. Die Übertragung der sächsischen Kurwürde auf den Albertiner Moritz bedurfte zwar nicht der Zustimmung der Reichsstände, aber einer formellen Absicherung. Kaiser Karl V. inszenierte am 25. Februar 1548 die öffentliche Belehnung, weil es die erste Übertragung einer Kurwürde war, seitdem die Goldene Bulle 1356 die sieben Kurwürden fixiert hatte. Ansonsten genügten längst nichtöffentliche Belehnungen und zunehmend allein Urkunden mit ihrem beweisrechtlichen Charakter. Im außer52

Stollberg-Rilinger, Verfassungsakt oder Fest? (FN 15). Ebd., S. 100. 54 Begert, Böhmen (FN 14), S. 275. 55 Albrecht P. Luttenberger, Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag, in: Alfred Kohler / Heinrich Lutz (Hrsg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 14), München 1987, S. 291 – 326. 53

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ordentlichen Fall der Kurübertragung auf die Albertiner hielten die Beteiligten offenbar das große Zeremoniell für zweckmäßig, auch wenn es außer Gebrauch gekommen war. Noch einmal, letztmals in der Reichsgeschichte, wurde es 1566 arrangiert, um mit der pompösen Belehnung Kurfürst Augusts von Sachsen die Translation vor dem versammelten Reichstag sinnlich erfahrbar im großen Zeremoniell zu bestätigen – natürlich nicht zu konstituieren. Das zweimalige Zeremoniell war bei der Translation der fünften Kur nur Teil einer Mehrfach-Legitimation. Es bekräftigte nachträglich sichtbar vor der Öffentlichkeit des Reichstags und mittels seiner Beschreibung in einer gedruckten Flugschrift vor der Öffentlichkeit des Reichs, was Verträge und Urkunden schon beinhalteten, aber auch anschließend noch fixierten. Die Flugschriften lassen sich als eigene Form der Legitimierung durch Publizistik verstehen. Dies ergibt sich aus der Beobachtung, dass die Belehnungen von 1548 und 1566 detailliert im Druck beschrieben und somit reichsweit öffentlich gemacht wurden, obwohl ansonsten zu beiden Reichstagen nur wenig im Druck erschien.56 Die Verträge und Urkunden fixierten handlungsleitend und beweiskräftig die Absprachen und die Umstände der Translation. Begründet wurde sie durch den Vertrag von 1546, der Moritz die Kurwürde in Aussicht stellte. Die Wittenberger Kapitulation vom 19. Mai 1547, in die der besiegte Kurfürst Johann Friedrich I. einwilligen musste, entschied bereits die Kurerhebung, die am 4. Juni 1547 noch im Feldlager durch Karl V. vollzogen wurde. Nach der formellen Belehnung beim Reichstag 1547 / 48 wurde die Translation vertraglich festgeschrieben durch den Naumburger Vertrag vom 24. Februar 1554 zwischen dem Begünstigten, Kurfürst August, und Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen, dem Sohn des abgesetzten Kurfürsten, der darin in die Translation und das neu gebildete Kurterritorium einwilligte.57 Auf einen Unterschied zwischen der Translation der fünften und der vierten Kur ist noch hinzuweisen. In beiden Fällen folgte dem urkundlichen Vorlauf die formelle Belehnung. Die Belehnung hatte jedoch 1547 / 48 noch nicht die Bedeutung wie 1623, als sie tatsächlich konstituierend wirkte. Die Gründe liegen in den veränderten Macht- und Rechtsverhältnissen, die sich hier nicht im Einzelnen erörtern lassen. 56 Maximilian Lanzinner, Fürsten und Gesandte als politische Akteure beim Reichstag 1566, in: Bernhard Löffler / Karsten Ruppert (Hrsg.), Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Festschrift für Winfried Becker zum 65. Geburtstag (= Passauer Historische Forschungen, Bd. 15), Köln 2006, S. 55 – 82. 57 Enno Bünz, Eine Niederlage wird bewältigt. Die Ernestiner und Kursachsen 1547 bis 1554, in: Karlheinz Blaschke (Hrsg.), Moritz von Sachsen. Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich. Internationales wissenschaftliches Kolloqium vom 26. bis 28. Juni 2003 in Freiberg (Sachsen) (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, Bd. 29), Stuttgart 2007, S. 94 – 117; Johannes Herrmann, Moritz von Sachsen (1521 – 1553). Landes-, Reichs- und Friedensfürst, Beucha 2003, S. 187 – 229.

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Zusammenfassend ist die Legitimierung der kursächsischen Translation, die bis dahin bedeutendste Änderung der Goldenen Bulle, folgendermaßen zu bewerten: Durch sie veränderte sich erstmals überhaupt aus politischen Gründen der Kreis der Königswähler, veränderte sich also die „Kurfürstenverfassung“. Erstmals setzte der Kaiser einen Kurfürsten ab und erhob einen neuen, der allerdings einer Linie der gleichen Dynastie angehörte. Aus diesem Grund vollzogen die Beteiligten noch einmal die feierliche Belehnung „unter dem Himmel“, die den rechtlich und politisch anfechtbaren Vorgang bekräftigen sollte. Die unmittelbare, affektive Bezeugung und damit auch die genaue Einhaltung ritueller und zeremonieller Elemente waren jedoch selbst in diesem Sonderfall nicht ausschlaggebend. Die Änderung der Goldenen Bulle wurde im Wesentlichen legitimiert durch Schriftlichkeit, durch Urkunden und Akten. Neu und bedeutsam war die Legitimierung gegenüber der Öffentlichkeit durch Flugschriften, die als gedruckte Verlautbarung den sinnlich erfahrenen Verfassungsakt den politisch Interessierten und der Nachwelt mitteilten. Schriftlichkeit und Druck konstituierten die Erinnerung, weniger der konstituierende Akt selbst. Auch die Nichtbeachtung der Goldenen Bulle soll nachfolgend im Hinblick auf Sinnzuschreibungen und nicht eingelöste Geltungsansprüche beispielhaft verallgemeinert werden. Von Anfang an erschien die Nichtbeachtung einer kaum erfüllbaren Regelung als selbstverständlich; zu erinnern ist nur an die Nichtbeachtung der Regelung, die das Lernen slawischer Sprachen verlangte. Ein kennzeichnendes Beispiel, dass auch die Nichtbeachtung erfüllbarer, aber nicht substantieller Normen als selbstverständlich erachtet wurde, ist die Regelung zum Gefolge der Kurfürsten, so peripher sie sein mochte. Die Goldene Bulle hatte verfügt, dass nicht mehr als 200 Personen, darunter nicht mehr als 50 Bewaffnete, einen Kurfürsten begleiten durften. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Kurfürsten in der Regel von mehr Personen zur Wahl geleitet. Niemand protestierte. Dennoch war den Beobachtern die Verfügung selbst stets präsent, wie die Diarien bei Königswahlen belegen, die seit 1562 angelegt und überliefert wurden. Diese erwähnten nämlich regelmäßig, wenn das Gefolge zu zahlreich war, aber sie registrierten die Nichtbeachtung kommentarlos und ohne Kritik.58 Daraus ist abzuleiten, dass einerseits die kundigen Beobachter die Regeln kannten, dass sie aber andererseits auf das Elementare und die politische Substanz der Verfügungen achteten. Ein Beispiel für Nichtbeachtung und Wandel zugleich ist die Wahl des Ortes für die Krönung eines römischen Königs und für seinen ersten Reichstag. Die Krönung sollte in Aachen, der erste Reichstag in Nürnberg stattfinden. Zu den Wahl- und Krönungshandlungen setzte seit 1440 eine erste be58 Barbara Dölemeyer, Reichsrecht, politische Propaganda und Festbeschreibung in den Wahl- und Krönungsdiarien, in: Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher (FN 1), S. 140 – 151.

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wusste Verschriftlichung ein. Dies belegen etwa die Wahl- und Krönungsakten, die seitdem in der Mainzer Erzkanzlei geschlossen abgelegt wurden (1440, 1486, 1520, 1531 usw.). Diese Akten erfuhren seit 1562 eine Erweiterung durch Diarien, die zur Wahl und Krönung verfasst wurden. Das Diarium zur Wahl Maximilians II. 156259 war demnach durch den Erinnerungshorizont der Handlungen der Jahre 1520, 1531 und 1558 bestimmt.60 Trotz der Verschriftlichung und fortgeschrittenen Traditionsbildung verlor jedoch Aachen in diesen Jahrzehnten seinen Status als Krönungsstadt. Frankfurt als Reichsstadt, in der die Wahl stattfinden sollte, erlebte 1562 die erste Krönung. Damit brach die Tradition der Krönungsstadt Aachen endgültig ab. Noch spielte sich keine neue Kontinuität ein. Regensburg war 1575 Ort der Wahl und Krönung, 1612 dann erstmals und bleibend Frankfurt. Nürnberg, wo der erste Reichstag eines Königs stattfinden sollte, fühlte sich schon im 14. und 15. Jahrhundert zurückgesetzt; seit Karl V. kam es überhaupt nicht mehr zum Zug. Zwar protestierte der Magistrat der Reichsstadt regelmäßig in einem Schreiben an den Kaiserhof, wenn dieser eine andere Reichsstadt vorzog und damit gegen die Goldene Bulle verstieß. Kaiser und Kurfürsten thematisierten die veränderte Praxis aber nicht. Von hier aus lässt sich hinsichtlich der rituellen und zeremoniellen Elemente, ferner hinsichtlich der äußeren Umstände des Wahl- und Krönungsaktes verallgemeinern: Diese waren einem fortgesetzten Wandel unterworfen, der aber nicht Gegenstand von Beschlüssen war. Nichtbeachtung und Änderungen ergaben sich vielmehr aus der Praxis. Es lag nahe, am Wahlort auch zu krönen, zumal Kaiser und Kurfürsten zunehmend feste Residenzen bezogen und ihre Reisen in dem Maß kostspieliger wurden, in dem ihre Höfe sich vergrößerten und die Zahl des Gefolges schon aus Gründen der Reputation anwuchs. Ein weiterer grundsätzlicher Aspekt ist von Bedeutung. Auch wenn Bestimmungen der Goldenen Bulle nicht mehr beachtet wurden, gerieten sie nicht in Vergessenheit. Dennoch wurden die Veränderungen hingenommen und bedurften in der Regel keiner Beschlussfassung. Vielmehr bildeten neue Praktiken nachfolgend durch Wiederholung eine eigene Regelhaftigkeit und ein eigenes Herkommen. Es bildete sich ein rechtlich relevantes Präjudiz, mit den Iterationen eine veränderte Erwartungshaltung und Konvention. Daher sind die Frankfurter Wahl- und Krönungshandlungen in ihrem Gesamtablauf auch im 18. Jahrhundert als traditionsbildende, wirksame Rechtsakte anzusehen, die unverrückbar auf der Goldenen Bulle gründeten, obgleich sich Edelmayer, Die Krönungen Maximilians II. (FN 21), S. 155 – 161. Harriet Rudolph, Die visuelle Kultur des Reiches. Kaiserliche Einzüge im Medium der Druckgraphik (1500 – 1800), in: Heinz Schilling [u. a.] (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 – 1806. 29. Ausstellung des Europarates in Berlin und Magdeburg, Bd. 2: Essays, Dresden 2006, S. 231 – 241. 59 60

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Zeremoniell und Ritual verändert hatten und die Betrachter wie Goethe ihre Inszenierung bereits als „überlebtes Welttheater“ empfanden.61 Das Interesse des Publikums war anhaltend hoch. Denn über das Rechtlich-politische hinaus faszinierte die veränderte „Selbstdarstellung des alten Reichs“ immer noch, weil sie 450 Jahre der Reichstradition erinnernd vergegenwärtigte. In den Wahl- und Krönungshandlungen konstituierte sich das Reich also im Kern wie ehedem, aber nun mit anderer und gesteigerter „Medienwirksamkeit“62 gegenüber dem 16. Jahrhundert. Das „Welttheater“, dessen Drehbuch die Goldene Bulle war, mochte für manchen Betrachter nicht mehr zeitgemäß sein, doch es hatte seine legitimierende Wirkung nicht völlig eingebüßt. Das „kaiserliche Rechtbuch“ für Wahl und Krönung blieb somit ein „Ort der Erinnerung“63; man könnte ergänzen: ein Ort der verpflichtenden Erinnerung und ein Ort des Rechts.

V. Die „Kurfürstenverfassung“ der Goldenen Bulle – Politik, Traditionsbildung und Recht Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Formen erlangte die Goldene Bulle Geltungskraft im Verfassungsleben des Reichs? Betrachtet werden nun nicht mehr einzelne Veränderungen, sondern beispielhaft die Implementierung und der langfristige Wandel der „Kurfürstenverfassung“. Die Goldene Bulle strukturierte den politischen Handlungsraum des Reichs, indem sie den Kurfürsten den Vorrang und die Korporationsbildung ermöglichte und indem sie den Kreis der Königswähler exklusiv festlegte. Jedoch waren damit zunächst nur Möglichkeiten erinnert und formuliert, noch keine bleibenden Realitäten respektive verbindliche Erwartungen geschaffen. Im 16. Jahrhundert war der Vorrang unverkennbar. Die Kurfürsten beeinflussten mehr als die Fürsten und sogar mehr als der Kaiser selbst die Beschlüsse von Reichstagen und lenkten darüber hinaus durch die Wahlen und ihre eigenen Versammlungen die Reichspolitik. Der Kreis der Königswähler festigte sich, bis ab 1547 / 48 Veränderungen eintraten und nach dem Westfälischen Frieden die Fürsten sogar vorübergehend das alleinige Wahlrecht der Kurfürsten anfochten. 61 Manfred Beetz, Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt / M. 1764, in: Jörg Jochen Berns / Thomas Brahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Frühe Neuzeit, Bd. 25: Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext), Tübingen 1995, S. 572 – 599. 62 Dölemeyer, Reichsrecht (FN 58), S. 149. 63 Peter Moraw, Gesammelte Leges fundamentales und der Weg des deutschen Verfassungsbewusstseins (14. bis 16. Jahrhundert), in: Kaspar Elm (Hrsg.), Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen (= WolfenbüttelerMittelalter-Studien, Bd. 15), Wiesbaden 2000, S. 1 – 18, hier S. 17.

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In den Jahrzehnten nach 1356 deutete sich die herausragende politische Leitfunktion der Kurfürsten noch nicht an. Dies zeigt, dass sie nicht allein kraft Normsetzung die „Säulen des Reichs“ waren, sondern es infolge ihres Handelns erst wurden. Sie selbst, obschon nicht unabhängig von Kaiser und Fürsten, setzten seit dem 15. Jahrhundert die „Kurfürstenverfassung“ in Verfassungswirklichkeit um, durch Einungen, politische Verfahren und Versammlungen. Darüber hinaus wurden seit dem 16. Jahrhundert auch die Traditionsbildung und die Eigenart des Reichsrechts wirksam. Denn einerseits erlangte nun die Goldene Bulle durch Verschriftlichung, Publizistik, Zeremoniell und den Diskurs, der sich zu ihr immer breiter entfaltete, einen stabilen Erinnerungsstatus; die Traditionsbildung verfestigte sich. Andererseits ließ die rechtliche Handhabung, insbesondere das Verfahren und die Rechtsetzung bei Veränderungen, die gleiche Offenheit erkennen, die das Reichsrecht generell kennzeichnete. Damit sind die drei wesentlichen Aspekte der oben formulierten Frage nach der Geltungskraft im Verfassungsleben genannt: die korporative Politik der Kurfürsten (1.), die Traditionsbildung (2.) und die Rechtlichkeit des Reichs (3.). 1. Korporative Politik der Kurfürsten

In den Jahrzehnten nach 1356 schien die Goldene Bulle nur für die Königswahlen Kontinuität zu stiften, nicht für die korporative Politik der Kurfürsten. Allerdings deckte sich schon die Praxis der ersten Wahl 1376 nicht mit den Normen von 1356, da König Wenzel noch zu Lebzeiten Karls IV. gewählt wurde. Ihren politischen Vorrang machten die Kurfürsten zunächst wenig, spürbar erst während der Hussitenkriege ab 1419 geltend. Sie sahen es als ihre Aufgabe und Verpflichtung, die Kräfte des Reichs zur Abwehr zu vereinigen.64 Die Königswähler nahmen seitdem durch eigene Versammlungen und Beratungen Einfluss auf das Geschehen im Reich.65 Dabei bildeten sie Verfahren aus, um informelle Absprachen und Versammlungen zu verstetigen. Einen formellen Zusammenschluss schufen sie in den zunächst nur kurzlebigen Kurvereinen, beginnend 1399 und 1424. Der letzte Kurverein vom 18. März 155866, der die Kurvereine von 1446, 1461, 1502 und 1521 erneuerte und erweiterte, galt bis zum Ende des Alten Reichs. Die Kurfürsten beeidigten meist die „Einigungen“, die umfassend ihre Rechte und Pflichten auf64 Michael Matthäus, „Reichsgrundgesetz“ oder nur „ein nichtsnützig Stück Pergament“? Die Rezeption der Frankfurter Goldenen Bulle in Wissenschaft und Literatur, in: Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher (FN 1), S. 170 – 196. 65 Hergemöller nennt die Königswähler die „Gewinner“ in der Reichspolitik; Hergemöller, Fürsten (FN 7), S. 222. 66 Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556 – 1662. Der Kurfürstentag zu Frankfurt 1558 und der Reichstag zu Augsburg 1559, Bd. 1, bearb. von Josef Leeb, Göttingen 1999, S. 454 – 465.

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listeten. Neu war 1558 der Passus, dass die konfessionelle Zugehörigkeit (zur Confessio Augustana oder zur alten Kirche) das Wahlrecht nicht beeinträchtigen dürfe. Das ist nach 1555 strikt beachtet worden. Eine aus älteren Regelungen stammende Vereinbarung von 1558, dass im Turnus von mindestens vier Jahren Kurfürstentage abzuhalten seien, wurde hingegen schon nach dem Wahltag 1562 nicht mehr eingehalten und auch später nicht praktiziert. Eineinhalb Jahrhunderte nach dem Erlass der Goldenen Bulle war damit dennoch in der „Einigung“ des Jahres 1558 die Korporationsbildung der Kurfürsten zum Abschluss gelangt. Wie offen die Entwicklung noch im 15. Jahrhundert war, lässt sich an der Ausbildung des Kurmainzer Erzkanzleramts beobachten. Erst spät gingen die Mainzer Erzbischöfe daran, den Erzkanzlertitel zu einer realen Funktion umzugestalten. Den Auftakt bildete der Vertrag, den Erzbischof Diether von Isenburg mit dem Trierer Erzbischof Jakob von Sierck am 11. Februar 1441 schloss. Darin ernannte der Mainzer den Trierer Fürsten, indem er sich auf eine Bestätigung der Erzkanzlerrechte durch Ludwig den Bayern von 1314 berief, zum Kanzler des Reiches.67 Sierck blieb es bis zu seinem Ableben 1456. Bei der Wahl Maximilians I. 1486 ließ dann Erzbischof Berthold von Henneberg das Mainzer Privileg auf Besetzung des Kanzleramts erneuern. Noch stand der Ausübung die Zusage seines Vorgängers Adolf von Nassau entgegen, bei Lebzeiten Kaiser Friedrichs III. keinen Anspruch auf Amtsgeschäfte zu erheben. Nach dem Tod Friedrichs III. 1493 aber ergriff Berthold von Henneberg die Initiative und erließ 1494 die erste Ordnung der Reichskanzlei.68 Im Zuge der Ausbildung regelmäßiger Reichstage seit 1495 konnten die Kurfürsten ihren Einfluss kontinuierlich steigern. Sichtbare Wegmarken waren die Wahlkapitulation, die erstmals 1519 Kaiser Karl V. vorgelegt wurde, dann die Exklusivität der Beratungen seit dem Reichstag 1547 /48. Seither berieten die Kurfürsten alle wichtigen Sachfragen nicht mehr in gemeinsamen Ausschüssen mit anderen Reichsständen, sondern nur in der eigenen Kurie.69 Damit verhinderten sie, „übermeert“70 zu werden, und 67 Ernst Schubert, Der Mainzer Kurfürst als Erzkanzler im Spätmittelalter, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im alten Reich (= Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Bd. 45), Stuttgart 1997, S. 77 – 97, hier S. 89. 68 Gerhard Seeliger, Die älteste Ordnung der deutschen Reichskanzlei. 1494, Oktober 3, in: Archivalische Zeitschrift 13 (1888), S. 1 – 7. 69 Gerhard Oestreich, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519 – 1556). Kuriensystem und Ausschußbildung, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25 (1972), S. 217 – 243. 70 Helmut Neuhaus, Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 3), Berlin 1987, S. 113 – 135, hier S. 128.

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setzten deutlicher als zuvor ihre Prävalenz in den Verhandlungen durch. Eine weitere Wegmarke war der Augsburger Frieden von 1555; nun stellten drei katholische und drei protestantische Kurfürsten die Parität bereits her, die erst der Westfälische Frieden in anderer Form für alle Reichsstände einrichtete.71 Die Reichsstände insgesamt wussten nach 1555 sehr wohl, dass die Stimmengleichheit nach Konfession die Kurfürsten in besonderer Weise befähigte, das bikonfessionelle Reich zu lenken.72 Insofern war ihre Bereitschaft höher als zuvor, den Führungsanspruch der Kurfürsten anzuerkennen, den die „unio electoralis“ von 1558 noch einmal mit Nachdruck formuliert hatte und der geeignet war, den 1555 formulierten Frieden zu verwirklichen. Der Einfluss der Kurfürsten im Reich hatte einen eigenen Konjunkturverlauf. Nachhaltig wirkte die Ära der „Reichsreform“ zwischen 1486 und 155873, in der sich der Vorrang der Kurfürsten ins Verfassungsleben des Reichs einprägte, im 15. Jahrhundert durch die rheinischen74, seit 1502 durch die immer häufigeren Gesamtkurfürstentage, dann durch das Verfahren der Reichs-, Reichkreis- und Reichsdeputationstage, prinzipiell infolge der Anerkennung ihrer Autorität und Präeminenz.75 Am meisten bedeutete wohl das politische und symbolische Kapital, das die Kurfürsten beim Reichstag geltend machten. Insofern ist es erstaunlich, dass die Herausbildung des Kurfürstenrats beim Reichstag noch nicht untersucht ist. Prinzipiell sicherten die Kurfürsten ihren Vorrang bei den Beratungen durch die Berufung auf das Herkommen und durch Beharrlichkeit, weniger durch explizite Bezugnahme auf die Goldene Bulle. Waren Gepflogenheiten einmal im Wechselspiel von Recht und Politik durchgesetzt, wurden sie zum Präjudiz und schließlich zum Gewohnheitsrecht, nicht jedoch zu kodifiziertem Recht. So wurde die so genannte Geschäftsordnung des Reichstags, wie es „uf Reichstägen pflegt gehalten zu werden“, nie einem Reichstag zum Beschluss vorgelegt, aber ihre differen71 Maximilian Lanzinner, Die Rolle des Mainzer Erzkanzlers auf den Reichstagen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert (= Geschichtliche Landeskunde, Bd. 47), Stuttgart 1998, S. 69 – 87. 72 Als „standespolitische Kampforganisation“ lassen sie sich insofern nicht bezeichnen, sie wurden so in der frühen Neuzeit auch nicht wahrgenommen. Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495 – 1806 (= Geschichte kompakt: Neuzeit), Darmstadt 2003, S. 15. 73 Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410 – 1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, S. 164 – 329. 74 Gabriele Annas, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. Studien zur strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349 – 1471) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 68), Göttingen 2004, S. 385 – 436. 75 Darauf ist hier im Einzelnen nicht Bezug zu nehmen. Überblicke bei Gotthard, Säulen (FN 23), S. 224 – 242 und passim.

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zierten Regeln wurden dennoch penibel eingehalten, ebenso was allgemein „breuchig“ war, zumal dass „der erst und fürnemste Rath, darauf die andere alle ihren Respect haben müssen“76, der Kurfürstenrat sei. Sie waren durch Herkommen und Gewohnheitsrecht verfestigt, wurden hingegen vermutlich nicht formell verabschiedet, um den Handlungs- und Verfahrensraum nicht einzuschränken. Zeitgenössische Begründungen haben sich bisher nicht gefunden. Eine ähnliche Gemengelage von politisch durchgesetzten Präjudizien und von gewohnheitsrechtlicher Verfestigung begründete auch die Stellung des Erzbischofs von Mainz als Reichserzkanzler.77 Er führte zwar unangefochten die Geschäfte bei Reichs- und Kurfürstentagen. Jedoch begrenzte der Kaiser seinen von der Goldenen Bulle legitimierten Amtsbereich, indem er faktisch den Reichsvizekanzler am Kaiserhof institutionalisierte, dem schon unter Karl V. die Gestaltung der kaiserlichen Reichspolitik oblag. Der politische Einfluss der Kurfürsten erreichte seinen Höhepunkt in der reichstagslosen Zeit zwischen 1613 und 1640, in der die Kurfürstentage eine reichspolitische Schlüsselfunktion innehatten. Beispielhaft war der Regensburger Kurfürstentag 1630 mit seinen Eingriffen in das Handeln Kaiser Ferdinands II., der in der Italien- und Spanienpolitik nachgeben und Wallenstein entlassen musste. Nach dem Westfälischen Frieden begann ein neuer Abschnitt. Stationen der Beschränkung kurfürstlicher Macht waren nach 1648 die Bestrebungen der Fürstenpartei nach „Parification“ um 1660, der Fürstenverein 1662 oder der vergebliche Versuch in den 1680er Jahren, die Satzung des Kurvereins zu aktualisieren.78 Der Abstand zwischen Kurfürsten und Fürsten wurde wieder geringer.79

76 „Breuchig“ ist die im Traktat übliche Formulierung für die einzuhaltenden Verfahrensregeln. Zitat aus Karl Rauch (Hrsg.), Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert. Eine offiziöse Darstellung aus der Kurmainzischen Kanzlei (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 1, Heft 1), Weimar 1905, S. 59. Zum Traktat Neuhaus, Wandlungen der Reichstagsorganisation (FN 70), S. 113 – 140; Neuhaus spricht von „Handreichung“ (ebd., S. 115). 77 Hartmann, Der Mainzer Kurfürst (FN 67). 78 Ein lesenswerter Spiegel dieser Bemühungen um Gleichrang zwischen Fürsten und Kurfürsten ist die Schrift von Leibniz, die er unter dem Pseudonym Caesarinus Fürstenerius unter dem Titel herausgab: „De Iure Suprematus ac Legationis“; Gottfried Wilhelm Leibniz, Caesarini Fürstenerii de jure Suprematus ac Legationis Principum Germaniae, Juni-Oktober 1677, in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe. Reihe 4: Politische Schriften, Bd. 2: 1677 – 1687, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Darmstadt 1963, S. 3 – 270. 79 Axel Gotthard, Cardo Imperii. Das Kurfürstenkollegium im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichsverband, in: Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher (FN 1), S. 130 – 139.

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Maximilian Lanzinner 2. Traditionsbildung

Die Goldene Bulle stützte also die politische und institutionelle Präeminenz, die freilich die Kurfürsten erst durchsetzen mussten. Das „Rechtbuch“ Karls IV. gewann verfassungsrechtlich auch deshalb bis ins 16. Jahrhundert hinein an Geltungskraft, weil sich neben der iterativen Konstituierung ihrer symbolisch-rituellen Formen auch die mediale Erinnerung erweiterte. Die Goldene Bulle war, als sie 1356 niedergeschrieben wurde, „inhaltlich nicht neu“80, sondern durch Herkommen schon vorgeformt. Für die Zukunft hatte Bedeutung, dass das Herkommen 1356 durch die Verschriftlichung im „Rechtbuch“ ein neues, stabilisierendes Erinnerungsmedium fand. Handlungsablauf und Zeremoniell bei Königswahl oder -krönung verwiesen nicht nur fortgesetzt auf das „Rechtbuch“, sondern stellten immer wieder die beschriebene Ordnung her, die sich nun mit dem Wortlaut von 1356 vergleichen ließ. Mit dem Buchdruck entstand indessen eine neue Erinnerungsform. Es wäre verfehlt, sie nur so zu bewerten, dass dem handgeschriebenen Medium nun das gedruckte hinzugefügt wurde und dadurch eben mehr Texte im Umlauf waren. Vielmehr evozierte der Druck eine Öffentlichkeit von gelehrten Juristen und Politikern81 in der Verfassungsdiskurse auch zur Goldenen Bulle geführt wurden, die ihrerseits auf das Verfassungsleben zurückwirkten. In einem ersten Schritt erhielt die Goldene Bulle nach der Verbreitung in handschriftlichen Fassungen durch den Druck lediglich erhöhte Publizität. 1474 erschien in Nürnberg die erste lateinische Ausgabe nach dem Nürnberger handschriftlichen Exemplar (durch Friedrich Creussner), 1485 die erste illustrierte (durch Johann Trüssz); letztere war wohl veranlasst durch die bevorstehende Wahl Maximilians I.82 Vor den Königswahlen wurde der Text regelmäßig nachgedruckt, wobei meist das Frankfurter handschriftliche Exemplar die Vorlage bildete. Seit etwa 1500 wurde die Goldene Bulle in die 80 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 – 1490 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3), Berlin 1985, S. 248. 81 Im Sinn eines Konzepts der segmentierten Öffentlichkeiten; Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit: Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 7), Berlin [u. a.] 1998. Vgl. auch Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), Göttingen 1994; Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5 – 32; James van Horn Melton (Hrsg.), Cultures of Communication from Reformation to Enlightenment. Constructing Publics in the Early Modern German Lands (= St. Andrews Studies in Reformation History), Ashgate 2003; Johannes Burkhardt / Christine Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (= Historische Zeitschrift, Beiheft, Neue Folge, Bd. 41), München 2005. 82 Matthäus, „Reichsgrundgesetz“ (FN 64).

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Ausgaben der „Recessus Imperii“ aufgenommen. Die Bedeutung des Drucks dokumentiert eindrücklich der frühe Kommentar des Peter von Andlau zur Goldenen Bulle im „Libellus de Cesarea monarchia“. Andlau verfasste ihn 1460, danach geriet er völlig in Vergessenheit, bis ihn Marquard Freher 1603 zum Druck brachte und ihn damit erst in die Diskussionen zur Reichsverfassung einführte.83 Selbst die Literaten übersahen die Goldene Bulle nicht. Ein Lobgedicht des Frankfurter Stadtarztes Johann Steinwert von Soest pries sie um 1500 unter dem Titel: „Dy gulden bul dyn namen nennt“.84 Damit fand sie Eingang in die Reichsvorstellung aller Gebildeten, nicht nur der Juristen und Politiker.85 Zwar medial, aber in erster Linie rechtlich verankert wurde sie dann in den anschwellenden Rechtskodifikationen des 16. Jahrhunderts. Es ist hier nur möglich, einige Linien anzudeuten. Die Traditionsbildung der Goldenen Bulle wurde noch nicht systematisch untersucht. Vorliegende Studien über die Rezeption in der Reichspublizistik des 17. Jahrhunderts machen aber evident, wie prononciert ungezählte Kommentare die Goldene Bulle fortgesetzt in Erinnerung riefen und dadurch deren rechtliche Substanz festigten.86 Arno Buschmann bezeichnet die Rezeption der Goldenen Bulle in der Reichspublizistik dennoch als „Forschungslücke“.87 Die Kommentierung der Goldenen Bulle im 17. und 18. Jahrhundert hatte verschiedene Kontexte, zunächst das kanonische und römische Recht, dann das Ius publicum Romano-Germanicum, schließlich die juristisch-historische Auslegung. Die behandelten Themen wiederholten sich: das Geleitrecht, die Königswahl, die Vorrechte der Kurfürsten, ihre Rangordnung, das Zere83 Peter von Andlau, Kaiser und Reich / Libellus de Cesarea Monarchia. Lateinisch und Deutsch, hrsg. von Rainer A. Müller (= Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 8), Frankfurt am Main [u. a.] 1998; Schubert, Die deutschen Reichstage (FN 34), S. 117. 84 Matthäus, „Reichsgrundgesetz“ (FN 64), S. 176. 85 Maximilian Lanzinner, Einleitung, in: ders. /Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag (1486 – 1613). Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 73), Göttingen 2006, S. 19 – 23. 86 Arno Buschmann, Die Rezeption der Goldenen Bulle in der Reichspublizistik des Alten Reiches, in: Hohensee, Die Goldene Bulle (FN 1), S. 1071 – 1119; dort behandelt vor allem Peter von Andlau, Dominicus Arumaeus, Johannes Limnaeus, Johann Peter (von) Ludewig, Nicolaus Hieronymus Gundling, Johann Daniel (von) Ohlenschlager; erwähnt oder kommentiert: Marquardt Freher, Heinrich-Günther Thülemeyer (Thüle, Marius), Nicolaus Christoph Lyncker, Nicolaus Hieronymus Gundling, Gerlach Buxtorff, Martin Rümelin (Rumenlinus), Johann Heinrich Boecler, Johann Volkmar Bechmann, Benedict Carpzow, Samuel Strück; siehe auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, S. 129 f.; Armin Wolf, Die Goldene Bulle. König Wenzels Handschrift. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 338 der Österreichischen Nationalbibliothek, Kommentar, 2 Bde., Darmstadt 2003. 87 Buschmann, Rezeption (FN 86), S. 1074.

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moniell und die Ausübung der Erzämter. Hervorzuheben ist, dass die Publizistik das Zeremoniell nicht als Angelegenheit „der gesellschaftlichen Konvention“ behandelte, sondern als „substantielle Rechtsfrage“.88 Dies galt für alle Einzelheiten des Hofdienstes, den Einsatz von Hilfspersonen, die Beschaffenheit der Speisen und Getränke, die Art des Weins oder seine Mischung mit Wasser.89 Der so geschaffene Erinnerungsstatus der Goldenen Bulle blieb im Alten Reich positiv konnotiert, trotz mancher Kritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Traditionsbildung hatte bewirkt, dass die Öffentlichkeit die „Kurfürstenverfassung“ als selbstverständlichen Bestandteil des Verfassungslebens im Reich wahrnahm, obwohl diese vor allem seit 1740 an Bedeutung verlor und obwohl Reformen gefordert wurden.90 Sie induzierte noch immer die Identität stiftende Vorstellung des Reiches. Erst im 19. Jahrhundert verflüchtigte sich die positive Wahrnehmung. Vor dem Hintergrund des „Anstaltsstaates“, der auf der Legitimität geschriebener Verfassungen beruhte, erschien die Goldene Bulle als Musterstück des anarchischen und obsoleten Reichsgefüges. Es ist eigentümlich, dass erst nach der Frühen Neuzeit, im publizistischen und dann auch geschichtswissenschaftlichen Rückblick des 19. Jahrhunderts, der Charakter des „Reichsgrundgesetzes“, also das rein Verfassungsrechtliche der Goldenen Bulle so verzerrend in den Vordergrund trat.91 Diese Perspektive, weil sie den „Anstaltsstaat“ mit seinem systemischen und sanktionsbewehrten Normensystem als Filter hatte, erkannte nur noch das vermeintlich Irrationale, Regellose des Alten Reichs.

3. Rechtlichkeit des Reichs

In der Frühen Neuzeit vollzog sich ein rechtlicher Ausdifferenzierungsprozess, für den in den letzten Jahrzehnten der Begriff „Verrechtlichung“ gebraucht wurde.92 Er bezeichnet einerseits die Beilegung von Konflikten, die zuvor gewaltsam ausgetragen worden waren, durch Recht und vor allem Rechtsprechung. Andererseits ist die fortschreitende Strukturierung einer staatlichen Gemeinschaft durch Gesetze und Rechtspflege gemeint. In den 88

Ebd., S. 1118. Ebd., S. 1092. 90 Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 173; = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 13), Mainz 1998. 91 Oesterle meint dazu, die Goldene Bulle könne als „eine negativ besetzte Langzeitgeschichte der Spaltungen, Diskontinuitäten und Anarchie“ gelesen werden. Oesterle, Kodifizierte Zeiten (FN 19), S. 10. 92 Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, 4., überarb. und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2002, S. 80 – 84. 89

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größeren Territorien des Reichs lassen sich beide Formen der Verrechtlichung beobachten. Dadurch wurde im 16. und noch im 17. Jahrhundert eine Gerichtsverfassung mit festen Instanzen und einem geregelten Verfahren etabliert. Die Rechtsordnung der Territorien wurde durch einen Strom von Mandaten, ferner Kodifikationen von materiellem und Verfahrensrecht immer stärker ausdifferenziert. Die Goldene Bulle war einer solchen Form der Verrechtlichung durch Normausweitung und -differenzierung nicht unterworfen. Vielmehr wurden die Strukturen des Verfassungslebens, die auf der Goldenen Bulle fußten, bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts vorwiegend informell ausgebildet. Bei Änderungen, Abweichungen oder Ergänzungen blieb der Text von 1356 unangetastet. Darüber hinaus fanden Veränderungen, Nichtbeachtung oder Ergänzungen oft nicht einmal eine Verschriftlichung. Abweichungen wurden stillschweigend praktiziert, Ergänzungen wie die Geschäftsordnung des Reichstags zwar als interne Anleitung der Mainzer Kanzlei benutzt, aber von keinem Reichstag formell verabschiedet. Die informelle Praxis, durch wiederholtes Handeln und Herkommen Erwartungssicherheit herzustellen, änderte sich erst bei Texten mit reichsrechtlichem Geltungsanspruch im 17. Jahrhundert. Die Wahlkapitulation Ferdinands III. hob diese selbst in den Rang der Goldenen Bulle. Die Westfälischen Friedensverträge änderten die Kurfürstenverfassung mit ausdrücklichem Bezug zur Goldenen Bulle (Art. IV, 5 IPO, § 13 IPM). Die Translation der pfälzischen Kur und die achte Kurwürde dokumentieren, dass die Goldene Bulle der politischen Kommunikation der Herrschaftsträger im Reich einen verpflichtenden Rahmen gab, der jedoch einer veränderten Lage angepasst wurde, wenn Kaiser und Reichsstände zustimmten. Die Form ihrer Umsetzung im rechtlichen und politischen Leben blieb strukturell offen. Verrechtlichung trifft also für die Goldene Bulle nicht oder nur eingeschränkt zu. In welchen Grenzen ihre Umsetzung offen blieb, erweisen die behandelten Beispiele, die bayerische Kurtranslation und die Schaffung der achten Kurwürde. Sie wurden politisch ausdrücklich mit dem legitimierenden Argument gelöst, dass Recht und Herkommen zurückzustehen hätten, wenn der Reichsfrieden bedroht sei. Unmissverständlich in diesem Sinn äußert sich das Reichsgutachten zur achten Kur vom 31. März 1647.93 Es erinnert daran, dass es zwar gemäß der Goldenen Bulle bei der Zahl von sieben Kurfürsten bleiben müsste, weil sie sich selbst gerade in diesem Punkt für unveränderbar erkläre. Dagegen spreche jedoch erstens, dass das Wohl des Reichs oberstes Gesetz sei („salus Imperii suprema lex esto“), und dagegen spreche zweitens, dass die Goldene Bulle ohnehin mehrfach verändert worden sei. 93

Meiern, Acta Pacis Westphalicae (FN 38), S. 396.

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Der politische Wille hatte bei den Regelungen zur vierten und achten Kur 1648 Vorrang vor der Verfassungsnorm. Diesen Vorrang mag ein anderes, noch markanteres Beispiel verdeutlichen. So entschieden die politischen Kräfteverhältnisse auch den ersten Rechtskonflikt, der sich aus den Regelungen von 1648 bezüglich der Vikariatsrechte ergab. Während des Interregnums nach dem Tod Kaiser Ferdinands III. am 2. April 1657 stritten Kurpfalz und Kurbayern um das Recht, das Reichsvikariat auszuüben. Dabei war die Rechtslage eindeutig. Das Instrumentum Pacis Osnabrugense (Art. IV, § 3) hatte die vierte Kurwürde mit allen Rechten der bayerischen Linie übertragen. Damit war Bayern auch das Reichsvikariat gemäß der Goldenen Bulle zugesprochen. Allerdings hatte Kaiser Ferdinand III. in seiner Belehnung Kurfürst Ferdinand Marias vom 5. Oktober 1652 das Vikariat nicht ausdrücklich erwähnt.94 Um die pfälzischen Ansprüche zu behaupten, erließ Kurfürst Karl Ludwig im April 1657 nur wenige Tage nach Kurbayern ein Vikariatspatent, das sich ausdrücklich auf die Goldene Bulle berief, das Instrumentum Pacis Osnabrugense aber nicht erwähnte. Der Konflikt eskalierte. Bayern warb Truppen, Karl Ludwig drohte mit der „Assistenz der Kronen Frankreich und Schweden“.95 Die meisten Kurfürsten und Fürsten jedoch traten auf die Seite Kurbayerns. Das Reichskammergericht entschied den Streit nicht. Faktisch wurde der Mainzer Erzkanzler zum Schiedsrichter, der auf Seiten Bayerns stand.96 Es bleibt also festzuhalten, dass der Streit um das Recht nicht durch ein Verfahren, sondern genuin politisch gelöst wurde. Eine verfahrensrechtliche Klärung mit Geltungskraft, unter welchen Umständen eine substantielle Änderung der Goldenen Bulle möglich war, erbrachte schließlich die Implementierung der neunten Kurwürde. Kaiser Leopold I. wünschte nach 1690 die Kurerhebung Ernst Augusts von Hannover, weil er auf Hilfe im Türkenkrieg und im Krieg gegen Frankreich hoffte. Protestantische Kurfürsten unterstützten ihn, die Fürsten waren dagegen. Der Kaiser hatte das Kurkolleg außerhalb des Reichstags nicht völlig überzeugen können, vollzog aber die feierliche Belehnung am 19. Dezember 1692 unter Umgehung der Reichstagsinstanzen. Die juristische Bewertung war trotz des Präjudizes bei der achten Kurwürde unsicher. Man konnte die neunte Kurwürde als Standeserhöhung auffassen, die zu den „Jura reservata“ des Kaisers gehörten. Allerdings sprach gegen diese Auffassung eindeutig die Goldene Bulle, deren uneinge94 Lothar Höbelt, Ferdinand III. (1608 – 1657). Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008, S. 311, 385. 95 Wolfgang Hermkes, Das Reichsvikariat in Deutschland. Reichsvikare nach dem Tode des Kaisers von der Goldenen Bulle bis zum Ende des Reiches (= Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 2), Karlsruhe 1968, S. 57. 96 Ebd., S. 59.

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schränkte Geltung der Kaiser in der Wahlkapitulation beschworen hatte.97 Eingehende Erwägungen, die gegen das kaiserliche Recht zur Kurerhebung sprachen, finden sich in den juristischen Stellungnahmen fürstlicher Räte, die in Lünigs „Grundfeste europäischer Potenzen Gerechtsame“ abgedruckt sind.98 Kern der Argumentation war, dass die Goldene Bulle ein „vinculum adamanticum“ sei, welches das Reich zusammenhalte. Die Zahl der Kurfürsten sei ein Fundament der Reichsverfassung, weshalb nur ein Reichstag die Kurerhebung aussprechen könne. Die Argumente des Kaiserhofs bestritten dies letztlich nicht. Weil somit „der verfassungsrechtliche Status quo“ für beide Seiten „Maßstab der Bewertung“99 war, ersuchte der Kaiser 1707 den Reichstag, der Erhebung des Hauses Braunschweig-Lüneburg zuzustimmen, was dann mit Reichsschluss vom 2. Juli 1708 geschah.100 Nach dieser faktisch-politischen und rechtlichen Klärung kommentierten Denkschriften und Reichspublizisten des 18. Jahrhunderts, wie jeder Gesetzgeber habe auch das Reich (d. h. Kaiser und Reichsstände) die Befugnis, Gesetze zu ändern. Als zweiter Grund für die Zulässigkeit substantieller Änderungen101 wurde genannt, dass ohnehin viele Verfügungen der Goldenen Bulle nie praktiziert worden seien, andere durch ein gewandeltes Herkommen verändert oder als untunlich erachtet wurden; dabei listeten die Autoren die „numquam observata“ oder „mutationes“ auf. Nie sei beachtet worden, dass die Kurfürsten nach 30 Tagen der Wahlhandlungen nur noch Wasser und Brot bekämen, dass der Pfalzgraf bei Rhein des Kaisers Richter sei, dass die weltlichen Kurfürsten ihre Söhne slawische Sprachen lernen ließen und andere Regelungen, die oben schon besprochen wurden. Abschließend ist zu sagen, dass die Offenheit gegenüber politischen Lösungen für die Rechtsordnung des Reichs allgemein gilt, das durch ein weitmaschiges und nicht immer widerspruchsfreies Normensystem zusammengehalten wurde. Im Gegensatz dazu tendierte das Territorialrecht im Lauf der Frühen Neuzeit zu Systematik und Widerspruchsfreiheit, zu Normie97 Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 112), Stuttgart 1984, S. 134. 98 Lünig, Theatrum Ceremoniale (FN 22). 99 Roeck, Reichssystem (FN 97), S. 137. 100 Die Kurwürden ab 1803 (Salzburg, Württemberg, Baden und Hessen-Kassel) wurden bereits unter den Sonderbedingungen des Reichsdeputationshauptschlusses geschaffen; Karl Härter, Reichstag und Revolution 1789 – 1806. Die Auseinandersetzung des immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das alte Reich (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 46), Göttingen 1992, S. 600. 101 Hermann Conrad, Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Aus den Erziehungsvorträgen für den Erzherzog Joseph, in: Hanns Hubert Hofmann (Hrsg.), Die Entstehung des modernen souveränen Staates (= Neue wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 17), Köln [u. a.] 1967, S. 228 – 243.

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rung immer neuer Regelungsbereiche und zu Reglementierung durch eindeutig definierte Sanktionsdrohungen. Im Reichsrecht hatten Herkommen, Zeremoniell, Ritual und Gewohnheitsrecht neben dem kodifizierten Recht mehr Bedeutung und begründeten in wechselnder Verflechtung Verhaltenserwartungen und Observanz. Hinsichtlich der Observanz, der Regelbefolgung, bestanden im Reichsrecht bemerkenswerte Spielräume, sowohl beim hier behandelten Beispiel der Goldene Bulle wie auch grundsätzlich, etwa bei der Befolgung von reichsgerichtlichen Urteilen oder der Entrichtung von Reichssteuern. Gehorsam gegenüber Recht, Urteilen und Leistungsvereinbarungen wurde von den Herrschaftsträgern erwartet, aber nicht in jedem Fall erzwungen, konnte bei den großen Territorialherrn auch nicht erzwungen werden, ohne den Frieden zu gefährden. Die Traditionsbildung durch Zeremoniell, Verschriftlichung, jede Form der Erinnerung und die Publizistik trug zum Verfassungsleben bei, indem sie die normbezogenen Erwartungen stabilisierte und Kontinuität schuf. Die beschriebene Offenheit gilt in mancher Hinsicht auch für den Augsburger Religionsfrieden102, sehr viel weniger für den Westfälischen Frieden103, was hier nicht vertieft werden kann. Die offene Verfasstheit lag in der Natur des Reichsverbands. Er blieb einerseits immer ein politischer Verband von Kaiser und Reichsständen, der durch Konsens und Vertrag zusammengehalten wurde. Andererseits bildete er staatliche Strukturen aus, um den inneren Frieden und damit die Territorien zu sichern und um den Verband nach außen abzuschirmen104, was zunehmend weniger gelang. Dem entsprach, dass diejenigen Teile der Goldenen Bulle Geltungskraft entfalteten, die im politischen Handeln Konsens gefunden hatten und die sich zugleich in der Staatlichkeit des Reichs behaupteten, welche sich seit 1495 institutionell verfestigte. Dem entsprach ferner, dass die Auslegung 102 Insbesondere der Begriff der „Vergleichung“ erweist die prinzipielle Offenheit; dazu die Arbeiten Martin Heckels in: ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 5 (= Jus Ecclesiasticum, Bd. 73), Tübingen 2004; siehe auch Hans Maier, Der Augsburger Religionsfriede – ein Anfang, kein Ende, in: Carl A. Hoffmann [u. a.] (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg (16.6. – 16.10. 2005), Regensburg 2005, S. 290 – 293. 103 Georg Schmidt spricht auf ihn bezogen zutreffend von „Verrechtlichung des Politischen“; Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, S. 61. 104 Staatliche Strukturen, aber kein Staat, so lässt sich die Debatte um die Staatsform des Reichs zusammenfassen; Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 57), Mainz 2002; siehe vor allem Ronald G. Asch, Frage an Georg Schmidt, in: ebd., S. 295 – 297.

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und insbesondere die Änderungen der Goldenen Bulle nicht durch ein schriftlich fixiertes rechtliches Verfahren entschieden wurden, sondern durch Einigung. Dem entsprach schließlich das Paradox, dass zwar die symbolisch-rituellen Formen im 18. Jahrhundert mehr denn je als „substantielle Rechtsfragen“ behandelt wurden, dass man sie jedoch zugleich als „abgelebtes Welttheater“ empfand105, weil die Formen im Mächteringen ab 1740 nicht mehr symbolhaft auf die eigentliche Leistung des Reichsverbands verweisen konnten, den Reichsbewohnern Schutz und Schirm zu bieten. Insofern war die „Verfassung“ des Reichs in der Tat ein außerordentlich „ferner Vorläufer des Grundgesetzes“.106 Dieser „Verfassung“ fehlten Widerspruchsfreiheit, Systematik, rechtliche Normierung des Verfahrens und geregelte Erzwingungschancen. Sie war ein offenes rechtliches System für Herrschaftsträger, nicht für die Reichsbewohner. Sein Geltungsanspruch wurde bestimmt von politischen Kräften, Traditionsbildung und Rechtsnormen, für die bis zu ihrer Verfestigung noch der Grundsatz „ex facto oritur jus“107 galt. Die verfestigten Formen wie ihre symbolischen Repräsentationen behaupteten sich im Verfassungsleben und im politischen Bewusstsein der Reichsbewohner. Sie behaupteten sich, was zu vermerken ist, auch dann noch, als das Reich seine Aufgabe der Friedenssicherung nach innen und außen seit 1740 zunehmend weniger erfüllen konnte und damit die Formen wie die Repräsentationen ihre Substanz verloren.

105

Siehe oben S. 66 f. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 1: Von den Anfängen der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, S. 74. 107 Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 12; siehe auch die dort zitierten Arbeiten von Niklas Luhmann, insbesondere: Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 – 220. 106

Aussprache Gesprächsleitung: Neuhaus

Neuhaus: Vielen Dank, Herr Lanzinner. Ich eröffne die Aussprache und darf um Wortmeldungen zu diesem Vortrag bitten. – Herr Borck. Borck: Herr Lanzinner, Sie haben eine Vielzahl wichtiger und interessanter Aspekte in Ihrem Vortrag angesprochen. Eines habe ich aber bei der Darstellung der Vorgänge des Jahres 1623, die Sie unter Zeremonialgesichtspunkten ja sehr ausführlich dargestellt haben, vermisst, nämlich einen Vergleich mit dem Restitutionsedikt. Denn die Vorgänge um die Erhebung Maximilians zum Kurfürsten lassen meines Erachtens unter dem Aspekt unserer Tagung – also Bedeutung von Verfassungsänderungen – einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt erkennen, der auch bei der Diskussion um das Restitutionsedikt eine ganz wesentliche Rolle spielt: Das erkennt man, wenn man im Theatrum Europaeum beispielsweise die unzähligen Druckschriften, die Repliken, Tripliken und so weiter, die insbesondere von sächsischer Seite veröffentlicht wurden gegen die kaiserlichen Anordnungen, aber auch weitere sind da zu finden – wenn man die also durchliest, dann sieht man, dass es mit den Begriffen unserer Zeit betrachtet letztlich mindestens auch, wenn das den Beteiligten vielleicht auch nicht immer so gegenwärtig war, um die Frage einer authentischen Interpretation der Verfassung geht. Und die Bedeutung, die die Entscheidung des Kaisers im Falle der Vorgänge des Jahres 1623, der Übertragung einer Kur, praktisch hatte, nämlich die Goldene Bulle zu ändern – auch entgegen der eigenen Wahlkapitulation, die die Anhörung des pfälzischen Kurfürsten vor einer rechtlichen Verurteilung, wenn es denn eine war, verlangt hätte –, diese Entscheidung lief auf eine authentische Interpretation der Verfassung hinaus, die der Kaiser für sich ebenso 1629 in Anspruch nahm, als er im Restitutionsedikt alle Vorgänge der Säkularisierung des Kirchengutes im protestantischen Bereich als Verstoß gegen Passauer Vertrag und Augsburger Religionsfrieden wertete. Dieser Aspekt, denke ich, spielt bewusst oder unbewusst bei der Phase der Erhebung des bayerischen Herzogs zum Kurfürsten eine wesentliche Rolle. Wäre das ohne die spätere Sanktionierung durch den Westfälischen Frieden gelungen, dann hätte der Kaiser in der Tat sich im Jahr 1623 das Recht der authentischen Interpretation der Verfassung gesichert, was ihm 1629 nicht gelang; im Prager Frieden musste die eigenmächtige kaiserliche Auslegung des Augsburger

Aussprache

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Religionsfriedens zurückgenommen werden – und im Westfälischen Frieden ist dann ja endgültig der von Ihnen auch geschilderte Zustand wieder eingetreten, dass die Änderungen der Grundgesetze des Reiches nur durch übereinstimmende Beschlüsse von Kaiser, Kurfürsten und den übrigen Reichsständen – also durch Reichsabschied beziehungsweise später Reichsschluss – zustande kommen konnten. Neuhaus: Zur Erwiderung bitte, Herr Lanzinner. Lanzinner: Ich denke, dass ich jetzt nicht die Problematik des Restitutionsedikts aufgreifen muss, sondern Ihr Kernpunkt war die authentische Interpretation der Verfassung durch den Kaiser. Dieser Begriff einer authentischen Interpretation lässt sich auf das Jahr 1623 und die Kurerhebung kaum anwenden. Wenn man die politische Vorgeschichte nimmt, sieht man sehr deutlich: Ferdinand II. verspricht die Kurwürde, will aber dieses Versprechen nicht einlösen, auch nachdem der Pfälzer Kurfürst geächtet ist. Maximilian schickt Rat um Rat nach Wien. Er erhält schließlich 1621 eine Geheimbelehnung. Diese wird auf peinliche Weise bekannt, weil kurpfälzische Söldner den Briefwechsel des Nuntius Carafa abfangen. Anschließend wird die gesamte bayerische, kaiserliche und päpstliche Korrespondenz veröffentlicht. Dadurch wird der Fall bekannt. Im Reich bildet sich eine ablehnende Front. Ferdinand ist in einer schwierigen Lage, er möchte aber sein Versprechen einlösen. Es geht ihm also nicht um Verfassungsänderungen. Auch wird von ihm, eigenartigerweise, die Goldene Bulle nicht thematisiert in den Korrespondenzen, die in den „Briefen und Akten“ publiziert sind, sondern es wird das Politische thematisiert, ob beim allgemeinen politischen Widerstand, sogar Spaniens, Maximilian gemäß dem Versprechen die Kur erhalten soll. Die Beteiligten ringen also keineswegs 1623 um die authentische Interpretation der Verfassung, das heißt der Goldenen Bulle. Das Restitutionsedikt ist ein Thema für sich, wieder spielen München und Wien eine große Rolle. Es ist von Bedeutung, wie das Restitutionsedikt von der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert behandelt worden ist, nämlich doch sehr stark als konfessionspolitische Frage, die mit Wahrheitsansprüchen des Glaubens verbunden ist. Es geht jedoch im Kern um Kirchengut, das kann ich jetzt nicht ausführen. Ich wollte nur noch einmal klarstellen, dass die Goldene Bulle 1623 keinen verfassungsrechtlichen Diskussionsgegenstand gebildet hat, vielmehr wollte Ferdinand sein Versprechen erfüllen. Es gibt dazu eine schöne Episode: Am Tag vor der Belehnung 1623, am 24. Februar, nachdem der Fürstentag in Regensburg sich geweigert hatte – alle Fürsten und Kurfürsten hatten sich geweigert –, überhaupt einen Beschluss zur Kurübertragung zu fassen, kommt der Erbmarschall von Pappenheim zu den Anwesenden, die im Vortrag aufgezählt worden sind, und verkündet einfach: Morgen findet die Belehnung statt. Alle Geladenen waren sehr überrascht. Es steht in den Quellen, Pappenheim habe seiner Ein-

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ladung hinzugefügt: Die Belehnung finde jetzt zwar statt, aber Maximilian könne die Kur doch später wieder zurückgeben. Das ist nicht ganz wörtlich, aber sinngemäß zitiert. Daran lässt sich erkennen, wie weit die Vorstellung einer verbindlichen und authentischen Interpretation von Verfassung entfernt ist von dem politischen Geschehen bei der Übertragung der vierten Kur. Es schien mir wert, die Episode des 24. Februar genauer zu beschreiben, weil sie bezeichnend dafür ist, wie die Goldene Bulle und ihre Änderung fern von Dignität gehandhabt wurden. Neuhaus: Vielen Dank, Herr Lanzinner. Das Wort hat jetzt Herr Kotulla. Kotulla: Herr Lanzinner, mich stört so ein ganz klein wenig die Relativierung der Verrechtlichung, die Sie uns vorgestellt haben. Es mag ja sein, dass das Bewusstsein mit Blick auf die Goldene Bulle vielleicht nicht so stark ausgeprägt war, aber die Betroffenen selber – wenn ich den Sachsen nehme oder wenn ich auch den Pfälzer betrachte –, die ja nun ihre Kurwürde zunächst losgeworden sind, die beriefen sich natürlich zum einen auf das Recht der Goldenen Bulle und zum anderen auf das Reichsherkommen. Ich glaube, wenn man das politische Bewusstsein zu stark in den Vordergrund stellt, wie Sie es machen, dann vernachlässigen Sie meines Erachtens ganz stark den Charakter des Rechts, insbesondere des Reichsrechts; wie überhaupt der Gedanke vom „Reich“ als Rechtsgemeinschaft im Bewusstsein der einzelnen Zeitgenossen nachwirkt. Wo sollen diese Rechte und dieses Rechtsbewusstsein sonst herkommen? Ich hätte ganz gerne von Ihnen zu dem rechtlichen Teil ein bisschen mehr gehört. Neuhaus: Danke sehr. Herr Lanzinner, bitte. Lanzinner: Ich gebe Ihnen insoweit auch Recht. Ich wollte den politischen Teil betonen, der mir so aufgefallen ist bei der Beschäftigung mit diesem Thema. Ich will aber doch auch in einem weiteren Punkt zustimmen: Grundnormen sind sehr wohl beachtet worden im Reichsrecht, aber es ist sehr vieles – ich habe ja Beispiele aus der Goldenen Bulle erwähnt – völlig missachtet worden, wozu wir uns heute fragen: Warum eigentlich? Es sind natürlich immer die Bestimmungen zur Königswahl beachtet worden; das war eine rechtliche Grundnorm. Die Kurfürstenverfassung gründet rechtlich auf der Goldenen Bulle, und die Legitimationsgrundlage für die Kurfürstenverfassung – für die Zahl und die Funktion der Kurfürsten im Reich – ist die Goldene Bulle. Daran wurde nicht gerüttelt, das war Rechtsordnung. Dennoch, viele andere Gesetze, die zum Gefüge des Reichsrechts im 16. und 17. Jahrhundert gehörten, sind zwar in Reichsabschieden formuliert, wurden dann aber nicht vollzogen, sogar rechtliche Grundregeln, etwa bei der Handhabung der Reichsexekutionsordnung von 1555. Jedoch wurden grundlegende Rechtsnormen, die innerhalb der politischen Kommunikation als unverzichtbar für die politische Stabilität angesehen wurden, so die Königswahl

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und reichspolitische Lenkungsfunktion der Kurfürsten, von allen Beteiligten im politischen Prozess auch beachtet. Ein anderes Thema ist die Publizistik. Die Publizistik betont den rechtlichen Aspekt sehr stark im Vergleich zur Politik, nimmt alles Rechtliche naturgemäß wesentlich genauer und wortgetreu. Insgesamt will ich durchaus bestätigen – ich habe es ja auch gesagt –, dass die politische Dimension der kurfürstlichen Einflussnahme im Reich grundgelegt wird durch die Goldene Bulle, und dass viele Normen später erst gebildet werden, die in ihr nicht rechtlich normiert sind, die aber dennoch gelten, etwa die Wahlkapitulationen. Grundsätzlich im Hinblick auf Verrechtlichung ließe sich das klassische Beispiel der sogenannten Geschäftsordnung des Reichstages von 1569 nennen – ich meine den „Traktat“ Erstenbergers, der zwar exakte Regeln festlegt, die strikt beachtet wurden, aber nie förmlich Rechtskraft bekam. Umgekehrt lassen sich andere Beispiele beibringen, dass durch Herkommen im Reich Normen gebildet wurden, etwa auf dem Feld der Amtsführung des Mainzer Erzkanzlers, die aber dann nicht verschriftlicht wurden. Zweifellos Zustimmung dazu, dass das Reich eine Rechtsgemeinschaft war, aber es war zugleich eine politische Gemeinschaft. Recht und Politik in diesem Verbund von Herrschaftsträgern überlagerten sich stärker als in den Territorien. Neuhaus: Danke schön. Bitte sehr, Herr Burkhardt. Burkhardt: Ich fand es interessant, dass sich tatsächlich mal das Gewicht auf die Frage verlagert hat: Wie wird man Kurfürst? Und nicht: Wie wird man Kaiser? Weil das ja auch geregelt ist in der Goldenen Bulle. – Ich habe da ein paar schlichte Rückfragen, weil ich diesen Textteil selbst nicht so genau kenne. Das ist aber doch eigentlich nur auf die eigentlichen Kurlande bezogen? Wer die Kurlande hat, die unteilbar sein sollen – das heißt, das ist ein Teil des Landes, zum Beispiel in Sachsen der Kurkreis um Torgau – und wer den hat, der ist Kurfürst. Und der Kaiser ist ja auch hier der Lehensherr und entscheidet in Zweifelsfragen. Die Kur wird von ihm nicht irgendwohin gegeben, sondern einem der streitenden dynastischen Anwärter verliehen. Da würde ich gern noch einmal nachfragen, inwiefern man sich hier nicht an die Goldene Bulle gehalten habe. Aber meine Hauptfrage wird eine ganz andere sein. Ich habe aus Ihren Ausführungen über die Nichtübereinstimmung von Norm und Praxis unendlich viel gelernt und insgesamt, glaube ich, haben Sie auch aus meiner Perspektive vollkommen Recht. Es gibt unendlich viele Abweichungen von der Goldenen Bulle. Da kommt sogar eine noch dazu: der Ort der Kaiserwahl, an den man sich ja auch nicht immer gehalten hat. Und die ganzen Zeremonialsachen, das ist klar. Sie haben aber selbst zu Recht gesagt: An den Kernbestand hat man sich schon gehalten. Und was ist eigentlich der Kernbestand der Goldenen Bulle? Der ist, dass in Deutschland – im Heiligen Römi-

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schen Reich deutscher Nation – eine Wahl des Reichsoberhauptes erfolgt, und zwar nach klaren Regeln – nach dem Mehrheitsprinzip, wie selbst Barbara Stollberg-Rilinger, die ja auch zentral auf die zeremoniellen Dinge eingegangen ist, als modernes Verfahren herausgestellt hat. Das ist erstaunlich früh, das gibt es sonst eigentlich nur bei der Papstwahl – vielleicht hat es auch damit zu tun. Die katholische Konkordanz von Nikolaus von Kues hat ja auch Wahlüberlegungen, die der Augsburger Mathematiker und Politikberater Friedrich Pukelsheim mit dem d’Hondtschen System verglichen hat – es gab da auch in den Städten verschiedene Praktiken und einen Diskurs um die Wahlsysteme. Das Mehrheitsprinzip der Goldenen Bulle ist fortan in allen Wahlen respektiert worden, aber die Wahl hat sich sozusagen aus dem Zeremoniell und den Vorschriften, die doch eigentlich Nebenwerk sind, herausgelöst, wurde gleichsam abstrahiert. Um die Mehrheit der Kurfürsten wird ja nicht erst vor Ort gestritten, sondern das wird schon vorher diplomatisch ausgehandelt und die Wahl dort nur noch vollzogen. Es ist tatsächlich Politik, Herr Lanzinner, Sie haben Recht, aber man zählt praktisch in der diplomatischen Korrespondenz: Jetzt haben wir zwei Stimmen, jetzt haben wir drei Stimmen, jetzt vier, die Sache ist gelaufen, die anderen können sich nur noch anschließen. Das heißt, es war keine Abweichung, sondern ein zielführender Abstraktionsprozess. Wenn man sich das klar macht, dann würde ich allerdings schon sagen: Das ist der wahre Anfang des Bonner Grundgesetzes, dass hier das Mehrheitswahlrecht in Deutschland eingeführt und genau geregelt und weiterentwickelt wird. Es sind nicht mehr nur sieben Wähler, sondern mittlerweile ist es das ganze Volk. Neuhaus: Vielen Dank, Herr Burkhardt. Also, jetzt bitte Herr Lanzinner. Lanzinner: In Bezug auf die Wahl: ja. Sonst: schwierig. – Sie haben nach den Kurlanden gefragt. Nach der kursächsischen Belehnung ist der Naumburger Vertrag vor allem deswegen geschlossen worden, damit ein Teil der Kurlande auf den neuen Kurfürsten Moritz respektive seinen Nachfolger August übertragen wird. Aber 1546 /47 existierte keine Norm, da es die erste Kurübertragung war, ohnehin kein Herkommen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Kaiser eine Kurwürde übertragen kann. Das ist in diesem offenen – weniger als 1623 oder 1648 – rechtlich strukturierten Handlungsraum von Kaiser Karl V. durch vertragliche und formelle Akte einfach durchgeführt worden. Es gab 1547 / 48 keinen allgemeinen ständischen Protest, weil der geächtete Kurfürst Johann Friedrich eine militärische Niederlage erlitten hatte. Wir dürfen mit unseren – Volker Press hat immer gesagt: „anstaltsstaatlichen“, und der Begriff wird heute noch benutzt – anstaltsstaatlichen Vorstellungen auf keinen Fall in diese Situation der beginnenden Frühneuzeit oder des späten Mittelalters hineingehen. Rechtliche Regelungen, die widerspruchsfrei waren und mit Geltungsanspruch regelmäßig nur

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deshalb vollzogen wurden, weil es sie gab, treffen wir an, aber Recht wurde auch ganz anders gebildet. Dann fragten Sie nach der Kaiserwahl – die Normen dazu seien doch immer beachtet worden. Ja, solche grundlegenden Vorgänge oder Entscheidungsprozesse, die zum politischen Grundkonsens des Verfassungslebens gehörten, sind sehr wohl von der Rechtsgemeinschaft des Reichs eingehalten worden, weil den Beteiligten klar war: Damit steht und fällt die Ordnung, damit steht und fällt der Friede im Reich. Und Recht, Friede und Ordnung zu erhalten, war der eigentliche Sinn dieser Rechtsgemeinschaft, wie die Zeitgenossen nicht müde wurden zu betonen. Das war nicht nur eine deklaratorisch legitimierende Formel. Der Konsens gerade im Bezug auf Normen, die den Frieden im Reich sicherten, festigte deren Beachtung. Die forcierte Normenbildung im Bezug auf Frieden und Recht begann schon im 15. Jahrhundert, um die friedlose Situation zu überwinden. Man nannte diesen Gesamtprozess ab 1495 Reichsreform oder Verdichtung. Im Lauf der Jahrzehnte nach 1495 hat sich tatsächlich Friede, Ordnung und Sicherheit eingestellt im Reich – der Dreißigjährige Krieg ist ein Kapitel für sich. Aber diese rechtliche Grundordnung zur Kaiserwahl ist wohl auch deshalb nicht oder nur selten in Randbereichen angetastet worden, um nicht unabsehbare Konflikte heraufzubeschwören. Neuhaus: Danke schön, Herr Lanzinner. Es geht weiter mit Herrn Brauneder. Brauneder: Ja, vielen Dank. Es war die Rede von politischer und rechtlicher Gemeinschaft, von politischen und rechtlichen Argumenten. Ich frage mich, ob man da wirklich eine Trennlinie ziehen soll, denn es könnte die Sicht auch eine andere sein. Wenn von der Goldenen Bulle gewisse Randbestimmungen nicht mehr angewendet werden oder man sie anders wertet, anders gewichtet, dann könnte man das schon juristisch auffassen, und zwar durch die desuetudo – sozusagen der Gegensatz zu entstehendem Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht kann ja auch Rechtsregeln außer Kraft setzen: dass es sich also durch desuetudo ergeben hat, gewisse Teile der Goldenen Bulle nicht oder anders anzuwenden. Man könnte es vielleicht ein bisschen mit dem EU-Recht vergleichen: Teile der Goldenen Bulle sind sozusagen soft law – man kann sie anwenden, muss es aber nicht unbedingt, wenn ich soft law in diesem Sinne richtig verstehe. Authentische Interpretation würde ich hier nicht so sehr strapazieren, weil sich dann die Frage stellt: Wer ist der Träger der authentischen Interpretation? Und da müsste man doch eigentlich zum Ergebnis kommen, dass es der Kaiser mit den Reichsständen wäre. Der Kaiser allein könnte nicht authentisch interpretieren. Also: Es bildet sich eher entgegenstehendes Gewohnheitsrecht aus. Neuhaus: Herr Lanzinner, bitte.

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Lanzinner: Ich sehe ebenfalls die Verbindung zwischen dem rechtlichen und dem politischen System. Es war mir ein Anliegen zu zeigen, und in diesem Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung, dass von Anfang an bestimmte Regelungen der Goldenen Bulle nicht durchgeführt worden sind, weil sie wohl auch auf eigentümliche Weise in diesen Text geraten sind, etwa, dass die Kurprinzen slawische Sprachen lernen müssten – das ist dann einfach nicht praktiziert worden. Zu Ihrer Relativierung der „authentischen Interpretation“, die ich im Vortrag nicht strapaziert habe, im Gegenteil: Obwohl ich diesen Begriff nicht verwenden würde, verknüpft sich mit ihm oder der Vorstellung, dass die Handelnden derartiges beabsichtigt hätten, eine interessante Entwicklung. Ich hatte darauf hingewiesen, dass 1548 bei der Übertragung der fünften Kur Kaiser Karl V. aus eigener Machtvollkommenheit handelt, dabei auch die Verträge so schließt, schon 1546 mit Moritz von Sachsen. Der Reichstag 1547 / 48 entscheidet dazu nichts. Aber 100 Jahre später berät der faktisch gebildete Reichstag zu Münster und Osnabrück, beraten Kurfürsten und Fürsten. Dabei wird auch aufgegriffen, was in den Wahlkapitulationen seit 1519 festgehalten ist, nämlich dass Änderungen der Goldenen Bulle nicht erfolgen sollen. Karl V. hat sich daran nicht gehalten, wie er sich im Übrigen an viele andere Bestimmungen seiner Wahlkapitulation nicht gehalten hat – etwa, wenn es um den Reichstag und dessen Einberufung ging. Dazu hat er nicht regelmäßig die Kurfürsten befragt, was seine Nachfolger aber durchaus taten. Wir sehen in der Mitte des 16. Jahrhunderts an diesem wie an anderen Beispielen, dass das Rechtssystem bereits stärker strukturiert ist und mehr Geltungskraft hat. Diese Tendenz setzt sich fort. 1648 entschließen sich die Beratenden, was bei den Verhandlungen des Kurfürstenrats und des Fürstenrats im Grund nicht strittig ist, dass Änderungen der Goldenen Bulle in beiderseitigem Einvernehmen zwischen Kaiser und Reichsständen erfolgen müssen. Im Unterschied zu 1547/48 einigen sich also die Reichsstände und der Kaiser auf ein Verfahren, um die Änderung der Goldenen Bulle zu legitimieren. Wir haben später die Situation, als dann die nächste Kurwürde – Hannover – hinzukommt, dass zunächst das Gleiche wie 1547/48 eintritt, dass der Kaiser sie verleiht – nach Rückverhandlungen mit den Kurfürsten 1692. Aber dann entsteht doch so viel Widerstand im Reich, dass 1707 der Kaiser dem Immerwährenden Reichstag die Kurübertragung zur Beschlussfassung vorlegt, um die neue Kur zu legitimieren. Es ergeht ein formeller Beschluss, und dann gilt die Übertragung auch unbestritten. In dieser Weise, dass Kaiser und Kurfürsten eine Änderung der Goldenen Bulle zustimmen müssen, damit sie Geltungskraft erlangen könne, ist es im 18. Jahrhundert in der Reichspublizistik kommentiert worden, bei Pütter und anderen. Neuhaus: Danke, Herr Lanzinner. Herr Kühne noch mit einer Wortmeldung.

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Kühne: Vielen Dank. Herr Lanzinner, eine Anregung: Sie haben im Vorfeld unter dem Generalnenner der Verfassungsänderung meines Erachtens Spannendes geliefert, gerade auch aus der Reichspublizistik, mit der Feststellung von Abweichungen, Änderungen und ähnlichem. Meine Frage beziehungsweise Anregung geht dahin: Jene Zwischentöne die wir heute haben, die etwas zurückstehen gegenüber den Kategorien „verfassungswidrig“, „verfassungsgemäß“, „Verfassungsänderung“ – wir kennen auch noch Begriffe wie „verfassungszielwidrig“, „Verfassungsdurchbrechung“ –, ließen sich eventuell bei dem, was Sie vorgetragen haben, fruchtbar machen. Und eine Frage dazu: Bei der Reichspublizistik, die Sie ja mit interessanten Tönen hier vorgestellt haben, ist da eigentlich auch etwas geschrieben zu diesen unsäglichen Geschichten, dass die Wahlen ja durchweg korruptiv verlaufen sind – Kauf von Stimmen und so weiter? Ist Ihnen da etwa aufgefallen, dass gesagt wurde: Das sind gar keine Wahlen! – Und das wäre dann auch gleichzeitig mein Kommentar zu den fröhlichen Stellungnahmen, dass die Goldene Bulle das Grundgesetz sozusagen vorausnimmt. Also wenn Sie vom Misstrauensvotum 1972 absehen, ist die Wahlkorruption ja heute nicht mehr gängig. Vielen Dank. Lanzinner: Ich bin kein Spezialist für die Reichspublizistik und kenne sie nicht so genau, aber mir ist nicht bekannt, dass auf Unregelmäßigkeiten wie Stimmenkauf Bezug genommen wird. Es ist außerdem so, dass zwar bekanntlich bei der Wahl Karls V. Stimmenkauf eine große Rolle gespielt hat, aber später bei den Königswahlen erkennen wir vor allem ein Geben und Nehmen im politischen Bereich. Politische Zusagen des zur Wahl stehenden Kandidaten mag man als geschäftliches Angebot sehen, aber ich wüsste nicht, dass Geldsummen zu den Kurfürsten geflossen sind. Denn es sind natürlich immer wieder von den amtierenden Kaisern oder den Kandidaten für die Königswahl einzelnen Kurfürsten Privilegien in Aussicht gestellt und vergeben worden, vor und nach den Wahlen. Aber mir sind, wie gesagt, keine Erörterungen der Reichspublizistik zur Wahlkorruption bekannt. Die Publizisten sind vor allem an den rechtlichen Bewertungen orientiert, nicht an politischen Begleiterscheinungen. Neuhaus: Danke schön, Herr Lanzinner. Damit können wir die Diskussion zu dem zweiten Vortrag abschließen.

Ringen um den Verfassungsstaat Verfassungsänderungen in der Zeit des Deutschen Bundes Von Werner Frotscher, Marburg I. Einführung Das Tagungsthema „Verfassungsänderungen“, in dessen Rahmen hier die Zeit des Deutschen Bundes behandelt werden soll, verlangt zunächst eine Begriffsklärung, die zugleich eine gegenständliche Eingrenzung dieses weiten Themas ermöglicht. Unter einer Verfassung soll im Folgenden die „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“1 verstanden werden, die insbesondere die Organisation der staatlichen Gewalt, die Beziehungen zwischen den Staatsorganen und das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern betrifft. Soweit daneben die Begriffe „Konstitution“ und „Konstitutionalismus“2 verwendet werden, bezeichnen sie die Verankerung der rechtlichen Grundordnung in einer besonderen (Gesamt-)Urkunde, der Konstitution als Verfassung im formellen Sinn. Auch der zusammengesetzte Begriff „Verfassungsänderungen“ ist mehrdeutig. Er kann in einem weiteren materiellen Sinn als Verfassungsveränderung verstanden werden und umfasst als solcher jede Änderung des bishe1 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 17. Vgl. zum Begriff der Verfassung und seiner Entwicklung auch Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof, HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 1; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 3 II, S. 69 ff.; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2009, S. 1 ff.; Reinhold Zippelius / Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 5 Rn. 5 ff. Die „Aufladung“ schon des Verfassungsbegriffs mit den einen modernen Verfassungsstaat auszeichnenden Prinzipien wie Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz, wie sie in Anknüpfung an Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 bereits während der konstitutionellen Auseinandersetzungen im 19. Jh. (siehe auch FN 2), aber zum Teil auch in der Gegenwart versucht wird, ist verfehlt, weil der Begriff unzulässig verkürzt wird; vgl. aber Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002. 2 Zum Begriff des Konstitutionalismus in seiner Ausrichtung auf die Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert vgl. Walter Pauly, Konstitutionalismus, in: Werner Heun [u. a.] (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuaufl. 2006, Sp. 1313 ff.; Werner Heun, Die Struktur des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jh. im verfassungsgeschichtlichen Vergleich, in: Der Staat 45 (2006), S. 365 ff.

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rigen Verfassungszustandes. Unter einer Verfassungsänderung im formellen Sinn (Verfassungsrevision) ist dagegen die Abänderung einer bestehenden Verfassung in einem von bestimmten Voraussetzungen abhängigen, vorgegebenen Verfahren zu begreifen. Die folgenden Überlegungen betreffen vornehmlich inhaltliche Fragen der Verfassungsentwicklung, die Verfassungsänderung im formellen Sinn findet nur im Zusammenhang mit diesen Berücksichtigung. Der Versuch, die wesentlichen Verfassungsänderungen für den Zeitraum eines halben Jahrhunderts und für ein vielgliedriges Staatengebilde wie den Deutschen Bund herauszustellen und in ihrer Bedeutung zu würdigen, verlangt eine Beschränkung auf ausgewählte, für die Entwicklung des Konstitutionalismus wesentliche oder beispielhafte Verfassungsänderungen sowie eine zeitliche Strukturierung. Drei Entwicklungsphasen werden im Folgenden deutlich unterschieden: Die erste Phase wird durch die Gründung und verfassungsrechtliche Ordnung des Deutschen Bundes und – auf einzelstaatlicher Ebene – durch die Verfassunggebung in einer Reihe deutscher Länder, insbesondere in Süddeutschland (sog. Frühkonstitutionalismus), bestimmt. Die zweite Phase betrifft die Verfassungsänderungen, zu denen es im Anschluss an die französische Juli-Revolution von 1830 gekommen ist. Die dritte Phase schließlich setzt mit der Revolution von 1848 ein, findet ihren Höhepunkt in der Verkündung der Reichsverfassung am 28. März 1849 und endet mit dem Abbau der meisten konstitutionellen Errungenschaften der Revolutionsjahre in der sog. Reaktionsära.

II. Neuverfassung der politischen Ordnung in Deutschland 1. Die Verfassung des Deutschen Bundes

Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Abschüttelung der napoleonischen Herrschaft konnten die deutschen Fürsten und freien Städte daran gehen, sowohl für Deutschland insgesamt als auch für ihre jeweiligen Einzelstaaten eine Verfassungsneuordnung und damit eine Änderung des bisherigen Verfassungszustandes vorzunehmen. Die neue Gesamtordnung, die auf dem Wiener Kongress ausgehandelt und vereinbart wurde, war für die große Mehrheit der politisch interessierten Bürger enttäuschend: Der in den Befreiungskriegen vielstimmig erschollene Ruf nach festerer nationaler Einheit und einer freiheitlichen Repräsentativverfassung wurde in keiner Weise erhört. Der Deutsche Bund war, wie sich aus Einleitung und Art. 1 der Deutschen Bundesakte (DBA) vom 8. Juni 1815 sowie Art. 1 und 2 der Wiener Schlußakte (WSA) vom 15. Mai 1820 ergab, ein „völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte“ als eine Gemeinschaft selbstständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit wechselseitigen gleichen vertraglichen Rechten und Pflich-

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ten, nach heutigem Verständnis also ein Staatenbund.3 Einziges Bundesorgan war gemäß Art. 4 DBA die Bundesversammlung, auch Bundestag genannt, als ständiger Gesandtenkongress mit dem Sitz in Frankfurt. Eine Nationalrepräsentation, welche die Gesamtinteressen der Bevölkerung aller beteiligten Vertragsstaaten hätte wahrnehmen können, schied für diesen Verein souveräner Fürsten von vornherein aus. Trotz des lockeren staatenbündischen Zusammenschlusses sah die Bundesverfassung4 eine Reihe von Befugnissen vor, welche die grundsätzliche Souveränität der Mitgliedstaaten deutlich einschränkten. An erster Stelle ist hier die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu nennen. Der Bund konnte Rechtsnormen schaffen, die für die Mitgliedstaaten und zum Teil auch für die Bürger verbindlich waren.5 Zu ihrer Vollziehbarkeit bedurften sie allerdings der landesrechtlichen Publikation. Bundesgesetze ergingen vor allem auf dem Gebiet der Organisation des Bundes mit dem Ziel, die „auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse“ (Art. 10 DBA) einheitlich zu regeln. So wurden in schneller Folge die Austrägal-Ordnung von 1817, die Exekutionsordnung von 1820 und die Bundeskriegsverfassung von 1821 / 22 geschaffen. Andere Gesetze wie z. B. die Karlsbader Beschlüsse von 1819 verpflichteten nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Untertanen. Bundesintervention und Bundesexekution6 waren weitere Mittel, um den Staatenbund im Inneren zu festigen und in vielen Fällen auch zu disziplinieren. Diesem Ziel dienten auch die Vorschriften, welche die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten von vornherein beschränkten.7 Während Art. 13 DBA zunächst nur die missverständliche und umstrittene Verheißung enthielt, in allen Bundesstaaten werde eine landständische Verfassung statt3 Zur Rechtsnatur des Deutschen Bundes Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1967, S. 658 ff.; Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 2010, Rn. 255; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 193 f.; Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 1312 ff.; Elmar Wadle, Staatenbund oder Bundesstaat?, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte (= Beiheft 12 zu „Der Staat“), 1998, S. 137, 147 ff. 4 Auch die „rechtliche Grundordnung“ einer völkerrechtlichen Staatenverbindung fällt unter den oben zugrundegelegten Verfassungsbegriff. Zur Verfassung des Deutschen Bundes zählten neben DBA und WSA alle weiteren „Grundgesetze des Bundes“ (Art. 10 DBA). 5 Zu der problematischen Frage, ob und in welchem Umfang dem Deutschen Bund eine gesetzgebende oder „quasi-legislativische“ Kompetenz zustand, vgl. Huber I (FN 3), S. 597 ff.; Stern, Staatsrecht V (FN 3), S. 198 ff.; Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918, Bd. 1, 2006, Abs.-Nr. 78, 84, wobei dieser zu Recht auf die Parallelen zur Rechtsetzung in der Europäischen Union hinweist. 6 Vgl. Art. 26, 31 WSA und dazu mit Beispielen Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 258. 7 Dazu Wilhelm Mößle, Die Verfassungsautomonie der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes nach der Wiener Schlussakte, in: Der Staat 33 (1994), S. 373 ff.

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finden8, legte Art. 57 WSA das sog. monarchische Prinzip als unverrückbare Vorgabe für die einzelstaatliche Verfassunggebung fest. Nach dieser Bestimmung musste die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staates, also dem Monarchen respektive Landesherrn, ungeteilt vereinigt bleiben. Die einzelstaatlichen Verfassungen konnten den Souverän nur bei der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung einer Ständeversammlung binden. Die Bestimmung war als Bollwerk gegen alle weitergehenden, auf Gewaltenteilung und demokratische Mitbestimmung gerichteten Verfassungsbestrebungen gedacht.

2. Die einzelstaatliche Entwicklung: Der Frühkonstitutionalismus

a) Die frühkonstitutionelle Phase im Überblick Nachdem auf dem Wiener Kongress die Entscheidung für eine restaurative politische Neuordnung der Bundesverhältnisse gefallen war, konnte sich der konstitutionelle Staat in Deutschland nur auf der Ebene der Einzelstaaten entwickeln. Dabei verlief der Prozess der Konstitutionalisierung durchaus uneinheitlich. Während die beiden größten und mächtigsten Mitglieder des Deutschen Bundes, Österreich und Preußen, bis zum Ausbruch der Revolution von 1848 keine Verfassungsurkunden besaßen, gelang es vor allem in den süddeutschen Staaten schon früh, nämlich in der Zeit bis zum Abschluss des Wiener Kongresses, Verfassungen einzuführen. Diese erste Phase moderner Verfassunggebung in Deutschland wird als Frühkonstitutionalismus – oder auch deutscher Frühkonstitutionalismus – gekennzeichnet.9 Als erste frühkonstitutionelle Verfassung gilt die Verfassung des Herzogtums Nassau vom 1. / 2. September 1814.10 Sie war noch auf wenige staatsorganisationsrechtliche Regelungen beschränkt, welche im Wesentlichen die Zusammensetzung und die Rechte der neu eingeführten landständischen Repräsentation (Zweikammersystem mit Herrenbank und Deputiertenkammer) betrafen. Eine Verbürgung von staatsbürgerlichen Rechten fand sich in der Verfassung nicht; in der umfänglichen Präambel wiesen Herzog Friedrich August und Fürst Friedrich Wilhelm von Nassau nur darauf hin, die bürgerliche Freiheit ihrer Untertanen und die politische Gleichheit derselben vor dem Gesetz seien bereits bisher gewährleistet gewesen. Nach einer Reihe weiterer Kleinstaaten, nämlich Schwarzburg-Rudolstadt, Schaum8 Aus der Fülle der Literatur zu Art. 13 DBA vgl. nur Huber I (FN 3), S. 640 ff.; Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, 1998, S. 56 f. („das größte Rätsel der Akte“); Mößle (FN 7), S. 374 ff.; Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 260 f. 9 Näher zur Periodisierung und inhaltlichen Charakterisierung Werner Frotscher, Frühkonstitutionalismus, in: Albrecht Cordes [u. a.] (Hrsg.), HRG, Bd. I, 2. Aufl. 2008. 10 Text bei Eckhard G. Franz / Karl Murk (Hrsg.), Verfassungen in Hessen 1807 – 1946, 1998, Dok. 4, S. 49 ff.

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burg-Lippe, Waldeck, Sachsen-Weimar und Sachsen-Hildburghausen, folgten 1818 / 19 die den Frühkonstitutionalismus prägenden Verfassungen der drei süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg. Mit der Verfassunggebung in Hannover (1819), Braunschweig (1820) und Hessen-Darmstadt (1820) war die frühkonstitutionelle Phase im Wesentlichen abgeschlossen. Als Nachzügler vervollständigten die beiden Kleinstaaten Sachsen-Coburg (1821) und Sachsen-Meiningen (1824) den frühkonstitutionellen Klub.11 Aufgrund der herausgehobenen Bedeutung des deutschen Südwestens für die frühliberale und frühkonstitutionelle Epoche werden im Weiteren die Verfassungen Bayerns, Badens, Württembergs und des Großherzogtums Hessen herangezogen und näher untersucht.

b) Geistige Wurzeln und Vorbilder Bevor jedoch die für den Frühkonstitutionalismus charakteristischen „Verfassungsänderungen“, verstanden als Änderungen der vorkonstitutionellen Verfassungsrechtslage, anhand der konkreten Regelungen der genannten Verfassungen herausgestellt werden sollen, erscheint zumindest ein kurzer Blick auf die Ursprünge und Motive der konstitutionellen Bewegung erforderlich.12 Diese beruhte zunächst auf denselben geistigen Wurzeln wie die Nordamerikanische und die Französische Revolution. Die rationalistische Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts hatte den Boden für die moderne Verfassunggebung in Europa und den USA vorbereitet: Die Vorstellung, dass „all men are created equal“13, dass sie darüber hinaus mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und staatliche Herrschaft deshalb auf einer vertraglichen Grundlage, dem Gesellschaftsvertrag, eventuell ergänzt durch den Herrschaftsvertrag, beruhen müsse, führt folgerichtig zu einer normativen Regelung und Beschränkung dieser Herrschaft durch eine geschriebene Verfassung, in der zumindest eine Volksrepräsentation und die Gewähr bürgerlicher Rechte vorgesehen sind. Für den deutschen Frühkonstitutionalismus – eng verwoben mit dem Frühliberalismus – ist zu berücksichtigen, dass die großen Revolutionen inzwischen ein Vierteljahrhundert zurücklagen und die anfängliche Faszination 11 Zum „Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten“ vgl. Günther Engelbert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert (= Beiheft 1 zu „Der Staat“), 1975, S. 103 ff. Auch die Verfassungsentwicklung der freien Städte mit ihrer ganz anderen Organisationsstruktur kann hier nicht (mit-)behandelt werden; sie bedarf vielmehr einer eigenen Untersuchung. 12 Dazu auch Wilhelm van Calker, Die Verfassungsentwicklung in den deutschen Einzelstaaten, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 51 ff.; Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 10 ff. 13 So die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776; dazu Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 24.

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und Zustimmung liberaler Kreise mit der zunehmenden Ausbreitung der Gewalt in Frankreich bis hin zur Schreckensherrschaft (la terreur) Robespierres einer strikten Ablehnung fundamentaler, gar revolutionärer politischer Umwälzungen gewichen war.14 Man wollte nicht den offenen Bruch mit dem fürstlichen Obrigkeitsstaat und der überkommenen gesellschaftlichen Ordnung, man verlangte vielmehr eine Reform dieser Ordnungen, die insbesondere dem Bürgertum eine weitergehende politische Mitsprache und einen gegenüber staatlichen Eingriffen geschützten Freiraum gesellschaftlicher Betätigung gewährleistete. Die Forderung nach liberaler Umgestaltung der staatlichen Ordnung durch Verfassungen rundete dieses Programm ab. Der Reformdruck wurde durch die napoleonische Modernisierungspolitik, wie sie das „Modellkönigreich“ Westphalen verkörperte, aber auch durch das besondere Eigeninteresse der süddeutschen Landesherren verstärkt, die ihr nach dem Untergang des Alten Reiches zum Teil erheblich erweitertes Staatsgebiet mit Hilfe moderner Verfassungen rechtlich, verwaltungsmäßig und emotional enger zusammenschließen wollten. So waren die frühkonstitutionellen Verfassungen in Deutschland schließlich das Ergebnis eines von dem jeweiligen Landesherrn und seiner Regierung eingeleiteten und kontrollierten Prozesses der „behutsamen“ Staatsmodernisierung. Es handelte sich um eine „Reform von oben“15. Unmittelbares Vorbild der frühkonstitutionellen Verfassungen war die französische Charte Constitutionelle vom 4. Juni 181416, mit der auch Frankreich von seiner revolutionären Verfassungstradition Abschied genommen hatte. Die neue Verfassung, durch könglichen Oktroi erlassen und bewusst nicht als „Constitution“ bezeichnet, leitete die Staatsgewalt nicht aus dem Volkswillen ab, sondern begründete sie allein in der Person des Königs. Auch wenn die Charte in Anknüpfung an das demokratisch-konstitutionelle Vokabular drei Gewalten (la puissance exécutive, la puissance législative und la justice) unterschied, handelte es sich nicht um eine echte Gewaltenteilung. Dazu war die Stellung des Königs zu stark. Die genannten Gewalten wurden als verschiedene Formen der königlichen Herrschaft angesehen („Formes du Gouvernement du Roi“; vgl. Art. 13 ff.), wobei der König die exekutive Gewalt allein ausübte und die – im Übrigen unabhängige – Rechtsprechung doch auf ihn zurückgeführt wurde.17 Bei der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt war er zwar an die Mitwirkung der Pairs-Kammer und der Deputiertenkammer gebunden (Art. 15), diese Mitwirkungsrechte erschienen jedoch als bloßes Zugeständnis des im Prinzip souveränen Monarchen, der – 14 Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 2 Rn. 16. 15 Wahl (FN 14), § 2 Rn. 14. 16 Text bei Dietmar Willoweit / Ulrike Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, 2003, S. 481 ff. 17 Art. 57 der Charte: Toute justice émane du Roi.

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wie es der letzte Satz des Verfassungsvorspanns deutlich machte – aufgrund freiwilliger Entscheidung seine umfassende „autorité royale“ verfassungsrechtlich beschränkte.18 Eine „Tendenz zum parlamentarischen Regime“19 kann dieser Verfassung noch nicht zugeschrieben werden. Die Charte von 1814 galt den Zeitgenossen als Muster der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie. Ihre Ausstrahlung reichte über die Grenzen Frankreichs hinaus, vor allem auch nach Deutschland, wo sich die Verfassunggebung in den süddeutschen Staaten an dem französischen Vorbild orientierte. Der Frühkonstitutionalismus war kein deutscher Sonderweg, sondern blieb eingebettet in die Entwicklung des monarchischen Konstitutionalismus als eines gemeineuropäischen Phänomens, wie es insbesondere Martin Kirsch beschrieben hat.20

c) Kontinuität und Modernität in der Staatsorganisation Die frühkonstitutionellen Verfassungen führten die gesamte Staatsgewalt auf die Person des Fürsten als Staatsoberhaupt zurück. Obwohl Art. 57 WSA dieses sog. monarchische Prinzip erst im Mai 1820 für alle Gliedstaaten des Deutschen Bundes verbindlich festschrieb, enthielten auch die bereits vorher ergangenen Verfassungen Bayerns, Badens und Württembergs eine entsprechende Verfassungsbestimmung: Danach vereinigte der König bzw. der Großherzog in sich alle Rechte der Staatsgewalt, die er unter den in der Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen ausübte (vgl. Titel II § 1 BayVU, § 5 BadVU, § 4 WürttVU, Art. 4 HessVU). Der vormals absolute Monarch war bei der Ausübung der Staatsgewalt nun an die in der Verfassung vorgesehenen Beschränkungen seiner Gewalt, insbesondere durch die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlung im Rahmen der Gesetzgebung und der Steuererhebung, gebunden. Die verfassungsrechtlich bemerkenswerte Unterscheidung von Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt hatte die Funktion, die Ständeversammlung nicht etwa als gleichgeordnetes Staatsorgan erscheinen zu lassen, das selbst einen Teil der Staatsgewalt 18 Vgl. zur Charte von 1814 Georges Burdeau / Francis Hamon / Michel Troper, Droit Constitutionnel, 23e Éd., 1993, S. 309 ff.; Jean-Jaques Chevallier, Histoire des Institutions et des Régimes Politiques de la France de 1789 à 1958, 9e Éd., 2001, S. 174 ff.; Werner Frotscher, Regierung als Rechtsbegriff, 1975, S. 60 f.; Peter Claus Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450 – 2002), 2. Aufl. 2003, S. 88 ff.; Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, 1999, S. 299 ff.; ders., Die Entwicklung des Konstitutionalismus im Vergleich, in: ders. / Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1999, S. 147, 163 ff. 19 So Hartmann (FN 18), S. 93. 20 Kirsch, Monarch und Parlament (FN 18), S. 147 ff.; dazu Hans-Christof Kraus, Monarchischer Konstitutionalismus, in: Der Staat 43 (2004), S. 595 ff.

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innehatte. Eine Gewaltenteilung fand de iure gerade nicht statt, so dass für die frühkonstitutionelle Epoche auch noch nicht von einem „System hinkender Gewaltenteilung“21 gesprochen werden kann. Die im Grundsatz fortbestehende umfassende Souveränität des Landesherrn zeigte sich auch beim Zustandekommen der frühkonstitutionellen Verfassungen. Diese wurden regelmäßig von der landesherrlichen Regierung bis ins Detail ausgearbeitet und sodann einseitig vom Landesherrn aus dessen höchster Machtvollkommenheit in Kraft gesetzt (sog. oktroyierte Verfassungen). Nur in Württemberg kam es aufgrund einer besonderen politischen Konstellation zur Zusammenarbeit zwischen königlicher Regierung und Landtag mit dem Ergebnis, dass die Verfassung vom 25. September 1819 laut ihrer Präambel „eine vollkommene beiderseitige Vereinbarung über folgende Punkte“ darstellte und damit als erste vereinbarte oder paktierte Verfassung Deutschlands angesehen werden kann.22 Einen ähnlichen Verlauf wie in Württemberg nahm die Konstitutionalisierung des Großherzogtums Hessen. Auch hier musste der Großherzog die von ihm einseitig erlassene Verfassung vom 18. März 1820 auf Druck der Opposition zurückziehen und konnte erst nach mehrmonatigen Verhandlungen mit dem Landtag die geänderte, neue Konstitution vom 17. Dezember 1820 verkünden. Huber spricht deshalb von einer – notdürftig – „verschleierten Verfassungsvereinbarung“23. Der Umstand, dass die frühkonstitutionellen Verfassungen in der Regel einseitig vom Landesherrn erlassen wurden, zeigt, dass dieser als Inhaber nicht nur der gesamten Staatsgewalt als des pouvoir constitué, sondern auch der verfassunggebenden Gewalt, des pouvoir constituant, angesehen wurde.24 Allerdings war die verfassunggebende Gewalt des Landesherrn auf 21 Huber I (FN 3), S. 350; vgl. aber auch S. 653, wo das monarchische Prinzip als „Gegenlehre gegen das Gewaltenteilungsprinzip“ apostrophiert wird. Soweit Stefan Korioth, „Monarchisches Prinzip“ und Gewaltenteilung – unvereinbar?, in: Der Staat 37 (1998), S. 27 ff., ausgehend von Montesquieus Gewaltenteilungslehre diese ganz h. M. in Frage gestellt hat, unterscheidet er nicht ausreichend zwischen der rechtlichen Zuordnung der Staatsgewalt und der Aufteilung der politisch-sozialen Macht im Staat. Ein „Pluralismus realer politischer Mächte“ (a. a. O., S. 54) ist nicht gleichbedeutend mit staatsrechtlicher Gewaltenteilung. 22 Zur Entstehungsgeschichte der württembergischen Verfassung vom 29. September 1819 (Staats- u. Reg.bl. 1819, S. 634) vgl. Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 284 ff.; Huber I (FN 3), S. 329 ff.; Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457 – 1957, 1957, S. 489 ff.; Hartwig Brandt, Von den Verfassungskämpfen der Stände zum modernen Konstitutionalismus. Das Beispiel Württemberg, in: Martin Kirsch / Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1999, S. 99 ff. 23 Huber I (FN 3), S. 336; zur Verfassunggebung im Großherzogtum Hessen vgl. auch Franz / Murk (FN 10), S. 151 ff. 24 Ebenso ausdrücklich Huber I (FN 3), S. 654, der die Feststellung aber nicht auf frühkonstitutionelle, oktroyierte Verfassungen beschränkt, sondern auf alle Verfassungen ausdehnt, die in der Zeit des Deutschen Bundes unter der Geltung des Art. 57 WSA entstanden sind. Diese Auffassung mag den Vorstellungen der meisten

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den ursprünglichen Akt der Verfassunggebung beschränkt: Eine spätere Änderung der Verfassung setzte nach den Verfassungen der hier herangezogenen süddeutschen Staaten die (zum Teil qualifizierte) Zustimmung der Ständeversammlung voraus (vgl. Titel X § 7 BayVU; § 64 BadVU; Art. 110 HessVU). In Württemberg ergibt sich das Zustimmungserfordernis schon aus dem Wesen dieses Verfassungsvertrages. Zwischen der verfassunggebenden Gewalt und der verfassungsändernden Gewalt (pouvoir constituant institué) war insoweit also schon zu unterscheiden. Als nachgeordnetes Verfassungsorgan und gleichzeitig potentieller Gegenspieler des Landesherrn fungierte die Ständeversammlung, auch als Landtag bezeichnet.25 Die frühkonstitutionellen Verfassungen sahen für diese ein Zweikammersystem vor (vgl. dazu Titel VI, §§ 1 ff. BayVU; §§ 26 ff. BadVU; §§ 124 ff. WürttVU; Art. 51 ff. HessVU). Dabei war die erste Kammer (in Bayern auch als Kammer der Reichsräte, in Württemberg als Kammer der Standesherren bezeichnet) weitgehend als Adelsvertretung ausgestaltet, ergänzt durch einzelne kirchliche und universitäre Amtsträger sowie vom Landesherrn ernannte Mitglieder, und bildete in dieser altständischen Zusammensetzung ein Element der Kontinuität. Die zweite Kammer (auch Kammer der Abgeordneten genannt) bestand demgegenüber aus gewählten Vertretern der Städte und Landgemeinden, zu denen in Bayern, Württemberg und im Großherzogtum Hessen noch Vertreter der adligen Landeigentümer hinzutraten. Das Wahlrecht war durch die Anknüpfung an Grundbesitz oder Steuerleistung sowie durch die Einschaltung von Wahlmännern erheblich beschränkt.26 Den ausschlaggebenden Unterschied zur altständischen Epoche bildete die Einführung des modernen Repräsentativprinzips.27 Die StändeversammLandesherren und insbesondere den Plänen Metternichs entsprochen haben, sie ist jedoch – für eine Zeit, in der die naturrechtlichen Vertragslehren nicht nur in den USA und Frankreich, sondern auch in Deutschland weite Verbreitung gefunden hatten – wenig überzeugend. Art. 57 WSA bezieht sich ausdrücklich (nur) auf die gesamte Staatsgewalt, also den pouvoir constitué. Nur kraft der hier vorgenommenen Differenzierung ist das Verbot einseitiger Verfassungsänderung mit dem monarchischen Prinzip vereinbar; vgl. auch Willoweit (FN 1), S. 225. 25 Zur Ständeversammlung als Volksvertretung im frühkonstitutionellen Verfassungsrecht vgl. Huber I (FN 3), S. 341 ff.; Jörg-Detlef Kühne, Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814 – 1918), in: Hans-Peter Schneider / Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 49 ff.; Werner Frotscher, Die kurhessische Verfassung von 1831 im konstitutionellen System des Deutschen Bundes, in: ZNR 30 (2008), S. 45, 55 ff.; Carola Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, 2002, S. 72 ff.; Malte Schwertmann, Gesetzgebung und Repräsentation im frühkonstitutionellen Bayern, 2006, S. 62 ff.; Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819 – 1870, 1987, S. 177 ff. Speziell zum Zweikammersystem auch Michael Stolleis, HRG, Bd. V, 1. Aufl., Sp. 1833 f. 26 Grimm (FN 12), S. 126 ff.; Huber I (FN 3), S. 344 f.; Schwertmann (FN 25), S. 66 ff.; Franz / Murk (FN 10), S. 153 zu Art. 53, 57 HessVU. 27 Ebenso für die deutschen Kleinstaaten Engelbert (FN 11), S. 106, 109.

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lung, der Landtag, wurde jetzt als parlamentarische Vertretung des ganzen Landes, als staatliche Gesamtrepräsentation aufgefasst, deren einzelne Mitglieder nicht länger an Instruktionen oder Weisungen ihres Standes gebunden waren, sondern die das Wohl des ganzen Landes bei ihrer Entscheidung berücksichtigen sollten. Damit zog der Grundsatz des sog. freien Mandats als ein Eckpfeiler des modernen Parlamentarismus in das deutsche Verfassungsrecht ein. Auch die Aufgaben und Befugnisse der frühkonstitutionellen Ständeversammlung reichten weiter als nach altständischem Muster: Zum Recht der Steuerbewilligung traten die Mitwirkung an der Gesetzgebung und die Kontrolle der Verwaltung, verstärkt durch die Möglichkeit der Ministeranklage, hinzu. Auch wenn alle Gesetze, welche die persönliche Freiheit oder das Eigentum der Staatsangehörigen betrafen, nur mit Zustimmung der Stände erlassen werden konnten (vgl. Titel VII, § 2 BayVU; § 65 BadVU; weitergehend für alle Gesetze § 88 WürttVU; Art. 72 HessVU), konnte von einer wirklichen Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Landesherrn und Ständeversammlung – wie oben ausgeführt – noch nicht die Rede sein. Die Befürchtungen von Friedrich Gentz28 jedoch, die Einführung von Repräsentativverfassungen mit einem Landtag, der für sich die Repräsentation des gesamtes Landesvolkes in Anspruch nehmen könne, müsse in letzter Konsequenz die monarchische Souveränität und die daraus abgeleitete politische Ordnung in Frage stellen und ihre Auflösung vorbereiten, waren nicht unbegründet.

d) Grundrechte und rechtsstaatliche Gewährleistungen Ein weiteres hervorstechendes Merkmal frühkonstitutioneller Verfassungen war die Aufnahme eines Kataloges von Grundrechten. Diese wurden als vom Landesherrn gewährte staatsbürgerliche Rechte, nicht als vorstaatliche Menschenrechte wie in der Französischen Revolution verstanden.29 Sie sollten – ganz im Sinne der frühliberalen Staatsauffassung – eine dem unmittelbaren staatlichen Einfluss entzogene freie Sphäre gesellschaftlicher Betätigung gewährleisten. Da jedoch ein Vorrang der Verfassung gegenüber 28 Vgl. sein im Auftrag Metternichs verfasstes Rechtsgutachten zur Auslegung des Art. 13 DBA, Text bei Hartwig Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus 1814 – 1840, 1979, S. 218 f. 29 Zur Funktion und Bedeutung der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus vgl. Judith Hilker, Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus, 2005, insbesondere S 143 ff., 167 ff.; Huber I (FN 3), S. 350 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 114 f.; Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, 1978, S. 633 ff., insbesondere S.641 ff.; Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat 18 (1979), S. 321 ff.

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anderen Rechtsquellen noch nicht anerkannt war, besaßen die frühkonstitutionellen Grundrechte in erster Linie nur eine (nicht zu unterschätzende) verfassungspolitische Bedeutung, während ihre rechtliche Wirksamkeit gering war. Sie konnten jederzeit durch einfache Gesetze eingeschränkt werden, und sie waren mangels effektiven Rechtschutzes auch der Exekutive ausgeliefert. Andere Rechtstaatspostulate wurden in die frühkonstitutionellen Verfassungen durchaus aufgenommen. So wurde die Rechtsprechung zwar weiterhin im Namen des Königs ausgeübt, die Gerichte waren jedoch in sachlicher und persönlicher Hinsicht weitgehend unabhängig (vgl. Titel VIII § 3 BayVU; §§ 46, 93 WürttVU; Art. 32, 34 HessVU; nur sachliche Unabhängigkeit: § 14 BadVU). Das Recht auf den gesetzlichen Richter und die gesetzlichen Anforderungen bei Freiheitsbeschränkungen, also Vorläufer der heute in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 104 GG normierten Justizgrundrechte, wurden in den vier süddeutschen Verfassungen innerhalb des Abschnitts betreffend die staatsbürgerlichen Rechte geregelt. Andere gerichtsverfassungsrechtliche Institute wie Gerichtsöffentlichkeit und Laienbeteiligung in den Gerichten, die als Errungenschaften der Französischen Revolution in Deutschland bekannt geworden waren und auch auf der „Wunschliste“ der liberalen Bewegung standen, fehlten dagegen in den frühkonstitutionellen Verfassungen. Auch eine strikte Trennung von Verwaltung und Justiz war ebenso wenig vorgesehen wie die gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen. Der sog. Vorrang der Verfassung oder gar eine gerichtliche Normenkontrolle, wie sie das amerikanische Verfassungsrecht seit der wegweisenden Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahr 1803 kannte30, hatten sich zwar im deutschen Frühkonstitutionalismus noch nicht herausgebildet31, die vier süddeutschen Verfassungen bemühten sich jedoch, eine gewisse „Gewähr der Verfassung“32 durch die Einführung des Verfassungseides33 und die Verantwortlichkeit der Minister für die genaue Befolgung der Verfassung mit der möglichen Sanktion einer förmlichen Anklage34 sicherzustellen. 30

Vgl. Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 43 ff. Zum Vorrang der Verfassung als Grundprinzip moderner Verfassungsstaatlichkeit und zu seiner fehlenden Anerkennung im deutschen Frühkonstitutionalismus vgl. Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000. 32 So ausdrücklich Titel X BayVU und Abschn. X HessVU. Dazu mit weiteren Nachweisen Hartmut Maurer, Die Verfassungsgewähr im konstitutionellen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts, in: Heinrich de Wall / Michael Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, 2003, S. 725 ff. 33 Zur besonderen Bedeutung des Verfassungseids für die Gewähr der Verfassung im konstitutionellen Staat vgl. Frotscher (FN 25), S. 53 f.; Dennis Bock, Der Eid auf die Verfassung im deutschen Konstitutionalismus, in: ZRG / GA 123 (2006), S. 166 ff. 31

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Zusammenfassend betrachtet beinhaltet der hier vorgestellte klassische Typ der frühkonstitutionellen Verfassung eine „Verfassungsänderung großen Stils“.35 Trotz der Beibehaltung des monarchischen Prinzips und der damit verbundenen Verortung der gesamten Staatsgewalt in der Person des Landesherrn sowie einer Adelsvertretung als erster Kammer handelt es sich nicht um eine bloß punktuelle Veränderung des spätabsolutistischen, altständisch geprägten Landesverfassungsrechts. Insbesondere die Anerkennung des Repräsentativsystems und die Aufnahme von – sicherlich noch unzureichend ausgestalteten – Grundrechten in die Verfassung bedeuteten einen deutlichen qualitativen Sprung in der Verfassungsentwicklung. Der in dieser Weise erfolgreich begonnene Konstitutionalisierungsprozess kam jedoch mit der im Anschluss an die Karlsbader Beschlüsse vom August 1819 massiv einsetzenden politischen Repression für nahezu ein Jahrzehnt zum Stillstand.36 Trotz teilweise heftiger Verfassungskämpfe zwischen Regierung und (liberalen) Landtagen in den süddeutschen Staaten, in denen auch Pläne für die Abschaffung der gerade erst eingeführten Verfassungen geschmiedet wurden, kam es soweit ersichtlich nur zu einer restaurativen Verfassungsänderung im formellen Sinn: Mit verfassungsänderndem Gesetz vom 14. April 1825 wurde in Baden der Zeitabstand zwischen den Wahlen zur Zweiten Kammer von zwei auf sechs Jahre verlängert und eine dreijährige Laufzeit des Budgetgesetzes bestimmt.37

III. Konstitutionelle Weiterentwicklung und Repression 1. Die Impulse der französischen Juli-Revolution von 1830

Die zweite Welle der Verfassunggebung in Deutschland wurde wieder einmal von Frankreich angestoßen. Die Juli-Revolution von 1830 führte dort 34 Die Ministeranklage hat sich in der Verfassungswirklichkeit allerdings nicht als wirksamer Schutz gegen Verfassungsverletzungen erwiesen; vgl. Friedrich Greve, Die Ministerverantwortlichkeit im konstitutionellen Staat, 1977, insbesondere S. 121 f.; Petra Popp, Ministerverantwortlichkeit und Ministeranklage im Spannungsfeld von Verfassungsgebung und Verfassungswirklichkeit, 1996; Kühne (FN 25), S. 63 f. 35 Diese Feststellung kann man treffen, ohne die ältere Kontroverse um den deutschen Konstitutionalismus als eigenständigen Verfassungstyp neben Absolutismus und Parlamentarismus (zutreffender: parlamentarischer Demokratie) hier wieder aufnehmen zu müssen; vgl. dazu einerseits Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 3 ff., und andererseits Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1918), 1972, S. 146 ff. 36 Sieht man von einzelnen konstitutionellen „Nachzüglern“ wie Sachsen-Coburg (1821) und Sachsen-Meiningen (1824) ab; allgemein zur Wende von 1819 / 20 van Calker (FN 12), S. 57; Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815 – 1866, 2006, S. 8 ff. 37 Vgl. Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 786, 801 und Dok.Nr. 211/1.

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zum Sturz Karls X. und zur Einführung einer geänderten Verfassung, der Charte vom 14. August 183038. Diese erschien zwar nach ihrer äußeren Form und ihrem Aufbau wie eine Neuausgabe der Charte von 1814, sie beruhte jedoch auf einer völlig anderen Grundlage als ihre Vorgängerin. Es handelte sich nicht länger um eine aus der königlichen Allmacht abgeleitete und ohne Rücksicht auf die politischen Wünsche und Forderungen der Bürger oktroyierte Verfassung, sondern um eine Vereinbarung zwischen dem König und dem französischen Volk, vertreten durch die Kammern, über die künftige Ausübung politischer Herrschaft. Die Monarchie kraft göttlichen Rechts wandelte sich damit zu einer Monarchie auf vertraglicher Grundlage. Der neue „Bürgerkönig“ Louis-Philippe musste einen Eid auf die Charte von 1830 ablegen (Art. 65) und damit seine Unterordnung unter die Verfassung bezeugen, bevor er den Thron Frankreichs besteigen durfte. Mit der Wiedereinführung der Trikolore (Art. 67) wurde der Verfassungswandel unter Anknüpfung an die revolutionäre Tradition auch äußerlich sichtbar. Die neue Verfassung beschränkte zwar die königliche Macht und stärkte die Mitwirkungsrechte der Kammern (u. a. Recht der Gesetzesinitiative), sie räumte aber aufgrund des zensusabhängigen Wahlrechts nur den reichen Klassen ein Mitspracherecht im Staat ein.39 In Deutschland kam es im Anschluss an die Juli-Revolution zu politischen und sozial motivierten Unruhen, die vor allem die mitteldeutschen Staaten Sachsen, Kurhessen, Hannover und Braunschweig erfassten und dort eine neue Welle der Verfassunggebung auslösten. In den frühkonstitutionellen Staaten Süddeutschlands blieb es dagegen ruhiger. Die „rechtzeitig“ erlassenen Verfassungen hatten das Staatsbewusstsein der Bevölkerung gekräftigt, und die Landtage als neue Repräsentativvertretungen „wirkten als Ventile“40 für politische Unzufriedenheit. Abgesehen von der Wiederaufhebung der bereits oben angesprochenen restaurativen Verfassungsänderung in Baden, mit der 1825 die Landtags- und die Finanzperiode verlängert worden waren, durch erneutes verfassungsänderndes Gesetz vom 8. Juni 183141 kam es allerdings auch nicht zu einer Fortentwicklung des konstitutionellen Systems. Die neuen Verfassungen in den mittel- und norddeutschen Staaten, 38 Text bei Dieter Gosewinkel / Johannes Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789 – 1949, 2006, S. 295 ff. 39 Vgl. zur Charte von 1830 Burdeau / Hamon / Troper (FN 18), S. 313 ff.; Chevallier (FN18), S. 208 ff.; Hartmann (FN18), S. 98 ff.; Kirsch, Monarch und Parlament (FN 18), S. 143 ff. 40 Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl. 1950, S. 209. Eine ähnliche Aussage trifft Engelbert (FN 11), S. 115 Anm. 36, für die hier nicht behandelten deutschen Kleinstaaten. 41 Vgl. Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 802 und Dok.Nr. 211/ 2. Zu den verfassungsändernden Gesetzen in Bayern in der Zeit nach der französischen Juli-Revolution ders., Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918, Bd. 2, 2007, Abs. – Nr. 1453.

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auch unter dem Begriff mitteldeutscher Konstitutionalismus zusammengefasst, hatten zwar viele Gemeinsamkeiten mit ihren frühkonstitutionellen „Schwesterverfassungen“, insbesondere auch, was ihren Kompromisscharakter betraf, sie gingen aber – wie die französische Charte von 1830 – in der Beschränkung der monarchischen Gewalt über jene hinaus. Die folgende inhaltliche Charakterisierung wird das deutlich machen. 2. Der mitteldeutsche Konstitutionalismus

Die mitteldeutschen Verfassungen wurden nicht oktroyiert, sondern zwischen dem Landesherrn und den Ständen vereinbart. Das galt nicht nur für die kurhessische Verfassung vom 5. Januar 1831 und die braunschweigische Neue Landschaftsordnung vom 12. Oktober 183242, sondern mit Einschränkung auch für die sächsische Verfassung vom 4. September 1831 und das hannoversche Staatsgrundgesetz vom 26. September 183343. Beide kamen mit Zustimmung der Stände zustande, wobei deren Mitwirkung an der neuen Verfassung jedoch weit weniger ausgeprägt war als in Kurhessen. Mit der Anerkennung des Vertragscharakters einer Verfassung war zugleich ein großer Schritt in Richtung des modernen Verfassungsstaates getan. Denn damit wurde die staatliche Herrschaft, auch die monarchische, auf eine vertragliche Grundlage gestellt und entsprechend den vereinbarten Regelungen begrenzt. Die verfassunggebende Gewalt (pouvoir constituant) lag nicht länger allein beim Landesherrn, sie war vielmehr zwischen diesem und dem Volk, repräsentiert durch die Stände, aufgeteilt.44 Für die auf der Grundlage der Verfassung ausgeübte Staatsgewalt (pouvoir constitué) blieb es dagegen bei der Geltung des sog. monarchischen Prinzips: Die Verfassungen des mitteldeutschen Konstitutionalismus stimmten insoweit nahezu wörtlich mit den frühkonstitutionellen Verfassungen überein, wenn es dort hieß, der König bzw. der Kurfürst sei das Oberhaupt des Staates, vereinige in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übe sie unter den durch die Verfassung festge42 Zur Entstehung der kurhessischen Verfassung vgl. Frotscher (FN 25), S. 47 ff. mit weiteren Nachweisen; aus zeitgenössischer Sicht, insbesondere auch zu deren Vertragscharakter Karl Wilhelm Wippermann, Art. „Hessen – Kassel“, in: Karl Rotteck / Karl Theodor Welcker, Das Staatslexikon, Bd. 8, 3. Aufl. 1863, S. 41 f.; zur braunschweigischen Landschaftsordnung Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, 3. Aufl. 1988, S. 46 ff., 60 ff.; Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918, Bd. 3, 2010, Abs.-Nr. 1914 ff. und Dok.-Nr. 591. 43 Zur Entstehung der sächsischen Verfassung und des hannoverschen Grundgesetzes sowie ihrem Charakter als vereinbarte Verfassungen Frotscher (FN 25), S. 58 f.; Huber II (FN 42), S. 79 f., 84 ff.; Schulze (FN 25), S. 91 f.; aus zeitgenössischer Sicht Hermann Just, Geschichte der sächsischen Verfassung, 1832, S. 9 ff., 18; Friedrich Bülau, Verfassung und Verfassungsrecht des Königreichs Sachsen, 1833, S. 31. 44 Die abweichende Beurteilung der Verfassungsverträge im deutschen Konstitutionalismus etwa bei Huber I (FN 3), S. 653 f., oder Grimm (FN 12), S. 111, bleibt in einer monarchistischen Sichtweise befangen, die nicht überzeugt; vgl. dazu oben FN 24.

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setzten Bestimmungen aus.45 Die Verfassungsautonomie der Bundesstaaten war in diesem Punkt von vornherein durch die bundesverfassungsrechtliche Vorgabe des Art. 57 WSA eingeschränkt. Die Rechtsstellung der Ständeversammlungen (Landtage) wurde in den mitteldeutschen Verfassungen der zweiten Generation zum Teil deutlich gestärkt. In Kurhessen wurde ein sog. Einkammerlandtag eingerichtet.46 Damit hatte sich der kurhessische Verfassunggeber gegen das herkömmliche Zweikammersystem und für die modernere Variante einer Volksvertretung entschieden. Auch Braunschweig besaß nach der Verfassung von 1832 nur eine Kammer, die den traditionellen Namen „Landschaft“ trug. Die Abschaffung der aus Vertretern des Adels oder engen Vertrauten des Landesherrn bestehenden ersten Kammer, wie sie für den deutschen Frühkonstitutionalismus, aber auch noch für die Verfassungen Sachsens von 1831 und Hannovers von 1833 charakteristisch war47, bedeutete allerdings nicht, dass die (alt-)ständischen Elemente in der Zusammensetzung der Ständeversammlung vollkommen beseitigt worden wären. Der kurhessische Landtag bestand nicht nur aus gekorenen, d. h. gewählten Abgeordneten der Städte und Landbezirke, sondern auch aus geborenen Mitgliedern (Prinzen des kurfürstlichen Hauses, Häupter der fürstlichen oder gräflichen, ehemals reichsunmittelbaren Familien u. a.).48 Zudem unterlag das Wahlrecht nach allen mitteldeutschen Verfassungen erheblichen Einschränkungen. Für die neuen Landtage galt – wie schon nach frühkonstitutionellem Verfassungsrecht – das Repräsentationsprinzip. Die Abgeordneten repräsentierten nicht einen bestimmten Stand, sondern das ganze Land; sie waren deshalb nicht an Aufträge und Weisungen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen.49 Sie besaßen also ein freies Mandat und genossen im Übrigen parlamentarische Immunität und Redefreiheit. Die Zuständigkeiten der Landtage entsprachen zwar dem frühkonstitutionellen Grundmuster, sie wurden jedoch zum Teil erheblich erweitert. Allen vier Verfassungen war zunächst gemeinsam, dass die Stände jetzt das Recht der Gesetzesinitiative erhielten, also die Möglichkeit, selbst Anträge zu neuen Gesetzen vorzulegen.50 Die Mitwirkung an der Gesetzgebung 45

So § 4 SächsVU; § 6 HannVU; § 3 BraunVU; ähnlich § 10 KurhessVU. Vgl. §§ 63 ff. KurhessVU und dazu Frotscher (FN 25), S. 50 ff. 47 Vgl. §§ 61 ff. SächsVU und dazu Bülau (FN 43), S. 112 ff.; §§ 93 ff. HannVU und dazu G. A. Grotefend, Geschichte der allgemeinen landständischen Verfassung des Königreichs Hannover in den Jahren 1814 bis 1848, 1857, S. 106 ff. 48 Zur Zusammensetzung der braunschweigischen Ständeversammlung vgl. § 60 BraunVU; dazu Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht III (FN 42), Abs.-Nr. 1958 ff. 49 Vgl. §§ 73, 74 KurhessVU; § 78 SächsVU; § 107 HannVU; §§ 94, 96, 133 BraunVU. 50 Vgl. § 97 KurhessVU; § 105 BraunVU; § 88 HannVU; § 85 SächsVU. Nach den frühkonstitutionellen Verfassungen war es den Ständen aber unbenommen, im Wege der Petition auf neue Gesetze anzutragen. 46

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reichte in Kurhessen besonders weit: Dort wurde die gesetzgebende Gewalt praktisch zwischen Kurfürst und Landtag aufgeteilt, wenn in § 95 VU ausdrücklich festgelegt war, dass kein Gesetz ohne Zustimmung der Stände erlassen, aufgehoben, abgeändert oder authentisch interpretiert werden konnte. Auch die Verfassungen Braunschweigs, Sachsens und Hannovers verlangten grundsätzlich die Zustimmung der Stände zu einem Gesetz, ließen aber gewichtige „Bereichsausnahmen“ zu oder erschwerten die Ablehnung eines landesherrlichen Gesetzes durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit.51 In allen mitteldeutschen Verfassungen war schließlich vorgesehen, dass der Landtag einen Minister wegen Verletzung der Landesverfassung förmlich anklagen konnte, eine Möglichkeit, von der vor allem in Kurhessen in der Regierungszeit des verhassten Ministers Hassenpflug häufig, aber erfolglos Gebrauch gemacht wurde.52 Die mitteldeutschen Verfassungen enthielten umfangreiche Abschnitte zu den Rechten und Pflichten der Staatsangehörigen, mithin Grundrechtskataloge, in denen man nur wenige zum heutigen Grundrechtsstandard zählende Rechte vermisste und die den liberalen Einfluss auf die Verfassunggebung deutlich machten. Mit dem Grundsatz „Die Freiheit der Person und des Eigentums unterliegt keiner anderen Beschränkung, als welche das Recht und die Gesetze bestimmen“53 wurde eine zentrale Forderung der konstitutionellen Staatsrechtslehre in den Verfassungen verankert. Hinsichtlich ihrer Durchsetzungsschwäche kann auf die Ausführungen zu den Grundrechten in den frühkonstitutionellen Verfassungen verwiesen werden: Sie standen unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt und waren auch gegenüber der Exekutive mangels Rechtsschutzmöglichkeiten nicht einklagbar. Die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verfassungen des mitteldeutschen Konstitutionalismus unterschieden sich nur wenig von ihren frühkonstitutionellen Vorläufern. Die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Gerichte sowie einzelne Justizgrundrechte wurden festgeschrieben. Darüber hinaus eröffneten die sächsische Verfassung und das hannoversche Grundgesetz – im Unterschied zu der braunschweigischen Neuen Landschaftsordnung – den ordentlichen Rechtsweg auch für Verwaltungsrechtssachen.54 Sie folgten damit der kurhessischen Verfassung, deren Abschnitt 51

Vgl. §§ 98 Nr. 3, 99 BraunVU; §§ 85, 86 HannVU; §§ 86, 92, 103 Abs. 4 Sächs VU. Dazu umfassend Popp (FN 34), S. 187 ff. Allein in den Jahren 1833 bis 1836 kam es zu vier Anklageverfahren gegen den Vorstand der Ministerien des Inneren und der Justiz Ludwig Hassenpflug. Zu seiner Person auch Rüdiger Ham, Der Kampf um die Verfassung von 1831 – Liberale und konservative Kräfte im kurhessischen Vormärz, in: Stephan Buchholz / Heiner Lück (Hrsg.), Worte des RecHts – Wörter zur RechtsGeschichte. Festschrift für Dieter Werkmüller zum 70. Geburtstag, 2007, S. 145 ff. 53 § 33 HannVU; § 31 KurhessVU; sachlich übereinstimmend § 27 SächsVU und § 32 BraunVU. 52

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über die Rechtspflege als ein Glanzlicht konstitutioneller Verfassunggebung vor 1848 bezeichnet werden muss. Mit der Ablösung der sog. Administrativjustiz und der Zuweisung des Rechtsschutzes in Verwaltungssachen an die ordentlichen Gerichte (§ 113 VU) nahm Kurhessen 1831 eine Vorreiterrolle ein. Die justizstaatliche Problemlösung des § 182 der Reichsverfassung von 1848 wurde hier vorweggenommen. Bemerkenswert sind weiterhin die strikte Trennung der Rechtspflege von der Landesverwaltung (vgl. § 112 VU) und die in § 123 Abs. 1 Satz 2 VU angelegte konkrete Normenkontrolle am Maßstab der Verfassung, von der das Oberappellationsgericht in Kassel dann auch im kurhessischen Verfassungskonflikt des Jahres 1850 Gebrauch machte.55 3. Erzwungener Stillstand

Die mitteldeutschen Verfassungen versuchten, die rechtliche Grundordnung des Staates auf einen Kompromiss zwischen konservativ-monarchischen und liberalen Staatsvorstellungen zu stützen. Dass sie keine kontinuierliche konstitutionelle Weiterentwicklung einleiteten, sondern bis zum Ausbruch der Revolution von 1848 nur den Hintergrund bildeten, vor dem monarchische Regierung und liberale Opposition zum Teil erbitterte politische Auseinandersetzungen austrugen, ist dem Kompromisscharakter dieser Verfassungen nicht wirklich anzulasten. Sie waren insgesamt entwicklungsoffen und enthielten bereits zahlreiche Elemente des modernen Rechtsund Verfassungsstaates. Das gilt insbesondere für die von dem Marburger Staatsrechtslehrer Sylvester Jordan56 wesentlich geprägte kurhessische Verfassung, die unter den mitteldeutschen Verfassungen sichtbar herausragt und zu Recht als die liberalste Verfassung des deutschen Konstitutionalismus vor 1848 bezeichnet wird.57 Der Weg hin zu einer parlamentarisch beschränkten Monarchie, an dessen Ende eine echte Gewaltenteilung und die effektive Gewährleistung von Bürgerrechten hätten stehen können, war mit diesen Verfassungen durchaus eröffnet. Versperrt wurde er durch die Repressionspolitik des Deutschen Bundes, der mit seinen Maßnahmen „zur 54 Vgl. einerseits § 195 BraunVU und andererseits § 37 HannVU, § 49 SächsVU. In Sachsen musste allerdings zunächst ein Ausführungsgesetz abgewartet werden; vgl. Huber II (FN 42), S. 83. 55 Dazu Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 357 ff. mit weiteren Nachweisen. 56 Zu seiner Person und seiner Staatslehre Werner Frotscher, Sylvester Jordan und der Vorrang der Verfassung, in: Buchholz / Lück (FN 52), S. 130 ff. 57 Schon Karl Marx hat sie als „das liberalste Grundgesetz, das je in Europa verkündet wurde“, gepriesen; zit. nach Hellmuth Seier, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Akten und Briefe aus den Anfängen der kurhessischen Verfassungszeit 1830 – 1837, 1992, S. XLV. Seier selbst spricht von einem „konstruktiven“, einem „aufregend vorwärtsweisenden Weiterbau“ in der Verfassungsentwicklung, der das Vormärzliche übertroffen habe (a. a. O., S. XLII). Allgemein zur Bewertung der 1831er-Verfassung in der Gegenwart auch Frotscher (FN 25), S. 54, 62.

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Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bund“ nicht nur jedweden (verfassungs-)politischen Diskurs von vornherein im Keim zu ersticken suchte, sondern auch eine dem ursprünglichen Kompromiss entsprechende Anwendung und Auslegung der neuen Verfassungen auf einzelstaatlicher Ebene – durchaus im Zusammenspiel mit den landesherrlichen Regierungen – erschwerte oder verhinderte. Darauf ist kurz einzugehen. Wie schon 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen ging der Deutsche Bund unter der Führung des österreichischen Staatskanzlers Fürst Metternich mit Ausnahmegesetzen gegen die politischen Unruhen und die sich auf Landesebene ausbreitende konstitutionelle Bewegung vor. Diese Ausnahmegesetze veränderten nicht nur die Bundesverfassung58, sondern griffen auch in einer für einen Staatenbund ungewöhnlichen Weise in die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ein. Unmittelbar nachdem die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung auf dem Hambacher Fest im Mai 1832 ihre für die Herrschenden erschreckende politische Anziehungskraft dokumentiert hatte, ergingen die Bundesbeschlüsse vom 28. Juni 1832 (sog. Sechs Artikel) und 5. Juli 1832 (sog. Zehn Artikel), zu denen später insbesondere noch die geheimen Wiener Beschlüsse vom 12. Juni 1834 (sog. Sechzig Artikel) hinzutraten.59 Mit den Sechs Artikeln wurden wesentliche landständische Rechte, nämlich das Petitionsrecht, das Steuerbewilligungsrecht, das Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung sowie die Rede- und Berichtsfreiheit, eingeschränkt und eine Kommission des Bundestages zur Überwachung der landständischen Verhandlungen eingesetzt. Diese „Maßregeln“ wurden als bloße Klarstellung der Bundesverfassung ausgegeben, tatsächlich erfolgte – als Verfassungsinterpretation getarnt – eine Verfassungsänderung, die zum Teil auch tief in das Landesverfassungsrecht einschnitt. In formaler Hinsicht genügte der einstimmige Bundesbeschluss den Anforderungen der Art. 7 und 10 DBA; die notwendige landesrechtliche Publikation wurde, wenn auch verzögert, vorgenommen. Problematisch erscheint jedoch, ob ein so weitgehender Eingriff in die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten einfach mit dem Vorrang des Bundesrechts gegenüber dem Landesrecht gerechtfertigt werden konnte. Konsequent fortgeführt hätte der Deutsche Bund auf dem ein58 Als bloßer Staatenbund gegründet, bediente sich der Deutsche Bund „zunehmend Mittel“ (Stern, Staatsrecht V [FN 3], S. 194), ohne, wie man hinzufügen muss, die Organisation und Verfassung eines Bundesstaates zu besitzen. Bereits die Karlsbader Beschlüsse – mit Thomas Nipperdey (Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 5. Aufl. 1991, S. 283) „fast ein Bundesstaatsstreich“ – hatten die Rechtsnatur des Bundes als eines ursprünglich völkerrechtlichen Vereins souveräner Staaten verändert. 59 Texte bei Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Dok.-Nr. 50, 51 und 55. Zu den beiden Beschlüssen von 1832 vgl. auch Huber II (FN 42), S. 154 ff. bzw. 162 f.; Müller (FN 36), S. 17 ff.; Kotulla, Verfassungsgeschichte (FN 3), Rn. 1490 ff.

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geschlagenen Weg der verfassungsändernden Bundesbeschlüsse eine „Einheitsverfassung“ für alle (eigentlich souveränen) Mitgliedstaaten durchsetzen können. Auch der Einwand des Führers der Opposition im württembergischen Landtag, Paul Achatius Pfizer60, ein Bundesbeschluss, der – über die ursprünglich vereinbarte Bundesverfassung hinaus – in das Landesverfassungsrecht eingreife, bedürfe nicht nur der Zustimmung des Landesherrn, sondern auch der Einwilligung der Ständeversammlung, ist jedenfalls für Mitgliedstaaten mit einer paktierten Verfassung nicht von vornherein von der Hand zu weisen.61 Die Zehn Artikel, ein ebenfalls einstimmig verabschiedetes, in seinem Vorspann als Maßnahmegesetz gekennzeichnetes Bundesgesetz, führten zu einer rigorosen Beschränkung der Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit in Deutschland. Für alle kleineren Druckschriften wurde die Vorzensur obligatorisch. Vereine mit politischer Zwecksetzung wurden ebenso verboten wie Versammlungen und Volksfeste mit politischem Inhalt sowie das öffentliche Tragen oder Zeigen von „Aufruhrzeichen“ wie schwarz-rot-goldenen Bändern, Kokarden und Fahnen. Die Überwachung der Universitäten wurde auf der Grundlage des Karlsbader Universitätsgesetzes von 1819 fortgeführt und die Landesregierungen auch im Übrigen angehalten, die „genaueste polizeiliche Wachsamkeit“ hinsichtlich aller politisch verdächtigen Personen walten zu lassen. Die in ihrer praktischen Wirksamkeit ohnehin begrenzten und von vornherein unter Gesetzesvorbehalt stehenden politischen Grundrechte der Landesverfassungen (dazu oben) wurden mit diesem Bundesgesetz vollends Makulatur. Mit Bundes-Ausnahmegesetzen gegen Liberalismus und Konstitutionalismus, diese politische Rechnung der beiden konstitutionslosen Großmächte Österreich und Preußen, ging zunächst auf. Viele landesherrliche Regierungen waren nur zu gern bereit, mit Rückendeckung durch den Deutschen Bund und oft im Widerspruch zu den Bestimmungen der von ihnen erlassenen oder gar paktierten Verfassungen die liberale Opposition im Land mundtot zu machen. Insbesondere die schon damals hoch gelobte „Vorzeigeverfassung“ des deutschen Konstitutionalismus, die kurhessische Verfassung von 1831, konnte unter solchen ungünstigen politischen Rahmenbedingungen die in ihr angelegten Entwicklungsmöglichkeiten nicht entfalten. Spätestens mit der Ernennung Ludwig Hassenpflugs zum Vorstand des Justiz- und Innenministeriums im Mai 1832 endeten denn auch „die konstitutionellen Flitterwochen“62 in Kurhessen. Hassenpflug, von restaurativen Staatsvorstellungen geprägt, wie sie etwa Karl Ludwig von Haller vertrat, begegnete der kurhessischen Verfassung von Anfang an mit Ab60 61 62

Zur Person vgl. Stolleis (FN 29), S. 178 f. So aber Huber II (FN 42), S. 38 und 160. Franz / Murk (FN 10), S. 223.

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lehnung.63 Er legte diese gegen ihren liberalen Geist aus und beschwor damit schwere Verfassungskonflikte herauf. Bereits im Juni 1832 erging der Kokardenerlass, mit dem das Tragen der Farben Schwarz-Rot-Gold untersagt wurde, gefolgt von einem im Verordnungsweg erlassenen Verbot politischer Versammlungen. Nur einen Monat später wurden die von der Bundesversammlung beschlossenen Ausnahmegesetze der Sechs Artikel und der Zehn Artikel publiziert und damit für Kurhessen geltendes Recht. Am 26. Juli 1832 wurde der mehrheitlich von der liberalen Opposition beherrschte Landtag aufgelöst. Diese Repressionsmaßnahmen bildeten nur den Auftakt zu ständigen Auseinandersetzungen zwischen kurhessischer Regierung und Landtagsopposition über Auslegung und Geltung der Verfassung, welche die erste Ära Hassenpflug bis zu ihrem Ende 1837 begleiteten.64 Einer anderen Verfassung des mitteldeutschen Konstitutionalismus, dem hannoverschen Staatsgrundgesetz vom 26. September 1833, erging es noch schlechter als der kurhessischen 31er-Verfassung: Wenige Tage nach Antritt seiner Regentschaft hob König Ernst August mit Patent vom 1. November 183765 das Staatsgrundgesetz mit der zweifelhaften Begründung auf, es sei „auf eine völlig ungültige Weise“ errichtet worden. Die Protestation der sog. Göttinger Sieben gegen den Verfassungsbruch des Königs konnte die Verfassung ebenso wenig retten wie die Anrufung der Bundesversammlung durch eine Reihe hannoverscher Städte sowie Bayern und Baden. So gelang es, das Rad der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung für ein Jahrzehnt anzuhalten oder gar zurückzudrehen. Doch die auf diese Weise hergestellte „Ruhe in Deutschland“ war trügerisch: Die liberalen und konstitutionellen Ideen konnten nur zeitweise unterdrückt werden; sie wirkten weiter, um sich dann im März 1848 gewaltsam Bahn zu brechen.

IV. Revolution und Reaktion 1. Revolution – Zeit für Verfassungsänderungen

Mit der Revolution von 1848 erreichte die Entwicklung des (monarchischen) Konstitutionalismus in Deutschland ihren Höhepunkt. Dabei reagierte die Frankfurter Bundesversammlung schon frühzeitig auf die im Februar 63

Ham (FN 52), S. 147 f.; dort auch zum Folgenden. Die vier gegen Hassenpflug gerichteten Ministeranklageverfahren legen von dieser Auseinandersetzung ein beredtes Zeugnis ab; vgl. dazu schon oben FN 52. Umfassend zur ersten Ära Hassenpflug Ewald Grothe, Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt, 1996. 65 Hann. Gesetz-Sammlung 1837, S. 103; Text bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. 1978, Nr. 61. Zum hannoverschen Verfassungskonflikt vgl. Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 293 ff.; Huber II (FN 42), S. 91 ff. 64

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1848 in Paris ausbrechende Revolution und die nachfolgenden Unruhen auch in Deutschland mit einem dramatischen politischen Kurswechsel, der Verfassungsänderungen gleichsam „im Minutentakt“ beinhaltete: Am 3. März wurde die Pressezensur aufgehoben. Am 9. März folgte die Anerkennung der Farben Schwarz-Rot-Gold als Bundesfarben. Am 10. März beschloss der nun von liberalen sog. Märzministerien instruierte Bundestag die Einsetzung eines aus 17 Männern des öffentlichen Vertrauens bestehenden Ausschusses mit dem Auftrag, eine „Revision der Bundesverfassung auf wahrhaft zeitgemäßer und nationaler Basis“ vorzubereiten. Am 2. April 1848 schließlich wurden alle seit 1819 erlassenen Bundes-Ausnahmegesetze aufgehoben.66 Die Revolution löste auch in den Mitgliedstaaten neue konstitutionelle Geschäftigkeit aus. Eine dritte Welle der Verfassunggebung und Verfassungsänderung „flutete über ganz Deutschland hin“67. Jetzt mussten auch die beiden Großmächte Österreich und Preußen ihren Widerstand gegen die Konstitutionalisierung aufgeben. Am 25. April wurde die Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates, die sog. Pillersdorfsche Verfassung, in der amtlichen „Wiener Zeitung“ kundgemacht.68 Sie erfüllte viele der im Vormärz und in den Revolutionstagen erhobenen Forderungen; sie wurde jedoch zunächst dem konstituierenden österreichischen Reichstag zur Beratung überstellt und trat nie in Wirksamkeit.69 Nachdem sich die Revolution auch in Berlin siegreich behauptet hatte, verhieß Friedrich Wilhelm IV. in seiner Proklamation vom 22. März die schnelle Einführung einer konstitutionellen Verfassung. Unterstützt wurde das Vorhaben durch eine nahezu einmütige Entschließung des zweiten Vereinigten Landtags vom 2. April70. Die am 22. Mai in Berlin zusammengetretene verfassunggebende preußische Nationalversammlung beratschlagte in den folgenden Wochen verschiedene Entwürfe eines Verfassungsgesetzes für den Preußischen Staat; die machtpolitisch nur im Sommer 1848 bestehende Chance für eine parlamentarisch legitimierte Verfassunggebung wurde jedoch vertan. Vielmehr kam es nach dem Sieg der Gegenrevolution im Herbst 1848 zu dem königlichen Verfassungsoktroi vom 5. Dezember, der nach Anhörung der Kammern mit gewissen Änderungen in die sog. revidierte Verfassung vom 31. Ja66 Texte der vorstehenden Bundesbeschlüsse bei Huber, Dokumente (FN 65), Nr. 75 – 78; dazu Müller (FN 36), S. 31. 67 van Calker (FN 12), S. 59. 68 Allerhöchstes Patent vom 25. April 1848; Text bei Gosewinkel / Masing (FN 38), S. 1461 ff. 69 Näher dazu Friedrich Walter, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500 – 1955, 1972, S. 149 ff., und der Beitrag von Wilhelm Brauneder in diesem Band. 70 Vgl. zur preußischen Verfassungsentwicklung im (Früh-)Sommer 1848 Huber II (FN 42), S. 582 ff.; Michael Kotulla, Das konstitutionelle Verfassungswerk Preußens (1848 – 1918), 2003, S. 3 ff.; Texte ebd., S. 38 ff.

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nuar 1850 mündete. Preußen war nun zwar formell ein Verfassungsstaat, aber „der alte reaktionäre Geist“71 kehrte Ende 1848 in die preußische Politik zurück. Erfolgreicher war die konstitutionelle Bewegung in vielen deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die bereits eine Verfassung besaßen. Hier ging es um Verfassungsreformen wie die Einführung der Ministerverantwortlichkeit, die Wahl der Landtagsabgeordneten, die Anerkennung des landständischen Gesetzesinitiativrechts, die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie Veränderungen in der Gerichtsorganisation. Beispielhaft seien hier nur die bayerischen Reformgesetze vom 4. Juni 184872 und das kurhessische Gesetz betreffend die Zusammensetzung der Ständeversammlung und die Wahl der Landtagsabgeordneten vom 5. April 184873 genannt.

2. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849

Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung des Konstitutionalismus in Deutschland wurde jedoch die Arbeit der verfassunggebenden Nationalversammlung, die seit dem 18. Mai 1848 in Frankfurt tagte. Sie sollte die fundamentale Neuordnung der äußeren und inneren Staatsform des Bundes vornehmen, ein Vorhaben, das mit der Verkündung der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849 zwar inhaltlich gelang, jedoch zu spät. Die Vorschriften der Paulskirchenverfassung konnten wegen des zwischenzeitlichen Scheiterns der Revolution keine Rechtswirksamkeit mehr entfalten.74 Dennoch hat diese Verfassung, die man als Krönung des deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert ansehen muss, Bedeutung weit über das Jahr 1849 hinaus erlangt.75 Alle späteren deutschen Gesamtstaatsverfassungen haben sich an ihr orientiert oder jedenfalls mit ihr auseinandergesetzt. Was waren ihre tragenden Prinzipien und in welchen Punkten hat sie sich von den früher erlassenen Verfassungen des süd- und mitteldeutschen Konstitutionalismus unterschieden? 71 Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848, Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, 1997, S. 888. 72 Vgl. Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht II (FN 41), Abs.-Nr. 1501 ff., Dok.Nr. 376 / 21 – 24. 73 Text bei Franz / Murk (FN 10), S. 272. 74 Zu der Frage, ob die Reichsverfassung auf Grund ihrer Verkündung im Reichsgesetzblatt jedenfalls de iure rechtswirksam geworden ist, vgl. Huber II (FN 42), S. 851 ff.; Kotulla, Verfassungsgeschichte (FN 3), Rn. 1742; ders., Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 301; Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. 1998, S. 48 f., 558. 75 Dazu umfassend Kühne (FN 74), insbesondere S. 62 ff., 75 ff.; Walter Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 3, Rn. 47 ff.; Huber II (FN 42), S. 821; Stern, Staatsrecht V (FN 3), S. 262.

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Die innere Staatsform wurde geändert. Im Gegensatz zum Deutschen Bund, der eine bloß völkerrechtliche Vereinigung darstellte, sollte das zukünftige Deutsche Reich einen Bundesstaat76 bilden und damit endlich die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer lauter erhobene Forderung nach einem engeren nationalen Zusammenschluss erfüllen. Für die Verteilung der Staatsgewalt zwischen Reich und Ländern galt das aus der Verfassung der USA bekannte Enumerationsprinzip: Dem Reich wurden zahlreiche, für die Reichseinheit wichtige Gesetzgebungszuständigkeiten und einzelne Verwaltungszuständigkeiten ausdrücklich übertragen; im Übrigen blieb es bei der Zuständigkeit der Einzelstaaten (vgl. § 5 RV). Alle Reichsgesetze galten unmittelbar, d. h. ohne landesrechtliche Verkündung, im gesamten Reichsgebiet und gingen im Kollisionsfall den einzelstaatlichen Gesetzen vor (§ 66 RV). Der föderale Charakter des Reiches wurde durch die neu konzipierte erste Kammer, das Staatenhaus, betont, dessen 192 Mitglieder zur Hälfte durch die Regierung und zur Hälfte durch die Volksvertretung77 der jeweiligen Mitgliedstaaten im Verhältnis ihrer Größe ernannt werden sollten (§§ 86 bis 88 RV). Für alle Mitglieder des Staatenhauses galt der Grundsatz des freien Mandats (§ 96 RV), so dass die einzelstaatlichen Regierungen auch über die von ihnen ernannten Mitglieder allenfalls einen mittelbaren Einfluss auf die Reichsangelegenheiten nehmen konnten. Mit diesen Regelungen hätte das Reich die Grundform eines modernen Bundesstaates erlangt. Die äußere Staatsform wurde nicht in gleicher Weise modernisiert. Die Reichsverfassung war ihrer Entstehung nach zwar demokratisch legitimiert78, und das monarchische Prinzip wurde abgeschafft. Aber die Monarchie blieb – im Unterschied zu der französischen Verfassung vom 4. November 1848 – bestehen (vgl. §§ 68 bis 70 RV). Ein demokratisches Element im Staatsaufbau bildete das Volkshaus, das aus Abgeordneten des deutschen Volkes bestand und zusammen mit dem Staatenhaus als Reichstag fungierte (vgl. §§ 85, 93 ff. RV). Aufgrund des fortschrittlichen Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849, das die modernen Wahlrechtsgrundsätze weitgehend verwirklichte, stellte das Volkshaus ein demokratisch-unitarisches Reichsorgan dar (wie es später auch in die Bismarcksche Reichsverfassung übernommen wurde). Die Reichgewalt war zwischen Kaiser und Reichstag aufgeteilt: Der Kaiser besaß nicht nur die Würde des Staatsoberhaupts (§ 68 RV), sondern war auch Träger der Regierungsgewalt, die er durch von ihm ernannte Minister ausübte (§ 73 Abs. 2 RV). Bei der Gesetzgebung mussten Kaiser und Reichstag zusammenwirken, wobei sich letzterer allerdings im Konfliktfall durchsetzen konnte, weil die Reichsregierung nur ein suspensi76

Der Begriff selbst findet sich nur in § 87 Abs. 2 RV. Damit knüpfte die Reichsverfassung an das Senatsmodell der US-Verfassung in seiner ursprünglichen Form an. 78 Näher Kühne (FN 74), S. 51 ff. 77

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ves Veto gegenüber vom Reichstag einmütig beschlossenen Gesetzen hatte (vgl. §§ 100, 101 RV). Soweit die Reichsverfassung eine Reichsangelegenheit weder dem Kaiser noch dem Reichstag ausdrücklich zugewiesen hatte, sprach die Zuständigkeitsvermutung des § 84 RV zugunsten des Kaisers. Man kann deshalb nur von einer ungleichgewichtigen Teilung der Reichsgewalt sprechen, nicht aber von einer wirklichen „Paritätslage zwischen Regierung und Parlament“79. Die starke Stellung des Kaisers beruhte schließlich auch darauf, dass die Ministerverantwortlichkeit nicht gegenüber dem Reichstag bestand, ein sog. parlamentarisches System also – trotz der „Premiere“ beim Rücktritt des Reichskabinetts Leiningen im September 1848 und entsprechender Bestrebungen in der Nationalversammlung – keine Aufnahme in die Verfassung gefunden hatte.80 Als Glanzlicht der Paulskirchenverfassung gilt der umfangreiche Abschnitt über die Grundrechte des deutschen Volkes (§§ 130 ff. RV), der Deutschland nach Meinung ausländischer Beobachter zum „modernsten Staat Europas“81 gemacht hätte. Er beruhte auf intensiven, allen staatsorganisationsrechtlichen Fragen vorgezogenen Beratungen, welche die Nationalversammlung von Ende Mai bis zur Verabschiedung des Reichsgesetzes betr. die Grundrechte des deutschen Volkes am 20. Dezember 184882 beschäftigten. Der Grundrechtskatalog besticht zunächst durch die für seine Zeit umfassende Gewährleistung persönlicher und politischer Freiheitsrechte. Er ist damit Ausdruck eines ausgeprägt rechtstaatlichen, liberalen Denkens, das die Frankfurter Nationalversammlung beherrschte. Aber auch die staatsbürgerliche Gleichheit wurde konsequent verwirklicht (vgl. § 137 RV). Hinzu traten Bestimmungen, die nach heutigem Verständnis keinen Grundrechtscharakter haben, aber zum Teil doch dem weiteren Bereich der Rechtsstaatlichkeit zuzurechnen sind, wie die Ablösung der Verwaltungsrechtspflege, der sog. Administrativjustiz, durch die Eröffnung des Rechtsweges zu den Gerichten (§ 182 RV), die Selbstverwaltung der Gemeinden (§ 184 RV), die Abschaffung der Todesstrafe (§ 139 RV) sowie die Einführung von Schwurgerichten (§ 179 RV) und Zivilehe (§ 150 RV).

79 So aber Kühne (FN 74), S. 459 ff., 572; abgeschwächt auch Wahl (FN 14), § 2 Rn. 34 f.; zweifelnd dagegen Pauly (FN 75), § 3 Rn. 41 mit Anm. 90. In der Praxis hätte sich ein paritätisches Regierungsmodell durchaus „einspielen“ können. 80 Grimm (FN 12), S. 202; Huber II (FN 42), S. 829; Pauly (FN 75), § 3 Rn. 39, 41; Willoweit (FN 1), S. 240. 81 Jörg-Detlef Kühne, 150 Jahre Revolution von 1848 / 49 – ihre Bedeutung für den deutschen Verfassungsstaat, in: NJW 1998, S. 1513; umfassend zu den Grundrechten der Paulskirchenverfassung und ihrer Vorbildfunktion ders. (FN 74), insbesondere S. 159 ff.; vgl. weiter Pauly (FN 75), § 3 Rn. 28 ff.; Huber II (FN 42), S. 774 ff. 82 Reichsgesetz betr. die Grundrechte des deutschen Volkes von 27. Dezember 1848 mit Einführungsgesetz (RGBl. 1848, S. 49, 57). Text bei Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Dok.-Nr. 105, dazu Abs.-Nr. 280 ff., dort auch zu der umstrittenen Rechtsverbindlichkeit des Gesetzes.

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Die Nationalversammlung ist nicht bei der Postulierung wohlklingender grundrechtlicher Freiheiten stehen geblieben, wie sie in abgeschwächter Form auch schon in den meisten frühkonstitutionellen Verfassungen zu finden waren, sondern hat gleichzeitig ihre praktische Wirksamkeit in doppelter Weise verfassungsrechtlich abgesichert. Zum einen waren die Grundrechte gemäß § 130 RV in allen deutschen Einzelstaaten verbindlich; sie konnten weder durch einzelstaatliche Gesetze noch durch eine Landesverfassung aufgehoben oder beschränkt werden. Zum anderen wurde das neu zu errichtende Reichsgericht nach dem Vorbild des amerikanischen Supreme Court auch mit verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten ausgestattet. Dazu zählte die Zuständigkeit für Verfassungsbeschwerden, nämlich Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte (§ 126 Buchst. g RV). Die Paulskirchenverfassung hat damit erstmals ein Rechtsinstitut normiert, das erst 120 Jahre später Aufnahme in das Grundgesetz finden sollte.83 Der Abschnitt über die Grundrechte und die Ausgestaltung des Reichsgerichts als Verfassungsgericht und damit Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts machen exemplarisch deutlich, welche Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Verfassung des „ausgereiften“ Konstitutionalismus angelegt waren. 3. Verfassungänderungen in der Reaktionsära

Die Paulskirchenverfassung hat die Chance zur Bewährung in der politischen Praxis nicht bekommen. Spätestens mit der Ablehnung der Reichsverfassung durch Preußen im April 1849 war die Revolution gescheitert. Die Reichsverfassungskampagne im Mai 1849 bildete nur noch ein rasch und gewaltsam beendetes Nachspiel. Am 2. September 1850 nahm die Bundesversammlung, wenn auch zunächst nur als „Rumpfbundestag“84, ihre Tätigkeit wieder auf. Damit war auch die verfassungsrechtliche „Wiederauferstehung“ des Deutschen Bundes abgeschlossen. Es folgte eine Zeit der Restauration mit dem Ziel, die vorrevolutionäre politische Ordnung wiederherzustellen. Da die Revolution sowohl in der Paulskirchenverfassung als auch in zahlreichen Landesverfassungen und einzelstaatlichen Gesetzen eine starke Verrechtlichung erfahren hatte85, war die restaurative Politik des Bundes – zumeist im Zusammenspiel mit den jetzt wieder eingesetzten (hoch-)konservativen Landesregierungen – darauf gerichtet, alle Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen zu revidieren, die das Gedankengut von 1848 verkör83 Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 340. Damit wurde zugleich die Verfassungsbindung des einfachen Gesetzgebers festgelegt und das in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre umstrittene Prinzip des Vorrangs der Verfassung (dazu auch oben FN 31) anerkannt; ebenso Kühne (FN 74), S. 184 ff.; Pauly (FN 75), § 3 Rn. 30. 84 Müller (FN 36), S. 36. 85 Zur Verrechtlichung der Revolution auch Pauly (FN 75), § 3 Rn. 8.

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perten.86 Diese Spätphase des Deutschen Bundes, politisch zutreffend als Reaktionsära bezeichnet, war deshalb durch eine Fülle von Verfassungsänderungen geprägt, die nur ein Ziel hatten, nämlich die liberalen und demokratischen Fortschritte in der Verfassungsentwicklung rückgängig zu machen. Zwei Beschlüsse der Bundesversammlung in Frankfurt, beide vom 23. August 185187, standen für die neue und zugleich „alte“ Verfassungspolitik des Bundes. Sie machen deutlich, dass der Deutsche Bund, eigentlich als bloßer Staatenbund gegründet, ohne rechtliche Hemmungen – wie schon 1819 und nach 1830 – fundamental in die inneren Verfassungsverhältnisse der ursprünglich souveränen Einzelstaaten eingriff.88 Der Bundesbeschluss über Maßregeln zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ruhe (sog. Bundesreaktionsbeschluss) verlangte von den Bundesregierungen, „die in den einzelnen Bundesstaaten, namentlich seit dem Jahre 1848 getroffenen staatlichen Einrichtungen und erlassenen gesetzlichen Bestimmungen einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen“ und bei Nichtübereinstimmung mit den Grundgesetzen des Bundes diese Übereinstimmung unverzüglich wieder herzustellen. Ein Ausschuss (Bundesreaktionsausschuss) sollte die Einhaltung dieser Verpflichtung überwachen und entsprechend berichten. Als letztes Mittel behielt sich der Bund das eigene Eingreifen, etwa mit dem Mittel der Bundesintervention, vor. Der Bund avancierte so „zum obersten Kontrolleur für alle einzelstaatlichen Verfassungszustände“89. Der zweite Bundesbeschluss vom gleichen Tag betraf die Aufhebung der Grundrechte des deutschen Volkes, die als Teil der Reichsverfassung bereits durch Gesetz vom 27. Dezember 1848 vorab in Kraft gesetzt worden waren. Ihnen wurde jede Rechtsgültigkeit abgesprochen. Darüber hinaus wurden die Regierungen der Einzelstaaten, in denen entsprechende Grundrechtsbestimmungen durch besondere Gesetze ins Leben gerufen worden waren, verpflichtet, diese Bestimmungen außer Wirksamkeit zu setzen. Der zwischenzeitlich erreichte Grundrechtsstandard wurde damit wieder auf das völlig unzureichende vormärzliche Niveau zurückgeworfen. Mit den Bundesgesetzen90 zur Verhinderung des Mißbrauchs der Preßfreiheit vom 6. Juli 1854 (Bundespreßgesetz) und zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ruhe und 86 Als „Steine des Anstoßes“ galten insbesondere der Verfassungseid des Heeres, ein demokratisches Wahlrecht, ein umfassendes Budgetrecht der Ständeversammlung sowie die Presse- und Koalitionsfreiheit. 87 Texte bei Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Dok.-Nr. 78, 79. 88 Dazu auch Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 156 ff.; Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, Deutschland 1806 – 1871, 1995, S. 398 ff. 89 Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 157 im Anschluss an Siemann (FN 88), S. 398. 90 Texte bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 3. Aufl. 1986, Nr. 3, 4; Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Dok.Nr. 81, 82.

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Ordnung im Deutschen Bunde, insbesondere das Vereinswesen betr. vom 13. Juli 1854 tat die Bundesversammlung ein Übriges, um das politische Leben in Deutschland mit den aus dem Vormärz bekannten Repressionsmethoden zu ersticken. Auf der Grundlage des Bundesreaktionsbeschlusses und unter Federführung des Reaktionsausschusses wurden die Landesverfassungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht überprüft und von den als revolutionär geltenden Bestimmungen „befreit“91. Betroffen waren neben einer Reihe von Kleinstaaten vor allem Hannover und Kurhessen. Andere Mitgliedstaaten kamen einer Überprüfung durch den Bund zuvor und revidierten unaufgefordert die Vorschriften ihrer Verfassungen, die einen liberalen oder gar demokratischen Geist atmeten. Im Königreich Hannover waren die reaktionären Kräfte seit dem Anfang der 1850er-Jahre bestrebt, die fortschrittlichen Bestimmungen des Verfassungsgesetzes vom 5. September 184892 zu revidieren. Nachdem der Versuch einer maßvollen Verfassungsrevision gescheitert war, wandte sich die hannoversche Regierung unter Ministerpräsident von Lütcken an den Deutschen Bund mit der Bitte um Unterstützung. Dieser schaltete den Reaktionsausschuss ein, der in seinem Bericht vom 22. März 185593 zu dem (gewünschten) Ergebnis kam, dass der größte Teil der Verfassung von 1848 nicht mit dem Bundesrecht in Einklang stünde. Dementsprechend wurde die hannoversche Regierung mit Bundesbeschluss vom 19. April 1855 aufgefordert, die Übereinstimmung der Verfassung und Gesetzgebung des Königreichs mit den Grundgesetzen des Bundes unverzüglich wieder zu bewirken. Die hannoversche Regierung kam diesem Beschluss nur zu gern nach und hob – im Verordnungswege94 – alle Bestimmungen der 48er-Verfassung auf, die in dem Ausschussbericht als bundesrechtswidrig beanstandet worden waren. Das hannoversche Verfassungsrecht fiel damit praktisch auf den Stand von 1840 zurück.95 Kurhessen war das einzige Land, in dem die Reaktionspolitik, welche die von dem hoch konservativen Minister Hassenpflug geführte kurfürstliche Regierung unter Missachtung der Verfassung von 1831 auch hier durchzu91 Zu der angestrebten „Entliberalisierung und Entdemokratisierung der Landesverfassungen“ vgl. Huber III (FN 35), S. 134 ff. 92 Hann. GS 1848, S. 261. 93 Dazu und zum Folgenden Huber III (FN 35), S. 213 f.; Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht I (FN 5), Abs.-Nr. 159. 94 Verordnung vom 1. August 1855, Hann.GS 1855, S. 165; dort auch Publikation des Bundesbeschlusses vom 19. April 1855. 95 Nennenswerter Widerstand gegen das Vorgehen der hannoverschen Regierung kam nur von dem Obergericht Aurich in Ostfriesland, das in einer Entscheidung vom 3. Oktober 1855 die königliche VO vom 1. August 1855 wegen Verstoßes gegen die Landesverfassung für ungültig erklärte; vgl. Werner Frotscher, Die ersten Auseinandersetzungen um die richterliche Normenkontrolle in Deutschland, in: Der Staat 10 (1971), S. 383 ff.

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Werner Frotscher

setzen versuchte, auf heftigen Widerstand von Seiten nicht nur der Ständeversammlung, sondern auch der Verwaltung, der Justiz und des Heeres traf.96 Nur durch das massive, auch militärische Eingreifen des Deutschen Bundes, der am 16. Oktober 1850 eine Bundesintervention anordnete und zehn Tage später den Einmarsch der Bundestruppen beschloss, konnte die liberale kurhessische Opposition in die Knie gezwungen werden. Nachdem der Bundestag mit Beschluss vom 27. März 1852 festgestellt hatte, dass die fortschrittliche 1831er-Verfassung mit den Grundgesetzen des Deutschen Bundes unvereinbar und daher nichtig sei, erhielt das Kurfürstentum schließlich am 13. April 1852 eine neue, oktroyierte Verfassung.97 Diese lehnte sich zwar im Text weitgehend an die Verfassung von 1831 an, aber die Bestimmungen mit ausgesprochen liberalem oder gar demokratischem Charakter wurden im Sinne der Reaktion umgestaltet oder aufgehoben. So endete auch der kurhessische Verfassungskonflikt mit einem eindeutigen Erfolg der reaktionären Kräfte. In dem politischen Auf und Ab der durch ungewöhnlich zahlreiche, im schnellen Wechsel aufeinander folgende Verfassungsänderungen bestimmten Zeit des Deutschen Bundes hatte die konstitutionelle Bewegung das Ringen um einen deutschen Verfassungsstaat mit liberal-demokratischer Prägung (zunächst) verloren. Deutschland blieb bis zum Ende des Deutschen Bundes einem monarchischen Konstitutionalismus98 verhaftet. Insoweit gilt – gerade auch für die Verfassungsentwicklung – Nipperdeys deprimierende Feststellung, der Deutsche Bund sei „nicht zu einer Institution geworden, die irgend etwas hätte weiterentwickeln können oder wollen“99.

96 Zum kurhessischen Verfassungskonflikt vgl. Frotscher / Pieroth (FN 3), Rn. 357 ff.; Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/ 52, 2004; Huber II (FN 42), S. 908 ff.; 926 ff. 97 Gesetz- und Verordnungssammlung 1852, S. 4. Die 1831er-Verfassung blieb jedoch in Kurhessen unvergessen und wurde schließlich durch landesherrliche Verordnung vom 21. Juni 1862 wieder in Wirksamkeit gesetzt. 98 Der Begriff wird hier auf Verfassungsstaaten beschränkt, in denen der König entsprechend dem monarchischen Prinzip als alleiniger Träger der Staatsgewalt angesehen wurde. Kirsch geht dagegen von einem weiteren Begriffsverständnis aus, das auch die konstitutionelle Monarchie „mit dominierendem Parlament“ und die napoleonische Variante des Konstitutionalismus (Bonapartismus) einschließt; vgl. Kirsch, Monarch und Parlament (FN 18), S. 65; ders., Entwicklung des Konstitutionalismus (FN 18), S. 151. 99 Nipperdey (FN 58), S. 355.

Aussprache Gesprächsleitung: Kraus

Kraus: Das Wort hat Herr Mußgnug. Mußgnug: Herr Frotscher hat den Verfassungswandel beschrieben, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Texten der deutschen Verfassungen vollzogen hat. Ich möchte ergänzend auf den Verfassungswandel hinweisen, der sich außerhalb der Verfassungstexte durchgesetzt hat und für ihn zwei Beispielen anführen: Das erste dieser beiden Beispiele betrifft das auch von Herrn Frotscher angesprochene Initiativrecht der Parlamente. Es kam in den Verfassungstexten nicht nur nicht vor; einige Verfassungen haben es sogar expressis verbis ausgeschlossen. Das lag in der Logik der Dinge. War der Monarch der Gesetzgeber, so gebührte auch die Gesetzgebungs-Initiative allein ihm. Dem Parlament stand lediglich ein Vetorecht zu, und ablehnen kann man nun einmal nur die Anträge eines anderen. Das hat die Landtage in Baden, Württemberg und Bayern freilich nicht im Geringsten gehindert, gleichwohl auch auf dem Felde der Gesetzgebung Initiativen zu ergreifen, wann immer sie das für richtig hielten. Das Instrument dazu bot ihnen das Petitionsrecht, das ihnen sämtliche deutschen Verfassungen ausdrücklich zugestanden haben. Weil die Landtage den Erlass von Gesetzen nicht einfach beantragen konnten, machten sie ihre Gesetzgebungs-Wünsche eben zum Gegenstand einer Petition, mit der sie den Monarchen um die Vorlage eines entsprechenden Entwurfs ersuchten. Diese Petitionen, manchmal auch „Motionen“ genannt, formulierten sie teils mehr, teils weniger ausführlich. Ob sie das Gesetz, das sie gerne zur Zustimmung vorgelegt bekommen wollten, ihrer Petition im vollen Wortlaut beifügten oder seine genaue Formulierung der Regierung überließen, hing von der jeweiligen Situation ab. Was als Initiative verfassungswidrig gewesen wäre, feierte so in der Form der Petition fröhliche Urstände. Letzten Endes jedenfalls erwies sich der in der Theorie so wohlbegründete Ausschluss der parlamentarischen Gesetzgebungs-Initiative in der parlamentarischen Praxis als so gut wie bedeutungslos. Die monarchisch gesonnenen Stimmen in der Literatur regten sich zwar darüber auf. Aber so sehr sie das Umkleiden der unzulässigen Gesetzesinitiativen in das Gewand einer unbedenklichen Petition attackierten, abstellen konnten sie es nicht. Es beherrschte die Verfas-

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sungswirklichkeit schon in der Frühzeit des süddeutschen Konstitutionalismus. Das zweite, wohl noch gewichtigere Beispiel ist die Entwicklung des Ausgabebewilligungsrechts – einer der Angelpunkte der verfassungspolitischen Diskussion der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Verfassungen stellten unmissverständlich klar, dass sie den Landtagen lediglich ein periodisches Steuerbewilligungsrecht zugestehen wollten. Von einem Ausgabebewilligungsrecht indessen redeten sie bewusst mit keinem Wort. Das Steuerbewilligungsrecht stellten sie allerdings mit dem „Staatsausgabenbudget“ auf eine sicherere Grundlage, als dies das altlandständische Verfassungsrecht des 18. Jahrhunderts noch getan hatte. Das Budget war dem Landtag zusammen mit dem Entwurf des in regelmäßiger Wiederkehr neu zu erlassenden „Auflagengesetzes“ vorzulegen, um mit ihm den Steuerbedarf der kommenden Finanzperiode rechnerisch zu belegen; so sagte es zum Beispiel § 55 der Badischen Verfassungsurkunde von 1818. Aber: „Das Recht der Steuerbewilligung ist nicht gleichbedeutend mit dem Rechte, das Staatsausgabenbudget zu regeln“. Dass „die Regierungen … diesen Unterschied bei den Verhandlungen über das Budget genau im Auge behalten“ werden, hat ihnen die Bundesversammlung immer wieder eingeschärft, zuletzt und am eindringlichsten in Art. 20 des Schlussprotokolls der Wiener Ministerkonferenzen vom 12. Juni 1834, das als die „60 Artikel“ in die Geschichte eingegangen ist. Das ausgeklügelte Konstrukt einer Budgetvorlage nur zur Einsicht und Prüfung, jedoch nicht auch zur Genehmigung, entpuppte sich freilich rasch als ein nur schwer und ab 1848 überhaupt nicht mehr zu verteidigender Fehlgriff. Sah das Budget zum Beispiel eine Erhöhung der Schulmeister-Besoldung vor, gab die Regierung die vom Landtag für sie bewilligten Steuern aber für das Hoftheater und für Personalvermehrungen bei den Zensur-Behörden aus, so handelte sie sich damit beim Landtag und in der Presse natürlich geharnischte Proteste ein, gegen die sie mit ihren Hinweisen auf die an sich klare Rechtslage wenig ausrichten konnte. So richtig ihre Berufung auf die fehlende Bindungskraft des Budgets auch war, so wenig mochte sie den empörten Landtag zu überzeugen. Der Landtag verfügte zudem auch mit der Steuerbewilligung über eine scharfe Waffe: Für „budgetwidrige“ Ausgaben konnte er die Regierung bei der nächsten Steuerbewilligung durch entsprechende Einnahme-Kürzungen abstrafen. Das taten die Landtage so denn auch ziemlich regelmäßig. Damit zwangen sie die Regierung nach und nach in die Knie. Auf eine Verfassungsänderung ließen sie sich nicht ein. Aber sie bequemten sich dazu, im Budget nicht mehr länger nur ein unverbindliches Rechenwerk, sondern eben doch das zu sehen, was es von Verfassungs wegen eigentlich nicht sein sollte, die von Regierung und Parlament verbindlich miteinander vereinbarte Festlegung der Staatsausgaben für die kommende Haushaltsperiode. In Bayern hat man das 1843 in einem sogenannten Verfassungsverständnis, einer gemeinsamen

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Verfassungsinterpretation von Regierung und Parlament, festgehalten, nach der das Ausgabenbudget hinfort als „durch den Akt der Steuerverwilligung in quanto et quali obligatorisch“ betrachtet wurde. Der bayrische Landtag erhielt das Ausgabebewilligungsrecht somit para et extra constitutionem, eines der wohl bemerkenswertesten Zeugnisse eines nicht gerade stillschweigenden, aber doch am Verfassungstext vorbeigelaufenen Verfassungswandels. Damit hat sich die Logik der Dinge gegen das in sich nicht recht durchdachte frühkonstitutionelle Verfassungsrecht so eindrucksvoll durchgesetzt, dass es von da an auch dort, wo es die Verfassung nicht wie in Preußen und später im Reich ausdrücklich anerkannt hat, zum Gemeingut des deutschen Verfassungsrechts aufgestiegen ist. Frotscher: Vielen Dank, Herr Mußgnug, für die Ergänzung. Ich muss zunächst darauf hinweisen, dass ich bei meinem Thema schon auch das Problem der Eingrenzung hatte und alle Mühe darauf verwenden musste, in angemessener Zeit jedenfalls die normativen Veränderungen darzustellen. Sie haben aber natürlich zwei Punkte angesprochen, die damals in der politischen Auseinandersetzung eine große Bedeutung hatten. Die süddeutschen Landtage waren ihrer Zeit ja immer etwas voraus, insofern ist es schön, dass Sie darauf hingewiesen haben, und über das Petitionsrecht konnten die Stände sozusagen auf einem Umweg die Gesetzesinitiative materiell in die Hand bekommen. Die Anerkennung eines Initiativrechts blieb jedoch umstritten und war Teil der Auseinandersetzung zwischen dem monarchischen Prinzip und einem liberal bestimmten Konstitutionalismus. Ähnlich sehe ich auch den Streitpunkt der Ausgaben- und Steuerbewilligung – insoweit haben Sie bereits die politische Brisanz aufgezeigt. Die späteren Verfassungskonflikte, etwa in Kurhessen 1850 oder in Preußen 1862, haben sich ja jeweils auch an der Frage entzündet, wie viel Mitsprache die Ständeversammlung beziehungsweise der Landtag bei der Festlegung der Haushaltsausgaben haben sollte. Kraus: Ja bitte, Sie haben das Wort, Herr Kotulla. Kotulla: Herr Frotscher, zum einen erst einmal eine Frage: Sie hatten von Ein- und Zweikammersystemen in den 1830er-Verfassungen berichtet – das ist auch, meine ich, völlig zutreffend, nur: Gibt es dafür Gründe, warum beispielsweise in Kurhessen ein Einkammersystem installiert wird, während es ansonsten ja doch beim vorherrschenden Zweikammersystem bleibt? Das zum einen, zum anderen sprachen Sie vom Kompromisscharakter der 1830er-Verfassungen. Da mag ich doch in gewisser Weise widersprechen, denn eigentlich – wenn wir Kurhessen, Sachsen, Braunschweig und Hannover nehmen – findet das Ganze, außer vielleicht in Hannover, unter ganz massivem Druck statt. In Kurhessen, Sachsen, Braunschweig erleben wir es, dass die Monarchen darüber stolpern und Herrscherwechsel stattfinden. Auf dieser Basis kommen diese neuen Verfassungen letztendlich zustande. Auch

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die Tatsache, dass in Kurhessen wie in Hannover diese Verfassungen ja Zeit ihres Bestehens heftig umstritten bleiben – zeigt das nicht, dass man eigentlich entgegen jeden Kompromisses mit dieser Art Vereinbarungen überfordert war? Kurhessens Verfassung – ohne Frage „fortschrittlich“, aber vielleicht viel zu „fortschrittlich“, um tatsächlich die Grundlage bilden zu können für ein, wenn Sie so wollen, ausgewogenes politisches Zusammenleben, bei aller vielleicht „reaktionären“ Einstellung der kurhessischen Regierung. Dann vielleicht noch als drittes: Preußen nach 1848 – Sie bemerkten, der alte, reaktionäre Geist kehrte zurück, insbesondere nach dem Scheitern der Revolution. Ich glaube, so einfach kann man es sich auch da nicht machen. Wenn man die Zeit nach dem Scheitern der Paulskirche gerne als „Reaktionszeit“ bezeichnet, wenn ich natürlich das Maximum der Entwicklung nehme und vielleicht wirklich die Paulskirchenverfassung als Krönung der Verfassungsgebung ansehe, wie Sie es formuliert haben, dann ist natürlich alles, was danach kommt, zunächst erst einmal eine Art Rückschritt. Aber müssen wir das nicht vielleicht etwas globaler betrachten, indem wir uns vergegenwärtigen, dass ein größerer Teil der deutschen Staaten bis 1848 gar keine Verfassung hatte, und dass dann alle deutschen Staaten – außer Österreich – eine Verfassung bekommen und auch behalten! Es traut sich niemand mehr, Reaktion hin oder her, diese Entwicklung grundlegend zurückzudrehen. Und auch diese Art der Reaktion, wie Sie sie geschildert haben, ist letztendlich nur etwas Ephemeres, denn wir haben ab 1857 / 1858 schon wieder eine „Neue Ära“, und es setzt dann eigentlich eine gänzlich andere Entwicklung ein. Danke schön. Kraus: Bitte, Herr Frotscher. Frotscher: Herr Kotulla, zunächst zu Ihrer Frage nach den Ein- und Zweikammersystemen. Das Einkammersystem ist mit Blick auf die weitere Entwicklung des Parlamentarismus als die modernere Variante zu bezeichnen – das ist auch damals so diskutiert und gesehen worden. Der Vater der kurhessischen Verfassung, Sylvester Jordan, hat sich dazu allerdings relativ unentschieden geäußert. Wenn man jedoch versucht, einen Überblick über die Verfassungsentwicklung zu gewinnen, muss man das Einkammersystem als die fortschrittlichere Variante einer Volksvertretung ansehen. Ich habe ja zugleich darauf hingewiesen, dass in der aus einer Kammer bestehenden Ständeversammlung in Kassel durchaus auch Adelsvertreter saßen; die alten, fürstlichen Familien dort also weiterhin repräsentiert waren. Ähnlich verhielt es sich mit der Landschaft in Braunschweig, wo auch eine Bank von der Ritterschaft gestellt wurde. Soviel zu dem Punkt „Einkammersystem“. Ihr zweiter Punkt betraf den Kompromisscharakter der 1830er-Verfassungen. Hier geht es um eine Frage der grundsätzlichen Bewertung verfassungsgeschichtlicher Entwicklungen. Es wäre sicherlich zu einfach – und so möchte ich auch nicht verstanden werden –, die politischen Verhältnisse

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in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur aus heutiger Perspektive zu kritisieren. Aber gerade bei der Beurteilung der konstitutionellen Bewegungen und der damit korrespondierenden Verfassungen des süd- und mitteldeutschen Konstitutionalismus findet man häufig Erklärungen dahingehend, diese Verfassungen seien an ihren inneren Widersprüchen und an ihrem Kompromisscharakter gescheitert. Das sehe ich persönlich völlig anders: Sie sind an den politischen Machtverhältnissen gescheitert. Und wo Sie auch Kurhessen ansprechen, dort hätte man nicht so einfach eine Vereinbarung mit der kurhessischen Regierung und dem Kurfürsten über ein ausgewogenes politisches Zusammenleben treffen können. Dort wurde bewusst der „hochkonservative“ – der Begriff ist so schön zurückhaltend – Minister Hassenpflug mit der Regierung betraut, und dieser hat es faktisch von Anfang an darauf angelegt, die liberalen Bestrebungen scheitern zu lassen. Er hat den Konflikt gesucht. Auf der Gegenseite stand Sylvester Jordan, kein Aufrührer, der von heute auf morgen die Demokratie einführen und die alten Stände abschaffen wollte, sondern jemand, der auf Ausgleich mit der Monarchie bedacht war. Von daher sehe ich sehr wohl die Möglichkeit – im Nachhinein sicherlich immer einfacher gesagt –, dass eine friedliche Weiterentwicklung in Kurhessen, und ähnlich auch in anderen Staaten, denkbar gewesen wäre, wenn man eine entsprechend liberale Regierung eingesetzt hätte. Damit komme ich zu dem letzten Punkt. Ich habe bewusst, und durchaus in Erwartung von Widerspruch, die preußische Entwicklung ab dem Herbst 1848 mit den scharfen Worten von Rüdiger Hachtmann als Rückkehr des „alten, reaktionären Geistes“ gekennzeichnet. Ich meine schon, dass im Unterschied zu anderen, kleineren Staaten gerade die beiden deutschen Großmächte und insbesondere Preußen das Projekt einer evolutionären Verfassungsentwicklung nicht gefördert, sondern im Gegenteil zu Fall gebracht haben. Als der preußische König, Friedrich Wilhelm IV., in den Märztagen 1848 machtpolitisch in der Defensive war, hatte er sich noch an seine „lieben Berliner“ gewandt, ihnen die sofortige Einführung einer Verfassung versprochen und um Rücksicht auf die leidende Königin gebeten. Die aufständischen Bürger konnten darin eigentlich nur das Versprechen einer auf den Prinzipien der Paulskirche beruhenden Verfassung erkennen. Mit der Gegenrevolution wurde das konstitutionelle Rad stattdessen zurückgedreht, und so kann man schon von einem reaktionären Geist sprechen, der erst später wieder in neue Bahnen gelenkt wurde. Kraus: Wir haben jetzt noch fünf Wortmeldungen. Ich möchte auch alle noch berücksichtigen, aber wenn es Ihnen recht ist, Herr Frotscher, sammeln wir die Fragen, und ich darf alle bitten, sich mit Blick auf die Zeit ganz knapp zu fassen. Die Reihenfolge bilden Frau Manca, Herr Klippel, Herr Brauneder und Herr Ruppert. Frau Manca, bitte.

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Manca: Herr Frotscher, ich möchte eine Frage zu Ihrer Behauptung stellen, wonach alle die von Ihnen behandelten Verfassungen eine Gewaltenteilung vorgesehen hätten. Es scheint mir nämlich, dass eine regelrechte Gewaltenteilung gerade unter der Regierungsform der konstitutionellen Monarchie prinzipiell undurchführbar wäre. Hat man nicht sowohl historisch als auch begrifflich von einer konstitutionellen Monarchie nur dann gesprochen bzw. sprechen können, wenn die gesetzgebende Gewalt nur durch die Kooperation von Monarch und Ständen beziehungsweise Kammern zustande gekommen war beziehungsweise zustande kommen sollte? Sollte man nicht präziser in Beziehung zu den konstitutionellen Monarchien des Zeitalters des Deutschen Bundes von einer bloße Unterscheidung der Gewalten sprechen? Das wäre die erste Frage. Auch meine zweite Frage geht genauso wie die erste aus einer nicht bloß begrifflichen Schwierigkeit hervor. Wenn ich richtig verstanden habe, haben Sie ausgeführt, bei den frühkonstitutionellen Verfassungen hätte der Monarch sowohl als konstituierte als auch als verfassunggebende Gewalt gewirkt. Dazu möchte ich fragen, ob die Verwendung des Terminus „verfassunggebende Gewalt“ nur für modernere (schriftliche) Verfassungen zu reservieren wäre, also auf Verfassungen, die wirklich im Sinn haben, einen vom Grund auf ganz neuen Staat zu errichten und zu konstituieren? Schließlich meine dritte Frage. Der Titel Ihres Vortrags lautet „Verfassungsänderungen in der Zeit des Deutschen Bundes“. Sie haben allerdings vorwiegend von den sogenannten Verfassungswellen im Deutschland des 19. Jahrhunderts geredet, das heißt von den wesentlichen drei Konstitutionalisierungswellen, die die einzelnen Bundesstaaten zu konstitutionellen Staaten werden ließen. Aber ich frage nun: Heißt das, dass Ihrer Meinung nach keine (formelle beziehungsweise materielle) Verfassungsänderungen im inneren Aufbau und in der gesamten Struktur des Deutschen Bundes festzustellen sind? Kraus: Vielen Dank. Dann Herr Klippel. Frotscher: Entschuldigung, aber könnte ich nicht doch ganz kurz antworten? Dann ist es einfacher, im richtigen Zusammenhang zu bleiben. Kraus: Gut, aber bitte knapp. Frotscher: Ja, ich mache es knapp. Zu dem Problem der Gewaltenteilung in der konstitutionellen Monarchie: Wenn man auf die Staatsgewalt abstellt und auf die Begrifflichkeit, die wir heute haben, dann gab es aufgrund des monarchischen Prinzips keine Gewaltenteilung. Es war aus meiner Sicht aber denkbar, dass sich eine konstitutionelle Monarchie weiterentwickelte und es unter Aufgabe des monarchischen Prinzips dann doch zu einer Gewaltenteilung kommt wie in der Paulskirchen-Verfassung von 1849.

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Nun zur verfassunggebenden beziehungsweise verfassungsändernden Gewalt: Die Unterscheidung gibt es auch in der französischen Staatslehre, nach meiner Kenntnis auch schon damals. Und schließlich haben Sie die Änderungen der Bundesverfassung angesprochen: Da der Deutsche Bund keine Verfassung im formellen, wohl aber im materiellen Sinn hatte, habe ich versucht, die enorme Änderung der Bundesverfassung durch die Ausnahmegesetzgebung herauszustellen. Der Bund hat immer stärker mit bundesstaatlichen Mitteln, wie es teilweise in der Literatur heißt – meiner Ansicht nach waren es noch nicht einmal bundesstaatliche, sondern zum Teil zentralstaatliche Mittel –, in die Landesverfassungsverhältnisse eingegriffen, und das war sicher nicht in der ursprünglichen Bundesverfassung so vorgesehen. Vielen Dank. Kraus: Dann Herr Klippel, Herr Brauneder und Herr Ruppert – aber ich darf bitten: Ganz, ganz kurz, wir müssen dann mit dem nächsten Vortrag fortfahren. Bitte, Herr Klippel. Klippel: Herr Frotscher, Sie sind Ihr Thema gewissermaßen aus der Vogelperspektive angegangen, was ja angesichts des Zeitraums und der Zahl der Verfassungen, die zu behandeln waren, verständlich ist. Trotzdem möchte ich auf eine andere Perspektive hinweisen. Man könnte ja auch fragen: Haben sich Verfassungsänderungen bei den einzelnen Verfassungen der einzelnen souveränen deutschen Staaten ergeben? Das ist ein umfassendes Thema, aber dennoch die Frage: Gibt es bei diesen ausdrückliche Änderungen von Verfassungsnormen und gibt es Verfassungsänderungen durch anderweitiges rechtliches Handeln – Sie haben ja von Verfassungskämpfen gesprochen. Gibt es irgendwelche systematisierenden Ansätze, die sich insofern anbieten? Kraus: Herr Brauneder, bitte. Brauneder: Erste Bemerkung von zweien: Anknüpfung an die Charte constitutionelle – natürlich, aber gibt es daneben nicht auch noch Anknüpfungen an den rheinbündischen Konstitutionalismus? Die bayerische Verfassung von 1818 gibt sich ja ausdrücklich als eine Neuauflage der bayerischen Konstitution von 1808 aus. Möglicherweise gibt es diese Vorbildhaftigkeit auch bei anderen Staaten. Zweitens, sozusagen eine Ehrenrettung der Paulskirchen-Verfassung. Es ist, ich darf das jetzt sehr pointiert formulieren, unrichtig, dass das Reichsgericht erst 100 Jahre nach der Paulskirchen-Verfassung realisiert worden ist. Das Reichsgericht ist bereits knapp 20 Jahre danach realisiert worden, allerdings nicht im Rahmen des Deutschen Bundes, sondern in der österreichischen Verfassung von 1867. Dort hat man ausdrücklich auf das Reichsgericht der Paulskirchen-Verfassung zurückgegriffen. Danke.

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Kraus: Und noch ganz kurz Herr Ruppert. Ruppert: Ja, ich wollte folgenden Punkt ansprechen, den Sie auch angesprochen haben: Durfte denn der Deutsche Bund überhaupt in dem Umfang eingreifen, wie er 1832, 1834 und in anderen Fällen eingegriffen hat? Ich finde, da kommen wir auf ein Grundsatzproblem, das auch schon bei der Goldenen Bulle da war, nämlich die Tatsache, dass Verfassungen unglaublich offen sind zum politischen System und auch Machtfragen sind. Die Frage wäre doch: Wer hätte das verhindern können, wer hätte das verbieten können? Der Deutsche Bund war ja von seinem Grundsatz her nichts anderes als ein Instrument der Großmächte, um die Mittelmächte und die kleineren Mächte innerhalb Deutschlands auf die politische Linie der Großmächte zu bringen. Das war sein Kern, und insofern sind diese Maßnahmen sowohl 1832 / 1834 als auch in den 1850er Jahren nur konsequenter Ausfluss dieses Prinzips. Einen Hinweis möchte ich noch geben, der grundsätzlicher Art ist und das Thema unserer Tagung berührt, nämlich die Verfassungsänderung: Diesen Begriff haben Sie zweimal gebraucht in einem Zusammenhang, den ich nicht so glücklich finde. Sie haben gesagt, die konstitutionellen Verfassungen Süddeutschlands seien Verfassungsänderungen gegenüber dem Absolutismus. Für mich ist eine Verfassungsänderung nur eine Reform, eine Änderung innerhalb eines bestehenden Systems. Aber der Bruch zwischen dem Absolutismus und den konstitutionellen Verfassungen ist faktisch so groß, dass man von einer Revolution, von einer Neubegründung eines Systems sprechen muss und nicht mehr von Verfassungsänderungen sprechen kann. Man unterschlägt ja dann Französische Revolution, Befreiungskriege und Napoleon. Und genauso ist es natürlich auch beim Übergang vom Deutschen Bund zur Frankfurter Paulskirchen-Verfassung: Das ist die Neubegründung einer Verfassung, eines neuen Systems. Das ist keine Verfassungsänderung mehr. Kraus: Sie haben das Schlusswort, Herr Frotscher. Frotscher: Ich beantworte zunächst die Frage beziehungsweise den Hinweis von Herrn Klippel: Sie haben den Blick auf die Einzelverfassungen gelenkt, die ich in Bezug auf ausdrückliche oder informelle Verfassungsänderungen kaum angesprochen habe. Um jedoch einen solchen Verfassungswandel darzustellen – das hängt auch mit der Frage von Herrn Mußgnug zusammen –, dafür hat die Redezeit bei diesem Thema nicht gereicht. Verfassungsänderungen im formellen Sinn, also Verfassungsrevisionen, hat es – soweit ich das untersucht habe – nur in geringem Umfang gegeben, ohne dass man daraus in dieser Zeit besondere Entwicklungen ableiten könnte. Deshalb habe ich das Thema von Anfang an, auch nach Rücksprache mit dem Vorstand, nicht auf die Verfassungsänderung im formellen Sinn aus-

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gerichtet, sondern einen materiellen Begriff gewählt und dahingehend definiert, dass er alle Veränderungen der bisherigen Verfassungsrechtslage erfasst. So wollte ich hier einen Überblick über die Entwicklung in der Zeit des Deutschen Bundes geben. Wenn ich eines der nachfolgenden Tagungsthemen behandelt hätte, wenn ich also eine Verfassung vorgefunden hätte wie 1870, wie 1919 und erst recht wie 1949, dann hätte ich ganz sicher die Verfassungsänderung im formellen Sinn zum Gegenstand meiner Ausführungen gemacht. Aber mein begrifflicher Ansatz erscheint mir gut vertretbar, denn der Begriff der Verfassungsänderung ist genauso offen wie der der Verfassung. Man kann mit dem Begriff der Verfassungsveränderung schon einen Unterschied zum bisherigen Verfassungsrecht feststellen, juristisch macht das eigentlich kein großes Problem. Gleichgültig, ob die Verfassungsänderung grundsätzlicher Art ist, ob eine Revolution oder ein Befreiungskrieg zwischen altem und neuem Recht liegen, der bisherige Verfassungszustand hat sich geändert. Hinter der Rechtsänderung, das muss man natürlich bei der Bewertung berücksichtigen, stehen größere oder kleinere politische Veränderungen oder gar eine Revolution. Ich gehe weiter: Herr Brauneder, Ihnen kann ich eigentlich nur zustimmen. Wenn man sich mit der bayerischen Verfassung näher beschäftigen wollte, müsste man auch auf die Fortwirkung der Verfassung von 1808 – und damit ist man beim Rheinbund – näher eingehen. Es bedeutet natürlich eine gewisse Verkürzung, wie ich die Verfassungen zusammengefasst und dann wesentlich auch das französische Vorbild herangezogen habe. Dabei geht es mir einfach auch darum, noch einmal deutlich zu machen: Es gab keinen deutschen Sonderweg in der Verfassungsentwicklung, sondern es gab ein gemeineuropäisches Phänomen des monarchischen Konstitutionalismus. Zum Reichsgericht: Recht vielen Dank für die Ergänzung. Obwohl ich auch die österreichische Verfassungsentwicklung in den Blick genommen habe, ohne Ihrem Vortrag vorgreifen zu wollen, habe ich im Zusammenhang mit der gescheiterten Reichsverfassung von 1849 nur herausstellen wollen, wie lange es noch gedauert hat, bis das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde im Verfassungsrecht der Bundesrepublik verankert wurde. Herr Ruppert, eine Frage von Ihnen habe ich noch nicht beantwortet. Sie betrifft die Veränderungen, die der Deutsche Bund vorgenommen hat, sein Eingreifen 1819 oder 1832 / 1834, die dahinter stehende politische Linie, sowie die Frage, wer es hätte verhindern sollen. Die Änderungen erfolgten ja nicht in der Weise, dass es – wie wir es heute kennen – eine Verfassungsurkunde gab, die formell und ausdrücklich durch Gesetz geändert wurde. Stattdessen wurde die ursprüngliche Bundesverfassung durch die Bundesausnahmegesetze und die Bundesreaktionsbeschlüsse in ihrem Kern verändert. Selbstverständlich gab es keine Sanktionen und vor allem kein Reichs-

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gericht oder oberstes Bundesgericht, wie es wohl geheißen hätte, das den Einzelstaaten hätte helfen können. Aber je länger ich mich mit dem Problem beschäftigt habe, desto auffälliger ist für mich, wie dieser lockere völkerrechtliche Verein sich verändert hin zu einem (geradezu unitarischen) Bundesstaat, für den es aber keine entsprechende Organisation und Verfassung gab. Ich sollte es knapp machen, daher bedanke ich mich bei den Diskutanten und räume den Platz. Kraus: Vielen Dank, Herr Frotscher.

„Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung“ Änderungen des Reichsverfassungsrechts zwischen 1871 und 1918 Von Reimund Schmidt-De Caluwe, Halle / Saale I. Einleitung Sucht man in den Gesetzblättern des Deutschen Reiches nach Gesetzen zur Änderung der Reichsverfassung von 18711, stößt man auf ganze vierzehn in dieser Weise ausgewiesene Regelungen, die den Verfassungstext modifizieren oder sich zumindest ausdrücklich selbst als verfassungsändernd deklarieren.2 Dass dieser eher schmale Befund über die Zeitspanne des fast fünfzig Jahre3 währenden Kaiserreichs keinen vollständigen Überblick über die Verfassungsentwicklung geben kann, liegt auf der Hand und lässt sich schon 1907 bei Paul Laband nachlesen: „Die Verfassung des Deutschen Reiches […] ist nicht mehr die gleiche, wie zur Zeit ihrer Errichtung. […] (Sie) hat sich in großartiger Entwicklung fortgebildet, wie ein aus dem Keime erwachsener Baum. In der Verfassungsurkunde selbst hat diese Umgestaltung nur zu einem Teil […] Ausdruck gefunden […].“4

Eher kritisch kommentiert Georg Jellinek fast zeitgleich diese Entwicklung: Es „herrscht hier eine unglaubliche Systemlosigkeit bezüglich der Verfassungsänderung, die zur Folge hat, daß heute niemand aus dem Texte der Verfassung ein auch nur einigermaßen zutreffendes Bild von den Grundlagen des Reiches erhält.“5

Stimmen Verfassungstext und Verfassungsrechtslage also offenkundig nicht überein, so kann eine Betrachtung der Verfassungsentwicklung des 1

Deutsche Reichsverfassung vom 16. April 1871 (Bundesgesetzblatt 1871, S. 64 ff.). Zum Überblick vgl. etwa Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918, 1. Bd., Berlin / Heidelberg 2006, S. 294 f. 3 Die bismarcksche Reichsverfassung blieb faktisch bis zum November 1918 in Wirkung; formalrechtlich wurde sie durch Art. 178 der Weimarer Reichsverfassung vom 14. August 1919 aufgehoben. 4 Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, in: JöR 1 (1907), 1. 5 Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906, S. 14. 2

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Reimund Schmidt-De Caluwe

Reiches nicht allein auf die positivierten Änderungen in der Verfassungsurkunde beschränkt bleiben. Die Beantwortung der Frage, welche sonstigen Veränderungen des Verfassungsrechts erkennbar werden, verlangt zunächst, sich Klarheit darüber zu verschaffen, in welcher Weise die Kategorie des Verfassungsrechts des Kaiserreiches näher zu bestimmen ist. Erst danach können Verfassungsänderungen in den Blick genommen werden. Es bedarf mithin zu Beginn einiger Begriffsklärungen.

II. Begriffe: Verfassung und Verfassungsänderung Ausgangspunkt der Betrachtung bleibt allerdings notwendig der Verfassungstext. Zum Thema Verfassungsänderung fällt der Blick sonach auf die einzig unmittelbar einschlägige Bestimmung des Art. 78 RV6 mit seiner in Absatz 1 getroffenen Regelung: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben.“7 Für die Reichsgesetzgebung ist nach Art. 5 Abs. 1 RV „die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse“ von Bundesrat und Reichstag „erforderlich und ausreichend“. Qualifizierte Mehrheiten für eine Verfassungsänderung im Vergleich zur gewöhnlichen Gesetzgebung sind also nur im Bundesrat, nicht aber im Reichstag erforderlich. 1. Verfassung als Verfassungsgesetz

Bei der Annäherung an den Begriff der „Verfassung“ im Sinne des Art. 78 RV und denjenigen der „Veränderung der Verfassung“ in diesem Rahmen lässt sich bei Georg Jellinek die wohl herrschende Auffassung nachlesen, wonach „das wesentliche Merkmal von Verfassungsgesetzen (…) ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Geltungskraft liegt.“8 Grundlage der erhöhten Geltungskraft des Reichsverfassungsrechts im Verhältnis zu gewöhnlichen Reichsgesetzen ist allein das Ablehnungsquorum im Bundesrat nach 6 Zur Entstehungsgeschichte vgl. H. Wittmaack, Ist die Reichsgesetzgebung zuständig, die Verfassungen der einzelnen Bundesstaaten zu regeln?, in: PreußVwBl. 39 (1917/ 18), S. 133, 137 f. 7 Abs. 2 fügte hinzu: „Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.“ Auf Abs. 2 soll hier nicht näher eingegangen werden. Auch hierzu war zwar vieles umstritten; insbesondere standen sich zu der Frage, was zu den insoweit maßgeblichen jura singulorum gehörte, eine Reihe engerer und weiterer Interpretationen gegenüber (vgl. dazu und zur Entstehungsgeschichte der Norm ausführlich und mit weiteren Nachweisen Wilhelm Wiese, Verfassungsänderungen nach Reichsrecht, Breslau 1906, S. 32 ff.). In der Praxis der Verfassungsänderungen spielte die Vorschrift indes keine Rolle. 8 Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Berlin 1914, S. 534.

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Art. 78 Abs. 1 S. 2 RV9 (14 von 58 Stimmen10). Insofern erfüllt die Reichsverfassung die Voraussetzungen dieses formellen Begriffs des Verfassungsgesetzes. „Verfassung“ im Rahmen des Art. 78 RV wurde – nahezu durchgängig11 – mit diesem formellen Begriff des Verfassungsgesetzes identifiziert und war – ergänzt um einige, durch Verweisungsnormen inkorporierte einfachgesetzliche Regelungen12 – also allein dasjenige Recht, das in der Verfassungsurkunde beheimatet war.13 In Konsequenz nahmen dann auch nur diejenigen Verfassungsänderungen, als wiederum formelles Verfassungsgesetzesrecht, zukünftig am Schutz des Art. 78 RV teil, die im Text der Verfassungsurkunde selbst Ausdruck fanden. Eine solche Form, also die textliche Änderung in der Verfassungsurkunde, war aber durch Art. 78 Abs. 1 RV keineswegs vorgeschrieben und wurde allgemein auch nicht als notwendig erachtet14. Die insofern möglichen schlicht verfassungsändernden gesetzlichen Regelungen ohne Änderung des Textes der Verfassungsurkunde konnten, da sie selbst nicht als Verfassungsgesetz galten, sodann im regulären Gesetzgebungsverfahren geändert werden, ohne dass diese weiteren Änderungen an die Voraussetzungen des Art. 78 Abs. 1 RV gebunden waren. Dies galt auch dann, wenn die weiteren Änderungen sich noch stärker vom Inhalt der ihnen an sich entgegenstehenden, ursprünglichen Verfassungsnorm entfernten.15

9 Jedenfalls konnte gegen Preußen mit seinen 17 Stimmen im Bundesrat (Art. 6 Abs. 1 RV) kein verfassungsändernder Beschluss im Sinne des Art. 78 Abs. 1 RV gefasst werden. 10 Zur Gesamtstimmenzahl vgl. Art. 6 RV. 11 Robert von Mohl, Das deutsche Reichsstaatsrecht, 1873, S. 43 f.; Ludwig von Rönne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, Leipzig 1877, S. 20; Andreas Haenel, Deutsches Staatsrecht, Bd. 1, Leipzig 1892, S. 774; Paul Laband, in: ders. / Albert Leoni, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches und der deutschen Staaten, Bd. I, Freiburg 1887, S. 82; Adolf Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Berlin 1901, S. 186; Eugen von Jagemann, Die Deutsche Reichsverfassung, Heidelberg 1904, S. 227; anderer Ansicht Philipp Karl Ludwig Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 2. Aufl. Berlin 1897, S. 432, wonach Verfassung im Sinne des Art. 78 RV auch jedes Gesetz umfasse, welches materiell eine Verfassungsänderung enthalte. 12 Etwa die durch § 5 des Wahlgesetzes vorbehaltenen gesetzlichen Regelungen für die süddeutschen Gebiete, auf die Art. 20 Abs. 2 RV verweist. 13 Zur entsprechenden systematischen Auslegung stellvertretend und mit weiteren Nachweisen etwa Wiese (FN 7), S. 6 ff. 14 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung, Freiburg 1887, S. 263; ders. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Handbuch des Öffentlichen Rechts, Bd. II, 1. Abteilung, 2. Aufl. Freiburg / Leipzig 1894, S. 37 ff. 15 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 5. Aufl. Tübingen 1911, S. 41; Jellinek (FN 8), S. 538.

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Reimund Schmidt-De Caluwe 2. Verfassungsgesetz ohne Verfassungsvorrang

Die damit im Laufe der Zeit sukzessive einhergehende Erosion des in Art. 78 Abs. 1 RV statuierten, ohnehin eher geringen verfahrensrechtlichen Schutzes des Verfassungsgesetzes16 harmonierte durchaus mit dem vorherrschenden Verfassungsrechtsverständnis der zeitgenössischen Staatsrechtslehre. Die erschwerte Abänderbarkeit des Verfassungsgesetzes wurde, anders als heute unter dem Grundgesetz und wie in jedem demokratischen Verfassungsstaat, nicht als formell-verfahrensrechtliche Flankierung seiner Höherrangigkeit im Verhältnis zum gewöhnlichen Gesetz begriffen, die seiner grundlegenden inhaltlichen Bedeutsamkeit Ausdruck verleiht.17 Dies könne, so Laband, schon deshalb nicht angenommen werden, „weil es keinen höheren Willen im Staate [gibt] als den des Souveräns, und in diesem Willen wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfassung wie der Gesetze. Die Verfassung ist keine mystische Kraft, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich.“18

Vor dem Hintergrund des monarchisch-konstitutionellen Staatsverständnisses, das nur eine Selbstbindung des souverän begriffenen Staates zuließ, ist dies nur folgerichtig. Anschütz spricht insoweit anschaulich von einem „Monolog“ des Gesetzgebers.19 Es ist wohl zutreffend, wenn davon ausgegangen wird, dass in der dualistischen Struktur des Konstitutionalismus des Reichs, die die Souveränitätsfrage – quasi innerhalb des Staates – zwischen Volk und Krone in der Schwebe hielt, ein rechtlich wirksamer Vorrang der Verfassung nicht möglich erschien. Denn dies hätte eine Verfassung als 16 Zu den geringen Anforderungen vgl. Kotulla (FN 2), S. 293. Insoweit eindrücklich aus zeitgenössischer Sicht die Kritik des Zentrumspolitikers Ludwig Windthorst in der Debatte des Reichstags über eine Verfassungsveränderung zur Verlängerung der Legislaturperiode (RT-Protokoll, 27. Sitzung vom 1. Februar 1888, S. 653, 656): „Meine Herren, eine Verfassungsveränderung, mag sie heißen, wie sie will, ist immer etwas sehr Bedeutsames und soll nur im äußersten Nothfall versucht und erstrebt werden.“ Der Antrag auf Verfassungsänderung sei aber ohne Veranlassung gestellt worden und um so bedenklicher, weil „wir leider in unserer Verfassung gar keinen Schutz haben für die Verfassung, der in irgend welcher Weise die Verfassungsveränderungen erschwert. Im Bundesrath ist ja so eine kleine Nüance, die als ein Schutz angesehen werden soll, die aber dort in der That an sich nichts bedeutet bei den bekannten Verhältnissen, in denen wir uns befinden. Bei uns aber ist die Sache so gelegen, daß jede Verfassungsänderung behandelt wird, wie wenn man ein neues Postgebäude bewilligt.“ 17 Vgl. etwa Peter Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 160 Rn. 3 ff. 18 Laband (FN 15), S. 39; ebenso bereits ders. (FN 11), S. 82; in der Sache übereinstimmend etwa Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrecht, 7. Aufl., München / Leipzig 1911, S. 644, 743; Jellinek, Gesetz und Verordnung (FN 14), S. 262 ff. 19 Gerhard Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt, 2. Aufl. 1901, S. 52.

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gemeinsame Legitimationsgrundlage der im Widerstreit befindlichen Kräfte vorausgesetzt, die als Grundlage deren Kompetenzen und Befugnisse anzuerkennen wäre.20 Genau dem sollte aber durch das „Zusammenspannen“ von Parlament und Krone im Gesetzgebungsprozess in Form des dauerhaften Zwangs zum Kompromiss entgangen werden.21 Jedenfalls ist es bei der sonach angenommenen Gleichordnung von Verfassungsgesetz und einfachem Reichsgesetz nur konsequent, dass der Grundsatz „Lex posterior derogat priori“ auch in diesem Verhältnis ungeschmälert gilt, wenn nur Art. 78 RV beachtet wird.22 Dass das Gesetz seinem Inhalt nach mit der Verfassung in Einklang stehen muss, wird allein als ein Postulat der Gesetzgebungspolitik angesehen und durchaus auch gefordert. Als Rechtssatz hingegen, aus dem bei Verstoß die Nichtigkeit folgte, existierte ein Verfassungsvorrang nicht.23

3. Keine effektive Verfahrenssicherung

Letztlich zeigte sich darüber hinaus sogar die Beachtung der Verfahrenserfordernisse des Art. 78 RV als eine im Wesentlichen nur rechtspolitische Markierung. Wie insgesamt ein materielles richterliches Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen mangels Verfassungsvorrang abgelehnt wurde, so bestand auch kein richterliches Prüfungsrecht hinsichtlich der formellen Fragen der Verfassungsänderung. Die Sanktion durch den Kaiser mittels der von ihm vorzunehmenden Ausfertigung verbürgte mit absoluter Rechtskraft, dass das Gesetz verfassungsgemäß einwandfrei zustande gekommen sei.24 „Nicht jeder Richter und Beamte, sondern der Kaiser ist zum Wächter und Hüter der Reichsverfassung gesetzt.“25 Zudem war schon eine Überprüfung und Feststellung des Abstimmungsverfahrens und -ergebnisses wegen der Geheimhaltungspflicht zu den Beratungen faktisch nahezu unmöglich. 20 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485, 494 f.; vgl. auch Werner Heun, Das monarchische Prinzip und der deutsche Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Jörn Ipsen / Edzard Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Rauschning, Köln [u. a.] 2001, S. 41, 52 ff. 21 Heinrich Amadeus Wolff (Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, Tübingen 2000, S. 282 f.) weist zwar mit vielfältigen Verweisen auf landesverfassungsrechtliche Regelungen zutreffend darauf hin, dass durchaus eine Reihe von Anhaltspunkten erkennbar sind, die eine Auslegung der Verfassung als höherrangiges Recht hätten tragen können. Dass dies nicht oder doch nur sehr vereinzelt geschah, zeigt aber, wie fern diese Vorstellung dem herrschenden Staatsverständnis war. 22 Laband (FN 4), S. 40. 23 Laband, ebd. 24 Vgl. Jellinek, Staatsrecht (FN 14), S. 402 ff., Laband (FN 15), S. 44 ff.; Meyer /Anschütz (FN 18), S. 736 ff. 25 Paul Laband, Staatsrecht, Bd. 2, S. 46.

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„Wo […] ein richterliches Prüfungsrecht der Gesetze auf ihre materielle Übereinstimmung mit der Verfassung nicht existiert, da ist, was immer auch die juristische Theorie behaupten möge, keine Garantie gegeben dafür, daß einfache Gesetze nicht im Widerspruch mit dem Verfassungsrecht die Verfassung rechtsgültig ändern.“26

Das Reichsgericht lehnte ausdrücklich ein materielles Prüfungsrecht wie auch nur eine verfassungskonforme Auslegung ab.27 Verfassungsmäßige Gewährleistungen seien allein als Normen für die gesetzgebende Gewalt aufzufassen und berechtigten den Richter nicht, Gesetze die im Widerspruch zur Verfassung stehen, als unwirksam zu behandeln.28 Eine dezidierte Gegenposition vertrat – als Wortführer einer Mindermeinung und noch in der Traditionslinie von Welcker29 und von Mohl30 – von Rönne, der ausgehend von der „Fundamentaleigenschaft des Staatsgrundgesetzes“ einen Vorrang der Verfassung annahm und deshalb die Einhaltung der Formen einforderte. Das einfache Gesetz müsse in dem Verfassungstext eine Grundlage finden, gegebenenfalls müsse zuvor die Verfassung in ihrem Text geändert werden.31 4. Verfassung als rechtspolitischer Appell

Konstatieren lässt sich mit Blick auf die herrschende Anschauung und Praxis sonach, dass Art. 78 RV rechtsnormativ keinen relevanten Schutz einer besonderen Geltungskraft der Verfassungsgesetze bot, ebenso wenig lässt sich von einer rechtsnormativen Steuerungswirkung des Verfassungsgesetzes für die Gesetzgebung überhaupt sprechen. Die bisweilen ausdrücklich getroffenen Beurteilungen, dass einzelne gesetzliche Regelungen „materiell verfassungswidrig“ seien32, münden allein in eine Forderung an den Gesetzgeber zu Korrektur.33 Dies lässt, wie Rainer Wahl anschaulich ausgeführt hat34, nur ein Verständnis der Verfassung zu, das deren inhaltliche Vorgaben und Prinzipien als Direktiven für den politischen Prozess begreift, die sich nicht durch das Recht, sondern allein in den Auseinandersetzungen bei der Gesetzgebung unter Einbeziehung der öffentlichen Meinung realisie26

Jellinek (FN 8), S. 538. Urteil vom 17. Februar 1883, RGZ 9, 232 ff. 28 Ausführlich dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 1058 ff. 29 Carl Welcker, Art. „Gesetz“, in: Das Staatslexikon, Bd. 4 (1847), S. 695, 702, 705. 30 Robert von Mohl, Über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1 (1860), 66, 81 ff., 88 ff. 31 Rönne (FN 11), S. 33. 32 Paul Laband, Staatsrecht, Bd. 4, 5. Aufl. Leipzig 1911, S. 380. 33 Paul Laband, Eine staatsrechtliche Erörterung zum Entwurf des neuen Zolltarifgesetzes, in: DJZ 1902, 1, 4. 34 Wahl (FN 20), S. 495 f. 27

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ren kann. Damit lag das Schwergewicht der inhaltlichen Festlegungen der Verfassung in einer „programmatisch-appellativen Bedeutung“.

5. Verfassungspolitische Argumentation in der Praxis

In der parlamentarischen Debatte und in der öffentlichen Auseinandersetzung hatte die verfassungsrechtlich inspirierte rechtspolitische Argumentation durchaus einiges Gewicht.35 Dies lässt sich etwa an der Auseinandersetzung um das Zolltarifgesetz vom 15. Juli 187936, insbesondere zu der in dessen § 7 enthaltenen, nach dem Zentrumsabgeordneten Freiherr von Franckenstein so genannten „Franckensteinschen Klausel“, veranschaulichen. Danach war derjenige Ertrag der Zölle und der Tabaksteuer, welcher jährlich 130 Mio. Mark übersteigt, „den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bevölkerung, mit welcher sie zu den Matrikularbeiträgen herangezogen werden, zu überweisen.“ Ziel der Bestimmung war es, die finanzielle Autonomie des Reiches, die durch die Einnahmen aus der seit 1879 verfolgten Schutzzollpolitik weitgehend möglich gewesen wäre, durch die Abschöpfung zugunsten der Bundesstaaten zu verhindern. Das Reich sollte weiterhin auf die Matrikularbeiträge angewiesen sein37, die mit den Überschusszahlungen des Reiches aus den Zolleinnahmen verrechnet wurden. Bis etwa Mitte der 1890er Jahre, also bis zum Beginn verstärkter Aufrüstung und Flottenpolitik, ergab dies durchgehend einen Überschuss zugunsten der Bundesstaaten. Die Klausel stand recht offensichtlich im Gegensatz zu Art. 38 RV, der die Zolleinnahmen der Reichskasse zuordnete. Auch widersprach sie Art. 70 S. 1 RV, wonach die Zolleinnahmen zur „Bestreitung aller gemeinschaftlichen Aufgaben dienen“ sollten und eben nicht zur partikularen Verwendung in den Ländern. Außerdem erkannte Art. 70 S. 2 RV die Matrikularbeiträge nur als subsidiäre Reichsfinanzierung an. Schließlich widersprach die Regelung auch der in Art. 70 S. 1 RV enthaltenen und durch die damals noch geltende sog. „Miquel-Klausel“38 („solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“) deutlich zum Ausdruck gebrachten Zielsetzung, die Finanzwirtschaft des Reiches und der Länder zu trennen.39 35

Wahl (FN 20), S. 497 f. mit weiteren Beispielen. RGBl. 1879, S. 207. 37 Dazu insgesamt Hans Pagenkopf, Finanzausgleich und Bundesstaat: Theorie und Praxis, Stuttgart 1981, S. 93 f., 104 f; Ulrich Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung, Berlin 1997, S. 39 ff.; Huber (FN 28), S. 950 f. 38 Benannt nach Johanes Miquel, Sprecher der Nationalliberalen im Reichstag, deren Ziel die unabhängige Finanzausstattung des Reiches war. 39 Näher hierzu Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, S. 314. Paul Laband (Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, Dresden 1895, S. 31), bezeichnet den Vorgang als „schlechtes Zeugnis für die Verfassungsuntreue ihrer Urheber.“ 36

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In der Reichstagsdebatte40 spielte die Frage der Verfassungsmäßigkeit durchaus eine Rolle. Bismarck argumentierte ausführlich dazu41 und vertrat – nach seinem Bruch mit den Nationalliberalen und der Hinwendung zum Zentrum zur Durchsetzung der Schutzzollpolitik42 – die Ansicht, die „Franckensteinsche Klausel“ sei verfassungskonform. Von Seiten der nationalliberalen Gegner wurde der Widerspruch zu den einschlägigen Verfassungsbestimmungen hingegen deutlich herausgestellt. Die Klausel verstoße „unbedingt gegen Geist und Sinn der Verfassung“, der „vollkommen durchbrochen“ werde. So etwa Albert Hänel, der aber sogleich dazufügte: „Ich bin allerdings nicht der Ansicht von rein formalistischem Standpunkt aus, daß hier eine Verfassungsänderung vorliegt“.43 Auch etwa Eduard Lasker begründete ausführlich, warum der Antrag Franckensteins die verfassungsrechtliche Lage gänzlich umkehre und das bestehende Verfassungsrecht durchbreche – aber eben nicht abändere.44 Nach Josef Völk konnte die Frage einer Verfassungsänderung schlicht dahinstehen. „Ich brauche hier nicht zu untersuchen, ob [der Entwurf] eine Verfassungsänderung enthält, […] ich frage nur, wenn ohne weitere Erörterung über die Verfassungsfrage im Bundesrath nicht 14 Stimmen gegen das Gesetz sind, […] was ist dann der künftige Zustand? Hier sage ich: dann haben wir […] kein Verfassungsgesetz, sondern einfach ein Gesetz, wie alle anderen sind, vor uns. Denn es ist juristisch nicht richtig, daß ein Gesetz, welches an die Stelle eines Verfassungsgesetzes tritt, schon von vornherein ebenfalls ein Verfassungsgesetz ist, es müßte erst bei der Emanation des neuen Gesetzes ausdrücklich ausgesprochen werden, daß dasselbe als Verfassungsgesetz […] an die Stelle der aufgehobenen oder geänderten Paragraphen trete.“45

Man nutzte das Verfassungsargument also in der politischen Auseinandersetzung, berief sich aber zur Frage der formal begriffenen Verfassungsänderung auf die Ansicht der herrschenden Staatsrechtslehre, die hier zudem zupass kam, weil man für eine zukünftige Abänderung nicht an Art. 78 RV gebunden sein wollte. Der zu Beginn skizzierte Befund eines Auseinanderfallens von Verfassungstext und (materiellem) Verfassungsrecht erklärt sich also zu einem großen Teil dadurch, dass sich die bewerkstelligten Verfassungsänderungen oft allein im gewöhnlichen Gesetzesrecht wiederfinden, gleichzeitig aber die der Sache nach geänderten Normen der Verfassung in der Verfassungsurkunde textlich unverändert bleiben. 40 77. und 78. Sitzung des Reichstages am 9. und 10. Juli 1879, Sten. Ber., S. 2177 ff., 2241 ff. 41 Ebd., S. 2197 f. 42 Zu Bismarcks Motiven vgl. Otto Pflanze / Peter Halbrock, Bismarck, Bd. 2, 1. Aufl., München 2001, S. 213 ff. 43 Sten. Ber. RT, 1879, S. 2246. 44 Sten. Ber. RT, 1879, S. 2202 f. 45 Sten. Ber. RT, 1879, S. 2242.

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III. Verfassung im materiellen Sinne Wenn nun beklagt46 oder jedenfalls festgestellt wurde, dass aus all den genannten Gründen die Verfassung des Deutschen Reiches nicht (mehr) mit dem Verfassungsgesetz identisch war, sondern anderes und vor allem mehr umfasse, dann ist Maßstab einer solchen Beurteilung notwendig ein materielles Verfassungsrechtsverständnis. Das Nebeneinander eines formellen und eines materiellen Verfassungsbegriffs47 ist uns heute eine Selbstverständlichkeit.48 Die Zweigleisigkeit hat sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Sie besteht seit Verfassungen in Urkunden errichtet wurden49, die eben ihrerseits niemals als vollständiges Abbild der realen Verfasstheit der Staaten empfunden wurden und andererseits stets auch einige der Zeit ihre Entstehung gezollte Marginalien enthielten, denen eine materielle Verfassungsbedeutung nicht zukam.50 Als materielles Verfassungsrecht wird man die gemäß dem je vorherrschenden Staatsverständnis typischen und prägenden Regelungsgegenstände der Verfasstheit des Staates ansehen müssen. Ihrer Funktion nach ist die Verfassung danach zuallererst auf den Staat bezogen. Dieser zeigt sich in dem zeitgenössischen Verständnis als Voraussetzung und als Gegenstand der Verfassung. Die materielle Verfassung beinhaltet sonach die Grundordnung des Staates und umfasst nach der Formulierung von Jellinek51 „in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt.“

46 Rönne (FN 11), S. 31 f., der die damit verbundenen Gefahren beschreibt; auch Laband (Staatsrecht II, S. 42 Anm. 2) fand dies bedenklich, indes nur in „politischer Hinsicht“. 47 Gemeint ist hier nicht die (verfassungsinterne) Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Verfassungsrechtsätzen, die einerseits das staatliche Organisationsstatut (Staatsorganisationsrecht), andererseits das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und sonstige inhaltliche Vorgaben für staatliches Handeln in den Blick nimmt. 48 Es geht dabei um die unterschiedlichen herangezogenen Bezugspunkte. Verfassungsrecht im materiellen Sinne, oftmals auch unter dem Begriff des Staatsrechts zusammengefasst, ist inhaltlich bestimmt (Grundentscheidungen staatlicher Organisation und Aufgaben sowie grundlegendes Staat-Bürger-Verhältnis), Verfassungsrecht im formellen Sinne meint das in der Verfassungsurkunde positivierte Staatsrecht. Vgl. zu allem etwa Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. München 2010, § 1 Rn. 29 ff. Ausführlich zur Begriffsgeschichte und Deutung der Differenzierung von formellem und materiellem Verfassungsrecht Wolff (FN 21), S. 267 ff.; vgl. aus kritischer Sicht auch Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, Baden-Baden 1982, S. 59 ff. 49 Heinz Mohnhaupt / Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995, S. 100, 126 f. 50 Vgl. Jellinek (FN 8), S. 532 f. 51 Jellinek (FN 8), S. 505.

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Ausgehend von einem Verständnis, welches den Staat rechtlich als die mit „ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes“52 begreift, kann die Verfassung keine herrschaftsbegründende Funktion besitzen, sondern sie ist die – möglichst gute – Form „rechtlicher Selbstbeschränkung des Staates“53; wobei allerdings eine solche rechtliche (Selbst-)Bindung als für den nachabsolutistischen Verfassungsstaat unabdingbar erachtet wurde.54

IV. Kategorien von Verfassungsänderungen Zu den Gegenständen des Verfassungsrechts (im materiellen Sinne) werden so denn auch gezählt: Regelungen zum Herrschaftsbereich, zur Organisation der Reichsgewalt und des Verhältnisses der Reichsorgane zueinander, zu den Zuständigkeiten des Reiches gegenüber den Bundesstaaten, zur Stellung des Einzelnen im Staat und zu den staatlichen Organen. Laband weist zutreffend darauf hin, dass in diesem Sinne fast jedes Reichsgesetz eine Änderung des Verfassungszustandes bewirke, indem Zuständigkeiten in besonderer Weise konkretisiert, Einrichtungen zur Durchführung der politischen Aufgaben geschaffen oder die Freiheitssphäre des Einzelnen gegenüber dem Staat bestimmt werden etc.55 Eine Eingrenzung sei deshalb auf das „Verfassungsrecht des Reiches im eigentlichen Sinne“ zu machen. Hier soll Laband gefolgt werden, dessen Konkretisierung zu insgesamt fünf Kategorien von Verfassungsänderungen führt56, von denen vorliegend drei näher behandelt werden: (1) die Änderungen des Verfassungstextes (dazu unter V. 1.), (2) die stillschweigende Änderungen des Inhalts von Verfassungsgesetzen (dazu unter V. 2.) und (3) die Änderungen des Regelungsgehalts von Verfassungsgesetzen durch veränderte politische, staatsrechtliche Praxis (dazu unter V. 3.). Die Änderungen verfassungsgesetzlicher Regelungen durch zeitliche oder sachliche Erledigung sollen vorliegend nicht interessieren, auf Änderungen von (materiellem) Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde wird nur knapp hingewiesen (unter V. 4.).

52

Jellinek (FN 8), S. 183. Jellinek, ebd. 54 Vgl. dazu etwa Reimund Schmidt-De Caluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers, Tübingen 1999, S. 69 ff. 55 Laband (FN 4), S. 2. 56 Laband (FN 4), S. 3. 53

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V. Überblick über die Verfassungsänderungen 1. Formelle Verfassungsänderungen i. S. d. Art. 78 Abs. 1 RV

Zunächst sollen die bereits Anfangs genannten vierzehn Verfassungsänderungen kurz dargestellt werden, die im Sinne des Art. 78 Abs. 1 RV ausdrücklich als formelle Änderungen der Reichsverfassung daherkommen: (1) Durch das Gesetz vom 24. Februar 187357 wurde Art. 28 Abs. 2 RV aufgehoben, der zuvor regelte, dass bei Angelegenheiten, die nach der Verfassung nicht das ganze Reich betreffen, nur die Stimmen derjenigen Mitglieder zählen, die in den betroffenen Bundesstaaten gewählt sind. Hier ging es ausweisliche der Debatte im Reichstag58 um die Vermeidung von Auslegungsproblemen und atmosphärischen Störungen bei voraussichtlich nur selten einschlägigen Fällen. (2) Das Gesetz vom 3. März 187359 erweiterte die Gesetzgebungskompetenz des Reiches durch eine Ergänzung des Art. 4 Nr. 9 RV auf die „Seeschifffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Baken und sonstige Tagesmarken)“. (3) Prominent ist das Gesetz vom 20. Dezember 187360, das Art. 4 Nr. 13 RV änderte und das Reich mit der umfassenden Kompetenz zur „Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren“ ausstattete. Bereits seit 1867 hatten die nationalliberalen Abgeordneten Johannes Miquel und Eduard Lasker darum gerungen, auch im Bereich des Privatrechts und des Verfahrensrechts eine umfassende Gesetzgebungskompetenz auf Reichsebene zu statuieren. Die „Lex Miquel / Lasker“ führte 1877 zur Verabschiedung von GVG, ZPO, StPO, KO und bereitete auch den Weg für das 1900 in Kraft getretene BGB. Die nächsten formellen Verfassungsänderungen lassen fünfzehn Jahre auf sich warten. Sie betreffen einerseits die Regelung zur Wehrpflicht, einen der wenigen Bereiche der Militärangelegenheiten, der nach der Reichsverfassung nicht im Sinne eines arcanum imperii allein der kaiserlichen Prärogative zugeordnet war.61 Andererseits geht es um die Verlängerung der Legislaturperiode. Beides passt in die politische Lage gegen Ende der 1880er Jahre, die gekennzeichnet war sowohl durch innenpolitische Spannungen als auch durch eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft.

57

RGBl. S. 45. 25. Sitzung vom 22. Mai 1872, RT-Protokoll 1872, S. 457 ff. 59 RGBl. S. 47. 60 RGBl. S. 379. 61 Vgl. umfassend Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II, München 1998, S. 202 ff. 58

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(4) Durch Gesetz vom 11. Februar 188862 wurde mit Änderung des Art. 59 Abs. 1 S. 1 RV die Regelung über die Wehrpflicht dahin gehend erweitert, dass nach den zuvor schon ab dem 20. Lebensjahr verpflichtenden drei Jahren aktiver Dienst, vier Jahren Reserve und fünf Jahren Landwehr noch eine Verpflichtung zur „Landwehr zweiten Aufgebots“ bis zum 39sten Lebensjahr hinzukamen. In der Regel folgte daraus eine über 18jährige Wehrpflicht, der sich nach dem zeitgleich geänderten Landsturmgesetz noch fünf Jahre beim Landsturm anschlossen. (5) Das Gesetz vom 19. März 188863 änderte Art. 24 RV und verlängerte die Legislaturperiode des Reichstages von drei auf fünf Jahre. Das Vorhaben war in den vergangenen Legislaturperioden bereits mehrmals eingebracht worden, scheiterte aber jedes Mal, weil stets auch eine Verkopplung mit der Etatperiode anvisiert wurde. Beide Fragen wurden nunmehr entkoppelt und die Initiative erhielt nun eine große Mehrheit.64 Erst nach wiederum einer längeren Pause von fünf Jahren und erneut in einer militärischen Frage im Rahmen des aufkommenden Expansionsstrebens lässt sich eine einzige weitere formelle Verfassungsänderung finden. (6) Durch Gesetz vom 26. Mai 1893 wurde Abs. 5 des Art. 53 RV gestrichen. Es ging um die Verteilung des Ersatzbedarfs für die Kriegsmarine, die im „Gesetz betreffend die Ersatzvertheilung“ vom gleichen Tag eine neue Regelung erhielt, welche sich nun an der Zahl der Tauglichen und nicht mehr an den Bevölkerungszahlen orientierte. Abermals dauerte es recht lange, nämlich ganze elf Jahre, bis erst in der Periode von 1904 bis 1906 weitere formelle Verfassungsänderungen folgten. Sie drehten sich vornehmlich um die Verbesserung und Verstetigung der Reichseinnahmen vor dem Hintergrund der Kolonial- und Flottenpolitik sowie wiederum um Fragen der Wehrpflicht. (7) Das Gesetz vom 14. Mai 190465 änderte durch seinen § 2 die Regelungen zum Finanzwesen in Art. 70 RV. Im Kern wurde durch die – nach dem Leiter des Reichsschatzamtes so genannten – „kleine Stengelsche Finanzreform“ der bis dahin in Art. 70 RV noch enthaltene Vorbehalt „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ („Miquelsche Klausel“) für die Matrikularbeiträge gestrichen. Diese wurden verfassungsrechtlich nun zu einer festen Größe der Einnahmeverteilung zwischen Reich und Ländern. Die „Franckensteinsche Klausel“66 wurde zudem auf die Brannt62

RGBl. S. 11. RGBl. S. 110. 64 Zur Debatte vgl. das RT-Protokoll der 27. Sitzung vom 1. Februar 1888 (RT-Protokolle 1888, S. 653 ff.). 65 RGBl. S. 169 f. 66 Vgl. dazu oben unter II. 5. 63

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wein- und die Stempelsteuer beschränkt, die Zolleinnahmen und die Tabaksteuer verblieben ab jetzt allein dem Reich.67 (8)

Das Gesetz betreffend die Änderung der Wehrpflicht vom 15. April 190568 modifizierte abermals Art. 59 Abs. 1 RV im Hinblick auf den Umfang der aktiven Dienstpflicht. Für die Mannschaften der Kavallerie und reitenden Feldartillerie bleibt es bei der dreijährigen Dienstpflicht, für alle übrigen Mannschaften findet eine Verkürzung auf zwei Jahre statt. Dies nimmt nur die bereits seit 1893 einfachgesetzlich geltenden – verfassungsdurchbrechenden – Regelungen auf69, die aus Gründen der Wehrgerechtigkeit eingeführt wurden, weil aus finanziellen Gründen bei längerer Dienstzeit nur ein Teil der Wehrpflichtigen einberufen werden konnte.70

(9)

Durch Gesetz vom 21. Mai 190671 wurde das in Art. 32 RV zuvor enthaltene Verbot der Entschädigung von Reichstagsabgeordneten aufgehoben. Gleichzeitig wurde das „Reichsgesetz betreffend die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder des deutschen Reichstags“ verabschiedet.72 Grundlage war zunächst ein Entwurf des Bundesrates, der die Diätenfrage mit einer Änderung des Art. 28 RV verknüpfen wollte. Geregelt werden sollte, dass für Geschäftsordnungsanträge kein Quorum für die Beschlussfähigkeit mehr maßgeblich und nicht mehr die absolute Mehrheit, sondern die relative Mehrheit entscheidend sein sollte.73 Dies führte zu heftigen Debatten74; die 15. Kommission sprach sich gegen die Änderung des Art. 28 RV aus.75

(10) § 5 des „Gesetzes betreffend die Ordnung des Reichshaushalts und die Tilgung der Reichsschuld“ vom 3. Juni 190676 hebt die Vorschrift des Art. 38 Abs. 2 Ziffer 3d RV „in Ansehung der Brausteuer“ auf und gibt dem Bundesrat die Befugnis, die zu gewährende Vergütung der Erhebungs- und Verwaltungskosten festzusetzen. Der Text der Verfassung blieb dabei allerdings unverändert. Die Brausteuer gehörte zu den 67

Ausführlich und mit weiteren Nachweisen Korioth (FN 39), S. 316 ff. RGBl. S. 249. 69 Hierzu etwa Kotulla (FN 2), S. 295 f. 70 So konnten etwa 1890 von den 335.000 Wehrpflichtigen nur ca. 180.000 einberufen werden. Die Verkürzung des Militärdienstes war eine lang verfochtene Forderung der Liberalen. Es fanden sich nun aber auch Befürworter unter den Militärs, weil so die Zahl der Reservisten gesteigert werden konnte. Vgl. dazu Nipperdey (FN 61), S. 207. 71 RGBl. S. 467. 72 RGBl. S. 468. 73 RT-Drs. 1905 Nr. 353. 74 Vgl. die erste Lesung RT-Protokolle 1905, S. 2701 ff. 75 RT-Protokolle 1905, S. 4267. 76 RGBl. S. 620, 621 f. 68

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„übrigen“ Verbrauchssteuern, die nach Art. 36 RV durch die Bundesländer erhoben wurden, aber in die Reichskasse flossen. Für die Höhe der hierbei abzuziehenden Erhebungs- und Verwaltungskosten schrieb Art. 38 Abs. 2 Nr. 3 d RV pauschal 15 % der auf die Steuerart entfallenden Gesamteinnahmen vor. Dies wurde nun für die Brausteuer geändert und dem Bundesrat nach Maßgabe des Gesetzes wegen Änderung des Brausteuergesetzes77 übertragen.78 Die nach weiteren fünf Jahren erfolgten formellen Verfassungsänderungen dienten vornehmlich der Harmonisierung des Verfassungstextes mit der staatsrechtlichen Realität. (11) Durch das Gesetz über die Verfassung Elsaß-Lothringens vom 31. Mai 191179 wurde Art. 6a RV80 eingefügt und damit erstmals das Reichsland in der Verfassung erwähnt und sein Status näher bestimmt.81 Nach Abs. 2 der neuen Bestimmung „gilt“ Elsaß-Lothringen „im Sinne des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat“, ist also keiner und wird auch in seinen Rechten mit den Bundesstaaten nicht gleichgestellt. Aus Abs. 1 ergibt sich: Solange Elsass-Lothringen Reichsland bleibt, führt es drei Stimmen im Bundesrat. Diese werden allerdings nicht gezählt, wenn die (preußischen) Präsidialstimmen erst durch deren Hinzunahme eine Mehrheit erhielten oder den Ausschlag gäben. Auch bei Verfassungsänderungen zählen die Stimmen nicht mit (Abs. 2). All diese Vorsichtsmaßnahmen verfolgen den Zweck, den über den kaiserlichen Statthalter gewährleisteten preußischen Einfluss nicht auf Bundesebene nochmals zu steigern. (12) Durch das Gesetz vom 24. Dezember 191182 wurde Art. 54 RV geändert, um eine Kollision zwischen Reichsverfassungsrecht und preußischem 77 Gesetz vom 3. Juni 1906, RGBl. S. 622. Nach diesem Gesetz wird die Brausteuer gestaffelt nach den verwendeten Malzmengen zu verschiedenen Sätzen erhoben. Es legt zudem auf Reichsebene das Reinheitsgebot fest. 78 In dem in diesem Zusammenhang und zu gleichzeitig erfolgenden Änderungen anderer Steuergesetze ergangenen Kommissionsbericht (Bericht der VI. Kommission, RT-Protokolle 1905/06, S. 4119 ff.) wird klar, dass es um eine Facette der Steigerung der Reichseinnahmen vor dem Hintergrund der enormen Kosten für die Kolonien und die Flotte geht. 79 RGBl. S. 225. 80 „Artikel 6a [1] Elsaß-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, solange die Vorschriften im Artikel II § 1, § 2 Absatz 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens vom 31. Mai 1911 in Kraft sind. Die elsaß-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das Gleiche gilt bei der Beschlußfassung über Änderungen der Reichsverfassung. [2] Elsaß-Lothringen gilt im Sinne des Art. 6 Abs. 2 und der Artikel 7 und 8 als Bundesstaat.“ 81 Zur Diskussion RT-Protokoll 1911, S. 7121B ff. 82 RGBl. S. 225.

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Recht zur Frage der Schifffahrtsabgaben nachträglich zu heilen. Ursprünglich ermächtigte Abs. 3 S. 2 die Länder zur Erhebung von Abgaben in den Seehäfen für die Benutzung von Schifffahrtsanlagen, Abs. 4 zur Erhebung von Abgaben für die Benutzung von „besonderen Anstalten“ zur Erleichterung des Verkehrs auf natürlichen Wasserstraßen sowie für die Nutzung staatlicher künstlicher Wasserstraßen. Das preußische Gesetz zur Herstellung und den Ausbau von Wasserstraßen sah Abgaben auch für die Kosten der Regulierung und den Ausbau natürliche Wasserstraßen zur Verbesserung der Schifffahrt vor. Dies aber unter den Begriff der „besonderen Anstalten“ zu subsumieren fiel schwer, weshalb nun das „besondere“ gestrichen wurde. Zudem wurden die Unterhaltungskosten, die der Abgabenberechnung zugrunde gelegt werden durften, genauer definiert, um eine Beschränkung der Binnenschifffahrt durch verkappte Verkehrszölle zu unterbinden.83 Die beiden letzten formellen Verfassungsänderungen finden sich dann erst wieder sieben Jahre später in den so genannten Oktobergesetzen von 1918, deren Intentionen zur Parlamentarisierung des Kaiserreichs allerdings politisch zu spät kamen. (13) Mit Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung und des Gesetzes betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 28. Oktober 191884 wurde Art. 21 Abs. 2 RV aufgehoben, der ein Abgeordnetenmandat für den Fall der Übernahme eines Staatsamtes ausschloss. Einer Integration von Parteienvertretern in die Regierung, welche nach der faktischen Parlamentarisierung mit dem Amtsantritt Max von Badens auf der Tagesordnung stand, machte die Aufhebung erforderlich. Die gleichzeitige Gesetzesänderung erlaubte daneben ergänzend, dass Abgeordnete auch Stellvertreter des Reichskanzlers sein konnten. Allerdings sollte die in Art. 9 S. 2 RV festgelegte Inkompatibilität von Abgeordnetenstatus und Mitgliedschaft im Bundesrat erhalten bleiben. (14) Am gleichen Tag wurde sodann mit dem Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung85 als letztem Gesetz zur Änderung der Bismarckschen Reichsverfassung auch formell das parlamentarische System eingeführt. Geändert wurden die Art. 11 Abs. 2 und 3, 15 Abs. 3 – 5, 53 Abs. 1, 64 Abs. 2 und 66 Abs. 3 und 4 RV. Dass der Entwurf den Bundesrat ohne Beanstandung passierte, stand im Zusammenhang mit den deutschen Friedensvorschlägen gegenüber dem US-Präsidenten. Kriegserklärung und Friedensschluss wurden an den Bundesrat und Reichstag gebunden, es bestand nun die volle parlamentarische Verantwortung des Reichskanzlers, die sich zudem auch auf alle kaiserlichen Maßnah83 84 85

Vgl. dazu Kotulla (FN 2), S. 299 ff. RGBl. S. 1273 f. RGBl. S. 1274 f.

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men beziehen sollte; auch für sämtliche wichtigen militärischen Personalentscheidungen wurde die Gegenzeichnungspflicht des Reichskanzlers eingeführt. Die Verfassungsänderungen vom Oktober 1918 zeigten sich als Konsequenz der faktischen Verschiebung der Machtverhältnisse, die sich vor dem Hintergrund der militärischen Niederlage und den Notwendigkeiten der Friedensverhandlungen, aber auch des unübersehbaren Legitimationsverlustes des monarchischen Systems mittlerweile manifestiert hatten. Sie knüpften zum Teil an Vorschlägen des im April 1917 eingerichteten Verfassungsausschusses des Reichstags86 an, die ein Jahr zuvor noch am Widerstand der Obersten Heeresleitung und der Regierung gescheitert waren.87 Dies betraf insbesondere Regelungen zur Beschränkung der kaiserlichen Kommandogewalt und die Zustimmungspflicht des Reichstags zu Kriegserklärung und Friedensschluss. In der Frage der konsequenten Regierungsverantwortung gingen die Verfassungsänderungen nun jedoch noch deutlich über die Vorschläge des Verfassungsausschusses hinaus. Sieht man von den gerade angesprochen systemverändernden Verfassungsänderungen am Vorabend der Revolution einmal ab, die keine Auswirkungen in der Verfassungswirklichkeit mehr zeitigen konnten, lässt sich folgendes Zwischenresümee ziehen: Erkennbar ist mit der Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Reiches durch die „Lex Miquel / Lasker“ eine wohl rechtsgeschichtliche herausragende Verfassungsänderung. Zwei formelle Verfassungsänderungen betreffen mit einiger Bedeutung die parlamentarische Organisation; die Verlängerung der Legislaturperiode und die Zulassung von Abgeordnetendiäten. Staatsorganisationsrechtlich lässt sich sodann noch die verfassungsrechtliche Inkorporation des Reichslandes Elsass-Lothringen anführen. Die restlichen Änderungen vor allem auf dem Gebiet des Finanzverfassungsrechts und zur Wehrpflicht zeigen sich eingebunden in übergreifende politische Zusammenhänge und lassen sich in diesem Rahmen eher als verfassungsrechtliche „Feinsteuerungen“ bezeichnen.

86 Forderung zur Einsetzung von G. Stresemann vom 29. März 1917 (Sten. Ber. Bd. 2854 – 2857), den Antrag der SPD (Anlage-Bd. 321 Nr. 730, S. 1402) aufnehmend; Antrag der NLP selbst ebd., Nr. 730, S. 1406. Vgl. auch Eugen Schiffer, Der Verfassungsausschuß und seine Arbeit, Berlin 1917; Adolf Arndt, Die Beschlüsse des Verfassungsausschusses des Deutschen Reichstages betr. Abänderung der Reichsverfassung, in: DJZ 1917, Sp. 537 ff.; Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie, Frankfurt am Main 2007, S. 143 ff. 87 Vgl. Dieter Grosser, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie – Die Verfassungspolitik der deutschen Parteien im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, 1970, S. 150 ff.

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2. „Stillschweigende“ Verfassungsänderung – Verfassungsdurchbrechung

Die von Laband und auch anderen88 so genannte „stillschweigende“ Verfassungsänderung wird auch unter den deutlicheren Begriff der Verfassungsdurchbrechung gefasst. Gemeinhin wird hierunter eine Hinwegsetzung über ein Verfassungsgesetz verstanden, die zwar in der Regel die Verfahrensvoraussetzungen einer Verfassungsänderung beachtet, ohne jedoch den Text des betroffenen Verfassungsgesetzes zu ändern oder zu ergänzen und ohne die Geltung der durchbrochenen Verfassungsnorm im übrigen zu berühren.89 Die Gesetzgebungspraxis im Kaiserreich kennt zahlreiche derartiger verfassungsändernder Durchbrechungen.90 Wie dargestellt zeigten sich die Verfahrensvoraussetzungen der Verfassungsänderung faktisch identisch mit denjenigen der einfachen Reichsgesetzgebung und ein Vorrang der Verfassung existierte nicht. Zur Verdeutlichung können hier nur markante Beispiele dieser „stillschweigenden“ Praxis angesprochen werden: (1) Nur noch eines kleinen Hinweises bedarf nach dem Vorgesagten91 der Umstand, dass das Reichsland Elsaß-Lothringen 40 Jahre lang ein von der Reichsverfassung nicht erfasster Teil des Reiches war, bis endlich Art. 6a RV eine Regelung traf. Aber auch mit dieser Norm und mit der vom Reichstag für das Reichsland erlassenen Verfassung spiegelte sich die tatsächliche Rechtslage nicht hinreichend in der Reichsverfassung wider. Denn dass der Kaiser territoriale Gewalt in einem Land ausübt, sieht die Reichsverfassung nicht vor. Eine Verfassungsdurchbrechung findet sich deshalb gleichermaßen in Bezug auf die Schutzgebiete. Die dem Kaiser auch insoweit zugeordnete territoriale Gewalt92 hat mit den ihm nach Art. 11 RV zugeordneten Präsidialbefugnissen nichts zu tun. (2) Vielfach lassen sich verfassungsdurchbrechende Organisationsentscheidungen zugunsten neu geschaffener Reichsbehörde feststellen. So macht etwa Max Seidel93 auf § 4 Reichseisenbahngesetz aufmerksam, der ein 88 Vgl. etwa Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, Tübingen 1907, S. 53. 89 Peter Badura, Stichwort „Verfassung“, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2721. Kritisch hierzu und mit Überblick über die Begriffsdiskussion Hufeld (FN 37), S. 24 ff. 90 Vgl. auch Kottula (FN 2), S. 293 f. 91 Vgl. unter V. 1. (11). 92 Vgl. § 1 Abs. 1 SchGG (Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete vom 17. April 1886 – RGBl. Nr. 10, S. 75): „Die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des Reiches aus.“ Der Kaiser ist also insoweit, wie in Elsass-Lothringen, Träger der umfassenden Staatsgewalt. Dazu Meyer / Anschütz (FN 18), S. 559. In § 4 SchGG in der Fassungs vom 10. September 1900 (RGBl. 1900, S. 812) werden die Verhältnisse der Eingeborenen außerhalb der Gesetzgebung angesiedelt und dem Verordnungsrecht des Kaisers unterworfen. 93 Kontroversen des Reichsverfassungsrechts, in: Zeitschrift für die deutsche Gesetzgebung 1874, S. 615 ff.

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Reichseisenbahnamt mit Kontrollrechten und eigenen unmittelbaren Exekutivbefugnissen errichtet. Nach der Reichsverfassung stehen die Aufsichtsrechte aber dem Bundesrat zu und die Verwaltungskompetenz soll bei den Bundesländern liegen.94 Ähnliche Abweichungen von den verfassungsrechtlichen Organisationsbestimmungen führt Laband etwa für die gesetzlichen Regelungen zum Normaleichungsamt, Schiffsvermessungsamt, Patentamt, Reichsversicherungsamt und anderem mehr an.95 (3) Ein weiterer großer Anwendungsbereich der Verfassungsänderung durch Verfassungsdurchbrechung war die zum Gesetzgebungsrecht des Reiches in Anspruch genommene und allgemein als Ausdruck der Reichssouveränität anerkannte Kompetenz-Kompetenz.96 Ein außerhalb der Reichskompetenz im Sinne des Art. 4 RV liegendes Gesetz kommt als nach Art. 78 RV zulässiges verfassungsänderndes Gesetz schlicht dadurch zustande, dass es das Reich erlässt.97 Dies geschah etwa in Bezug auf die Errichtung des (zunächst Bundes-, später) Reichs-Oberhandelsgerichts als erstem Reichsgerichts zur Zentralisierung der Rechtsprechung in Handels- und Wechselrechtssachen;98 noch weitergehende Kompetenzen erhielt sodann das durch das GVG99 1877 errichtete Reichsgericht, ohne dass dafür im Verfassungstext eine Grundlage erkennbar war. Weitere Beispiele sind etwa das im Zuge des Kulturkampfes 1872 erlassene Jesuitengesetz100 oder auch die gesamte bismarcksche Sozialgesetzgebung.101 (4) Eine besondere Rolle spielen Verfassungsdurchbrechungen während des Krieges im Zuge der „juristischen Mobilmachung“102. Durch Verordnung vom 31. Juli 1914103 erklärte der Kaiser unter dem Eindruck der drohenden Kriegsgefahr für das Reichsgebiet104 nach Art. 68 Abs. 1 RV den Kriegszustand. Da ein den Kriegszustand regelndes Reichsgesetz nicht 94

Art. 7 Abs. 1 Nr. 3, Art. 41 ff. RV. Laband (FN 4), S. 29 ff. 96 Meyer / Anschütz (FN 18), S. 692 mit Anmerkung h) mit weiteren Nachweisen. 97 Meyer / Anschütz (FN 18), S. 690. 98 Gesetz betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen vom 12. Juni 1869 (BGBl. Nr. 22, S. 201). 99 Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 (RGBl. Nr. 4, S. 41). 100 „Gesetz betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu“ vom 4. Juli 1872 (RGBl. Nr. 22, S. 253). 101 Laband (FN 4), S. 33 f. 102 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, München 1999, S. 57 ff. auch zum folgenden Text. 103 RGBl. S. 263. 104 Für Bayern sprach der Bayerische König am gleichen Tag die gleiche Verordnung aus. 95

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zustande gekommen war105, galt der zunächst provisorisch gedachte Verweis auf das preußische Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851106 weiter. Dieses bildete so die „Grundlage“ für die Erklärung des Belagerungszustandes, mit dessen Bekanntmachung die vollziehende Gewalt auf die Militärbefehlshaber überging (§ 4), besondere Verschärfungen des Strafrechts (§§ 8 – 10) und Verkürzungen gerichtlicher Verfahrensgarantien (§§ 11 – 13) einhergingen, Grundrechte suspendiert werden konnten (§ 5) und die Militärbefehlshaber die Befugnis erhielten, im Interesse der öffentlichen Sicherheit Verbote zu erlassen und deren Übertretung mit Gefängnis bis zu einem Jahr zu bestrafen (§ 2). Verfassungs- und einfaches Gesetzesrecht verloren damit ihre Dignität, wurden je nach Bedarf durchbrochen.107 (5) Durch das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914, genauer durch § 3 des „Gesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse“108 erhielt der Bundesrat die Kompetenz, „während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen als notwendig erweisen.“ Er musste diese Maßnahmen jedoch dem Reichstag bei dessen nächsten Zusammentreten zur Kenntnis bringen und auf dessen Verlangen aufheben. Auf dieser Grundlage erließ der Bundesrat eine Vielzahl gesetzesvertretender Verordnungen mit großer Bedeutung; insgesamt entstanden 825 Verordnungen auf dieser Grundlage. Die vage sachliche Begrenzung „Abhilfe wirtschaftlicher Schädi105 Deshalb galt die kaiserliche Erklärung des Kriegszustandes nicht für Bayern; dies hätte ein solches Reichsgesetz vorausgesetzt (vgl. Schlussbestimmung zum XI. Abschnitt RV; Ziff. III § 5 Bündnisvertrag vom 23. November 1870); dazu Huber (FN 28), S. 1044. 106 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1851, S. 451. 107 Eugen Schiffer, Reichstagsabgeordneter und späterer Justizminister in Weimar, berichtet (Die Deutschen Kriegsnotgesetze, in: DJZ 1914, S. 1014, 1015), dass von diesen Befugnissen vielfach und sehr weitgehend Gebrauch gemacht worden sei, indem etwa „der Verkauf von alkoholischen Getränken auf Straßen, freien Plätzen und außerhalb der Ortschaften verboten, Kündigung von kleinen Wohnungen durch den Vermieter ohne Zustimmung des Mieters untersagt, für die Zahlung der Mieten Stundung gewährt, allen Verkäufern von Lebensmitteln und unentbehrlichen Genussmitteln die Verpflichtung auferlegt wurde, an den Türen ihrer Geschäftslokale und Läden innen und außen Preisverzeichnisse aufzuhängen und desgleichen mehr. Die richterliche Nachprüfung solcher Erlasse dürfte, ähnlich wie bei Polizeiverordnungen, insoweit beschränkt sein, als die Frage, ob sie objektiv im Interesse der öffentlichen Sicherheit gelegen haben, also sachlich notwendig und zweckentsprechend waren, grundsätzlich auszuschalten, und die Rechtsgültigkeit ihnen nur dann abzusprechen wäre, wenn sie überhaupt keine Beziehung zu dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit erkennen lassen. Ihre Wirkung wird mindestens der Regel nach nicht nur strafrechtlicher, sondern auch zivilrechtlicher Natur sein, also neben der Strafbarkeit auch Nichtigkeit und Schadensersatzpflicht erzeugen.“ 108 RGBl. 1914, S. 327.

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gungen“ schlossen der Sache nach kaum irgendeine Regelungsmaterie aus. Schwerpunkte lagen auf den Gebieten der Kriegsbewirtschaftung, des Währungs-, Finanz-, Zivil-, Arbeits- und Sozialrechts.109 Die Gesetzgebung wurde damit für die Kriegszeit in weitem Umfang auf den Bundesrat konzentriert.110 Der Reichstag, der sich mit dem Gesetzesbeschluss seiner Legislativkompetenzen beraubt hatte, verlangte bei keiner einzigen Verordnung die Aufhebung; bis etwa Mitte 1916 degradierte er zum reinen Akklamationsorgan. Nach der Verfassung hatte der Bundesrat weder ein Notverordnungs- noch ein allgemeines Verordnungsrecht.111 Insofern zeigt sich hier eine „eklatante Verfassungsdurchbrechung“.112 Das Gesetz nahm keine Änderung des Verfassungstextes vor, erfüllte jedoch die Anforderungen des Art. 78 RV und wurde deshalb als legale Verfassungsdurchbrechung angesehen.113 (6) Erst im Falle des „Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst“ vom 5. Dezember 1916114, das von der Obersten Heeresleitung im Rahmen des Hindenburg-Programms initiiert wurde, um weitere Kräfte für den Krieg mobilisieren und der revolutionären Bewegung entgegenwirken, agierte der Reichstag etwas vorsichtiger. Nach § 19 des Gesetzes erlässt der Bundesrat zwar die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Bestimmungen. Allgemeine Verordnungen bedürfen indes der Zustimmung eines Reichstag-Ausschusses, der unabhängig vom Reichstag zu109 Übersicht bei Eugen Schiffer, Neues Kriegsnotrecht, in: DJZ 1914, S. 1134 ff.; DJZ 1914, S. 1234 ff.; DJZ 1915, S. 234 ff.; DJZ 1915, S. 739 ff.; DJZ 1915, S. 842 ff.; vgl. auch ders., Auskunfterteilung über Kriegsverordnungen, in: DJZ 1916, S. 1009: „Das Notrecht der Kriegszeit hat eine Rechtsnot des Volkes gezeitigt. Die Zahl der nach Maßgabe des Ermächtigungsgesetzes erlassenen BRVO und der darauf fußender Anordnungen der Regierungen und Gemeindebehörden geht in die Tausende und schwillt täglich an.“ 110 Genauer wird man wohl sagen müssen, die Ministerialbürokratie bediente sich formell des Bundesrates für ihr umfassendes Sonderrechtssystem; vgl. Stolleis (FN 102), S. 59 mit weiteren Nachweisen. 111 Adolf Arndt konnte mit seiner auf eine extensive Auslegung des Art. 7 Nr. 2 RV gestützte gegenteilige Ansicht (vgl. Das Verordnungsrecht des Deutschen Reiches, 1884; ders., Das selbständige Verordnungsrecht, 1902; ders. Das Reichsgericht und die Begriffe „Gesetz“ und „Verwaltungsvorschrift“, in: VerwArch 13, 1905, S. 207 ff.) keine Anhänger finden. 112 Huber (FN 28), S. 928. 113 Huber, ebd., S. 928 f. 114 RGBl. S. 1333. Alle Männer zwischen dem 17. und dem 60. Lebensjahr, welche nicht zur Armee eingezogen worden waren oder nicht vor 1916 in einem agrarischen oder forstwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet hatten, wurden nach diesem Gesetz verpflichtet, in der Rüstungsindustrie oder in einem kriegswichtigen Betrieb zu arbeiten. Da durch dieses Gesetz die freie Wahl des Arbeitsplatzes aufgehoben wurde, konnten Menschen zum vaterländischen Hilfsdienst verpflichtet werden und somit politisch ausgeschaltet werden. Der Bundesrat kann Zuwiderhandlungen gegen die Ausführungsbestimmungen mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu zehntausend Mark oder mit einer dieser Strafen oder mit Haft bedrohen.

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sammentreten kann. Zudem wird das Kriegsamt dazu verpflichtet, diesen Ausschuss über alle wichtigen Vorgänge auf dem laufenden zu halten, ihm Auskunft zu geben, seine Vorschläge entgegenzunehmen und vor Erlass wichtiger Anordnungen allgemeiner Art seine Meinungsäußerung einzuholen. Mit diesem Reichstagsausschuss und seiner Funktion der Mitwirkung bei dem Anordnungsrecht des Bundesrates und des Kriegsamtes ist ein bisher nicht existentes parlamentarisches Organ mit partiell exekutiven Kompetenzen kreiert worden, das den Einfluss des Reichstages wahrt. Schiffer spricht zutreffend von einer „staatsrechtlichen Neubildung“.115 (7) Mit dem „Allerhöchsten Erlaß über die Ermächtigung des Reichskanzlers zur selbständigen Erledigung von Regierungsgeschäften im Bereich der Reichsverwaltung vom 16. August 1914“ wird von Art. 18 Abs. 1 RV abgewichen, der insbesondere Ernennung, Entlassung und Versetzung der Reichsbeamten allein dem Kaiser überantwortet. Eine solche Delegation von Kompetenzen auf andere Staatsorgane durfte der Kaiser ohne die nach Art. 78 RV erforderliche gesetzliche Grundlage nicht vornehmen, so dass hier keine Verfassungsdurchbrechung, sondern ein Verfassungsverstoß anzunehmen ist.116 (8) Ausgehend vom Gesetz über die Verlängerung der Legislaturperiode des Reichstages vom 16. Oktober 1916117 wurde die gemäß Art. 24 S. 1 RV fünfjährige Amtszeit des Parlaments zunächst um ein Jahr, mit Gesetz zur nochmaligen Verlängerung vom 23. Juli 1917118 um ein weiteres Jahr und schließlich durch das Gesetz über die abermalige Verlängerung vom 18. Juli 1918119 bis zum 12. Januar 1920 hinausgeschoben; Wahlen fanden sonach seit dem 12. Januar 1912 nicht mehr statt. Der Überblick zeigt deutlich, dass sich die materielle Verfassungsrechtslage teils von Beginn an, vor allem aber im Laufe der Zeit des Kaiserreiches und sodann noch einmal verstärkt ab 1914 in vielen wichtigen Bereichen von dem Regelungsgehalt der Reichsverfassung entfernte. Die tatsächliche Verfassungsentwicklung nimmt auf das Verfassungsgesetz keine Rücksicht. Sie wird allein gesteuert von politischen Interessen und selbst die zunächst erkennbare Funktion der Reichsverfassung als rechtspolitischer Argumentationshintergrund, die bei Abweichungen noch eine gewissen Begründungslast nach sich zog, nimmt wohl stetig ab. Insofern kann von einer tendenziellen Nivellierung der Ebenen des Verfassungsrechts und des einfachen Reichsgesetzesrecht ausgegangen werden. Einmal abgeändert und nur als 115 116 117 118 119

Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst, in: DJZ 1917, S. 33, 36. Kotulla (FN 2), S. 305. RGBl. S. 1169. RGBl. S. 657. RGBl. S. 745.

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einfaches Gesetzesrecht positiviert, verlieren die ursprünglich verfassungsrechtlichen Regelungsgegenstände sodann auch ihren geringen verfahrensrechtlichen Schutz des Art. 78 Abs. 1 RV.

3. Verfassungsänderung durch Verfassungswandel

Wenn wir heute von Verfassungswandel sprechen, dann werden darunter solche Wandlungen des inhaltlichen Verständnisses von Verfassungsnormen verstanden, die sich bei gleichbleibendem Normtext aufgrund veränderter Realitäten des Regelungsbereichs vollziehen. Mit Konrad Hesse120 geht es um ein Konzept der rechtlichen Einbindung der Wirklichkeit durch Wandel innerhalb der Verfassungsnorm.121 Die Staatsrechtslehre der Kaiserzeit122 sah dies anders. Auch ihr ging es zwar um die Einbindung der Wirklichkeit, aber doch auf eine andere, nämlich originär Verfassungsrecht schaffende Weise. Neue Staatspraxis führt danach zu neuem Verfassungsrecht. Für Laband ist dessen Geltungsgrund – ganz antipositivistisch – das „besondere Bedürfnis“, für Jellinek die necessita, die „rechtsschaffende Notwendigkeit“, wobei nach seiner Lehre von der normativen Kraft des Faktischen noch die „Überzeugung der Rechtmäßigkeit“ hinzu kommen musste.123 Worum es ging, soll an zwei Beispielen verdeutlich werden:124 (1) Nach Art. 7 Abs. 2 RV besitzen nur Bundesmitglieder das Recht, Vorlagen in den Bundesrat einzubringen. Der Deutsche Kaiser ist als solcher nicht Bundesmitglied, sondern nur in seiner Stellung als preußischer König. Auch der Reichskanzler kann nach der Verfassung in dieser Eigenschaft keine Anträge einbringen, sondern nur, wenn er zugleich als preußischer Bevollmächtigter auftritt und als solcher agiert. Nun war aber das preußische Ministerium – wie auch die Ministerien der anderen Staaten – schon faktisch regelmäßig gar nicht in der Lage, einen großen Teil der das Reich betreffenden Vorlagen auszuarbeiten. Und so waren es die dem Reichskanzler unterstellten Reichsbehörden, die diese Arbeit er120 Grenzen der Verfassungswandlung, in: Häberle/Hollerbach (Hrsg.), Konrad Hesse – Ausgewählte Schriften, Heidelberg 1984, S. 28, 32. 121 Zur Diskussion mit weiteren Nachweisen vgl. Johannes Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: Der Staat 44 (2005), S. 1, 14 ff., der zutreffend darauf verweist, dass „Verfassungswandel“ in diesem Sinne im Normgehalt seine Grenzen findet. 122 Jellinek (FN 5), S. 21 ff.; Laband (FN 39), S. 14 ff; ders. (FN 4), S. 42. 123 Andreas Anter, Modernität und Ambivalenz in Georg Jellineks Staatsdenken, in: ders. (Hrsg.) Die normative Kraft des Faktischen – Das Staatsverständnis Georg Jellineks, Baden-Baden 2004, macht deutlich, dass für Jellinek die politische Macht, die faktischen Verhältnisse das prägende nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der Fortentwicklung der Verfassung war. 124 Beispiele von Jellinek (FN 5), S. 24 ff.; Laband (FN 4), S. 14 ff.; beide Autoren bringen noch weitere ähnliche Fälle zu Sprache.

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ledigten. Daher wurde ein großer Teil der vom Präsidium ausgehenden Anträge im Namen des Kaisers durch den Reichskanzler in den Bundesrat gebracht (Präsidialanträge). Auch der Reichstag wendete sich im Gesetzgebungsverfahren an den Reichskanzler, der seine Initiativen in die Beratungen des Bundesrates einbrachte. Gleichfalls trat der Reichskanzler im Reichstag auf, um die Positionen des Bundesrates zu begründen oder zur Außenpolitik zu sprechen; beides ist in der Reichsverfassung nicht vorgesehen. Im Ergebnis wurde also eine Praxis gehandhabt, bei der der Kaiser faktisch eine Position wahrnahm, wie sie zwar für ein Staatsoberhaupt der Sache nach unentbehrlich erscheint (Initiativrecht), die aber von der noch an den Vorstellungen des Deutschen Bundes anknüpfenden Reichsverfassung nicht vorgesehen war. In der Verfassungsurkunde ist die Institution des Kaisertums seit Errichtung des Reiches unverändert geblieben. Die tatsächliche Entwicklung ist jedoch pragmatisch eigene Wege gegangen. Die kaiserliche Regierung zeigt sich unter Inanspruchnahme eines eigenen Initiativrechts zur Gesetzgebung ebenso wie mit einem sukzessive beeindruckend ausgebauten Reichsbehördenapparat als zentraler Akteur des Staatsorganisationsrechts und wurde als solcher anerkannt.125 Das Schwergewicht der Reichsgesetzgebung und der Innenpolitik lag insofern weder bei den Staaten noch beim preußischen Ministerium, sondern zentral bei den Reichsorganen. Hierin sah Jellinek eine bedeutsame Änderung der Reichsverfassung, „ohne dass ihr Text einen Zusatz erhalten hätte.“ (2) Ähnlich lässt sich die mit dem Stellvertretergesetz vom 17. März 1878126 verbundene Entwicklung betrachten. Das Gesetz ermöglichte es dem Reichskanzler im Verhinderungsfall, verantwortliche Stellvertreter mit Gegenzeichnungsrecht zu bestellen. In der Praxis war aber von einer permanenten Verhinderung auszugehen, weil die anfallenden Gesamtgeschäfte niemals vom Reichskanzler allein bewältigt werden konnten. So wurden die Stellvertreter zu ständigen Einrichtungen und mutieren faktisch zu Ministern.127 Weder dies noch der damit einhergehende und 125 Gleichzeitig sah Laband (FN 4), S. 16, Probleme im Verhältnis zu Preußen, wenn Anträge der Reichsexekutive den Vorgaben der Verfassung entsprechend über die preußische Schiene in den Bundesrat eingebracht werden müssten. Preußen könne dann kaum gegen eigene Vorlagen votieren, selbst wenn es der Sache nach um Anträge des Reiches gehe. Dies erfordere eine starke Abstimmung mit dem preußischen Staatsministerium und führte insoweit faktisch zu einem Veto-Recht. Dies scheint mir indes eine allzu juristisch geprägte Sichtweise zu sein. Denn vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse im Bundesrat war gegen Preußen ohnehin keine Reichspolitik durchzusetzen. 126 Gesetz betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878 (RGBl. S. 7). 127 Triepel (FN 88), S. 66.

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bereits angesprochene Ausbau des Reichsbehördenapparats128 ist in der Verfassung vorgesehen. Auch dies ließe sich wohl mit der soeben zitierten zeitgenössischen Sicht als eine Verfassungsänderung durch Verfassungswandlung einordnen. Unübersehbar scheint bei solcher dogmatischer Einordnung ein innerer Widerspruch der ansonsten ja prägnant positivistisch ausgerichteten Staatslehre hervor.129 Einerseits wird die tatsächliche, mit dem Verfassungsgesetz nicht in Einklang stehende Staatspraxis und nicht die Rechtsordnung zum normativen Ausgangspunkt der Änderung von Verfassungsrecht genommen. Andererseits wird der Sachverhalt der Verfassungsänderung selbst wiederum strikt positivistisch gedeutet. Denn zu einer Änderung des Verfassungsgesetzes gelangt man nur, wenn die Verfassung als eine abgeschlossene Materie begriffen und ihr Schweigen damit als Verbot gedeutet wird; ein imperfektes Verbot allerdings, das – theoretisch kaum überzeugend begründet – entgegen Art. 78 Abs. 1 RV durch Veränderung tatsächlichen Handelns überwunden werden kann. Rudolf Smend130 hingegen hält einen m. E. überzeugenderen Erklärungsansatz bereit. Sein Ausgangspunkt ist der offene Charakter der Reichsverfassung, die vorwiegend als ein eher technisches, vor allem aber unvollständiges Organisationsstatut zu begreifen sei. Smend spürt den darin erkennbaren funktionellen Grundsätzen nach und kommt damit zu einer zulässigen, verfassungsergänzenden, nicht verfassungsändernden Staatspraxis.131

4. Verfassungsänderungen außerhalb des Verfassungsgesetzes

Ausgehend von einem materiellen Begriff des Verfassungsrechts132 soll vorliegend nur knapp festgehalten werden, dass sich in diesem Sinne Verfassungsänderungen naturgemäß auch außerhalb des Verfassungsgesetzes, als den in der Verfassungsurkunde geregelten Materien ergeben. Laband133 betrachtet unter diesem Blickwinkel etwa die Bestimmungen über die Voraussetzungen, den Erwerb und Verlust der Reichsangehörigkeit, die als 128

Triepel (FN . 88), S. 60 ff. Dazu, dass gerade Georg Jellinek zum Rechtspositivismus bisweilen auf deutliche Distanz geht, Anter (FN 123), bei FN 116. 130 Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in: Festgabe für Otto Mayer, Tübingen, 1916, S. 247 ff.; vgl. auch ders. Verfassung und Verfassungsrecht, München / Leipzig 1928, S. 90 ff. Dazu ausführlich Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends. Berlin 1990. 131 Zur Methode Smends und mit Kritik an Labands Sicht auf die Verfassung als geschlossenes System: Bryde (FN 48), S. 62 ff. 132 Vgl. oben III. 133 (FN 4), S. 11 f. 129

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Fundamentalregelungen des Staatsrechts wohl recht unstreitig zum Verfassungsrecht im materiellen Sinne gerechnet werden können. Ein Verfassungsgesetzliche Regelung auf Reichsebene hat hierzu von Beginn an nicht bestanden.134 Der Sache nach wäre in diesem Rahmen insbesondere auch die Grundrechtsentwicklung während des Kaiserreiches anzusprechen, die sich bekanntlich völlig außerhalb des Bereiches des formellen Reichsverfassungsrechts abspielte.135 Allerdings würde dies den Rahmen des Themas sprengen, das hier in den Fokus genommen wurde. Es sollte nicht die Entwicklung des Verfassungsrechts insgesamt dargestellt, sondern die Problematik der Verfassungsänderung betrachtet werden, die insofern an die formelle Verfassungsrechtslage anknüpft.

VI. Resümee Die Verfassung des Kaiserreichs hat sich in den dargestellten unterschiedlichen Formen in vielfältiger Weise geändert. Der Staat des Kaiserreichs ist 134 Es galt das „Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit“ vom 1. Juni 1870, das aufgrund der §§ 9 und 12 des „Gesetzes betreffend die Einführung Norddeutscher Bundesgesetze in Bayern“ vom 22. April 1871 als Reichsgesetz fortgalt. Es knüpfte für die Reichsangehörigkeit an die Staatsangehörigkeit an, der das Abstammungsprinzip zugrunde lag. Zu Recht folgerte Laband hier ein Spannungsverhältnis zu der Freizügigkeit aus Art. 3 RV, das absehbar zu kaum mehr handhabbaren Schwierigkeiten führen muss. Ob sich seine Vermutung, hier werde sich das praktische Leben über die nicht mehr zeitgemäßen Prinzipien hinwegsetzen, als richtig erwiesen hätte, lässt sich nicht prüfen, weil am 22. Juni 1913 ein Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz verabschiedet wurde, das die Erwerbsgründe erheblich erweitert regelte. 135 Die Reichsverfassung enthielt im Gegensatz zu den anderen konstitutionellmonarchischen Verfassungen der Zeit keinen Grundrechtskatalog (vgl. zu den Gründen etwa Klaus Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, Tübingen 1998, S. 38 ff., auch zum folgenden). Allerdings stießen eine Reihe einfachgesetzlicher Garantien in diese „auffällige verfassungspolitische Lücke“ (Ernst Rudolf Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: Ehmke / Kaiser / Kewening (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, Berlin 1973, S. 163, 165). Zu nennen sind etwa die Gewährleistung der Freizügigkeit durch das Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867 (BGBl. S. 55), die Garantie der Gewerbefreiheit und der Koalitionsfreiheit in §§ 1, 152, 153 der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 (BGBl. S. 245), die Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit durch das Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen vom 3. Juli 1869 (BGBl. S. 292), das Verbot rückwirkender Strafgesetze in § 3 des StGB vom 31. Mai 1870 (BGBl. S. 197), die Gewährleistung des Briefgeheimnisses in § 5 des Gesetzes über das Postwesen vom 28. Oktober 1871 (RGBl. S. 347), die Pressefreiheit durch Gesetz vom 7. Mai 1874 (RGBl. S. 65), die Gewährleistung der Unabhängigkeit der (ordentlichen) Gerichte, des Rechtswegs in Zivilrechtssachen und des gesetzlichen Richters durch §§ 1, 13, 17 GVG vom 27. Januar 1877 (RGBl. S. 77), der Schutz vor willkürlicher Beschlagnahme und Verhaftung, die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch §§ 98 ff. StPO vom 1. Februar 1877 (RGBl. S. 253), die Gewährleistung des Fernsprech- und Telegrafengeheimnisses durch das Gesetz über das Telegrafenwesen vom 6. April 1892 (RGBl. S. 467), die Vereins- und Versammlungsfreiheit durch das Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908 (RGBl S. 151).

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am Ende ein völlig anderer als derjenige, den Bismarck Ende der 1860er / Anfang der 1870er Jahre im Blick hatte. Dies ist im Wesentlichen nicht den Verfassungsänderungen im engeren, formellen Sinne zu verdanken, sondern den zahlreichen einfachgesetzlichen Um- und Neuformungen verfassungsrechtlicher Regelungsbereiche und der sich faktisch entwickelnden Staatspraxis. Insgesamt lässt sich eine Zurückdrängung der Rolle des Bundesrats, die Etablierung einer handlungsfähigen Reichsregierung, eine Stärkung des Reichstags136 und so insgesamt eine zunehmend unitarische Entwicklung des Staatswesens beobachten.137 Die Reichsverfassung selbst entwickelte dabei kaum steuernde Kraft. Ihr Stellenwert im staatspolitischen Gesamtgefüge ist nicht leicht zu bestimmen. Im materiellen Sinne wies sie den Charakter eines offenen Programmsatzes auf. Sie fungierte einerseits als Geschäftsgrundlage der staatlichen Akteure und zeigte durch ihren sich stetig verändernden Inhalt andererseits den jeweils aktuellen Kompromiss an, auf den sich die in Reichstag, Präsidium und Bundesrat organisierten Interessen verständigen konnten. Der für das Kaiserreich identifikatorische Kern der Reichsverfassung, der – jedenfalls bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges – trotz der angenommenen grundsätzlich umfassenden Änderungsbefugnis nicht angetastet wurde, war die dualistische Struktur der Gesetzgebung. Jenseits dessen, also bei einem gesetzgeberischen Zusammenwirken von Reichstag einerseits und Bundesrat sowie Kaiser andererseits, stand das Verfassungsrecht ebenso zur Disposition wie jegliches andere Reichsgesetz. Wenn, wie bereits angesprochen138, mit dem Zusammenwirken der Gesetzgebungsorgane die Vorstellung von der Souveränität des Staates verbunden wird, ist dies nur konsequent. Begrenzungen staatlicher Gewalt durch die Verfassung sind nur vorstellbar, wenn die Staatsgewalt konstitutionell legitimiert gedacht wird. Erst mit einer Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué kann ein Geltungsvorrang des Verfassungsrechts angenommen werden. Eine verfassunggebende Gewalt des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1918 / 19 lässt sich aber nicht ausmachen. Das Reich war Ausdruck eines vielfältigen Kompromisses zwischen Nationalstaat und Gliedstaaten, monarchischen und liberalen, demokratischen Kräften, zwischen Adel, Militär und Bürgertum.139 Die Reichsverfassung konnte insofern wohl nur die Funktion eines knappen Organisationsstatuts zur Austarierung dieses Kompromisses140 136 Zur Entwicklung insgesamt und auch zu den politischen Gründen vgl. Nipperdey (FN 61), S. 485 ff.; Stoll-eis (FN 102), S. 57 f. 137 Ausführlich zur „Entwicklung der unitarischen Elemente“ bereits aus der Sicht von 1907 vgl. Triepel (FN 88), S. 53 ff. 138 Vgl. bei II. 2. 139 Nipperdey (FN 61), S. 85 f. 140 Vgl. ausführlich Wolfgang J. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiß, in: Otto Pflanze (Hrsg.), Innenpoli-

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haben. Dies aber verlangt nach Entwicklungsoffenheit.141 Die relativ große Schwäche der Reichsverfassung von 1871 gegenüber Verfassungsänderungen zeigt sich sonach aufgrund der staatsrechtlich und verfassungspolitischen „Übergangslage“ zwischen Monarchie und Demokratie erklärbar.142

tische Probleme des Bismarck-Reiches, München / Wien 1983, S. 195 ff.; Florian Scriba, „Legale Revolution“, Berlin 2008, S. 267 ff., setzt dies ähnlich wie hier in Beziehung zur Funktion des Art. 78 RV. 141 Heun (FN 20), S. 53: „Die Verfassung ist unabhängig von ihrem Zustandekommen durch Oktroy oder durch Vereinbarung gerade nicht der höherrangige verbindliche Grundkonsens, mit dem sich beide Seiten identifizieren. Das Charakteristikum ist vielmehr, dass nicht schon die Verfassung der verbindliche Kompromiss ist, sondern innerhalb dieses Systems im Konfliktfall ein Kompromiss jeweils erst zwischen Krone und Parlament gefunden werden muss.“ 142 Warum sich die Problematik mit Art. 76 WRV in der Weimarer Republik zunächst fortsetzt, lässt sich dann aber wohl nicht allein mit tradierten Anschauungen aus dem Kaiserreich beantworten. Vgl. dazu etwa Horst Ehmke, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik (hrsg. von Peter Häberle), Königstein 1981, S. 142 ff. Immerhin: Mit dem Urteil des Reichsgerichts vom 4. November 1925 (RGZ 111, 320, 322) wurde dem Vorrang der Verfassung gegenüber solchen Gesetzen, die „ohne Beobachtung der Erfordernisse des Art. 76“ WRV ergangen sind, der Weg geebnet.

Aussprache Gesprächsleitung: Kraus

Kraus: Wir beginnen mit der Diskussion, bitte Herr Kühne. Kühne: Herr Schmidt-De Caluwe, ich habe eine Frage zu Ihrem sehr instruktiven und konstruktiven Beitrag, und zwar: Hätten Sie nicht bei den Verfassungsänderungen, gerade wo Sie vom materiellen Verfassungsbegriff ausgehen, die Geschäftsordnungsebene mit einbeziehen sollen beziehungsweise müssen? Ich halte zwei Geschäftsordnungsentwicklungen für die kaiserzeitliche Verfassung für ganz einschneidend. Das ist einmal die mit dem Abgang Bismarcks verbundene Abänderung der Kabinettsordre, und zum anderen 1912 die Einführung des Missbilligungsvotums in die Geschäftsordnung des Reichstags, was ja sozusagen der letzte Skalenrutsch vor der Parlamentarisierung der Oktoberverfassung war. Schmidt-De Caluwe: Ja – ist meine Antwort. Das gehört natürlich dazu, genauso wie – was ich angedeutet habe – Verfassungsdurchbrechungen – wie auch immer man sie definieren will – durch kaiserliche Anordnungen dazugehört hätten. Diese Ebenen spielten natürlich eine Rolle. Gerade der letzte Punkt, den Sie angesprochen haben – die Missbilligung, die dann ja auch zu Rücktritten geführt und deutlich gemacht hat, wie in dieser Zeit zum Ende des Kaiserreichs die Position des Reichstags angewachsen ist –, ist unter diesem Gesichtspunkt diskutiert worden. Insofern hätte es dazugehört. Ich entschuldige das, es war dem Zeitrahmen geschuldet und wird in der schriftlichen Fassung meines Vortrags erwähnt werden. Kraus: Die nächste Frage hat Herr Ruppert. Ruppert: Wenn man sich die Reichsverfassung von 1870 ansieht, dann erlebt man ja geradezu eine Umkehrung der Verhältnisse vom Beginn zum Ende. Am Anfang ruht das ganze System auf den Bundesfürsten, die Reichsverwaltung und der Reichstag bekommen vom Verfassungstext und von den Intentionen des Verfassungsgebers her eigentlich nur eine Randrolle eingeräumt, und am Schluss – nehmen wir mal 1914 – sind die Verhältnisse völlig umgekehrt: Die Bundesfürsten sind bedeutungslos geworden, und gerade die Institutionen, die an den Rand geschoben worden waren, stehen im Vordergrund. Die Reichsverwaltung und der Reichstag sind die eigentlich starken

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Kräfte innerhalb des Systems. Sie haben jetzt die einzelnen Stationen angesprochen, auch gezeigt, wie sich das vollzogen hat, aber was ich vielleicht gerne etwas vertieft hätte, wäre die Frage: Worin kann man die Gründe sehen, dass dieses doch merkwürdige System sich als so flexibel erweist und die Anpassung so gut bewältigt, dass überhaupt solche gravierenden Änderungen möglich sind? Wo lagen die tieferen Gründe? Vielleicht muss man sie auch außerhalb des Verfassungssystems suchen, ich weiß es nicht, mich würde nur interessieren, wie Sie das sehen. Schmidt-De Caluwe: Die Gründe der tatsächlichen Entwicklung liegen m. E. im Bereich der Staatsaufgaben; hinzu kommen die politischen Entwicklungen. Mit Wilhelm II. hat sich auch die Auffassung des Kaisers geändert, wie dieser Staat regiert werden soll; er hat zudem andere Schwerpunkte gesetzt. Aber ich halte vom Tatsächlichen her eher die Entwicklung vom liberalen Staat hin zu dem ebenfalls ab 1890 doch sehr erkennbar werdenden Leistungsstaat für einen der wichtigen Faktoren. Leistungsverwaltung drängt auf die zentrale Ebene und je mehr Regelungsbedarf auf der zentralen Ebene bestand, desto mehr wurden natürlich auch die Reichsbehörden – die ja ursprünglich so gar nicht vorgesehen waren – ausgebaut. Mit diesem Machtzuwachs auf der Reichsebene, der Regierungsebene, wuchs dann notwendigerweise auch der Einfluss des Reichstages. Das ist eine Entwicklung, bei der die Bundesfürsten letztendlich nur noch eine ausführende Funktion für das Präsidium hatten. Dass es auf der Verfassungsebene so gehen konnte, erkläre ich mir mit der Konzeption der offenen Verfassung. Wir haben von Rudolf Menz eine – glaube ich – richtige Charakterisierung, dass diese Verfassung doch eher ein rudimentäres Organisationsstatut ist, und insofern haben wir die Offenheit für weitere Entwicklungen. Wenn wir es wie Laband betrachten und sagen, es ist – rechtspositivistisch – ein geschlossenes System und alles was nicht im Text steht ist verboten, dann kommen wir letztlich nur zu dem Ergebnis: Das ist materiell verfassungswidrig, aber es setzt sich trotzdem durch. Deswegen vermisse ich bei Laband gewissermaßen das dogmatische Scharnier: Wie kommen wir von den tatsächlichen Bedürfnissen in die normative Welt hinein? Das schafft er von seinem Ansatzpunkt her nicht so recht. Aber deutlich wird bei allen Staatsrechtslehrern, dass es zum Ende hin das strikte Festhalten am Verfassungspositivismus nicht mehr gegeben hat. Kraus: Danke schön. Die nächste Frage kommt von Herrn Frotscher. Frotscher: Ich knüpfe an die Bemerkung von Herrn Kühne an. Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass jedenfalls die Änderung der Geschäftsordnung von 1910, die das Missbilligungsvotum des Reichstags eingeführt hat, aus meiner Sicht eine sehr große Bedeutung hatte. Es gab in der Revolutionszeit schon einmal den Versuch der Parlamentarisierung der Reichsleitung, als das Reichskabinett Leiningen nach der Sistierung des Malmöer

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Waffenstillstandes durch die Nationalversammlung zurücktrat. Jetzt unternahm der Reichstag wieder einen Versuch, über ein Missbilligungsvotum und die Rücktrittsforderung quasi die parlamentarische Regierungsform einzuführen. Von einer Verfassungsänderung, meine ich, können wir wohl sprechen, auch wenn es sich nicht um die Verfassung im formellen Sinn handelte, sondern um die Geschäftsordnung. Ich nehme an, das sehen Sie ebenso. Schmidt-De Caluwe: Da kann ich wie gesagt nur zustimmen, wie ich es eben schon getan habe. Kraus: Dann hat Herr Würtenberger das Wort. Würtenberger: Sie haben einen wesentlichen Akzent auf das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung gelegt. In diesem Zusammenhang eine kurze Anmerkung, zu der ich mich legitimiert fühle, weil gestern davon gesprochen wurde, dass man auch die ausländische Verfassungsentwicklung mit einbeziehen sollte. Blickt man auf Frankreich, so hat es dort im 20. Jahrhundert die Lehre von der Loi écran gegeben, also vom Gesetz, das sich wie ein Schleier um den Verfassungstext legt. Wenn der Schleier der Gesetze immer dichter wird, wird der Verfassungstext mehr und mehr durch die Rechtsordnung verdrängt. Diese Lehre ist natürlich von anderen Prämissen ausgegangen, als sie im deutschen Kaiserreich gegeben waren. In Frankreich geht es eben um die Souveränität des parlamentarischen Gesetzgebers, der in rousseauistischer Manier genau weiß, wo das Gemeinwohl liegt, und sich damit auch über die Verfassung – teilweise jedenfalls – hinwegsetzen kann. In der Verfassung der Fünften Republik schützt man nunmehr einen Kernbereich des Staatsorganisationsrechts vor parlamentarischem Zugriff und hat für den Schutz dieses Kernbereichs den Conseil constitutionnel eingeführt, der sich in der Folgezeit bekanntlich weitere Kompetenzen zur Fortentwicklung der Verfassung angemaßt hat. Besten Dank. Schmidt-De-Caluwe: Vielen Dank für diese Ergänzung. Die deutsche Rechtsentwicklung ist in der Tat eine andere, jedenfalls im Fall des Kaiserreiches. Wir haben, jedenfalls der herrschenden Meinung nach, keinerlei inhaltliche Begrenzungen für Verfassungsänderungen. Wenn man Laband, Jellinek, Anschütz liest, gibt es aus dem Souveränitätsgedanken heraus keine Begrenzung. Es gibt bei Haenel einige Begrenzungen, die gezogen werden, auch etwa Rönne zieht einige Grenzen, und was dann auch zukunftsträchtig war, ist Rudolf Smends funktionelle Interpretation des Bundesstaatsprinzips schon auf Grundlage der Reichsverfassung, wohingegen die herrschende Meinung vertreten hat: Der Gesetzgeber kann sogar die Bundesstaaten abschaffen; das ist insofern ein anderer Ansatz, eine andere Entwicklung hier in Deutschland. Kraus: Herr Borck, bitte sehr.

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Borck: Ich glaube, die Diskussion hier um Missbilligungsvotum – also Änderung der Geschäftsordnung – und Machtverschiebung in den Jahren des Bestehens des Zweiten Reiches zeigt, dass es nicht so ganz günstig war, die Vorgeschichte – nämlich den Norddeutschen Bund – auszusparen. Die Verfassung von 1871 ist ja im Grunde nur die um die Reservatrechte – bei gleichzeitiger Umbenennung von Präsidium und Bund – erweiterte Verfassung von 1867. Bei den Vorverhandlungen zur Norddeutschen Bundesverfassung ist vieles von dem, was wir hier als Überraschung in der Diskussion feststellen, bereits zur Sprache gekommen. Bismarck selbst hat bekanntlich in seinen Putbuser Diktaten vom 30. Oktober 1866 deutlich gemacht, dass er einerseits eine für die weitere Entwicklung offene Verfassung mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken, wie er sich so schön ausgedrückt hat, wünschte, und dass andererseits die Konstruktion mit der Übernahme der Stimmen aus der alten Frankfurter Bundesversammlung – auch im eigenen preußischen Interesse – wesentlich dem Zweck diente, die ehemaligen Souveräne mit der neuen Verfassungsform des Bundes zu versöhnen (Putbuser Diktat vom 19. November 1866) und sie praktisch darüber hinwegzutrösten, dass Souveränitätsverzichte damit verbunden waren. Aber eine echte Überraschung ist die spätere Zunahme der Macht des Reichstages eigentlich nicht, wenn man die Diskussionen des Norddeutschen Reichstages durchliest. Die Gründe, warum bestimmte Passagen des Verfassungsentwurfs der norddeutschen Regierungen kritisiert, im Endeffekt aber doch der Verfassungsentwurf in seinem wesentlichen Gehalt akzeptiert wurde: Viele Kritiker haben im Reichstag als dem unitarischen Organ dieser ansonsten auf föderale Strukturen angelegten Verfassung die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten des neu entstehenden Norddeutschen Bundes, später dann des Reiches gesehen und haben deshalb zugestimmt. Eine wesentliche Entscheidung, die für die Entwicklung im Kaiserreich dann auch letztlich irgendwo maßgeblich geworden ist, ist aber eben schon im Norddeutschen Reichstag gefallen, und das war das sofort in seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung von Bismarck erkannte und anerkannte Amendement Benningsen, das heißt die Einführung der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, der in dem ursprünglichen Verfassungsentwurf eigentlich mehr oder minder Sekretär des Bundesrates gewesen wäre – jetzt ergab sich eine durchaus andere Verfassungskonstruktion. Die Möglichkeiten, die hier bei uns zum Schluss Gegenstand der Diskussion waren – also Missbilligung und schleichende, stärkere Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Reichstag – waren eigentlich 1867 bereits angelegt in den Debatten des Norddeutschen Reichstages. Denn das Amendement Benningsen bestand ja aus zwei Teilen: Der erste war der über die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, der angenommen wurde, der andere war die Regelung dieser Verantwortlichkeit durch ein Reichsgesetz – also Gesetzgebung des Reichstages –, und der wurde nicht angenommen, schon damals mit der erklärten Begründung der Diskutanten, man wolle die künftige Entwicklung offen halten. Diese Frage ist also

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durchaus schon erkannt, ist debattiert worden, aber man hat realpolitisch auf den Streit um diesen Passus verzichtet, um den Zeitplan des Verfassungswerks nicht zu gefährden und auch weil mit der „Verantwortlichkeit“ des Reichskanzlers die künftige Machtverteilung offen blieb. Das vielleicht als Anmerkung dazu. Schmidt-De Caluwe: Vielen Dank. Einige Fragen könnte man neu beleuchten, wenn man das Thema ausgedehnt und 1867 begonnen hätte. Nun bin ich mal ganz formal und sage, der Vorstand hat aber 1871 vorgegeben als Grenze. Ich stimme auch damit überein, dass natürlich auch schon Bismarck die Strategie hatte, möglichst wenig zu regeln in der Verfassung, dies vielmehr offen zu halten. Ich stimme nicht ganz überein in der Einschätzung, dass die Situation des Staates ab 1905/1906 schon in den Debatten im Norddeutschen Bund angelegt war. Ich glaube, Bismarck hat eher auf die bundesstaatliche Komponente gesetzt mit einer Hegemonie Preußens. Wir haben aber am Ende des Reiches keine Hegemonie Preußens mehr, sondern wir haben eine erhebliche Stärkung der Reichsebene. Ich glaube, man muss das differenzieren, wenn die Organe auch oft identisch sind. Kraus: Dann haben wir noch eine Frage – Herr Mußgnug, bitte. Mußgnug: Eine kleine Ergänzung zu Herrn Borcks Hinweis auf Bismarcks Putbuser Diktat: Es hat mit seiner Taktik – „Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken“ … und damit „gute Geschäfte machen“ – die Verfassung des Norddeutschen Bundes geprägt und von ihr aus auf die Reichsverfassung durchgeschlagen, mit dem Effekt, dass das Reich dem Text seiner Verfassung zufolge eher als Staatenbund denn als Bundesstaat ins Leben getreten ist. Für den Beitritt Bayerns war das die conditio sine qua non. Aber der Verfassungswandel, den Bismarck vorhergesehen hat und begünstigen wollte, hat das Reich von Jahr zu Jahr mehr zum Bundesstaat umgeformt, bis es letztendlich unter dem persönlichen Regiment Wilhelms II., der sein Kaisertum selbst in Preußen über seine Position als König von Preußen gestellt hat, dort angelangt war, wo die ihm nachgeordneten konstitutionellen Monarchien Deutschlands schon seit 1815 gestanden haben. Schmidt-De Caluwe: Ich bedanke mich für die Anmerkung – ich habe dazu keine Gegenposition. Kraus: Dann danke ich Ihnen für die Diskussion, und wir fahren fort mit dem letzten Vortrag des heutigen Vormittags.

Demokratische Verfassungsänderung Selbstschutz oder Selbstpreisgabe der Verfassung? Von Christoph Gusy, Bielefeld

Mein Thema umfasst die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Sein Zuschnitt ist im Rahmen unserer Tagung offenbar dem Umstand geschuldet, dass es eine vergleichsweise kurze historische Phase von gut 25 Jahren beleuchtet. Doch darf die Kürze der Zeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier keine einheitliche verfassungsgeschichtliche Epoche behandelt wird. Weder war die NS-Herrschaft eine Art Weimarer Republik in anderer Form noch aber auch die Republik bloßes Vorspiel zum NS-Staat. Der fundamentale Unterschied zwischen beiden Phasen wird gegensätzliche Fragen und Antworten hervorbringen. I. Einführung „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden.“ Was Art. 76 Abs. 1 S. 1 WRV formulierte, stand – in jeweils divergierender verfahrensrechtlicher Einkleidung – schon in konstitutionellen deutschen Verfassungen.1 Zu jenem Text fand die Verfassungsdogmatik im Jahre 1919 eine weithin konsentierte Auslegung vor2, welche anfangs einfach fortgeführt wurde. Dies entsprach der allgemeinen Tendenz der frühen Staatsrechtswissenschaft zu Beginn der Republik, an bewährte Einsichten anzuknüpfen und dadurch die Bedeutung des staatsrechtlichen Umbruchs durch Republik und WRV zu relativieren.3 Infolge der Erneuerung der Disziplin im Richtungsstreit mutierte unser Thema geradezu zu einem Schlüsselthema des Ver1 § 123 S. 1 ÖsterrVerf 1849; Art. 107 PrVerf 1850; Art. 78 Abs. 1 S. 1 RV 1871; abweichend aber die Formulierung in § 196 PaulskirchenVerf. Insoweit wieder näher am Text der WRV ist Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG. Zum Thema theoretisch jüngst Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, München 2009, S. 7 ff., 35 ff. und passim. 2 Dazu exemplarisch Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 7. Aufl. München, Leipzig 1917, S. 661 f. 3 Zur retrospektiven Auslegung Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 420 ff., 427 ff. Zur Relativierung des Staatsformwechsels Manfred Baldus, Das Engagement für Kontinuität. Die Staatsrechtslehre zwischen Novemberrevolution und Weimarer Reichsverfassung, in: AöR 127 (2002), S. 97 – 117.

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fassungsrechts.4 Darin lag eine wesentliche Intensivierung und Vertiefung des Forschungsstandes. Mit einiger Berechtigung lässt sich formulieren: Die Materie wurde staatstheoretisch und rechtswissenschaftlich neu entdeckt. Am Anfang stand viel Kontinuität.5 Art. 76 WRV bedeute, „dass Verfassungsgesetz und einfaches Gesetz Willensäußerungen einer und derselben Gewalt, der gesetzgebenden Gewalt, darstellen. Der Gedanke einer besonderen, von der gesetzgebenden Gewalt verschiedenen und ihr übergeordneten verfassunggebenden Gewalt ist […] dem deutschen Staatsrecht nach wie vor fremd.“ Ganz in diesem Sinne könne eine Verfassungsänderung „nicht nur ausdrücklich, d. h. durch Änderung oder Ergänzung des Textes […], sondern auch stillschweigend […] unter Beachtung der durch Art. 76 WRV angeordneten besonderen Formen […] für Einzelfälle“ erfolgen. Dies alles entspreche „der Staatspraxis sowohl des Kaiserreichs als auch des heutigen Reichs, der Rechtsprechung und der in der Wissenschaft herrschenden Meinung.“6 Gleichsam aus der Rückschau auf die Entwicklung in der Republik, allerdings in der noch relativ stabilen Situation des Jahres 1930, konstatierte hingegen Karl Loewenstein, dass vor dem Hintergrund „verfassungsdynamischer Veränderungen des Verfassungszustandes“ die „Stellung der Verfassungsänderung im politischen System der Weimarer Demokratie und ihre Bedeutung für die eigenartige Dynamik des reichsrechtlichen Parlamentarismus“ dringend grundsätzlicher Untersuchung bedürfe. Unter ironischem Hinweis auf den inzwischen in vollem Umfang ausgetragenen Methodenstreit fügt er hinzu, dass dabei „Art. 76 (WRV) alles andere als ‚integrierend‘ gewirkt habe“.7 In seiner Untersuchung unterschied er sodann sieben unterschiedliche „Arten der Verfassungsänderung“, die er auf ihre grundsätzliche Zulässigkeit untersuchte.8 Zu dieser Zeit hatte sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand in zwei Diskussionswellen Mitte und Ende der zwanziger Jahre wesentlich verschoben, ohne jedoch praxis- oder gar rechtsprechungsleitend geworden zu sein. Auch in der Folgezeit hat sich die Terminologie 4 In diesem Kontext steht es namentlich bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, München 1999, S. 113 f. („wesentliche Punkte der Verfassungsinterpretation“). 5 Weitestgehend ohne Ausdruck von Problembewusstsein für den staatsrechtlichen Wandel und seine Bedeutung für die Verfassungsänderung noch Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, in: AöR 39 (1920), S. 456 – 546, 542. 6 Zitate nach Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. Berlin 1933, S. 401 f.; ganz im gleichen Sinne schon ders., ebd., 3. Aufl. Berlin 1925, S. 229. 7 Karl Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung. Verfassungsrechtsdogmatische Untersuchungen zu Artikel 76 der Reichsverfassung (= Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Bd. 2), Tübingen 1931, S. VIII. 8 Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 104 ff. In seiner Terminologie geht es dabei zentral um „unmittelbare Verfassungsänderungsgesetze“.

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Loewensteins nicht durchgesetzt, wohl aber eine Reihe seiner Fragestellungen und Antwortversuche.9 Aus diesem Grunde sei vorab noch einmal festgehalten: Unser Thema der „Verfassungsänderung“ erfasst einen Ausschnitt aus dem viel weiter zu ziehenden Feld des „Verfassungswandels“ bzw. der „Verfassungsentwicklung“.10 In Abgrenzung zu anderen Formen des Verfassungswandels – namentlich des Wandels durch Verfassungsrechtsprechung, Verfassungsrechtswissenschaft, Verfassungspraxis oder auch der Gesetzgebung intra constitutionem – geht es um die Funktionsdifferenzierung bzw. Gewaltenteilung zwischen unterschiedlichen sozialen Mächten, politischen Institutionen und rechtlich statuierten Verfahren einschließlich ihrer je unterschiedlichen Legitimation. Dass hier die Weimarer Verfassung maßgebliche Neuerungen bewirkt haben könnte, wurde den Zeitgenossen zunehmend bewusst. Darauf wird zurückzukommen sein.11 II. Der Diskussionskontext: Verfassungswandel 1919 – 1933 Wohl keine deutsche Verfassung vorher und nachher war einem derart raschen Wandel ausgesetzt wie die WRV. Das aus der Kaiserzeit grundsätzlich bekannte Phänomen12 wurde auch in der Republik rasch Gegenstand rechtswissenschaftlicher Diskussion.13 Die Dramatik des Wandels soll hier an drei Beispielen verdeutlicht werden. 9 Zur Entwicklung seiner Lehre zur Verfassungsänderung nach 1945 siehe Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. Tübingen 1969, S. 138 ff.; ders., Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung (= Schriftenreihe der juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Bd. 6), Berlin 1961; aus der Sekundärliteratur zu seiner Position und deren Wandlungen Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Verfassungsrealismus. Das Staatsverständnis von Karl Loewenstein (= Staatsverständnisse, Bd. 17), BadenBaden 2007. 10 Zu diesem Konzept Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1982; Hisao Kuriki, Die Theorie der Verfassungsentwicklung, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation. Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005 (= Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 1104), Berlin 2008, S. 13 – 27; zum Konzept des Verfassungswandels Rainer Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel, in: ebd., S. 29 – 48 und S. 65 – 78; Thomas Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel: Von der nationalen zu einer globalen Perspektive, in: ebd., S. 49 – 63 (alle mit weiteren Nachweisen). 11 Siehe unten III. 12 Dazu Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906; historisch Stefan Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich. Anmerkungen zu frühen Arbeiten von Carl Schmitt, Rudolf Smend und Erich Kaufmann, in: AöR 117 (1992), S. 212 – 238. 13 Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung (= Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 15), Berlin / Leipzig 1932.

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Christoph Gusy 1. Von der Parlamentarischen zur Präsidialregierung: Art. 53, 54 WRV

„Parlamentarisierung der Regierung“ war eine zentrale Forderung der Oppositionsparteien im Kaiserreich wie auch der Weimarer Koalition in der Nationalversammlung gewesen. Nach der Einführung des bindenden Misstrauensvotums im Jahre 1918 verhielt sich die Nationalversammlung selbst entsprechend den bisherigen Forderungen: Sie wählte „ihre“ Reichskanzler selbst. Vor diesem Hintergrund war es weder selbstverständlich noch gar eindeutig, den Art. 53 WRV nicht bloß als formelles Ernennungsrecht des Reichspräsidenten, sondern daneben auch als materielles Auswahlrecht hinsichtlich der Person des Reichskanzlers zu lesen. Text und Entstehungsgeschichte der Norm waren insoweit offen. Auswahl- und Ernennungsrecht des Staatsoberhaupts setzten sich vielmehr erst in der nachfolgenden Staatspraxis durch, als angesichts der Not der Zeit Probleme auftraten, überhaupt geeignet erscheinende Persönlichkeiten für das Amt des Reichskanzlers zu gewinnen.14 Hier sprang Ebert in eine Bresche. Seine Praxis wurde 1923 im Kontext der Ablehnung eines DNVP-Kanzlerkandidaten15 erstmals als geltendes Recht apostrophiert. Sie blieb aber durchaus parlamentarisch: Der Auswahl gingen Konsultationen mit den Reichtagsfraktionen voraus; und die Personalvorschläge waren darauf gerichtet, im Parlament mehrheits- oder jedenfalls handlungsfähige Regierungen zu ermöglichen. Dies alles änderte sich sukzessive unter der Präsidentschaft Hindenburgs.16 Spätestens seit 1930 kamen Reichskanzler ins Amt, welche ohne bzw. sogar gegen die Mehrheitsfraktionen regieren sollten. Nun öffnete sich der viel beschriebene Loyalitätskonflikt zwischen der Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichspräsidenten (Art. 53 WRV) einerseits und derjenigen gegenüber dem Reichstag (Art. 54 WRV) andererseits. Die allmähliche Entparlamentarisierung der Regierung17 mündete spätestens 1932 in die „Kampfregie14 Historisch Günter Arns, Regierungsbildung und Koalitionspolitik in der Weimarer Republik 1919 – 1924, Diss. Univ. Tübingen 1971; Peter Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung. Eine Studie zum Regierungssystem der Weimarer Republik in den Jahren 1924 bis 1929 (= Politische Forschungen, Bd. 9), Köln, Opladen 1968, S. 74 ff., 161 ff.; Michael Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924 – 1928 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 36), Düsseldorf 1967, S. 138 f., 148 ff., 184 f., 288 ff. 15 Einzelheiten bei Fritz Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung (vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924), in: JöR 13 (1925), S. 1 – 248, 163 f. 16 Dies war im Grundsatz unabhängig von der Frage, ob Hindenburg stets auf einen solchen Kurs hingearbeitet hatte oder seine Position im Laufe seiner Präsidentschaft änderte oder aber von seiner Entourage zu einer solchen Änderung gedrängt wurde. Hierzu umfangreiches Material bei Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. 17 Gute Beschreibung bei Bernd Hoppe, Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat. Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 55), Berlin 1998.

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rungen“18, welche sich lediglich mit der Auflösungsdrohung gegenüber dem Reichstag kurzzeitig im Amt halten konnten. Dementsprechend änderte sich auch das Verfahren: Die Konsultationen vor der Ernennung wurden reine Formsache und verschwanden am Ende ganz; und nun setzte der Reichspräsident auch Regierungen ohne parlamentarische Mitwirkung ab. Auch wenn diese Praxis und jener Wandel mit den Buchstaben der WRV vereinbar gewesen sein sollten19: Durch sie wurde intra constitutionem und ganz ohne Änderung des Textes der WRV ein staatsrechtlich relevanter Wandel vollzogen, die Substanz der mit der neuen Verfassung angestrebten Parlamentarisierung rückgängig gemacht. Der Wandel sollte nicht allein die Legitimation der nur kurzzeitig amtierenden Regierungen beeinträchtigen, sondern auch die vorhandenen personellen und sachlichen Alternativen erschöpfen und letztlich die Akzeptanz des parlamentarischen Regierens selbst erschüttern. 2. Vom Ausnahmerecht zur Reserveverfassung: Art. 48 WRV

Der textlich in manchem an Art. 68 RV 1871 erinnernde Art. 48 Abs. 2 WRV war von der Nationalversammlung als Ausnahmerecht für den Ausnahmefall konzipiert und als solcher mit einem System von formellen und materiellen Sicherungen umhegt worden.20 Das so begründete Regel-Ausnahmeverhältnis21 trat allerdings bekanntlich nur selten ein. Dies lag nicht allein an der Not der Zeit. Vielmehr fand sich auch eine Staatspraxis, welche dazu neigte, Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der Bestimmung erweiternd auszulegen. Die schon damals auch von Zeitgenossen, welche den einzelnen getroffenen Maßnahmen durchaus positiv gegenüberstanden, kritisierte Praxis22 erweiterte den Anwendungsbereich der Bestimmung er18 Stichwort nach Ernst Wolgast, Die Kampfregierung. Ein Beitrag zur Lehre von der Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung (= Öffentlich-rechtliche Vorträge und Abhandlungen, Bd. 1), Königsberg 1929; siehe auch Heinrich Herrfahrdt, Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis (= Öffentlich-rechtliche Abhandlungen, Bd. 9), Berlin 1927, S. 46 ff. 19 Kritisch gegenüber Praxis und vorherrschender Meinung insbesondere Friedrich Glum, Die staatsrechtliche Stellung der Reichsregierung sowie des Reichskanzlers und des Reichsfinanzministers in der Reichsregierung, Berlin 1925, S. 22, 28 ff. Dagegen etwa Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 313 ff. 20 Eingehend hierzu Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 6), Tübingen 1991, S. 77 ff., 89 ff.; Achim Kurz, Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919 – 25 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 43), Berlin 1992. 21 Zu den sonstigen staatsrechtlichen Neben- und Ersatzgesetzgebern Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (FN 3), S. 158 ff. 22 Siehe z. B. Otto Braun; dazu Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a. M. [u. a.] 1977, S. 456 ff.; Hugo Preuß, Die Bedeutung des Artikel 48 der Reichsverfassung, in: Die Hilfe 31 (1925), S. 224 – 226, 225 f.

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heblich. Neben die klassischen Sicherheitsmängel der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ traten seit den zwanziger Jahren auch wirtschaftliche und finanzielle Notstände und seit 1930 auch der Fall der fehlenden Handlungsfähigkeit bzw. -bereitschaft von Staatsorganen (sog. innere Verfassungslähmung)23, welcher immer stärker danach ausgerichtet erschien, ob der Reichstag den Vorstellungen von Reichspräsident und -regierung zu folgen bereit war. Aber auch die Rechtsfolgen des Diktaturfalles weiteten sich immer mehr aus: Neben befristete Notstandsmaßnahmen traten immer häufiger auch Verordnungen mit Dauerwirkung. Deren verfassungsrechtliche Grenzen wurden zudem über den Text der nach Art. 48 Abs. 2 WRV zulässigen Grundrechtssuspension hinaus ganz erheblich eingeschränkt.24 So konnte namentlich unter Reichskanzler Brüning das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Gesetz und Diktaturverordnung zeitweise in sein Gegenteil verkehrt werden. Da zudem das nach Art. 48 Abs. 3 WRV vorgesehene politische Kontrollrecht des Reichstags durch Auflösungsdrohungen ausgeschlossen werden konnte und die Rechtsprechung die hier nur in einigen Grundlinien skizzierte Entwicklung nahezu einschränkungslos hinnahm, entwickelte sich das Notstandsrecht zur zweiten staatsrechtlichen Normalität. Was von der Nationalversammlung als Ausnahmerecht für Ausnahmefälle konzipiert war, entwickelte sich nun zur „Reserveverfassung“.25 Jedenfalls in den zahlreichen Krisenzeiten der Republik kam den handelnden Organen (Reichsregierung und Reichspräsident) ein rechtlich nahezu ungesteuertes und politisch nahezu gegengewichtsloses Auswahlrecht hinsichtlich ihres Handlungsrahmens zu. Ganz ohne Änderung des Verfassungstextes bestand dann das ursprünglich intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis faktisch – und möglicherweise auch rechtlich – nicht mehr. Und immer weniger waren die Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 2 WRV darauf gerichtet, eine zeitnahe Rückkehr zum staatsrechtlichen Normalzustand der Weimarer Verfassung zu ermöglichen und vorzubereiten. Der seit 1930 erneut permanente Notstandsfall war demnach jedenfalls nicht überwiegend dazu bestimmt oder geeignet, die demokratische Republik zu stärken. Er war – teils intendiert, teils nicht intendiert – ebenso geeignet, diese zu schwächen und zu delegitimieren. In solchen Fällen war der staatsrechtliche Normalzustand der WRV dann nur noch eine optionale Ordnung; zudem eine solche, welche 23

Näher Gusy, Weimar (FN 20), S. 57 f. (Nachweise). Einsetzend mit Carl Schmitt / Erwin Jacobi, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 1 (1924), S. 63 – 104 / 105 – 136. 25 Zur Entstehung des Art. 48 WRV Ludwig Richter, Reichspräsident und Ausnahmegewalt. Die Genese des Artikels 48 in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, in: DSt 37 (1998), S. 221 – 247; der Ausdruck der „Reserveverfassung“ erstmals wohl bei Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917 – 1933, Berlin 1982, S. 99 f.; zur Kritik daran wieder Richter, ebd., S. 244 f., der allerdings möglicherweise übersieht, dass der Begriff nicht für die Verfassungspläne der Nationalversammlung, sondern erst für die nachfolgende Verfassungsentwicklung in der Republik verwendet wurde. 24

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nach Art einer „Schönwetter-Republik“ eher für unproblematische Zeiten und unproblematisches Handeln gemacht zu sein schien.

3. Von der Parlamentserhaltung zur Parlamentszerstörung: Art. 25 WRV

Dass das Recht des Reichspräsidenten zur Parlamentsauflösung (Art. 25 WRV) den namentlich von Hugo Preuß vertretenen Gleichgewichtslehren zwischen Staatsoberhaupt und Reichstag – und damit ursprünglich konstitutionellem Gedankengut – entstammte, ist bekannt.26 Warum es so ausgestaltet worden ist, wie es ausgestaltet wurde, ist aus den Beratungen nicht recht erkennbar. Einerseits sollte dem Reichspräsidenten das Auflösungsrecht eingeräumt, andererseits aber dessen Missbrauch verhindert werden.27 Dass jedenfalls der zweite Zweck im Verfassungstext nur sehr ungeschickt Ausdruck gefunden hat, war unter den zeitgenössischen Interpreten konsentiert.28 Dementsprechend war die Bestimmung auch nicht in der Lage, faktisch das Recht der Parlamentsauflösung wirksam zu begrenzen. Alle Reichstage wurden vorzeitig aufgelöst. Doch zeigte sich hier erneut zwar keine Änderung des Verfassungsrechts, wohl aber ein Wandel der Staatspraxis: Während Ebert die vorzeitige Auflösung nutzte, um die Funktionsfähigkeit des Reichstags zu stärken und möglichst handlungsfähige Mehrheiten herbeizuführen, war die Praxis unter Hindenburg jedenfalls seit 1930 eine andere: Nun ging es primär nicht um die Stabilisierung des Parlaments, sondern um die Stabilisierung der Regierung gegen das Parlament. Auflösung und Auflösungsdrohung wurden zur wichtigsten Waffe der Kampfregierungen gegen die Ausübung der verfassungsrechtlich vorgesehenen parlamentarischen Kontrollrechte und sorgten so dafür, dass sowohl die Entparlamentarisierung des Regierens als auch die Rechtssetzung durch Notverordnungen am Parlament vorbei ermöglicht wurde. Staatsrechtlich waren die Reichstagswahlen des Jahres 1930 nicht nötig; und nach ihnen ebenso wenig diejenigen des Jahres 1932 und 1933. Diese Urnengänge erreichten kaum 26 Zur Herkunft der Lehren bei Redslob Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871 – 1918) (= Ius Commune, Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 102), Frankfurt a. M. 1997, S. 384 ff. 27 Hugo Preuß, in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 336, S. 251 f.: „Der Reichspräsident soll nicht die Möglichkeit haben, durch immer wiederholte Auflösungen aus demselben Anlass den Reichstag und die Wählerschaft mürbe zu machen.“; ders., in: ebd., Bd. 326, S. 291. 28 Dazu Heinrich Pohl, Die Auflösung des Reichstags, Stuttgart [u. a.] 1921, S. 27 f.; Schelcher, Entspricht die wiederholte Auflösung des Reichstags der Verfassung?, in: DJZ 29 (1924), Sp. 887 – 890; Carl Schmitt, „Einmaligkeit“ und „gleicher Anlaß“ bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: AöR 47 (1925), S. 162 – 174; Leo Wittmayer, „Einmaligkeit“ und „gleicher Anlaß“ bei der Reichstagsauflösung nach Art. 25 der Reichsverfassung, in: AöR 48 (1925), S. 87 – 90; anders allein Hugo Preuß, in: Verhandlungen des RT, Bd. 336 (FN 27), S. 251 („klar“).

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ihren Hauptzweck: Nämlich die Schaffung einer politischen Basis für die Politik von Reichspräsident und Regierungen. Wesentlich dominanter war dagegen ihr für Zeitgenossen absehbarer Nebeneffekt: Sie stellten Wegmarken auf dem Siegeszug der antirepublikanischen Parteien, namentlich der NSDAP, dar. Der Weg in die negativen Mehrheiten und die Auslieferung des Parlaments an die antirepublikanischen Parteien ist so ohne staatsrechtliche Not gegangen worden. Unter unveränderter Geltung der WRV amtierte so die erste Präsidialregierung (Brüning), welche zwar noch parlamentarisch regieren konnte, dies aber nicht mehr wollte; und danach diejenige der zweiten Präsidialregierung (Papen), welche dies weder konnte noch wollte29; und zuletzt die dritte (Schleicher), welche dies (möglicherweise) wollte, aber nicht mehr konnte. Aus dem ursprünglich angestrebten „Gleichgewicht“ war so eine einseitige Dominanz des Reichspräsidenten geworden. Ihr hatte der Reichstag infolge des rechtlich komplizierten und politisch kaum gangbaren Verfahrens der Reichspräsidentenabsetzung nach Art. 43 Abs. 2 WRV nichts entgegenzusetzen.

4. Von der normativen zur leerlaufenden Verfassung: Verfassungswandel intra constitutionem

Der hier nur exemplarisch skizzierte Wandel30 erfasste nicht nur einzelne Normen, sondern die gesamte Organisation und Ausbalancierung der Staatsgewalten durch die Weimarer Verfassung. Mit guten Gründen lässt sich formulieren: Die WRV lief seit 1930 praktisch leer.31 Bildung und Ausübung der Staatsgewalt verlagerte sich aus den konstitutionalisierten Organen, Formen und Verfahren heraus in informelle und parakonstitutionelle Gremien. Und dennoch fand jener Wandel durch verfassungsmäßig vorgesehene und an die Bestimmungen der WRV gebundene Organe statt. Ursächlich dafür waren nicht zuletzt die schweren politischen Herausforderungen und Probleme der Zeit. Sie erschienen vielfach derart gravierend und drängend, dass die in der parlamentarischen Republik konstitutionalisierten Verfahren der Diskussion, Konsens- bzw. Kompromisssuche sowie der Akzeptanzbeschaffung 29 So die Beschreibung von Dieter Grimm, Verfassungserfüllung – Verfassungsbewahrung – Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930 – 1933. Handlungsspielräume und Alternativen (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 26), München 1992, S. 183 – 199. 30 Ausführlicher Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (FN 3), S. 371 ff. 31 These nach Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (FN 3), S. 403 ff.; andere Autoren setzten für 1930 bereits das Ende der Republik an; siehe etwa Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1988 [1936], S. 477; vorsichtiger Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl. Düsseldorf 1984, S. 257 ff. („Wendepunkt“).

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nicht gangbar erschienen. Dabei ist zu berücksichtigen: Jene Verfahren sind Elemente jeder Staatsform, nicht nur des demokratischen Verfassungsstaates. Die parlamentarische Demokratie begründet nicht die Notwendigkeit, wohl aber die öffentliche Sichtbarkeit von Aushandlung, Kompromiss- und Konsenssuche. Dies galt umso mehr, als durch den Übergang von der konstitutionellen zur demokratischen Staatsform der Raum des Politischen wesentlich erweitert und für neue Themen, Akteure und Interessen geöffnet wurde.32 Alte und neue Akteure konnten nun Anspruch auf Teilhabe am Prozess der gesellschaftlichen und staatlichen Willensbildung erheben und so den politischen Prozess einschließlich seiner Regeln nicht nur nutzen, sondern zugleich mitgestalten. Auffällig war an dem zuvor angedeuteten Wandel: Er ging nicht von den Parlamenten, sondern regelmäßig von den Exekutiven unter Vorarbeit oder Billigung der Staatsrechtswissenschaft aus. Die Parlamente waren nicht Träger, sondern eher Betroffene der Entwicklungen. Namentlich der Reichstag wurde durch sie eher geschwächt als gestärkt. Gerade in der zweiten Hälfte der Republik zeigte sich die Tendenz zur Ausgrenzung und Selbstisolation der politischen Entscheidungsträger und damit eine Abwendung von den soeben angedeuteten Intentionen der Verfassung. So lag es nahe, dass die in zahlreichen Eliten geführte Verfassungsreformdiskussion der Spätzeit nahezu ausschließlich eine Diskussion über den Ausstieg aus der WRV war.33 Zu den Akteuren zählte auch die Rechtsprechung, deren verfassungsrechtliche Bedeutung durch die Schaffung des Staatsgerichtshofs (Art. 19 WRV)34 einerseits erhöht wurde. Andererseits kam sein Beitrag zur Entfaltung der Ideen der WRV spät und zögerlich. Die Justiz ist dem geschilderten Wandel weder grundsätzlich noch in zentralen Einzelfällen wirksam entgegengetreten. Auch manche Neuerungen (etwa die Rechtsprechung zum Wahl- und Parteienrecht) haben die Republik im Ergebnis eher geschwächt. Und am Preußenschlagurteil zeigte sich, dass der Staatsgerichtshof weder willens noch in der Lage war, die längst eingetretene Verfassungskrise mit den Mitteln der Justiz zu meistern. Zu den Akteuren zählte aber auch die Staatsrechtswissenschaft. Der Richtungsstreit35 löste kreative Potentiale 32 Näher dazu Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (= Historische Politikforschung, Bd. 1), Frankfurt a. M. 2005; zur Bedeutung der Revolution und zur WRV Christoph Gusy, Verfassungsumbruch und Staatsrechtswissenschaft: Die Verfassung des Politischen zwischen Kostitutionalismus und demokratischer Republik, in: ebd., S. 166 – 201. 33 Dazu näher Stefan Korioth, Rettung oder Überwindung der Demokratie – Die Weimarer Staatsrechtslehre im Verfassungsnotstand 1932 / 33, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 16), Baden-Baden 2000, S. 505 – 531; Christoph Gusy, Selbstmord oder Tod? Die Verfassungsreformdiskussion der Jahre 1930 – 1932, in: ZfP 40 (1993), S. 393 – 417, 401. 34 Zu ihm nach wie vor grundlegend Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, Diss. Univ. Bonn 1979. 35 Zu ihm etwa grundlegend Stolleis, Geschichte (FN 4), S. 153 ff. (Nachweise).

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aus, welche sowohl für als auch gegen den geschilderten Wandel in das Feld geführt werden konnten. Nicht wenige Autoren suchten in der WRV nach Regelungslücken, „dilatorischen Formelkompromissen“ oder systematischen Widersprüchen und vergrößerten dadurch nicht nur juristische Auslegungs-, sondern auch politische Handlungsfreiräume.

III. Verfassungsänderung zwischen Selbstpreisgabe und Selbststabilisierung der WRV Vor dem Hintergrund jenes dramatischen Wandels spielten sich die Weimarer Diskussionen über Verfassungsänderungen ab. Sie waren damals darauf gerichtet, änderungsfeste Elemente der Verfassung zu ermitteln und sie so formell oder materiell dem Zugriff parlamentarischer Mehrheiten zu entziehen. Gleichsam historische Bedeutung erlangten jene Ansätze ex post in der Diskussion um die „Legalität“ der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die praktische Relevanz des Art. 76 WRV war durchaus nicht gering: Jedenfalls ist der Wortlaut der WRV zwischen 1920 und 1932 nur achtmal geändert worden, davon bis 1924 sechsmal und danach noch zweimal. Jene Änderungen bezogen sich ganz überwiegend auf Formalien, namentlich die Amtszeit des Reichspräsidenten Ebert und die politisch allerdings wichtige Stellvertretung des Reichspräsidenten. Häufiger als solche expliziten Änderungen des Verfassungstextes waren implizite Änderungen durch Gesetze, welche den Inhalt der WRV änderten, ihren Text aber unangetastet ließen. Solche „Verfassungsdurchbrechungen“ außerhalb der Verfassungsurkunde selbst fanden sich von 1920 bis 1924 sechzehnmal, danach noch sechsmal. Schließlich gab es weitere Gesetze, deren verfassungsändernder Charakter umstritten oder zweifelhaft war. Solche Fälle traten bis 1924 mindestens dreizehnmal, danach noch mindestens sechsmal auf. Doch galt auch diese Aufzählung36 schon Zeitgenossen als möglicherweise unvollständig, die tatsächlichen Zahlen mögen höher gelegen haben. Der genaue Inhalt des Verfassungsrechts einschließlich aller Ausnahmen und Durchbrechungen war daher im Jahre 1930 nicht mehr zuverlässig zu ermitteln.37 Jener schon damals als unvollständig und unübersichtlich beklagte Rechtszustand38, motivierte eine intensive wissenschaftliche Diskus36 Nach Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben (FN 15), S. 226 ff.; ders., Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung. II. Teil (vom 1. Januar 1925 bis 31. Dezember 1928), in: JöR 17 (1929), S. 1 – 141, 139 ff.; ders., Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung. III. Teil (vom 1. Januar 1929 bis 31. Januar 1933), in: JöR 21 (1933/ 34), S. 1 – 204, 201 ff. Aufzählung auch bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 422 f. 37 Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 53, Anm. 2.

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sion, welche nach formellen und materiellen Grenzen der Verfassungsänderung fragte.39 1. „Formelle“ Grenzen der Verfassungsänderung

Art. 76 WRV handelte von der Änderung der Weimarer Verfassung, setzte also Geltung und Anerkennung formellen Verfassungsrechts voraus. Darauf wird zurückzukommen sein.40 Indem die Bestimmung für Verfassungsänderungen den „Weg der Gesetzgebung“ vorschrieb, traf sie eine grundlegende Festlegung: Da das Gesetzgebungsverfahren der Art. 68 ff. WRV als demokratisches ausgestaltet war, legte Art. 76 WRV fest: Über die Änderung der Verfassung der demokratischen Republik war nach den Regeln der demokratischen Republik zu entscheiden.41 Daran war nicht nur die Legislative, sondern auch der verfassungsändernde Gesetzgeber gebunden. Auch darauf wird zurückzukommen sein.42 Hauptstreitpunkt war damals die Zulassung formeller gesetzlicher Verfassungsdurchbrechungen43, also gesetzlicher Regelungen außerhalb der Verfassungsurkunde, welche zur Herstellung oder Klarstellung der Vereinbarkeit von Gesetzen mit der WRV im Verfahren des Art. 76 WRV verabschiedet 38 Kritisch namentlich Heinrich Triepel, in: Verhandlungen des 33. DJT, Berlin / Leipzig 1925, S. 45 ff.; ähnlich Alexander Graf zu Dohna, in: ebd., S. 31 ff. 39 Namentlich Sigmund Jeselsohn, Begriff, Arten und Grenzen der Verfassungsänderung nach Reichsrecht (= Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3), Heidelberg 1929; Franz Schlüter, Das verfassungsdurchbrechende Gesetz, Quakenbrück i. Hann. 1931; Hans Joachim Arnold, Begriff und Verfahren der Verfassungsänderung nach der Weimarer Reichsverfassung, Berlin 1932, zugleich Diss. Univ. Halle; Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7). Retrospektiv Hans Haug, Die Schranken der Verfassungsrevision. Das Postulat der richtigen Verfassung als normative Schranke der souveränen verfassungsgebenden Gewalt, St. Gallen 1947, zugleich Diss. Univ. Zürich 1946, S. 190 ff.; Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953, S. 19 ff. 40 Siehe umten IV. 41 Dass die Verfahrensbestimmungen des Art. 76 Abs. 1 WRV einerseits und die allgemeinen Regeln über das Gesetzgebungsverfahren andererseits gewisse Inkonsistenzen hinsichtlich der Mitwirkung des Reichsrates aufwiesen, wurde von den Zeitgenossen rasch und pragmatisch harmonisiert; dazu Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 408 (Nachweise); zum „reichlich langen und komplizierten“ Verfahren der Reichsgesetzgebung Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. München 1964, S. 244. 42 Vgl. dazu unten III. 1. und 2. 43 Historisch Ulrich Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung. Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der Europäischen Einigung. Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung (= Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 725), Berlin 1997, S. 32 ff., 39 ff.; Horst Ehmke, Verfassungsänderung und Verfassungdurchbrechung, in: AöR 79 (1953 / 54), S. 385 – 418; dort auch zum zeitgenössischen Streit um den Begriff der Verfassungsdurchbrechung in der Republik, welcher von zahlreichen Autoren eher materiell-rechtlich verstanden wurde. Dazu Nachweise auch bei Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 402.

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wurden. Die aus der Monarchie übernommene und in der Republik nicht seltene Handlungsform wurde überwiegend historisch gerechtfertigt: Der mit Art. 78 RV 1871 nahezu identische Normtext44 lege eine identische Auslegung nahe.45 Dem lag letztlich die gleichfalls schon konstitutionelle Auffassung von der einheitlichen rechtssetzenden Gewalt ohne Anerkennung eines besonderen pouvoir constituant zugrunde.46 „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben.“47 Wer dies so sah, konnte Verfassungsdurchbrechungen gleichsam als leges posteriores gegenüber der geschriebenen Verfassung ansehen. Namentlich die Rechtsprechung zog daraus den Schluss: „Für die Wirksamkeit einer Verfassungsänderung ist nicht erforderlich, dass sie vom Gesetzgeber ausdrücklich als solche bezeichnet oder gar als solche in die Verfassung aufgenommen wird.“48 Dagegen standen die Kritiker jener Grundauffassungen aus der Zeit der Monarchie – unter ihnen Hugo Preuß – wie auch der Republik, welche schon damals oder jedenfalls nunmehr einen Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz annahmen und daraus auf die Unzulässigkeit verfassungsdurchbrechender Gesetze schlossen.49 Abweichungen von der WRV außerhalb förmlicher Verfassungsänderungen seien keine Verfassungsänderung, sondern eine Verfassungswidrigkeit. Doch setzte sich diese Auffassung nicht durch, da sie im Verfassungstext keinen Niederschlag gefunden habe.50 Staatspraxis und Rechtsprechung folgten ihr nicht. Unabhängig von

44 Abweichend damals etwa Art. 29 Abs. 2 Verf. Hansestadt Lübeck vom 23. Mai 1920. 45 Z. B. Erwin Jacobi, Reichsverfassungsänderung, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. 1, Berlin / Leipzig 1929, S. 233 – 277, 259 f. Zum alten Recht etwa Meyer / Anschütz, Lehrbuch (FN 2), S. 661 f. 46 So etwa Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906, S. 2 ff. 47 Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 401; ähnlich Fritz Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht I, Berlin / Leipzig 1924, S. 665 f. Zu Anschütz’ Position Horst Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867 – 1948), in: ZNR 20 (1998), S. 28 – 48, 38 ff. (Nachweise). Es sei aber schon hier darauf hingewiesen, dass die Diskussionen um Grenzen der Verfassungsänderung einerseits und den Vorrang der Verfassung gegenüber andererseits damals nicht notwendig koinzidierten. Richtig differenzierend Dreier, ebd., S. 38 f. 48 RG, JW 1927, 2198. Zustimmend Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 401 f. (Nachweise); Walter Jellinek, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts II, Tübingen 1932, S. 182 – 189, 188; Triepel (FN 38), S. 48, bezeichnet diese Auffassung als „fast schon […] Gewohnheitsrecht“. 49 Hugo Preuß, Verfassungsändernde Gesetze und Verfassungsurkunde, in: DJZ 29 (1924), S. 649 – 654, 653 f. Von anderen Ausgangspunkten her zweifelnd Triepel (FN 38), S. 48; siehe auch Heinrich Piloty, Verfassungsänderungen ohne Änderungen der Verfassungsurkunde, in: DJZ 28 (1923), S. 512 – 516, 513; Johann Victor Bredt, Der Weg der Verfassungsänderung, in: ZGStW 28 (1927), S. 437 – 456, 439 ff.; Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 294.

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der Position im genannten Meinungsstreit bestand Einigkeit in der rechtspolitischen Kritik der Konsequenzen, namentlich der fehlenden Rechtsklarheit.51 Der 33. DJT forderte für die Zukunft eine Änderung des Verfassungstextes oder jedenfalls der Staatspraxis.52 Diese hatte schon zuvor mit einer Änderung der Geschäftsordnung der Reichsministerien reagiert, wonach Gesetzentwürfe der Regierung und die Verkündungsformel im Reichsgesetzblatt ausdrücklich auf einen verfassungsändernden Charakter hinweisen sollten.53 Seitdem ebbte die Diskussion ab.

2. „Materielle“ Grenzen der Verfassungsänderung

a) Hingegen dauerte die Diskussion um die materiell-rechtlichen Grenzen von Änderungen der WRV an. Auf der einen Seite des Spektrums stand die viel zitierte und vielfach aus dem Zusammenhang gerissene These Thomas von der „Schrankenlosigkeit“ des pouvoir constituant: Danach sei die Entscheidung des Weimarer Verfassunggebers für eine demokratische Republik Ausdruck „der Idee der freien demokratischen Selbstbestimmung“ bzw. demokratischer Freiheit. Dasselbe gelte aber auch für deren Abschaffung: Auch sie sei Ausdruck eben jener Freiheit: „Wie wäre sie sonst eine Freiheit?“54 Und diese Freiheit – aus der Idee des Selbstbestimmungsrechts des 50 Anders dagegen noch die Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung; ausführlich referiert bei Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 47 ff. 51 Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 202 Anm. 1: „bedenklich, ja geradezu verwerflich“. Bekannt ist das Bonmot von Triepel (FN 38), S. 50: „Nach Art. 148 RV soll jedem Schüler bei Beendigung der Schulpflicht ein Abdruck der Reichsverfassung in die Hand gelegt werden. Es wird bald die Zeit kommen, da man dem Schüler außer der Verfassung noch einen Kommentar wird schenken müssen, der ihm angibt, an wie vielen Stellen der Text der Verfassungsurkunde falsch oder unvollständig geworden ist.“ 52 33. DJT (FN 38), S. 57, auf Vorschlag Triepels. 53 §§ 32 GGORMin II in der Fassung vom 1. Mai 1924; auf einzelne Verstöße gegen die Bestimmung wies Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 75 f., hin. 54 Richard Thoma, Das Reich als Demokratie, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts I, Tübingen 1930, S. 186 – 200, 193. I. E. ähnlich ders., Grundbegriffe und Grundsätze, in: HDStR II (FN 48), S. 108–159, 154; ders., Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung I. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, Berlin 1929, S. 1 – 53, 38 ff.; zustimmend oder ähnlich Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, S. 3 ff.; Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 403 f.; Siegfried Jeselsohn, Begriff (FN 39), S. 67 ff.; siehe auch Peter Schneider, Geisteswissenschaften in den zwanziger Jahren: Staatstheorie in der Schweiz und in Deutschland, in: Knut Wolfgang Nörr [u. a.] (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 187 – 211, 201.

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Volkes hergeleitet – sei eine sowohl prinzipiell als auch durch die WRV unbegrenzte.55 Verfassungsänderungen seien möglich „ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite.“56 Aus jener „den Positivisten“ zugeschriebenen Auffassung, wurde zumeist aus der Sicht ihrer Gegner rasch jener Relativismus, jene Wehrlosigkeit und jener Hang zur Selbstpreisgabe hergeleitet, welcher für die Republik und ihre Verfassung angeblich prägend gewesen sein soll.57 Wegen dieser „Indifferenz“ sei sie dann auch der aggressivsten der neuen totalitären Parteien erlegen.58 Vor demselben Hintergrund konnte dann zugleich die These erwachsen, das NS-Regime sei eine legale Fortsetzung „Weimars“ gewesen.59 So zutreffend die Prämissen jener Kritik (keine materiell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsänderung aus der WRV) waren, so problematisch sind doch die genannten Schlussfolgerungen. Sie gehen an dem Umstand vorbei, dass die genannten Autoren die Verfassungsänderung der „demokratischen Selbstbestimmung“ überantwortet haben, wie es Art. 76 WRV anordnete.60 Hinsichtlich dieses Prozesses hatten die meisten von ihnen allerdings klare Vorstellungen: „Als legitim im Sinne einer demokratischen Idee können eine Verfassung und die auf sie gestützten Gewalthaber nur gelten, wenn sie auf einem in voller Freiheit gefassten Willensentschluss des gesamten Staatsvolkes beruhen.“61 Jene Freiheit dürfe gebildet und beeinflusst, aber nicht genötigt oder gewaltsam beeinträchtigt werden. Wenn also demokratische Willensbildung als geistige Auseinandersetzung zwischen Anschauungen und Interessen zu begreifen sei,62 so sei der demokratische Pro55 Thoma, Grundbegriffe (FN 54), S. 153: „Es hätte (der Nationalversammlung) auch freigestanden, den von ihr institutierten Legislativen […] nur eine begrenzte Kompetenz zur Verfassungsänderung zu übertragen.“ 56 Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 403. 57 Z. B. einerseits bei Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München / Leipzig 1932, S. 49 f., mit der Begründung: „Gegenüber einer ernst gemeinten Wertbehauptung und -bejahung bedeutet die ernst gemeinte Wertneutralität eine Wertverneinung.“; andererseits bei Ehmke, Grenzen (FN 39), S. 26 („befremdlich“). 58 BVerfGE 5, 85 (138). 59 Aus derselben Sichtweise erscheint als „Hüter der Verfassung“ unter den Staatsrechtlern der Zeit ausgerechnet Carl Schmitt; siehe zu seiner Position Schmitt, Legalität (FN 57), S. 52, 59, 88 ff.; ders., Der Hüter der Verfassung (= Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart 1), Tübingen 1931, S. 132 ff. („Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung“); ders., Das Problem der Legalität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 3. Aufl. Berlin 1985, S. 440 – 451; kritisch zu seinen Positionen aus der Weimarer Diskussion schon Richard Thoma, Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), S. 212 – 217; Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6 (1930 / 31), S. 576–628. 60 Dazu am Beispiel von Gerhard Anschütz Dreier, Ein Staatsrechtslehrer (FN 47), S. 28, 38 ff. 61 Thoma, Das Reich (FN 54), S. 192. 62 Hans Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933, S. 13 ff.

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zess eine geistige Auseinandersetzung zwischen Ideen und ihren Anhängern.63 Zu jenen „geistigen“ Mitteln wurden Obstruktion, Gewalt, Straßenterror und (Vorbereitung zum) Hochverrat ausdrücklich nicht gezählt.64 Wer also mithilfe von Drohung, Gewalt oder Terror politisch agiere, verlasse das Forum der Demokratie und den „Weg der Gesetzgebung“ im Sinne des Art. 76 WRV. In diesem Sinne rechtfertige der Zweck nicht jedes Mittel: Demokratisch zulässige Ziele dürften nur mit demokratischen Mitteln verfolgt werden.65 Dass dazu die Umstände der Etablierung der NS-Herrschaft – nur scheinbarer „Legalitätskurs“ als Propagandabehauptung66, massiver Straßenterror 1932, der ungleiche „Wahlkampf“ 1933 und die Einschüchterung des Reichstags vor dem Ermächtigungsgesetz – nicht im Mindesten passten, ist offensichtlich. Und dementsprechend haben sie gerade nach der geschilderten Auffassung die Grenzen des Art. 76 WRV gesprengt. Inhaltliche Offenheit der Verfassung für ihre eigene Änderung war demnach auch für die Autoren dieser Richtung keinesfalls gleichbedeutend mit Wehrlosigkeit oder gar „Selbstpreisgabe“67 der demokratischen Republik an ihre nationalsozialistischen Gegner.68 b) Materielle Grenzen der Verfassungsänderung aus der WRV selbst wurden nur vereinzelt hergeleitet. Sie betrafen regelmäßig nicht solche Änderungen, welche den Verfassungstext explizit abänderten, sondern solche, welche ihn außerhalb der constitutio scripta modifizierten. Diese Lehren stehen also den bereits benannten „Verfassungsdurchbrechungen“ nahe. Hier fanden sich namentlich zwei Wege. 63 Insbesondere Kelsen, Staatsform (FN 62); Gustav Radbruch, Staatsnotstand, Staatsnotwehr und Fememord, in: Die Justiz 5 (1929), S. 125–129; ders., Der Boxheimer Hochverrat, in: Die Justiz 7 (1931/ 32), S. 195 – 197; ders., Le relativisme dans la philosophie de droit, in: Archives de Philosophie du droit et de Sociologie juridique 4 (1934), S. 105 – 110 (deutsch in: ders., Der Mensch im Recht. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, Göttingen 1957, S. 80 – 87). Zu Radbruchs Demokratiekonzept jetzt auch Martin D. Klein, Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (= Juristische Zeitgeschichte: Abt. 4, Leben und Werk, Bd. 9), Berlin 2007. 64 Ausdrücklich in diesem Sinne Kelsen, Staatsform (FN 62); Radbruch, Der Boxheimer Hochverrat (FN 63), S. 197. 65 Dies war schon die – allerdings nicht stets ganz konsequent durchgehaltene – Position der Rechtsprechung in der Republik; Nachweis bei Gusy, Weimar (FN 20), S. 109 ff. Dagegen damals etwa Schmitt, Der Hüter (FN 59), S. 112 f., welcher ausschließlich ein Abstellen auf verfassungswidrige Ziele für mit der WRV vereinbar hielt. 66 Dazu Klaus Rüffler, Vom Münchener Landfriedensbruch bis zum Mord von Potempa: Der „Legalitätskurs“ der NSDAP, Frankfurt a. M. 1994. 67 Formulierung nach Karl Dietrich Erdmann / Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar – Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980 / 84; dort allerdings ohne Bezug zu Art. 76 WRV. 68 Gustav Radbruch ging 1934 noch viel weiter. „La majorité d’aujourd’hui ne peut pas établir une dictature indistructible pour toutes les autres majorités de demain et d’après demain.“ Radbruch, Le relativisme (FN 63), S. 109.

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Eine Lehre versuchte mit Hilfe logischer Operationen, dem Verfassungstext änderungsresistente Elemente zu entnehmen. Wenn nach Art. 43 Abs. 2 WRV die Absetzung des Reichspräsidenten nur auf Antrag des Reichstags (mit 2/3-Mehrheit) und nachfolgender Volksabstimmung zulässig sei, so sei eine verfassungsdurchbrechende Absetzung unmittelbar durch den Reichstag ausgeschlossen. Ebenso wenig könne ein verfassungsdurchbrechendes Gesetz ausschließen, dass gegen es selbst Einspruch durch den Reichsrat eingelegt (Art. 74 Abs. 1 WRV) oder eine Volksabstimmung eingeleitet werden dürfe (Art. 73 Abs. 3 WRV).69 Letztlich liefen derartige Einzelfälle auf ein Umgehungsverbot hinsichtlich einzelner Normen der WRV durch den Gesetzgeber hinaus. So stärkten sie den damals noch schwach ausgestalteten und umstrittenen Vorrang der WRV gegenüber dem Gesetz:70 Es sei ein Unterschied, ob man die Verfassung ändere oder gegen die Verfassung verstoße.71 Andere positiv-rechtliche Eingrenzungsversuche bezogen sich auf Art. 76 WRV selbst. Wenn die Verfassung „im Wege der Gesetzgebung“ geändert werden dürfe, müsse die Änderungsnorm notwendig „Gesetz“ sein. Hier setzte sich der Streit um den „Gesetzesbegriff der Verfassung“72 fort. Dessen Grundlage war namentlich die noch aus dem Konstitutionalismus mitgeschleppte Kontroverse um den „formellen“ bzw. „materiellen“ Gesetzesbegriff.73 Wer in diesen Bahnen dachte und zugleich die „Gesetzgebung“ im Sinne des Art. 76 WRV dem materiellen Konzept zuordnete, konnte weiter differenzieren. „Gesetze“ seien allein generell-abstrakte Normen im Unterschied zu konkreten Maßnahmen, welche der Legislative verwehrt und als Rechtssetzungsakte allein der Ausnahmekompetenz des Art. 48 Abs. 2 WRV zugewiesen seien.74 Das klang zunächst wie ein – später vielfach relativiertes75 – Durchbrechungsverbot gegenüber der sog. „Diktaturgewalt“ des Reichspräsidenten und damit ein Verfassungsänderungsmonopol zugunsten 69 So etwa Heinrich Triepel, Das Abdrosselungsgesetz, in: DJZ 31 (1926), S. 845 – 850; weitere Beispiele bei Thoma, Die juristische Bedeutung (FN 54), S. 46. 70 Dazu retrospektiv Götz-Friedrich Schau, Das Verhältnis von Verfassung und einfachem Recht in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2002. Theoretisch schon Horst Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Karsten Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, Berlin 1994, S. 113 – 146; Theodor Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen (= Berliner juristische Universitätsschriften, Reihe Grundlage des Rechts, Bd. 1), Berlin 1994, S. 54 ff. 71 Bredt, Der Weg (FN 49), S. 440. 72 Dazu Überblick bei Hermann Heller / Max Wenzel, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 98 – 135 / 136 – 167. 73 Dazu grundlegend Paul Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preussischen Verfassungs-Urkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, Berlin 1871. 74 So Schmitt / Jacobi, Die Diktatur (FN 24), S. 95 ff., 118. 75 Dazu etwa Schmitt, Der Hüter (FN 59), S. 122 ff.

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der Legislative des staatsrechtlichen Normalzustandes.76 Andere Autoren versuchten eine weitere Materialisierung des Gesetzesbegriffs aus dem Willkürverbot77 oder aus der Idee der Gerechtigkeit.78 Solche Herleitungen verließen teils mehr, teils weniger den Boden der geschriebenen Verfassung zugunsten jedenfalls auch naturrechtlicher Argumentation.79 Zumindest letzteren ging es also auch um die Herleitung von Grenzen der Gesetzgebung aus dem überpositiven Recht. Dass sich solche Grenzen dann jedenfalls nicht nur aus der geschriebene WRV herleiten lassen konnten, lag nahe. Wer also den Begriff der Gesetzgebung dermaßen eingrenzte, limitierte damit sowohl die Zulässigkeit gesetzlicher Verfassungsdurchbrechungen als auch diejenige der förmlichen Verfassungsänderung „im Wege der Gesetzgebung“.80 Folgenreich blieb jene Frage namentlich für die Verfassungsdurchbrechungen: Hier pluralisierte sich der Begriff; er wurde in der Spätzeit der Republik nicht mehr bloß im formellen Sinne, sondern daneben auch materiell – im Sinne einer einzelfallbezogenen Ausnahme von allgemeinen Verfassungsnormen – begriffen.81 Die hier genannten Lehren gingen also von einer 76 Modifizierend nochmals Carl Schmitt, Rezension: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (3. und 4. Aufl. Berlin 1926), in: JW 55 (1926), S. 2270 – 2272, 2271 f.; kritisch dazu Jeselsohn, Begriff (FN 39), S. 67 ff. Zum Meinungswandel in der Republik Gusy, Weimar (FN 20), S. 66 ff. 77 So Gerhard Leibholz, Die Verfassungsdurchbrechung. Betrachtungen aus Anlaß der geplanten parlamentarischen Reichspräsidentenwahl vom Januar 1932, in: AöR 61 (1932), S. 1 – 26, 15 f. Zu seinem zugrunde liegenden Gleichheitskonzept ders., Die Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Studie auf rechtsvergleichender und rechtsphilosophischer Grundlage (= Öffentlich-rechtliche Abhandlungen, Bd. 6), Berlin 1925, S. 72 ff.; Manfred Wiegandt, Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901 – 1982) – Leben, Werk und Richteramt (= Studien und Materialen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. 62), Baden-Baden 1995, S. 100 ff. 78 Allen voran Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2–24, 2 ff.; ähnlich jedenfalls der Terminologie nach Triepel, Das Abdrosselungsgesetz (FN 69), S. 850: „Wer der Göttin der Gerechtigkeit dient, soll ihren Thron auch vor den Angriffen eines machtlüsternen Gesetzgebers schützen, der sich vermisst, stärker zu sein als das Recht, das auch ihn bindet.“ 79 Auf erstere, namentlich Art. 109 WRV, berief sich immerhin noch Leibholz, Die Gleichheit (FN 77), S. 30 ff.; auf letzteres explizit Kaufmann, Die Gleichheit (FN 78), S. 3 ff. 80 So oder ähnlich in Ergänzung und Begründung auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, S. 102 ff.; Carl Bilfinger, Verfassungsumgehung. Betrachtungen zur Auslegung der Weimarer Verfassung, in: AöR 50 (1926), S. 163 –191, 163 ff.; siehe auch Thoma, Grundbegriffe (FN 54), S. 155 ff. Unklar blieb, ob jene Grenzen ausgeschlossene Regelungen schon begrifflich aus dem Bereich der Gesetzgebung ausscheiden sollten oder aber Bedingungen für deren verfassungsrechtliche Unzulässigkeit darstellen sollten. 81 In diesem Sinne kannte etwa Loewenstein, Erscheinungsformen (FN 7), S. 245 f., auch Verfassungsdurchbrechungen innerhalb der Verfassungsurkunde selbst. Diese Auffassung war nach Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 402, Fußnote 1, „ziemlich verbreitet“, wobei er die eigene Gegenauffassung aber „immer noch als die herrschende Meinung“ qualifizierte.

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grundsätzlichen Begrenztheit der verfassungsändernden Gewalt in materiell-rechtlicher Hinsicht aus. Die Grenzen selbst sollten entweder aus überpositivem Recht oder aber auch aus den – dieses konkretisierenden – Normen der Weimarer Verfassung hergeleitet und regelmäßig durch ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen82 abgesichert werden. Zugleich blieben sie aber vage. Einerseits waren Republik und Verfassung nicht wehrlos. Anderseits ließ sich nach jenen Auffassungen kaum konkretisieren, wogegen sie im materiellen Sinne wehrhaft sein sollten. c) Die verfassungstheoretische Begründung materieller Grenzen der Verfassungsänderung basierte nahezu stets auf der zeitgenössischen Unterscheidung von „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“ bzw. „Verfassungsrecht“. Während erstere auf einen Souveränitätsakt der verfassunggebenden Gewalt zurückgehe, seien letztere von ihr erst abgeleitet. Hier kam die schon ältere Dichotomie von pouvoir constituant und pouvoir constitué, Verfassunggebung und Verfassungsänderung zur Entfaltung. Verfassunggebung beziehe sich auf die geistig-politischen Grundlagen des Staates, welche dem positiven Verfassungsrecht teils vorauslägen, teils aber auch in ihm zum Ausdruck gebracht seien. „Die Verfassungsgesetze gelten erst aufgrund der Verfassung und setzen eine Verfassung voraus.“83 Die WRV zähle danach also – verfassungstheoretisch gesprochen – zum pouvoir constitué. Das gelte dann aber auch für die von ihr eingesetzte verfassungsändernde Gewalt des Art. 76 WRV:84 Sie sei auf Änderungen des Verfassungsgesetzes beschränkt, dürfe hingegen nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Verfassunggebung eingreifen. Verlief demnach die Kompetenzgrenze zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung an der Grenze von Verfassung und Verfassungsrecht, so ergaben sich erste begriffliche Unterscheidungen:85 Ausschließlich der Verfassunggebung vorbehalten sei die Verfassungsvernichtung, also die Aufhebung einer Verfassung ohne ihre Ersetzung durch eine andere; die Verfassungsbeseitigung, also die völlige Aufhebung einer Verfassung unter Ersetzung durch eine neue; schließlich die Verfassungsdurchbrechung im materiellen Sinne durch konkrete Einzelmaßnahmen im Notstand: Diese sei der Notstandsgewalt, nicht hingegen der Verfassungs82 So etwa Kaufmann, Die Gleichheit (FN 78), S. 18 ff.; Triepel (FN 38), S. 59 ff.; James Goldtschmidt, Gesetzesdämmerung, in: JW 53 (1924), S. 245 – 249. Historisch näher Dreier, Ein Staatsrechtslehrer (FN 47), S. 40 ff. (Nachweise); Helge Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 128), Göttingen 1984, S. 43 ff. 83 Schmitt, Verfassungslehre (FN 80), S. 22. Gegen Verfassunggebung nach Art. 76 WRV schon Schmitt, Der Hüter (FN 59), S. 113. 84 Zu den unterschiedlichen Gesetzgebern der WRV aus der Sicht Schmitts ders., Legalität (FN 57); ebd. zur Verfassungsänderung nach Art. 76 WRV („außerordentlicher Gesetzgeber ratione materiae“) S. 40 ff. 85 Schmitt, Verfassungslehre (FN 80), S. 91 ff., 101 ff.

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änderung im Normalzustand vorbehalten.86 Was dort begrifflich angelegt war,87 ließ sich allerdings rechtlich schwer fassen. Auch wer solche oder ähnliche verfassungstheoretische Ansätze zugrunde legte, leitete daraus – wie etwa Rudolf Smend – keineswegs stets konkrete rechtliche Grenzen der Verfassungsänderung her.88 Kaum konkreter wurde auch Carl Schmitt, welcher als einige Grundelemente der zeitgenössischen Verfassung die Entscheidungen für die Demokratie, die Republik, den Bundesstaat, das parlamentarische Regierungssystem und den „bürgerlichen Rechtsstaat“ bezeichnete.89 Ob – und gegebenenfalls in welchem Umfang – diese deshalb durch den verfassungsändernden Gesetzgeber änderbar seien, ließ er hingegen explizit offen.90 Vielmehr versuchte er im Jahre 1932 die Grenzen der Verfassungsänderung eher funktionell zu bestimmen: Maßgeblich seien Legitimationsgrundlagen und -grenzen der konkurrierenden Rechtssetzungssysteme innerhalb der WRV sowie politische und rechtliche Folgenerwägungen hinsichtlich ihres möglichen Wirkens.91 Um etwas konkretere Aussagen über rechtliche Grenzen bemühten sich am ehesten Ansätze, welche Elemente der geistigen „Verfassung“ im positiven Verfassungsrecht zu erkennen versuchten. Sie suchten dann „Grundprinzipien des gegebenen Verfassungssystems“92 oder ungeschriebene Rechtsgrundsätze, 86 Hier kehrte die Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme wieder; dazu schon oben unter b). 87 Gegen Schmitts „Begriffsrealismus“ schon Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München / Leipzig 1928, S. 37 f.; Ehmke, Grenzen (FN 39), S. 52 f: „Die Begriffe konstituieren für ihn die Wirklichkeit.“ Bezeichnenderweise lautete die Kapitelüberschrift zu den hier maßgeblichen Passagen bei Schmitt denn auch: „Aus dem Begriff der Verfassung abzuleitende Begriffe“. 88 So etwa Ehmke, Grenzen (FN 39), S. 57: Man werde sich „hüten müssen, aus der Staats- und Verfassungstheorie Smends voreilige Schlüsse auf die Beantwortung der Frage nach den Grenzen der Verfassungsänderung zu ziehen.“ Etwas weiter ging auf der Basis der Integrationslehre Dau-Lin, Die Verfassungswandlung (FN 13). Danach „kann etwas, was in Ansehung der Selbsterhaltung des Staates geschieht, formaljuristisch zwar manchmal zu den positiven Verfassungsnormen in klarem Widerspruch stehen, verfassungstheoretisch aber keineswegs rechtswidrig, das heißt verfassungswidrig sein.“ Andererseits sei es aber auch unzulässig, „der geschriebenen Verfassung jede wirkliche Bedeutung abzusprechen.“ (ebd., S. 182). Kritisch gegen solche Schlussfolgerungen Ehmke, Grenzen (FN 39), S. 63 ff. 89 Schmitt, Verfassungslehre (FN 80), S. 23 f. 90 Carl Schmitt, Zehn Jahre Reichsverfassung, in: JW 58 (1929), S. 2313–2315, 2314, karikierte die Suche nach konkreten Grenzen der Verfassungsänderung als Suche nach einem Katalog „unpfändbarer Sachen“. 91 Dazu ders., Legalität (FN 57), passim; aufschlussreich auch seine Selbstdeutung in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 59), S. 345: „ein […] Versuch, das Präsidialsystem, die letzte Chance der Weimarer Verfassung, vor einer Jurisprudenz zu retten, die es ablehnte, nach Freund oder Feind der Verfassung zu fragen.“ 92 Carl Bilfinger, Nationale Demokratie als Grundlage der Weimarer Verfassung. Rede bei der Feier der zehnjährigen Wiederkehr des Verfassungstags gehalten am 24. Juli 1929 (= Hallische Universitätsreden, Bd. 43), Halle (Saale) 1929, S. 15 f.

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die sich aus dem Wesen der Verfassung ergeben.93 Worin diese liegen sollten, blieb aber unausgearbeitet. d) Zusammenfassend ergibt sich ein gleichermaßen ernüchterndes wie aber auch kurioses Bild: Eine Reihe derjenigen Autoren, welche materiellrechtliche Grenzen der Verfassungsänderung verneinten, verwiesen zugleich auf das Demokratieprinzip und den demokratischen Prozess der Gesetzgebung, aus welchen sie im Wege systematischer Auslegung je länger je mehr – und vielfach erst um das Jahr 1933 – immer konkretere Vorstellungen für Verfahren und Grenzen einer Verfassungsänderung nach Art. 76 WRV formulierten.94 Wer hingegen in der Republik materiell-rechtliche Grenzen der Verfassungsänderung bejahte, begnügte sich mit deren allgemeiner Begründung, ohne ihren Verlauf näher benennen zu können oder zu wollen. Und wer dies dennoch versuchte, entnahm jene Grenzen weniger der Weimarer Verfassung selbst als vielmehr einer allgemeinen Theorie der Verfassung, welche jedenfalls keine spezifische Theorie der WRV war. Dann ging es eher um den Erhalt des Verfassungsstaates als solchen, wohl kaum hingegen um den Erhalt der WRV. Was von ihr konkret erhaltenswert sei und was nicht, war seit 1930 Gegenstand einer intensiven Verfassungsreformdiskussion geworden, der es – wie erwähnt – ganz überwiegend um den Ausstieg aus der WRV, nur ganz vereinzelt hingegen um die Rückkehr zu ihr ging.95 Das Fazit erscheint paradox: Wer materiell-rechtliche Grenzen der Verfassungsänderung verneinte, wusste bisweilen die Anforderungen an Verfassungsänderungen auf dem Boden der WRV näher zu bestimmen als diejenigen, welche materiell-rechtliche Schranken anerkennen wollten.96 93 Carl Bilfinger, Verfassungsfrage und Staatsgerichtshof, in: Zeitschrift für Politik 20 (1930 / 31), S. 81 – 99, 85 ff. Ähnlich möglicherweise auch, aber unausgearbeitet Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, Berlin 1931, S. 24. 94 Siehe oben unter a). 95 Dazu oben II. 4. (Nachweise). 96 Von daher ist auch die Behauptung, „der Positivismus“ bzw. „die Positivisten“ hätten die Republik wehrlos gemacht und dadurch ihre Zerstörung wesentlich begünstigt, historisch nicht verifizierbar. So richtig Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht? Zur Analyse und Kritik der Radbruch-These, in: Ralf Dreier / Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a. M. 1989, S. 323–354; Horst Dreier, Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Heinz Mayer (Hrsg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Robert Walter, Wien 1991, S. 117 – 135; ders., Ein Staatsrechtslehrer (FN 47), S. 28, 35 f. (Nachweise); Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklung in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus (= Münchener Universitätsschriften: Reihe der juristischen Fakultät, Bd. 100), München 1994, S. 365 ff.; Peter Caldwell, Legal Positivism and Weimar Democracy, in: American Journal of Jurisprudence 39 (1994), S. 273 – 301; Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus (= Erfahrung und Denken, Bd. 45), 2. Aufl. Berlin 1992, S. 187 ff. Anders aber etwa Carl Hermann Ule, Gerhard Anschütz – ein liberaler Staatsrechtsleh-

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3. Eine ex-post-Diskussion: Ermächtigungsgesetz 1933 und die WRV

Die Diskussionen um die Vereinbarkeit des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 mit der WRV war eine typische ex-post-Diskussion: Sie konnte erst nach 1945 aufkommen und blieb daher ausschließlich eine historische.97 Schon im Jahre 1933 war die „Gleichschaltung“ dermaßen weit fortgeschritten, dass es in Deutschland hierzu keine freie wissenschaftliche Erörterung mehr gab. Damals fanden sich nur zwei Alternativen: Öffentliche Zustimmung oder Schweigen. Auffällig war jedenfalls, dass seinerzeit Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz auch von Autoren kam, welche früher auf Grenzen der verfassungsändernden Gewalt beharrt hatten.98 Hingegen äußerten sich alle führenden Vertreter der Gegenauffassung damals nicht. Die Legalitätsthese behauptete die Vereinbarkeit des Ermächtigungsgesetzes mit der WRV, namentlich dem Art. 76 WRV. Doch hatten die Legalitätsbehauptungen der NSDAP schon in der Republik ausschließlich takrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: DSt 33 (1994), S. 104 – 112, 111; wohl auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, München 1990, S. 23 („Fiasko des Rechtspositivismus“). 97 Aus der älteren Literatur Adolf Arndt, Zur Rechtsgültigkeit nationalsozialistischer Gesetze, in: DRZ 3 (1948), S. 240 – 241; Richard Thoma, in: DRZ 3 (1948), S. 141 – 143, 142 f.; Arnold Brecht, Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik, Wien 1948, S. 133 ff. Später etwa Hans Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Bericht über das Zustandekommen und die Anwendung des Gesetzes, Bonn 1955; ders., Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland I, 3. Aufl. Heidelberg 2003, S. 177–234, Rn 85 ff.; siehe auch Rolf Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: Isensee / Kirchhof, ebd., S. 235–265, 238, Rn 5; Theodor Heuss, Die Machtergreifung und das Ermächtigungsgesetz. Zwei nachgelassene Kapitel der „Erinnerungen 1905 – 1933“, hrsg. von Eberhard Pikart, Tübingen 1967; Ulrich Mathée, Die Legalität des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 und die Schranken der Verfassungsrevision in der Weimarer Verfassung, Diss. Univ. Kiel 1971; Michael Frehse, Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914 – 1933, Pfaffenweiler 1985, S. 145 ff. (Nachweise). 98 Allen voran Carl Schmitt, Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, in: DJZ 38 (1933), S. 455 – 458; ders., Ein Jahr nationalsozialistischer Verfassungsstaat, in: Deutsches Recht 4 (1934), S. 27 – 30; ders., Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in: JW 63 (1934), S. 713 – 718, 715 ff. Seine gewandelten Äußerungen erklärt der Autor mit „ganz anders strukturierten Situationen, die überhaupt erst aus dem Zusammenbruch der Weimarer Legalität entstanden sind“; siehe ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 59), S. 350. Warum diese „Strukturen“ oder „Situationen“ ihn zu einem Meinungswandel oder überhaupt zu Äußerungen zum Thema veranlasst haben können, führte er aber nicht aus. Historisch Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Berlin 1992, S. 177 ff., 187 ff. Inhaltlich wie Schmitt etwa Carl Bilfinger, Das Reichsstatthaltergesetz, in: AöR 63 (1934), S. 131 – 165, 133, 150; Ulrich Scheuner, Die nationale Revolution. Eine staatsrechtliche Untersuchung, in: AöR 63 (1934), S. 166 – 220, 173; Helmut Nicolai, Zum Gesetz über den Neuaufbau des Reiches, in: DJZ 39 (1934), S. 233 – 238, 234; Franz Albrecht Medicus, Der Neuaufbau des Reichs nach dem Gesetz vom 30. Januar und der ersten Durchführungsverordnung vom 2. Februar 1934, in: AöR 64 (1934), S. 64 – 82, 65 f.

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tisch-propagandistische Funktion eingenommen.99 Und die Praxis des Jahres 1933 widersprach schon dem zeitgenössischen staatsrechtlichen Erkenntnisstand. Das gilt schon für die Behauptung, das erforderliche Zustimmungsquorum sei erreicht worden, selbst wenn man die 81 Mandate der verhafteten bzw. verfolgten und daher abwesenden KPD-Abgeordneten zu den 94 opponierenden Stimmen der SPD hinzurechne. Die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der WRV ließe sich damit aber allenfalls dann begründen, wenn Art. 37 WRV die betroffenen Abgeordneten ausschließlich in ihrem individuellen Interesse, nicht aber mit ihnen zugleich die Funktionsfähigkeit und Abstimmungsfreiheit des Reichstags insgesamt garantierte. Doch war letztere Auffassung in der Republik faktisch konkurrenzlos.100 Wie stark der unmittelbare und mittelbare politische Druck namentlich auf die Abgeordneten der Mittelparteien damals empfunden wurde, ist vielfach dokumentiert.101 Die von der NSDAP ganz wesentlich mitverursachten bürgerkriegsähnlichen Zustände des Jahres 1932 und der „Wahlkampf“ des Jahres 1933 hatten mit Legalität jedenfalls im Sinne der WRV nichts zu tun. Und die einschüchternden Begleitumstände der Reichstagssitzung vom 23.3.1933 hatten es auch nicht. Das Ermächtigungsgesetz war nicht „legal“ im Sinne der Weimarer Verfassung. Doch wurde die Verfassung auch nicht (erst) vom Ermächtigungsgesetz zerstört. Dass dieses unter den angedeuteten Vorgaben überhaupt beschlossen werden konnte, zeigt, wie sehr die WRV schon im März 1933 zerstört war. Wann auch immer jener Prozess eingesetzt hatte (1930 oder 1932 oder am 30. Januar 1933), so war dies nicht im Wege der Verfassungsänderung geschehen, sondern aufgrund des zuvor beschriebenen Verfassungswandels hin zur „leerlaufenden Verfassung“ am Verfahren des Art. 76 WRV vorbei.102 Und es ist auch nicht durch den Reichstag bzw. die verfassungsändernden Organe nach der WRV geschehen, sondern an ihnen vorbei und in einem hohen Maße gegen sie. Ursächlich waren außerparlamentarische Ursachen in der Exekutive und anderen politischen Eliten, welche den in der Verfassung vorgesehenen demokratischen Prozess entleerten, sodann dessen politische Substanz durch eine Serie von Reichstagsauflösungen zerstörten und damit die geltende Verfassung von innen heraus 99

Nochmals Rüffler, Vom Münchener Landfriedensbruch (FN 66). Anschütz, Die Verfassung, 14. Aufl. (FN 6), S. 232: nicht Privileg des Abgeordneten, sondern Privileg des Parlaments. Alexander Graf zu Dohna, Insbesondere: Redefreiheit, Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht, in: HDStR I (FN 54), S. 439 – 449, 445 f.: „nicht um ein Vorrecht des einzelnen Abgeordneten, sondern um ein Schutzrecht des Hauses“ im „Interesse der Legislative am ungestörten Fortgang der parlamentarischen Arbeit“. Daher könne ein Verzicht des einzelnen Abgeordneten auf jenen Schutz die Genehmigung des Hauses nicht ersetzen. 101 Historisch Rudolf Morsey (Hrsg.), Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“, 2. Aufl. Düsseldorf 1992, S. 129 ff.; Heuss, Die Machtergreifung (FN 97). 102 Siehe oben II. 4. 100

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paralysierten. Dies alles geschah im Rahmen und unter Missbrauch der Verfassung103 des Normal- bzw. des Ausnahmezustandes und wäre daher jedenfalls durch Vorkehrungen nach Art des Art. 79 Abs. 3 GG nicht verhinderbar gewesen.104 Die nationalsozialistische Herrschaft war also nicht Ausdruck demokratischer Legalität im Rahmen der WRV, sondern vielmehr Folge ihres tiefsten Niedergangs. Die Legalitätsthese stößt inzwischen zu Recht weithin auf Ablehnung.105 Sie diente ganz überwiegend der Verantwortungsverlagerung für die nationalsozialistische Herrschaft auf Faktoren, die sich nach 1945 nicht wehren konnten. Zu ihnen zählte an prominentester Stelle die WRV.

IV. Verfassungszerstörung: Die Irrelevanz unserer Fragestellung nach 1933 Das Ermächtigungsgesetz war also nicht „legal“. Und bekanntlich haben sich die Nationalsozialisten alsbald auch nicht mehr daran gehalten. Sie handelten also selbst im Sinne des Ermächtigungsgesetzes in wesentlichen Fragen illegal. Allenfalls noch einzelne Fragmente der WRV wurden als Legitimationskulisse herangezogen, bis auch dies überflüssig erschien.106 Spätestens seit dem Tode Hindenburgs und der Selbsternennung Hitlers zum „Führer und Reichskanzler“107 war die WRV ohne Gegenstand: Der 103 So die zusammenfassende These von Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 498 ff. 104 Einzelne Aspekte hierzu bei Horst Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes. Sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Verfassung (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 57), Berlin 2009. 105 Ablehnend etwa Stolleis, Geschichte (FN 4), S. 246 f., 317 ff.; Dreier, Ein Staatsrechtslehrer (FN 47), S. 40; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Aufl. München 2005, S. 389 ff.; Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. München 2009, S. 310 ff.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (FN 3), S. 151 f., 459 ff. (alle mit weiteren Nachweisen). 106 Die einzelnen Schritte sind ausführlich dokumentiert; etwa bei Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte (FN 105); Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 105), S. 385 ff. Ganz wichtig ist bei der Beschreibung dieses Weges und seiner rechtlichen Bewertung nicht allein der Blick in das Reichsgesetzblatt, sondern auch derjenige auf die alltägliche Praxis; dazu etwa Frank Grube / Gerhard Richter, Alltag im Dritten Reich. So lebten die Deutschen 1933–1945, Hamburg 1982, S. 25 ff.; Josef Becker / Ruth Becker (Hrsg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl. München 1993, S. 31 ff.; psychologisch Hans v. Hentig, Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung. Robespierre, Saint-Just, Fouché, Frankfurt a. M. 1970; literarisch Heinz Liepman, Das Vaterland, Hamburg 1979 [Amsterdam 1933]. 107 Reichsgesetz vom 1. August 1934, RGBl I 747.

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Staat, den sie verfassen sollte und zeitweise verfasst hatte, existierte nicht mehr. So geriet sie außer Geltung und brauchte bekanntlich nicht einmal mehr förmlich aufgehoben zu werden. Die zeitgenössische Deutung dieser Ereignisse war bekanntlich ambivalent. In der Frühzeit des NS konkurrierten die Legalitäts- und die Revolutionsthese miteinander.108 Sie konnten zunächst parallel existieren, weil beide unterschiedliche Legitimationsbedürfnisse befriedigten. War die Legalitätsthese nach „außen“ gerichtet und sollte primär politisch Andersdenkende oder Indifferente überzeugen, so richtete sich die Revolutionsthese an die Anhänger der neuen Regierungsform nach „innen“. Hier kann nur eine Folge interessieren: Auf der Basis der Legalitätsthese konnte ein Fortgelten der WRV behauptet werden, während die Revolutionsthese von deren Überwindung ausging. Parallel zur Festigung des Regimes verschwand die Legalitätsthese seit 1934 rasch.109 Fortan wandten nur noch einzelne Gerichte politisch eher neutrale Regelungen der WRV als „untergeordnete, gewöhnliche Gesetze“110 an.111 Für unser Thema ist wichtig: Der nationalsozialistische Staat hat das alte Verfassungsrecht zerstört, aber kein neues aufgebaut.112 Schon die Idee eines eigenen Verfassungsrechts mit Geltungsanspruch wurde explizit abgelehnt. „Es gibt keine geschriebene Verfassungsurkunde des neuen Reiches.“113 Was ursprünglich gegen die WRV gemünzt war, konnte zugleich

108 Dargestellt und diskutiert z. B. bei Ernst Rudolf Huber, Das Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1937/ 39, S. 44 ff., 46 ff. Historisch Wolfgang Meyer-Hesemann, Legalität und Revolution. Zur juristischen Verklärung der nationalsozialistischen Machtergreifung als „legale Revolution“, in: Peter Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht in Nationalsozialismus, Münster 1985, S. 110 – 136; Gerhard Dannemann, Legale Revolution, Nationale Revolution. Die Staatsrechtslehre zum Umbruch von 1933, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S. 3 – 22; Joachim Lege, Neue methodische Positionen in der Staatsrechtslehre und ihr Selbstverständnis, in: ebd., S. 23 – 43; Florian Scriba, „Legale Revolution“? Zu den Grenzen verfassungsändernder Rechtssetzung und der Haltbarkeit eines umstrittenen Begriffs (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 80), 2. Aufl. Berlin 2009. 109 Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 50: „Die Weimarer Verfassung hat durch die nationalsozialistische Revolution den Rang einer […] Grundordnung für das politische Sein des Volkes verloren. Sie hat aufgehört, die geltende Verfassung des Deutschen Reiches zu sein.“ 110 So die Formulierung bei Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 54. 111 Siehe etwa RGZ 157, 197; 167, 367. 112 Hierzu näher Stolleis, Geschichte (FN 4), S. 316 ff.; Horst Dreier / Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: VVDStRL 60 (2001), S. 9 – 72 / 73 – 105. 113 Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 55. Ebenso Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht. Ein Grundriss, Berlin 1936, S. 60: „Der nationalsozialistische Staat kennt eine staatsrechtliche Unterscheidung zwischen Verfassung und einfachem Gesetz […] nicht mehr.“

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als Programm von NS-Staat und NS-Rechtswissenschaft gelten: Nicht nur die alte Verfassung, auch das alte Verfassungsdenken wurde nun diskreditiert als Ausdruck eines „verfehlten juristischen Formalismus, eines verfassungsrechtlichen Positivismus und Normativismus.“114 Demgegenüber sei die neue Verfassung „die ungeschriebene politische Grundordnung des Staates“.115 Sie sollte ebenso wie alle Politik und alles Recht dem Führerwillen als oberster und letzter Rechtsquelle untergeordnet sein.116 Damit entfielen Relevanz und Darstellbarkeit unseres Themas: Fortan gab es weder ein formelles Verfassungsrecht117 noch eine Funktionsdifferenzierung zwischen Institutionen, Verfahren und Legitimationssträngen der Rechtssetzung oder Rechtsänderung.118 Die nationalsozialistische Rechts- und Verfassungszerstörung zerstörte so mit der Verfassung auch Recht und Verfassung der Verfassungsänderung.

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Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 49. Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 55. Ebenso Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht (FN 113), S. 55: „Letzte und oberste Rechtsquelle ist die nationalsozialistische Rechtsidee, die im Rechtsgefühl des Volkes ihren Ausdruck findet.“ 116 Dazu ohne Unterscheidung formeller Rang- und Hierarchiestufen in der Rechtsordnung Huber, Das Verfassungsrecht (FN 108), S. 235 ff. Ähnlich Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht (FN 113), S. 19 f.: „Für die Art und Weise des Auf- und Ausbaues der Verfassung im Führerstaat können nur die durch den Führer festgelegten politischen Notwendigkeiten des deutschen Volks- und Staatslebens maßgebend sein.“ 117 Zu dieser Voraussetzung oben III. 1. 118 Zu dieser Voraussetzung oben III. 2. 115

Aussprache Gesprächsleitung: Kraus

Kraus: Besten Dank für Ihren Vortrag, Herr Gusy. Zunächst hat das Wort Herr Hufeld. Hufeld: Vielleicht darf ich zunächst ein Kompliment machen: Herr Gusy, Ihr Vortrag war ein Meistervortrag und überwältigend. Sie haben alle überwältigt, die geglaubt haben, zu Verfassungsänderung in Weimar sei schon alles gesagt. In einem Punkt will ich Ihnen nicht widersprechen, nur den Akzent ein bisschen anders setzen. Sie haben dargelegt, die Verfassung sei bereits vor dem 23. / 24. März 1933 zerstört worden. Da muss man fragen: Warum war den neuen Machthabern das Ermächtigungsgesetz eigentlich so wichtig? Die Antwort lautet: Die Regierung Hitler wollte nicht nur die gesetzgebende, sondern auch die verfassungsändernde Gewalt. Man muss sich daran erinnern, dass das Ermächtigungsgesetz zweispurig konstruiert war. Mit Art. 1 hat das Parlament eine Blankovollmacht zur Verfügung gestellt – das Parlament hat sich selbst entmachtet –, darüber hinaus jedoch mit Art. 2 verfassungsdurchbrechende Regierungsgewalt freigesetzt. Es ist ein Unterschied, ob ein Parlament die gesetzgebende Gewalt teilt oder seine Monopolverantwortung für die Verfassung preisgibt. Das erklärt auch, so haben Sie es formuliert, warum sich die Regierung dann an das Ermächtigungsgesetz nicht mehr gehalten hat. Dazu bestand wenig Anlass – sie war verfassungsändernde Gewalt geworden. Bezogen auf das Grundgesetz: Zu Art. 80 und dem Modell der Arbeitsteilung in der einfachen Gesetzgebung gibt es in der Verfassungsgesetzgebung kein Pendant. Dieser Gedanke der Monopolverantwortung findet einen Widerhall im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – das ist der richtige Teil der Entscheidung: Bei EU-Vertragsänderungen, die materielle Verfassungsänderungen bewirken, wird das Parlament konsequent in die „Integrationsverantwortung“ genommen. Kraus: Vielleicht, Herr Burkhardt, schließen Sie gleich Ihre Frage an. Burkhardt: Als Frühneuzeitler und als Historiker, der ich an der ganzen deutschen Geschichte interessiert bin, war ich sehr fasziniert, wie viel an Verfassungsdurchbrüchen, Verfassungsänderungen, Verfassungsoppositionen mit unterschiedlichen Möglichkeiten es im 19. Jahrhundert und insbe-

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sondere in der Weimarer Zeit gegeben hat – und ich fand es auch faszinierend, wie sich das gleichsam sortiert in seinen dialektischen Oppositionen und so weiter. Wenn ich jetzt aber nochmal an den Anfang unserer Tagung zurückdenke, da hat Herr Kollege Lanzinner gestern die Goldene Bulle vorgestellt, und wir haben darüber diskutiert, ob das wohl ein ordentliches Verfassungsgesetz ist, wenn man sich nicht daran gehalten hat oder es geändert hat. Unter diesem Gesichtspunkt würde ich jetzt sagen: So beständig wie in der späteren Neuzeit war das allemal auch in der Frühen Neuzeit gewesen! Es gibt auch andere Parallelen: Im Westfälischen Frieden – wir wollen ja auch ein wenig epochenübergreifend denken – gibt es den Art. VIII IPO, in dem ausdrücklich der Reichstag den Verfassungsauftrag erhält, die Verfassung zu ändern, nämlich weiter auszubauen. Die Wahlkapitulation und anderes mehr sollte künftig auf dem Reichstag beschlossen werden, und das hat er zum großen Teil auch tatsächlich erledigt. Der Reichstag ist danach sozusagen auch das höchste Verfassungsorgan überhaupt. Die Parallelen der Probleme sozusagen finde ich so spannend, dass ich – ohne irgendeinen Ratschlag geben zu können – einfach gern festhalten möchte: Es würde sich vielleicht lohnen, wenn wir in der Frühen Neuzeit, Herr Kollege Lanzinner, mit diesem Instrumentarium, das an den modernen Verfassungen ausprobiert worden ist – wie wir es jetzt in diesem letzten, glänzenden Vortrag vorgeführt bekommen haben –, auch einmal zu versuchen, systematischer zu erfassen, inwiefern das eine Verfassung war oder keine oder in welchem Verhältnis das unter diesen Gesichtspunkten zu den jeweiligen politischen Verhältnissen in den Möglichkeiten stand. Danke schön. Kraus: Herr Gusy, Sie haben das Wort. Gusy: Dann fange ich am besten mit der zweiten Frage an: Die Frage nach dem Verfassungsbegriff, den wir voraussetzen oder zugrunde legen, ist natürlich eine, über die wir einerseits diskutieren können. Auf der anderen Seite wird dadurch erschwert, dass ich schon der Auffassung bin, durch den Konstitutionalismus – also die Verfassungsbewegung von Amerika ausgehend seit 1783 – hat der Verfassungsbegriff eine bestimmte Prägung erhalten, die das Konzept schon etwas stärker eingrenzt und dadurch den analytischen Bezugsrahmen zum Teil konkreter macht. Anders ausgedrückt: Die Vorgänge, die wir namentlich auch gestern etwa im Vortrag von Herrn Erkens gesehen haben, wo es ja eigentlich um Verfassungsbildung und nicht so sehr um Verfassungsänderung ging – das war ja sozusagen erst der zweite Schritt –, das sind Fragen, die natürlich jetzt für die Zeit des Konstitutionalismus in gewisser Weise beantwortet sind. Herr Erkens hätte nie in seinem Vortrag so einen Satz wie ich formulieren können nach dem Motto: Verfassungsänderung setzt einen formellen Verfassungsbegriff voraus. Ganz im Gegenteil – er musste sozusagen die Verfassung, die sich im Zuge ihrer Än-

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derung zugleich erst herausbildete, analytisch aus dem Material erst einmal herausschälen. Ich denke, dass dort auf der Ebene des Verfassungsbegriffs natürlich ein wesentlich höheres Maß an Komplexität entsteht. Dass die Probleme funktionell im Wesentlichen vergleichbar und zum Teil dieselben sind, das versteht sich allerdings dann durchaus. Da muss man halt schauen, dass man die Sachfragen von den Begriffsfragen ein Stückchen trennt – dann kann man die Vergleichbarkeiten stärker herausfiltern, keine Frage. Herr Hufeld: Warum war das Ermächtigungsgesetz den Nationalsozialisten eigentlich so wichtig? Ich denke, das hat letztlich mit dem, was ich eigentlich als Legalitätskulisse anführte, zu tun. Machen wir uns nichts vor: Kulissen sind manchmal sehr wichtig. Ich bin überhaupt nicht der Auffassung, dass Kulissen totale Nebensachen sind. Manchmal lebt das Stück von der Kulisse, gerade wenn es so eine Umbruchsituation wie hier ist. An einer Stelle möchte ich dann allerdings doch nochmal differenzieren: Selbst wenn man sagt, die Reichsregierung sei jetzt verfassungsändernder Gesetzgeber geworden, heißt das ja noch nicht, dass sie in beliebigem Maße gegen die Verfassung verstoßen darf. Sie muss sie jedenfalls erst mal ändern. Wenn sie das nicht tut, sondern einfach dagegen verstößt, dann ist das qualitativ natürlich nochmal etwas anderes. Das ist natürlich was, was keinen überzeugten Nationalsozialisten in irgendeiner Weise interessiert hätte, aber aus verfassungshistorischer Sicht sollte man das schon festhalten. Da ist dann also doch, wie ich meine, nochmal eine qualitative Differenz. Politisch, wie gesagt, ist es ja dann eh egal. Wenn sie also die Verfassung eh durchbrechen können und dann ja später sogar das Ermächtigungsgesetz eigenmächtig verlängert und somit durchbrochen haben, spricht alles für meine These: Die Weimarer Verfassung war schlechterdings nicht mehr da, warum auch immer. Kraus: Dann kommen wir zur zweiten Runde dieser Aussprache. Der erste auf der Rednerliste bin ich selbst, dann Herr Waldhoff. Ich möchte direkt an das anknüpfen, was Sie eben sagten, und die These von der kompletten Verfassungszerstörung etwas in Frage stellen. Muss man nicht doch von einer formalen Fortgeltung der Weimarer Reichsverfassung ausgehen? Warum hätte es denn sonst in der NS-Rechtswissenschaft Debatten darüber gegeben, ob sie noch gilt oder nicht? Zum Beispiel Ernst Rudolf Huber oder Conrad Bornhak – Bornhak noch 1938 oder 1939 – haben dieses Thema in ihren Publikationen aufgegriffen, und zwar durchaus kontrovers. Sie vertraten zwar die Auffassung, dass die Verfassung nicht mehr gilt, aber immerhin: Es war Thema der Rechtswissenschaft. Und zweitens erinnere ich noch an zwei Fakten. Zum einen hat der Reichstag sozusagen rein formal legal das Ermächtigungsgesetz ja dreimal fristgerecht verlängert; zum anderen ein weiteres Faktum, das man nicht ganz vergessen sollte: Hitlers politisches Testament. Er ernennt in seiner Nach-

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folge wieder einen Reichspräsidenten – nämlich Dönitz – und einen Reichskanzler – Goebbels. Er bleibt sozusagen auf der formalen Ebene der Weimarer Reichsverfassung. Ich meine, diese Aspekte sollte man nicht ganz aus dem Blickfeld nehmen. Waldhoff: Ich habe eine zustimmend ergänzende Bemerkung und eine Wissensnachfrage. Die zustimmend ergänzende Bemerkung: Sie haben sehr überzeugend darauf hingewiesen, dass die meisten Instrumente, um einen änderungsfesten Verfassungskern zu konstruieren, letztlich ambivalente Instrumente waren, weil sie aus einer Richtung kommen, die nicht unbedingt für die demokratische Tradition der Weimarer Verfassung steht und weil sie missbrauchsanfällig sind. Bestes Beispiel: Die Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz bei Carl Schmitt, die in der Tat durch diese Konstruktion einen Verfassungskern schafft, der mit Verfassungsänderungen nicht mehr zu beseitigen ist, aber andererseits natürlich einen Argumentationsrahmen schafft, wo man Legitimität gegen Legalität einfach ausspielen kann. Das gibt es ja im Übrigen auch in anderen Zusammenhängen der Weimarer Staatsrechtslehre, denken Sie an die Einrichtungsgarantien. Institutionelle Garantien, Institutsgarantien bewirken, dass diese Grundrechte vor dem Gesetzgeber nicht leerlaufen, dass eine Art Wesensgehaltsgarantie konstruiert werden kann; man kann das aber natürlich auch antifreiheitlich wenden. Das als Ergänzung. Nun meine Wissensnachfrage: Wann wurde die Figur der Unterscheidung zwischen verfasster und verfassungsgebender Gewalt des Abbé Sieyès in Deutschland rezipiert? Herr Frotscher hat diese Kategorie beschreibend – rückblickend, vermute ich – auf das 19. Jahrhundert angewandt. Da habe ich Zweifel. Es handelt sich um eine Konstruktion, eine Idee, die aus einem demokratischen Zusammenhang, nämlich der Französischen Revolution, stammt, und ich habe immer gelernt, Carl Schmitt habe sie mit seiner Verfassungslehre 1928 begrifflich in die rechtswissenschaftliche Diskussion in Deutschland eingeführt. Könnten Sie dazu noch etwas sagen? Gusy: Zunächst zur Frage: Hat die Weimarer Verfassung denn nun weitergegolten, gab es nicht doch so etwas wie einen Rechtsrahmen des nationalsozialistischen Regimes aus der Weimarer Zeit, der den nationalsozialistischen Machtantritt überlebt hat? Ich bin dieser Auffassung nicht. Selbst wenn es gewisse Koinzidenzen gegeben haben sollte, wo also Anordnungen der Weimarer Verfassung einerseits und politische Realität auf der anderen Seite übereinstimmten, so lässt sich doch praktisch nicht der Nachweis führen, dass die Staatsorgane sich an die Weimarer Verfassung gebunden gefühlt haben und es genau deshalb so gemacht haben. Anders ausgedrückt: Der Wille zur Verfassung war bei den nationalsozialistischen Staatsorganen in dieser Form nicht nachweisbar. Ich sage es mal vorsichtig so. Selbst wenn man sagt: Die haben das genauso gemacht, wie es in der Verfassung stand

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– die haben den Reichstag erst einberufen und dann haben sie geredet und dann wurde abgestimmt, das widersprach der Weimarer Verfassung so nicht –, so kann man nicht den Nachweis führen, dass sie das gemacht haben, weil sie durch die Weimarer Verfassung gebunden waren. Die Grabgesänge, die bei Huber und anderen auf die Weimarer Verfassung gesungen wurden, die habe ich natürlich gesehen. Letztendlich nehme ich an, dass es sich dabei um Stellungnahmen in einer Auseinandersetzung handelte, die damals geführt wurde und den Zeitgenossen – namentlich dem Rechtsstab, der solche Ausführungen las – natürlich vertraut war. Man hatte sich über diese Frage gestritten und deshalb wurde am Anfang erwartet, wenn man Verfassungsrecht schreibt, dass man sagte, über welche Verfassung man denn nun schreibt, und dann musste man natürlich auch etwas darüber sagen, warum man über die Weimarer Verfassung nicht schrieb. Ich würde das nicht als ein Lebenszeichen der Weimarer Verfassung werten, wie die meisten Grabgesänge ja voraussetzen, dass sie schon tot ist, und so würde ich das in diesem Zusammenhang auch einstufen. Tatsächlich beruft sich Carl Schmitt unmittelbar auf Sieyès. Er tut so, als handelte es sich in Deutschland um eine eingeführte Kategorie. Einen Nachweis dafür hat er aber nicht, und er gibt auch keinen Nachweis dafür, sondern er nimmt formal Bezug auf eine Diskussion, von der er sagt, dass sie bestünde – aber wo sie bestand, habe ich nicht gefunden. Letztlich scheint es mir so zu sein, dass er jedenfalls der erste ist, der in der Rechtswissenschaft diese Unterscheidung fruchtbar macht, allerdings in seiner Diktion dann natürlich mit Konsequenzen nach vorne und nach hinten. Er bespricht auch vergangene Sachverhalte in seiner Terminologie und von seinem Ansatz her und wendet darauf also hier letztlich Begriffe wie Pouvoir constituant, Pouvoir constitué an. Für ihn ist das nichts Neues, sondern ein analytischer Rahmen, den er auch in der Vergangenheit haben will. Ich habe keinen früheren Beleg dafür gefunden, ich gebe aber zu, ich habe auch nicht danach gesucht. Kraus: Dann darf ich die nächste Runde einläuten – Herr Ruppert und Herr Kunze. Ruppert: Herr Gusy, Sie haben das Problem des Verfassungswandels in der Weimarer Republik weitgehend dadurch behandelt – was für mich unheimlich informativ und neu war –, indem Sie uns die Diskussion dieser Frage auf der Staatsrechtslehrer-Ebene vorgeführt haben. Ist aber nicht, wenn man sich der Realverfassung der Weimarer Republik nähert, das Grundproblem – wenn man an diese Verfassung mit der Kategorie des Verfassungswandels herangeht – dieses, dass sie jemals in der realen Welt existiert, funktioniert hätte? Dass also einmal ein Jahr lang die Verfassung so funktioniert hätte, wie es im Text stand? Dafür ein Beispiel zu finden, ist schon fast nicht möglich, und von daher ergibt sich natürlich ein gewisses

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methodisches Problem, ob man so ein Gebilde überhaupt noch mit dem Begriff des Verfassungswandels erfassen kann. Sie hat in der Realität nie so funktioniert, wie es auf dem Papier stand. Ich hätte Probleme, ein Jahr zu finden, wo es funktionierte. Wenn es so ist, wenn ein System, das zwölf, dreizehn Jahre besteht, nicht ein Jahr lang so funktioniert, wie es intendiert war, dann ist das schon problematisch. Kraus: Gut, dann Herr Kunze, bitte. Kunze: Herr Gusy, der Zeithistoriker dankt es Ihnen sehr, wie klar Sie in Ihren vier Punkten zum Verfassungswandel die Dinge hier dargestellt haben – auch gegen bestimmte zeitgeschichtliche Redekonventionen, die seit den 1950er Jahren in Westdeutschland eben gar zu sehr von der politischen Pädagogik bestimmt waren. Das gilt vor allem für den Hinweis auf die Illegalität des Ermächtigungsgesetzes. Mir stellt sich nur im europäischen Rundumblick eine Frage: Wenn, wie Sie ja sehr transparent ausgeführt haben, die politischen Akteure entschlossen waren, auf der politischen Bühne der Weimarer Republik ein Stück zu spielen, das „Weltbürgerkrieg“ heißt – und das spielen sie ja nicht nur in Deutschland, die Demokratien purzeln ja überall in Europa seit 1919 –, dann frage ich mich: Wie hätte denn – das darf ich eigentlich nicht fragen, da ich Historiker bin und keine if-history betreiben soll, aber ich darf Sie ja fragen –, wie könnten Sie sich einen konstruktiven Beitrag der deutschen Staatstheorie, der Staatsrechtslehrer vorstellen, der angesichts dieser allgemeinen, einen cultural code darstellenden Neigung zur Abschaffung der Demokratie – der liberaldemokratischen Systeme – denn hätte aussehen können in dieser Situation? Ich kann mir das nicht vorstellen. Gusy: Sie sagten zu Recht, dass Sie als Historiker die Geschichte betrachten wollen, die Sie vorfinden und keine Geschichte im Konjunktiv – wenn ich das mal so formulieren darf. In gewisser Weise gilt das natürlich in der Rechtswissenschaft genauso. Andere Rechtsordnungen als die, die wir vorfinden als Recht in der Zeit können wir nur sehr schwer beurteilen. Ich will zu Ihren Beobachtungen sagen, dass in den einzelnen Staaten – den 13, die zwischen 1919 und 1938 von der parlamentarischen Demokratie zu einer irgendwie gearteten rechtsautoritären Staatsform gefunden haben, ohne zu behaupten, dass diese Staatsformen überall die gleichen gewesen wären, im Gegenteil – die Verfassungen sehr unterschiedlich konstituiert waren. Anders ausgedrückt: Es gab da keinen einheitlichen mainstream. Es gab unter ihnen sehr parlamentarische Verfassungen, es gab stark präsidiale Verfassungen. Ganz anders ausgedrückt: Man kann nicht sagen, dass ein ganz bestimmter Verfassungstyp in dieser Zeit sozusagen die Opferposition einnahm. Das einzige, was sie fast alle miteinander gemeinsam hatten, war, dass es sich um parlamentarische Demokratien unterschiedlicher Schattierung handelte. Ob man dagegen mit den Mitteln der Rechtssetzung, ob

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man dagegen mit den Mitteln der Rechtswissenschaft hätte vorgehen können, ist eine wahrscheinlich letztlich nur von Land zu Land zu beantwortende Frage. Wir sehen, wenn man den europäischen Analyserahmen spannt, zwei relativ erschreckende mainstreams, die als Erklärungsmuster fast schon ausreichen. Der eine: Wer war im Ersten Weltkrieg Sieger, wer war Verlierer? Bei den Verlierern hatte es die Demokratie immer schwerer. Und zweitens: War die parlamentarische Demokratie erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt worden oder war sie es nicht? Die neuen Demokratien hatten es schwerer als die alten. Wenn man dann noch hinzunimmt, dass einige Staaten nach dem Ersten Weltkrieg überhaupt erst gebildet worden sind, also die Souveränität als eigenständige Staaten und dann vielleicht noch als parlamentarische Demokratien erlangt haben, dann war das nochmal eine Spur schwieriger. Diese Erklärungen sind also so drastisch, dass hier 80% der Wirklichkeit bereits in diesen ganz banalen, einfachen Formeln zusammengefasst werden kann. Die ganzen, sehr komplexen Erklärungen, die darum herum gemacht werden, sind in dieser Beziehung außerordentlich vielschichtig, zugleich aber auch – sagen wir mal – eher analyseschwach. Das einzige, was man damit meines Erachtens sehr schwer erklären kann, ist die wacklige Demokratie in Frankreich. Hier, wo eigentlich fast alle Voraussetzungen günstig waren – Krieg auf der Siegerseite beendet, parlamentarische Demokratie nicht ganz neu, Souveränität sogar schon ganz alt –, wo allerdings das Schicksal der Dritten Republik hier in dem Zusammenhang sich bis dahin zum Teil natürlich Wege gebahnt hatte, deren Probleme erst in der Zwischenkriegszeit dann ganz besonders deutlich zeigten. Auch das Gegenbeispiel, die tschechische Demokratie, die einzige, die relativ stabil die ganze Zeit über bestanden hat – Herr Brauneder, in Anbetracht der Tatsache wie das alles lief, muss man sagen, die tschechische Demokratie war schon durchaus solide –, muss man immer vor dem Umfeld der anderen Staaten sehen. Jedenfalls war es hier nicht das Normenwerk, was diese Verfassung stabilisierte. Ob man also mit einer Rechtsordnung viel gegen den allgemeinen Trend hätte ausrichten können, glaube ich nicht. Es zeigt sich so ein ganz klein bisschen in der Diskussion um die Weimarer Republik, ob sie an einem Zuviel oder an einem Zuwenig an Staatsschutz zugrunde gegangen ist. Während frühere Theoriebildungen eher dazu neigten, der Staat sei schutzlos und untergeschützt gewesen, gehen spätere Auffassungen eher dahin zu sagen, er sei an seinem eigenen Schutz – an einem Übermaß an Schutz oder an mangelnden Vorkehrungen gegen ein Übermaß an Schutz – erstickt. Es ist wohl nicht das Normenwerk allein, und es ist auch nicht nur das Recht und die Rechtswissenschaft allein, welche in solchen Situationen eine Demokratie erhalten. Sie können dafür günstigere Umstände schaffen, aber alleine schaffen sie das meines Erachtens nicht. Schade, aber es gibt auch kein

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Recht und keine Rechtswissenschaft im Konjunktiv; hier sind wir der Geschichtswissenschaft leider um nichts voraus. Zu Herrn Ruppert: Wenn man sich die Relevanz der Weimarer Verfassung für das staatliche Geschehen anschaut, dann zeigen die vorhandenen Zahlen und Statistiken sehr deutlich, dass natürlich klar die mittlere Periode die beste war. Wie schwach das war, hat ja keiner besser gezeigt als Sie selbst. Es war die Zeit, wo kein Ermächtigungsgesetz galt. Das war die Zeit, wo fast keine Notverordnung ergangen ist. Es war die Zeit, in der die Art. 53 und 54 einigermaßen in verfassungskonformem Geist angewendet wurden. Das legal framework, wenn ich es so sagen darf, war natürlich alles da – dass dem aber schon zu dieser Zeit teilweise die politische Substanz abhanden gekommen war, hat keiner deutlicher gezeigt als ebenfalls Sie. Deshalb möchte ich Ihnen gegenüber auch nicht weiter darauf eingehen. Kraus: Dann darf ich noch um die letzten beiden Fragen bitten und dann Sie, Herr Gusy, um das Schlusswort. Auf meiner Liste stehen noch Herr Hillgruber und Herr Kühne. Bitte, Herr Hillgruber. Hillgruber: Vielen Dank. Auch ich möchte zunächst ein großes Lob aussprechen – ich fand es ein faszinierendes Referat, zu dem ich zwei Nachfragen habe. Eine Ihrer Hauptthesen, Herr Gusy, so habe ich es jedenfalls verstanden, war, dass die sogenannten positivistischen Autoren materiellrechtliche Schranken der Verfassungsänderung nicht anzuerkennen bereit gewesen seien, aber das Demokratieprinzip mobilisiert hätten, um die Verfassungsänderung formal zu kanalisieren. Sie haben in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass immer konkretere Vorstellungen für Verfahren und Grenzen für eine Verfassungsänderung nach Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung formuliert worden wären. Offen gestanden ist mir noch nicht deutlich geworden, welche Grenzen das eigentlich sein sollen, über den Verweis auf das Verfahren nach Art. 76. Und das wirft ja dann die Frage nach der Selbstpreisgabe oder eben Preisgabe dieser Verfassung auf. Wenn ich Sie recht verstehe, würden Sie sagen, das Ermächtigungsgesetz war keine Selbstpreisgabe, sondern eine abgepresste Preisgabe der Weimarer Reichsverfassung – aber das ist dann wahrscheinlich auch nur die eine Hälfte der Wahrheit, man müsste ja dann wahrscheinlich auch über den 30. Januar 1933 nachdenken, den ja Ernst Rudolf Huber in seinem monumentalen Werk als Verfassungsbruch bezeichnet hat. Welche Vorkehrungen sollen das also gewesen sein, die verfahrensmäßig hätten sicherstellen können, dass es nicht zu einer solchen Selbstpreisgabe kommen konnte? Und vielleicht noch eine kurze Anmerkung zu dem Stichwort Legalitätstheorie versus Revolutionstheorie: Heinrich Triepel hat ja bekanntlich versucht, beide Theorien zusammenzuführen, indem er den Vorgang als „legale Revolution“ bezeichnet hat, eine contradictio in adiecto. Ich würde Ihnen darin zustimmen, dass dies zwei konträre Legitimationen sind, die man

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eigentlich nicht parallel in Anspruch nehmen kann, aber die man parallel in Anspruch nehmen wollte – jeweils auf einen anderen Adressatenkreis bezogen. Für die einen war die Revolutionstheorie bestimmt, für die anderen, die „konservativen“ Kräfte sollte das Legitimationspotential der Legalität ausgeschöpft werden. Kraus: Dann die letzte Frage, Herr Kühne bitte. Kühne: Auch von mir zunächst herzlichen Dank und in den Einzelheiten kein Widerspruch. Ich habe eine Frage, die das Übergreifende meint, und knüpfe daher ein wenig an Herrn Ruppert an, allerdings mit der Betonung mehr auf dem Beginn. Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass Albertin vom Vorrang der Exekutive schon für die Weimarer Zeit spricht und Schücking im Staatsrechts-Handbuch von Anschütz/Thoma 1930 schreibt: Was hat uns die Weimarer Verfassung eigentlich gebracht außer den Austausch des Kaisers durch den Reichspräsidenten? Das führt mich dazu, an die Fortwirkungen kaiserzeitlicher Verfassungstraditionen zu erinnern. Meine Frage geht dahin: Müssen wir nicht stärker als wir das bisher gemacht haben, gerade nach der Erfahrung der innereuropäischen Wandlungen seit 1990, Weimar, so wie es gekommen ist und geendet hat, faktisch stärker als Transformationsverfassung begreifen? Dieser Ansatz scheint mir deswegen fruchtbar, weil die Fülle der Details, die Sie hier berichten und die ja im Einzelnen bedrückend sind, ansonsten wie von einem geheimen Willen getragen immer in die schlechtere Interpretationsvariante münden. Meines Erachtens lässt sich dies aber gut erklären aus dem Fortwirken kaiserzeitlicher Staats- und Verfassungsvorstellungen – mit Hilfe natürlich auch der Beamtenkontinuitäten. Das ist die Frage, die sich unser Grundgesetz analog zur Lebenszeit von Weimar, also bis 1960/61 stellen ließe. Wo waren wir da eigentlich? Welche großen Verfassungsgerichtsentscheidungen gibt es bis dahin eigentlich außer Lüth? Da war nicht viel! Insofern glaube ich, dass wir Weimar aus heutiger Sicht etwas bescheidener, etwas vorsichtiger betrachten müssen, um ihm gerecht zu werden. Gusy: Herr Kühne, das wirft jetzt viele neue Fragen auf, auch Fragen an bestimmte historische Erklärungsmuster, die wir zugrunde legen. Es fängt bereits mit dem Begriff „Transformationsverfassung“ an – Transformation von was in was? Fast würde ich sagen, aus einer ganz hohen Warte betrachtet ist jede Verfassung eine Transformationsverfassung. Es geht nur um die ganz bescheidene Frage, ob die Transformation innerhalb der Verfassung stattfindet – also der Verfassungstext bleibt irgendwie geändert bestehen, die Transformation findet trotzdem statt –, oder ob die Transformation die Verfassung beiseite fegt – also sozusagen die Verfassung, wenn man so will, überlebt. Aber gut, das sind Fragen, die über das, was wir hier im Moment behandeln, hinausgehen können. Die Weimarer Verfassung hat nur relativ kurz existiert, sie hat einiges Wichtige hervorgebracht – die Frage, was sie

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aber nun eigentlich gebracht hat, ist natürlich auch von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich beantwortet worden. Jellinek in Band 1 des Handbuchs beispielsweise sah das deutlich positiver als Schücking in Band 2. Ich will diesen Meinungsstreit jetzt nicht durch weitere Meinungen fortsetzen – es gab jedenfalls zeitweise das Bewusstsein, dass sie etwas Wichtiges hervorgebracht hat und dass dieses Wichtige ohne die Weimarer Verfassung in dieser Richtung und dieser Form so nicht gekommen wäre. Ich halte nur die Tendenz, die Weimarer Verfassung sozusagen als Nachklapp für irgendetwas oder als Vorspiel für etwas anderes zu sehen, für eine Tendenz, die der Eigenständigkeit der Weimarer Republik als verfassungsrechtliche Epoche nicht gerecht wird. Ich glaube, dass man der Verfassung und den verfassungstragenden Gruppen hier durchaus einen Tort antun würde, wenn man das anders verstehen würde. Dass die Gegner das so gesehen haben, will ich allerdings nicht in Abrede stellen. Ich sehe allerdings im Moment keine Veranlassung, ihnen bei dieser Einschätzung zu folgen. Der andere Punkt, Herr Hillgruber: Ich hätte Heinrich Triepel auch nicht für einen der maßgeblichen Interpreten nationalsozialistischen Staatsrechts gehalten. Grob gesprochen: Das war sein Beitrag zu einer Diskussion, die aber eigentlich von anderen geführt wurde. Er hat versucht, hier eine Formel zu bringen. Neuere Arbeiten zeigen ja, es gibt im Strafrecht immer die subjektive, die objektive und die mittlere Meinung. Auch das war eben eine typische Mittelmeinung, die versuchte, wenig zu Vereinbarendes miteinander zu verbinden, und der Erklärungswert blieb dann ja auch relativ gering, wurde auch nicht sonderlich rezipiert. Erst nach 1945 fangen jetzt neuere Doktorarbeiten wieder an, sich mit der Frage zu beschäftigen, was man unter einer „legalen Revolution“ versteht, und kommen auch zu dem Ergebnis, dass das alles recht unklar ist. Zu Ihrem weiteren Punkt: Welche konkreten Grenzen wären das gewesen? Das sah natürlich jeder in seiner Situation ein bisschen anders. Demokratie setzt freie Wahlen und freie Meinungsäußerung voraus, keine Wahlen die durch Gewalt und Terror bestimmt waren, und so weiter. Ich muss in diesem Fall, verzeihen Sie, auf meine Fußnoten verweisen, die auch konkrete Zitate hierzu anbringen. Zugegebenermaßen, das steht nicht im Handbuch des Staatsrechts, sondern in anderen Veröffentlichungen, die anderswo erschienen sind und zum Teil nicht ganz diese zentrale Stellung einnehmen. Sie sind aber da, sie sind deutlich, und sie zeigen die Handschrift des jeweiligen Autors sehr deutlich – also dass diese Leute sehr konkret wussten, was sie damit meinten. Selbstpreisgabe oder abgepresste Preisgabe – vielleicht ist das der Unterschied. Die Weimarer Verfassung war keine, die den Lemmingen gleich dem Untergang entgegen ging, im Gegenteil. Nur die Gegner waren halt stärker, was man zum allergrößten Teil nicht der Verfassung anlasten kann. Vielleicht hätte sie noch stärker sein können, Herr Kunze, aber ob es dann anders gekommen wäre – ich weiß nicht, ich glaube es nicht, und

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ich glaube auch nicht, dass es die Bundesrepublik nur wegen Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz noch gibt. Ich glaube, damit belasse ich es jetzt mal. Danke sehr. Kraus: Dann darf ich Ihnen nochmal herzlich danken, Herr Gusy, für Vortrag und Diskussion.

Verfassungsänderungen als Systemwechsel: Österreich 1848 – 1938 Von Wilhelm Brauneder, Wien I. Perioden Nach älterer, aber fortlebender Sicht habe es bis zum Erlaß der Verfassung 1867 eine Zeit „konstitutioneller Experimente“, einen „Zickzackkurs zur Verfassung“1 gegeben, ein eher unsicheres Umhertasten zwischen verschiedenen, auf die Verhältnisse der Habsburgermonarchie abgestimmten und von unterschiedlichen Standpunkten geleiteten Verfassungskonstruktionen.2 Das mag in einem beschränkten Maße auf Teilgebiete von Verfassungen zutreffen, nicht jedoch auf die zugrunde liegenden Regierungssysteme. Mit der Verfassung 1848 hatte man sich klar für die konstitutionelle Monarchie entschieden und dabei blieb es auch mit der sie ablösenden Verfassung 1849. Aber schon im Vorfeld zu ihrer Aufhebung zu Ende des Jahres 1851 deutete sich eine Kehrtwendung an, welche mit den Verfassungsgrundsätzen vom Jahresbeginn 1852 vollzogen wurde: Nun sollte mit Hilfe des Historischen Staatsrechts eine neuständisch beschränkte Monarchie eingerichtet werden. Die Praxis aber führte vorerst zu einem neoabsolutistischen Regierungssystem, da, abgesehen von Lombardo-Venetien, keine Landtage existierten und damit auch nicht das als Ausschußlandtag angepeilte „Centralorgan“. Erst der verlorene Krieg in Italien 1859 ließ 1860 provisorisch das Centralorgan entstehen. Diesen provisorischen Zustand zementierte das überwiegend programmatische Oktoberdiplom 1860, das sodann die Reichsverfassung 1861 mit Landtagen und dem neugestalteten Reichsrat als Parlament durchführte, ohne aber die Grundentscheidung von 1852 zu verlassen: Nun erst war das neuständische Element verwirklicht und das neoabsolutistische Provisorium beendet. Als der Ausgleich 1867 das Kaisertum Österreich in die Realunion Österreich-Ungarn aus zwei Staaten umwandelte, brachte die neue österreichische Verfassung 1867 die Rückkehr zur konstitutionellen Monarchie. 1 Joseph Redlich, Kaiser Franz Joseph von Österreich, Berlin 1929, S. 256; Lothar Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich, Wien / Köln / Weimar 2009, S. 43. 2 Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl. Wien 1974, 346 ff.; Oskar Lehner, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte mit Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 4. Aufl. Linz 2007, S. 180 ff.

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So durchlief die Habsburgermonarchie im Zeitraum von 1848 bis 1918 erst eine kurze konstitutionelle Periode von 1848 bis formal Ende 1851, sodann eine längere von 1867 bis zum Staatsende 1918, unterbrochen von einer „Enklave“ nach fast zeitgenössischer Sicht3, nämlich vom Konzept einer neuständischen Monarchie von 1852 bis 1867, das aber zufolge seiner Realisierung erst ab 1861 davor eine neoabsolutistische Phase überlagerte. Auch die Verfassungsentwicklung im neuen Staat, der Republik Österreich, zeigt klare Zäsuren, und zwar abgesehen von der Staatsgründung durch formelle Verfassungen: ab der Staatsgründung im Herbst 1918 ein dezentralisierter Einheitsstaat als extrem parlamentarische Republik aufgrund provisorisch angesehener verfassungsrelevanter Gesetze bis 1920; dann durch die Bundesverfassung 1920 weiterhin parlamentarische Republik jedoch als Bundesstaat; mit der als tiefgreifend gedachten Verfassungsnovelle 1929 weiterhin Bundesstaat, aber als parlamentarisch-präsidiale Republik; schließlich mit der Verfassung 1934 autoritärer Ständestaat bei nur schwachem Föderalismus; 1945 Rückkehr zur Verfassungssituation von 1920 / 1929. So sehr sich die einzelnen Perioden durch formelle Verfassungen von einander abgrenzen, die Übergänge gestalteten sich in mehr oder weniger starker Weise fließend dadurch, daß Elemente aus der abgelösten Verfassungskonstruktion übernommen wurden. Darauf sei in der Folge der Schwerpunkt gelegt. II. Die Zäsur 1848 1. Der Bruch im Regierungssystem

Die Verfassungsumgestaltung aufgrund der Wiener Revolution vom März 1848 brach keineswegs abrupt herein. Eine Verfassungsumwandlung bzw. eine Verfassungsergänzung befand sich bereits in Vorbereitung.4 Schon vor der Revolution vom 13. März war in Aussicht genommen, zum Zwecke verfassungsmäßiger Änderungen einen Ausschußlandtag einzuberufen, das entsprechende Einberufungsedikt lag am 12. März vor. Ein mehrfach angedachter ständischer Ausschußlandtag als Gesamtvertretung des Kaiserstaates wie etwa in den Denkschriften von Erzherzog Rainer 1809 und von Staatskanzler Metternich 18115 war auch jetzt das Ziel, insgesamt somit 3 Franz Hauke, Verfassungsgeschichte (1848 – 1873), in: Mischler / Ulbrich (Hrsg.), Österreichisches Staatswörterbuch, 2. Bd., 2. Aufl. Wien 1909, S. 725 (Überschrift). 4 Im Detail Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: Rumpler / Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, 7. Bd., Wien 2000, S. 84. 5 Im Überblick Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung Österreichs und Bayerns im Vormärz: ein Vergleich, in: Schmid (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 1808, 2008, S. 141 ff.

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eine Modifikation des bisherigen Zustandes, eine Art Modernisierung der bestehenden altständischen Monarchie. Als allerdings nach dem Ausbruch der Revolution der ungarische Palatin Erzherzog Stephan am 15. März von dem im nahen Preßburg tagenden ungarischen Landtag mit der hier beschlossenen konstitutionellen Verfassung für Ungarn in Wien eintraf, änderte sich die Situation. Aufgrund des von ihm gleichfalls mitgebrachten Manifestentwurfs, wonach „die übrigen Länder der Monarchie mit dem konstitutionellen Ungarn in Einklang zu bringen“ seien, nahm Staatsratsmitglied Karl Hock eine redaktionelle Änderung in dem Einberufungsedikt vom 12. März vor.6 Er fügte in dieses als Ziel das Wort „Constitution“ ein und für den einzuberufenden Ausschußlandtag die Wendung „mit verstärkter Vertretung des Bürgerstandes“. Das mit diesen Schlüsselwörtern publizierte Verfassungsversprechen vom 15. März zielte nun in seiner sozusagen revolutionären Fassung nicht mehr auf eine alt- oder neuständisch beschränkte Monarchie ab, sondern auf eine konstitutionelle Monarchie. Im Regierungssystem sollte somit ein radikaler Umschwung eintreten. Dies7 zeigte sich sogleich am 17. März in der Ernennung einer „verantwortlichen Regierung“, die sich am 20. März konstituierte. Parallel dazu wurden am 18. März die Landtage einberufen, die das Zusammentreten eines Ausschußlandtags, des „Ständischen Zentralausschusses“, am 10. April ermöglichten. Die Verfassungsarbeiten in diesem Zentralausschuß8 begannen allerdings noch nach vorkonstitutionellem Muster. Er war zwar von den altständischen Landtagen beschickt worden, aber eben tatsächlich „mit verstärkter Vertretung des Bürgerstandes“. Da dieser hier klar den Ton angab, erscheint der Zentralausschuß als neuständisches Gremium. Einige Mitglieder begriffen ihn als „Vorparlament“ analog zur Entwicklung in Frankfurt / Main, sich selbst als „Abgeordnete“! Die mit Innenminister Pillersdorf erarbeitete Verfassung trat am 25. April 1848 in Kraft und führte das Regierungssystem einer konstitutionellen Monarchie ein.9 Wesentliches Ergebnis dieser neuen Verfassung war der Ende Juni /Anfang Juli 1848 gewählte Reichstag, Österreichs erstes Parlament, das am 22. Juli durch den Stellvertreter des Kaisers, Erzherzog Johann, eröffnet wurde. Aufgrund einer durch die Mai-Revolution bedingten Verfassungsänderung, die das Oberhaus abgeschafft hatte, bestand er allein aus der gewählten Kammer. Diese Mai-Novelle hatte den ersten Reichstag auch ausdrücklich mit dem Charakter einer konstituierenden Nationalversammlung versehen, die, neben sonstiger parlamentarischer Arbeit, einen Verfassungsentwurf im Sinne einer hochkonstitutionellen Monarchie erstellte. In der Regel wird er nach dem zweiten Tagungsort 6 Dazu Wilhelm Brauneder, Leseverein und Rechtskultur: Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 – 1990, Wien 1992, S. 173 f. 7 Zum Folgenden Brauneder (FN 4), S. 84 f. 8 Ebd., S. 69 ff. 9 Dazu und zum Folgenden: Ebd., S. 84 ff.

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des Reichstags, Kremsier (Kromeriz) in Mähren, „Kremsierer Entwurf“ genannt. Vor der Beschlussfassung im Plenum ereilte den Reichstag jedoch seine Auflösung. Unter Bruch der ja noch immer geltenden Verfassung 1848 folgte allerdings keine Wahl zu einem neuen Reichstag, sondern die Oktroyierung einer neuen Verfassung, der Verfassung 1849. Auch sie stand durchaus auf dem Boden der konstitutionellen Monarchie, zum Teil in starker Anlehnung an den Verfassungsentwurf des Reichstags. Dieser hatte geplant, seinen Entwurf vorerst nur für Cisleithanien, nicht auch für Ungarn zu beschließen, da er dieses zufolge seiner Wahl nur in den nichtungarischen (cisleithanischen) Ländern Österreichs nicht repräsentierte und Ungarn keine Verfassung oktroyieren wollte. Anders die Verfassung 1849: Ihr Oktroi setzte nicht nur die österreichische Verfassung 1848 außer Kraft, sondern betraf auch Ungarn, dessen Verfassung von 1848 sie praktisch ablöste – was nach Wiener Sicht zum Aufstand in Ungarn respektive nach dessen Sicht zum Krieg gegen Österreich führte.

2. Die Situation in den Ländern und Provinzen

So sehr sich das Regierungssystem in Cisleithanien 1848 auch wandelte, dauerten Strukturen aus der vorkonstitutionellen Phase weiter fort, und zwar deshalb, weil sie vom Konstitutionalismus nicht erfaßt werden konnten. Dies betrifft die Stellung der Länder. Sie waren vor 1848 in Cisleithanien keineswegs etwa teilstaatsähnliche Gebilde in einem föderativen System gewesen, sondern, im Einklang mit der absoluten Monarchie, bescheidene Selbstverwaltungskörperschaften der Landstände.10 Daneben hatte sich seit den Reformen ab Maria Theresia der Staat eigene Verwaltungssprengel in Gouvernementsbezirken eingerichtet.11 Diese Situation ließ die Verfassung 1848 unangetastet, da sie sich nur auf die oberste Staatsebene bezog. Für die „einzelnen Länder“ enthielt sie nur knappe Hinweise, für sie sollten eigene Gesetze folgen (§§ 54 f.). Mit diesen „Ländern“ einerseits und der „Provinz“ andererseits (§ 56) war jedenfalls noch die dualistische Situation von Ländern und Gouvernementsbezirken umschrieben. Erst die Verfassung 1849 erfaßte auch den Länder- und den Gemeindebereich, wenngleich zum Teil in Grundzügen. Nun kam es zu einer Verschmelzung von Land und Gouvernementsbezirk im wesentlichen im Umfang der Länder, die somit einen Doppelcharakter erhielten12: Selbstverwaltungskörperschaft und staatlicher Verwaltungsbezirk. Etwas anders war dies allerdings in Galizien und in Ungarn. Die Verfassung 1849 hatte zufolge der Aufzählung 10 Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. Wien 2009, S. 98 f. 11 Ebd., S. 100. 12 Brauneder (FN 4), S. 130 ff.

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der einzelnen Kronländer den bisherigen Verband der Länder der ungarischen Krone gesprengt, da dessen einzelne Teile zu gleichrangigen Kronländern erhoben wurden13: Als solche traten neben das somit verkleinerte Ungarn Siebenbürgen, Kroatien-Slawonien und Österreichisch-Serbien; das von Ungarn immer wieder reklamierte Dalmatien blieb bis 1918 österreichisches Kronland. Rest-Ungarn und Galizien wurden überdies gleichsam ausgehöhlt, da die Länderstruktur hier Landesteile erhielten, vier in RestUngarn, zwei in Galizien. Für die Länderstruktur insgesamt folgte man nun keineswegs dem konstitutionellen Muster. Dies zeigt sich deutlich im Vergleich mit dem Kremsierer Entwurf. Dieser hatte in „Reichsregierungsgewalten“ und „Landesregierungsgewalten“ unterschieden (§ 34 ) und wollte die Länder nahezu als Teilstaaten organisieren. Anders aber die Verfassung 1849.14 Von einer Teilung der „Regierungsgewalten“ ist hier keine Rede. „Die vollziehende Gewalt im ganzen Reiche und in allen Kronländern ist Eine und untheilbar“ (§ 84). Ähnlich die gesetzgebende Gewalt: Sie übt der Kaiser aus, wenngleich in Reichsangelegenheiten mit dem Reichstag, in Landesangelegenheiten mit den Landtagen (§ 37), doch verleiht er allen Gesetzen die normative Kraft (§ 18), insoferne sind sie alle kaiserliche Gesetze. Da auch die Gerichtsbarkeit „vom Reiche aus(geht)“ (§ 100), war die gesamte Staatsgewalt zentralisiert – wie schon vor 1848, ja noch mehr, da es keine Patrimonialgerichtsbarkeit mehr gab. Die Länder erhielten eine Struktur, welche an jene aus der vorkonstitutionellen Zeit anknüpfte und sie modernisiert weiterentwickelte. Die Modernität wie die traditionelle Herkunft zeigt sich im Landtag. Waren auf ihm vor 1848 / 49 die alten Stände Prälaten, Adel, Städte und allenfalls bäuerliche Gerichtsgemeinden vertreten gewesen, und zwar durch Entsendung, so nun neue Stände, freilich durch Wahl. Der ständische Grundgedanke wurde somit beibehalten. Die Verfassung 1848 hatte sogar den „bisherigen Provinzial-Ständen“, d. h. den Landtagen, „ihre Einrichtung und Wirksamkeit“ belassen, und zwar „zur Wahrnehmung der Provinzial-Interessen“ (§ 54). Auch die Verfassung 1849 sprach bezüglich der „Zusammensetzung der Landtage“ von der „Beachtung der Landesinteressen“ (§ 78). Ganz im Sinne des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons folgten damit die Landesvertretungen dem System der Interessenvertretung, während auf der staatlichen Ebene der Reichstag in seiner gewählten Kammer dem der Volksvertretung entsprach.15 So unterschieden Zeitgenossen auch in der österreichischen Entwicklung die Interessenvertretung von der Volksvertretung, sahen in jener eine Erscheinung des „ständischen Verfassungsrechts“ und in dieser eine des „konstitutionellen Staates“.16 Mit diesem 13

Ebd., S. 123. U. a. Hanns Schlitter, Versäumte Gelegenheiten – Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Wien 1920. 15 Rotteck-Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, 4. Bd., 3. Aufl. Leipzig 1860, S. 94 ff. 16 Hauke (FN 3), S. 723 f. 14

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war es 1848 zum spürbaren Umbruch gekommen, in den Ländern war ein solcher nicht vorgesehen. Nicht zuletzt wegen der Kriegs- bzw. Bürgerkriegssituation in Ungarn und in Oberitalien, aber auch zufolge unterschiedlicher und antikonstitutioneller Auffassungen in der Umgebung des Kaisers stockte alsbald die Durchführung der Verfassung 184917 insbesondere in Hinblick auf die Vertretungskörper von Reichstag und Landtagen. Auf Länderebene waren zwar die altständischen Landtage aufgehoben, aber die neuen nicht eingerichtet worden. Ebenso unterblieb auf Gemeindeebene der Vollzug des Gemeindegesetzes 1849. Besonders ab dem August 1851 verstärkte sich die Meinung, die Verfassung 1849 passe nicht für den österreichischen Kaiserstaat, und so wurde sie denn auch mit den beiden „Sylvesterpatenten“ (RGBl. 2 und 3 / 1852) zum Jahresende 1851 außer Kraft gesetzt. Die erste konstitutionelle Phase war beendet. Sie hatte auf staatlicher Ebene einen tiefen Einschnitt gebracht, der nun endgültig rückgängig gemacht werden sollte

III. Die Zäsur von 1852 1. Die theoretische Grundlage

Gemeinsam mit den beiden „Sylvesterpatenten“ ergingen „Grundsätze für organische Einrichtungen“ (RGBl. 4/1852). Mit diesen Verfassungsgrundsätzen 1852 trat das Kaisertum Österreich in eine neue Phase seiner Verfassungsentwicklung ein.18 Dies zeigt sich schon an Äußerlichkeiten. Nunmehr wurde keine „Verfassung“ erlassen, sondern im Sinne einer internen Dienstanweisung erhielt Ministerpräsident Schwarzenberg – „Lieber Fürst Schwarzenberg!“ – diese Grundsätze übermittelt, die allerdings im Reichsgesetzblatt verlautbart wurden. Schon die Bezeichnung „organische Einrichtungen“ verweist auf ein Verfassungsdenken im Sinne eines gewachsenen staatlichen Organismus.19 Bayerns Verfassung 1808 hatte sich als Verfassungsgrundlage gesehen, die durch „Organische Edicte“ zu verwirklichen war. Weitere Wendungen verraten sogar deutlich die neue verfassungstheoretische Grundlage. Beispielsweise ist die Rede von den „alten historischen Titeln“ der Länder, die Kreisbehörden sind mit den „üblichen Landesbenennungen“ zu bezeichnen wie „Comitate, Delegationen“, ebenso für die „landesfürstlichen Bezirksämtern“ die bisher „üblichen Landesbenennungen“ zu verwenden, bei den Stadtgemeinden sind „die frühere Eigenschaft und 17

Brauneder (FN 4), S. 125 ff. Brauneder (FN 4), S. 138 ff. 19 U. a. Christian-Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. Aufl. 1993 Rz. 222; Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, 2. Bd., 1992, S. 123 ff. 18

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besondere Stellung der königlichen und landesfürstlichen Städte zu berücksichtigen“. Signifikant für die historische Grundlage und ihre teilweise Reaktivierung ist ferner das Gutsgebiet als lokaler Sprengel neben den Gemeinden, gebildet aus dem „vormaligen Großgrundbesitz“.20 Noch deutlicher legte sodann die späte Ergänzung der Verfassungsgrundsätze 1852, nämlich das Oktoberdiplom 1860, die theoretische Grundlage offen: „Nur solche Institutionen und Rechtszustände, welche dem geschichtlichen Rechtsbewußtsein, der bestehenden Verschiedenheit Unserer Königreiche und Länder und den Anforderungen ihres untheilbaren und unzertrennlichen kräftigen Verbandes gleichmäßig entsprechen, können diese Bürgschaften in vollem Maße gewähren“. Mit dem „geschichtlichen Rechtsbewußtsein“ ist klar der öffentlichrechtliche Zweig der Historischen Rechtsschule, das Historische Staatsrecht, angesprochen. Nicht mehr das Staatslexikon von Rotteck und Welcker, die „Verfassungsbibel der Liberalen“, diente dem theoretischen Zugang zur Verfassungsgestaltung, sondern eben die Historische Rechtsschule. Die nunmehr in der Politik maßgeblichen Personen wie Innenminister Alexander Bach und Unterrichtsminister ThunHohenstein hatten sie, zum Teil enthusiastisch, im Juridisch-Politischen Leseverein, dem Sammelbecken der Wiener Intelligenz in den Jahren vor 1848, kennengelernt21, nunmehr setzten sie diese Theorie in die Praxis um. Kultusminister Thun-Hohenstein berief Anhänger der Historischen Rechtsschule auf Lehrstühle wie etwa Lorenz von Stein aus Kiel oder Josef Unger aus Wien.22 Der maßgeblich die neue Entwicklung beeinflussende Reichsratspräsident Kübeck sah den „Sinn und die Bedeutung des historischen Rechts“ vor allem auch als Mittel gegen „die Revolution“, und damit ihr konstitutionelles System, an.23 Vor diesem Hintergrund betraute Innenminister Bach u. a. den konservativen Ministerialrat und Ex-Tagsatzungsgesandten des Kantons Luzern Bernhard Ritter von Meyer mit der Ausarbeitung der neuen Landtagsstatute aufgrund der Verfassungsgrundsätze 1852.24 Er erhielt den Auftrag, sich dabei insbesondere auch an den historischen Rechten zu orientieren, etwa an der Ständischen Verfassung Tirols von 1816. Sie war aufgrund der Verpflichtung gemäß Artikel 13 der Deutschen Bundesakte ergangen, darauf besann man sich nun offenbar wieder.

20 Wilhelm Brauneder, Vom neo-ständischen Staatselement zum lokalen Verwaltungssprengel, in: ders., Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, 1994, S. 141 ff. 21 Ders. (FN 6), S. 374 f. 22 Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 138 f., 143, 267 f.; Wilhelm Brauneder, Lorenz von Steins Wirken in Wien, in: ders., Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, 1994, S. 377 ff. 23 Max v. Kübeck (Hrsg.), Tagebücher des C. F. Kübeck v. Kübau: 1840 – 1855, 2. Bd., Wien, S. 55. 24 Brauneder (FN 4), S. 141.

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Was nachträglichen Betrachtern als eines der Verfassungsexperimente erschien, lief tatsächlich auf einer bestimmten theoretischen Grundlage und überdies, wie nun zu zeigen ist, nach einem klaren Plan ab.

2. Die Brüche: Staatsform und Regierungssystem

Schematisch besehen blieb die Staatsform die des dezentralisierten Einheitsstaates. Dies allerdings in einer, im Gegensatz zur beendeten konstitutionellen Phase, andersartigen Konstruktion.25 Dazu war Folgendes geplant: Aus den Organen der Gemeinden bzw. der Gutsgebiete sollten die Landtage, aus diesen das vorerst 1852 noch unbestimmte Centralorgan des Staates gebildet werden. Damit wäre eine personelle Verklammerung nach nahezu freudalistischem Muster hergestellt gewesen. Dies war so gedacht: Auf unterster Ebene werden in den Gemeinden deren Organe gewählt. Die Gemeinden, differenziert in Stadtgemeinden und Landgemeinden, dann die Gutsgebiete senden ihre Vertreter in den Landtag, wozu geistliche Würdenträger treten. Diese Vertreter der Stadtgemeinden, Landgemeinden, Gutsgebiete und Prälaten bilden das neuständische Element, die neuen Stände. In einer gewissen Weise spiegelt sich hier eine gesellschaftliche Entwicklung wieder, wie sie etwa 1839 die „Deutsche Vierteljahresschrift“ in ihrem Artikel „Ueber Lesevereine in Deutschland“ beschrieben hatte26: Aufgrund eben dieser Lesevereine haben sich „verschiedene Klassen der Bildung“ entwikkelt, nämlich die „Honoratioren“, sodann die „selbständigen Bürger“, gekennzeichnet durch eine „ökonomische Selbstständigkeit“, so daß schließlich der „gemeine Haufe“ der Taglöhner, Diener etc. übrigbleibe. Von den neuständischen Landtagen sollte sodann als Vertretung auf der staatlichen Ebene das Centralorgan beschickt werden, das somit als Ausschußlandtag gedacht war.27 Übrigens versuchte am Frankfurter Fürstentag 1863 der österreichische Reformvorschlag dieses Entsendungsmodell im Deutschen Bund fortzusetzen28: Aus den Parlamenten der Mitgliedsstaaten, sozusagen aus deren Centralorganen, sollte auf Bundesebene neben den Bundestag ein Ausschußparlament treten. Die auf die beschriebene Weise erzielte Zusammensetzung von Landtagen und Centralorgan machte diese zu Interessenvertretungen: Bürger (Stadtgemeinden), Bauern (Landgemeinden), als großer Grundbesitz Adel und Kirche (Gutsgebiete). Dem Volksvertretungsplan des Konstitutionalismus war damit bewußt ein anderes Konzept entgegengesetzt worden. Ganz im Sinne des 25

Ebd. (FN 4), S. 143 ff. Ders. (FN 6), S. 21 ff. 27 Ders. (FN 4), S. 145 ff. 28 Ernst R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Bd., 3. Aufl. 1988, S. 421 ff. 26

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Historischen Staatsrechts galt dieses System als evolutionäre Fortentwicklung einer historisch gewachsenen Struktur in zeitgemäßer Gestaltung.

3. Kontinuitäten

Die Landesstruktur überdauerte die Aufhebung der Verfassung 1849, da sich deren Konzept nicht so rasch hatte realisieren lassen. Auch schritt die von ihr vorgesehene Neuordnung der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden im Sinne einer einheitlichen Modernisierung weiterhin zügig voran. Zudem hatte man u. a.29 zwei Grundrechte ausdrücklich aufrecht erhalten, nämlich die Gleichheit der Staatsbürger und, im Zusammenhang damit, die Aufhebung der Grunduntertänigkeit, was letztlich die eben erwähnte Modernisierung der Staatsbehörden ermöglichte. So stand dem radikalen und auch so empfundenen Wechsel von der konstitutionellen zur neuständischen Monarchie auf der staatlichen Ebene eine ziemliche Kontinuität auf Länderebene gegenüber: Die Idee der Landtage als Interessenvertretung mit neuständischer Zusammensetzung von 1849 blieb im Prinzip nach 1852 erhalten. 4. Der modifizierte Staatsaufbau von 1860/61

Der geplante Vollzug der Verfassungsgrundsätze 1852 in der Abfolge Gemeindewahlen, Beschickung der Landtage von den Gemeinden, nach einer gewissen Erfahrungszeit Entsendung aus den Landtagen in das Centralorgan wurde von der politischen Entwicklung überholt. Nach dem verlorenen Krieg in Italien 1859 entstand das dringende Bedürfnis nach einem die Staatsfinanzen beschließenden und sie kontrollierenden Kollegialorgan.30 Das „Laxenburger Manifest“ vom 15. Juli 1859 kündigte daher „zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung“ an. Damit sollte, was sich sogleich zeigte, der bisherige Weg nicht verlassen werden: Zur Errichtung eines Parlaments, damit zur Rückkehr zum Konstitutionalismus, kam es keineswegs. Vielmehr wurde der bisher geplante Aufbau des Staatsorganismus von unten ausgesetzt und mit dessen Spitze begonnen. Es kam zuerst das Centralorgan zustande, aber nicht durch Entsendung seitens der Landtage. Es knüpfte an eine schon bestehende gesamtstaatliche Institution an, nämlich den Reichsrat, der seit 1851 als Kronrat fungierte. Von ihm wurde nun im März 1860 eine zweite Form im sogenannten „verstärkten Reichsrat“ geschaffen31, der sich vom „Reichsrat“ nicht nur in seiner erweiterten Zu29 Wilhelm Brauneder, Die Gesetzgebungsgeschichte der österreichischen Grundrechte, in: Machaceck/ Pahr/ Stadler (Hrsg.), 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich, 1991, S. 189 ff., 269. 30 Ders. (FN 4), S. 145 ff.

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sammensetzung, sondern auch in den Kompetenzen unterschied. Was die Zusammensetzung anlangt, so traten zu den bisherigen zwölf Reichsräten achtundvierzig „außerordentliche Reichsräte“ in zwei Kategorien hinzu: erstens Erzherzöge, höhere kirchliche Würdenträger und um den Staat verdiente Männer sowie zweitens achtundreißig Ländervertreter, mangels Landtage provisorisch vom Kaiser ernannt. Unter den insgesamt sechzig Mitgliedern gab es eine Dominanz der Ländervertreter, zu denen noch alle Ungarn hinzuzurechnen waren, so daß der Verstärkte Reichsrat sich überwiegend als Ausschußlandtag darstellte.32 Ihm kam zwar keine Eigeninitiative zu, sondern neben der Beratung der kaiserlichen Regierung die Abgabe von Gutachten auf deren Verlangen. Dies steigerte sich im Juli 1860 in der Steuergesetzgebung zur parlamentarischen Funktion einer „Zustimmung“, welche ein Notverordnungsrecht des Kaisers in dieser Materie augenscheinlich macht. Zwar besaß der Verstärkte Reichsrat keine Zuständigkeit in Verfassungsfragen, aber er schnitt sie in zahlreichen Diskussionen an. Hiebei vertrat die Majorität eindeutig den Standpunkt des Historischen Staatsrechts, die Minderheit nur verklausuliert einen zentralstaatlichen Konstitutionalismus. Für die kaiserliche Regierung war daher – weiterhin – ersteres maßgebend. Auf diese Weise entstand das schon erwähnte Oktoberdiplom 1860. Es zementierte nun gleichsam den Verstärkten Reichsrat als „Reichsrat“ schlechthin, erhöhte allerdings die Zahl der Landtagsmitglieder auf einhundert, so daß nun diese 82 % aller Mitglieder stellten, was dem Reichsrat klar den überwiegenden Charakter eines Ausschußlandtags verlieh. Das Oktoberdiplom 1860 konnte für sich keine Verfassung und schon dadurch keine Zäsur darstellen, sondern für jene, ganz im Sinne des Historischen Staatsrechts, nur einen Rahmen abgeben.33 So waren beispielsweise die einhundert Mitglieder des Reichsrats, welche die Landtage entsenden sollten, erst auf diese zu verteilen. Gemeinsam mit dem Oktoberdiplom erließ der Kaiser auch „Landes-Statute“34 über die Errichtung der Landtage, vorerst allerdings nur für vier Länder, für andere sollten ihm Entwürfe vorgelegt werden. Auch dies erweist das noch Unvollkommene der „Oktobersituation“. Dem Historischen Staatsrecht entsprach weiters die Neugestaltung der Zentralbehörden35 mit einer Mischung von historischen Einrich31 Zu diesem insbesondere Gerhard Silvestri (Hrsg.), Verhandlungen des Österreichischen Verstärkten Reichsrathes 1860. Nach den stenographischen Berichten, 1. Bd., Wien 1972, S. 2 f.; Hauke (FN 3), S. 726 f. 32 Brauneder (FN 4), S. 145 ff. 33 Dies verkennt etwa Lehner (FN 2), S. 211, mit der Feststellung „Die Einberufung des Reichsrats unterblieb“. 34 Brauneder (FN 4), S. 149 f. 35 Ebd., S. 150 f.; Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze: mit Erläuterungen, 2. Aufl. Wien 1911, S. 229 f. (Nr. 59).

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tungen wie dem ungarischen und dem siebenbürgischen Hofkanzler sowie neuen wie dem cisleithanischen Staatsminister und dem gesamtstaatlichen Ministerpräsidenten. Die historischen Rückgriffe waren nicht bloß theoretisch motivierter Selbstzweck, sondern versuchten sich als Mittel zu einer auch Ungarn befriedigenden Gesamtstaatskonzeption. Nahezu sämtliche Oktober-Erlässe von 1860, insbesondere das Oktoberdiplom, waren auf notwendige Ausführungen und Ergänzungen durch weiterer Rechtsakte angewiesen, die allesamt im Februar 1861 als „Verfassung unseres Reiches“, als Reichsverfassung 1861, kundgemacht wurden.36 Die Reichsverfassung 1861 steht weiterhin eindeutig auf dem Boden des Historischen Staatsrechts, weil sie auch das Oktoberdiplom umfaßt37 sowie die erwähnten Zentralbehörden mit ihrer Wiederbelebung historischer Ämter. Dem historischen Rechtsdenken verpflichtet waren auch die am Zustandekommen der Reichsverfassung 1861 Beteiligten, nämlich die Minister Schmerling und Lasser sowie der Ministerialbeamte Perthaler. Sie gehörten dem Juridisch-politischen Leseverein an, Perthaler zählte zu einem begeisterten Anhänger der Historischen Rechtsschule.38 Trotz der Basis des Oktoberdiploms suchte die konkrete Organisation des Reichsrats diesen möglichst modern zu gestalten.39 Für ihn wurde nicht wie geplant ein bloßes „Statut“ erlassen, sondern das „Grundgesetz über die Reichsvertretung“. Es verteilte die Reichsrats-Mitglieder auf zwei Kammern: Die Ländervertreter bildeten das „Abgeordnetenhaus“, die übrigen das „Herrenhaus“. Dies sah zwar gerade in Hinblick auf den preußischen Landtag mit seinen beiden ebenso benannten Häusern nach einem Parlament aus, doch ging in Österreich keine der Kammern aus Wahlen hervor. Das Abgeordnetenhaus wurde treffend als „Delegiertenversammlung der Landtage“ charakterisiert, also als Ausschußlandtag, welches es ja tatsächlich war. Die Interpretation, es werde über die Landtage indirekt gewählt, ist reine Irreführung bzw. Fehlinterpretation, da die Landtage ausdrücklich aus ihrer Mitte, ja eigentlich aus ihren Kurien zu entsenden hatten. Von einer Wahl kann keine Rede sein. So entsprach der Reichsrat von seiner Beschickung her alles anderem als einem Parlament nach konstitutionellem Zuschnitt. Allerdings näherte er sich einem solchen doch merklich an, da 36 So stellte etwa Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs II, 3. Aufl., Graz / Wien / Köln 1962, S. 363, fest, es sei „der Ausdruck Februarpatent nicht ganz zutreffend“; denn das „Patent ist nur die Einleitung zu dem ganzen Komplex von Gesetzen, die man besser als Februarverfassung“ [dieses Wort im Original gesperrt] bezeichnen sollte. Dies so schon bei Hauke (FN 16), S. 727 (Überschrift) ff.; u. a. auch Arnold Luschin v. Ebengreuth, Grundriss der österr. Reichsgeschichte, Bamberg 1918, S. 338. 37 Beispielsweise 1894 steht es in einer Gesetzessammlung im Abschnitt „Verfassungsgesetzgebung“ an erster Stelle: Die Staatsgrundgesetze, 6. Aufl. Wien 1894. 38 Brauneder (FN 6), insbesondere, S. 154 f. 39 Ders. (FN 4), S. 151 ff.

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seine Kompetenzen insgesamt in der „Zustimmung“, also der Beschlussfassung, lagen und nicht etwa bloß in der „Beratung“. Eine kleine Konzession an fortschrittliche Gestaltung erfolgte in Bezug auf die Landtage40: Nach den neuen Landesordnungen 1861 wurden sie nicht mehr wie zuvor beschrieben von Stadtgemeinden, Landgemeinden und Großgrundbesitz (Gutsgebiete) beschickt, unter diesen Namen fungierten nun Wählerkurien; die Landtage wurden somit zu gewählten Interessenvertretungen. Da der Reichsrat, sieht man vom Fehlen von Wahlen ab, zum Parlament geworden war, trat in seine alte, beratende Funktion der neue Staatsrat ein.41 Die Reichsverfassung 1861 stellt schon äußerlich keine konstitutionelle Verfassung dar: Sie bestand aus einer Sammlung höchst unterschiedlicher Rechtsakte wie Pragmatische Sanktion, Oktoberdiplom, das erwähnte Grundgesetz, Landesordnungen, diverse Quellen in Bezug auf die Länder außerhalb Cisleithaniens. Noch weniger im Inhalt: Zum Konstitutionalismus fehlen insbesondere die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, verfassungsmäßige Grundlagen für die Exekutive und die Judikative, die Ministerverantwortlichkeit und vor allem Grundrechte. Es war nun das System von 1852 – die neuständische Monarchie – komplettiert und auch modifiziert, aber im Grunde keineswegs geändert worden. Der Vorschlag, die Verfassung 1849 und damit die konstitutionelle Monarchie wieder herzustellen, wurde ausdrücklich verworfen.42 An den deutlich fehlenden konstitutionellen Elementen gab es Kritik in der Presse.43 Kritik kam allerdings auch von konservativer Seite: Man habe die Grundsätze des „geschichtlichen Rechtsbewußtseins“ durch die „Ignorierung der bisherigen Stände“ verlassen! Mit der Reichsverfassung 1861 sollte durch ihre Bedachtnahme auf unterschiedliche historische Entwicklungen in der österreichischen Monarchie die Möglichkeit geschaffen werden, Ungarn in befriedigender Weise in den grundsätzlich einheitlichen Staat einzubauen. Der konstitutionellen Monarchie war dies nicht möglich, da sie durch verdichtete Organisation unweigerlich den Einheitsstaat erzeugte. Dies zeigte sehr klar die bisherige Entwicklung. Als Ungarn 1848 konstitutionelle Monarchie wurde, war es Staat neben dem somit auf Cisleithanien beschränkten österreichischen Staat geworden. Zwei konstitutionelle Verfassungen schufen je ein Parlament, je eine Regierung, je behördliche Strukturen, je eine Armee und erzeugten so zwei Staaten. Da dieses nicht in der Absicht der Wiener Zentrale lag, kam es zur kriegerischen Auseinandersetzung. Als sich diese Entwicklung 1867 durch den Ausgleich friedlich wiederholte, konnte Ungarn, weil nun als 40

Ders. (FN 10), S. 148. Eike Lindinger, Der österreichische Staatsrat 1861 – 1868, Jur. Diss., Wien 1998, S. 72. 42 Brauneder (FN 4), S. 151. 43 Ebd., insbesondere S. 154 f. 41

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Staat anerkannt, mit dem cisleithanischen Staat nur in Realunion verbunden werden. So wie in diesen beiden Fällen der gesamtösterreichische Kaiserstaat zersprengt wurde, hätte auch die Umwandlung des Deutschen Bundes in eine konstitutionelle Monarchie den österreichischen Kaiserstaat in einen bundeszugehörigen Staat und einen außerhalb desselben stehenden Staat zerteilt mit Verbindung in bloßer Personalunion. Das historisch eher mehr motivierte als fundierte neuständische System von 1860 / 61 befriedigte mehrfach nicht. Es fand in Cisleithanien nicht den Beifall der konstitutionell orientierten Liberalen, in Ungarn nicht den der nationalstaatlich ausgerichteten Politikermehrheit. Die bloß konservative Zustimmung reichte nicht aus.

IV. Die Zäsur von 1867 Weniger schroff als die Etablierung der ersten konstitutionellen Periode aufgrund der Revolution von 1848 wie auch deren Ablösung durch das Konzept der neuständischen Monarchie 1852 erfolgte der Übergang zur zweiten konstitutionellen Periode durch die Verfassung 1867.

1. Gleitender Übergang zum neuen Regierungssystem

Schon vor dem Erlaß der Verfassung 1867 hatten die „1848er“, ehemalige Abgeordnete teils aus dem österreichischen Reichstag von 1848 / 49, teils aus der Paulskirche 1848 / 49, im Reichsrat Initiativen unternommen, um die neuständische Monarchie möglichst einem konstitutionellen System anzunähern.44 Führend beteiligt war hier beispielsweise der Abgeordnete Eugen Megerle von Mühlfeld, der im Grundrechtsunterausschuß der Paulskirche gesessen hatte. Nun versuchte er, durch einzelne Gesetze, die sich als strafrechtliche Nebengesetze tarnten, Grundrechte in Kraft zu setzen. Dies gelang tatsächlich mit den Gesetzen zum Schutz des Hausrechts und zum Schutz der persönlichen Freiheit 1862, weitere Erfolge auf diesem Wege blieben ihm aber versagt. Auch die Einführung der Ministerverantwortlichkeit scheiterte. Die Entwicklung hin zur Verfassung 186745 begann damit, daß durch den Ausgleich mit Ungarn 1867 in Cisleithanien Verfassungsangleichungen notwendig wurden, da die Reichsverfassung 1861 sich ja nun auf dieses beschränkte. Die darauf abzielenden Regierungsvorlagen nützte allerdings der Reichsrat zu einer umfassenden Verfassungsgebung, welche die neuständi-

44 45

Ebd., S. 165 ff. insbesondere S. 166. Ebd., S. 169 ff.

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sche in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte. Die Presse erwartete sich zum Teil ein Wiederinkraftsetzen der Verfassung 1849 und druckte diese sogar ab. Doch wählte das Parlament einen anderen Weg, nämlich den der Ergänzung der Reichsverfassung 1861. Ihr Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung erfaßte nur die gesetzgebende Gewalt und so traten zu seiner revidierten Fassung nach dem Vorbild von 1849 weitere Staatsgrundgesetze hinzu, nämlich – nach dem Muster der Gewaltenteilung – über die „Regierungs- und Vollzugsgewalt“, über die „Richterliche Gewalt“, über die „Einsetzung eines Reichsgerichts“ als Verfassungsgericht und über die „Allgemeinen Rechte der Staatsbürger“, das einen Grundrechtskatalog festschrieb; dazu kam noch das „Delegationsgesetz“, in dem sich der Ausgleich mit Ungarn niederschlug. Aber es bewahrte die Verfassung 1867 zahlreiche Elemente aus der neuständischen Epoche. So beließ das so gut wie unveränderte Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung es bei dem ungewählten Abgeordnetenhaus des Reichsrats. Die Debatte im Abgeordnetenhaus begründete dies damit, man habe „auf das Vollkommene verzichten [müssen], um nicht das minder Vollkommene zu verlieren“, der „Zukunft müssen wir also vieles überlassen“.46 Aber es gab noch weitere monarchische Relikte aus der neuständischen Epoche wie vor allem die Auflösung des Abgeordnetenhauses, das absolute Veto, ein umfassendes Verordnungsrecht statt parlamentarischer Gesetzesbeschlüsse.47 Zufolge der schwerwiegenden Abweichung vom Konstitutionalismus durch das ungewählte Parlament konzentrierte sich die weitere Verfassungsentwicklung auf Parlamentsreformen.48 Erst mit der Einführung der Wahl zum Abgeordnetenhaus anstelle der Entsendung durch die Landtage im Jahre 1873 war der Umbau zur konstitutionellen Monarchie nach zeitgenössischem Verständnis vollendet – freilich doch mit einer Ausnahme. Sie bestand in der Ausgestaltung des Abgeordnetenhauses als Interessen- und nicht als Volksvertretung zufolge des Kurien- und Zensuswahlrechts.49 Diesen Charakter bewahrte es bis zur Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrechts 1907, weiterhin in der Form eines Mehrheitswahlrechts.

46 47 48 49

Ebd., S. 179. Brauneder (FN 10), S. 161. Ders. (FN 4), S. 192 ff. Ebd., S. 216 ff.

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2. Die Kontinuität in Land und Gemeinde

In Bezug auf die Länder änderte die Verfassung 1867 nichts, denn unverändert galten die Landesordnungen 1861 fort.50 Die Landtage blieben daher Interessenvertretungen, und zwar bis zum Ende des Staates im Jahre 1918. Das typische neuständische Relikt der Interessenvertretung bestand in der höchst unterschiedlichen Gewichtung der Interessen.51 Es führte dazu, daß z. B. im Landtag von Oberösterreich 1867 in der Kurie Großgrundbesitz 0,26 % der Wahlberechtigten 20% der Abgeordneten wählten, in der Stadtgemeindekurie 19,5 % der Wahlberechtigten 34 % der Abgeordneten, in der Landgemeindekurie wählten gut 80% der Wahlberechtigten 38 % der Abgeordneten, 6% an Abgeordneten entsandten die 30 Mitglieder der Handels- und Gewerbekammern (0,078 %), die restlichen 2% bildete der Bischof von Linz. Nichts änderte sich auch an der Struktur der Gemeinde. Auch die Gemeindeversammlung blieb Interessenvertretung, gewählt nach einem Dreiklassenwahlrecht. V. Der Kontinuitätsbruch von 1918 1. Anfang und Ende von Staaten

Die gravierendste Zäsur in der österreichischen Verfassungsentwicklung stellt das Jahr 1918 dar.52 Ungarn kündigt im Oktober 1918 erst die Realunion und dann auch die verbliebene Personalunion, besteht selbst weiter fort und erlebt mehrere Verfassungswandlungen.53 Der Staat Österreich (Cisleithanien) hingegen geht unter und es entstehen auf seinem Gebiet neue Staaten in Diskontinuität zu dem untergegangenen. Es sind dies vor allem die Tschechoslowakische Republik sowie die Republik Deutschösterreich, ab 1919 mit dem Namen Republik Österreich. Die Diskontinuität kündigt sich in beider Staatsnamen in doppelter Weise an: Republik statt Monarchie, Volkssouveränität der Tschecho-Slowaken bzw. Deutschösterreicher. Beide Staaten entstehen in Prag am 28. Oktober bzw. in Wien am 30. Oktober 1918 vor dem Erlöschen der altösterreichischen (cisleithanischen) Staatsgewalt, für das sie ursächlich sind.

50

Ders. (FN 10), S. 176 in Verbindung mit S. 149 f.; ders. (FN 4), S. 223 ff. Vgl. auch ders., Die Funktionen des Reichsrats, in: Schambeck (Hrsg.), Österreichs Parlamentarismus, Berlin 1986, S. 127. 52 Wilhelm Brauneder, Deutsch-Österreich 1918, Wien 2000, daraus die folgenden Details; u. a. Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich, Bd. 3), Wien 1986. 53 István György Töth (Hrsg.), Geschichte Ungarns, Budapest 2005, S. 606 ff. 51

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Wilhelm Brauneder 2. Die Republik Deutschösterreich

„Deutschösterreich ist […] im Kreise der Staaten eine Neuerscheinung“ formulierte 1919 der Staatsrechtslehrer Adolf Merkl.54 Damit drückte er treffend aus, daß Deutschösterreich eine Neugründung ist ebenso wie die Tschechoslowakei, also zum bisherigen Staatswesen in Diskontinuität steht. Dem stand, dies sei kurz erwähnt, die Ansicht der alliierten und assoziierten Staaten gegenüber, formuliert vom französischen Ministerpräsidenten Clemenceau mit „L’Autriche c’est qui en reste“. Österreichs Standpunkt der Diskontinuität fand mehrfachen Ausdruck und wurde auch in der Folge nie aufgegeben. Die Neugründung zeigt sich einmal darin, daß sie in keiner Weise etwa durch eine Änderung der Verfassung 1867, d. h. in dem von ihr für eine Verfassungsänderung vorgesehenen Weg erfolgte, nämlich durch ein hier nicht vorgesehenes, also revolutionär entstandenes Organ, die Provisorische Nationalversammlung. Sie konstitutionierte sich am 21. Oktober 1918 und erließ am darauffolgenden 30. Oktober den Staatsgründungsbeschluß, der mit der Nummer 1 im Staatsgesetzblatt signifikant als erster Rechtsakt der neuen Staatsgewalt ausgewiesen ist. In ihm nimmt die Provisorische Nationalversammlung „die oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich“ in Anspruch, stellt fest, daß die „gesetzgebende Gewalt“ von ihr „selbst ausgeübt“ wird, während sie mit der „Regierungs- und Vollzugsgewalt“ einen Ausschuß betraut, „den sie aus ihrer Mitte bestellt“ und für die obersten „Geschäfte der Staatsverwaltung“ eigene Staatsämter einsetzt, die in „ihrer Gesamtheit die Staatsregierung“ bilden. Damit waren, wie dieser Beschluß sich nannte, „die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“ bestimmt. Was alles weitere anlangte, so beließ man „Gesetze und Einrichtungen“ Cisleithaniens „bis auf weiteres in vorläufiger Geltung“. Die betraf etwa die gesamte einfachgesetzliche Rechtsordnung, vor allem die Gerichtsund Verwaltungsorganisation. In völliger Abkehr von der noch fortbestehenden cisleithanisch-monarchischen Staatsgewalt war die eben begründete nach dem demokratischen und dem republikanischen Prinzip eingerichtet, weder war ein Monarch vorgesehen, noch eine Lücke offengelassen, in die man diesen hineininterpretieren hätte können. Die ausdrückliche Bezeichnung, der Staat sei „eine demokratische Republik“ erfolgte durch Gesetz vom 12. November 1918 (Staatsgesetzblatt 5), nach dem am Vortag Kaiser Karl „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ verzichtet hatte, somit den monarchischen Anteil der Verfassung 1867 eliminierte, und den zweiten Anteil, nämlich den des vertretenen Volkes im Sinne der konstitutionellen Monarchie, tags darauf das Abgeordnetenhaus zum Erlöschen brachte. 54 Adolf Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, Wien / Leipzig 1919, S. 2.

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Aber es gab eine gewisse faktisch-politische Kontinuität. Sie manifestiert die eben erwähnte Provisorische Nationalversammlung. Sie verstand sich deshalb als Provisorium, weil sie nicht eigens als solche gewählt worden war, sich vielmehr aus den Abgeordneten des bisherigen Parlaments, des Reichsrats, zusammensetze, nämlich jenen aus den deutschen Wahlkreisen. Damit bewirkten sie übrigens prinzipiell deren Zugehörigkeit zum neuen Staat, der sich somit am Tag der Staatsgründung als Summe der deutschen Wahlkreise Cisleithaniens verstand. Dies war am 30. Oktober 1918 vor dem Staatsgründungsbeschluß als erster Schritt der Nationalversammlung dem US-Präsidenten Wilson als Neugründung eines Staates im Sinne des von ihm proklamierten nationalen Selbstbestimmungsrechtes mitzuteilen beschlossen worden. Der neue Staat sollte auch neuartig eingerichtet werden.55 Dies zeigt sich signifikant einmal darin, daß er kein monokratisches Staatsoberhaupt besaß, dessen Funktionen übte ein kleiner Ausschuß des Staatsrates aus. In bewußter Abkehr war auch die Gesetzgebungs- und Verordnungsgewalt geregelt. Gesetze der Nationalversammlung sollten allenfalls durch Vollzugsanweisungen des Staatsrates präzisiert werden, deren Adressat die Staatsregierung war. Ihr oblag allein die Vollziehung, ein eigenes Verordnungsrecht besaß sie nicht – in bewußter Abkehr von den monarchischen Ministern, die ein sehr exzessives Verordnungsrecht wahrgenommen hatten. Den „Umbruch“, auch „Umsturz“, wie die Etablierung des Neuen populär genannt wurde, manifestierten auch gesellschaftspolitische Maßnahmen56: die Aufhebung noch bestehender adeliger Vorrechte sowie das Verbot der Führung von Adelsprädikaten, belegt mit einer für damalige Verhältnisse hohen Geldstrafe, ferner die Aufhebung der nicht im Völkerrecht begründeten Exterritorialität, welche den Besitzungen ausländischer Ex-Monarchen zukam, und vor allem die prinzipielle Landesverweisung von Mitgliedern des Hauses Habsburg-Lothringen.57 Die Rezeption bisheriger Einrichtungen am 30. Oktober betraf auch die Staatsform: Die Existenz der bisherigen Länder wurde beibehalten – richtig: übernommen –, zumal sich die autonome Landesverwaltung sogleich am Tag nach der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung, also am 22. Oktober, dieser zur Verfügung stellte. Damit trat im Gegensatz zu den Verfassungsänderungen ab 1848 in der Struktur der Länder eine entscheidende Veränderung ein. Hatten die alten Länder den Doppelcharakter eines autonomen Selbstverwaltungskörpers, treffend charakterisiert als „Kommunalverband höchster Ordnung“, sowie 55

Brauneder (FN 10), S. 187 ff. Ebd., S. 189 f. 57 Bernadette Dörr, „Tu Felix Austria?“ – Das Habsburgergesetz in seiner Entwicklung, Jur. Diss., Wien 2010. 56

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als staatlicher Verwaltungssprengel mit je getrennten Behörden besessen, wurde dies nun insofern anders. Die autonomen Landesbehörden übernahmen die Aufgaben der staatlichen Verwaltungsbehörde, des Statthalters, wodurch die ihm unterstellten Bezirkshauptmannschaften zu Landesbehörden wurden. An die Stelle des Statthalters trat der Landeshauptmann mit zwei Stellvertretern als „Landesregierung“. Mit ihr und dem Landtag als Landesparlament nahmen die Länder nahezu staatlichen Charakter an. Dazu trug bei, daß an die Stelle der aufgrund eines Kurienwahlrechts gewählten Landtage Provisorische Landesversammlungen traten, die sich proportional zur Nationalversammlung zusammensetzten. Die derart neu konstruierten Landesgewalten sahen sich übrigens ebenso als originär entstanden, also in Diskontinuität zu den bisherigen an wie die Staatsgewalt Deutschösterreichs. Insgesamt zeichnete sich der Weg zum Bundesstaat ab. Die neue Landesverfassung von Vorarlberg hielt bereits fest, das Land übe jene Rechte aus, die nicht dem – unbenannten – „Bundesstaat“ zukommen. In einer ganz spezifischen Weise neuartig war es natürlich, daß der eben begründete Staat es als Staatsziel festsetzte, sich einem anderen Staate anschließen zu wollen, und zwar am 12. November 1918 durch eine Verfassungsbestimmung: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“. Dies verstand sich daraus, daß der Staat Deutschösterreich in seiner territorialen Konfiguration an sich ein Novum darstellte, die beanspruchten Gebiete hatten so nie ein eigenes Gemeinwesen gebildet. Dies wird sichtbar nicht bloß in den neugeschaffenen Ländern im Bereich von Böhmen-Mähren-Schlesien, sondern auch in der Option auf Deutsch-Westungarn, welches zum ungarischen Staatsverband gehörte. Das territorial Neuartige unterstrich schließlich auch die Grenzziehung durch den Vertrag von St. Germain58, der im Wesentlichen das heutige österreichische Staatsgebiet festlegte, welches vollends ahistorisch war und auch so zeitgenössisch empfunden wurde. Kurioserweise entsprach ihm am ehesten noch der österreichische Reichskreis, freilich ohne das zum bayerischen Reichskreis gehörige Land Salzburg. Dies alles bildete auch den Hintergrund dafür, daß einzelne Länder an Absetzbewegungen von dem eben begründeten Staat dachten: Vorarlberg mit seiner „Schweizer Anschlußbewegung“59, Tirol mit der Idee eines neutralen Alpenstaates und sogar eines Kirchenstaates unter nominell päpstlicher Herrschaft zur Wahrung der Landeseinheit.60

58 U. a. St. Germain 1919 (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich, Bd. 11), Wien 1989. 59 Daniel Witzig, Die Vorarlberger Frage (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 132), 2. Aufl. Basel [u. a.] 1974. 60 Wilhelm Brauneder, Kirchenstaatspläne 1916 /1918: Tirol statt Liechtenstein?, in: Festschrift Hans-Jürgen Becker, 2003, 1 ff.

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Das Ahistorisch-Neuartige des Staatsgebietes lag von Anfang an eingebettet in die Idee der Zugehörigkeit zu einer größeren Organisation. Einerseits war das totale Ende der Habsburgermonarchie erst allmählich vorstellbar, denn kurz dachte man, an ihre Stelle könne ein Staatenbund oder zumindest eine Wirtschaftsunion treten. Dieser Gedanke zerschlug sich aber bereits durch die Haltung des entstehenden tschechoslowakischen Staates wie ähnlich auch an der Ungarns schon in den Tagen der Staatsgründung, so daß bereits am 12. November 1918 (Staatsgesetzblatt 5) der zitierte Anschluß an das Deutsche Reich proklamiert wurde. Die Realisierung dieses Staatszieles, wofür bereits ein Protokoll des österreichischen wie des deutschen Außenministers vom 2. März 1919 vorlag61, unterband allerdings der Vertrag von St. Germain.62 An die Stelle der ab der Staatsgründung erlassenen verfassungsrelevanten Gesetze trat schließlich die Bundesverfassung 1920.63 Unter dem Aspekt von Kontinuität bzw. Diskontinuität stellte sie sich als Ergebnis der unmittelbar voraufgegangenen Entwicklung dar, bestätigte sie. An die Stelle der bisherigen Staatsform des dezentralisierten Einheitsstaates trat die des Bundesstaates. Dies war zwar verfassungsgeschichtlich eine Neuerung, die aber im Wesentlichen nur, wie eben erwähnt, die bisherige Entwicklung bestätigte und es daher auch verständlich macht, daß der Bundesstaat nur schwach ausgebildet wurde.

VI. Systemwechsel 1929 durch bloße Novellierung Angesichts des Parteienhaders nicht nur im Parlament, sondern auch auf „der Straße“ mit dem Höhepunkt des Brandes des Justizpalastes im Jahre 1927 und an die 100 Toten, wurde der Ruf nach einer Verfassungsänderung unüberhörbar. Sie erfolgte im Jahre 192964 durch eine Novellierung der Bundesverfassung 1920 und stärkte, was hier nur kurz angedeutet sei, den Bundespräsidenten und die Bundesregierung: Sie wurde nun vom Bundespräsidenten ernannt und nicht mehr vom Parlament gewählt. Dabei folgte man ausdrücklich dem Vorbild der Weimarer Verfassung 1919. Es galt dies als ein Umschwenken von der extrem in der Staatsspitze gewaltenverbindenden Parlamentsdemokratie zu einer präsidialen Demokratie. Anstelle der bisherigen Ländervertretung durch den Bundesrat war ein Länder- und 61 Brauneder (Hrsg.), Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen I. Rechtsangleichung 1850 – 1938 (= Rechts- und Sozialwissenschaftliche Reihe, Bd. 12), 1996, S. 305 ff. (Anhang). 62 Brauneder (FN 10), S. 195. 63 Klaus Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, 1. Bd., Wien 1998, S. 189 ff. 64 Ders., Die Verfassungsreform von 1929, Wien 1979.

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Ständerat vorgesehen, letzterer als Vertretung von Berufen; verwirklicht wurde er nicht. Obwohl dieser Systemwechsel an den Grundprinzipien von 1920 rührte, fand keine für in diesem Falle notwendige Volksabstimmung statt, auch begnügte man sich mit einer minutiösen Novellierung des bisherigen anstelle des Erlasses eines neuen Verfassungstextes. Die Eingriffe waren allerdings so weitgehend, daß nicht nur die punktuellen Novellierungen im Bundesgesetzblatt verlautbart wurden (Nr. 392 / 1929), sondern auch der gesamte Verfassungstext. Dies geschah bezeichnenderweise im Bundesgesetzblatt 1 von 1930, so daß, hätte eine Volksabstimmung stattgefunden, es gerechtfertigt wäre von der „Verfassung 1930“ zu sprechen. Aber eben dies sollte vermieden werden. Zur innenpolitischen Beruhigung trug die neue Verfassungssituation allerdings nicht bei, überdies wurde sie schon 1933 hinfällig. VII. Die Zäsur von 1934 Im März 1933 traten in und zufolge einer tumultuarischen Sitzung des Nationalrats sukzessive dessen drei Präsidenten zurück.65 Die Fortsetzung der unterbrochenen Sitzung durch den zuletzt zurücktretenden Dritten als sozusagen geschäftsführenden Präsidenten verhinderte die Bundesregierung durch ein Polizeiaufgebot. Sie stand auf dem Standpunkt, der Nationalrat habe sich selbst ausgeschalten. In einem Staatsstreich von oben setzte die Bundesregierung die Ländervertretung des Bundesrates außer Funktion, der „Hüter der Verfassung“, der Verfassungsgerichtshof, verfiel einer Lahmlegung, der Bundespräsident sah dem allen zu. Die parlamentslose Zeit nutzte die Bundesregierung, um mit Regierungsverordnungen aufgrund des rezipierten Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes 1917 zu regieren. Eine Regierungsdiktatur begann. Eine erst vorgesehene Novellierung der geltenden Bundesverfassung überholte alsbald die Idee, eine völlig neue Verfassung in Kraft zu setzen. Dies geschah am 1. Mai 1934. Diese „Verfassung 1934“66 stellt eine tiefgehende Zäsur dar, da der bisher wichtigste Verfassungsgrundsatz, das demokratische Prinzip, bewußt und ausdrücklich durch eine „ständische“ Grundlage ersetzt wurde. Zum Zweck der politischen Willensbildung erfolgte eine Organisation des Volkes in sieben „Berufsständen“, nämlich Land- und Forstwirtschaft; Industrie und Bergbau; Gewerbe; Handel und Verkehr; Geld-, Kredit- und Versicherungswesen; Freie Berufe; Öffentlicher Dienst. Allgemein verständlich beschrieben67 bedeutete „Berufsstand“ die „Gesamtheit aller in einem Erwerbszweig Be65 Zum Folgenden Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975, S. 157 ff.; Brauneder (FN 10), S. 232. 66 Brauneder (FN 10), S. 233 ff.; Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935. 67 O du mein Österreich, Wien, Leipzig, 1935, S. 66.

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schäftigten. Dazu gehören die Unternehmer wie auch die Angestellten, die Arbeitgeber wie auch die Arbeitnehmer“. Dafür suggerierte man nahezu eine Art Normalität dieser berufsständischen Gliederung: wie das Volk territorial in Bundesländer zusammengefaßt sei, so berufsmäßig durch die Berufsstände. Dazu trat weiters das „autoritäre Prinzip“, das die Broschüre mit dem bezeichnenden Titel „Unser Staatsprogramm: Führerworte“68 wie folgt beschrieb: „Es ist der Sinn des modernen … Führerprinzips, daß sozusagen eine oberste Stelle da ist, die berufen ist, gewisse Grundlinien, gewisse Grundsätze aufzustellen, denen sich alle zu fügen haben“: Dies war die Bundesregierung unter der Führung des Bundeskanzlers. Wenngleich Österreich Republik blieb, verfiel der Ausdruck der Ächtung: Er wurde aus dem bisherigen Staatsnamen „Republik Österreich“ getilgt und durch das nichtssagende Wort „Bundesstaat“ ersetzt, an die Stelle des bisherigen republikanischen Adlers trat ein doppelköpfiger. Hiezu wählte man jenen des Heiligen Römischen Reiches, um den Charakter Österreichs als zweiten deutschen Staat zu manifestieren. Die Präambel zur Verfassung 1934 hatte dies alles ausgesprochen und Österreich als einen „christlichen deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage“ bezeichnet, dessen Volk in autoritärer Weise diese Verfassung „erhält“, sich nicht selbst gibt. Das erwähnte christliche war in Wahrheit ein katholisches Element: Das eben abgeschlossene Konkordat 1933 galt mit einigen Teilen direkt als Verfassungsrecht. Die gravierende Zäsur zufolge der neuen Verfassung bestand im Entfall jeglicher Wahlen. An ihre Stelle trat die Entsendung durch die Berufsstände sowohl in die Organe der Landes- wie auch der Bundesgesetzgebung. Vermieden wurde daher der Ausdruck Parlament selbst für das entsprechende Gebäude, es hieß nun „Haus der Gesetzgebung“. Den Bundespräsidenten sollten sämtliche Bürgermeister Österreichs aus einem Dreiervorschlag der Bundesversammlung auswählen. Die Zäsur von 1934 erfaßte auch die Länder. Sie alle erhielten neue Landesverfassungen69 ständisch-autoritärer Prägung, wenngleich die fortdauernden Organe Landeshauptmann, Landesregierung und Landtag dies auf den ersten Blick nicht erkennen lassen. Trotz der bewußt völlig neuartigen Verfassungsstruktur bemühte sich die Bundesregierung um den Anschein einer Kontinuität zur bisherigen Verfassungslage.70 Was 1933 verhindert worden war, geschah 1934 doch, nämlich die Reaktivierung des Nationalrates. Er beschloß ein Ermächtigungsgesetz, in dem er die gesamte Bundesgesetzgebung einschließlich der Verfassungs68 Bundeskommissariat für Heimatdienst (Hrsg.), Unser Staatsprogramm: Führerworte, Wien 1935, S. 69. 69 Michael Ettinger, Die Landesverfassungen 1934, Jur. Diss., Wien 2001. 70 Dazu kritisch u. a. Norbert Gürke, Die österreichische „Verfassung 1934“ in: Archiv für Öffentliches Recht, Nr. 25 (1934), S. 178 ff.

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gesetzgebung der Bundesregierung übertrug. Mit einer Regierungsverordnung aufgrund dieses Ermächtigungsgesetzes setzte die Bundesregierung die erwähnte Verfassung 1934 in Kraft, nachdem sie dies zeitgleich auch mit einer anderen Regierungsverordnung aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes 1917 getan hatte! Dies allerdings war verfassungsrechtlich zumindest bedenklich, ja völlig inkorrekt: Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 ermächtigte nur zu Verordnungen wirtschaftlichen Inhalts. Aber auch der Versuch einer Kontinuität über das Ermächtigungsgesetz begegnete gleichen Bedenken. Der dieses beschließende Nationalrat verfügte nämlich vor allem durch die Aberkennung der sozialdemokratischen Mandate nicht mehr über das erforderliche Präsenzquorum. Trotz der Verfassung 1934 dauerte die Regierungsdiktatur, wie sie ab März 1933 um sich gegriffen hatte, weiter fort. Weitaus die meisten Materien wurden nicht durch Gesetze im Sinne der Verfassung 1934 geregelt, sondern durch Regierungsverordnungen auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes 1934.71 Wie sehr die Kontinuitätsbemühungen von 1934 auf lange Sicht nicht überzeugten, zeigt sich beim Wiederherstellen der österreichischen Staatlichkeit im Jahre 1945.72 Man kehrte nicht zur Verfassungssituation vor dem Anschluß im März 1938 zurück, sondern zur Verfassungssituation am Tag der Unterbrechung der Nationalratssitzung durch den Rücktritt der drei Präsidenten. So trat 1945 die Verfassung 1920 /1929 wieder in Wirksamkeit, die Verfassungslage zwischen 1933 und 1938, vor allem die Verfassung 1934, wurde Episode. Im Jahre 1945 übersprang somit die Verfassungskontinuität nicht bloß den Zeitraum zwischen 1938 und 1945, sondern auch jenen von 1933 bis 1938. VIII. Zusammenfassung Wie eingangs betont, markiert der Erlass von formellen Verfassungen ab der ersten im Jahre 1848 deutlich Ende bzw. Beginn von Verfassungskonzeptionen. Im stets dezentralisierten Einheitsstaat vor dem Ende „der Monarchie“ im Jahre 1918 steht neben derartigen Diskontinuitäten der Regierungssysteme die Kontinuität der Länderstrukturen zufolge ihres Charakters als nichtstaatliche Gebilde und damit die der Staatsform. Ihr Charakter wandelte sich ziemlich stark ab der Staatsgründung von 1918 und vor allem mit der Hinwendung zu einer bundesstaatlichen Struktur durch die Verfas71 Wolfgang Putschek, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933 – 1938 (= Rechtshistorische Reihe 109), 1993, insbesondere S. 192 f.; Brauneder (FN 10), S. 259 f. 72 U. a. Karl Renner, Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs, Wien 1945; Brauneder (FN 10), S. 255 ff.

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sung 1920, um sodann im wesentlichen weiterhin durch Kontinuität gekennzeichnet zu sein. Beachtlich sind trotz der verfassungsrechtlichen Zäsuren die Bemühungen um verfassungsrechtliche Kontinuitäten. In einem gewissen Maße zeigt sich dies selbst bei der ersten formellen Verfassung 1848 darin, daß sie der bisherige Gesetzgeber, der absolute Monarch, durch Oktroy in Kraft setzte. Das Oktroy der nachfolgenden Verfassung 1849 aber stellt sich als bewußter Verfassungsbruch dar, da diese nicht den Regeln über eine Verfassungsänderung der Vorgängerverfassung von 1848 folgt. Dieses Schicksal erlitt allerdings die Verfassung 1849 dadurch, daß sie 1851 nicht in der von ihr vorgesehenen Weise abgeändert, nämlich aufgehoben wird, sondern einseitig durch den Monarchen, der sodann allein aus seiner Position heraus die Verfassungsgrundsätze 1852 seinem Ministerpräsidenten vorschreibt. Kontinuität begegnet wieder bei dem Erlaß der Reichsverfassung 1861, da sie der bisherige Gesetzgeber, allein der Monarch, in Kraft setzt. Kontinuität zeigt sich auch bei der nächstfolgenden Verfassung 1867, denn sie ergeht in dem von der Reichsverfassung 1861 vorgezeichneten Weg gemeinsam durch Reichsrat und Kaiser. Eine politische Kontinuität unterstreicht hier weiters der Umstand, daß die Verfassung 1867 sich als Ergänzung der Reichsverfassung 1861 darstellt. Keinerlei Bemühung um Kontinuität zeigt begreiflicherweise die Staatsgründung 1918: Sie ist ein bewußter Neubeginn, ein rechtlich wie auch tatsächlich revolutionärer Akt, und zwar auch auf Landesebene. Danach folgen wieder Entwicklungen auf dem Boden von Kontinuitäten: Die Verfassung 1920 erläßt die sogleich ab der Staatsgründung vorgesehene Konstituierende Nationalversammlung, den jedenfalls konzeptionell tiefgehenden Verfassungswandel von 1929 verschleiert eine sozusagen normale Verfassungsnovellierung ohne Volksbefragung und schließlich sucht die Bundesregierung ihr Oktroy der Verfassung 1934 über ein Ermächtigungsgesetz auch in den Kontinuitätsfluß einzubauen.

Aussprache Gesprächsleitung: Kley

Kley: Vielen Dank, Herr Brauneder. Also, ich darf Sie gleich um Voten bitten für die erste Gruppe von etwa drei Personen. Manca: Herr Brauneder, vielen Dank für den schönen und reichen Vortrag. Meine erste Frage betrifft der Bezeichnung, die Sie für die Zeit zwischen 1851 und 1860 angewandt haben. Sie haben nämlich von einer „neuständischen“ Periode gesprochen, und ich frage mich, wieso Sie diese Bezeichnung gegenüber der des „Neoabsolutismus“ bevorzugen, auch wenn es Ihnen wohlbekannt ist, dass in der Zeit, wie Sie selbst ausführten, „keine Parlamentswahlen“ irgendwelcher Art stattfanden. Ich weiß aus der damaligen Verfassungsgeschichte Tirols, dass dort zum Beispiel der Vorsitzende des Landtags von derselben Figur, dem Landeshauptmann, gestellt wurde, die die Exekutive im Namen des Königs innehatte; das heißt, dass sogar der Vorsitzende der Landesversammlung vom Kaiser ernannt wurde. Ich sehe auch aus diesem Grund wenig Anzeichen, für ein „neuständisches“ Zeitalter einzutreten – ich würde eher bei der Bezeichnung „Neoabsolutismus“ bleiben. Kley: Danke, dann der Nächste, bitte. Kohl: Sie haben am Schluss diese Zusammenfassung geliefert mit evolutionären und revolutionären Verfassungsänderungen. Im Hinblick auf den Titel des Vortrags – „Verfassungsänderungen als Systemwechsel“ – stellt sich mir auch die Frage, in welcher zeitlichen Abfolge Systemwechsel und Verfassungsänderungen zueinander stehen. Offensichtlich ist ja die Verfassungsänderung als Systemwechsel eine Auswahl aus vielen Varianten von Verfassungsänderungen, eine Konzentration auf diejenigen, die eben einen Systemwechsel bringen. Dabei könnte man unterscheiden: Erstens Verfassungsänderungen, die dem Systemwechsel hinterherhinken, zweitens Verfassungsänderungen, die tatsächlich den Systemwechsel bringen – typischerweise bei Staatsgründungen –, und drittens Verfassungsänderungen, die einen Systemwechsel am Horizont erscheinen lassen – wie man vielleicht 1860 / 1861 einordnen könnte. Insgesamt, hier komme ich auf ein etwas spekulativeres Moment, könnte man sich auch fragen, inwiefern damit nicht „Verfassungsänderung“ an sich zu etwas Technischem absinkt: Es gibt eben Verfassungsänderungen, die tatsächlich Systemwechsel bringen, und, wenn

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man das so nennen will, „gewöhnliche“, nur den Juristen interessierende Verfassungsänderungen. Diese zwei verschiedenen Typen von Verfassungsänderungen spiegeln sich dann letztlich wider in der Frage: Liegt eine Gesamtänderung der Verfassung – in Österreich Art. 44 B-VG – vor oder eben nicht? Um vielleicht etwas, das jüngst Betrachtungsgegenstand war, hinzuzufügen: Art. 44 B-VG hat im Zusammenhang mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union Anwendung gefunden und dabei, wenn ich das sozusagen als Zeitzeuge anmerken darf, hat ja die Frage, dass es sich um eine Verfassungsänderung handelt, in der Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle gespielt – was umso mehr dafür spricht, dass „einfache“ Verfassungsänderungen abgewertet werden als etwas, was nur die Juristen interessiert. Kley: Danke sehr, Herr Kohl. Jetzt kommt Herr Brauneder zum Zug. Brauneder: Frau Manca, ich bedanke mich für Ihre Frage, weil ich dieses Thema aus Zeitgründen im Vortrag nicht aufgegriffen habe. Ich weiß, in der Regel sagt man, in der Periode 1852 – 1861 gibt es den Neoabsolutismus – mangels Parlament. Von 1861 an gibt es ein Parlament, und irrtümlich wird dann sehr oft vom Konstitutionalismus gesprochen. Warum sehe ich das anders? Der erste Grund ist der, dass von 1852 an das Konzept eindeutig das einer „neuständisch beschränkten“ – wie es eigentlich vollständig heißt – Monarchie ist. Es wird ja immer wieder gesagt: Wir wollen eine ständische Beschränkung, wie es vor 1848 war – unter anderem die Tiroler Verfassung 1816 wollte man sich zum Vorbild nehmen –, aber: neue Stände! Nicht mehr die Faustregel „Adel, Geistlichkeit, Städtevertreter und Bauernvertreter“, sondern es haben sich neue Stände entwickelt, und diesem Umstand muss man Rechnung tragen. Das ist das Konzept, und man beginnt, dieses Konzept zu verwirklichen. Es dauert halt ein bisschen länger, weil es offenkundig wesentlich leichter ist, eine konstitutionelle Verfassung nach verschiedensten Vorbildern – die sich alle relativ ähnlich sind – zu gestalten, als überhaupt auf dem Boden des Historischen Staatsrechts etwas zu konstruieren, weil es da kaum ein klares Vorbild gibt, da die historische Entwicklung in den verschiedenen Kronländern getrennt verlief. Was ich in einem Land an ständischen Traditionen habe, kann ich auf das andere Land schwer übertragen. Also dauert es ein wenig, bis ich so ein Konzept verwirklicht habe. In dieser Periode gibt es in der Realverfassung beziehungsweise in der Verfassungswirklichkeit einen Neoabsolutismus. Der Monarch regiert absolut mit seinen Ministern – bis 1861. Das Konzept aber geht über 1860 / 1861 hinaus, es wird sogar gekrönt mit dem Oktoberdiplom 1860. Aber es geht eindeutig darüber hinaus, denn ich habe auch nach 1861 bei weitem keine konstitutionelle Verfassung. Es ist nur eine Staatsgewalt geregelt, nämlich die Gesetzgebung. Ich habe also keine Garantie hinsichtlich der Gerichtsbarkeit, ich habe keine Regelung der Verwaltung, ich habe keine Grund-

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rechte, ich habe keine Ministerverantwortlichkeit. Alles, was zum Konstitutionalismus notwendig ist, habe ich nicht – und man könnte sogar sagen, ich habe nicht einmal ein Parlament. Denn ein Organ, das nicht gewählt ist, ist kein Parlament. Ich will das ein wenig abschwächen und sagen, ich habe nur ein Schein-, ein Quasi-Parlament, weil ich keine gewählten Kammern habe. Daher erscheint es mir richtig, für diesen gesamten Zeitraum von 1851 bis 1867 diesen terminus technicus der neuständischen Monarchie zu verwenden und für den ersten Teil, für die Verfassungswirklichkeit bis 1861, vom Neoabsolutismus zu sprechen. Und zu Herrn Kohl: Im 19. Jahrhundert gibt es zum Glück eher wenig Verfassungen, nicht? Also ich habe die Verfassungen, die wir ja im Unterricht pausenlos für unsere Studierenden frequentieren müssen, und nahezu jede kennzeichnet eine neue Periode. Die Verfassung 1848 wird abgelöst durch die Verfassung 1849, dann folgen diese Organischen Grundsätze 1852, dann darauf aufbauend die 1861er und dann die 1867er Verfassung. Bei der Republik bin ich dann aus Zeitgründen auf das eine oder andere nicht eingegangen, weil es mir nur wichtig schien, den Systemwechsel zu zeigen mit der Verfassung von 1934. Natürlich gibt es dazwischen die 1920er Novelle, die 1929er Novelle – die man vielleicht besser als Verfassung 1930 bezeichnen sollte, was aber nur zur Verwirrung beitragen würde. Richtig ist, dass es Verfassungsänderungen gibt, die keinen Systemwechsel darstellen – aber nicht im betrachteten Zeitraum. Zum EU-Beitritt möchte ich nur eines sagen: Das ist bislang das einzige Mal, dass von dem Art. 44 – Volksbefragung – Gebrauch gemacht worden ist, und zwar deswegen, weil es klar war, dass mit dem EU-Beitritt gravierende Eingriffe in das gewaltentrennende Prinzip und in das föderalistische Prinzip Platz greifen werden. Dann war noch etwas: Die Bezeichnung als Verfassungsbestimmung bei zu übernehmendem EU-Recht und – natürlich – das demokratische Prinzip – danke, Herr Kohl – wird verletzt. Da sagten damals die Verfassungsjuristen: Wenn drei Prinzipien der Bundesverfassung tangiert sind, müssen wir den Art. 44 – Volksbefragung – anwenden. Für das Volk sah das Ganze so aus, als ob über den EU-Beitritt abgestimmt würde. Es ist aber nicht über den EU-Beitritt abgestimmt worden, sondern es ist abgestimmt worden über den Erlass eines Ermächtigungsgesetzes für die Bundesregierung – die Parallele zu 1934 ist also eklatant, nur das wollte man natürlich nicht sagen. Man hat also über ein Ermächtigungsgesetz abgestimmt, mit dessen Hilfe man die Totaländerung der Verfassung nicht nach dem Wortlaut der Bundesverfassung durchführen musste. Kley: Weitere Wortmeldungen, bitte. Brauneder: Darf ich bitte noch etwas nachtragen? Kley: Ja, natürlich.

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Brauneder: Es ist ja nicht so, dass so eine Verfassung vom Himmel fällt oder von woher immer sie kommen mag – meinetwegen aus der Hölle aufsteigt. Da gibt es ja schon Überlegungen, und im 19. Jahrhundert gibt es wesentlich mehr theoretische Überlegungen zu Verfassungen als nach 1945 – auf Österreich beschränkt sei diese Aussage. 1918 hat man sich sehr wohl überlegt: Wie machen wir denn das? Wer tritt an die Stelle des Monarchen, und so weiter? Und man kam da auf ein sehr interessantes System. Auch 1920 hat man sich Etliches überlegt: „Österreich ist eine demokratische Republik. Alles Recht geht vom Volk aus.“ Wenn ich jetzt aber Föderalismus habe, beschränke ich damit das demokratische Prinzip. Da hat man sich übrigens die Weimarer Verfassung zum Vorbild genommen und gesagt: Beim Föderalismus müssten die Länder durch eine zweite Kammer im Parlament vertreten sein. Das passt aber eigentlich nicht, denn beim ZweikammerSystem ist es ja immer so, dass die zweite Kammer sozusagen die Eisenkugel am Bein der Volksvertretung ist. Aber das wichtigste Prinzip ist uns das demokratische Prinzip, dann kommt sofort das republikanische Prinzip, dann lange nichts – und dann erst die anderen Verfassungsprinzipien. Daher – unsere Verfassungskollegen stellen das anders dar – ist in Österreich das Parlament, genau wie in Deutschland der Bundestag, ein Einkammer-Parlament, und die eigenständige Ländervertretung ist der Bundesrat. Bei uns ist es ein wenig anders gestaltet als in Deutschland. Man hat jedenfalls gesagt: Das Parlament soll die Volksvertretung sein und die Ländervertretung ein kleines Organ daneben, das bei uns tatsächlich keine Rolle spielt. Bei dieser Konstruktion hat man schon überlegt, und ich habe Hans Kelsen erwähnt – was meine Einstellung zu ihm ein bisschen verfälscht, wenn ich das so oft mache, weil ich ihn für überbewertet halte. Kelsen war Konsulent der Staatskanzlei. Staatskanzler Renner hat offenbar zu ihm gesagt: „Lieber Freund Kelsen, jetzt probieren wir mal bundesstaatlichen Entwürfe.“ „Gut, verfasse ich bundesstaatliche Entwürfe.“ Dann Staatskanzler Renner: „Probieren wir mal den dezentralisierten Einheitsstaat.“ Gut, macht Kelsen entsprechende Entwürfe. Ich will nur eines sagen, Herr Kohl, entgegen vielleicht unseren Positivisten in Wien oder sonst wo: Hinter einer Verfassung stecken, wenn man es mal auf das 19. Jahrhundert beschränkt, wesentlich mehr theoretische Überlegungen als heute, und daher ist jede damalige Verfassung signifikant für den Systemwechsel. Kley: Danke vielmals. Herr Kühne, bitte. Kühne: Eine ganz kurze Nachfrage, Herr Brauneder. Müsste man nicht für 1919 – Sie haben schon vom Zurücktreten des föderalen Prinzips gesprochen – sogar von einem gestreckten Systemwechsel sprechen? Denn wir haben ja die Phase, wo Österreich noch als deutscher Bundesstaat im Gespräch ist, so dass es – wenn ich jetzt Ihren Faden aufgreife – zuvor bei Renner und Kelsen mindestens Überlegungen gegeben haben muss, mit ihrer Verfassung

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noch nichts ganz so Festgefügtes zu machen. Man wusste ja noch nicht, ob man als Bundesland eingegliedert würde. Könnte dies nicht auch ein Grund gewesen sein, weswegen man – innerhalb des potentiellen Bundeslandes Österreich – von zusätzlicher Föderalisierung hinsichtlich der alten Kronländer abgesehen hat? Kley: Dann war dort drüben noch eine Meldung – Bitte sehr, Herr Dann. Dann: Ein Thema, das über den Zeitrahmen, den Sie behandelt haben, hinausgeht: Wenn ich richtig informiert bin, hat Österreich bei seiner zweiten Republik-Gründung auf die Verfassung der Ersten Republik direkt zurückgegriffen. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, wenn man auf der anderen Seite sieht, dass Ähnliches in Deutschland nicht stattgefunden hat – dass geradezu die Parole „Bonn ist nicht Weimar“, auch verfassungspolitisch, gegolten hat. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie jenes Wiederaufgreifen der Verfassung von 1920 nach 1945 etwas beleuchten und vielleicht auch etwas zu dem so anderen deutschen Weg sagen könnten. Kley: Und noch eine dritte Meldung. Bitte sehr, Herr Lingelbach. Lingelbach: Drei ganz kurze Fragen. Erstens: Wer ist Träger des republikanischen Gedankens in der ersten österreichischen Republik? Zweitens: Sehe ich das richtig, dass der Ständegedanke in Österreich länger virulent blieb als anderswo in Europa, und ist das eine Erklärung auch für diese ständestaatliche Epoche in den 1930er Jahren? Drittens: Der Unterschied zwischen Volksvertretung und Interessenvertretung – das hat doch gewiss eine Rolle gespielt. Danke. Kley: Danke schön. Bitte, dann abschließend Herr Brauneder. Brauneder: Kelsen war tief durchdrungen davon, dass, wie er sagt, „seine“ Verfassung – das ist die Verfassung von 1920 – dauerhaft bestehen sollte. Er sagt in einer Darstellung etwa Folgendes: „Jede Verfassung hat das Bestreben, solange wie möglich in Geltung zu stehen – das sagt in aller Bescheidenheit jemand wie ich, der jetzt eine Verfassung gemacht hat, und an sich will auch ich haben, dass diese Verfassung ewig währt. Aber im konkreten Fall ist das ganz anders, denn wir wünschen uns alle – und ich wünsche mir das auch –, dass es so schnell wie möglich zum Anschluss an das Deutsche Reich kommt.“ Das schreibt er um 1925, also nach den Verträgen von St. Germain und Versailles. Und tatsächlich ist der gering entwickelte österreichische Föderalismus, der gering entwickelte Bundesstaat mit hoher Wahrscheinlichkeit genau darauf zurückzuführen, was Sie beschrieben haben, nämlich Antwort auf die problematische Frage: Kann ein Bundesstaat Teilstaat eines anderen Bundesstaates sein? Dazu gibt es Gutachten unter anderem wiederum von Kelsen, und ein anderer, „Kelsens Zwilling“ in gewisser Weise,

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Merkl, meint, das ist überhaupt kein Problem, denn die österreichischen Länder haben eigentlich keine andere Stellung als die preußischen Provinzen. Wenn also Österreich beitritt, dann sei das dieselbe Konfiguration wie in Preußen mit seinen Provinzen und deren Provinziallandtagen – unsere österreichischen Landtage seien das, was in Preußen die Provinziallandtage sind. Der Rückgriff von 1945 auf 1920/1929 war sozusagen vorgegeben. Denn 1943 gab es die Moskauer Erklärungen der damals drei Alliierten, in der es unter anderem heißt: Österreich wird wiederhergestellt und ist im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten. Es ist in der Tat interessant, dass man 1945 zurückging auf die 1920er Verfassung – allerdings in der Fassung von 1929. Dahinter steckt ein ganz bewusster Schritt. „Im Geiste von 1920“, das hätte ja auch heißen können, eine neue Verfassung auf der Grundlage der Verfassung von 1920. Die 1929er Variante galt vor allem bei den Sozialisten / Sozialdemokraten als eine präfaschistische Verfassung wegen der starken Stellung des Bundespräsidenten – die übrigens de facto schwach ist. 1929 war neben der Ländervertretung, dem Bundesrat, übrigens auch ein Ständerat geplant – das hat man dann 1945 weggelassen, da kehrte man zum Stand von 1920 zurück. Das ist das eine; der zweite Grund ist der, dass man 1945 angesichts der politischen Struktur – die Kommunistische Partei war damals mit im Regierungsblock, mit in der Bundesregierung – und auch angesichts der Besatzungssituation nur ja keine Verfassungsdiskussion aufbrechen lassen wollte. Nur ja keine Verfassungsdiskussion – setzen wir stattdessen lieber etwas in Kraft, auf das wir uns innenpolitisch mehr oder weniger doch alle einigen können! Wenn man nicht zurückgegriffen hätte auf die 1929er Verfassung, wäre ja der Verfassungszustand von unmittelbar vor dem Anschluss wieder aufgelebt – das wäre die Verfassung von 1934 gewesen, und die war keine demokratische. Da waren sich innenpolitisch alle einig, das wollten sie nicht mehr. Wenn ich sage, alle waren einig, dann meine ich mit Ausnahme gewisser Splittergruppen – unter anderem einer konservativen Partei, die es heute noch gibt. Man hatte sich bei der Neugründung der Republik, weil auch nach der Parallele zu Deutschland gefragt worden ist, auf diese Moskauer Erklärung berufen. Das Staatsgesetzblatt Nr. 1 von 1945, wenn ich mich jetzt nicht täusche, enthielt die Unabhängigkeitserklärung, und in der Unabhängigkeitserklärung beruft man sich klugerweise gegenüber den Alliierten auf eine ihrer Deklarationen: „Ihr habt doch gesagt, wir sollen unabhängig werden, und das sind wir jetzt, da berufen wir uns auf die Moskauer Erklärung.“ Die spielt auch später noch eine gewisse Rolle, irgendwann hat dann die sowjetische Besatzungsmacht ganz kurz mal, 1952 etwa, gesagt: „Also, ihr haltet euch eigentlich nicht an die Moskauer Erklärung. Ihr habt noch keine neue Verfassung, ihr müsstet eigentlich eine neue machen.“ Die Träger des republikanischen Gedankens in der ersten Republik, dazu zitiere ich das Tagebuch eines gewissen Arthur Schnitzler aus dem Jahre

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1917; ein Eintrag lautet ungefähr wie folgt: „Spaziergang beim österreichischen Kurort Bad Gastein, eingekehrt in einen Gasthof, Wirtin Kriegerwitwe, Söhne im Felde gefallen, sie sagt: ‚Monarchie oder Republik, mir ist gleich wer mich regiert‘.“ Die Monarchie hatte bei uns gegen Ende des Krieges – entgegen des heutigen Bildes mit all den Sissi-Filmen und Mozartkugeln und Postkarten mit dem Bild vom Kaiser Franz Joseph, die man in Wien kaufen kann – total abgewirtschaftet, das muss man ganz offen sagen. Es waren im Prinzip alle Parteien für das republikanische Prinzip mit Ausnahme eines verschwindend kleinen Anteils an Legitimisten und eines Anteils der Christlich-Sozialen Partei, aber diese letzteren waren auch nicht so arg für die Monarchie. Vor allem die Sozialdemokraten waren natürlich in erster Linie Republikaner. Zum Ständegedanken: Der war in der Tat schon relativ stark verankert. In unserem Staatswappen ist der Ständegedanke bis heute noch sichtbar, auch wenn er in der Praxis keine Rolle mehr spielt: Hammer und Sichel – hier keine kommunistischen Symbole, denn es kommt noch etwas Drittes hinzu: die Mauerkrone. Das ist die Symbolik der drei Stände im Staat, obwohl es auf der anderen Seite den Gleichheitsgrundsatz gibt. Noch etwas wurde gefragt – zur Unterscheidung Volksvertretung / Interessenvertretung. Das war ziemlich klar. Ich skizziere jetzt mal die österreichische Entwicklung im 19. Jahrhundert: Das Parlament beziehungsweise die Parlamente sollen Interessenvertretungen sein, das fängt auf der Gemeindeebene an. Dort gibt es ein Dreiklassenwahlrecht wie in Preußen. Bei den Landtagen gibt es ein Kurien- und Zensuswahlrecht, und das wird dann auch auf das Abgeordnetenhaus übertragen. Erst relativ spät, 1907, wird für das Abgeordnetenhaus dann das allgemeine, gleiche, direkte Männerwahlrecht eingeführt. 1907 wird das Abgeordnetenhaus damit zur Volksvertretung. Die Landtage und die Gemeindevertretungen bleiben bis 1918 Interessenvertretungen. Das hat man schon damals natürlich als wahnsinnig überholt empfunden, weil – ich habe das einmal eher punktuell untersucht – die Vertretungskörper natürlich schon von den politischen Parteien dominiert wurden. Die großen politischen Parteien waren in den Landtagen immer in mindestens drei von vier Kurien vertreten. Das Kuriensystem hat eigentlich nicht mehr funktioniert, das sieht man schon anhand der Sitzordnung: Das war nicht so, dass hier die Stadtgemeinden, dort die Landgemeinden und dort die großen Grundbesitzer saßen – sondern die Abgeordneten saßen schon entsprechend dem Links/Rechts-Spektrum der politischen Parteien. Kley: Danke schön, Herr Brauneder. Ich schlage dann vor, dass wir programmgemäß fortfahren. Nochmals vielen Dank an den Referenten.

Konstitutionelle Metamorphosen Verfassungsänderung und Systemstabilisierung in den fünf französischen Republiken Von Thomas Nicklas, Reims

Fünf Republiken und ebenso viele monarchische oder autoritäre Gegenentwürfe – die französische Verfassungsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte war reichlich bewegt. Verfassungsänderungen konnten dabei im politischen Dispositiv je nach Konstellation zur Stabilisierung oder zur Erschütterung des Systems führen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese wandelbare Szenerie mit vier Leitfragen genauer in den Blick zu nehmen, nämlich: (1) War die an den Anfang moderner französischer Verfassungsgeschichte gestellte Erklärung der Menschenrechte von 1789 ein Kontinuum in den konstitutionellen Metamorphosen seit der Großen Revolution? (2) Wie gestaltete sich das Wechselverhältnis zwischen Verfassungsrevision, Systemwandel und Revolution im unruhigen 19. Jahrhundert? (3) Inwieweit waren Verfassungsänderungen Gegenstand im Streit der politischen Lager, der Frankreich im 20. Jahrhundert entzweite? (4) Lässt sich der Gaullismus auf einen verfassungspolitischen Revisionismus zurückführen, der demnach mit der Konstitution von 1958 einen Erfolg im Sinne von Systemstabilisierung errungen hätte? Der Eindruck nervöser Unruhe beim Blick auf die französische Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts drängt sich schon aus dem Grunde auf, weil die Große Revolution seit 1789 zwar allgemeine Prinzipien von großer Wirkungskraft verkündete, jedoch nicht in der Lage war, ein stabiles politisches System zu begründen. Verfassungspolitisch mündete die Revolution nach dem Sturz des Königtums und der Proklamierung der Republik 1792 vielmehr in eine Abfolge diktatorischer Regime von unterschiedlichem Charakter: (1) die kollektive und nicht an eine Verfassung rückgebundene Diktatur des Nationalkonvents und seiner Ausschüsse 1792 – 94, (2) die ebenfalls kollektiv organisierte und mit der Praxis des gewohnheitsmäßig betriebenen Staatsstreichs operierende Diktatur des Direktoriums 1795 – 99, (3) die persönliche und mit der Verfassung von 1802 institutionalisierte Diktatur des Napoleon Bonaparte vom Staatsstreich des Brumaire 1799 bis zu dessen erstem Sturz im Jahre 1814. Die in kurzen Abständen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufeinander folgenden politischen

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Umbrüche konnten dem ständigen Wandel der Erscheinungen jeweils keine dauerhafte Stabilität mehr aufprägen. Dies gilt für die legitimistische Restauration der bourbonischen Herrschaft 1814 / 15 ebenso wie für die liberale Julirevolution 1830 und erst recht für die demokratische Februarrevolution von 1848.1 Das aus dem Staatsstreich gegen die Zweite Republik vom 2. Dezember 1851 hervorgegangene Zweite Kaiserreich des Louis Napoléon Bonaparte alias Napoleon III. schien nach einer autoritären Phase 1851 – 1860 und einem Jahrzehnt im Zeichen einer Umstrukturierung hin zum Parlamentarismus schließlich 1870 als Empire libéral den Endzustand eines auf dem Gleichgewicht aller Kräfte und Ansprüche beruhenden konstitutionell-monarchischen, die Autorität der Exekutive mit dem Partizipationsverlangen der Legislative versöhnenden Herrschaftskompromisses à la française gefunden zu haben. Immerhin wurde dieses letztendliche Stabilität verheißende Verfassungsmodell des liberal-parlamentarischen Kaiserreiches bei einer Volksabstimmung am 8. Mai 1870 von einer überwältigenden Mehrheit der Franzosen gutgeheißen.2 Es gehört jedoch zu den Paradoxa der an überraschenden Wendungen so reichen französischen Verfassungsgeschichte seit 1789, dass gerade diese konstitutionelle Synthese, die sich als Aufhebung aller eingetretenen Widersprüche verstand, bereits wenige Wochen später, nach der militärischen Niederlage des Empire gegen Preußen und die übrigen deutschen Staaten bei Sedan am 2. September 1870, wieder von der Bildfläche verschwand. Wider alles Erwarten konkretisierte sich danach eine republikanische und radikal-parlamentarische Variante des Verfassungslebens, die zwar von einem erheblichen Teil der französischen Bevölkerung konstant und grundsätzlich abgelehnt wurde, gleichwohl aber in Gestalt der Dritten Republik selbst gefährliche innenpolitische Herausforderungen überstand, so die Boulanger-Krise 1887 – 1889, den Panamaskandal 1892 und die Dreyfus-Affäre 1899 – 1906.3 So erwies sich die aus der Nieder1 Als Überblicksdarstellungen zur französischen Verfassungsgeschichte nach 1789 können dienen: Félix Ponteil, Les Institutions de la France de 1814 à 1870, Paris 1966; Maurice Duverger, Le système politique français. Droit constitutionnel et Science politique, 21. Aufl. Paris 1996; Marcel Morabito, Histoire constitutionnelle de la France (1789-1958), Paris 2008; Serge Velley, Histoire constitutionnelle française de 1789 à nos jours. Inclus le texte de la constitution de la Ve République, Paris 2009; ferner: René Rémond, La vie politique en France, Bd. 1: 1789 – 1848, Paris 2005; ders., La vie politique en France, Bd. 2: 1848 – 1879, Paris 2005. In deutscher Sprache: Peter C. Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450 – 2002). Ein Überblick, 2. Aufl. Berlin 2003. Vgl. zudem die anregenden Überlegungen bei: Gustaaf van Nifterik, French Constitutional History: Garden or Graveyard? Some thoughts on occasion of Les Grands Discours parlementaires, in: European Constitutional Law Review 3 (2007), S. 476 – 487. Ferner zuletzt: Jörn Leonhard, Die Grammatik der Gesellschaft: Perspektiven der Verfassungsgeschichten Frankreichs und Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Verfassungsgeschichte in Europa (= Der Staat, Beiheft 18), Berlin 2010, S. 49 – 70 (hier 50 – 61). 2 Pierre Milza, Napoléon III, Paris 2004, S. 572 – 574.

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lage von 1870 hervorgegangene und als Übergangslösung angelegte Dritte Republik als höchst dauerhaftes Provisorium, das auch den grausamen Aderlass des Ersten Weltkrieges überlebte und den totalitären Herausforderungen der Zwischenkriegszeit erfolgreich trotzte. Erst eine weitere militärische Niederlage im Jahre 1940 sollte dann wiederum einen dramatischen Umsturz der Verfassungsordnung Frankreichs zur Folge haben.

I. Die Déclaration von 1789: Anfang und Ende? Wenn es etwas Beständiges in dieser Flucht der Erscheinungen gegeben haben sollte, so konnte dies die revolutionäre Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 sein, die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, die jenseits des permanenten konstitutionellen Wandels einen konsensfähigen Kern politisch-rechtlicher Grundsätze zu verkörpern in der Lage war.4 Freilich zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass auch ihre Ausstrahlung und Geltungskraft dem Wechsel der Regime unterlag. Die kurzlebige Verfassung einer konstitutionellen Monarchie à l’anglaise von 1791 war zwar noch auf sie bezogen, doch bereits die revolutionäre Verfassung von 1793, die wegen des Krieges nicht in Kraft trat, stellte der Erklärung von 1789 einen radikalen, von jakobinischem Gleichheitsstreben gekennzeichneten Grundrechtskatalog entgegen. Die Direktorialverfassung von 1795 schließlich betrat erst recht verfassungspolitisches Neuland, indem sie der Tafel der Menschenrechte einen Kodex der Menschen- und Bürgerpflichten gegenüberstellte – notwendiges staatsbürgerliches Korrektiv nach den libertären Exzessen der Revolutionszeit.5 Unter Napoleon war dann schließlich, unter dem Primat militärischer Machtentfaltung, von Menschenrechten überhaupt nicht mehr die Rede, doch waren diese im neuen bürgerlichen Gesetzbuch des Code Civil von 1804 impliziert.6 Auch die gemäßigt liberale Charte der restaurierten Bourbonenmonarchie von 1814 machte dann um die Erklärung von 1789 aus verständlicher Skepsis einen weiten Bogen, wenngleich sie durchaus die Garantie bestimmter staatsbürgerlicher Rechte 3 René Rémond, La vie politique en France, Bd. 3: 1879 – 1939. La République souveraine, Paris 2005. 4 Aus der kaum überschaubaren Fülle der Literatur zum Gegenstand seien hier nur genannt: Gérard Conac / Marc Debene / Gérard Tebone (Hrsg.), La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaires, 2. Aufl. Paris 1999; Christine Fauré, Les Déclarations des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1988; Marcel Gauchet, La Révolution des droits de l’homme, Paris 1989. 5 Zum beschleunigten konstitutionellen Wandel im Revolutionsjahrzehnt ausführlich: Jacques Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l’Empire, 2. Aufl. Paris 1968; eine umfassende Neubewertung der Direktorialverfassung von 1795 bei: Michel Troper, Terminer la Révolution. La Constitution de 1795, Paris 2006. 6 Jean Luc Chabot / Philippe Didier / Jérôme Ferrand (Hrsg.), Le Code Civil et les Droits de l’Homme. Actes du colloque de Grenoble 3 et 4 décembre 2003, Paris 2005.

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enthielt und damit das Konzept der „beschränkten Monarchie“ mit Leben erfüllte.7 Erst die republikanische Verfassung von 1848 bot wieder einen Katalog der den positiven Gesetzen voran gestellten Rechte und Pflichten, wobei von dem Werk der Verfassungsgeber des Jahres 1848 vor allem die Abschaffung der Sklaverei und der Todesstrafe in Erinnerung geblieben ist.8 Schließlich war es dann der Verfassung des Zweiten Kaiserreiches von 1852 vorbehalten, in ihrem von Napoleon III. selbst konzipierten Ersten Artikel die „großen 1789 proklamierten Prinzipien“ mit rhetorischer Emphase zu beschwören, welche „die Grundlage für das Staatsrecht der Franzosen“ bilden, wobei nicht ausdrücklich auf die Menschenrechte Bezug genommen wurde.9 Diese Beschwörungsformel verlor ihre Geltung mit dem Ende des Zweiten Kaiserreiches und erfuhr nach 1871 keine Wiederbelebung, schon aus dem einfachen Grunde, weil die Dritte Republik statt einer en détail formulierten Verfassung nur die drei sehr knapp gehaltenen Verfassungsgesetze von 1875 aufzuweisen hatte, das Skelett einer Konstitution gewissermaßen. Folglich dauerte es bis 1946, bis zur Verfassung der IV. Republik, ehe der ausdrückliche Bezug auf die Déclaration wieder Verfassungsgeltung erhielt, wobei die Präambel der Konstitution von 1946, dem Geist der Zeit folgend, neben den Menschenrechten von 1789 auch neue soziale Rechte proklamierte: Gleichstellung von Mann und Frau, Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter, das Recht auf Arbeit und Ausbildung und anderes mehr.10 Der Vorspruch der Verfassung der V. Republik von 1958 bezieht sich ausdrücklich auf „die Menschenrechte und die Prinzipien der nationalen Souveränität, wie sie in der Erklärung von 1789 verankert sind, bekräftigt und ergänzt durch die Präambel der Verfassung von 1946“.11 Mochte es sich dabei eher um eine formelhafte Bekundung der Verfassungsväter von 1958 handeln, so schuf das Bahn brechende Urteil des Verfassungsrates vom 16. Juli 1971 Klarheit über die Tragweite dieser verfassungsgeschichtlichen Rückbezüge. Der Conseil Constitutionnel stellte damals eindeutig fest, dass auch dem Text der Präambel Verfassungsrang zukomme.12 Die Menschen7 Stéphane Rials, Essai sur le concept de monarchie limitée (autour de la Charte de 1814), in: ders., Révolution et Contre-Révolution au XIXe siècle, Paris 1987, S. 88 – 112. 8 François Luchaire, Naissance d’une Constitution: 1848, Paris 1998. 9 Milza, Napoléon III (FN 2), S. 229. 10 Da sie 1958 fortgeschrieben wurde, hat die Präambel der Konstitution von 1946 in der Forschung großes Interesse gefunden, das sich in der Veröffentlichung mehrerer Sammelbände niederschlug; siehe dazu vor allem: Geneviève Koubi / Jacques Chevallier / Benoît Mercuzot (Hrsg.), Le préambule de la constitution de 1946. Antinomies juridiques et contradictions politiques, Paris 1996; Yves Gaudemet (Hrsg.), Le préambule de la constitution de 1946. Actes d’un colloque tenu le 1er juin 2007, Paris 2008. 11 Guy Carcassonne (Hrsg.), La Constitution. Préface de Georges Vendel, 7. Aufl. Paris 2005, S. 31. 12 Dieser Entscheidung kommt wiederum wesentliche Bedeutung für die Selbstverortung des CC im Gefüge der Institutionen zu, vgl. die einzelnen Beiträge in: La

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rechtserklärung von 1789 hat damit eindeutig Verfassungsrang – aber erst seit 1971! Daher gilt bei künftigen Verfassungsrevisionen die Déclaration von 1789 unhinterfragbar, beispielsweise der Artikel 16, der die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung festschreibt.13 Rückblickend müssen wir dagegen feststellen, dass auch die monumentale Gesetzestafel von 1789 kein Fels in der Brandung der oft aufgepeitscht hin und her wogenden französischen Verfassungsgeschichte war. Neben dem Buchstaben dieses neuen Dekalogs gab es aber allem Anschein nach auch einen seit 1789 in Frankreich geltenden politischen Imperativ, der die Legitimität von Machtausübung der aktiven Zustimmung der Staatsbürger unterwirft. Dazu gehört eben auch, dass Regimewechsel oder Verfassungsrevisionen auf einem Konsens im Volk beruhen müssen. Nun gab es aber in der französischen Geschichte neben den oft tumultuarischen Regimewechseln auch die schleichenden Verfassungsänderungen. Ein Beispiel dafür ist die in kleinen Schritten vollzogene Auflösung der Ersten Republik im Empire des ersten Napoleon, der 1799 durch Staatsstreich Erster Konsul wurde und 1802 Konsul auf Lebenszeit. Dem korsischen Diktator auf den Leib geschneidert war die „Verfassung des Jahres XII“ vom 18. Mai 1804, die in ihrem Artikel 1 besagte: „Le gouvernement de la République est confié à un Empereur qui prend le titre d’Empereur des Français“, Kaiser der Franzosen wurde Napoleon, wie es weiter heißt: „par la grâce de Dieu et les constitutions de la République.“14 Dieses eigenartige Amalgam von Kaiserreich und Republik kennzeichnete eine Übergangszeit und konnte nicht lange Bestand haben. So war es ein Verstoß gegen den formell weiter gültigen Verfassungstext, aber eine Reverenz vor der Verfassungswirklichkeit, wenn Napoleon I. in einem Dekret vom 22. Oktober 1808 das Wort „Republik“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannte. Bis dahin waren in Frankreich noch Münzen mit dem Porträt des Imperators und der Umschrift République Française geprägt worden.15 Während das Stück im Staatstheater weiter gespielt wurde, baute man die Bühnendekoration vollständig um. Das republikanische Paradigma wurde vollständig durch das dynastische ersetzt. Ein Beispiel für eine Verfassungsänderung, die vorgab, keine zu sein.

Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et la jurisprudence. Colloque des 25 / 26 mai 1989 au Conseil Constitutionnel, Paris 1989; siehe dazu auch als kritische Stellungnahme: Philippe Blacher, Le Conseil Constitutionnel en fait-il trop?, in: Pouvoirs. Revue française d’études constitutionnelles et politiques 105 (2003), S. 17 – 28. 13 Michel Troper, L’interprétation de la Déclaration des droits: l’exemple de l’article 16, in: Droits. Revue française de théorie, de philosophie et de cultures juridiques 8 (1988), S. 111 – 122. 14 Godechot, Les Institutions de la France (FN 5), S. 577 – 585. 15 Alfred Fierro / André Palluel-Guillard / Jean Tulard, Histoire et dictionnaire du Consulat et de l’Empire, Paris 1995, S. 1209.

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II. Revolution, Systemwandel, Revision: Verfassungswandel im unruhigen 19. Jahrhundert Der mitunter unverantwortliche Umgang mit den Konstitutionen als politischer Verfügungsmasse hat deutliche Spuren im politischen Verhaltenscode der Nation hinterlassen und wirkte einer Stabilisierung des jeweils geltenden Status quo entgegen. Die von der Revolution bewirkte Politisierung breiter Bevölkerungsschichten, zumal in der Hauptstadt Paris, der Konflikt der entstehenden ideologischen Blöcke des 19. Jahrhunderts und die soziale Unzufriedenheit sorgten für ein wachsendes Unruhepotential in der Gesellschaft. Zugleich hat der von Napoleon vollendete zentralisierte und hierarchische Staatsaufbau in Frankreich den Regimewechsel erheblich erleichtert. Damit wurde es, so Alexis de Tocqueville 1856, leichter Revolutionen zu machen und ihren Schaden zu begrenzen, denn der Verwaltungskörper funktionierte immer weiter, auch wenn man sein Haupt abgeschlagen und es durch ein anderes ersetzt hatte.16 Die Argumentation Tocquevilles könnte zu dem übertriebenen Schluss verleiten, dass die Franzosen im 19. Jahrhundert lieber leichtfertig Revolutionen machten als sich den schweißtreibenden Mühen der Verfassungsrevision zu unterziehen. Richtig ist daran immerhin so viel, dass nicht konsensfähige Verfassungsänderungen auf instabilem politischem Terrain unschwer in eine Revolution münden konnten, während die Revolution sich wiederum in ungewöhnlicher historischer Selbstbescheidung darauf beschränken konnte, eine Modifikation der gültigen Verfassung hervorzubringen. Dies zeigte sich paradigmatisch in der Relativierung einer Revolution, wie sie sich im Sommer 1830 abspielte. Um seine Auffassung von der Souveränität des Monarchen gegen eine widerstrebende Kammermehrheit durchzusetzen, die an einer anders gearteten Interpretation der Charte von 1814 festhielt, erließ König Karl X. jene vier Ordonnanzen, deren erste die in der Verfassung garantierte Pressefreiheit aufhob. Die Folge waren drei revolutionäre Kampftage in Paris, Sturz und Flucht Karls X. sowie die Proklamation des Bürgerkönigtums unter dem Prinzen Ludwig Philipp von Orléans (Louis Philippe). Dieses Julikönigtum begann mit einem Eid des neuen konstitutionellen Monarchen auf die Charte, d. h. die von seinem Vorgänger missachtete Verfassung von 1814, sowie deren gründlicher Revision, die schon zwei Wochen nach der Revolution vollzogen war.17 Hierbei verschoben sich die konstitutionellen Gewichte zugunsten der gewählten Kammer und zulasten der königlichen Prärogative. Ferner wurde die Zensur verboten, der Katholizismus verlor seinen Rang als Staatsreligion, das Wahl16 „On changeait la personne du prince ou les formes du pouvoir central, mais le cours journalier des affaires n’était ni interrompu ni troublé car, si à chaque révolution l’administration était décapitée, son corps restait intact et vivant“: Œuvres complètes d’Alexis de Tocqueville, Bd. 4: L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1866, S. 297. 17 Pierre Rosanvallon, La monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et 1830, Paris 1994; Michel B. Cartron, La deuxième révolution française: juillet 1830, Paris 2005.

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recht wurde reformiert und die Staatssymbole änderten ihr Gesicht. So bestimmte Artikel 67 die revolutionäre Trikolore wiederum anstelle des Lilienbanners der Bourbonen zur Staatsflagge!18 Die Synthese von revolutionärem Emblem und monarchischer Staatsform verwies auf Widersprüche. Die von dem gewandten Adolphe Thiers, ab 1832 französischer Innenminister, geprägte Formel, dass der König herrsche, aber nicht regiere, wurde nicht zum Dogma, sondern beschrieb eher ein offenes Problem. An der weiterhin offenen Machtfrage in Frankreich litt dann besonders die nach der Februarrevolution von 1848 proklamierte Zweite Republik. Einerseits war den an die Macht gelangten Republikanern alles daran gelegen, dem neuen Staatswesen das Abgleiten in eine weitere Diktatur bonapartistischen Typs zu ersparen, andererseits steckte aber allen der Schrecken eines kurzen, jedoch äußerst blutig geführten sozialen Bürgerkrieges im Juni 1848 in den Knochen, der zum Erhalt einer bürgerlichen Rechtsund Eigentumsordnung eine handlungsfähige Exekutive unerlässlich erscheinen ließ, wenngleich die Constituants eigentlich dem Projekt einer starken Legislative zuneigten.19 Einer der Verfassungsväter von 1848, der später als Vordenker einer europäischen Währungsunion hervorgetretene Félix Esquirou de Parieu, hat diesen Grundwiderspruch treffend erfasst, wenn er in einer Rede vor der Constituante formulierte: „Falls Sie wünschen, dass die Staatsmacht kräftig gegen jene vorgeht, die das Gesetz brechen, und schwach vor denen steht, die es machen, dann handeln Sie wie jemand, der dem starken Stamm einer Eiche einen zarten Rosenstrauch aufpropft.“20 Eiche oder Rose – diese Frage stand bereits einen Monat nach Verabschiedung der Verfassung im November 1848 zur Entscheidung an, nachdem nämlich Louis-Napoléon Bonaparte in freien, gleichen und geheimen Wahlen zur Präsidentschaft der Republik einen triumphalen Wahlsieg (74% der Stimmen) errungen hatte. Die Franzosen hatten nach den Worten des scharfsichtigen Politikers und Historikers François Guizot ein „nationales Ruhmesblatt, eine revolutionäre Garantie und ein Autoritätsprinzip“ gewählt.21 Die Urheber der Verfassung, die sich vor Bonapartismus und Sozialismus gleichermaßen fürchteten, hatten zwar dem Präsidenten der Republik erhebliche Kompetenzen überantwortet, darunter auch den Oberbefehl über die bewaffnete Macht, seine Amtszeit jedoch auch strikt auf ein einmaliges vierjähriges Mandat begrenzt. Alle politischen Kombinationen umkreisten fortan die Frage der Verfassungsrevision, denn Louis-Napoléon Bonaparte Ponteil, Les Institutions de la France (FN 1), S. 141 – 144. Vgl. dazu: Odile Rudelle, L’élaboration de la constitution de 1848, in: Paul Isoart (Hrsg.), Des Républiques françaises, Paris 1988, S. 388 – 412. 20 Zitiert nach: Velley, Histoire constitutionnelle française (FN 1), S. 63 f. 21 Adrien Dansette, Louis-Napoléon à la conquête du pouvoir, Paris 1961, S. 252; vgl. auch: André-Jean Tudesq, L’élection présidentielle de Louis-Napoléon Bonaparte. 10 décembre 1848, Paris 1965. 18 19

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kämpfte um das Recht auf erneute Kandidatur und Wiederwahl, das ihm die Mehrheit der Abgeordnetenkammer unter Führung des in allen Finessen bewanderten Adolphe Thiers konsequent verweigerte. Da die Parlamentarier mit dem Gesetz vom 31. Mai 1850 zudem die revolutionäre Errungenschaft des allgemeinen Wahlrechts einschränkten, konnte sich der Präsident mit seiner zentralen Forderung nach Verfassungsrevision als Vorkämpfer der Demokratie gegen das reaktionäre Parlament in Szene setzen. Die Alternative zur blockierten Verfassungsänderung stellte aus Sicht des Präsidenten der Staatsstreich dar, der am 2. Dezember 1851 nach dem Plan ablief, den Napoleons Halbbruder Morny entworfen hatte.22 Nach bewährtem bonapartistischem Rezept verband das neue Regime Repression gegen Oppositionelle mit dem Prinzip demokratischer Partizipation in den Volksabstimmungen, die sowohl den Staatsstreich als auch die neue Verfassung vom 14. Januar 1852 legitimierten. Diese Konstitution stand im Zeichen eines unmittelbaren, durch Plebiszite gefestigten Verhältnisses zwischen dem Staatsoberhaupt und dem Volk, unter ausdrücklicher Verwerfung des Prinzips parlamentarischer Repräsentation.23 Das änderte sich jedoch recht bald. So waren die 1860er Jahre das Jahrzehnt gleichsam gewohnheitsmäßiger Verfassungsänderungen in Frankreich, die in eine vollständige Parlamentarisierung des Regimes einmündeten. Bereits 1852 hatte der frühere französische Regierungschef François Guizot mit Blick auf Napoleon III. festgestellt: „Man kann wohl einen Aufruhr mit Soldaten 22 Jean Tulard, Etude comparée des coups d’Etat des deux Napoléons, in: Paul Isoart (Hrsg.), Des Républiques françaises (FN 19), S. 526 – 543; Manuela Ceretta (Hrsg.), Bonapartismo, cesarismo e crisi della società: Luigi Napoleone e il colpo di Stato nel 1851, Florenz 2003; Vincent Wright, The Coup d’Etat of December 1851: Repression and the Limits of Repression, in: Roger Price (Hrsg.), Revolution and Reaction: 1848 and the Second French Republic, London 1975, S. 303 – 333; Jörn Leonard, Ein bonapartistisches Modell? Die französischen Regimewechsel von 1799, 1851 und 1940 im Vergleich, in: Helmut Knüppel / Manfred Osten / Uwe Rosenbaum (Hrsg.), Wege und Spuren. Verbindungen zwischen Bildung, Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Politik. Festschrift für Joachim-Felix Leonhard, Berlin 2007, S. 277 – 294 (hier S. 285 – 289); Eric Anceau, Le Coup d’état du 2 décembre 1851 ou la chronique de deux morts annoncées et l’avènement d’un grand principe, in: Parlement[s]. Revue d’histoire politique 12 (2009), S. 24 – 42. 23 Zur politischen Praxis im Zweiten Kaiserreich: Theodore Zeldin, The Political System of Napoleon III, London 1958; Sudhir Hazareesingh, From Subject to Citizen: The Second Empire and the Emergence of Modern French Democracy, Princeton 1998; ders., Bonapartism as the Progenitor of Democracy. The Paradoxical Case of the French Second Empire, in: Peter Baehr / Melvin Richter (Hrsg.), Dictatorship in History and Theory. Bonapartism, Caesarism and Totalitarianism, Cambridge 2004, S. 129 – 152. Zum ‚Bonapartismus‘ im deutsch-französischen Vergleich daneben auch: Karl Hammer / Peter C. Hartmann (Hrsg.), Le Bonapartisme. Phénomène historique et mythe politique (= FRANCIA, Beiheft 6), München 1977. Für eine Aufwertung des Zweiten Kaiserreichs in einer betont politikgeschichtlichen Perspektive plädierte zuletzt: Eric Anceau, Nouvelles voies de l’historiographie du Second Empire, in: Parlement[s]. Revue d’histoire politique [= Hors Série 4: Second Empire], Paris 2008, S. 10 – 26.

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unterdrücken, man kann Präsidentenwahlen mit den Stimmen der Bauern gewinnen, aber Soldaten und Bauern genügen nicht, wenn man regieren will.“24 Die Parlamentarisierung sollte der Preis sein, den Napoleon III. für die Unterstützung des Bürgertums zu zahlen bereit war. Eine Kette von Verfassungsänderungen in diesem Sinne – 1860 / 61, 1863, 1867 – ging schließlich in die Totalrevision des Verfassungsgebäudes über, die vom Volk in der Abstimmung vom 8. Mai 1870 gutgeheißen wurde. Damit sollte die Konstitution „fixiert“ sein, wie sich Napoleon III. ausdrückte, Frankreich sollte endlich nach turbulenten Zeiten den nötigen Kompromiss zwischen Autorität und Demokratie gefunden haben, in der Synthese von Parlamentarismus, starker Exekutive und allgemeinem Wahlrecht. Wenn dieses an sich tragfähige Modell nicht wie erhofft den inneren Frieden sicherte, sondern indirekt zum Krieg von 1870 und den folgenden Krisen führte, so lag dies auch am nicht gelösten Konflikt von Befürwortern des Empire libéral und den Anhängern eines Empire autoritaire des vorherigen Typs innerhalb Frankreichs.25 III. Verfassungsänderung als Ultima ratio: Konstitution, Machtbalance und die deux France Nach Krieg, Niederlage und Bürgerkrieg festigte sich die parlamentarische Dritte Republik, doch gab es in den 1870er Jahren noch monarchistische Mehrheiten in den Kammern. Die Restauration scheiterte letztlich nur am Starrsinn des Thronprätendenten, des Grafen von Chambord, der hinter die Julirevolution von 1830 zurückgehen wollte, während die Abgeordneten nur hinter 1848 zurück wollten, denn ihnen schwebte eine restaurierte parlamentarische Julimonarchie vor. Da sich Chambord diesem Modell verweigerte, blieb nur die Möglichkeit, diese parlamentarische Monarchie als Republik mit einem Präsidenten als „Ersatz-Monarchen“ an der Spitze zu organisieren. Das ist der Sinn der drei Verfassungsgesetze von 1875, die das Organisationsstatut der III. Republik darstellten, der Begriff der Verfassung ist angesichts der Kargheit des Textes kaum angemessen.26 24 Adrien Dansette, Du 2 décembre au 4 septembre. Le Second Empire, Paris 1972, S. 79. 25 Siehe dazu vor allem: Theodore Zeldin, Ollivier and the liberal Empire of Napoleon III, Oxford 1963. Jede Beschäftigung mit den nicht eingelösten Versprechen des Empire libéral hat zunächst einmal von dem allerdings stark apologetischen und wahrhaft monumentalen Werk Emile Olliviers, französischer Ministerpräsident von Januar bis August 1870, auszugehen: Emile Ollivier, L’Empire libéral. Etudes, récits, souvenirs, 17 Bde., Paris 1895 – 1915. 26 Jean-Marie Mayeur, Les débuts de la IIIe République, 1871 – 1898, Paris 1973; Maurice Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France, Bd. 3: L’avènement de la Troisième République – La constitution de 1875, Paris 1937; René Cristini / JeanMarie Rainaud, La notion de République dans le débat sur les lois constitutionnelles de 1875, in: Paul Isoart (Hrsg.), Des Républiques françaises (FN 19), S. 413 – 427.

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Skizziert wurde damit ein Zwei-Kammer-System aus Deputiertenkammer und Senat mit einem nicht vom Volk direkt gewählten Präsidenten an der Spitze, der – nicht dem Parlament verantwortlich – als Schiedsrichter und Herr des Ausnahmezustandes in einem die Stabilität des politischen Systems gewährleisten sollte. Was in einen semi-präsidentiellen Bikameralismus à l’américaine hätte einmünden können, d. h. eine zentralistische Variante der politischen Ordnung in den USA, bildete sich in der Verfassungswirklichkeit der III. Republik ab als faktisches Ein-Kammer-System mit absoluter Parlaments-Suprematie und einem weitgehend auf Repräsentationsfunktionen beschränkten Staatsoberhaupt. Diese Umpolung des politischen Systems hin zu einem monistischen parlamentarischen Regime war die Folge eines Verfassungskonfliktes im Jahre 1877, in dem sich Marschall Mac Mahon, der monarchistisch gesinnte Präsident, und die republikanische Mehrheit der Abgeordnetenkammer unversöhnlich gegenüber standen. Der Präsident unterlag und demissionierte schließlich.27 Sein Nachfolger, der Republikaner Jules Grévy, machte sich von Beginn seiner Amtszeit an eine Interpretation der Verfassung zu eigen, für die jedwede politische Legitimität fortan ausschließlich auf der Deputiertenkammer, dem vom Volk gewählten Parlament, beruhte und aus ihr hervorging. Daraus ergaben sich folgerichtig eine Abwertung der Exekutive in der Verfassungswirklichkeit und eine Begrenzung der präsidialen Kompetenzen, denn die Constitution Grévy wollte die republikanische Wende in der französischen Politik unumkehrbar machen.28 Diese dem Buchstaben der Konstitution keineswegs entsprechende Hervorhebung der Legislative hatte schwerwiegende Folgen. Damit kam es nämlich zur Ausprägung jenes für Frankreich bis 1958 so bezeichnenden individualistischen Parlamentarismus, in dem sich die Deputierten nur ihrem Gewissen oder ihrem Eigeninteresse und den Wählern verantwortlich fühlten, so dass die Organisation stabiler politischer Mehrheiten selbst staatsmännischen Größen vom Ge27 Willy Pelletier, La crise de mai 1877. La construction de la place et de la compétence présidentielles, in: Bernard Lacroix / Jacques Lagroye (Hrsg.), Le président de la République. Usages et genèses d’une institution, Paris 1992, S. 79 – 105; Thomas Raithel, Der preußische Verfassungskonflikt 1862-66 und die französische Krise von 1877 als Schlüsselperioden der Parlamentarismusgeschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007): URL: http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=234 (letzter Zugriff: 30. Juni 2010). 28 Odile Rudelle, La République absolue. Aux origines de l’instabilité constitutionnelle de la France républicaine 1870 – 1889, Paris 1982, besonders S. 66 – 70; vgl. dazu die Botschaft Grévys an beide Kammern nach seiner Wahl am 6. Februar 1879: „Soumis avec sincérité à la grande loi du régime parlementaire, je n’entrerai jamais en lutte contre la volonté nationale exprimée par ses organes constitutionnels” (Lucien Delabrosse, Discours politiques et judiciaires, rapports et messages de Jules Grévy, Bd. 2, Paris 1888, S. 512); ferner: Pierre Jeambrun, Jules Grévy ou la République debout, Paris 1991. Den Begriff der Constitution Grévy für diese ab 1879 dominierende Interpretation verwenden neben anderen: Marcel Prélot / Jean Boulouis, Institutions politiques et droit constitutionnel, 11. Aufl. Paris 1990, S. 493.

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wicht eines Clemenceau oder eines Mendès France nicht auf Dauer gelingen konnte. Im Amphitheater der Kammer dominierten nicht selten die Emotionen, die Kabinette tanzten und fielen auf dem glatten politischen Parkett, wobei freilich die Instabilität auf gouvernementaler Ebene keineswegs politische Kontinuität in der Führung der einzelnen Ressorts ausschließen musste.29 Die Änderung der Verfassung unterlag in der III. Republik allerdings einem recht einfachen Verfahren. Diese Prozedur konnte laut Verfassungsgesetz vom 25. Februar 1875 in Gang gebracht werden, wenn es dafür absolute Mehrheiten in beiden Parlamentskammern gab und der Präsident sich nicht in den Weg stellte. Mit diesem Verfahren, somit als konventionelle Verfassungsrevision, wurde der Republik übrigens im Juli 1940 auf Betreiben Pétains und Lavals ein formalrechtlich korrektes Ende bereitet. Dabei ist zu beachten, dass das Wort Revision am Beginn der III. Republik das Schlagwort der republikanischen Linken war, die alle Institutionen des Staates für sich okkupierte und den Übergang zum absoluten Parlamentssystem irreversibel machen wollte. In diesem Sinne ist die von links inspirierte Verfassungsänderung von 1884 zu verstehen, die (1) den konservativ ausgerichteten Senat in seinen Befugnissen einzuschränken suchte, und (2) alle Angehörigen der einstmals in Frankreich regierenden Häuser von der Kandidatur für das Präsidentenamt ausschloss.30 Die Republik war das Projekt einer bürgerlichen Linken, die alle Funktionen im Staat an sich zog und die Spielräume der Gegenseite selbst in deren letzten Rückzugsbereichen – Kirche und Armee – immer weiter einschränkte. Dieses nun zur Herrschaft gelangte Milieu rekrutierte sich zwar aus materiell gesicherten Notablenschichten von Advokaten, Ärzten, Ingenieuren und Rentiers, führte aber zeitweilig den Furcht erregenden Parteinamen der „Radikalsozialisten“ (1901: Parti républicain, radical et radical-socialiste), der jedoch keinen Umsturzgelüsten Ausdruck gab, sondern eher dem hartnäckigen Buhlen um die Wählerstimmen der Arbeiterschaft.31 Nachdem diese Gruppierungen die Republik ganz zu ihrer Sache gemacht hatten, wanderte der Slogan der Revision gleichsam nach rechts und wurde dort zur Erkennungsmarke. Der im nordafrikanischen Kolonialkrieg erfolgreiche General und Kriegsminis29 Jean Estèbe, Les ministres de la République (1871 – 1914), Paris 1982; Paul Guérie, Artisans et facteurs de continuité ministérielle sous la IIIe République, Paris 1971; Jacques Olle-Laprune, La stabilité des ministres sous la Troisième République, 1879 – 1940, Paris 1962. 30 Nathalie Droin, Retour sur la loi constitutionnelle de 1884: contribution à une histoire de la limitation du pouvoir constituant dérivé, in: Revue française de Droit constitutionnel 80 (2009), S. 725 – 747. 31 Jean-Thomas Nordmann, Histoire des radicaux, 1820 – 1973, Paris 1974; ders., La France radicale, Paris 1977; zum „radikalen“ Milieu siehe auch: Gilles Le Béguec, De la république des avocats à la république des énarques, in: Rainer Hudemann / Georges-Henri Soutou (Hrsg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, München 1996, S. 79 – 92.

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ter Georges Boulanger, der das herrschende linksliberale Juste milieu ab 1887 mit viel Getöse, aber letztlich ohne jeden Erfolg herausforderte, trat bei den Kampagnen zur Nachwahl ins Parlament mit der eingängigen Trias dissolution – révision – constituante an. Er hatte mit dieser Forderung nach Parlamentsauflösung und einer Verfassungsänderung mit autoritären Zügen zunächst überwältigenden Erfolg, bis seine Offensive gegen die republikanischen Institutionen am Ende doch versandete. Boulanger verschwand schließlich vollkommen von der Bildfläche und die republikanischen Kräfte hatten nicht nur einen weiteren Gegner aus dem Feld geschlagen, sondern zugleich auch die Hypothese einer monarchischen Restauration dauerhaft eliminiert.32 Revision im Sinne einer Bändigung und Einhegung des überschießenden Parlamentarismus als Kennzeichen des unbeschränkten régime d’assemblée blieb fortan vor allem ein Projekt innerhalb der französischen Rechten, die Frankreichs politische Ordnung in einem autoritären Sinne reformieren wollte. Angesichts der Auswüchse des parlamentarischen Systems mit einer chronisch schwachen Exekutive gab es aber auch im Mitte-Links-Spektrum Sympathien für das Konzept eines parlementarisme rationalisé, mit dem die Exekutive gestärkt und im Zuge einer Wahlrechtsreform die Bildung stabiler Mehrheiten in der Kammer begünstigt werden sollte.33 Gleichwohl blieb der Veränderungsdruck nach dem Abklingen der Dreyfus-Affäre 1906 gering, da die III. Republik trotz fortwährender Instabilität an der Regierungsspitze in ihren tiefer liegenden Schichten eine beachtliche Dauerhaftigkeit und Krisenresistenz an den Tag legte. Sie überlebte nicht nur die politischen Skandale und Affären der Zeit vor 1914, sondern auch die Stahlgewitter und Blutbäder des Ersten Weltkrieges, wobei die harte Kriegswirklichkeit auf das politische System abfärbte. So regierte der bei Freund und Feind als „der Tiger“ bekannte Georges Clemenceau als Ministerpräsident 1917 / 18 vorwiegend per Dekret, wobei diese décrets-lois freilich der Kontrolle des Parlamentes unterlagen und von diesem jederzeit aufgehoben werden konnten. Die tendenziell autoritäre Praxis Clemenceaus als Regierungschef vor 32 Philippe Levillain, Boulanger, fossoyeur de la monarchie, Paris 1982; Bertrand Joly, Nationalistes et conservateurs en France, 1885 – 1902, Paris 2008; Jean Garrigues, Le général Boulanger et le fantasme du coup d’état, in: Parlement[s]. Revue d’histoire politique 12 (2009), S. 43 – 48; zu den Auswirkungen der Affäre: William D. Irvine, The Boulanger Affair reconsidered. Royalism, boulangism, and the origins of the radical right in France, New York 1989. 33 Zum rechten Antirepublikanismus: Nicolas Roussellier, La contestation du modèle républicain dans les années 30: la réforme de l’état, in: Serge Berstein / Odile Rudelle (Hrsg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 319 – 337; beispielhaft für „gemäßigte“ Reformüberlegungen die Ideen Capitants: René Capitant, La réforme du parlementarisme, Paris 1934; dazu auch: Gwénaël Le Brazidec, René Capitant, Carl Schmitt: la crise et réforme du parlementarisme. De Weimar à la Cinquième République, Paris 1998; zum Thema parlementarisme rationalisé systematisch: Philippe Lauvaux, Parlementarisme rationalisé et stabilité de l’exécutif, Brüssel 1988.

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wie nach dem Waffenstillstand 1918 tolerierten die Parlamentarier jedoch nur so lange, bis die großen Fragen von Krieg und Frieden entschieden waren. Dann erlegten sie ihm bei der Präsidentenwahl vom Januar 1920 eine schwere Demütigung auf, mit der seine politische Laufbahn endete.34 Angesichts der ökonomischen und politischen Herausforderungen der Nachkriegszeit, zumal im Zeichen der Weltwirtschaftskrise ab 1930, war die Notwendigkeit einer durchgreifenden Veränderung der Staatsordnung zwar weithin konsensfähig, doch ließ sich vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen den politischen Lagern keine Einigung über den Inhalt der nötigen Reformen erzielen. Dies galt erst recht, nachdem sich die ideologische Konfrontation in den Jahren der Volksfront 1936 / 37 noch verstärkt hatte. In der gouvernementalen Praxis kam es hingegen in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zu pragmatischen Lösungen, wie zum Beispiel einer extensiven Anwendung der décrets-lois an allen Bereichen staatlichen Handelns.35 Erst der militärische Zusammenbruch Frankreichs im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland 1940 warf das politische Schachbrett vollständig um. Die beiden Parlamentskammern zogen aus dem besetzten Paris in den stillen Badeort Vichy um. In einem Verfahren, das sich trotz einer Drohkulisse und trotz des Ausschlusses aller kommunistischen Abgeordneten, in den unter der III. Republik üblichen Bahnen einer Verfassungsänderung bewegte, wurde die republikanische Staatsordnung am 10. Juli 1940 faktisch abgeschafft. Auf die drei Verfassungsgesetze von 1875 antworteten spiegelbildlich die drei Ermächtigungsgesetze für den Marschall Pétain, der zum chef de l’état français berufen wurde, mit umfassender Handlungsvollmacht und unter Vertagung der Nationalversammlung sine die.36

34 Nicolas Roussellier, Le Parlement français et la Première guerre mondiale, in: Parlement[s]. Revue d’histoire politique 10 (2008), S. 13 – 30; ferner ausführlich: Fabienne Bock, Un parlementarisme de guerre, 1914 – 1918, Paris 2002. 35 François Goguel, L’incapacité de la Troisième République à réformer ses institutions, in: Paul Isoart (Hrsg.), Des Républiques françaises (FN 19), S. 664 – 682. Mit gewissen Einschränkungen ist zu benutzen: Dragos Rusu, Les décrets-lois dans le régime constitutionnel de 1875, Diss. Bordeaux 1942. 36 Sandro Guerrieri, L’avènement du régime de Vichy entre légalité et coup de force, in: Parliaments, Estates and Representation 20 (2000), S. 233 – 245; Marcel Prélot, La Révision et les actes constitutionnels. La figure politique et juridique du chef de l’Etat Français, in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement de Vichy 1940 – 1942. Institutions et politiques, Paris 1972, S. 23 – 36; Jean-Pierre Azéma, Vichy face au modèle républicain, in: Serge Berstein / Odile Rudelle (Hrsg.), Le modèle républicain (FN 33), S. 337 – 356.

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IV. Der Gaullismus als verfassungspolitischer Revisionismus: Nationaler Mythos und stabile Republik Das von Philippe Pétain verkörperte Vichy-Regime genoss 1940 nicht nur Vertrauen bei der völlig desorientierten französischen Bevölkerung, sondern hielt auch den Trumpf einer formalrechtlichen Legitimität in Händen, der sich in der völkerrechtlichen Anerkennung durch die meisten ausländischen Regierungen niederschlug. Immerhin unterhielten noch im Frühjahr 1941 sowohl die USA als auch die Sowjetunion eine Botschaft in dem kleinen Kurstädtchen Vichy, das aufgrund des Umstandes der deutschen Besetzung von Paris zum faktischen Regierungssitz Frankreichs geworden war. Insofern musste der Gestus des von London und später von Algier aus operierenden Generals Charles de Gaulle, den die Briten im August 1940 als Anführer des Freien Frankreich anerkannt hatten, besonders überspannt wirken, da er dem Vichy-Regime jede Rechtmäßigkeit absprach, während er sich selbst als Träger der republikanischen Legitimität ansah, deren Übergang auf seine Person er mit seinem ersten eigenständigen Widerstandsakt vom 18. Juni 1940 datierte – dem Rundfunkaufruf an die französische Nation zur Fortsetzung des Widerstandes gegen die Okkupation. Die weitere politische und militärische Entwicklung stützte dann jedoch in überraschender Weise die verfassungspolitische These de Gaulles. Als Chef der noch in Algier residierenden Provisorischen Regierung der Französischen Republik erklärte er in einer Ordonnanz vom 9. August 1944 die Verfassungsakte von 1940 zugunsten Pétains für null und nichtig. Damit war aus seiner Sicht eine Rückkehr zu den „Gesetzen der Republik“ verbunden, nicht unbedingt aber zur „republikanischen Verfassung“, die sich als mangelhaft erwiesen hatte, da sie an der katastrophalen Niederlage von 1940 Schuld trug.37 Dies musste jedoch nach der Befreiung Frankreichs 1944 Gegenstand einer politischen Debatte sein, die gleichsam auf einer konstitutionellen Freifläche stattfand, da sich die Dritte Republik im Sommer 1940 mit der Ermächtigung Pétains selbst abgeschafft hatte. Damit war ein Vakuum entstanden, das neu gefüllt werden musste, wenn die Nation nicht zu dem Schluss kam, zum Status quo ante zurückkehren zu wollen. Somit gab es eine intensive und laut geführte Verfassungsdebatte, an deren Ende dann die wenig Begeisterung weckende Konstitution der Vierten Republik stand, die bei einer Volksabstimmung im 37 Bertrand Mathieu / Michel Verpeaux, La transition juridique: l’ordonnance du 9 août 1944, in: Fondation Charles de Gaulle (Hrsg.), Le rétablissement de la légalité républicaine, 1944, Brüssel 1996, S. 805 – 830; Odile Rudelle, Le général de Gaulle et le retour aux sources du constitutionnalisme républicain, in: Fondation Charles de Gaulle (Hrsg.), De Gaulle et la Libération, Brüssel 2004, S. 11 – 36. Zum verfassungsgeschichtlichen Inhalt der Epoche in Frankreich: Emmanuel Cartier, La transition constitutionnelle en France 1940 – 1945. La reconstruction révolutionnaire d’un ordre juridique républicain, Paris 2005. Zu den mythischen Elementen im gaullistischen Politikverständnis zuletzt ausführlich: Matthias Waechter, Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940 bis 1958, Göttingen 2006.

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Oktober 1946 auch nur ein schwaches und klägliches Ja der keineswegs beglückten Franzosen erntete. Für die meisten Beobachter schien es sich nämlich schlicht um eine Restauration der Vorgängerin zu handeln.38 de Gaulle, der im Zuge der heftig geführten Diskussionen im Januar 1946 vom Amt des Regierungschefs zurückgetreten war, legte seine Auffassung in einer Rede dar, die er am 16. Juni 1946 im normannischen Bayeux hielt, einem mythischen Ort des Gaullismus, weil der General dort 1944 seinen ersten größeren Auftritt als Befreier französischen Bodens hatte. Dabei gab er sich, wenig überraschend, als Exponent des in der französischen Rechten seit den Zeiten des Generals Boulanger, um 1887, traditionell vorherrschenden verfassungspolitischen Revisionismus zu erkennen.39 Auch wenn ihn eine aufgescheuchte Linke danach der Diktaturgelüste zieh, so wollte er doch nicht mehr und nicht weniger als eine Rückführung der Republik auf den Buchstaben der Verfassungsgesetze von 1875, die ein Gleichgewicht von Exekutive und Legislative vorsahen, wobei sich in der Verfassungswirklichkeit einer von der Linken geprägten III. Republik die Gewichte dann wider Geist und Buchstaben der Konstitution zur zweiten Parlamentskammer hin verschoben hatten. Die historischen Fixpunkte des Gaullismus in der Verfassungsdebatte von 1946 und später waren demnach die parlamentarische Julimonarchie 1830 – 48, das kurzlebige Empire libéral von 1870 und die Lois constitutionnelles von 1875 – drei Modelle, die jedenfalls in Ansätzen für Stabilität, für ausgewogene Checks and Balances und für eine effiziente Regierungspraxis ohne hohen Reibungsverlust standen.40 In der politischen Praxis gelang es jedoch einer erstaunlichen Koalition aus Sozialisten (SFIO), Christdemokraten (MRP) und Radikalen (UDSR), der bis 1947 auch die Kommunisten (PCF) angehörten, den Gaullismus mit seinem Konzept einer institutionell stabilisierten Republik an die Wand laufen zu lassen. Stattdessen haben die genannten Kräfte der IV. Republik die Züge ihrer 1940 verblichenen Vorgängerin verliehen. Es blieb bei einem fadenscheinigen Zwei-Kammer-System aus Assemblée nationale und Conseil de la République, fadenscheinig deswegen, weil der Rat der Republik als formal erste Kammer nur beratende Funktion hatte. Da auch die Befugnisse des indirekt gewählten Staatspräsidenten und des erstmals überhaupt im Serge Berstein, La IVe République: république nouvelle ou restauration du modèle de la IIIe République, in: ders. / Odile Rudelle, Le modèle républicain (FN 33), S. 357 – 381. 39 Françoise Decaumont (Hrsg.), Le discours de Bayeux. Hier et aujourd’hui, Aixen-Provence 1991; Véronique Alibert-Fabre, La pensée constitutionnelle du général de Gaulle « à l’épreuve des circonstances », in: Revue française de science politique 40 (1990), S. 699 – 713. 40 Odile Rudelle, De Gaulle et la République, in: Serge Berstein / dies. (Hrsg.), Le modèle républicain (FN 33), S. 383 – 406; dies., 18 juin 1940 – 15 mai 1958: le processus historique, in: Fondation Charles de Gaulle (Hrsg.), L’avènement de la Ve République, Paris 1999, S. 329 – 346. 38

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Verfassungstext verankerten Ministerpräsidenten (Président du Conseil) spärlich bemessen waren, blieb es bei der vor 1940 üblichen ParlamentsSuprematie, in der die Organisation stabiler Mehrheiten und die Koordination der Gewalten weiterhin nicht recht gelingen wollte. Immerhin brachte es die IV. Republik in ihrer kurzen Lebensspanne von Herbst 1946 bis Frühjahr 1958 auf nicht weniger als 22 Regierungen!41 Auch den Vätern der Verfassung bereitete dieses Kind schon bald große Sorgen und sie sannen daher auf Abhilfe. So kam es bereits 1954 zu einer recht eingreifenden Verfassungsänderung, mit der die Befugnisse des Staatspräsidenten und des Rates der Republik erweitert wurden. Letzterer erfuhr nun auch eine Einbindung in das Gesetzgebungsverfahren.42 Mit dieser gleichwohl halbherzigen Maßnahme sollte der Offensive des Gaullismus begegnet werden, der sich die gleichsam traditionelle und aus der III. Republik herkömmliche Forderung der Rechten nach Revision zu Eigen machte. Zu diesem Zweck hatte de Gaulle 1947 in Straßburg eine als Kampfansage an die Parteien bewertete Rede gehalten und damit die „Sammlungsbewegung des französischen Volkes“ (RPF) gegründet, die sich als parteiübergreifende Bewegung mit einem klaren Ziel verstand – Revision der Verfassung. Zunächst bei Wahlen sehr erfolgreich, wurde der RPF ab 1951 allerdings im Säurebad politischer Alltagsarbeit im Parlament vollständig zersetzt und schließlich von seinem Gründer selbst desavouiert.43 Damit hätte es wohl sein Bewenden haben können, wäre die IV. Republik nicht an den für Frankreich besonders dramatischen Herausforderungen der Entkolonialisierung gescheitert. Als sich im Mai 1958 die höchsten Chargen der französischen Armee mit einer gegen die Regierung gerichteten Aufstandsbewegung in Algier solidarisierten, hatte die Staatskrise jäh einen Höhepunkt erreicht und ein franko-französischer Bürgerkrieg schien zu drohen. Die Institutionen der Republik waren in Auflösung begriffen, da es keine handlungsfähige Regierung gab und Staatspräsident René Coty mit sofortigem Rücktritt drohte für den Fall, dass Charles de Gaulle nicht als mit weit reichenden Sondervollmachten ausgestatteter Regierungschef an die Staatsspitze zurückkehren sollte. Ihm allein traute man eine Lösung des mörderisch zugespitzten Konflikts zwischen den Befürwortern eines algerischen Algerien und den Anhängern eines französischen Algerien zu.44 41 Jacques Julliard, La Quatrième République (1947 – 1958), Paris 1981; Jean-Pierre Rioux, La France de la IVe République, 2 Bde., Paris 1980/ 83; Jacques Chapsal, La vie politique en France de 1940 à 1958, Paris 1984; zum politischen System der IV. Republik vgl. auch die einzelnen Beiträge in: Pouvoirs. Revue française d’études constitutionnelles et politiques, Bd. 76 (1996). 42 François Goguel, La révision constitutionnelle de 1954, in: Revue française de science politique 5 (1955), S. 485 – 502. 43 Jean Charlot, Le gaullisme d’opposition 1946 – 1958. Histoire du gaullisme, Paris 1983; Bernard Lachaise / Maurice Vaïsse (Hrsg.), De Gaulle et le Rassemblement du Peuple français, Paris 1998.

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In der Tat kehrte de Gaulle auf beinahe wundersam zu nennende Weise an das Steuerrad des Staatsschiffs zurück, das er in der Zeit der Verfassungsdebatte von 1946 abgegeben hatte. Dabei machte er deutlich, dass er nicht einfach nur das Algerienproblem lösen und sich dann aufs Altenteil zurückziehen wollte, sondern dass ihm die Durchsetzung seiner bereits 1946 in Bayeux vorgelegten verfassungspolitischen Vorstellungen am Herzen lag. So verliefen zwei gegensätzliche Prozesse 1958 vollkommen parallel, die Geburtswehen der V. und die Agonie der IV. Republik. Die Geburt der neuen Verfassung vollzog sich exakt nach den Regeln, die in der Konstitution ihrer Vorgängerin für die Verfassungsänderung vorgesehen waren.45 Dafür hatte de Gaulle von der Nationalversammlung Sondervollmachten für sechs Monate erhalten. Bereits am 4. September 1958, dem Jahrestag der Ausrufung der Republik von 1870, wurde die neue Verfassung der Öffentlichkeit präsentiert und am 28. September in einer Abstimmung vom Volk bestätigt.46 Das neue Grundgesetz verstand sich als Synthese der französischen Verfassungsgeschichte seit 1789. Das wird bereits im Artikel 1 deutlich, in dem sich Frankreich definiert als République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Dabei ist die „unteilbare Republik“ das Erbe von 1792, die „laizistische Republik“ die Hinterlassenschaft von 1870 beziehungsweise des Gesetzes über die Trennung von Staat und Kirche von 1905, die „demokratische Republik“ das Erbe von 1848 und die „soziale Republik“ das Vermächtnis von 1946. Freilich fehlte diesem Gebäude aus der Sicht seines Urhebers de Gaulle 1958 noch der Schlussstein, nämlich die Direktwahl des Staatspräsidenten. Nur unter der II. Republik war das Staatsoberhaupt direkt vom (männlichen) Volk gewählt worden. Aus dem Urnengang vom Dezember 1848 ging dann jedoch mit Louis-Napoléon gerade jener Mann als Sieger hervor, welcher der Republik mit seinem Staatsstreich vom Dezember 1851 ein frühes Ende bereiten sollte. Diese Erfahrung blieb unvergessen, weshalb 44 Michel Winock, La République se meurt, 1956 – 1958, 2. Aufl. Paris 2008; ders., L’agonie de la IVe République. 13 mai 1958, Paris 2006; neuerdings auch: Jean-Paul Thomas / Jean-François Sirinelli (Hrsg.), Mai 1958. Le retour du général de Gaulle, Rennes 2010. 45 Folglich wird man eher von Kontinuitäten als von Brüchen zu sprechen haben: Christophe Chabrot, Ceci n’est pas une Ve République, in: Revue française de Droit constitutionnel 82 (2010), S. 257 – 272; vgl. auch: Paul Drevet, La procédure de révision de la constitution du 27 octobre 1946, Paris 1959. 46 Didier Maus / Louis Favoreu / Jean-Luc Parodi (Hrsg.), L’écriture de la constitution de 1958, Paris 1999; zu Michel Debré (1912 – 1996) als dem eigentlichen „Vater” der Konstitution von 1958: Frédéric Rouvillois, Se choisir un modèle. Michel Debré et le parlementarisme anglais en 1958, in: Revue française d’histoire des idées politiques 12 (2000), S. 347 – 366. Allerdings ist auch der persönliche Anteil de Gaulles nicht zu übersehen, der sich gleichsam eine letztinstanzliche Auslegungskompetenz für „seine“ Verfassung zumaß: Pierre Avril, De Gaulle interprète de la constitution. Une paradoxale leçon de droit constitutionnel, in: Institut Charles de Gaulle (Hrsg.), De Gaulle en son siècle. Actes des Journées internationales tenues à l’Unesco, Paris, 19 – 24 novembre 1990, Bd. 2, Paris 1991, S. 172 – 179.

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die Konstitutionen von 1875, 1946 und 1958 dem Präsidenten die Direktwahl vorenthielten. Diese höchste Form demokratischer Legitimation, wie sie unmittelbar aus den Wahlurnen hervorgeht, war den Abgeordneten reserviert, die darin eine unersetzliche Stütze des Parlamentarismus sahen, welche sie als ihr Exklusivrecht zu sichern trachteten. Für die Kür des Staatsoberhaupts zuständig war nach der Verfassung von 1958 ein Wahlmännergremium, dem in der Anfangszeit der V. Republik 80.000 Repräsentanten der Vertretungskörperschaften auf nationaler, regionaler (départements) und kommunaler Ebene angehörten, bis hin zu den Gemeinderäten entlegener Dörfer. Außerdem wurde de Gaulle 1958 auch von den Repräsentanten der Konsultativorgane in den französischen Kolonien gewählt, denn er war nach der Verfassung zugleich das Oberhaupt der Union Française, eines französischen Commonwealth of Nations. Diese Konstruktion fiel mit der Unabhängigkeit der meisten französischen Besitzungen in Afrika 1960 einfach weg.47 V. Stabilität als Erfolg: Verfassungsänderung in der Praxis der V. Republik Somit entfiel auch ein logistisches Hindernis für die Direktwahl des Präsidenten, die de Gaulle anstrebte, weil er sich als Repräsentant der Nation fühlte, dem die ungeteilte demokratische Legitimation zustand, während sich die Abgeordneten die vom Souverän erteilte Legitimität in 460 kleine Portionen aufteilen mussten. Diese Vorstellung war zweifellos zentral für die Verfassungskonzeption des Generals.48 Nachdem eine Serie von Attentaten erbitterter Anhänger Französisch-Algeriens auf den Präsidenten ihr Ziel verfehlt hatte, wagte de Gaulle im Herbst 1962 den großen Wurf. Eine seiner konstitutionellen Kompetenzen ausnutzend, setzte er eine Volksabstimmung über die Direktwahl des Staatsoberhauptes an, die ihm zwar einen Erfolg an den Wahlurnen einbrachte, ihm jedoch zugleich den Vorwurf eines autoritären Umgangs mit der Verfassung eintrug.49 Der politische Konflikt um 47 Im Überblick: Michel Winock, L’élection présidentielle en France, 1958 – 2007, Paris 2008; zur interkontinentalen Dimension französischen Verfassungsrechts in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: François Borella, L’évolution juridique et politique de l’Union française depuis 1946, Paris 1958. 48 Vgl. auch de Gaulles kategorische Äußerung (1962): „Le chef de l’état doit répondre à la tradition d’être désigné par le peuple. Le reste n’est que de la mauvaise littérature“: Jean-Raymond Tournoux, La tragédie du général, Paris 1967, S. 158. Die oft konstatierte Nähe zu bonapartistischen Konzepten vertieft bei: Francis Choisel, Bonapartisme et Gaullisme, 2. Aufl. Paris 1997; Philip Thody / Malcolm Waller, French Caesarianism from Napoleon I to Charles de Gaulle, London 1989. 49 Zur Diskussion über die Verfassungskonformität der Abstimmung vom 28. Oktober 1962: François Goguel, De la conformité du référendum du 28 octobre 1962 à la Constitution, in: Dominique Colas / Claude Emeri (Hrsg.), Droit, institutions et systèmes politiques. Mélanges en hommage à Maurice Duverger, Paris 1987, S. 115 – 125.

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diese Maßnahme nahm teils äußerst scharfe Formen an, da sich die Verteidiger der IV. Republik erst jetzt, mit vierjähriger Verspätung, aus der Deckung wagten. Mit der Lösung des Algerienproblems hatte der General aus ihrer Sicht seine Schuldigkeit getan. Die Parlamentsmehrheit der gaullistischen Partei UNR war im bitteren Streit um die auch für viele Gaullisten schmerzliche Tatsache der Unabhängigkeit Algeriens zerbrochen, so dass im Oktober 1962 die Regierung von Ministerpräsident Georges Pompidou gestürzt wurde. Es war bisher das einzige Mal in der Geschichte der V. Republik, dass ein Kabinett vom Parlament gestürzt wurde, ein Vorgang, der vor 1958 an der Tagesordnung gewesen war.50 Dies bedeutet nicht, dass die französische Politik der letzten fünfzig Jahre langweilig geworden wäre – immerhin sind seit 1958 über 100 Misstrauensanträge (motions de censure) gegen Regierungsmitglieder eingebracht worden, doch haben die neuen Spielregeln in de Gaulles Republik den einst berüchtigt chaotischen Parlamentarismus in Frankreich diszipliniert und die Organisation stabiler Regierungsmehrheiten befördert. Wie integrierend dieses System gewirkt hat, zeigt sich auch an der Tatsache, dass jener Mann, der sich nach 1958 als dessen schärfster Kritiker hervortat, mit der Zeit zum virtuosen Spieler mit den Möglichkeiten mutierte, die dieses System ihm bieten konnte. François Mitterrand hatte die V. Republik lange Zeit als den „permanenten Staatsstreich“ gebrandmarkt, ehe er sich selbst 1981 für lange vierzehn Jahre im Präsidentenamt einrichten konnte.51 Die politische Ordnung ist elastisch, wie die seit 1958 vollzogenen 26 Verfassungsänderungen beweisen, wobei die erwähnte Einführung der Direktwahl des Präsidenten, die erstmals 1965 nach einer Unterbrechung von 117 Jahren wieder stattfand, zweifellos besonders einschneidend war. Sie führte zur Ausbildung eines semi-präsidentiellen Systems, in dem der Präsident allerdings auf eine Parlamentsmehrheit angewiesen bleibt, um systemgemäß handeln zu können.52 Die sogenannten Kohabitationen zwischen einem Staatsoberhaupt und einem Regierungschef unterschiedlicher politischer Couleur, wie sie in den Jahren 1986 – 1988, 1993 – 1995 und 1997 – 2002 auftraten, erwiesen sich als Erfahrungen, die auf Konstruktionsfehler der Konstitution von 1958 verwiesen. Zu deren Behebung führte eine Verfassungsänderung vom 2. Oktober 2000 die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten statt des seit 1873 üblichen Septennats ein, so dass die präsidialen Mandate und die Legislaturperioden der Nationalversammlung hinfort zur Deckung gebracht werden konnten, womit die Gefahr einer Wiederkehr von Kohabitationen zwar nicht gänzlich gebannt, aber stark eingeschränkt 50 Jean-Luc Parodi, Les rapports entre le Législatif et l’Exécutif sous la Ve République (1958 – 1962), 3. Aufl. Paris 1972, S. 150 – 155. 51 François Mitterrand, Le Coup d’état permanent, Paris 1964. 52 Vgl. die Bestandsaufnahme bei Duverger, Le système politique français (FN 1), S. 500 – 517.

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wurde.53 Die jüngste Revision vom 23. Juli 2008 hat den Präsidenten aus dem konstitutionellen Olymp herabgeholt, indem sie ihm nur die einmalige Wiederwahl gestattet und die Rechte von Parlament und Regierung gegenüber dem präsidialen Machtzentrum klarer fasst.54 Da die verbreitete Redeweise von der V. Republik als einer „republikanischen Monarchie“ nicht ganz der Berechtigung entbehrt – man denke nur an bezeichnende Äußerlichkeiten wie das majestätische Dekorum des Elysée-Palastes oder die Präsidentenjagd in den Wäldern von Rambouillet oder Chambord –, war es ein besonderes Anliegen der Revision von 2008, den immer noch weiten Abstand zwischen Präsident und Parlament – ein fraglich gewordenes gaullistisches Erbe – zu verkleinern. Nunmehr hat der Präsident das Rederecht vor den beiden Kammern, Nationalversammlung und Senat. de Gaulle als republikanischer Monarch hätte sich darauf wohl nicht eingelassen, doch Präsident Nicolas Sarkozy nutzte die Gelegenheit einer Rede vor beiden Kammern im Schloss zu Versailles am 22. Juni 2009, um seine Haltung zur weltweiten Finanzkrise darzulegen und eine große Nationalanleihe zur Lösung der Krise vorzuschlagen.55 Wenn wir nun, an den Anfang zurückgehend, die Frage nach dem Zusammenhang von Verfassungsänderung und Systemstabilisierung in der Geschichte Frankreichs seit der Großen Revolution wieder aufgreifen, so drängt sich der Eindruck auf, dass zwar auch der Gaullismus den konstitutionellen Stein der Weisen nicht gefunden hat, dass ihm jedoch das historische Verdienst einer dauerhaften Stabilisierung des politischen Systems zukommt. Unter Rückgriff auf Stabilität verheißende Modelle der Vergangenheit, denen jedoch die Bewährung in der rauen politischen Wirklichkeit versagt blieb, die liberale Julimonarchie von 1830, das Empire libéral von 1870 und die Verfassungsgesetze von 1875 vor ihrer radikalen Uminterpretierung durch die republikanische Linke, hat die Konstitution von 1958 ein Fundament für eine kontinuierliche Fortentwicklung der Verfassung geschaffen, mit der die von Zeit zu Zeit erforderlichen Verfassungsreformen aus der Kampfzone der politischen Lager herausgenommen wurden. Trotz des immer wieder zu Tage tretenden gallischen Individualismus und dem in Frankreich so markanten Hang zur Revolte als Form politischer Meinungsäußerung ist auch im Land der 365 Käsesorten ein solider Konsens um die Staatsordnung herum gewachsen. Verfassungsfragen sind auch an der Seine 53 Olivier Beaud, Les Mutations de la Ve République. Ou comment se modifie une constitution écrite, in: Pouvoirs 99 (2001), S. 19 – 31; zu den Kohabitationen: François Luchaire / Gérard Conac (Hrsg.), Le droit constitutionnel de la cohabitation, Paris 1999. 54 Anne Levade, La Révision du 23 juillet 2008. Temps et contretemps, in: Revue française de Droit constitutionnel 78 (2009), S. 299 – 316. 55 http://www.elysee.fr/president/les-actualites/declarations/2009/declaration-devant-le-Parlement-reuni-en-congres.5522.html (letzter Zugriff 30. Juni 2010).

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schon lange nicht mehr vom Pulvergeruch der Revolution umweht und die Tageshelle des republikanischen Alltags lässt keinen Gedanken mehr aufkommen an das Dämmerlicht, in dem sich einst Staatsstreiche zu vollziehen pflegten.

Aussprache Gesprächsleitung: Kley

Kley: Ich eröffne die Aussprache. Herr Härter, bitte. Härter: Vielen Dank, Herr Nicklas, für diesen instruktiven und sehr farbigen Überblick. Wenn man versucht, einige Elemente zu entdecken, die ein Motor von Verfassungsänderungen sein könnten – und zwar insbesondere von sehr einschneidenden Verfassungsänderungen –, und die französische Entwicklung mit der Entwicklung in Mitteleuropa oder Deutschland vergleicht, dann drängt sich eigentlich der Krieg auf. Der Krieg als ein Motor in der Spielart des Bürgerkrieges oder der Revolution, in der Spielart des verlorenen Krieges – in Frankreich 1871 und 1940, in Mitteleuropa 1866 / 1867, 1870 / 1871 und 1918 /1919 –, der doch immer wieder zu den einschneidenden Verfassungsänderungen führt. Es würde mich also zunächst einmal interessieren, ob Sie darin – im Krieg sowie in massiven Konflikten im Inneren – so ein Element erkennen würden, das es uns erlaubt, Verfassungsänderungen einschneidender Art zu vergleichen. Das Zweite wäre: Wird dieser Zusammenhang überhaupt im Diskurs reflektiert – in politischen wie in juristischen Diskursen –, wenn es um Verfassungsänderungen geht beziehungsweise um dieses Reagieren auf Konflikte und auf Krieg, aus denen dann Änderungen von Verfassungen folgen? Spielt das eine Rolle, oder bleibt die Argumentation auf der bloßen politisch-juristischen Ebene? Kley: Als zweiter Votant hat sich Herr Kunze gemeldet. Bitte sehr. Kunze: Herr Nicklas, ganz herzlichen Dank für diesen Vortrag, der den auf die Niederlande blickenden Historiker ein bisschen neidisch macht ob seiner schönen, dynamischen Geschichte – in den Niederlanden geht alles immer so langsam und evolutionär. Ich habe eine Wissensfrage, die Sie vielleicht ganz knapp mit Andeutungen beantworten könnten, und zwar nach dem Ort der Verfassungsgeschichte in der französischen Gegenwartshistoriographie. Denn die verbinden wir deutschen Historiker ja nun doch mehr mit Blick auf das 20. Jahrhundert mit Annales-Generationen, mit Strukturalismus und Poststrukturalismus. Es würde mich interessieren, wo Sie das verorten. Kley: Und dann noch ein drittes Votum – Herr Pape.

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Pape (Aix-la-Chapelle): Mich würde interessieren angesichts der vielen, von Ihnen so schön vorgeführten Brüche und auch Versuche, Brüche der französischen Verfassungsgeschichte zu heilen, wie sich die Berufung auf das Erbe der großen Revolution ausnimmt. Denn über dieses Thema war Frankreich ein zutiefst gespaltenes Land. Man könnte fragen, wie an den Bruchpunkten, die Sie aufgezeigt haben, sich jeweils die Nation zur großen Revolution verhalten hat – von der man 1814 ganz loskommen wollte, gegenüber der sich die Gesellschaft 1830 unentschieden verhielt und worauf sie sich 1848 wieder dezidiert berief. Mir scheint, dass erst in den letzten zwanzig Jahren darüber ein gewisser Konsens in Frankreich eingetreten ist, dass aber bis zum Bicentenaire 1989 in Frankreich die Parteiungen doch sehr auseinandertraten. Bei allen Brüchen, denke ich, ging es auch immer wieder um die Frage: Soll man bewusst an das Erbe der Revolution anknüpfen oder es eher kaschieren? Napoleon I. haben Sie als Operettenherrscher bezeichnet, was ich nicht ganz glücklich finde angesichts seiner bleibenden Leistungen vor allem in der Rechtskodifikation. Auf Boulanger, der sich in die Tradition Napoleons stellte, würde ich diese Charakterisierung ohne Zögern anwenden. Denken Sie an das famose Ende, als er auf dem Grab seiner Geliebten stand und sich erschossen hat. Nicklas: In Belgien! Pape: … in Belgien, ja, genau. Bei Napoleon ist außerdem das Sonderproblem im Auge zu behalten, dass er versucht hat, Legitimität zu gewinnen, indem er sich auf ganz verschiedene historische Stränge berufen hat: Vom Imperium Romanum bis zu Chlodwig – denken Sie an die Biene als Symbol der Merowinger bei seiner Krönung – und schon lange vor der Krönung durch den Papst persönlich in Notre Dame zu Paris die Berufung auf Charlemagne, dessen Aachener Residenz er im September vor der Krönung im Dezember 1804 besucht hat. Bei Napoleon zeigt sich also ein großes Hin und Her auf der Suche nach Legitimität – einerseits Festhalten an der Revolution, andererseits der Wille, sie zu überwinden. Diese Gespaltenheit zieht sich dann aber auch durch die französische Geschichte hindurch, und das ist der wunde Punkt in der französischen Gesellschaft und französischen Nation: das nicht geklärte Verhältnis zur Revolution. Kley: Würden Sie antworten, Herr Nicklas? Nicklas: Vielen Dank für diese Fragen und Ergänzungen, die man zum Teil ja auch zusammen sehen und verbindend noch einmal aufgreifen kann. Vielen Dank vor allem an den cher collègue d’Aix-la-Chapelle – natürlich, Napoleon am Anfang. Napoleon war bei aller Fragwürdigkeit sicherlich außerordentlich begabt, wenn es um die Inszenierung eigener Macht und von Machtansprüchen ging, gelegentlich auch einfallsreich – wobei wir ja auch rekonstruieren können, dass manche Einfälle nicht auf ihn persönlich zu-

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rückgehen. Dass man die vermeintlich merowingischen Bienen dann aufgestickt hat auf den Krönungsmantel als eine Reminiszenz, das ist nicht einmal von Napoleon selbst erfunden worden. Er hat sich da auch durchaus beraten lassen von seiner Umgebung. Aber natürlich ist das die eigentliche Frage, um die es immer ging: Wie stehen wir zur Revolution? Das ist gewissermaßen die französische Gretchenfrage, und darüber stritten sich die deux France sehr hartnäckig und sehr intensiv – in den Diskursen der Historiographie, in den Debatten im Parlament, die ja dann auch immer in der Presse ihre Fortsetzung fanden. Darum ging es letztlich auch in den verfassungspolitischen Streitigkeiten. De Gaulle wurde ja nicht zu Unrecht 1969 vorgehalten, dass er mit dem Ancien Régime liebäugle, als es darum ging, in der Volksabstimmung vom April 1969 die alten Provinzen wieder zu begründen. Das konnte sich auch nur jemand wie de Gaulle erlauben, als Antwort auf 1968 die Wiederherstellung eines Administrativkörpers des Ancien Régime vorzuschlagen. Darum ging es in der Volksabstimmung, die von de Gaulle auch verloren wurde – mit der Folge, dass er sich am nächsten Tag sofort von allen Amtsgeschäften zurückzog, weil er dies als Misstrauensvotum gegen seine eigene Person wertete. Auch 1969 hat man im Grunde noch diesen Konflikt der beiden Frankreichs bemüht und hochgespielt, und der Rückzug de Gaulles wurde auch interpretiert als allerletzter, endgültiger Rückzug dieses alten, unterlegenen Frankreichs, das immer wieder mit einer gewissen Sehnsucht in die Zeit vor 1789 zurückblickte. Darum ging es letztlich, wenn darüber gestritten wurde, welche politische Ordnung in Zukunft in Frankreich herrschen sollte. Das ist ja auch die Frage von Herrn Härter gewesen, wobei neben diesem ständigen Konflikt zwischen den Gruppierungen, der sich durchaus in wechselnden Konstellationen vollzog, eben auch der Krieg der Vater vieler Dinge gewesen ist. Von Ludwig XVIII., der, wie es hieß, im Gepäckwagen der Alliierten nach Paris einrollte, der also seine Monarchie als Ergebnis des alliierten Sieges über Napoleon errichten konnte, bis hin zu 1870, wo eben die Schlacht von Sedan, die Niederlage Napoleons III. und seine Gefangennahme bereits zwei Tage später die Proklamation der Republik in Paris zur Folge hatte. Da haben Sie natürlich einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem Ereignis auf dem Schlachtfeld – 2. September 1870 – und dem verfassungspolitischen Umsturz – 4. September 1870. Aber so eng hängt das nicht immer zusammen, denn Sie müssen auch sehen: Die größte Katastrophe der neueren französischen Geschichte dürfte wohl doch der Erste Weltkrieg gewesen sein, wenn wir die Opferzahlen betrachten. Man sieht das auf den Kriegerdenkmälern in den französischen Städtchen, da genügt ein Blick. Der Große Krieg, 1914-1918, das war der große Aderlass, und gerade diesen Krieg hat die Dritte Republik trotz ihrer erheblichen strukturellen Schwächen durchaus gemeistert. Die Verfassungsordnung hat sogar diese außerordentliche Belastung überstanden. Insofern konnte der Krieg verändern, er

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konnte beschleunigen, er konnte mitunter sogar neue Verfassungen hervorbringen, aber man kann es sicherlich auch nicht als eine historische Regel für die französische Geschichte bezeichnen, dass der Krieg immer wieder auch neue Konstitutionen gezeugt habe. Kley: Dann hat sich Frau Manca gemeldet. Bitte. Manca: Herr Nicklas, neulich habe ich den einführenden Aufsatz zu Les Constitutions européennes von Boris Mirkine-Guetzéwitch (1951) wieder gelesen, wo die verschiedenen historisch verwirklichten Typen des parlamentarischen Regierungssystems und deren jeweiligen funktionellen Hauptmerkmale beziehungsweise politischen Leistungen untersucht werden. Es wird hier ausgeführt, dass die parlamentarische Regierungsform der französischen Dritten Republik als gouvernement d'assemblée einzustufen wäre, da hier bei der praktischen Handhabung dieser Regierungsweise der Nachdruck stets auf den konstitutiven Wert und die Zentralstellung einer unauflösbaren Volksversammlung gelegt wurde. Hingegen hätte man in England nach Mirkine-Guetzéwitch eine wesentlich andere parlamentarischen Regierungsweise in die Praxis umgesetzt: Hier wären nämlich nicht die Kammern als Zentrum des politischen Systems angesehen worden, sondern eher die Parlamentsmehrheit und präziser noch die Regierung als deren ausführendes Organ. Aus diesem Grund hätte sich in England die parlamentarische Regierungsweise besser bewährt als in Frankreich. Nach Ihren Ausführungen frage ich mich also, ob Sie die oben genannte Unterscheidung von Boris Mirkine-Guetzéwich teilen können und inwieweit für Sie seine Auffassung einen noch starken Bezug zur Realität zu beweisen vermag. Kley: Danke schön. Bitte. Würtenberger: Sie haben vom Parlementarisme rationalisé gesprochen. Dieser Aspekt taucht, wenn ich es richtig sehe, immer noch in den Staatsrechts-Lehrbüchern Frankreichs der neueren Zeit auf. Hier wird behauptet, dass das deutsche parlamentarische System den Anforderungen des Parlementarisme rationalisé nicht genüge und daher kein stabiles parlamentarisches System sei: Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, dann waren Sie gegenüber dem nicht „rationalisierten Parlamentarismus“ in Frankreich offenbar gar nicht so skeptisch, wie es vielleicht manches Staatsrechts-Lehrbuch in Frankreich zu sein scheint. Das wäre meine erste Frage. Sie haben sehr schön und sehr eindringlich die Verfassungsentwicklung Frankreichs geschildert. Gibt es aber nicht noch weitere Rahmenbedingungen, die man ins Auge fassen sollte? Die eine Rahmenbedingung ist, meine ich, die Frage der République indivisible – dieses Konzept verbietet jede Föderalisierung. Sie haben mit Recht gesagt, de Gaulle sei damals am Projekt

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der Föderalisierung gescheitert. Die jetzigen Verfassungsreformen zielen auf eine vorsichtige Dezentralisierung. Lässt sich insofern an der historischen Entwicklung Frankreichs, und zwar vor 1789, anknüpfen? Eine andere Rahmenbedingung ist möglicherweise eine sehr gute Verwaltung, die die neuen Probleme auf den Punkt zu bringen weiß – etwa die Konstruktion eines Service public, der für alle da ist und der einheitsstiftend vor dem Ersten Weltkrieg gewirkt hat, auch mit seinen Vorteilen gegenüber dem deutschen System, wie sie von der École de Bordeaux betont wurden. Meine Frage geht also dahin: Gibt es verfassungsstabilisierende beziehungsweise systemstabilisierende Rahmenbedingungen, die nicht in der Verfassungsordnung selber verwurzelt sind, sondern im politisch-rechtlichen Kontext stehen? Kley: Dann noch eine letzte Frage in dieser Runde von Herrn Dann. Dann: Eine vergleichende Frage: Sie haben uns eindringlich die Konsolidierung der Verfassung der Fünften Republik vor Augen geführt – eine der ersten präsidialen Demokratien in Europa. Wir haben in Frankreich nun das Modell der USA als zweite, international akzeptierte und gefestigte präsidiale Demokratie vor uns, und seit dem Verfassungsumbruch in Osteuropa hat sich ergeben, dass heute tatsächlich zwei Formen von Demokratie – die parlamentarische und die präsidiale – in Europa existieren und konkurrieren. Meine Frage vor diesem Hintergrund geht erstens dahin, ob bei der Entstehung der Verfassung der Fünften Republik der Blick nach den USA eine besondere Rolle gespielt hat. Verbindungen Frankreichs zu den USA haben ja eine eigene historische Tradition. Und zweitens: Wird dieses Nebeneinander der zwei präsidialen Demokratien in der wissenschaftlichen Diskussion im heutigen Frankreich eigens thematisiert und systematisiert? Spricht man von zwei verschiedenen präsidialen Systemen? Kley: Danke, Herr Dann. – Herr Nicklas, bitte. Nicklas: Ich muss zunächst noch meine Antwort auf die Frage von Herrn Kunze nachtragen; ich bedauere, dass sie vorhin unter den Tisch gefallen ist. Es ging ja um die Frage nach dem Rang der Verfassungsgeschichte in Frankreich, also letztlich dem, was wir hier betreiben. Da muss man sagen, dass diese Verfassungsgeschichte so an und für sich kein Droit de cité, kein Bürgerrecht hat in den Sciences humaines, in den Geisteswissenschaften, sondern durchaus die Domäne der Juristen ist, die das eben auch aufgrund der Verpflichtungen für den concours – da es im Staatsexamen abgeprüft wird – dann an den Universitäten lehren. Sie haben ja auch das Stichwort Annales genannt, also diese traditionelle Aversion gegen politische Geschichte, gegen Konstitutionen oder wie man es noch vereinfachter gesagt hat: gegen Könige

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und Schlachten. Wobei man natürlich sagen muss, Lucien Febvre und Marc Bloch, die ja die Väter der Annales waren, waren auch gebrannte Kinder der Politik, denn sie hatten vier Jahre in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zugebracht. Insofern kann man die Aversion dieser beiden Musterhistoriker, dieser beiden historischen Vordenker, gegen alles Politische und Militärische durchaus nachvollziehen. Aber es hat natürlich die zum Teil beklagenswerte Folge, dass man in der französischen Geschichtswissenschaft diesen so bedeutenden politischen und eben auch verfassungsgeschichtlichen Fragen nicht ganz den Stellenwert einräumt, den man ihnen vielleicht einräumen sollte. Dazu vielleicht nur so viel, die Problemlage ist mir durchaus bewusst. Die juristischen Fakultäten sind immer etwas Besonderes an den französischen Universitäten, das spiegelt sich auch in einer gewissen Isolation innerhalb des Organismus der Gesamtuniversität wider. Aber dort können Sie durchaus auch Verfassungsgeschichte betreiben. Dann die Frage von Frau Manca: Ja, Gouvernement d'assemblée, das war es eben. Gewisse Kritiker der zweiten italienischen Republik – und auch der ersten schon – weisen ja darauf hin, dass es da gewisse Ähnlichkeiten zu dem früheren Zustand in Frankreich gäbe. Zumal die erste italienische Republik wurde ja gesehen als ein Imitat der Vierten Republik in Frankreich, weshalb es durchaus auch heftige Kritik gegeben hat. Wobei eben immer die Frage besteht: Ist ein solches Parlamentsregime, um es jetzt einmal sehr plakativ und grob auszudrücken, tatsächlich auch ein instabiles Regime? Das kann man ja durchaus verneinen, denn sie haben zwar häufige Ministerwechsel – das ist schon richtig –, und auch der Präsident des Ministerrates hat dann häufig ein anderes Gesicht, aber auf der Ebene darunter, auf der Beamtenebene der Ministerien, läuft doch alles recht reibungslos weiter in vielen Fällen. Es hat in Rom während der Ersten Republik und auch in Frankreich unter der Dritten und der Vierten Republik durchaus stabiles Regieren gegeben – jedenfalls Verwalten, ob auch Regieren, darüber kann man diskutieren. Die Frage der Stabilität der Dritten Republik, Herr Würtenberger hat das Service public genannt – da ist natürlich wichtig, dass das Milieu, das die Dritte Republik trug, sehr stabil war, dass man der Bevölkerung durchaus attraktive Angebote der Identifikation machen konnte –, unbestreitbare Effizienz der Verwaltung. Verspätungen der Eisenbahn mussten wohl auch an das Verkehrsministerium gemeldet werden – man stelle sich das heute vor! Es war ein durchaus effizientes System, auch wenn die Regierung häufig wechselte. Auf der Ebene darunter ging es gesittet und reibungslos vonstatten, mit der Folge, dass im Grunde auch diejenigen, die dieses Modell ablehnten – es gab immer ein Viertel, wenn nicht ein Drittel der französischen Bevölkerung, das dem republikanischen System grundsätzlich ablehnend gegenüberstand –, diese Vorzüge der Dritten Republik durchaus schätzten. Sie war ein angesehener Staat, anders als die Vierte Republik, die ja dann

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im Zuge ihres zusehenden Verfalls in den 1950er Jahren eben kein angesehener Staat in der Welt mehr war. Ausdruck dieser Stabilität war ja auch der Franc Germinal. Es gab eine stabile Währung, man konnte sicher sein: Dieses Geld hat auch in der nächsten Generation noch seinen Wert. Bei aller Instabilität an der Regierungsspitze gab es das Gefühl der Stabilität im eigenen Leben. Dann die Frage von Herrn Dann zu den Präsidialsystemen: Die USA als Vorbild – das hätte man natürlich so in Frankreich nicht sagen dürfen, das kann man heute eigentlich auch noch nicht. Aber für de Gaulle war es durchaus so, dass er sich immer kritisch und reflektierend auf die USA bezog. Schon lange vor de Gaulle und dem Gaullismus gab es in bestimmten Kreisen in Frankreich durchaus die Überlegung: Man muss, um den Status als Macht in der Welt zu erhalten, ein stabiles Regierungssystem haben. Und man hat, nachdem die Monarchie als Alternative zusehends verblich – selbst die meisten Monarchisten, die sich als solche in Frankreich zu erkennen gaben, glaubten nach der Jahrhundertwende auch nicht mehr, dass es einmal wieder einen König geben würde –, sich nach anderen Modellen straffer Führung bei gleichzeitiger Wahrung bürgerlicher Freiheiten umgesehen. Es ist dann in der Diskussion auch schon immer wieder das Modell der USA angeführt worden, wobei die USA eben aufgrund ihres Föderalismus als nicht vollständig mit Frankreich kompatibel galten. Es ging tatsächlich um den Rang, die Stellung des Präsidenten. De Gaulle hat das sicherlich auch gesehen, er hat sich immer kritisch an den USA gemessen, aber man hat das so ausdrücklich nicht gesagt. Aber sicherlich, das unausgesprochene Vorbild USA spielte bei der Ausgestaltung der Verfassung von 1958 auch eine Rolle, insbesondere natürlich in der Variante, die sich ab 1962 dann ausgebildet hat – mit der Direktwahl des Präsidenten. Kley: Wir können noch eine letzte Frage behandeln – Herr Ruppert hat sich gemeldet. Ruppert: Ich will nochmal an Ihre Ausführungen zur Dritten Republik anknüpfen. Sie haben natürlich die Gründe angeführt, warum die Dritte Republik stabil war – sie war aber auch deswegen stabil auf der Regierungsebene, weil sich fast immer dieselben Parteien und dieselben Personen an der Macht abwechselten. Insofern war eine Kontinuität gegeben; man darf sich durch die Regierungszählungen nicht verwirren lassen. Es war eine große Kontinuität in den Personen und in den Parteien da, nur man hat eben mit Unterbrechungen regiert. Wenn man so will, war das einfach ein anderer Regierungsstil. Aber zur Dritten Republik auch noch eine Frage: Zu dem Drittel, das die Republik ablehnte – wie Sie ausgeführt haben –, zählten natürlich auch die Katholiken aus ihrer Feindschaft zur Revolution herrührend. Aber es gab ja dann das Ralliement – die Empfehlung Papst Leos XIII. an die französischen

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Katholiken, sich mit der Republik auszusöhnen. Gibt es dazu Thesen, oder wie sehen Sie das: Hat das die Dritte Republik stabilisiert? Kann man das als Stabilisierungsfaktor bewerten, oder war das relativ wirkungslos? Meine zweite Frage betrifft die Zeit davor: Wenn man nach Kontinuitäten für die Verfassungsentwicklung Frankreichs mindestens bis zur Gründung der Republik sucht, dann hört man immer wieder die – meiner Meinung nach sehr überzeugende – These, dass es eigentlich seit der Mitte der Französischen Revolution – schon seit 1795, wenn man will – darum ging, die machtpolitischen, aber auch die materiellen Umschichtungen in Frankreich zu bewahren. Das heißt also, die Verfassungen, die dann folgten – so ist die These –, sind eigentlich nur Verfassungen der Bourgeoisie. Es sind andere Systeme, die nennen sich anders, aber dahinter steht ein und dieselbe Schicht – bis auf 1848, eine kurze Unterbrechung –, immer dieselbe gesellschaftliche Formation, die sich diese Verfassungen schafft. Wie stehen Sie zu dieser These? Halten Sie die für überzeugend oder eher nicht? Das, wie gesagt, geht schon mit dem Direktorium eigentlich los. Es geht um die machtpolitische und die materielle Festigung der Ergebnisse der Revolution – insofern ist die Kontinuität zu 1789 da, aber eben nicht ideell, sondern materiell. Das heißt, die Schicht, die damals hochgekommen ist in der Gesellschaft, die wollte ihre Position bis 1871 halten. Nicklas: Sicherlich, Herr Ruppert, bedeutete der Aufruf Papst Leos XIII. von 1892 zum Ralliement à la République einen Anstoß zu einer tief reichenden Veränderung des politischen Lebens und der politischen Landschaft in Frankreich. Auch wenn manche Katholiken und überzeugte Monarchisten einer von der radikalen Linken her geprägten Republik sehr distanziert gegenüber standen, so gab es doch ab den 1890er Jahren ein verstärktes Hineinwachsen der katholischen Majorität in den republikanischen Staat, freilich auch deswegen, weil die „Alternative Boulanger“ ab 1887 so eklatant gescheitert war, so dass es für den Augenblick keine glaubwürdige Alternative mehr zu geben schien. So wurde dann das französische Pendant zum deutschen Burgfrieden von 1914 möglich, die Union sacrée. Das Ralliement war dann ebenso die Initialzündung zur frühen Ausbildung christlichdemokratischer Bewegungen in Frankreich, die in der Regel auch ins Parlament strebten; zu verweisen ist hier besonders auf Marc Sagnier und die Gruppierung des Sillon. Und sehr treffend ist es schließlich, wenn Sie auf die besondere Beharrungskraft der ländlichen Notablenschichten Frankreichs verweisen, die sich bei der gewaltigen Besitztumsverteilung in der Epoche der Revolution und Napoleons beachtliche Besitzkomplexe angeeignet haben, auf die sie fortan ihre lokale Machtstellung gründeten. Dieses Milieu hatte eine beachtliche Konstanz in den französischen Provinzen, teils bis heute. Immerhin sind Frankreich die gewaltigen sozialen Umwälzungen erspart geblieben, die im 20. Jahrhundert über Deutschland hereinbrachen, so dass diese Notablenfamilien zum Teil heute auf eine erstaunliche Konti-

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nuität und Tradition verweisen können. Es ist evident, dass es in diesen Kreisen das stärkste Interesse an einer Besitzstandswahrung gab und sie in diesem Sinne politischen Einfluss in Paris, über alle Regierungswechsel hinweg, auszuüben suchten. In der Tat sind alle französischen Verfassungen nach 1795 in gesellschaftspolitischer Hinsicht von konservierendem Charakter, was diesen Aspekt widerspiegelt. Ausgenommen vielleicht die Verfassung von 1946, die um gewisse formale Zugeständnisse an den sozialreformerischen Geist der Résistance nicht umhin kam. Kley: Vielen Dank, Herr Nicklas. Damit sind wir am Ende der heutigen Nachmittag-Sektion. Dank auch an alle Diskutanten.

War die DDR ein Verfassungsstaat? Aspekte der Verfassungsentwicklung 1949 – 1968 – 1974 Von Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe I. Ambivalenz und Perspektiven der Fragestellung Aus der Sicht der herrschenden und auf die Sicherung ihrer uneingeschränkten Weltanschauungsherrschaft bedachten marxistisch-leninistischen Kader in der DDR war die Frage, ob ihr Staat ein Verfassungsstaat sei, leicht zu beantworten: Nein, denn er verkörperte als Diktatur des Proletariats unter der Führung seiner revolutionären Partei, der SED, das Gegenmodell zur bürgerlichen Klassenherrschaft in der äußeren Form des liberaldemokratischen Rechts- und Verfassungsstaats. Aus der Eindeutigkeit dieses Befundes allerdings auf die vollständige Nachrangigkeit der Verfassungsentwicklung in der DDR zwischen 1949 und 1974 zu schließen, dürfte zumindest aus zwei Gründen voreilig sein: Zum einen bediente sich die SED – wenn auch nicht in erster Linie – des staatsrechtlichen Instruments einer Verfassung zur Organisation ihrer Herrschaft und passte die Verfassung dem Durchherrschungsgrad der DDR-Gesellschaft an – dies im übrigen ein signifikanter Unterschied zur nationalsozialistischen totalitären Praxis der Weltanschauungsherrschaft.1 Zum anderen ermöglichten die für die Herrschaftssicherung der SED unkritischen, residualen Freiheitsgarantien der Verfassung zumal unter den Bedingungen des KSZE-Prozesses der 1970er Jahre den DDR-Dissidenten minimale Anknüpfungspunkte für die Behauptung von Selbstbestimmung und Opposition.2 Möglicherweise trug gerade der in der DDR-Verfassung kodifizierte Gegensatz zwischen dem überall erkennbaren Machtbehauptungsanspruch der SED auf der Grundlage hochideologischer sowie chiliastischer Postulate und den Resten einer rechts- und verfassungsstaatlichen Fassade nicht wenig zum Prozess der schleichenden Delegitimierung der SED-Herrschaft bei, die angesichts kontinuierlichen wirtschaftlichen 1 Vgl. Wolfgang Benz, Partei und Staat. Mechanismen nationalsozialistischer Herrschaft (1983), in: ders., Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Struktur- und Mentalitätsgeschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 29 – 46. 2 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984; Wichard Woyke, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in: Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1991, S. 431 – 441.

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Versagens und blockpolitischer Integrationsschwäche der UdSSR zur Implosion des Regimes beitrug. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive sind an der Verfassungsentwicklung in der scheiternden „sozialistischen Nation“ DDR vor allem zwei Trends von Interesse: an erster Stelle der Prozess der marxistisch-leninistischen Überformung und machtpolitischen Aushöhlung der stark an die Weimarer Reichsverfassung angelehnten DDR-Verfassung von 1949 bis zur neuen Verfassung von 1968 unter Ulbricht. In dieser Phase klafften Verfassungstext und die realstalinistische Maßnahmestaatlichkeit einerseits krass auseinander, konsolidierte sich seit dem Mauerbau andererseits auch die DDR als Staatswesen, so dass sich die SED unter Ulbrichts starker Hand zu Schritten der Anpassung des Verfassungstexts an die Verfassungswirklichkeit – in Ulbrichts Verständnis: einer besseren Artikulation der nunmehr entwickelten „sozialistischen Menschengemeinschaft“ im „Vaterland DDR“ – motiviert sah. An zweiter Stelle ist die Frage der politischen Spielräume innerhalb des SED-staatlichen Verfassungsgefüges in der Phase des KSZE-Prozesses der 1970er Jahre zeitgeschichtlich interessant, als nach der „systemischen“ Festschreibung des Herrschaftsmonopols der SED in der neuen Verfassung von 1974 ein wichtiger Teil der liberaldemokratischen Verfassungswerte aus dem Grundrechtsbereich von außen wieder in die DDR getragen wurden und durch die deren Einbindung in den Helsiniki-Prozess vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu einer Art Nebenverfassung werden konnten. Das war gewissermaßen die fatale Dialektik der Ära Honecker, die letztlich in die Agonie der DDR mündete: sein Konzept einer stärkeren Integration der DDR im Ostblockverbund unter dem Machtschirm der UdSSR – dem strategischen Ansatz des Souveränitätsgewinns durch multilaterale euro-atlantische Kooperation der Adenauerschen Westbindungspolitik3 trotz aller ideologischen Unterschiede in einigen Aspekten durchaus vergleichbar – war dem Druck der neuen Ost- und Entspannungspolitik nicht gewachsen.4 Auch und gerade die modern-kybernetischen Ansätze der Wirtschafts- und Staatslenkung durch die SED, die sich in der Verfassung von 1974 abbildeten, konnten den schleichenden Akzeptanzverlust des Herrschaftssystems nicht verhindern, da sie nicht hielten, was schon Ulbricht in der Hochphase des Wettbewerbs der Systeme versprochen hatte: einen für jeden DDR-Bürger spürbar besseren Lebensstandard, für den die Vertretung der DDR bei den UN im Jahr 1973 ziemlich irrelevant war.5 3 Vgl. Ludolf Herbst, Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutschfranzösischen Vertrag, München 1989, S. 7 – 9. 4 Vgl. Peter Bender, Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 203 – 216, hier auch zu den Folgen des KSZE-Prozesses; Wolf D. Gruner Die deutsche Frage in Europa, 1800 bis 1990, München, Zürich 1993, S. 324: „Die DDR wurde durch die Verträge mit der Bundesrepublik Deutschland und die Ostpolitik insgesamt in eine erzwungene Öffnung gedrängt, ohne ihr Ziel, die völkerrechtliche Anerkennung, vollständig zu erreichen; dennoch hatte sie es im Verlauf der ostpolitischen Verhandlungen verstanden, ihren Handlungsspielraum zu erweitern.“

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Im Folgenden soll die Verfassungsentwicklung in der DDR betrachtet und in diesen zeitgeschichtlichen Kontext gestellt werden. Der herrschaftsfunktionale Charakter der DDR-Verfassungen liegt zwanzig Jahre nach dem Ende dieses gescheiterten Staates offen zu Tage; viel relevanter für das Verständnis der DDR-Geschichte ist daher die Frage, was sich vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Befunde der letzten Jahre aus den DDR-Verfassungen über den Wandel in den Durchherrschungs- und Steuerungsstrategien der SED sagen lässt. Ein systematischer Vergleich der drei DDR-Verfassungen von 1949, 1968 und 1974 ist in diesem Zusammenhang nicht zu leisten.6 Einen guten Überblick über die dafür relevanten Regelungsbereiche bietet der Artikel „Verfassung“ von Siegfried Mampel in dem 1979 vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen herausgegebenen DDRHandbuch.7 II. Die DDR-Verfassung von 1949: Die „antifaschistisch-parlamentarisch-demokratische Republik“ Schon mit Blick auf die DDR-Verfassung von 19498 kann man die grundsätzliche Frage stellen, ob der Prozess der Verfassungsgebung und -änderung in der Geschichte der DDR nicht so offensichtlich zugleich kosmetischer und durchherrschungsstrategischer Natur war und blieb, dass von einem Verfassungsprozess eigentlich nicht die Rede sein kann. Diese harte Bewertung, für die es durchaus Argumente gibt, die im Kern auf den stets berechtigten Hinweis hinauslaufen, dass keine einzige DDR-Verfassung ihrem Charakter nach die Grundordnung eines demokratischen und pluralistischen Rechtsstaates darstellt, verstellt jedoch den Blick auf zwei Gesichtspunkte, welche für die Einschätzung der SED-Herrschaftsgeschichte von Bedeutung sind: Einerseits lässt sich eine bewusste, wenn auch taktisch motivierte Bezugnahme auf die westliche Verfassungstradition in der DDRVerfassung von 1949 erkennen. Darüber hinaus ist ein Entwicklungsmuster des DDR-Verfassungsrechts erkennbar: von einer oberflächlich veränderten Kopie der Weimarer Reichsverfassung 1949 in offenem Widerspruch zur politisch-totalitären Realität (1949) zu einer Bestätigung der autoritären 5 Vgl. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR, 1971 – 1989, Berlin 1998. 6 Siehe dazu auch Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Die Verfassung der DDR. Ein Machtinstrument der SED? Bonn 41987. 7 Siegfried Mampel, Verfassung, in: DDR-Handbuch, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln 1979, S. 1115 – 1121; zum Kontext der Entwicklung des politischen Systems in der DDR vgl. DDR. Das politische, wirtschaftliche und soziale System, hrsg. von Heinz Rausch, Theo Stammen, München 51981. 8 Abdruck u. a. in Horst Hildebrandt (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 121983, S. 197 ff. Alle drei DDR-Verfassungen u. a. in: Die DDR-Verfassungen, eingeleitet und bearbeitet von Herwig Roggemann, Berlin 1976; die DDR-Verfassung von 1949: S. 175 – 202.

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Position Walter Ulbrichts9 in Partei und Staat (1968) zu Erich Honeckers10 herrschaftsstabilisierender Verfassung von 1974 mit ihren ausgeprägt „realsozialistischen“ und, systemisch-planwirtschaftlichen Steuerungsbemühungen in einem „entwickelten Sozialismus“. Entscheidet man sich, diesen Entwicklungsprozess, der die soziopolitische Komplexitätszunahme einer modernen Diktatur abbildet, mit verfassungsgeschichtlichen Begriffen zu beschreiben, ist es nicht überflüssig zu betonen, dass die DDR unabhängig von ihrer formalen und herrschaftstechnischen Verfassungsentwicklung in jedem Stadium ihrer Geschichte de facto und zumindest zum Teil auch de jure ein Unrechtsstaat war, der bedenkenlos und brutal Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft setzte.11 Keine DDR-Verfassungsnorm hat dies zwischen 1949 und 1989 verhindert beziehungsweise eine Kontrolle oder Machtbegrenzung des am 8. Februar 1950 gebildeten Ministeriums für Staatssicherheit, des „Schilds und Schwerts der Partei“, ermöglicht.12 Über die Verfassungsentwicklung in der DDR lässt sich nicht sprechen, ohne dies als Grundlage der Betrachtung klar festzuhalten. In ihrer Darstellung der „Verfassungsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands / DDR von 1945 bis zum Sommer 1952“13 interpretieren Andrea und Gottfried Zieger, dem zeit- und verfassungsgeschichtlichen Mainstream14 folgend, die erste DDR-Verfassung von 1949 als ein in erster Linie propagandistisches Projekt: „Zeigt bereits die Verfassung von 1949 selbst ein zwiespältiges Bild, […] so erweiterte sich dieser Zwiespalt zur Kluft, wenn man die Verfassungswirklichkeit betrachtet. Dabei handelt es sich bei der Entwicklung nach 1949 nicht etwa um eine Fortführung der in der Verfassungsurkunde enthaltenen, sich an der Weimarer Verfassung unter Hinzufügung antifaschistisch-demokratischer Grundsätze orientierten Regelung. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß für die weitere Entwicklung die Verfassung überhaupt keine Rolle mehr spielt.“15

Die wesentliche Funktion der DDR-Verfassung von 1949 sei die „Propagierung der östlichen Ziele für Gesamtdeutschland“16 gewesen, nicht die Schaf9

Vgl. Norbert Podewin, Walter Ulbricht. Eine neue Biographie, Berlin 1995. Vgl. Norbert F. Pötzl, Erich Honecker: eine deutsche Biographie, Stuttgart 2002. 11 Als Beispiel aus dem Bereich des DDR-Strafrechts vgl. Rolf-Ulrich Kunze, Paul Johann Anselm von Feuerbach und das Strafrechtsverständnis in der DDR. Der liberale Reform-Jurist des 19. Jahrhunderts und ein autoritäres Strafrecht des 20. Jahrhunderts im Vergleich, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 19 (1997), S. 82 – 89. 12 Vgl. als herrschaftsalltagsgeschichtliches Dokument Erich Loest, Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze, Göttingen 1991. 13 Andrea und Gottfried Zieger, Die Verfassungsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands / DDR von 1945 bis zum Sommer 1952, Köln [u. a.] 1990. 14 Vgl. Herwig Roggemann, Die DDR-Verfassungen. Einführung in das Verfassungsrecht der DDR. Grundlagen und neuere Entwicklung, Berlin 41989, S. 23 – 63. 15 Zieger, Die Verfassungsentwicklung (FN 13) S. 135. 16 Ebd. 10

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fung einer Grundlage für die verfassungsgemäße Rechtsentwicklung in der DDR selbst. Schon die Präambel spiegelte das deutlich: „Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.“17

Wie sah nun die weltanschauliche Binnensicht die Verfassung von 1949? Klarer als in der parteiamtlichen Geschichte der SED aus dem Jahr 1978 lässt sich die operative Funktionalität der DDR-Verfassung von 1949 nicht auf den Punkt bringen: „Stets ließ sich die SED davon leiten, daß die Frage der Macht die Grundfrage der Revolution ist. In ihren Grundsätzen und Zielen und in anderen wegweisenden Beschlüssen war sie davon ausgegangen, daß der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft die Errichtung der Diktatur des Proletariats voraussetzt. ,Um die Frage ,Wer – Wen?‘ im harten, komplizierten Klassenkampf zugunsten des werktätigen Volkes zu entscheiden‘, handelte sie konsequent nach der marxistisch-leninistischen Erkenntnis, ,daß die Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse eine unerläßliche Maßnahme ist, um den Übergang zum Sozialismus zu gewährleisten.‘ [Zitat aus einer Honecker-Rede von 1977, RUK] […] In der zweiten Septemberhälfte des Jahres 1949 hatten Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Fred Oelßner mit führenden Repräsentanten des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU(B) in Moskau über die mit dem Bonner Separatstaat entstandene Lage und die notwendigen Schritte zur Gründung einer deutschen demokratischen Republik beraten. Gleichzeitig war die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit mit der UdSSR und den volksdemokratischen Staaten erörtert worden. […] Am 7. Oktober 1949 trat der Deutsche Volksrat unter Vorsitz von Wilhelm Pieck in Berlin zu seiner 9. Tagung zusammen. Auf Antrag der SED, der anderen Blockparteien und der Massenorganisationen konstituierte sich der Volksrat zur Provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. Wilhelm Pieck hob hervor, daß dieser Beschluß den Willen der überwiegenden Mehrheit der Werktätigen zum Ausdruck brachte. Die Abgeordneten setzten die vom 3. Deutschen Volkskongreß bestätigte Verfassung in Kraft. Damit war der historische Akte der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vollzogen.“18

Constitution follows policy – and politics: die SED hatte ihren Staat und die Macht; das war möglich, weil sie auf diese Weise das Minimalziel von Stalins Deutschlandpolitik, Konsolidierung der SBZ, realisierte, denn ein machtpolitisches Ausgreifen nach Westen war nicht mehr realistisch.19 Größer konnte der Gegensatz zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Parlamentarischen Rat nicht sein.20 Während sich 17

Präambel DDR-Verfassung von 1949, in: Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 174. Autorenkollektiv, Geschichte der SED. Abriß, Berlin (Ost) 1978, S. 218. 19 Grundlegend Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945 – 1949, Stuttgart 21980, S. 217 – 260. 20 Vgl. Rolf-Ulrich Kunze, Reconsidered: „Der Mensch ist nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da.“ Der Parlamentarische Rat und die Entstehung 18

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die Schöpfer der Verfassung des Weststaats bereits in den Kontroversen des Parlamentarischen Rats zum Teil in zähen Auseinandersetzungen von den Westalliierten emanzipierten und in Einzelfragen wie der konkreten Ausgestaltung des föderalen Staatscharakters auch durchsetzten, war für die SED-Verfassungsväter, die bereits am 14. November 1946 einen Verfassungsentwurf vorgelegt hatten21 – der Gegensatz aus sowjetischer Indifferenz in den Details bei gleichzeitiger Vorgabe der machtpolitischen Generallinie bestimmend. Dies erklärt auch den unbedenklichen Rückgriff auf die Weimarer Reichsverfassung. Überhaupt war Eile für das institution building in SBZ und jungen DDR typisch: SMAD und die SED-Kader wollten Fakten schaffen, u. a. durch die schnelle Gründung der Länder Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, denen allerdings bereits überregionale, SBZ-zonale Zentralverwaltungen u. a. in den Bereichen Wirtschaft, insbesondere aber auch der Justiz22, gegenüberstanden. Die vom SED-beherrschten Volksrat abgesegnete DDR-Verfassung von 1949 beschrieb ihren Staat gleichwohl als föderal gegliedert. Allerdings war die entstehende DDR im Unterschied zur entstehenden Bundesrepublik kein föderales Produkt, und hinter dem gesamtdeutschen Anspruch der DDRVerfassung stand nicht der repräsentative politische Wille eines Ensembles deutscher Länder, sondern der Machtdurchsetzungsanspruch der SED. Der DDR-Historiker Hermann Weber hat in seinem Standardwerk zur DDRGeschichte die wesentlichen Merkmale der DDR-„Schaufenster“-Verfassung von 1949 so zusammengefasst: „In drei Abschnitten wurden die Grundlagen der Staatsgewalt, ihr Inhalt und ihre Grenzen sowie ihr Aufbau definiert. Deutschland galt danach als unteilbare Republik, die sich auf die Länder stützt.23 Die Verfassung bestimmte eine zentralistische Staatsform, mit dem Parlament – der Volkskammer – als ,höchstem Organ der Republik‘.24 Damit sollten die Gewaltenkonzentration und die Abkehr vom Prinzip der Gewaltenteilung demonstriert werden. Allerdings legte die Verfassung die ,allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl‘ der Abgeordneten nach ,den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts‘25 fest. Artikel 3 bestimmte nicht nur, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht,26 sondern verfügte auch: ,Die Staatsgewalt muß dem Wohl des Volkes, der Freiheit, dem Frieden und dem demokratischen Fortschritt dienen.27 […] Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei.‘28 Entsprechend garantierte die Verfassung die Grundrechte des Grundgesetzes, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte 40 (2001), No. 3, S. 383 – 404. 21 Abdruck: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 485 – 503. 22 Vgl. Hermann Weber, Die DDR. 1945 – 1986, München 1988, S. 7 f. 23 Art. 1 (1), Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 174. 24 Art. 50 (1), ebd., S. 184. 25 Art. 50 (2), ebd. 26 Art. 3 (1), ebd., S. 175. 27 Art. 3 (5), ebd. 28 Art. 3 (6), ebd.

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der Bürger29 (Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, das Postgeheimnis usw.). Artikel 22 schützte das Eigentum.30 Eine Besonderheit der DDR-Verfassung war der später bekannt-berüchtigte Artikel 6,31 der neben Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhaß sowie Kriegshetze auch ,Boyketthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen […] und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten‘, als ,Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches‘ definierte.“32

Die soziopolitische Realität der jungen DDR war „volksdemokratisch“-stalinistisch, die sozioökonomische Realität totalitär-großindustriell geprägt. In beiden gesellschaftlichen Bereichen setzte die Ulbricht-SED auf tiefgreifende Veränderungen in der Nachahmung des sowjetischen Vorbilds bis hin zum Personenkult und ohne Rücksicht auf die historisch-politischen Besonderheiten ihres mitteldeutschen Herrschaftsraumes zwischen Ostsee und Erzgebirge, Magdeburger Börde und Oderbruch. Diese Durchherrschungsmaßnahmen brachen politische, administrative und kulturelle Kontinuitäten preußisch-deutscher Geschichte, in deren Kontext die DDR-Verfassung von 1949 konzeptionell noch gehörte. Ulbricht wollte eine andere DDR als sie in der Verfassung beschrieben wurde, und er setzte sie Schritt für Schritt auch durch. Die Entwicklung der Deutschlandpolitik auf der Grundlage etablierter und sich konsolidierender Blockintegration der beiden deutschen Staaten ließ die gesamtdeutschen Gesten der DDR-Verfassung tagespolitisch veralten – wiederum im Unterschied zum Wiedervereinigungspostulat des Grundgesetzes, dem zwar die Realität des Kalten Krieges entgegenstand, das aber ebenso zum politischen Basiskonsens der jungen Bundesrepublik gehörte wie der Antitotalitarismus ihrer politischen Eliten.33 Zu der von Andrea und Gottfried Zieger angesprochenen „Kluft“ zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit gehörte besonders sichtbar die Abschaffung der Länder und die Einführung von künstlichen Bezirken durch die Volkskammer 1952.34 Weitere Schritte der Zentralisierung folgten in der Schwächung beziehungsweise Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung im selben Jahr, durch die Auflösung der Länderkammer 1958,35 schließlich in der Form eines Staatsrats nach sowjetischem Vorbild nach dem Tod des ersten und einzigen DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck 29

Insbesondere Art. 8 bis 14, ebd., S. 176 f. Art. 22 (1) „Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen und den sozialen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft.“ Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 178. 31 Art. 6 (2); ebd., S. 176. 32 Weber, Die DDR (FN 22), S. 25 f. 33 Vgl. z. B. Alfred Grosser, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 121985 (zuerst unter dem Titel: Deutschlandbilanz, München 1974), S. 123 – 128. 34 Vgl. Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 52 – 54. 35 Gesetz über die Auflösung der Länderkammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 8. Dezember 1958, in: Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 203. 30

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1960.36 Den Vorsitz im Staatsrat führte Walter Ulbricht. Uwe Wesel charakterisiert dieses Ergebnis der Verfassungsaushöhlung in Übereinstimmung mit den zeitgeschichtlichen Befunden37 als Höhepunkt von Ulbrichts Machtentfaltung: „Die Verfassung von 1949 war völlig verändert, die DDR ein zentralistischer Einheitsstaat ohne Gewaltenteilung geworden, die als bürgerliches Prinzip abgelehnt wurde […]. Als Zusammenfassung der Veränderungen wurde deshalb 1968 eine neue Verfassung erlassen und durch Volksabstimmung bestätigt.“38

Dass im Juni 1956 im Zuge von Ulbrichts Entstalinisierung über 11.000 (!) Verurteilte begnadigt und ca. 21.000 (!) Häftlinge entlassen wurden, sagt einiges über die Qualität der rechtsstaatlichen Garantien der Verfassung von 1949 im Verhältnis zur repressiven Energie der stalinistischen Justiz. Weder für die Regimeträger noch für die Regimegegner bot diese Verfassung mit ihrer Beschreibung der DDR als „antifaschistisch-parlamentarischdemokratischer Republik“39 eine Basis für verfassungspolitisches Handeln, denn der Handlungsrahmen beider wurde letztlich in Moskau bestimmt. Andererseits – so viel if-history muss erlaubt sein – hätte sie ihrer Substanz nach ohne die sowjetische Intervention zur Behauptung der Blockkohärenz in der Folge des 17. Juni 1953 durchaus den Rahmen für eine „von unten“ legitimierte demokratische Entwicklung abgeben können; dies auch deshalb, weil die DDR auf ihrem Weg zu einem nicht allein durch nackte Repression, sondern durch ein etabliertes Institutionengefüge gesicherten SED- und Stasi-Staat noch nicht so weit vorangeschritten war wie 1968 und 1974. Bis 1989 schließlich wurde aus den selbstreferentiellen Mechanismen der Herrschaftssicherung ein weitgehender Wirklichkeitsverlust der herrschenden Kader, deren Realität nur noch in den programmatischen Schlagzeilen des „Neuen Deutschland“ existierte. III. Die DDR-Verfassung von 1968: Der „sozialistische Staat deutscher Nation“ Die DDR-Verfassung von 196840, durchgesetzt sieben Jahre nach dem Mauerbau und wenige Monate vor dem Prager Frühling, war in der Tat „Ul36 Gesetz über die Bildung des Staatesrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. September 1960, in: Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 204; vgl. Gero Neugebauer, Partei- und Staatsapparat in der DDR. Aspekte der Instrumentalisierung des Staatsapparats durch die SED, Opladen 1978, S. 124 – 143. 37 Vgl. Weber, Die DDR (FN 22), S. 52 f. 38 Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht, München 1997, S. 491, Rz. 310. 39 Gbl. der DDR 1949, S. 4. 40 Text der DDR-Verfassung vom 6. April 1968: GBl. der DDR I, 1968, S. 199; u. a. auch in Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Text und Kommentar, Frankfurt am Main 1972, S. 3 – 32.

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brichts Verfassung“.41 Jedes Recht, auch das Verfassungsrecht, ist im marxistisch-leninistischen Sinn Klassenrecht42; ganz so, wie es Jürgen Kuczynski 1978 in einer Abhandlung über „Menschenrechte und Klassenrechte“ auf den Punkt gebracht hat: „Während die bürgerlichen und vorbürgerlichen Ideologien sich zumeist bemühen, das Recht als eine objektive – von der Natur oder von einem überirdischen Wesen oder von allen von ihm Betroffenen bestimmte – Sache anzusehen oder zumindest darzustellen suchen, sehen wir Marxisten das Recht als eine seit dem Ende der Urgemeinschaft klassenmäßig bestimmte Sache an.“43 Das galt auch und erst recht für die DDR-Verfassung von 1968. Sie sollte eine stabile sozialistische DDR unter Ulbrichts Führung abbilden, die, gemäß der „gesetzmäßigen“ Geschichtsentwicklung des dialektischen und historischen Materialismus44 kein prekäres sozialistisches Experiment mehr war, sondern als „sozialistischer Staat deutscher Nation“45 einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus erfolgreich realisierte. Bereits die Präambel von 1968 zeigte an, dass der Verfassungstext als Weiterentwicklung der Verfassung von 1949 unter neuen außen- und gesellschaftspolitischen Bedingungen verstanden sein wollte: „Getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen, in Ansehung der geschichtlichen Tatsache, daß der Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitalismus Deutschland gespalten hat, um Westdeutschland auf der Basis des Imperialismus und des Kampfes gegen den Sozialismus aufzubauen, was den Lebensinteressen der Nation widerspricht, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik, fest gegründet auf den Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung, einig in seinen werktätigen Klassen und Schichten das Werk der Verfassung vom 7. Oktober 1949 in ihrem Geiste weiterführend und von dem Willen erfüllt, den Weg des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie, des Sozialismus und der Völkerfreundschaft in freier Entscheidung unbeirrt weiterzugehen, diese sozialistische Verfassung gegeben.“46

41 Zum Entstehungskontext seit dem VII. Parteitag der SED 1967 vgl. Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 56 – 60. 42 Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, hrsg. von Georg Klaus, Manfred Buhr, Leipzig 1975, s. v. ,Recht‘, S. 1018 – 1020, 1018: „Recht – System der vom Staat gesetzten / sanktionierten und geschützten allgemeinverbindlichen Normen (Verhaltensregeln), die den letztlich materiell bedingten Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und staatlich erzwingbar sind.“ 43 Jürgen Kuczynski, Menschenrechte und Klassenrechte, Berlin (Ost) 1978, S. 30. 44 Vgl. Dialektischer und historischer Materialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, hrsg. von Frank Fiedler [u. a.], Berlin (Ost) 1987, Kap. 2: „Dialektischer und historischer Materialismus“, S. 39 ff. 45 Art. 1 DDR-Verfassung von 1968, gestrichen 1974; vgl. Roggemann, Die DDRVerfassungen (FN 14), S. 23. 46 Präambel der DDR-Verfassung von 1968, in: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR (FN 40), S. 3.

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Vergleicht man die Präambeln von 1949 und 1968, wird die Akzentverschiebung in der Selbstpositionierung des SED-Staats deutlich: Der deklaratorischen Werteskala von 1949 – Freiheit, Rechte des Menschen, soziale Gerechtigkeit, Fortschritt, Völkerfreundschaft und Frieden – stehen 1968 Frieden, Sozialismus, die Schuldzuweisung für den Kalten Krieg und die deutsche Teilung sowie die Abgrenzung von der Bundesrepublik, der Rückblick auf die sozialistischen Errungenschaften in der DDR, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Sozialismus und Völkerfreundschaft gegenüber. Die Verfassung ist Teil des Wettbewerbs der Systeme geworden. Insofern war es konsequent, dass anders als 1949 die sozialistische Demokratie der DDR 1968 ausführlich inhaltlich beschrieben wurde. Dabei standen zwei Leitbegriffe im Vordergrund. Der erste war der der „sozialistischen Nation“ in Art. 1 (1): „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“47

Herwig Roggemann zählt diese Formel als „auf bemerkenswerte Weise gelungene Formulierungen der DDR-Verfassung 1968 […]“.48 Roggemann bewertet den Rekurs auf die Nation als geschicktes agenda setting: „Die Frage nach dem Begriff der Nation hat zunehmende Aktualität gewonnen in Verbindung mit der deutschen Frage. Hierbei geht es um Nation als Anknüpfungsbegriff in einem dreifachen Sinn [Hervorhebung im Text, der Verfasser]: für Wertund Ordnungsvorstellungen der Bürger beider deutscher Staaten zueinander ,jenseits der Ebene von Rechtsbehauptungen‘ zur Schaffung einer neuen, d. h. kooperativen, politischen Wirklichkeit […]. In diesem Sinn gewinnt der Begriff der Nation [Hervorhebung im Text, der Verfasser] eine über den engeren Begriff der ,Staatsnation‘ hinausgehende Funktion als außerrechtlicher, historisch-kultureller Integrationsbegriff [Hervorhebung im Text, der Verfasser].“49

Tatsächlich lag in der Behauptung einer sozialistischen deutschen Nation ein beachtliches Emanzipationspotenial gegenüber dem „Mutterland aller Werktätigen“, der UdSSR, der sich die DDR gemäß Art. 6 (2) ihrer Verfassung von 1968 durch „allseitige Zusammenarbeit und Freundschaft“50 verbunden hatte. Zugleich ergab sich daraus ein Kohärenzproblem für die programmatische internationalistische Kooperation der sozialistischen Staaten, auf das dann Honeckers Verfassung von 1974 mit dem Konzept des „sozia47 Art. 1 (1) der DDR-Verfassung von 1968, in: ebd., S. 3; Kommentar: ebd., S. 75 – 133, vor allem zur „Suprematie der SED“, S. 93 – 106. 48 Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 68. 49 Ebd., S. 68 f. Zum Nationsverständnis in der DDR vgl. ebd., S. 69 – 80; zu den begrifflichen Grundlagen Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005. 50 Art. 6 (2) DDR-Verfassung von 1968, in: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR (FN 40), S. 5.

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listischen Patriotismus“ eine so integrative wie identifikationsfeindliche Antwort zu geben versuchte. Vor diesem Hintergrund sind auch die Bemühungen um die historisch-politische „Erfindung“ nationalpolitischer Traditionen der DDR seit den 1970er Jahren zu sehen.51 Das im „abendländisch“atlantischen Westen geschmähte proletarisch-ostelbische „Pankow“ stilisierte sich nun selbst als rotes Preußen“52 – mit solchem nicht zuletzt touristischem Erfolg, dass der Westen um seine Hegemonie über die preußische Kulturtradition fürchtete und u. a. mit der großen West-Berliner Ausstellung „Preußen. Versuch einer Bilanz“ im Gropius-Bau 1981 reagierte.53 Der zweite Leitbegriff ist die „sozialistische Menschengemeinschaft“, die in Art. 18 (1) Eingang in die Verfassung gefunden hat: „Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.“54

Die Verfassung von 1968 präsentiert die Ulbricht-DDR55 als eine entwickelte „sozialistische Demokratie“, wie es in Art. 17 (2) heißt: „Mit dem einheitlichen sozialistischen Bildungssystem sichert die Deutsche Demokratische Republik allen Bürgern eine den ständig steigenden gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechende hohe Bildung. Sie befähigt den Bürger, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten und an der Entwicklung der sozialistischen Demokratie schöpferisch mitzuwirken.“56

Roggemann betont in diesem Zusammenhang die anthropologische Dimension einer neuen sozialistischen Gemeinschaft und eines neuen sozialistischen Menschen z. B. in Art. 3 (2): „In der Nationalen Front des demokrati51

Vgl. Peter J. Lapp, Traditionspflege in der DDR, Berlin 1988. Vgl. z. B. die Herausstellung des preußischen Kulturerbes in dem Stadtführer von Klaus Weise, Bernd Dochow, Berlin. Hauptstadt der DDR A bis Z, Berlin / Leipzig 1978. 53 Preußen. Versuch einer Bilanz. Ausstellungskatalog, hrsg. von der Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1981. 54 Art. 18 (1) DDR-Verfassung von 1968, in: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR (FN 40), S. 9; vgl. den Kommentar ebd., S. 455 – 481 vor allem im Hinblick auf die staatliche Funktion der Kultur in der DDR. 55 Eine aufschlussreiche alltagsgeschichtliche Quelle dazu sind die ursprünglich als Artikelserie in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienenen DDR-Reiseberichte von Marion Gräfin Dönhoff, Theo Sommer, Rudolf Walter Leonhardt, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964. 56 Art. 17 (2) DDR-Verfassung von 1968, in: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR (FN 40), S. 8 f.; vgl. den Kommentar ebd., S. 419 – 454. 52

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schen Deutschland vereinigen die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Dadurch verwirklichen sie das Zusammenleben aller Bürger in der sozialistischen Gemeinschaft nach dem Grundsatz, dass jeder Verantwortung für das Ganze trägt.“57 Diese antisoziologische, gesellschaftliche und Interessenkonflikte negierende Gemeinschaftsutopie erwies sich indessen schnell als unrealisierbar und wurde bereits auf dem VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 kassiert.58 Der Chef-Ideologe Kurt Hager übte stellvertretend sozialistische Selbstkritik: „Der VIII. Parteitag hat aus gutem Grund auf den früher recht oft verwendeten Begriff der Menschengemeinschaft verzichtet. Der Begriff der sozialistischen Menschengemeinschaft bringt zweifellos das Entstehen neuer gesellschaftlicher, menschlicher Beziehungen zum Ausdruck. Auf den gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt des sozialistischen Aufbaus in der DDR angewandt, ist er aber wissenschaftlich nicht exakt, da er die tatsächlich noch vorhandenen Klassenunterschiede verwischt und den tatsächlich erreichten Stand der Annäherung der Klassen und Schichten überschätzt.“59

Das war die Stunde Honeckers und der Beginn des real existierenden Sozialismus in der DDR.60

IV. Die DDR-Verfassung von 1974: Der „sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern“ Am 7. Oktober 1974, dem 25. Jahrestag der Gründung der DDR, trat Honeckers Verfassung in Kraft.61 In der Präambel der Verfassung von 1974 fallen zwei Aspekte auf: die Zentralstellung der gesellschaftspolitischen Ziele auf dem Weg zu Sozialismus und Kommunismus sowie der Versuch einer historischen Positionierung der DDR, die nicht mehr wie 1968 in erster Linie als ein agonaler Gegenentwurf zur „imperialistischen“ Bundesrepublik definiert wird.62 Dieses Bemühen um die Erfindung einer historischen Tradition kompensierte die deutschlandpolitische Abgrenzung in Reaktion auf die Brandtsche Ostpolitik:

57 Art. 3 (2) DDR-Verfassung von 1968, in: Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR (FN 40), S. 4; vgl. den Kommentar ebd., S. 157 – 172. 58 Vgl. Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 39 f. 59 Kurt Hager, Zur Theorie und Politik des Sozialismus, Berlin (Ost) 1972, S. 173. 60 Vgl. Weber, Die DDR (FN 22), S. 77-87. 61 Text der DDR-Verfassung von 1974: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 391 – 423; vgl. auch ebd., S. 425 – 451: Synopse zur Änderung der DDR-Verfassung 1974. Gegenüberstellung der geänderten Verfassungsabschnitte in den Fassungen vom 6. April 1968 und vom 7. Oktober 1974; vgl. auch: Die neue Verfassung der DDR, mit einem einleitenden Kommentar von Dietrich Müller-Römer, Köln 1974. 62 Vgl. Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 42 – 44.

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„In Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet eine entwickelte sozialistische Gesellschaft.63 Erfüllt von dem Willen, seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben.“64

Der Staatsratsvorsitzende Honecker umriss 1974 sein hybrides nationalkompensatorisches Identitätskonstrukt eines „sozialistischen Patriotismus“, der das Bewusstsein vom „Vaterland DDR“ auf Kosten der gesamtdeutschen Bezüge stärken sollte. Diesem Zweck diente auch eine selektive Aneignung deutscher Geschichte: „Als Deutsche haben wir Anteil an der deutschen Geschichte, wie wir als Europäer Anteil an der europäischen Geschichte haben. Ja, wir bekennen uns ganz entschieden zu ihren fortschrittlichen Entwicklungslinien, zu den Traditionen des Humanismus und der revolutionären Arbeiterbewegung. Sie sind bei uns gut aufgehoben, werden gepflegt und in unserer gesellschaftlichen Praxis weiterentwickelt. So ist die DDR in der Tat das Werk vieler Generationen. Doch die Geschichte geht weiter, wir haben den Schritt von der bürgerlichen Nation zur sozialistischen Nation getan.“65

Honeckers Substitut für eine nationale Identität war um eine Balance zwischen sozialistischem Internationalismus und deutschem Geschichtseklektizismus bemüht: „Dieser sozialistische Patriotismus steht im Einklang mit dem proletarischen Internationalismus […]. Er ist getragen vom Stolz auf die eigenen Leistungen im sozialistischen Aufbau und ist verbunden mit dem Stolz, der Avantgarde der Völker anzugehören, die schon den Sozialismus und Kommunismus aufbauen. Der sozialistische Patriotismus hat einen festen Platz in der Gemeinschaft der sozialistischen Länder.“66

Insofern war es nur konsequent, was der IX. Parteitag der SED in Ost-Berlin im Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands festschrieb: „Sie [die SED, der Verfasser] ist die Erbin alles Progressiven in der Geschichte des deutschen Volkes.“67

63 Zu dieser Formel vgl. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU / Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Hrsg.), Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, Berlin (Ost) 1973. 64 Präambel DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 392. 65 Erich Honecker, Reden und Aufsätze, Bd. 3, Berlin (Ost), S. 262. 66 Ebd., S. 263. 67 Programm der SED, Berlin (Ost) 1976, S. 5.

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Sozialistische Integration ist ein weiteres Hauptmerkmal der Honecker-Verfassung von 1974. Wo 1968 noch von „allseitiger Zusammenarbeit“ und „Freundschaft“ die Rede war, dekretierte der Art. 6 nun die „Unwiderruflichkeit“ des Bündnisses mit der Sowjetunion: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens.“68 Genau diese enge Bindung sollte sich unter Gorbatschow69 dann als unüberwindliche strategische Klemme für die SED-Kader erweisen. 1974 jedoch schien der Schulterschluss mit den Staaten unter sowjetischer Führung sowohl gegenüber der UdSSR wie auch international und nicht zuletzt auch deutschlandpolitisch Handlungsspielräume zu eröffnen. An der Systemgrenze zeigte sich die DDR als treuester Bündnispartner Moskaus und der anderen „Bruderstaaten“: „Die Deutsche Demokratische Republik ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Sie trägt getreu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus zu ihrer Stärkung bei, pflegt und entwickelt die Freundschaft, die allseitige Zusammenarbeit und den gegenseitigen Beistand mit allen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft.“70

Wiederum schien Honecker mit seinem Integrationskurs die Westbindungsstrategie der jungen Bundesrepublik in anderer ideologischer Richtung kopieren zu wollen. Für die „sozialistische Nation“ war in der Verfassung von 1974 kein Platz mehr. Art. 1 (1) stellte fest: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“71

Die Bezugnahme auf die Überwindung der deutschen Teilung, die in Art. 8 1968 noch Erwähnung gefunden hatte, fiel 1974 weg: „Die Deutsche Demokratische Republik wird niemals einen Eroberungskrieg unternehmen oder ihre Streitkräfte gegen die Freiheit eines anderen Volkes einsetzen.“72

Auf die erheblichen Veränderungen in der Wirtschaftsverfassung der DDR73 kann hier nur hingewiesen werden. Sie spiegeln sich in der Verfassung von 68 Art. 6 (2), 1 DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 394. 69 Vgl. dazu seine Sicht der Entwicklung: Michail Gorbatschow, Russlands Weg ins 21. Jahrhundert, München 2000, S. 7 – 111. 70 Art. 6 (2), 2 DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 394. 71 Art. 1 (1), DDR-Verfassung von 1974, in: ebd., S. 392. 72 Art. 8 (2) DDR-Verfassung von 1974, in: ebd., S. 395. 73 Ein Entwicklungsüberblick bis Ende der 1970er Jahre bei Ralf Rytlewski, Wirtschaft, in: DDR-Handbuch (FN 7), S. 1174 – 1184.

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1974.74 Während es unter Ulbricht gerade vor dem Hintergrund der großindustriellen Prestigeprojekte Spielräume für die komplementäre Entfaltung privatwirtschaftlicher Aktivitäten zur Deckung des konsumtiven Alltagsbedarfs gegeben hatte, setzte Honecker seit dem Sturz Ulbrichts im Frühjahr 1971 auf eine entschiedene Verstaatlichungspolitik in allen Wirtschaftsbereichen. Die Art. 1275 und 1476 der Verfassung von 1974 beschränkten privates Wirtschaften auf den handwerklichen und kleingewerblichen Bereich. Rechts- und Investitionssicherheit für privatwirtschaftliche Betriebe gab es nur auf Wiederruf. Diese Initiative Honeckers war allerdings wohl nicht nur Ausdruck eines ideologischen Kohärenzbedürfnisses bei der Definition des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln. In dieser Beziehung hat es seit Oktoberrevolution genügend Beispiele für eine im konkreten Fall sehr wenig kohärente Staatswirtschaftspolitik gegeben.77 In Honeckers Konzept der sozialistischen Planwirtschaft unter den Bedingungen der DDR78 verbanden sich durchaus zeittypisch für die 1970er Jahre kybernetische, keineswegs auf den Ostblock beschränkte79 Vorstellungen von der vollständigen Steuerbarkeit des gesamten wirtschaftlichen Geschehens mit einer neuen Qualität der gesellschaftlichen Durchherrschung. 1975 definierte das Philosophische Wörterbuch, herausgegeben vom Bibliographischen Institut Leipzig: „Kybernetische Systeme weisen allgemeine Merkmale wie Regelung, Informationsverarbeitung und -speicherung, Adaption, Selbstorganisation, Selbstreproduktion, strategisches Verhalten u. a. auf. Die Kybernetik strebt danach, Struktur und Funktion von Klassen dynamischer Systeme, deren Repräsentanten solche Merkmale aufweisen, mit zunehmender Vollkommenheit mathematisch zu beschreiben und modellmäßig zu erfassen […].“80

Tatsächlich liest sich dies wie ein Kommentar zu Art. 9 der Verfassung von 1974: Vgl. Die DDR-Verfassungen (FN 8), S. 74 – 76. Art. 12 DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 396 f. 76 Art. 14 DDR-Verfassung von 1974, in: ebd., S. 397. 77 Vgl. z. B. zur NEP Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 233 – 262. 78 Vgl. als zeittypischen Reisebericht Timothy Garton Ash, „Und willst du nicht mein Bruder sein …“ Die DDR heute, Hamburg 1981. 79 Vgl. z. B. Norbert Wiener, Kybernetik, in: Wörterbuch des Soziologie, hrsg. von Wilhelm Bernsdorf, Stuttgart 21969, S. 620 – 622; für den dezidiert technischen beziehungsweise technoiden Kontext der Kybernetik vgl. Bernhard Schäfers, Technik, in: ders., (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 62000, S. 392 – 397, 394. In den Niederlanden entwickelte sich seit den 1960er Jahren eine „planologie“ genannte, kybernetisch inspirierte sozioökonomische Steuerungswissenschaft; vgl. Friso Wielenga, Nederland in der twintigste eeuw, Amsterdam 2009, S. 219. 80 Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1 (FN 42), S. 701 f., 701, s. v. ,Kybernetik‘. 74 75

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„(1) Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln. Sie entwickelt sich gemäß den ökonomischen Gesetzen des Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der zielstrebigen Verwirklichung der sozialistischen ökonomischen Integration. (2) Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik dient der Stärkung der sozialistischen Ordnung, der ständig besseren Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Bürger, der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen. (3) In der Deutschen Demokratischen Republik gilt der Grundsatz der Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche. Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist sozialistische Planwirtschaft. Die zentrale staatliche Leitung und Planung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung ist mit der Eigenverantwortung der örtlichen Staatsorgane und Betriebe sowie der Initiative der Werktätigen verbunden. (4) Die Festlegung des Währungs- und Finanzsystems ist Sache des sozialistischen Staates. Abgaben und Steuern werden auf der Grundlage von Gesetzen erhoben. (5) Die Außenwirtschaft einschließlich des Außenhandels und der Valutawirtschaft ist staatliches Monopol.“81

Konsequent war daher auch die Einbeziehung von Wissenschaft und Bildung in den Steuerungskomplex von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der „Wissenschaftlich-Technischen Revolution / WTR“82 in Art. 17 (1): „Die Deutsche Demokratische Republik fördert Wissenschaft, Forschung und Bildung mit dem Ziel, die Gesellschaft und das Leben der Bürger zu schützen und zu bereichern. Dem dient die Vereinigung der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus.“83 Welche sozioökonomische und auch sozioökologische Katastrophe aus den Fünfjahresplänen resultierte, welche die SED und ihr Institutionengefüge aus dieser autoritären Variante der Kybernetik ableitete, hat Uwe Tellkamp am Beginn seines 2008 erschienenen DDR-Schlüsselromans „Der Turm“ eindrucksvoll nachgezeichnet: „[…] im Tiefseedunkel kroch das Spülicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB, in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlenkraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäder der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der Eisenhütten und der Industriezonen, die verstrahlte Beize der Uranbergwerke, Giftsuppen der Chemieanlagen 81 Art. 9 DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 395 f. 82 Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2 (FN 42), S. 1313: „[…] die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts beginnende qualitativ neue Stufe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, deren Kernstück in dem Übergang der Arbeitsfunktion der unmittelbaren Steuerung und Regelung der Maschinen und Anlagen vom menschlichen Gehirn auf technische Steuerungs- vor allem Regeleinrichtungen besteht.“ 83 Art. 17 (1) DDR-Verfassung von 1974, in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen (FN 14), S. 398.

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Leuna Buna Halle und der Kaliwerke, von Magnitogorsk und von den Plattenbaugebieten, die Toxine der Düngemittelanlagen, der Schwefelsäurefabriken; in der Nacht der Strom, weitverzweigt die Schlamm-, die Schlacke-, Erdöl-, ZellstoffFlüsse, Wasser verschmolzen zu einem großen pechträgen Band, darauf Schiffe fuhren, unter den rostigen Spinnweben der Brücken hindurch, in die Erzhäfen Getreidehäfen Südfrüchtehäfen die Häfen der 1000 Kleinen Dinge.“84

Das war eine Seite der Realität des größten, realsozialistischen Steuerungsexperiments in der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte auf der Grundlage der DDR-Verfassung von 1974.

V. Verfassungsstaat DDR? Die DDR war zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens ein Verfassungs- und Rechtsstaat, aber ihre drei Verfassungen bilden sehr genau ihre herrschaftsund gesellschaftspolitische Entwicklung ab. Um sich ihrer führenden Rolle zu vergewissern, verzichtete die SED nicht auf das Instrument des Verfassungsrechts. Dabei stand 1949 die Respektabilitätsgewinnung, 1968 die Selbstdefinition im Vordergrund, 1974 waren es Integration, Steuerung und Identität. Allein aufgrund der in diesem Prozess festzustellenden Brüche und Konzeptwechsel, die besonders deutlich im Übergang von Ulbricht zu Honecker auch mit personellen Wechseln an der Partei- und Staatsspitze einhergingen, war und ist die Frage lohnend, auf welche Weise sich die SED der Verfassung als Machtinstrument bedient hat.85 „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass im Falle von Änderungen der SED-Politik das Spektrum des Rückgriffs auf die Verfassung von deren Ignorierung über kleine Modifizierungen bis hin zur Umschreibung reichen kann.“86

Dies in Kontext der DDR-Geschichte als Geschichte einer modernen Diktatur einzuordnen, bleibt eine Aufgabe der verfassungsgeschichtlich aufgeklärten Zeitgeschichte. Den Wert einer solchen Perspektive hat Michael Stolleis in seiner „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ hervorgehoben. Den Erkenntnisgewinn der Staatsrechtsgeschichte sieht er vor allem darin, „[…] die Rechtswissenschaft der Vergangenheit zunächst einmal als Text-Dokument der damaligen Problemsicht ernst zu nehmen und sie aus ihrer historischen Situation heraus zu verstehen. Indem diese Texte den Zugang zur staatswissenschaftlichen inneren Konstitution des 19. Jahrhunderts vermitteln, führen sie, so paradox das klingen mag, zu den ,Dingen selbst‘. Geschichte ist sicher nicht als factum brutum greifbar, schon gar nicht mit dem Anspruch einer von Subjektivismen gereinigten Objektivität, aber insofern und insoweit die Dinge sprachlich konsti84

Uwe Tellkamp, Der Turm. Roman, Frankfurt am Main 2008, S. 7. So der Titel der oben genannten Broschüre der Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Verfassungen der DDR. Ein Machtinstrument der SED?, Bonn 41987 (FN 5). 86 Ebd., S. 61. 85

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tuiert sind, kann die Analyse vergangener Sprache klären helfen, wie die damalige rationale und emotionale Weltdeutung und Welterfahrung sprachlich gefaßt und damit ,Realität‘ wurden.“87

Für die DDR-Geschichte ist das weitgehend noch zu leisten.

87 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1800 – 1914, München 1992, S. 6 f.

Aussprache Gesprächsleitung: Lück

Lück: Vielen Dank für das spannende Referat. Wir haben etwa zwanzig Minuten für die Diskussion. Ich bitte um Wortmeldungen – bitte konzentriert und prägnant, ebenso wie die Antworten. Frau Cancik, Sie haben das Wort. Cancik: Herr Kunze, vielen herzlichen Dank für diesen konzisen und klaren Vortrag. Sie haben die Seite der Verwaltungsrechtswissenschaft ganz ausgespart, vielleicht aus gutem Grund. Ich würde gerne einmal nachfragen, ob diese Wandlungen, die Sie sehr deutlich skizziert haben, irgendwo in der Rechtswissenschaft einen Niederschlag gefunden haben. Wir haben ja in der Verwaltungsrechtswissenschaft diesen seltsamen Befund, dass für einige Jahre das Verwaltungsrecht als Wissenschaftsdisziplin sozusagen ausgesetzt war und dann mit den 1980er Jahren wieder vorsichtig aufgegriffen wird. Wie ist das für die verfassungsrechtswissenschaftliche Seite zu sehen? Kunze: Frau Cancik, vielen Dank. Ich muss ganz klar sagen, dass ich hier nur innerhalb der Grenzen meiner zeitgeschichtlichen Kompetenz argumentieren kann und will – dem diente ja in gewisser Weise schon der Zuschnitt der ganzen Präsentation. Soweit ich das beurteilen kann und im Blick habe, die vielen Autorenkollektive überhaupt zu entschlüsseln in der Lage bin, die sich da seit den 1980er Jahren wieder äußern an bestimmten Zentren dessen, was man als Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR bezeichnen kann, verstehe ich sie als strikt und konsequent funktional, den politischen Leitlinien zugeordnet, die auf den Parteitagen beschlossen werden. Das ist im Übrigen auch nicht weiter erstaunlich. Es ist eigentlich nur das, was erwartbar ist – es geht sogar über den üblichen Kotau, das übliche Verbeugen vor dem Parteitag hinaus, denn es werden zum Teil wörtlich, wirklich bis auf das Komma genau, die Vorgaben der Parteitage umgesetzt. Da muss ich mich mit meinem sehr geringen, von außen kommenden Wissen um die Relevanz von Staats- und Verwaltungsrecht, so wie es Herr Stolleis dargestellt hat in seiner Geschichte des Öffentlichen Rechts, fragen, ob ich den Begriff dann als Zeitgeschichtler überhaupt noch anwenden möchte. Es erinnert mich eher an Zeremonialwissenschaft, was da betrieben wird. Lück: Vielen Dank. Der nächste Diskutant ist Herr Kotulla. Bitte.

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Kotulla: Herr Kunze, mich würde zunächst einmal interessieren, was aus Ihrer Sicht eigentlich ein Verfassungsstaat ist. Das zunächst, weil zum Zweiten damit natürlich zusammenhängt, was denn nun als Bewertung am Ende herauskommt. Bei allem, was man zur DDR sagen mag: Immerhin weist sie drei Verfassungsurkunden aus. Da ist der Befund zunächst einmal verblüffend zu sagen, die DDR sei kein Verfassungsstaat. Man kann darüber streiten, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ war – diese Diskussion führt am Ende aber nicht wirklich weiter, gleich was man auch immer dazu sagen möchte. Aber das mit dem Verfassungsstaat machen Sie sich ein wenig zu einfach – beziehungsweise, dass die DDR kein Verfassungsstaat gewesen sei. Ich würde mir wünschen, dass Sie dazu vielleicht etwas Klarstellendes sagen könnten. Danke. Kunze: Vielen Dank, Herr Kotulla. Das kann ich sehr gerne versuchen, und ich denke, am besten dadurch, dass ich auf einen Begriff verweise, der in der Diskussion auch schon einmal eine Rolle gespielt hat: Dass es zumindest aus meinem Verständnis als Zeithistoriker und Nicht-Jurist nicht nur ein law on the books gibt, das einen Verfassungsstaat formal konstituiert, sondern eben auch so etwas wie einen Schleier, der sich darum legt. Also eine ganz bestimmte Vorstellung von einem Normengefüge, das eben letztlich auch eine bestimmte Qualität von verfassungsgemäßer Herrschaft etabliert. Das ist für mich eine Vorstellung, von der ich nicht abgehen möchte. Ich verwies nicht ganz ohne Grund auf die Begriffsunterscheidungen von Herrn Schmidt-De Caluwe, die ich sehr präzise finde, denen ich auch nur zustimmen kann. Aber ich kann einfach nur sagen: Ich bin kein Jurist. Ich habe eine bestimmte Vorstellung von einem Verfassungsstaat und einem demokratischen Rechtsstaat, und an der möchte ich durchaus in bestimmten Aspekten normativ festhalten. Lück: Vielen Dank. Herr Härter hat sich als Nächster zu Wort gemeldet. Härter: Vielen Dank für diesen Überblick. Er hat sich ja sehr stark darauf konzentriert, die Verfassungsentwicklung aus der Perspektive ihrer Funktion für die Ausübung von Herrschaft darzustellen. Deswegen wollte ich nochmal in zwei Richtungen fragen und im Grunde auch von diesem funktionalistischen Ansatz ausgehen. Einmal könnte man fragen: Welche Rolle haben diese Verfassungen eigentlich gespielt, um im Rahmen des Staates, im Rahmen der Funktionäre beziehungsweise Funktionseliten doch eine gewisse Funktionsfähigkeit eines solchen Staates sicherzustellen? Es gibt ja starke Konkurrenz in diesem System, und eine Verfassung kann ja durchaus auch dazu dienen, wenn man das historisch etwas weiter fasst, innerhalb eines solchen Systems die Konkurrenz und die Reibungsverluste zwischen denjenigen, die da Funktionen ausüben, einzudämmen, indem sie gewisse Spielräume festsetzt. Da wäre also die

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Frage: Haben diese drei Verfassungen das leisten können, oder haben sie einen Beitrag dazu geleistet? Und die andere Frage, weil es im Referat angedeutet wurde: Wie ist eigentlich die Bevölkerung mit diesen Verfassungen umgegangen? Welche Rolle hat sie da gespielt? Es ist ja angedeutet worden: Eigentlich hätte eine Verfassung eine Basis bilden können für eine Veränderung in der DDR. Gibt es folglich Aspekte in der Verfassung, die gar nicht funktional sind für die Ausübung von Herrschaft, sondern einen „produktiven Umgang“ der Bevölkerung ermöglichen, der auch eine gewisse Gefährdung des Systems bedeuten kann? Wie also geht eigentlich die Bevölkerung der DDR mit der Verfassung um und welchen Stellenwert können wir dem zumessen? Kunze: Herr Härter, vielen Dank. Ich fange mal hinten an: Umgang der Bevölkerung mit ihrer Verfassung. – Wie gesagt, auf das Ende habe ich ja schon hingewiesen, dass eben auf den Transparenten etwas eingefordert wurde, womit die Bürgerrechtsbewegung des Jahres 1989 auch argumentieren wollte: Menschen- und Grundrechte. Auf der anderen Seite kann man sagen, das fällt mir eben gerade ein: Die Präsenz der Verfassung im Schulunterricht im polytechnischen System der DDR war verhältnismäßig hoch mit einem Höhepunkt in den 1960er Jahren. Klar, dass man von Lehrplänen nicht unbedingt zurückschließen darf auf das, was in den Köpfen wirklich auch verankert ist – aber immerhin, in den Lehrplänen stand es in hohem Maß drin. Also es gab eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Gehalten dieser Verfassung, das nahm aber in der Honecker-Zeit dann auch in den Lehrplänen, soweit ich zeitgeschichtliche Befunde erinnern kann, ein wenig ab. Wie ich nun insgesamt die Präsenz der DDR-Verfassung im Bewusstsein der Öffentlichkeit der DDR einschätzen kann, daran kann ich mich so ohne Empirie nicht trauen. Das möchte ich eigentlich auch offen lassen, weil mir da die Befunde fehlen, beziehungsweise die Anknüpfungsmöglichkeiten, woran ich das messen soll. Da müsste doch erst sehr viel systematischer ausgewertet werden, in welchen Ego-Dokumenten das beispielsweise eine Rolle spielt. Dass die DDR-Verfassung in den Medien, zum Beispiel im „Neuen Deutschland“, mit unterschiedlichen Konjunkturen im Vorfeld der Parteitage sehr oft vorkommt und zitiert wird, das wird nicht überraschen – aber das würden wir alle nicht mit „Bevölkerung“ gleichsetzen wollen. Also das ist ein Postulat der Forschung. Dann Ihre Frage zu Konflikt-Regulierungsmechanismen: Ja, das ist wahr, das wäre auch ein ganz anderes Referat gewesen. Vor allem die Verfassung von 1974 bietet ja, vor allem für den wirtschaftlichen Bereich – daher auch dieser Hinweis auf die Kybernetik, durchaus state of the art in ihrer Zeit – Angebote, wie man bestimmte Dinge regeln kann und wie sie tatsächlich dann auch in der wirtschaftlichen Organisation der Kombinate in den 1970er

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Jahren geregelt worden sind. Aber nicht nur das – die Verfassung von 1974 gibt unter anderem auch den Betrieben, den VEBs, Möglichkeiten an die Hand, gleichsam mediatorische Verfahren durchzuführen, die natürlich auch wieder etwas zu tun haben mit dem FDGB und einer gewissen Machtnähe, die aber durchaus den Charakter eines gewissen Konflikt-Regulierungsmechanismus unter den Bedingungen des realexistierenden Sozialismus haben. Insofern ist die Antwort auf Ihre Frage ganz eindeutig: Ja! Zumindest die Verfassung von 1974 mit diesem sozioökonomisch wichtigen Teil hat diese Funktion eines Regelungswerks. Die Funktionsfähigkeit der DDR durch die Verfassung – im Grunde genommen lauter Argumente für Sie, Herr Kotulla: Ja, unter diesem Aspekt gibt es die DDR auch als Verfassungsstaat, das muss ich Ihnen konzedieren. Das ist aber eine Perspektive, die ich so nicht hatte bei meinem Beitrag. Die Verfassung von 1974 zeigt, dass die sich langsam konsolidierende SEDHerrschaft in der DDR auch ein genuines Instrument des Elitenaustauschs und des Elitenaufstiegs ist, weil die Institutionen, die hier beschrieben werden, in besonderer Weise ja auch die sind, in denen sich die neuen Eliten dieser DDR wiederfinden. Insofern ist das für die Funktionalität dieses Systems ohne Frage von erheblicher Bedeutung. Lück: Vielen Dank. Wir haben erfreulich viele Wortmeldungen. Ich möchte – mit Blick auf die Zeit – diese bündeln; es sind, vorerst, acht Diskussionsredner auf der Liste. Der nächste ist Herr Nicklas. Nicklas: Ich hätte eine Nachfrage zu dem Standort der fünf Verfassungen – also nicht der drei Verfassungen, die Sie vornehmlich interessierten – innerhalb der deutschen Verfassungsgeschichte. Mir geht es da um die Länderverfassungen von 1946/1947 innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone, die ja nun gewiss ein ephemeres Phänomen waren, die man aber vielleicht auch kurz würdigen kann. Diese Länderverfassungen, sind sie sozusagen dem Typus der Weimarer Reichsverfassung zuzuordnen, der jeweils multipliziert wurde, oder gibt es da auch Rückgriffe auf genuine Verfassungstraditionen, die ja zumindest regional sehr ausgeprägt waren, beispielsweise in Sachsen oder auch in Thüringen? Lück: Vielen Dank. Herr Lingelbach. Lingelbach: Danke, Herr Kunze, dass Sie sich dieses schwierigen und gleich so breiten Gegenstandes angenommen haben. Ich habe zwei Fragen. Sie qualifizierten die 1949er Verfassung als „propagandistisch zustande gekommen“, dass das das Hauptmotiv gewesen sei. Sicherlich, für SED-Funktionsträger trifft das uneingeschränkt zu. Aber würden Sie das auch für all die aufrecht erhalten, die aus der liberalen Bürgerlichkeit gekommen sind? Hermann Brill und andere.

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Die zweite Frage bezieht sich auf die 1968er Verfassung und das vorangegangene Referendum im April 1968; wie bewerten Sie das? Sicherlich gab es Fälschungen, aber doch auch eine relativ hohe Akzeptanz – Oder sagen Sie, das ist alles nur auf dem Papier erfolgt? – Danke. Lück: Vielen Dank. Herr Kohl, bitte. Kohl: Ich komme noch einmal auf die gestrige Terminologie zurück: Verfassungsänderung und Systemwechsel. Offensichtlich sind das hier Verfassungsänderungen, die aus der heutigen Perspektive bestenfalls Akzentverschiebungen bringen, aber keinen Systemwechsel. Da stellt sich für mich wieder die Frage der Wahrnehmung, die zwei Aspekte aufweist: Den einen haben Sie bei der Beantwortung der Frage von Herrn Härter schon thematisiert, nämlich die Darstellung innerhalb der DDR. Auf den zweiten Aspekt zielt meine Frage: Wie wurden denn diese Verfassungsänderungen im Westen aufgenommen? – Danke. Lück: Vielen Dank. Dann noch Herr Brauneder in diesem ersten Block. Brauneder: Nur eine ganz kurze Frage: Haben sich Einfachgesetze auf die Verfassung berufen? Beispielsweise: Gemäß Artikel sowieso über den Schutz der sorbischen Minderheit ergeht jetzt das Gesetz über den Gebrauch der sorbischen Sprache. Gibt es sozusagen handfeste Ausführungsgesetze zu den Verfassungsbestimmungen? Lück. Vielen Dank. Sie haben das Wort, Herr Kunze. Kunze: Ich fange wieder hinten an. Herr Brauneder, da muss ich leider passen, das kann ich ohne nachzusehen nicht beantworten. Ich weiß es nicht, muss ich ehrlich gestehen, insofern bin ich auch kein Spezialist für diesen Regelungsbereich. Ich bin sehr dankbar, wenn es jemand wüsste, aber ich kann das so direkt einfach nicht beantworten. Herr Kohl, zur Sicht des Westens: Danach habe ich natürlich in der Recherche auch gesucht, ob es da besonders griffige Einschätzungen irgendwo gibt. Es gibt eine gewisse kritische Prosa, die sich auf der Linie bewegt, an die man denken kann in der veröffentlichten Meinung der Bundesrepublik von FAZ bis Spiegel, sowohl 1968 als auch 1974. Da steht allerdings doch recht klar die Polemik im Vordergrund. Es gibt allerdings auch eine sehr weitgehende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Veränderungen, und zwar im Umfeld der politischen Stiftungen. Von der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es eine Reihe von Broschüren Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre, die sich gleichsam im Sinne einer Kommentierung vergleichend auseinandersetzen mit den DDR-Verfassungen von 1949 und 1968, um gegenüberzustellen, was sich tatsächlich verändert hat. Das hat eher einen nüchternen, einen sehr sachlichen Charakter, da geht es nicht um die Pauschal-

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denunziation der DDR als Regime. Soweit ich mich mal im Überblick mit der veröffentlichten Meinung des Westens beschäftigt habe nach 1968 und nach 1974, stehen da allerdings sehr plakative, sehr prononcierte Thesen im Vordergrund, die vor allem auf das Stichwort „Herrschaftskritik“ in der DDR zu bringen sind, Strategien der SED zur weiteren Sicherung ihrer Macht. Da schürfte dann die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung schon etwas tiefer. Da ich selbst als Historiker vorwiegend auf die Niederlande gucke, interessieren mich natürlich auch niederländische Reaktionen. Man darf nicht vergessen: Honecker hat 1973 einen ersten Staatsbesuch in den Niederlanden gemacht, insofern war es erwartbar, dass es auch dort Reaktionen gibt auf das, was 1974 passierte. Die gab es in der veröffentlichten Meinung, und ich muss gestehen, diese Reaktionen haben mich eigentlich auf dieses Thema der kybernetischen Steuerung überhaupt erst gebracht, das in den Niederlanden damals besonders wichtig und unter einer Linksregierung besonders hoch aufgehängt war. Dies wurde in der veröffentlichten Meinung in den Niederlanden sehr freundlich gewürdigt, dass hier ein Ostblockstaat wie die DDR Versuche macht, Wirtschaft und Gesellschaft planend zu steuern. Dafür gab es in den Niederlanden einen eigenen Begriff, den der planologie. Das wird also durchaus positiv gewürdigt und hervorgehoben als ein interessantes Entwicklungspotential eines Ostblockstaates, ganz unabhängig von Herrschaftsfragen. Herr Lingelbach, zu Ihren zwei Punkten: Zur Akzeptanz im Umfeld von 1968: Soweit ich es aus Quellen einschätzen oder auch aus der Literatur rückschließen kann, die sich damit beschäftigt, hat der Verfassungsprozess von 1968 hin zur Ulbricht-Verfassung durchaus eine gewisse Akzeptanz über die reine Kader-Ebene hinaus gehabt, weil Ulbricht bemüht war, hier eine DDR zu charakterisieren, die nicht mehr nur ein Provisorium ist, sondern ein etablierter Staat – nicht nur im Ostblock-Gefüge, sondern auch darüber hinaus –, der sich langsam ein bestimmtes Renommee erarbeiten kann und vor allen Dingen eine eigene Identität entwickelt. Es gibt in der Literatur der DDR die eine oder andere Spur, aus der man durchaus schließen kann, dass – um es so auszudrücken – gegen Ende der 1960er Jahre langsam ein DDR-Bewusstsein wuchs, dessen Ausdruck unter anderem auch diese Verfassung war. Durch diesen Umweg möchte ich die Akzeptanzfrage beantworten. Ja, die hat es sicherlich gegeben, und die hängt für mich in der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung zusammen mit einer wachsenden Akzeptanz der DDR als Staat und System, sieben, acht, neun Jahre nach dem Mauerbau unter sich wandelnden Bedingungen und neuen Chancen. Zur Frage nach dem „propagandistischen“ Zustandekommen der 1949er Verfassung und dem Hinweis auf die – in der Diktion der DDR – „bürgerlichen Antifaschisten“: Die hat es sicherlich gegeben. Inwieweit sie selbst die Allianz mit der SED dominiert haben, bestimmen konnten, weiß ich noch nicht einzuschätzen. Ich sehe eine Mischung aus faktischen Elementen und

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Überzeugung. Aber ich gebe Ihnen Recht, Herr Lingelbach, ich will die Überzeugung nicht komplett aus der Geschichte permutieren. Herr Nicklas, Länderverfassungen in der DDR: Soweit ich das in den Blick nehmen kann, sind es keine Kopien der Weimarer Reichsverfassung, sondern durchaus genuine Länderverfassungen, die sich bemühen, auf eigene Identitäten – Sie wiesen ja auf die sächsische Geschichte hin – einzugehen. Das ist ja auch genau der Grund, weshalb die SED so ängstlich in den frühen 1950er Jahren genau das aus herrschaftlichen Gründen beseitigte – um eben diese unangenehme Konkurrenz einer parallelen oder alternativen Identität nicht mehr fürchten zu müssen. Denn in der Tat gab es ja in den Landtagen durchaus auch politische Debatten und auch diese von Herrn Lingelbach angesprochenen bürgerlichen Kräfte, die „bürgerlichen Antifaschisten“ mehr oder weniger in Zusammenarbeit mit der SED, die zum Teil durchaus einen Aufbau des Sozialismus in sächsischen, thüringischen oder brandenburgischen Landesfarben betrieben haben. Das war etwas, was die SED überhaupt nicht haben wollte – jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Die Wiedererfindung historischer Territorialidentität, das ist eine Geschichte der 1970er / 1980er Jahre und des Preußenkultes – Friedrich darf wieder Unter den Linden reiten, selbst Luther wird im Lutherjahr außerordentlich gefeiert, ein Eisenbahn-Jubiläum jagt das nächste, und so weiter. Das spielt dann eine entscheidende Rolle, aber eben top down, und nicht von unten nach oben. Lück: Vielen Dank. Die Rednerliste ist noch lang, wir kommen zu einem letzten Durchlauf. Herr Würtenberger hat das Wort, dann Herr Simon, Herr Frotscher, Herr Neitmann, Herr Kraus und dann noch Herr Lutterbeck. Dann müssen wir aber wirklich schließen, wir sind schon über die Zeit. Ich bitte um Prägnanz, kurze Fragen und auch knappe Antworten. Würtenberger: Ich möchte nochmals auf die Frage von Herrn Kotulla zurückkommen und folgendes bemerken: Die DDR-Verfassung von 1974 ist im Dezember1989/Januar 1990 dahin geändert worden, dass man die Vorrangstellung der SED beseitigt hat. Das erfolgte mit Zweidrittelmehrheit, also gemäß den Bestimmungen über die Verfassungsänderung in dieser Verfassung selbst. Wenn wir uns von einem verfassungsstaatlichen Standpunkt dieser Frage nähern, so war dies eigentlich Verfassungsgebung, keine Verfassungsänderung. Denn wenn die zentrale politische Position der SED beseitigt war, war die Identität der Verfassung nun eine andere. Sie haben mit Recht gesagt, dass man wohl bereits Ende Dezember, jedenfalls dann aber im Januar festgestellt hat, dass die Verfassung von 1974 liberale Grundrechte hat. Und Sie haben insbesondere auf die Versammlungsfreiheit hingewiesen, von der man intensiv Gebrauch gemacht hat. Ich habe mich immer gefragt: Wie kamen diese Grundrechte eigentlich in diese Verfassung? In einem autoritären System haben solche Grundrechte keinen

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Platz. Zur Erklärung haben Sie auf den Helsinki-Prozess hingewiesen. Oder war es nicht auch die Übernahme der UNO-Deklarationen? Dann kämen wir nämlich zu dem Phänomen, dass viele autoritäre Staaten diese UNO-Deklarationen anerkannt haben – das ist kein reines DDR-Phänomen –, sie auch in ihre Verfassungsordnungen mit aufgenommen haben, aber nicht genau gewusst haben, was sie da eigentlich unterschreiben. Ich weiß nicht, ob es auch der völkerrechtliche Druck seitens der UNO gewesen ist, der dazu geführt hat, dass hier Verfassungsartikel aufgenommen wurden, die einfach nicht in das System passten. Kunze: Darf ich kurz? Lück: Aber sicher. Kunze: Dann gehe ich schnell darauf ein – vielen Dank, Herr Würtenberger. Ja und Ja! Ja in dem einen Fall zu Ihrer Einschätzung 1974 / 1989. In der Tat, da kann ich nur zustimmen. Im zweiten Fall, 1974, spielt der Helsinki-Prozess, soweit man das aus den inneren Diskussionen der Kader untereinander rekonstruieren kann, wohl die entscheidende meinungsbildende Rolle. Aber es gab auch die andere Frage der UN-Deklaration. Insofern kann es in der Tat so gewesen sein, wie Sie das beschrieben haben: Unterschreiben und sehen, was passiert. Lück: Vielen Dank. Herr Simon, bitte. Simon: Nun führt ja die Tradition des Wortes „Verfassung“, auch „Verfassungsstaat“ ins 19. Jahrhundert und in den Kontext der bürgerlichen Verfassungsbewegung. Das Wort „Verfassung“ und die ganze Welt drum herum haben eine Tradition, die ja ziemlich stracks derjenigen Tradition entgegengesetzt ist, die die DDR vertreten möchte. Das Proletariat ist eine andere Klasse als die, die im 19. Jahrhundert das Konzept des Verfassungsstaates formuliert hat. Gab es den Versuch sozusagen dieser bürgerlichen Tradition des Verfassungsstaates und des Verfassungsbegriffs eine spezifisch sozialistisch-proletarische entgegenzuhalten, so etwas auszuarbeiten? Beim Rechtsstaat, glaube ich, gab es solche Ansätze – gab es das auch beim Verfassungsbegriff? Lück: Dann Herr Frotscher. Frotscher: Meine Bemerkung kann sich anschließen; ich möchte die begriffliche Nachfrage von Herrn Kotulla nochmal aufnehmen. Ich glaube, es handelt sich nicht nur um einen Streit um Begriffe, sondern dahinter steht auch eine eminente politische Bedeutung. Zu dem Begriff „Verfassung“ findet man in der Literatur inzwischen viele Definitionen, die diesen Begriff mit allen Attributen aufladen wollen, die wir heute für gut und richtig halten. Das ist m. E. ein falscher Ansatz. An den „Verfassungsstaat“ müssen

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wir ähnlich vorsichtig herangehen, weil es sonst unmöglich ist – was Sie eben auch angedeutet haben –, die Erscheinungen der Vergangenheit noch richtig einzuordnen. Bei der „Verfassung“ selbst müssen wir uns darauf beschränken zu sagen: Das ist eine rechtliche Grundordnung. Ob diese gut und richtig ist, spielt keine Rolle. Beim „Verfassungsstaat“ möchten wir zu einer gewissen Wertung kommen, um die Entwicklung hin zu dem modernen Verfassungsstaat darzustellen. Wir sollten das dann aber auch deutlich machen und etwa von einem „demokratischen Verfassungsstaat“ sprechen, oder von einem „Verfassungsstaat westlich-demokratischer Prägung“. Andernfalls missbrauchen wir den „Verfassungsstaat“ als politischen Kampfbegriff und setzen ihn gegen Systeme ein, mit deren politischer Verfassung wir nicht einverstanden sind. Denken Sie auch an die Geschichte: Wir sprechen alle davon, dass Preußen 1850 ein Verfassungsstaat geworden ist, aber sicherlich war Preußen nicht demokratisch, und insofern dürften wir dann diesen schönen, positiv besetzten Verfassungsbegriff gar nicht mehr verwenden. Deshalb mein vermittelnder Vorschlag: Wir setzen ein Adjektiv zur Verdeutlichung der positiven oder negativen Verfassungsinhalte hinzu und können mit dem Grundbegriff die gesamte geschichtliche Entwicklung abdecken. – Vielen Dank. Lück: Danke. Die Liste der Wortmeldungen wird immer länger, ich möchte daher noch einmal eindringlich auf das Zeitbudget hinweisen. Ich habe jetzt noch Herrn Neitmann, Herrn Kraus, Herrn Lutterbeck, Herrn Dann und Herrn Hillgruber auf der Liste – und dann müssen wir wirklich zum Ende kommen. Also, Herr Neitmann. Neitmann: Meine Bemerkung knüpft an den Beitrag von Herrn Nicklas an und bezieht sich auch auf die Länderverfassungen, die nach 1945 erarbeitet und verabschiedet worden sind. Mir scheint es insofern nützlich und förderlich zu sein, sie in die Betrachtung einzubeziehen, als die Verfassungsdiskussion in der Sowjetischen Besatzungszone eben nicht mit der Verfassung von 1949, sondern mit der Debatte um die Länderverfassungen 1946 / 1947 einsetzt. Diese Debatte scheint mir überaus aufschlussreich zu sein für die damalige Phase der Nachkriegspolitik, der Nachkriegssituation. Wir befinden uns ja, wenn ich mich der Terminologie der Zeitgenossen bedienen darf, in der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“, also in einer Phase, in der auf der einen Seite – das sehen Sie in den Erörterungen der Länderparlamente ganz deutlich – angeknüpft wird an die Weimarer Reichsverfassung beziehungsweise an Verfassungsprinzipien einer bürgerlichen Verfassungstradition, aber andererseits kommen schon die neuen Elemente in die Debatte hinein. Also die beginnende gesellschaftliche Umwälzung in der Sowjetischen Besatzungszone; ich nenne nur zwei Beispiele: Diese Verfassungen gehen alle, ausgesprochen oder unausgesprochen, von den Ergebnissen der Bodenreform des Herbstes 1945 aus, also von der damit

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verbundenen Eigentumsumwälzung. Es gibt dann auch – mir ist das aus den brandenburgischen Verhältnissen näher bekannt – eine Debatte um die Gewaltenteilung insofern, als insbesondere auch die Stellung der Judikative diskutiert wird, die Unabhängigkeit der Richter in Zweifel gezogen wird, dagegen das Konzept des Volksrichters gestellt wird. Und zwar mit dem Hinweis darauf, dass doch eben der unabhängige Richter sich durch seine Tätigkeit nach 1933 diskreditiert habe. Man findet in diesen Debatten wieder, in welcher Art und Weise in diesen Jahren 1946/1947 bis ins Jahr 1948 hinein gerungen wird zwischen der Wiederaufnahme von Verfassungsprinzipien Weimars und der Umsetzung der neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Debatten scheinen mir auch interessant zu sein unter dem Gesichtspunkt, dass das Ergebnis noch nicht von vorn herein in jeder Beziehung präjudiziert ist. Sie finden ja in Länderparlamenten statt, die 1946 gewählt worden sind und die noch nicht die uneingeschränkte Vorherrschaft der SED kennen. Es gibt noch bürgerliche Parteien, die durchaus eigenständig, in Einzelfragen zumindest auch gegen die SED argumentieren. Insofern wäre ich auch ein bisschen vorsichtig mit Ihrer eben in der Diskussion gemachten Aussage, dass diese anderen Parteien den Aufbau des Sozialismus in den Ländern angestrebt hätten. Ob denen wirklich der Sozialismus als erstrebenswertes Gesellschaftsbild vor Augen stand, wage ich doch etwas zu bezweifeln. Lück: Vielen Dank. Herr Kraus. Kraus: Ich mache es kurz und habe zwei Fragen: Die erste bezieht sich auf den eigentlichen Schöpfer der ersten DDR-Verfassung. Man weiß ja, das war Karl Polak, Ulbrichts engster Rechtsberater, der mit ihm in der Moskauer Emigration gewesen war, später ja auch im Staatsrat. Polak hat die sogenannte Eingewaltenlehre entwickelt, die er der westlich-liberalen Gewaltenteilungslehre entgegensetzte. Er sagte, es gibt in der DDR nur eine einzige Gewalt, das ist die Gewalt, die vom werktätigen Volk ausgeht. Das werktätige Volk ist in der Volkskammer repräsentiert, deswegen ist die Volkskammer sozusagen das zentrale und wichtigste Verfassungsorgan der DDR. Das ist ja sozusagen die leitende Verfassungsinterpretation in der DDR gewesen. Mich würde mal interessieren, wie weit diese Eingewaltenlehre als zentrale Verfassungsinterpretation auch noch später, ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren weitergetragen worden ist. Die zweite Frage bezieht sich auch auf den Verfassungswandel. Der bekannteste Artikel in der ersten DDR-Verfassung war dieser berüchtigte Boykotthetze-Artikel, der das pseudorechtliche Vehikel war, mit dem man die Opposition verfolgt und unterdrückt hat. Der fällt weg in der zweiten und dritten Verfassung, den gibt es dann nicht mehr. Hat man das 1960 irgendwie begründet, warum der nun entfällt, warum man den nicht mehr braucht, oder hat man den einfach stillschweigend wegfallen lassen? – Danke.

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Lück: Herr Lutterbeck. Lutterbeck: Das sind ja jetzt schon ganz furchtbar viele Fragen gewesen. Ich will nur eine Perspektive andeuten und wüsste gerne, ob Sie das für eine sinnvolle Perspektive halten. Ich gehe aus von dem Verfassungsbegriff und von der funktionalistischen Umdeutung des Verfassungsbegriffs – wie Sie vorgetragen haben – der Verfassung von 1974. Sie haben das dann parallelisiert – was mich sehr gefreut hat – mit der Bologna-Reform, dass da eine gewisse Identität bestehe. Ich frage mich, ob die eigentliche Idee, die dahintersteht, nicht eine kybernetische ist. Dass also bei beiden, um es in meinen Worten zu sagen, sozusagen die Herrschaft von bestimmten Gesetzlichkeiten in den Vordergrund treten soll – der Sachgesetzlichkeiten, kann man ja auch sagen. Und wenn das so ist, da knüpfe ich jetzt an: Sie haben eben im Kommentar gesagt, das habe nichts mit Herrschaftsfragen zu tun gehabt oder habe keinen Herrschaftsbezug. Wenn es aber so ist, dass die Sachgesetzlichkeiten eines kybernetischen Regelkreises herrschen sollen, dann ist es ja vielleicht doch so – oder könnte so sein, auch wenn man sich das vielleicht nicht bewusst gemacht hat –, dass die Herrschaft der Sachgesetzlichkeiten an die Stelle der Herrschaft durch Personen treten soll. Wenn Sie das akzeptieren würden, wäre meine Frage, ob das nicht dann doch einen spezifischen Bezug hat zu einer sozialistisch-kommunistischen Theorie, Ideologie, dass dahin eine Perspektive aufzuzeigen ist. Und wenn das so ist, dann müsste man eben doch wieder eine ganz klare Grenze ziehen oder eine Unterscheidung einfügen zu solchen Prozessen, die sich in der Gegenwart in der Westgesellschaft zeigen. Lück: Danke schön. Herr Dann. Dann: Ich möchte gern darauf hinweisen, dass es neben den drei Verfassungen der DDR, die wir hier diskutiert und behandelt haben, noch eine vierte gegeben hat – jene Verfassung, die durch die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer der DDR unmittelbar in Auftrag gegeben wurde und von der ich ein Exemplar, auf schlechtem DDR-Papier gedruckt, bis heute bewahre. Sie ist Ausdruck eines beachtlichen verfassungspolitischen Gestaltungswillens. Man sollte sie nicht aus dem Auge verlieren, denn sie gehört als ein letzter Punkt zur DDR-Verfassungsgeschichte. Lück: Vielen Dank. Letzter Diskussionsredner ist jetzt Herr Hillgruber. Bitte. Hillgruber: Ich will es auch kurz machen – drei Anmerkungen. Erstens zum Verfassungsbegriff: Ich glaube es geht nicht nur darum, dass er jetzt zum Kampfbegriff wird, wie Herr Frotscher meinte, sondern schon um inhaltliche Substanz. Bestimmte Inhalte jedenfalls gehören zur Verfassungsstaatlichkeit dazu, etwa die Vorstellung vom Vorrang der Verfassung. Wir

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können natürlich der Auffassung sein, dass Art. 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 ein Verfassungsbegriff zugrundeliegt, der ein Kampfbegriff ist – das kann man natürlich so sehen. Das ist jedenfalls nicht per se illegitim und eine durchaus denkbare Kategorie, die man anlegen kann. Zweite Bemerkung: Ich glaube schon, die vorgestellte Deutung der ersten DDR-Verfassung von 1949 ist etwas euphemistisch. Sie mag auf den ersten Blick, als Fassade, aussehen wie die Weimarer Reichsverfassung. Aber wenn man etwas genauer hineinsieht, merkt man, dass sie davon schon meilenweit entfernt ist. Das gilt für den von Herrn Kollegen Kraus angesprochenen Gewaltenmonismus, der dem Ganzen zugrunde liegt, also die klare Absage an die Gewaltenteilung – etwa Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz, wenn man Art. 132 der Verfassung liest. Da wird eigentlich schon deutlich, deshalb ist der Satz von der propagandistischen Funktion völlig richtig, dass die vermeintliche Ähnlichkeit mit der Weimarer Verfassung nur die Fassade ist, schon entkernt, eigentlich was ganz Anderes. Die letzte Bemerkung betrifft die Frage der Grundrechte: Ich glaube, da liegt auch ein Missverständnis vor. Erstens, der Grundrechteteil der Verfassung von 1968 ist 1974 nicht geändert worden. Das heißt, er kann keine Reaktion auf den KSZE-Prozess sein, er ist älteren Datums. Zweitens, diese „Grundrechte“ haben mit dem, was wir unter Grundrechten zu verstehen pflegen, nichts gemein. Alles andere wäre ein Missverständnis, dem vielleicht auch das Bundesverfassungsgericht erlegen ist, als es sich mit der sogenannten Regierungskriminalität der ehemaligen DDR beschäftigen musste. Es wird häufig der Versuch unternommen, die DDR-Verfassung rückblickend rechtsstaatlich umzuinterpretieren, aber das wäre völlig verfehlt. Die Vorschriften lassen eigentlich auch gar keinen Zweifel daran, wie sie zu verstehen sind. So heißt es sowohl bei der Versammlungs- als auch bei der Vereinigungsfreiheit, in den Art. 28 und 29, dass diese Rechte im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung bestehen. Und diese Grundsätze und Ziele der Verfassung werden – das ist die Schlüsselnorm, auf die Herr Würtenberger zurecht hingewiesen hat, Art. 1 Abs. 1 S. 2 der DDR-Verfassung – eben von der Partei, der die führende Rolle zukommt, authentisch interpretiert. Außerdem gibt es die Einheit von Rechten und Pflichten und so weiter. Als die Demonstranten 1989 auf ihren Plakaten diese Bestimmungen angeführt haben, werden sie – das waren ja kluge Leute –, diese Bestimmungen nicht missverstanden haben, wie das in der Bundesrepublik zum Teil passiert ist. Die wussten ganz genau, was diese Vorschriften bedeuten und was sie nicht bedeuten, aber sie wussten natürlich, dass die Berufung auf diese Vorschriften der DDR-Verfassung für sich genommen zunächst mal nicht angreifbar ist. Sie haben sich also den instrumentellen Charakter dieser Verfassung, auch dieser Grundrechtsbestimmungen, zunutze gemacht – und das mit vollem Recht.

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Lück: Vielen Dank. – Herr Kunze, es ist nun an Ihnen, diese vielen komplexen Fragen und Anmerkungen irgendwie zu bündeln, auch wieder in einer möglichst knappen Antwort. Bitte. Kunze: Ich tue das zunächst mit dem Satz, dass ich Ihnen allen danke. Der Zeithistoriker – tendenziell vielleicht zur Unterkomplexität neigend – lernt gern. Vor allen Dingen: Vielen Dank für Ihre Präzisierungen, Herr Hillgruber. Ja, die kann ich so nachvollziehen. Herr Dann: Mir ist ehrlich, muss ich so sagen, diese Verfassung vom 18. März 1990 nur als Entwurf bekannt, tatsächlich als ein Entwurf, aber nicht mehr. Der ist in der Tat Ausdruck einer lebendigen und regen Diskussion in dieser Zeit, aber weil es eben ein Entwurf blieb, ist das der Grund, weswegen er hier neben den anderen nicht steht. Herr Lutterbeck: Kybernetik und Herrschaft – ich denke nicht, dass man Kybernetik und Herrschaft trennen kann. Da hätte ich mich unklar ausgedrückt. Sie findet ja auch unter ganz konkreten Herrschaftsbedingungen statt und wird auch eingesetzt als ein Instrument zur Durchsetzung einer bestimmten Herrschaft. Das ist kein Versuch, das Ganze säuberlich voneinander zu trennen, was zusammengehört. Es kommt ja immer auch ein wenig darauf an, wer mit welcher Motivation Kybernetik betreibt. Das möchte ich nochmal ganz klar so festhalten, und da sind auch Defizite in der niederländischen Wahrnehmung, die eigentlich ein bisschen darauf hinausläuft, genau dies zu versuchen, weil man so begeistert ist – wahrscheinlich auch ein Missverständnis –, dass hier Dinge betrieben werden, die ähnlich heißen. Das hat mit dem Gewaltenmonismus zu tun, den auch Herr Kraus ansprach mit dem Verweis auf Polak. Meine Wahrnehmung ist die, dass dieser Monismus lediglich die Form wandelt, und zwar ganz unabhängig von Polak und dem Verbleib seiner Theorie. In allen Szenarien, die ich versucht habe zu charakterisieren – nach 1949, nach 1968, nach 1974 –, geht es ja letztlich darum, Gewaltenteilung in der Verfassungspraxis außer Kraft zu setzen, und insofern lebt dies als Geist eines bestimmten Umgangs mit einer Verfassung durchaus weiter – ob nun kybernetisch inspiriert wie in den 1970er Jahren oder so unmittelbar wie in der Ein-Mann-Herrschaft bei Ulbricht, die dem Autokratischen in der DDR-Geschichte ja noch am nächsten kommt. Zweiter Punkt: Wegfall der Boykotthetze. Soweit mir das aus Veröffentlichungen der zugänglichen Quellen bekannt ist, kenne ich in diesem Zusammenhang keine Diskussion über das Warum – was nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt. Ich kann nur sagen, ich kenne sie hier nicht. Herr Neitmann: Länderverfassungen, Bodenreform, Besonderheiten, die es da zu berücksichtigen gibt: Mir wäre noch eine weitere eingefallen, nämlich die Implementierung der neuen Lehrerbildung in den Arbeiter- und Bauernakademien. Das war nämlich auch Sache der Länder, dies zunächst umzusetzen, und das haben sie auch höchst unterschiedlich getan. Ich sehe

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das ganz genauso, ist aber ein anderes Thema, das man in eigener Weise bearbeiten muss. Es ist sicherlich auch ein Teil des Verfassungsgebungsprozesses. Mir lag eher an der zentralen Perspektive, unter anderem auch aus Gründen der Darstellbarkeit und der Vergleichbarkeit. Herr Frotscher, ja, adjektivische Attribute sind etwas Feines. Das kann ich so akzeptieren, das halte ich für sinnvoll – das schafft dann auch in Ihrem, auch in Herrn Kotullas Sinne die Trennschärfe, die sonst nicht gegeben ist. Dann ist die DDR eben kein Verfassungsstaat westlich-liberaler Prägung, wie Sie es ausgedrückt haben. Herr Simon, im Grunde haben Sie genau das angesprochen, was ich meinte. Es ging darum, dass die Begriffe eine bestimmte historische Genese haben, die dann eine bestimmte Erwartungshaltung in der historischen Bewertung, einen bestimmten Maßstab eben doch bedingen. Einen Versuch, einen eigenen spezifisch-proletarischen Verfassungsbegriff zu konstruieren, habe ich nicht gefunden – was mich eigentlich auch überhaupt nicht erstaunt, weil ja die Polemik gegen das genuin Bürgerliche daran ebenso obwaltet. Und genauso ist auch die Genese, die ich als Historiker für die Anwendung meiner Begriffe eben immer brauche. Ich höre da als Historiker immer das 19. Jahrhundert mit, gebe Herrn Kotulla und Herrn Frotscher aber nochmals Recht, dass man da durchaus mit größerer begrifflicher Präzision herangehen kann. – Vielen Dank. Lück: Wir haben zu danken, auch für die Knappheit Ihrer dennoch inhaltsreichen Ausführungen. Herzlichen Dank für Vortrag und Diskussion.

Verfassungsänderungen und Verfassungswandel des Grundgesetzes Von Thomas Würtenberger, Freiburg

Verfassungsänderung und Verfassungswandel gehören zu den zentralen Fragen der Verfassungsrechtswissenschaft.1 Bei unserem Thema der Verfassungsänderungen und des Verfassungswandels des Grundgesetzes geht es um eine Realanalyse dessen, welche bewegenden Kräfte im nationalen, supranationalen und internationalen Bereich in den letzten Jahrzehnten die Verfassungsänderung und den Verfassungswandel dominiert haben und künftig weiter dominieren werden. Für die folgenden Überlegungen sollen zwei Aspekte erkenntnisleitend sein: Zum einen geht es um den normativen Wandel des Grundgesetzes in über 60 Jahren, der innerstaatlich veranlasst war und dazu geführt hat, dass das Grundgesetz des Jahres 1949 allenfalls noch in den Grundprinzipien mit dem heutigen Grundgesetz in Einklang steht. Zum anderen geht es um den normativen Wandel des Grundgesetzes, der auf dessen Offenheit für eine supra- und internationale Integration beruht. Hier erscheint von besonderem Interesse, in welchem Maß die nationale Verfassungsautonomie zu Lasten eines supra- und internationalen Verfassungsrechts zurückgedrängt wird. Dies führt zu einer Ortsbestimmung des nationalen Verfassungsrechts in einem verfassungsrechtlichen Mehrebenensystem, das zunehmend in die nationalen Verfassungsordnungen hinein 1 Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906; Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der BRD, Baden-Baden 1982; Konrad Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: Horst Ehmke [u. a.] (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 123 ff.; Peter Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Hans Spanner [u. a.] (Hrsg.), Festgabe für Theodor Maunz zum 70. Geburtstag am 1. September 1971, München 1971, S. 285 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Peter Badura / Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 3 ff.; Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. München 1976, S. 130 ff.; Johannes Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: Der Staat 44 (2005), S. 1 ff.; Andreas Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: Der Staat 43 (2004), S. 450 ff.; Matthias Jestaedt, Herr und Hüter der Verfassung als Akteure des Verfassungswandels. Betrachtungen aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Atzelsberger Gespräche 2009, Erlangen 2010, S. 35 ff.

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wirkt.2 Dabei ist das Grundgesetz Ausgangspunkt der Überlegungen; ergänzend wird auch auf die Verfassungsentwicklung in Europa eingegangen.

I. Das Grundgesetz des Jahres 1949 als Ausgangspunkt Blicken wir zunächst in gebotener Kürze auf den Erlass des Grundgesetzes im Jahr 1949 als Ausgangspunkt der nachfolgenden Verfassungsänderungen und des Verfassungswandels: (1) Die Verfassungsentwürfe und verfassungspolitischen Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten wenig mit dem politisch-rechtlichem Modell des Grundgesetzes gemeinsam. Dieses orientiert sich an den Leitprinzipien des westlichen Verfassungsstaates und verbindet diese mit den nationalen liberal-rechtsstaatlichen Verfassungstraditionen, wobei die Paulskirchenverfassung ein wesentlicher Anknüpfungspunkt war. Es distanzierte sich von der gescheiterten semipräsidentiellen Demokratie der Weimarer Verfassung. Mit der Menschenwürdegarantie, mit dem Grundrechtsschutz und mit der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG wollte es Bollwerk gegen jegliche Formen des Totalitarismus sein. (2) Im Jahr 1949 war es alles andere als klar, wohin die politisch-rechtliche Ordnung Deutschlands gehen würde. Dies betraf u. a. die Wirtschaftsverfassung. So stellte gleich nach Erlass des Grundgesetz Hans Peter Ipsen3 die Frage, ob die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG oder die Sozialisierung und Gemeinwirtschaft des Art. 15 GG modellbildend sein würden. Art. 15 GG ist bekanntlich der einzige Grundgesetzartikel, der in der Folgezeit keinerlei normative Kraft entfaltete. Und selbst das Sozialstaatsprinzip blieb bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ohne echte normative Wirkung.4 2 Ulrich Battis / Ingolf Pernice [u. a.] (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozess europäischer und globaler Rechtsentwicklung, Baden-Baden 2000; Armin v. Bodgdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin, Heidelberg [u. a.] 2003; Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozess, Berlin [u. a.] 2003; Karl Friedrich Kreuzer [u. a.] (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1. Aufl. Baden-Baden 1997; Karl-Eberhard Hain, Zur Frage der Europäisierung des Grundgesetzes, in: DVBl. 2002, S. 148 ff.; Juliane Kokott / Thomas Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, in: VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff., 41 ff.; Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. Baden-Baden 2006; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001. 3 Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 2. Aufl. Tübingen 1988, S. 10; vgl. weiter Willibalt Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, in: NJW 1949, S.481 (482), zum Widerspruch zwischen Art. 14 und Art. 15 GG. 4 Thomas Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, Berlin 1979, S. 389 mit Nachweisen.

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(3) Das Grundgesetz verdankt seine normative Wirkung der Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit. Ihre Aufgabe ist nicht allein der Schutz des Grundgesetzes, sondern auch dessen interpretatorische Konkretisierung und Fortentwicklung. So wurden etwa in den beiden großen Leitentscheidungen zum Verbot von KPD und SRP5 die Eckpunkte einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung fixiert. In mittlerweile über 120 Bänden hat das Bundesverfassungsgericht fast jeden Artikel des Grundgesetzes konkretisiert und fortentwickelt. So gesehen gilt das Grundgesetz in der Gestalt, die ihm durch das Bundesverfassungsgericht gegeben wurde. Man mag darüber streiten, ob diese Verfassungskonkretisierung dem Begriff des Verfassungswandels zugeordnet werden kann. Auf die im Folgenden zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen Verfassungskonkretisierung und Verfassungswandel ist noch zurückzukommen. (4) Die Regelungen der Verfassungsänderung, eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat, ermöglichten von Anbeginn eine flexible Anpassung des Grundgesetz an veränderte Zeitumstände und politische Situationen. Auch hier wurde auf plebiszitäre Elemente verzichtet, um die parlamentarische Demokratie gegenüber sachwidrig beeinflussbaren und heute wohl strukturell allzu konservativen, plebiszitären Mehrheiten zu stärken. (5) Um zusammenzufassen: Das Grundgesetz des Jahres 1949 war zunächst nur ein Angebot und für die damalige Staatsrechtslehre eine Vision einer künftigen politisch-rechtlichen Ordnung.6 Es stellte mit dem Bundesverfassungsgericht die Institution und mit den Regeln der Verfassungsänderung die Verfahren bereit, die seine zukunftsoffene Fortentwicklung ermöglichten. II. Die Verfassungsänderungen Diese Offenheit des Grundgesetzes für neue Entwicklungen zeigt sich darin, dass es seit 1949 durch über fünfzig Änderungsgesetze7 abgeändert wurde. Diese antworteten auf neue Herausforderungen, denen sich das Grundgesetz stellen musste. Oft gingen den Änderungsgesetzen Paradigmenwechsel voraus: Das Grundgesetz wurde einem Wandel des Zeitgeistes angepasst, im Bereich der föderativen Ordnung wurde mit Föderalismuskonzepten experimentiert und es wurde vor allem Veränderungen des internationalen Umfeldes Rechnung getragen. 5

BVerfGE 2,1; 5, 85. In diesem Sinn Rudolf Laun, Das Grundgesetz Westdeutschlands, Berlin 1949, S. 1. 7 Ein Überblick bei Reinhold Zippelius / Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., München 2008, § 6 III 3, sowie bei Jestaedt (FN 1), S. 56 ff., 86 ff. 6

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Thomas Würtenberger 1. Zeitgeistbedingte Verfassungsänderungen

Änderungen in den kollektiven Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, also im Zeitgeist8, haben wiederholt auf das Grundgesetz eingewirkt. Die neu eingefügten Staatsziele haben die Wertetafel des Grundgesetzes erweitert. Zu nennen ist insbesondere das neue Staatsziel Umweltschutz. Art. 20a GG wurde nach einer fast zwei Jahrzehnte dauernden Diskussion in das Grundgesetz aufgenommen, nachdem der Umweltschutz auch im kollektiven Bewusstsein eine besondere Bedeutung erlangt hatte. Mit Abstrichen gilt dies auch für das neue Staatsziel Tierschutz, um den Art. 20a GG ergänzt wurde. Von besonderer Bedeutung ist nicht zuletzt der neue Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, der die Förderung der Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Männern und Frauen verlangt und damit die im kollektiven Bewusstsein sich vollziehende stille Revolution der neuen Rolle der Frau9 in der Gesellschaft aufnimmt.10

2. Experimente mit der bundesstaatlichen Ordnung

Im Bereich der bundesstaatlichen Ordnung ist das Grundgesetz zum Experimentierfeld des verfassungsändernden Gesetzgebers geworden. Über lange Zeit hinweg orientierten sich Verfassungsänderungen an dem Modell eines unitarischen und kooperativen Föderalismus. In einer langen Reihe von Verfassungsänderungen wurden Gesetzgebungskompetenzen zu Lasten der Länder zum Bund verschoben. Kompensatorisch hatte man dabei vielfach eine Zustimmungsbedürftigkeit für jene Gesetze vorgesehen, für die der Bund die Gesetzgebungskompetenz erhielt. Auf dem Gebiet der Finanzverfassung wurden 1969 Kooperationspflichten zwischen Bund und Ländern eingeführt, die die Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sowie die Planung und Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben betreffen.

8 Hierzu Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. Tübingen 1991, S. 105 ff. 9 Nach Josef Isensee, Vom Stil der Verfassung, Wiesbaden 1999, S. 34, handelt es sich hier um eine Referenz gegenüber „dem feministischen Zeitgeist“; die neu gefassten Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 20a GG bezeichnet er als „symbolische Verfassungsgesetzgebung“, was deren Bedeutung für die politisch-rechtliche Entwicklung wohl kaum gerecht wird. 10 Die neue Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG bestätigte und verstärkte allerdings lediglich die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 2 GG a. F. Dieses hatte das Gleichberechtigungsgebot bereits auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (BVerfGE 85, 191 [207]) und gesetzliche Ungleichbehandlungen für gerechtfertigt erklärt, wenn sie dem Ausgleich eines Nachteils dienen, der eine Geschlechtergruppe typischerweise trifft (BVerfGE 74, 163 [179 ff.]). Dies zeigt, dass Änderungen der normativen Kraft des Verfassungstextes in gleicher Weise durch Verfassungsrichterrecht und durch den verfassungsändernden Gesetzgeber erfolgen können; hierauf ist zurückzukommen.

Verfassungsänderungen und Verfassungswandel des Grundgesetzes

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Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist bewusst geworden, dass das System des unitarischen und kooperativen Föderalismus, an dem sich die früheren Verfassungsänderungen orientierten, zur Reformunfähigkeit des politischen Systems geführt hat. Dem überkommenen Föderalismusmodell wird in einem Paradigmenwechsel das Föderalismusmodell des Wettbewerbs- bzw. Gestaltungsföderalismus entgegengesetzt. Dieses fordert eine deutliche Stärkung der Kompetenzen und Finanzausstattung der Länder.11 Einer ausufernden Ausdehnung der konkurrierenden Gesetzgebung wurde 1994 die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG entgegengesetzt, der die Bedingungen einschränkt, unter denen der Bund von seinem Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch machen darf.12 Die Föderalismusreform 2006 hat die Kooperationsbereiche zwischen Bund und Ländern eingeschränkt, sucht den Ländern eigenständige Bereiche zur Gesetzgebung zu eröffnen und betrifft insbesondere auch die als problematisch erkannte Neuformulierung des Art. 72 Abs. 2 GG.13 Die Föderalismusreform 2009 hat wesentliche Bereiche der Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu geregelt. Dies erfolgte unter der Zielsetzung, den europäischen Vorgaben für Stabilität und Wachstum zu genügen (Art. 109 Abs. 2 GG) und die Verschuldung der Haushalte von Bund und Ländern zu begrenzen (Art. 109 Abs. 3 GG). 3. Verfassungsänderungen als Reaktion auf einen ökonomischen Paradigmenwechsel

Zahlreiche Änderungen des Grundgesetzes reagieren auf einen ökonomischen Paradigmenwechsel. So ist das System der sozialen Marktwirtschaft14 durch eine ökologische Marktwirtschaft ergänzt worden, weil bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) vom Gesetzgeber zu beachten ist. Außerdem liegt dem 1967 neu gefassten Art. 109 Abs. 2 – 4 GG das Modell der global gesteuerten Marktwirtschaft zugrunde, wie es dem wirtschaftstheoretischen Ansatz von Keynes entspricht.15 11 Zum Wettbewerbsföderalismus: siehe Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 14 II 4; Martin Nettesheim, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: Michael Brenner (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Badura zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 363 ff.; Julian Würtenberger, Regieren in der Wettbewerbsgesellschaft – Perspektiven eines Wettbewerbsföderalismus, Paper 2004. 12 Hierzu Thomas D. Würtenberger, Art. 72 II GG – eine berechenbare Kompetenzausübungsregel?, Baden-Baden 2005. 13 Zum Ergebnis der Föderalismusreform: BT-Drucksache 16 / 813, S. 1 ff.; Irene Kesper, Reform des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: NdsVBl. 2006, S. 145 ff. 14 Hans Carl Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl. Köln [u. a.] 1965; Matthias Schmidt-Preuß, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, in: DVBl. 1996, S. 236.

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Inzwischen ist es problematisch geworden, überhaupt noch von einer Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes zu sprechen. Die wirtschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind zunehmend auf die Europäische Union übergegangen, so dass das Grundgesetz weitgehend seine maßstabsbildende Kraft verloren hat. Auf die neuen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes, die durch das Recht der Europäischen Union bedingt sind, ist sogleich zurückzukommen. 4. Die internationalrechtlichen und europarechtlichen Anlässe zur Verfassungsänderung

Eine Vielzahl von Grundgesetzänderungen war durch eine Veränderung des internationalen Rahmens bedingt. Hierzu gehört zunächst die Wehrverfassung, die seit Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts Voraussetzung für die erfolgreiche Westintegration Westdeutschlands war.16 Etwas mehr als ein Jahrzehnt später tritt die Notstandsverfassung hinzu, die den inneren und äußeren Notstand regeln musste, nachdem die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland die entsprechenden alliierten Vorbehaltsrechte zum Erlöschen brachte. In diesen Bereich gehört nicht zuletzt die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes mit dem Zerfall der Sowjetunion, was die Deutsche Wiedervereinigung ermöglichte und zu einer gründlichen Reform des Grundgesetzes führte. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind Verfassungsänderungen zunehmend europarechtlich veranlasst. So wurde die alte, sehr breit gefasste Integrationsklausel des Art. 24 GG um eine neue europarechtliche Integrationsklausel in Art. 23 GG n. F. ergänzt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, welche Verfassungsprinzipien aus deutscher Sicht in der Europäischen Union zur Geltung zu bringen sind, um eine gewisse Homogenität zwischen der deutschen und der europäischen Verfassung sicherzustellen.17 Zugleich entstand ebenso wie in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein nationales Unionsverfassungsrecht, das die Beteiligung der nationalen Parlamente an Entscheidungen auf europäischer Ebene regelt.18 Versucht der neue Art. 23 GG den Selbststand des Grundgesetzes gegenüber der Finalität der europäischen Einigung zu wahren, so sind andere 15 Hierzu Minh Tuan Luong, Wirtschaftsverfassungsrecht im Wandel, Berlin [u. a.] 1999. 16 Allgemein zur verfassungsrechtlich umstrittenen Westintegration: Giegerich (FN 2), S. 1237 ff. 17 Art. 88 in der Fassung des Verfassungsgesetzes vom 25. Juni 1992, Nr. 92 – 554, regelt in der Französischen Verfassung die Voraussetzungen der weiteren Europäischen Integration. 18 Christoph Grabenwarter, Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: von Bogdandy (FN 2), S. 283 (297 ff.), 312 ff.; Giegerich (FN 2), S. 1209 ff.

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Grundgesetzänderungen durch den Vorrang des europäischen Rechts als Integrationshebel auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht bedingt. Hierzu gehören die Änderung des Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG auf Grund der Tanja Kreil-Entscheidung des EuGH19, die Erstreckung des Kommunalwahlrechts auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union20, die Beschneidung der Kompetenzen der Deutschen Bundesbank im Rahmen der Einführung des Euro21 oder die gemeinsame Verpflichtung von Bund und Ländern, die Stabilitätskriterien des Art. 104 EGV (= Art. 126 AEUV) durch Haushaltsdisziplin zu wahren.22 Des Weiteren hat die europäische Politik der Einführung von Wettbewerb im Bereich von Bahn23, Post und Telekommunikation24 zur Änderung der entsprechenden Vorschriften des Grundgesetzes geführt. Hatte der Staat bislang in diesen Bereichen selbst Verantwortung für eine kostengünstige, sichere und flächendeckende Leistung getragen, so bleibt ihm nach der Liberalisierung der Märkte nur noch eine Infrastrukturverantwortung.25 Diese Neuordnung der Märkte war notwendig geworden, um durch den Wettbewerb zwischen den Anbietern jene Konkurrenz entstehen zu lassen, die für die Infrastrukturbereiche ein Optimum an technischem Fortschritt gewährleistet.26 Dies war letztlich auch der Globalisierung geschuldet, da im Wettbewerb der Märkte die Modernität der Infrastruktur eine ganz wesentliche Rolle spielt. Ökonomische ebenso wie europarechtliche Herausforderungen führen auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu tief greifenden Verfassungsänderungen. So hat sich in den letzten Jahren die Verfassung Frankreichs grundlegend gewandelt. Zwar wird die französische Verfassung nach wie vor von dem Grundsatz der Unteilbarkeit der Republik als identitätsbestimmendem Merkmal geprägt; ein Bundesstaat wäre in Frankreich durch Verfassungsänderung nicht einzuführen. Gleichwohl gibt es in den letzten beiden Jahrzehnten Tendenzen zu einer Föderalisierung des französischen politischen Systems. Das „Europa der Regionen“ ist auch in Frank19

EuGH NJW 2000, 497 gemäß der RL 76 / 207 / EWG vom 9. Februar 1976. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG. 21 Übertragung von Aufgaben der Bundesbank auf die Europäische Zentralbank nach dem neu gefassten Art. 88 S. 2 GG; Jörg Geerlings, Die neue Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken, in: DÖV 2003, S. 322 ff.; Giegerich (FN 2), S. 1234 f. („erheblicher Eingriff in das mitgliedstaatliche Verfassungsgefüge“). 22 Art. 109 Abs. 2 und 5 GG. 23 Art. 87e GG. 24 Art. 87f GG. 25 Peter Lerche, Infrastrukturelle Verfassungsaufträge, in: Rudolf Wendt (Hrsg.) Staat, Wirtschaft, Steuern: Festschrift für Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 251 ff.; Stephan Sommer, Staatliche Gewährleistung im Verkehrs-, Post- und Telekommunikationsbereich, Berlin 2000. 26 Frauke Brosius-Gersdorf, Wettbewerb auf der Schiene, in: DÖV 2002, S. 275 ff. 20

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reich zu einem Leitbild geworden. Insbesondere auf regionaler Ebene sind Vertretungskörperschaften mit Rechtssetzungskompetenzen geschaffen worden, die sich am Prinzip der regionalen Selbstverwaltung orientieren.27 Man war zum einen offenbar zu der Einsicht gelangt, dass das alte zentralstaatliche System zur Regierungsunfähigkeit führt. Zum anderen hatten neuere Arbeiten zur ökonomischen Theorie des Föderalismus plausibel belegt, dass ein föderaler Staat im ökonomischen Wettbewerb der Staaten leistungsfähiger als ein Zentralstaat sei.28 Vor allem die Europäische Union ebenso wie der Europarat mit seinem Entwurf einer Charta für regionale Selbstverwaltung haben die Regionalisierung mit starker regionaler Selbstverwaltung auf die Fahnen ihrer Politik geschrieben. Dass solche Prozesse einer Föderalisierung vormals zentralistischer Staaten eine erhebliche Eigendynamik gewinnen können, zeigt das Beispiel Spaniens mit seiner asymmetrischen Föderalisierung oder auch Polens mit seinen vielfältigen Föderalisierungsexperimenten.

III. Der innerstaatlich veranlasste Verfassungswandel 1. Das Bundesverfassungsgericht als Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt

Blicken wir nunmehr auf die Determinanten des Verfassungswandels, dem das Grundgesetz unterworfen ist. Wenn es richtig ist, dass der Verfassungstext des Grundgesetzes kaum mehr der des Textes von 1949 ist, so gilt dies umso mehr für den Wandel der Bedeutung einzelner Verfassungsbestimmungen. Bei einer realistischen Betrachtung der Verfassungsentwicklung des Grundgesetzes ist es nicht mit der Verfassungsrechtslage zu vereinbaren, die normativen Vorgaben des Grundgesetzes lediglich historisch und aus der Situation der Verfassungsgebung heraus erfassen zu wollen.29 Ein solches Verständnis blendet aus, dass die wesentlichen Leistungen verfassungsgerichtlicher Judikatur gerade dadurch erreicht wurden, dass kein einseitig historischer Ansatzpunkt gewählt wurde. Die Entwicklung des Grundgesetzes durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann nicht im Einzelnen verfolgt werden. Das Verfassungsrichterrecht in den mittlerweile über hundertzwanzig Bänden der 27

Art. 72 in der Fassung vom 28. März 2003, Verfassungsgesetz Nr. 2003-276. Vgl. Vincent Hoffmann-Martinot, Zentralisierung und Dezentralisierung in Frankreich, in: Marieluise Christadler/ Henrik Uterwedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, Bonn 1999, S. 363 ff.; Allan Rosenbaum, Die positiven Auswirkungen der Dezentralisation auf die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Staatsführung, in: Verwaltungswissenschaftliche Informationen 28 (2000), S. 45 (47 ff.); Thomas Apolte, Die ökonomische Konstitution eines föderalen Systems, Tübingen 1999. 29 So Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 332 ff. 28

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Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts hat den Text des Grundgesetzes so überlagert und fortentwickelt, dass das Verfassungsrecht weniger im Grundgesetz, als vielmehr in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts steht.30 Das Bundesverfassungsgericht ist damit Träger einer verfassungsentwickelnden Gewalt.31 2. Verfassungswandel auf Grund gesellschaftspolitischer Veränderungen

Von Verfassungswandel – und damit nicht lediglich von Verfassungskonkretisierung – lässt sich in diesem Zusammenhang sprechen, wenn ein neuer theoretischer Ansatz der Verfassungsauslegung zu Grunde gelegt wird32 oder wenn ganz allgemein eine Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht aufgegeben und durch eine andere Verfassungskonkretisierung ersetzt wird.33 Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen für einen solchen Verfassungswandel in zahlreichen Entscheidungen deutlich gemacht. Eine Veränderung der sozialen oder ökonomischen Verhältnisse, aber auch von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen in der Bevölkerung machen eine Änderung der Verfassungsauslegung erforderlich.34 Es gibt aber auch Entscheidungen, die die Kontinuität der verfassungsgerichtlichen Fortentwicklung des Grundgesetzes betonen, in der Sache jedoch einen Wandel in der gerichtlichen Verfassungskonkretisierung zum Inhalt haben. 30 Peter Häberle (Verfassungsentwicklung und Verfassungsreform in Deutschland, in: Bernd Wieser /Armin Stolz [Hrsg.], Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2000, S. 41 [47]) ordnet ohne nähere Differenzierungen manche Urteile des Bundesverfassungsgerichts der „materiellen Verfassungsänderung oder sogar Verfassungsgebung“ zu. 31 Zu diesem Terminus Peters (FN 2), S. 395 ff., die allerdings in wenig überzeugender Weise die Unterscheidung von verfassungsgebender und verfassungsändernder Gewalt aufgeben möchte. 32 So stellt es einen Wandel in der Interpretation der Grundrechte dar, wenn diese als Elemente objektiver Ordnung und nicht mehr bloß als Abwehrrechte verstanden werden, wenn aus ihnen Schutzpflichten hergeleitet werden, die nicht „untermäßig“ erfüllt werden dürfen und damit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eingeschränkt wird (BVerfGE 7, 198 [225]; 39, 1 [41]). Rainer Wahl (Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in internationalem Vergleich, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier [Hrsg.], Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, Heidelberg 2004, § 19, Rdnr. 1) hat dies als die spektakulärste Entdeckung des deutschen Staatsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. 33 Hierzu aus ausländischer Sicht und rechtsvergleichend: Michel Fromont, Les revirements de jurisprudence de la Cour constitutionnelle fédérale d’Allemagne, in: Les Cahiers du Conseil Constitutionnel, No 20 (2006), S. 110 ff.; Thierry Di Manno, Les revirements de jurisprudence du Conseil constitutionnel français, in: ebd., S. 135 ff.; Elisabeth Zoller, Les revirements de jurisprudence de la Cour suprême des EtatsUnis, in: ebd., S. 104 ff. 34 BVerfGE 96, 260 (263); BVerfG – K DVBl. 2004, 1108 ff.

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Einen Verfassungswandel dergestalt, dass durch Interpretation einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes ein entgegengesetzter Sinn unterlegt wird, hat man bisweilen der Verfassungsänderung zugeordnet.35 Der Verfassungsrichter bemächtigt sich der Funktion des verfassungsändernden Gesetzgebers: Was zuvor normativ vorgeschrieben war, wird durch eine andere Sollensregel ersetzt. Das Verfassungsrichterrecht schreibt im Fall von Paradigmenwechseln und bei grundsätzlichen Neuorientierungen den „pacte social“ fort, indem die Verfassung an die andauernden Veränderungen in der Gesellschaft angepasst wird.36 Über diese gesellschaftsvertragliche Anknüpfung hinaus ist viel darüber nachgedacht worden, was die Verfassungsgerichtsbarkeit legitimiert, durch eine weit ausgreifende Verfassungsinterpretation und dabei auch durch einen Wandel in der Verfassungsinterpretation letztlich Funktionen eines verfassungsändernden Gesetzgebers zu übernehmen.37 Dies ist insbesondere in Deutschland der Fall, weil sich das Bundesverfassungsgericht weder an Präjudizien gebunden fühlt38 noch sich selbst klare und allgemein geltende Grenzen bei der Fortentwicklung des Verfassungsrichterrechts setzt. In anderen Ländern gibt es deutlichere Grenzziehungen. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika fühlt sich der angelsächsischen Tradition entsprechend stärker an seine Präjudizien gebunden. In Spanien oder Belgien bedarf es einer Plenarentscheidung des Verfassungsgerichts, wenn es zu einem Wandel in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kommen soll. Bleiben wir nochmals bei der These, dass ein Verfassungswandel aufgrund einer Änderung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung der Sache nach Akten eines verfassungsändernden Gesetzgebers nahe kommt, weil die Kontinuität ihrer normativen Vorgaben aufgehoben wird. Wie bei allem Richterrecht mag hier als letzte Legitimationsquelle dienen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber seinerseits durch eine Änderung der Verfassung dem Verfassungsrichterrecht und damit dem Verfassungswandel entgegen treten und seinerseits die Initiative zur Fortentwicklung des „pacte social“ ergreifen kann. 35 Thierri Di Manno, Les revirements de jurisprudence du juge constitutionnel, in: Les cahiers (FN 33), S. 101 f.; kritisch Jestaedt (FN 1), S. 46, 73 ff., mit dem Hinweis, dass die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung an den Verfassungstext gebunden bleibt. 36 Di Manno (FN 35), S. 102. 37 Vgl. Thomas Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: Bernd Guggenberger / Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, Baden-Baden 1998, S. 57 ff. 38 Gleichwohl ist Verfassungsauslegung immer auch Auslegung der Entscheidungsgründe der vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen (Präzedenz-)Fälle; zudem fordert der Grundsatz der besonderen Kontinuitäts- und Bestandsgarantie von Verfassungen, von Präjudizien verfassungsrichterlicher Verfassungsauslegung nur in Ausnahmefällen Abstand zu nehmen (vgl. Jestaedt [FN 1], S. 84).

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In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war dies des öfteren der Fall.39 Dies betraf etwa die Neufassung der Erforderlichkeitsklausel für bundesgesetzliche Regelungen in Art. 72 Abs. 2 GG. Die Neufassung aus dem Jahr 1994 verfolgte das Ziel, die Einhaltung der Erforderlichkeitsklausel durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.40 was dieses bislang abgelehnt hatte. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe spektakulärer Entscheidungen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes beschnitt41, hat die Föderalismusreform des Jahres 2006 den Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 2 GG wieder zurück geschnitten.42 Auch die Neuregelung des Asylrechts in Art. 16a GG oder des Lauschangriffs in Art. 13 Abs. 3 – 6 GG reagierten auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.43 Im Hinblick auf diese Überlegungen zur Letztentscheidungskompetenz des verfassungsändernden Gesetzgebers erscheint es gravierend, wenn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den letzten Jahren dazu neigt, Grundsatzentscheidungen auf die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zu stützen und dabei zugleich zum Ausdruck zu bringen, dass wegen der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG selbst der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht konterkarieren könne. Dies ist etwa in den Entscheidungen zum großen Lauschangriff44 oder zum präventiven Flugzeugabschuss nach dem Luftsicherheitsgesetz45 der Fall. Mit seiner Rechtsprechung, die den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG weit ausdehnt, usurpiert damit das Bundesverfassungsgericht eine Konkretisierungsgewalt der Verfassung, die lediglich dem verfassungsgebenden Gesetzgeber zukommt. Dass in Extremsituationen wie etwa bei terroristischen Angriffen nicht Leben gegen Leben und Würde gegen Würde abgewogen werden können46, wird als Verfassungsgrundsatz formuliert, der die Gestaltungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers erheblich einschränkt. Problematische Folge dieser Rechtsprechung ist, dass nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber, sondern allein das Bundesverfassungsgericht durch neuerliche

39 Auch auf supranationaler Ebene lassen sich Vertragsänderungen beobachten, die auf eine limitierende Auslegung der Verträge durch den EuGH reagieren (vgl. das Gats-Gutachten des EuGH vom 15. November 1994, 1-5399 ff., auf das 2001 im Vertrag von Nizza durch eine Ergänzung des Art. 133 EGV reagiert wurde). 40 Vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG. 41 Hierzu ausführlich Würtenberger (FN 12), S. 61 ff.; 74 ff. 42 BT-Drucksache 16 / 813, S. 2. 43 Isensee (FN 9), S. 75. 44 BVerfG NJW 2004, S. 999. 45 BVerfG DVBl. 2006 S. 433 ff.; kritisch Christof Gramm, Der wehrlose Verfassungsstaat?, in: DVBl. 2006, S. 653 ff. 46 Berechtigte Kritik bei Gramm, ebd., S. 653 (657 f.).

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Rechtsprechungsänderung diesen Bereich der Gestaltungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers wieder eröffnen kann, indem es den gebotenen Menschenwürdeschutz wieder enger fasst und damit auf ein geringeres Maß zurückführt.47

3. Exkurs zum Wandel der Verfassungswirklichkeit

Änderungen in der Verfassungswirklichkeit betreffen einen ganz anderen Bereich. Hier geht es nicht um Änderungen im normativen Bereich, sondern um die Änderungen in der Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz. Das Grundgesetz lässt durchaus Spielräume für die Entfaltung einer besonderen Kultur und eines besonderen Stils in der Verfassungspraxis. Änderungen in der Verfassungspraxis stoßen dann auf ein besonderes Interesse, wenn sie sich von normativen Leitmodellen des Grundgesetzes entfernen. Aus jüngerer Zeit seien folgende Beispiele aus dem Bereich des Parlamentarismus genannt: (1) Der Bundestag soll der Ort öffentlicher Diskussion und Beschlussfassung sein. Dies ist nicht mehr der Fall. Die wesentlichen Entscheidungen werden in den Ausschüssen des Bundestags getroffen. Die Sachdebatte im Bundestag bleibt ohne Substanz und erfolgt vor leeren Abgeordnetenbänken. Die Gesetzestexte, über die abgestimmt wird, werden von der großen Mehrzahl der Abgeordneten, sind sie denn bei der Abstimmung überhaupt präsent, nicht nachvollzogen. (2) Eine öffentliche Debatte im Bundestag findet kaum mehr statt, weil Redebeiträge in zunehmenden Umfang, zu Protokoll gegeben werden können. Eine solche parlamentarische Öffentlichkeit im schriftlichen Verfahren widerspricht allen Anforderungen an ein parlamentarisches System.48 (3) Eine weitere Entparlamentarisierung erfolgt dadurch, dass die eigentliche politische Willensbildung in besonderen Kommissionen, etwa der Hartz IV-Kommission, erfolgt. Dem Bundestag verbleibt nur noch, den außerparlamentarisch ausgehandelten Kompromiss nachzuvollziehen.49 In diesen Bereichen, die naturgemäß kaum verfassungsrichterlicher Kontrolle unterliegen, differieren die Wirklichkeit des derzeitigen Parlamenta47 Wenn sich das Bundesverfassungsgericht für eine bestimmte Auslegung der Menschenwürdegarantie entscheidet, so nimmt diese Auslegung nicht an der Unverbrüchlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teil, sondern lässt spätere ebenfalls vertretbare Verengungen oder Erweiterungen zu (Zippelius / Würtenberger [FN 7], § 6 III 2d). 48 Claudia Kornmeier, Rede zu Protokoll – der Bundestag formalisiert ein lange praktiziertes Verfahren, in: DÖV 2010, S. 676 ff. 49 Nachweise bei Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 11, Rdnr. 53.

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rismus ganz erheblich im Hinblick auf dessen verfassungsstaatliches und grundgesetzliches Idealbild.

IV. Verfassungswandel in Reaktion auf Veränderungen im supranationalen und im Völkerrecht Kommen wir wieder nach diesem Exkurs zur Verfassungswirklichkeit auf dem Verfassungswandel zurück. Ebenso wie die Verfassungsänderungen ist auch der Verfassungswandel zunehmend durch europarechtliche und völkerrechtliche Vorgaben50 bedingt.

1. Der Wandel des Grundgesetzes durch europarechtliche Vorgaben

Auch ohne Textänderung wandeln sich wichtige Bestimmungen des Grundgesetzes durch europarechtliche Regelungen. So sind etwa die Deutschengrundrechte des Grundgesetzes entgegen ihrem Wortlaut so auszulegen, dass sie den Bürgern der Europäischen Union in Deutschland gleiche grundrechtliche Freiheit verbürgen. Wie diese Verfassungsdurchbrechung verfassungsdogmatisch zu begründen ist, ist nicht unstrittig, das Ergebnis aber unzweifelhaft.51 Gleiches gilt für den grundrechtlichen Schutz von juristischen Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Entgegen Art. 19 Abs. 3 GG ist diesen gleiche grundrechtliche Freiheit wie den juristischen Personen mit Sitz in Deutschland zu gewähren.52 Bemerkenswert ist, dass diese Erstreckung des Grundrechtsschutzes letztlich gegen den Wortlaut der einschlägigen Grundrechte erfolgt, um wie vom Europarecht gefordert, diskriminierungsfreien Grundrechtsschutz zu gewähren. Damit wird die These von der „Einzigkeit der Verfassungsurkunde“53, also vom Grundgesetz, das neben sich keine Normen mit Verfassungsqualität duldet, fragwürdig. Sie gilt nur für den nationalen Bereich, nicht aber für Verfassungsdurchbrechungen auf Grund der supranationalen Rechtsordnung.

50 Zu kosmopolitischen Verfassungsentwicklungen im außereuropäischen Bereich: Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Berlin 2006, S. 3 ff. 51 Vgl. Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 18 II 1 b; Hartmut Bauer / Wolfgang Kahl, Europäische Unionsbürger als Träger von Deutschen-Grundrechten?, in: JZ 1995, S. 1077 ff. 52 Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 18 II 2b mit Nachweisen. 53 Isensee (FN 9), S. 55.

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Thomas Würtenberger 2. Die völkerrechtskonforme Auslegung des Grundgesetzes

Ähnliches vollzieht sich im Rahmen einer völkerrechtskonformen Auslegung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz ist so auszulegen und fortzuentwickeln, dass es mit den wichtigen völkerrechtlichen Verträgen, die Deutschland geschlossen hat, nicht in Widerspruch steht.54 Dies lässt sich auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes stützen.55 Diese völkerrechtskonforme Auslegung des Grundgesetzes betrifft in erster Linie56 die Europäische Menschenrechtskonvention. Diese gilt in Deutschland zwar nur als einfaches Recht. Man hat sie jedoch mit guten Gründen als völkerrechtliche Nebenverfassung bezeichnet.57 Die Auslegung des Grundgesetzes hat sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention zu orientieren, damit aus der ganz pragmatischen Erwägung heraus Deutschland nicht wegen Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg verurteilt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit bei der Auslegung der Grundrechte immer wieder darauf geachtet, nicht gegen die europäische Menschenrechtskonvention zu verstoßen. Dies gilt mittlerweile auch für die Fachgerichtsbarkeit. In einer kühnen Konstruktion hat das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden auch dann zugelassen, wenn ein Fachgericht die Europäische Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beachtet hat.58 Auch wenn dies in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht immer thematisiert wird, so besteht doch eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen der Karlsruher Rechtsprechung und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.59 Wenn es allerdings zu Konflikten zwischen der Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und alternativen Vorgaben der 54 Rudolf Bernhardt, Völkerrechtskonforme Auslegung der Verfassung? Verfassungskonforme Auslegung völkerrechtlicher Verträge?, in: Hans-Joachim Cremer (Hrsg.) Tradition und Weltoffenheit des Rechts: Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin [u. a.] 2002, S. 391 ff.; Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 7 I 1 f; BVerfGE 74, 358 (370); BVerfG – K DVBl. 2004, 1097 f. 55 BVerfGE 101, 307 (317 f). 56 Des Weiteren ist das Asylgrundrecht des Art. 16a GG zu nennen, das gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen ist (Zippelius/Würtenberger [FN 7], § 33 II mit Nachweisen). 57 Christian Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 36 (1978), S. 7 (51 f.).; Robert Uerpmann, Völkerrechtliche Nebenverfassungen, in: von Bogdandy (FN 2), S. 339 ff. 58 BVerfG NJW 2004, 3407 (3411): enger Zusammenhang zwischen Grundrecht und Rechtsstaatsprinzip, dessen Vorrang des Gesetzes die Beachtung der EMRK fordert. 59 Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 21 f.

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EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt, ist letzten Endes dessen Rechtsprechungslinie zu befolgen. Diese Konflikte dürften im Wesentlichen bei der gewichtenden Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechten aufbrechen. Die Auseinandersetzungen um die Tragweite der Caroline von Monaco-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der den Persönlichkeitsschutz von relativen Personen der Zeitgeschichte höher einschätzt als das Bundesverfassungsgericht60, können daher kaum nachvollzogen werden. Soll Deutschland nicht wegen Verstößen gegen die Europäische Erklärung für Menschenrechte verurteilt werden, muss in diesem Rechtsprechungsbereich auf eine lediglich national introvertierte verfassungsrichterrechtliche Verfassungskonkretisierung verzichtet werden.61 Dass dies dem Bundesverfassungsgericht schwer fällt, liegt auf der Hand. Aller Voraussicht nach werden die Kollisionen zwischen abwägendem Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht und durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Zukunft zunehmen. Dies zeigt etwa die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Deren rückwirkende Verlängerung wurde als konventionswidrig62 erachtet, während das Bundesverfassungsgericht gegen eine rückwirkende Verlängerung dieser Maßregel keine verfassungsrechtlichen Bedenken hatte.63 Die zunehmende und weit reichende Intensivierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schafft ein sehr differenziertes System eines völkerrechtlichen Grundrechtsschutzes, der dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes zur Seite tritt, dessen Fortentwicklung mit bestimmt und neue Abwägungsleitsätze einbringt.64 60 EGMR NJW 2004, 2654, mit zustimmender Besprechung von Rolf Stürner, in: JZ 2004, S. 1018 ff., gegen BVerfGE 101, 361; hierzu Andreas Heldrich, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: NJW 2004, S. 2634 ff.; Hans-Joachim Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, in: EuGRZ 2004, S. 683; Christoph Grabenwarter, Schutz der Privatsphäre versus Pressefreiheit: Europäische Korrektur eines deutschen Sonderweges?, in: AfP 2004, S. 309; Jens Meyer-Ladewig / Herberg Petzold, Die Bindung deutscher Gerichte an Urteile des EGMR, in: NJW 2005, S. 15. 61 Hierzu ist das BVerfG nur begrenzt bereit. Richterrechtliche Grundrechtskonkretisierungen durch den Straßburger Gerichtshof werden abgelehnt, wenn tragende Grundsätze des Grundgesetzes dem Völkervertragsrecht entgegenstehen (NJW 2004, S. 3407 f.). Welches diese sind, wäre noch näher zu klären. Gewichtungen bei Abwägungen zwischen Grundrechten können dies sicherlich nicht sein. Auch erscheint es schwer begründbar, dass die Grundrechtsrechtsprechung des EGMR tragenden Grundsätzen des Grundgesetzes entgegensteht, da beide Verfassungsordnungen aus einer gemeinsamen Quelle gemeineuropäischer Grundrechtstradition fließen. 62 EGMR NJW 2010, 2495 ff. 63 BVerfGE 109, 190 (217). 64 Christian Walter, Die EMRK als Konstitutionalisierungsprozess, in: ZaÖRV 59 (1999), S. 961 ff.

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Diese Entwicklung zeichnet sich noch deutlicher in jenen Staaten ab, die die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, aber keine Verfassungsbeschwerde nach deutschem Vorbild kennen. In diesen Staaten, wie etwa in Frankreich, wird Grundrechtsschutz und damit der innerstaatliche Grundrechtsstandard über die Beschwerdeverfahren zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewährt. Dieser hat eine vergleichbare Stellung wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland bei der Gewährung und Ausdifferenzierung des Grundrechtsschutzes. Dass diese Konstitutionalisierung von Grundrechten für diese Staaten einen gravierenden Verfassungswandel in Fragen des Grundrechtsschutzes bedeutet, ist offenkundig. 3. Verfassungswandel durch ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht?

Davon abgesehen stellt sich die Frage, ob im Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie auch des Europarates ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht im Entstehen begriffen ist, das seinerseits die Auslegung und Fortentwicklung der nationalstaatlichen Verfassungen mitbestimmt.65 Dieses gemeineuropäische Verfassungsrecht entfaltet sich in allgemeinen Verfassungsgrundsätzen, die weitgehend übereinstimmend in der Verfassungstradition der europäischen Staaten entwickelt worden sind. Es wird zudem durch völkerrechtliche Verträge, durch die Arbeit des Europarates sowie – wie ausgeführt – durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte und des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg konstitutionalisiert. In Deutschland spielen die Grundsätze eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts bislang keine Rolle, da das Grundgesetz als Exportgut einen hohen Rang genießt, es also eines Imports gemeineuropäischen Verfassungsrechts nicht bedarf. Das Grundgesetz dient vielmehr als Messlatte für die Entwicklung europäischer Verfassungsprinzipien. Anderes gilt aber für viele andere Mitgliedstaaten des Europarates. Um hierfür einige Beispiele zu nennen: Während in Deutschland die kommunale Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG geschützt ist, fehlt es in anderen Mitgliedstaaten des Europarates bisweilen an entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelungen oder an einer Auslegung von verfassungsrechtlichen Regelungen, die an einem effektiven Schutz kommunaler Selbstverwaltung orientiert ist. Die Mitgliedstaaten des Europarates haben jedoch in aller Regel die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ratifiziert. Deren Vorgaben entsprechen im Wesentlichen den grundgesetzlichen Vorgaben für eine effektive Ausgestal65 Klaus Stern, 50 Jahre deutsches Grundgesetz und die europäische Verfassungsentwicklung, Speyer 1999, S. 25 f.

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tung des Selbstverwaltungsrechts von Gemeinden und Landkreisen. In den mittel- und osteuropäischen Staaten, die wegen ihrer kommunistischen Vergangenheit keine Praxis im Bereich kommunaler Selbstverwaltung haben, wird vom Europarat mit Nachdruck darauf hingewirkt, dass kommunale Selbstverwaltung nicht nur rechtlich, sondern auch in der politischen Praxis gemäß den Vorgaben der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung ausgestaltet wird. Dabei werden wesentliche Impulse für die erforderlichen Verfassungsänderungen sowie für eine Fortentwicklung der Verfassungsauslegung gegeben. Man kann daher zu dem Ergebnis gelangen, dass das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung, so wie es im Grundgesetz verankert ist, zu einem gemeineuropäischen Verfassungsprinzip geworden ist.66 In ähnlicher Weise zielt die Arbeit der Venice-Kommission des Europarates auf eine Vereinheitlichung des Verfassungsrechts in Europa.67 Diese Kommission überprüft das Verfassungsrecht und die Verfassungspraxis einzelner Mitgliedstaaten des Europarates auf ihre Vereinbarkeit mit gemeineuropäischen Verfassungsstandards. So sollte etwa die Verfassung der Ukraine dahingehend geändert werden, dass Abgeordnete, die die Mehrheitsfraktionen, die eine Regierung tragen, verlassen, ihr Mandat verlieren und Abgeordnete der jeweiligen Wahlliste der Mehrheitsfraktionen nachrücken.68 Diese Stabilisierung einer Regierungskoalition, die unter den politischen Verhältnissen in der Ukraine Sinn macht, hat die Venice-Kommission mit Nachdruck gerügt. Gefordert wurde, eine derartige Verfassungsänderung zu unterlassen.69 Zwar regelt die Verfassung der Ukraine nicht die Freiheit des Abgeordnetenmandats. Die Freiheit des Abgeordnetenmandats ist auch nicht Gegenstand von Regelungen im supra- und internationalen Bereich. Die Venice-Kommission sah jedoch die Freiheit des Abgeordnetenmandats allgemein im Demokratieprinzip verwurzelt. Methodisch wurden hier aus dem Demokratieprinzip weitere Unterprinzipien hergeleitet, die in einer Gesamtschau europäischer Verfassungen unverzichtbare Bestandteile 66 Thomas Würtenberger, L’autonomie locale et régionale, principe directeur du droit constitutionnel en Europe, in: Revue Belge de droit constitutionnel 2002, S. 499 (504 ff.). 67 Die Venice-Kommission hat Aufgaben der Verfassungsberatung. Sie wird auf Antrag einzelner Staaten, aber auch der Organe des Europarates tätig. Die Gutachten der Venice-Kommission sind beratender Natur. Wie das Beispiel der Ukraine zeigt, haben ihre Gutachten bisweilen einen erheblichen Einfluss auf die Verfassungsgebung, Verfassungsänderung und Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (www. venice.col.int/site/main/Coop-UKR-GER.Asp?). 68 Art. 81 Abs. 2 Nr. 6 des Gesetzentwurfs zur Änderung der Verfassung der Ukraine. 69 Opinion on the Amendments to the Constitutions of Ukraine adopted on 8.12. 2004 by the Venice-Commission, in: Centre for Political and Legal Reforms (ed.), Legal Reforms in Ukraine, 2005, S. 51 (54): Abgeordnete repräsentieren nicht ihre Parteien, sondern das Volk.

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einer verfassungsstaatlichen Ordnung sind.70 Derartige Monita sind zwar nicht verbindlich, haben in den jungen Demokratien Osteuropas aber beim Beschluss über Verfassungsänderungen ein erhebliches Gewicht.

4. Entwicklungslinien

Trotz aller Europäisierung und Internationalisierung bleibt Verfassungsrecht nach wie vor ein Ausdruck nationaler Identität. Änderungen und Wandlungen des nationalen Verfassungsrechts sind und bleiben in nationale Verfassungstraditionen eingebettet. Sie hängen eng mit Grundsatzentscheidungen über die Gestaltung der nationalen politisch-rechtlichen Ordnung zusammen. In einem Paradigmenwechsel tritt zunehmend eine Europäisierung und Internationalisierung des Verfassungsrechts in den Vordergrund. Dieser supranationale und internationalrechtliche Konstitutionalisierungsprozess bleibt auf die nationalen Verfassungen nicht ohne Auswirkung. Sie werden ebenfalls durch ein zunehmendes und sich verdichtendes Geflecht supra- und internationalen Verfassungsrechts konstitutionalisiert. In Anlehnung an das bekannte Phänomen der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung71 kann man von einer Konstitutionalisierung des nationalen Verfassungsrechts durch europarechtliche und völkerrechtliche Vorgaben sprechen. Die skizzierten Determinanten von Verfassungsänderung und Verfassungswandel deuten in Richtung einer neuen, normativ verbindlichen Verfassungsordnung jenseits des Nationalstaates.72 Ebenso wie der alte Nationalstaat einen Teil seiner Souveränität an die supra- und internationale Ebene verloren hat, wird auch seine in der Volkssouveränität wurzelnde Verfassungsautonomie geschmälert. Hier von Verfassungsverbund oder von föderaler Verfassungsverschränkung73 zu sprechen, ist wenig hilfreich. Derartige Redeweisen überspielen das Faktum, dass die nationale Verfassungsautonomie beträchtliche Einbußen erleidet. Vor allem bleibt ausgeblendet, dass die vom Verfassungsgeber im nationalen Verfassungsrecht geregelte verfassungsändernde Gewalt74 ausgehebelt wird. Realistisch gesehen haben 70 Hierzu Thomas Würtenberger / Petro Morgos / Ralf Schenke, Überlegungen zur Verfassungsreform in der Ukraine, Typoskript, S. 29; zur „irrévocabilité“ des Abgeordnetenmandats: Marcel Prélot / Jean Boulouis, Institutions politiques et droit constitutionnel, 11. ed., Paris 1990, S. 776. 71 Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 5 II 2 d; § 17 II 2. 72 Ähnlich Häberle (FN 2), S. 221, mit der These von der „Relativierung der nationalen Verfassungen zu Teilverfassungen“. 73 Giegerich (FN 2), S. 1276; Roland Bieber, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: Kreuzer (FN 2), S. 71 (75 ff.). 74 Zur klassischen Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué: Zippelius / Würtenberger (FN 7), § 6 III vor 1.

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völkerrechtliche Verträge, Rechtsakte von Organen der Europäischen Union sowie eine supra- und internationale Verfassungsgerichtsbarkeit Funktionen eines verfassungsändernden Gesetzgebers übernommen. Von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, von der sich die verfassungsändernde und verfassungskonkretisierende Gewalt herleitet, als Ideologie des westlichen Verfassungsstaates gilt es in wichtigen verfassungsrechtlichen Teilbereichen Abschied zu nehmen. Die überkommene Lehre vom Verfassungsstaat war offenbar allein auf das Verfassungsrecht des Nationalstaates bezogen. Die Lehre vom Verfassungsstaat bedarf also mit Blick auf die Internationalisierung des Verfassungsrechts der Fortentwicklung. Nationales Verfassungsrecht, das bislang nur auf die Souveränität des Volkes zurückgeführt wurde, entsteht nunmehr jenseits des Nationalstaates in neuen Verfahrensformen wie etwa im kooperativen Zusammenwirken nationaler, supra- und internationaler Verfassungsgerichte.75 Verlieren wir die verfassungsgebende Gewalt des Volkes als Bezugspunkt, befinden wir uns auf dem Weg in eine postverfassungsstaatliche Epoche. Dies bedeutet aber ebenso wenig ein Ende des Staates wie ein Ende seines Verfassungsrechts. Um die skizzierte gemeineuropäische Entwicklung begreifen und kritisch begleiten zu können, muss ein neuer Theorie-Ansatz gesucht werden. Es bedarf einer Allgemeinen Verfassungslehre oder eines Allgemeinen Verfassungsrechts76, um die Notwendigkeit, Richtigkeit und Grenzen der Aufgabe nationaler Verfassungsautonomie zu reflektieren. Dabei sind weiterhin Verfahren jenseits nationaler Verfassungsgebung und sind allgemeine Prinzipien eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts zu entwickeln. Ein solches Allgemeines Verfassungsrecht der europäischen Staaten ist bislang allenfalls in Ansätzen77 vorhanden.78

75 Eine verfassungsgebende Gewalt der europäischen Völker konstruieren zu wollen (so Häberle [FN 2], S. 213), erscheint jedenfalls in unserem Kontext eher spekulativ. 76 Oder nach Thürer (FN 50) eines kosmopolitischen Staatsrechts. 77 Erste Ansätze bei Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. Baden-Baden 2006, S. 230 ff. 78 Ansätze gibt es im vergleichenden Verfassungsrecht (Constance Grewe / Hélène Ruiz-Fabri, Droits constitutionnels européens, Paris 1995) sowie für ein Allgemeines Verfassungsrecht auf supranationaler Ebene; vgl. von Bodgdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (FN 2), S. 149 ff.; Kokott (FN 2), S. 28 ff., mit der Frage nach einer postnationalen Demokratie.

Aussprache Gesprächsleitung: Lück

Lück: Wir beginnen mit der Diskussion. Bitte sehr. de Wall: Sie haben den Verfassungswandel definiert und Kategorien angeboten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, definieren Sie als Verfassungswandel auch den Fall, dass aufgrund neu entwickelter Prinzipien und Grundsätze einer Verfassungsrechtsprechung ein Fall anders entschieden wird, als er vorher entschieden worden wäre. Meine Frage geht dahin, ob Sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienstaatlichkeit in die Kategorie des Verfassungswandels einbeziehen würden, wo ja aufgrund sehr früher Weichenstellung, aber erst späterer Entfaltung der Rechtsprechungsgrundsätze die Rolle der Parteien die Verfassungswirklichkeit in einer Art und Weise prägt, die sich vermutlich der Verfassungsgeber so nicht vorgestellt hat. Würtenberger: Ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar. In der Tat bringt die Definition des Verfassungswandels erhebliche Abgrenzungsprobleme mit sich. In meinem Vortrag habe ich mich ein wenig an die französische Diskussion angelehnt, die mir etwas präziser als die deutsche zu sein scheint. In der französischen Theorie nimmt man immer dann einen Verfassungswandel an, der einer Verfassungsänderung gleich zu achten ist, wenn die Auslegung einer Verfassungsbestimmung sich gründlich ändert. Was nun die Rechtsprechung des BVerfG zur Parteienstaatlichkeit betrifft: Das Grundgesetz, wie es 1949 erlassen wurde, war grundsätzlich offen für unterschiedliche Richtungen seiner Ausdifferenzierung. Dies gilt auch für Art. 21 GG, der die Parteien an prominenter Stelle nennt und der in Richtung auf bestimmte Formen der Parteienstaatlichkeit näher konkretisiert wurde. Wenn man allerdings auf die Rechtsprechung zum Bereich der Parteienfinanzierung blickt, kann man gewisse Brüche in der Rechtsprechung feststellen. Auch im Bereich der Rundfunkrechtsprechung gibt es durchaus Brüche, die an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden sollen. Für den Bereich der Parteienstaatlichkeit würde ich also von einer Verfassungskonkretisierung ausgehen, da nur jenes fortentwickelt wurde, was vom Grundgesetz im Grundsätzlichen schon benannt worden ist. Lück: Herr Simon.

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Simon: Sie hatten ganz am Anfang angedeutet, dass sich der Verfassungswandel auch in einem Wandel der Methoden der Verfassungsinterpretation niederschlägt. Und Sie haben angedeutet, dass das Zurücktreten der historischen Interpretation ein Indiz ist für den freieren Umgang des Verfassungsgerichts bei der Interpretation und dass das auch ein Indiz ist für den vom Bundesverfassungsgericht vorangetriebenen Verfassungswandel. Können Sie vielleicht zu diesem Aspekt noch etwas sagen? Würtenberger: In der Tat habe ich den Wandel oder die Neukonzeption der Methodenlehre nicht aufgegriffen. Es wurde nur, wie Sie sagen, eine gewisse Distanz zur historischen Interpretation geäußert. Zu dem Bereich der Methodenlehre müssten wir – und deshalb wurde dies auch nicht vertieft – uns mit folgender Streitfrage befassen, die seit langem mit Blick auf die Verfassungsinterpretation gestellt wird: Wird das Grundgesetz entsprechend dem auf Savigny zurückgehenden klassischen Ansatz der Methodenlehre ausgelegt, oder geht es um die Konkretisierung des Grundgesetzes entsprechend den jeweiligen Zeitumständen. Bei der zweiten Variante stellt sich das Problem, welche normativen Vorgaben der Verfassung gegenüber neuen Verhaltensweisen, Zeitumständen, Wertvorstellungen oder auch technologischen Entwicklungen entnommen werden können. Zu diesen Methodenfragen habe ich bewusst nicht Stellung genommen, mich aber in der Sache der Konkretisierungsthese angeschlossen, wie sie etwa von Konrad Hesse entwickelt wurde. Lück: Vielen Dank. Der nächste Diskutant ist Herr Ruppert. Bitte. Ruppert: Herr Würtenberger, Sie haben ja beeindruckend gezeigt, wie sich der Verfassungswandel insbesondere vollzieht in der Bundesrepublik Deutschland durch den Einfluss der europäischen Institutionen und auch Ordnungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite durch das Bundesverfassungsgericht. Dass also das Organ, das das Grundgesetz selbst für den Verfassungswandel als erstes vorsieht – nämlich der Bundestag – in die dritte Reihe gerückt ist. Nun wäre meine Frage: Was sagt die Staatsrechtslehre zu dieser fundamentalen Umkehrung und gibt es Hinweise, wie der Bundestag selbst, wie dieses Verfassungsorgan auf diesen fundamentalen Wandel reagiert? Würtenberger: Besten Dank. Es gibt den berühmten Satz vom Bundestag als dem „Erstinterpreten der Verfassung“. Diesen Satz muss man allerdings dahingehend weiterführen, dass der Letztinterpret und damit der verbindliche Interpret das BVerfG ist. Im Gesetzgebungsverfahren wird natürlich vom Bundestag immer sehr sorgfältig geprüft, ob das Gesetz verfassungsrechtlich zulässig ist, was durch die allseits bekannten begleitenden Rechtsgutachten zu klären versucht wird. Die verbindliche Entscheidung, was verfassungsrechtlich gilt, kann der Bundestag nur zusammen mit dem Bundes-

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rat mit jeweils 2 /3 Mehrheit ändern, wenn das BVerfG der Verfassungsinterpretation des Bundestages nicht gefolgt ist. Dies ist nicht allzu häufig, aber immerhin doch gelegentlich der Fall. Bei Ihrer Frage geht es letztlich darum, was freilich nicht Gegenstand meines Referates war, ob in Berlin oder Karlsruhe regiert wird. In dem Maße, in dem vom BVerfG wie letzthin im Bereich der Sicherheitsrechtsprechung eine Reihe von Gesetzen bisweilen nur in Randbereichen, oft aber auch in ihren Kernbestimmungen für verfassungswidrig erachtet werden, geht die Kompetenz für eine demokratisch legitimierte Sicherheitspolitik verloren. Aus meiner Sicht ist in dem Bereich, den Sie ansprechen, problematisch, wenn das BVerfG zunehmend die Menschenwürdegarantie ausdehnt. In der Entscheidung zum Flugsicherheitsgesetz, in der Entscheidung zum Lauschangriff auf Wohnungen und in anderen Entscheidungen mehr scheiterten einzelne Regelungen am Menschenwürdeschutz des Art. 1 Abs. 1 GG. Mit dieser Begründung haben diese Entscheidungen Anteil an der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die Verfassungsänderungen verbietet, die die Menschenwürde beeinträchtigen. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber kann damit die Rechtsprechung des BVerfG in diesem Bereich nicht konterkarieren. Hier muss man meiner Meinung nach darüber nachdenken, ob eine weit ausgreifende Interpretation der Menschenwürdegarantie durch das BVerfG die verantwortungsvolle Gestaltung des Sicherheitsbereichs durch parlamentarische Mehrheiten begrenzen kann. Durch eine immer weiter ausgedehnte Menschenwürderechtsprechung droht letztlich das Demokratieprinzip ausgehebelt zu werden. Lück: Vielen Dank. Herr Hillgruber. Hillgruber: Vielen Dank. Ich wollte auf Ihren vierten Gliederungspunkt zu sprechen kommen, nämlich auf den Verfassungswandel in Reaktion auf Veränderungen im supranationalen Recht und im Völkerrecht. Ich frage mich, ob Sie das nicht vielleicht etwas überschätzen. Zunächst einmal zum Bereich des Völkerrechts: Sicher, das Verfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen formuliert, es gelte eine völkerrechtskonforme Auslegung vorzunehmen, aber wenn man sich diese Entscheidungen näher ansieht, dann wird auf diese Weise im Grunde nur eine introvertiert-nationalautonome Interpretation bestätigt. Es gibt eigentlich keinen Fall, in dem sich unter Berufung auf das Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit eine andere Interpretation letztlich durchgesetzt hat. Die Bezugnahme auf das Völkerrecht erfolgt also eher colorandi causa, bestimmt aber nicht wirklich die Interpretation. Sie haben dann sehr nachdrücklich auf die Relevanz der europäischen Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgehoben. Auch da aber ist die Auslegung im Regelfall deckungsgleich gewesen. Es gibt dann einige kritische Fälle, und dann hat das Verfassungsgericht mit der

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Görgülü-Entscheidung einen gewissen Kontrapunkt gesetzt, indem es zwar betont hat, dass die Urteile des EGMR berücksichtigt, aber nicht zwingend beachtet werden müssen. Das BVerfG hat mit dem Vorrang der Verfassung die Grenze der Berücksichtigungsfähigkeit markiert und damit noch einmal die Autonomie des Verfassungsrechts betont. Was nun das Europarecht angeht, so ist es sicherlich richtig, dass das Grundgesetz aufgrund der Kompetenzübertragungen, soweit diese reichen, seine Maßstabsfunktion eingebüßt hat – zweifelsohne ein Bedeutungsverlust des Grundgesetzes. Die Frage, die sich mir stellt, ist aber, ob man das unter dem Topos Verfassungswandel abhandeln kann. Das wäre meines Erachtens nur richtig, wenn – abgesehen von diesen materiellen Verfassungsänderungen durch Kompetenzverlagerungen – das Grundgesetz tatsächlich einen anderen Inhalt durch den Prozeß der europäischen Integration angenommen hätte. Ich denke, der eigentliche Clou des Europarechts liegt doch darin, dass es Anwendungsvorrang für sich in Anspruch nimmt, aber nicht das Grundgesetz inhaltlich ändert. Ich meine, das gilt auch für den von Ihnen angesprochenen Fall der Deutschengrundrechte und des Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz. Dadurch, dass das Europarecht Anwendungsvorrang genießt, verändert sich ja nicht die personelle Reichweite der Deutschengrundrechte. Der Anwendungsvorrang führt m. E. nicht zu einer Ausdehnung ihrer Geltung auf EUAusländer oder juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland. Müssen wir also nicht Anwendungsvorrang und Inhaltsänderung auseinanderhalten, und trifft dann der Begriff Verfassungswandel eigentlich die Sache? Würtenberger: Vielen Dank. Die Einflüsse des Völkerrechts und des Rechts der Europäischen Union auf das Grundgesetz würde ich doch etwas deutlicher sehen. Blicken wir etwa auf den Rechtshilfebereich, der im nationalen Recht klar geregelt ist. Im nationalen Recht unterfällt er den Vorgaben des grundrechtlich gebotenen Datenschutzes und des Grundrechtsschutzes insgesamt. Bei grenzüberschreitender Rechtshilfe hat das BVerfG jedoch deutlich gesagt, dass aus völkerrechtlichen Gründen der nationale Anspruch der Beachtung von Grundrechten zurückzunehmen ist. Tieferer Grund für diese Annahme war wohl, dass dann, wenn Deutschland seine Grundrechtsstandards bei der Rechtshilfe zugrunde legt und diese ablehnt, das Ausland kaum noch zur Rechtshilfe bereit sein wird, weil letztlich das Gegenseitigkeitsprinzip eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Blickt man auf das Recht der Europäischen Union, so hat hier das neue Prinzip der allseitigen Verfügbarkeit von Daten nicht nur zu einer Revolutionierung in der Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden geführt, sondern hat diese informationelle grenzüberschreitende sicherheitsbehördliche Kooperation zugleich auch Auswirkungen auf den grundrechtlich gebotenen Datenschutz. Sicherlich gibt es für diesen Bereich nun unionsrechtliche Datenschutzregelungen, die aber den deutschen grundrechtlich gebotenen

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Standards nicht voll entsprechen. Auf längere Sicht gesehen gewinnt hier und in anderen Bereichen das Unionsrecht erhebliche Auswirkungen auf deutsche Grundrechtsstandards und kann zu einem schleichenden Verfassungswandel dessen führen, was für das innerstaatliche Recht jeweils gilt. Ihren Bemerkungen zur Görgülü-Entscheidung stimme ich voll und ganz zu. Freilich muss man sich ganz pragmatisch fragen: Was ist die Folge, wenn man der Ansicht folgt, der deutsche Grundrechtsstandard gehe dem Grundrechtsstandard des Straßburger Gerichts vor? Deutschland kann es sich sicherlich nicht leisten, wiederholt durch das Straßburger Gericht verurteilt zu werden. Die zurückhaltenden Formulierungen des BVerfG sind wohl dadurch motiviert, nach außen deutlich werden zu lassen, dass man einen gewissen Selbststand bei der Entwicklung des Grundrechtsschutzes beansprucht. Dieser lässt sich in der Praxis kaum wahren, da Verfassungsbeschwerden gegen Urteile der Fachgerichtsbarkeit auch dann zunächst vom BVerfG zu entscheiden sind, wenn sie eine Verletzung der EMRKGrundrechte betreffen. Hier steht das BVerfG unter einem starken Druck der Straßburger Rechtsprechung, wenn es darum geht, die deutschen Grundrechte europarechtskonform auszulegen. Man spricht hier zwar immer wieder von einem Kooperationsverhältnis zwischen dem BVerfG und der weiteren europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, diese Kooperation ist allerdings darauf gebaut, dass die Rechtsprechung des BVerfG in Europa als vorbildlich angesehen wird. Die Rechtsprechung des Straßburger Gerichts, der wir uns nicht entziehen können, wird nach und nach zu einem ausdifferenzierten System eines europaweit geltenden Grundrechtsschutzes führen. Die große Zahl der in Straßburg gefällten Entscheidungen wird maßstabsbildend auch für den deutschen Grundrechtsschutz sein, so dass die nationale Autonomie bei der Grundrechtsinterpretation allmählich schwindet. Blicken wir in diesem Kontext auf die Entscheidung des Straßburger Gerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Als das BVerfG aus meiner Sicht zutreffend das Rückwirkungsverbot nicht auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung anwendete, mag möglicherweise auch eine Rolle gespielt haben, dass in dem anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren ein Straftäter hätte frei kommen können, von dem man sicher war, dass er in allernächster Zeit wiederum eine entsetzliche Straftat begehen würde. Es gab damals auch einen Druck der öffentlichen Meinung, vor allem in den Massenmedien, für solche Fälle eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für legitim zu erachten. Das Straßburger Gericht steht unter solchem Druck nicht; es steht nicht unter derselben Folgenverantwortung wie ein nationales Verfassungsgericht. Noch ein letztes Wort zum Anwendungsvorrang: Der Anwendungsvorrang führt im Bereich des Art. 12 GG letztlich unumkehrbar dazu, dass die Be-

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schränkung dieses Grundrechtsschutzes auf die Deutschen, wie es 1949 als sachgerecht angesehen wurde, nun mit Blick auf die Unionsbürger nicht mehr gilt. Dies ist aber eine in Bezug auf den Text des Grundgesetzes nicht mehr zu rechtfertigende Ausdehnung des Grundrechtsschutzes. Lück: Der nächste Redner ist Herr Härter. Härter: Vielen Dank für diesen Überblick, der den Historiker, der mit einem weiten Verfassungsbegriff bis zum Mittelalter zurückblickt, fasziniert hat. Fasziniert deswegen, weil Sie einerseits gezeigt haben, dass eine rasante Zunahme von Verfassungsänderungen oder von Verfassungswandel begleitet wird von einer Pluralisierung der Akteure, die – wenn man so will – diese Änderungen vorantreiben. In diesem Fall einerseits das Bundesverfassungsgericht, aber andererseits diese völkerrechtlichen Akteure einhergehend mit einer Pluralisierung von verfassungsrechtlichen Normen. Eine Situation also, die die Historiker für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit häufiger festgestellt haben. Eine Frage, die sich aber stellt – und das ist ja immer wieder eine Grundfrage, die wir uns stellen können –, ist die der Legitimität: der Legitimität dieser Änderungen, die durch ein Mehr von Akteuren zu einem Mehr an Normen führt. Wie reagiert man darauf? Beschädigt das insgesamt die Legitimität einer Verfassung, die immer noch eine nationale Verfassung ist? Und wie reagieren die Akteure – die Öffentlichkeit, die Bevölkerung, die Parlamente –, die ja die eigentlichen Akteure der Verfassungsänderungen sind, auf diese Pluralität von Normen und die damit einhergehende Legitimitätsproblematik? Würtenberger: Die Legitimationsfrage ist in der Tat ein weites Feld. Wenn man als Jurist sich mit dem befasst, was im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben positivrechtlich geschieht, muss die alte Frage nach der Legitimität von Recht und von Fortentwicklung des Rechts nicht mehr neu gestellt werden. Denn der westliche Verfassungsstaat und damit auch das Grundgesetz normiert die großen naturrechtlich eingeforderten Prinzipien für eine Legitimation von Staat und Recht. Man kann demokratische Legalität verbunden mit Rechtstaatlichkeit und Grundrechtsschutz mit Legitimität in eins setzen. Man kann freilich auch nach der Legitimität des Verfassungsrichterrechts fragen, wenn es zu stark in die Kompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreift. Hier geht es um die richtige Zuordnung von Demokratie und grundrechtsschützender, verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Man kann darüber hinaus die Legitimationsfrage stellen, wenn die verfassungsändernde Gewalt, die gemäß dem Grundgesetz beim Bundestag und beim Bundesrat liegt, aufgrund völkerrechtlicher Verträge, aufgrund unionsrechtlicher Einbindungen, aufgrund einer internationalen Gerichtsbarkeit nun bedeutsame Konkurrenten gewinnt. Positivrechtlich ist durch die Integ-

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ration in die Europäische Union oder durch völkerrechtliche Verträge, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, ein Stück von Autonomie bei Gestaltung und Änderung des nationalen Verfassungsrechts aufgegeben worden. Kann man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, ist weiter zu überlegen: Erscheinen die Verfahren der Einwirkung auf das nationale Verfassungsrecht, erscheinen die neu gestalteten Verfassungsprinzipien akzeptabel? Gibt es Prinzipien des westlichen Verfassungsstaates, die als allgemeine Prinzipien gelten, so wie das Allgemeine Staatsrecht im 18. Jahrhundert? Die Venice-Kommission versucht immer wieder derartige allgemein gültige Prinzipien zu formulieren und in die europäische, insbesondere in die osteuropäische Verfassungsentwicklung, einzubringen. Wir haben es mit Entwicklungen einer supranationalen und internationalen verfassungsrechtlichen Regel- und Maßstabsbildung zu tun, die sich insgesamt gesehen im Rahmen der großen Prinzipien des westlichen Verfassungsstaates bewegt. In Deutschland sind diese Entwicklungen freilich nicht als kritikwürdig wahrgenommen worden, weil das deutsche Verfassungssystem modellbildend geworden ist. Gleichwohl muss man in einer eher globalen Perspektive diese Entwicklungslinien einer Internationalisierung des Verfassungsrechts weiter kritisch verfolgen. Lück: Danke schön. Herr Frotscher. Frotscher: Sie haben unter Punkt III.1. dargestellt, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Verfassungskonkretisierung vornimmt, sondern darüber hinaus Träger einer verfassungsentwickelnden Gewalt ist. Ich habe das so verstanden, dass Sie hier eine verfassungstatsächliche Entwicklung beschreiben und systematisch einordnen wollten, ohne selbst ein Befürworter einer solchen verfassungsentwickelnden Gewalt zu sein. Aber da frage ich doch nach und möchte zugleich meine Bedenken gegenüber dieser Kategorie äußern. In früheren Jahren stand häufiger der Vorwurf im Raum, das Bundesverfassungsgericht gehe in seinen Entscheidungen zu weit und übernehme so die Aufgabe der Politik, der Parteien, des Parlaments. Folgerichtig wurde zumeist ein judicial self-restraint eingefordert. Jetzt dagegen stellen wir dem Gericht mit der „verfassungsentwickelnden Gewalt“ von vornherein eine legitime Kategorie zur Verfügung, um seine Zuständigkeit zu erweitern. Wenn das Gericht dann noch höchst unbestimmte Rechtsbegriffe wie den der Menschenwürde, dessen weite Auslegung Sie auch kritisch gesehen haben, verstärkt heranzieht, um Politik zu machen, dann sollte man dem entgegensteuern. In diesem Zusammenhang ist auch die personelle Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen, die von den großen Parteien bestimmt wird und bei der sich nicht parteigebundene Bürger und auch politische Randgruppen überhaupt nicht wiederfinden.

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Schließlich möchte ich auf ein weiteres Problem des Parteienstaates aufmerksam machen: Wenn die großen Volksparteien hinsichtlich einzelner für die Zukunft der Bundesrepublik existenzieller Fragen gar keine unterschiedlichen Konzepte zur Verfügung stellen, der Wahlbürger mithin auch nicht einfach für den einen oder anderen Lösungsvorschlag stimmen kann, dann führt die verfassungsentwickelnde Gewalt des Bundesverfassungsgerichts zu einer Schwächung nicht nur des Parlaments – dieses handelt ja freiwillig, wenn es politisch umstrittene Fragen einfach nach Karlsruhe abgibt –, sondern auch des demokratischen Prinzips. Ich will als Beispiel nur den EU-Beitritt der Türkei nennen. Dazu mag man persönlich stehen, wie man will, aber wenn Umfragen ergeben, dass 80% der Bevölkerung diesen Beitritt nicht wollen, und wenn dann die großen Parteien keine erkennbaren Alternativen zur Verfügung stellen, über die der Bürger bei der nächsten Wahl entscheiden kann, dann ist der Demokratieprozess gestört – und die Parteiverdrossenheit wächst. Von daher, meine ich im Ergebnis, sollten wir das Bundesverfassungsgericht wieder auf seine Ursprungsaufgabe zurückverweisen, nämlich die Verfassung zu konkretisieren und nicht politisch weiter zu entwickeln. – Vielen Dank. Lück: Ich denke, wir lassen noch Herrn Borck zu Wort kommen und haben dann die Chance einer hoffentlich lichtvollen Diskussionsbeendigung. Herr Borck, bitte. Borck: Das, was ich fragen wollte, passt sehr gut hinein in diesen Fragenkomplex zur Ausweitung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben, und das war eigentlich Anlass meiner Wortmeldung, bei Ihren Ausführungen gesagt, die Verfassungsänderungen in unserem Lande könnten ohne plebiszitären Druck erfolgen, was ja den Tatsachen der bisherigen Entwicklung in den vergangenen 60 Jahren auch entspricht. Die Frage ist aber, ob diese Entmachtung des Volkes, das ja gemäß Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes als Träger der Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen eigentlich tätig werden soll, durch die Reduzierung auf Wahlen – Ergebnis auch der Verfassungsgerichtsrechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte – eigentlich tatsächlich in dieser Form, das war sozusagen der Kern der Frage, ein vom Verfassungsgericht eigenmächtig vorgenommener Verfassungswandel ist, oder ob Sie die Beschränkung des verfassungsmäßigen Inhabers der Staatsgewalt auf bloße Wahlakte tatsächlich als Konkretisierung ansehen wollen. Ich stelle diese Frage vor dem Hintergrund der augenblicklichen, zunehmenden Diskussion um die Frage: Mehr direkte Demokratie? Ich denke, dass das Bundesverfassungsgericht selbst da in den letzten acht Jahren auch einen gewissen Wandel in seinen Auffassungen hat erkennen lassen. Ich habe im Auge ein Verfassungsgerichtsurteil von 2002 (Beschluss vom 3. Juli 2000). Damals ging es um eine Volksinitiative in Schleswig-Holstein, es ging um die Frage der Organisation der Schulen. Der Landtag erklärte die Initia-

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tive für unzulässig, und das Bundesverfassungsgericht, das in SchleswigHolstein damals anstelle eines Landesverfassungsgerichtes handelte, hat dem Landtag Recht gegeben mit der Begründung, ein Volksentscheid in einer Angelegenheit, die Haushaltsauswirkungen habe – wobei es nicht darauf ankomme, ob diese mittelbar oder unmittelbar seien –, sei eben nach der Landesverfassung nicht zulässig. Das bedeutete ja praktisch, dass keinerlei Volksinitiativen durchgeführt werden konnten, denn worauf immer sich ein – in Schleswig-Holstein Volksinitiative genanntes – Volksbegehren richten könnte, das den Staat zu irgendeiner Art von Handeln veranlassen würde: Es ist undenkbar, dass das nicht mit Kosten verbunden wäre. Die zweite Entscheidung völlig anderer Art, die ich im Auge habe, ist die vom Juni vergangenen Jahres – das Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009. Darin erklärt das Bundesverfassungsgericht ja zum essentiellen Bestandteil unserer Verfassung das in Art. 20 Abs. 2 – und auch ausdrücklich zitiert: in Wahlen und Abstimmungen, die es bei uns nicht gibt – konkretisierte, keiner Abwägung unterworfene und eben unter dem Schutze des Art. 79 des Grundgesetzes stehende Demokratieprinzip. Die Frage ist also: Wie beurteilen Sie eigentlich die Verfassungsrechtsprechung in dieser Frage, also die bisherige einseitige Stellungnahme für rein repräsentative Demokratie? War das tatsächlich eine konkretisierende Rechtsprechung, eine Verfassungskonkretisierung oder war es auch ein vom Bundesverfassungsgericht regelrecht erzwungener Verfassungswandel, der die herrschende Stellung der Parteien bis weit über die Verfassung hinaus durch das Parteiengesetz vom 24. Juli 1967 – wo die Parteien ja nicht mehr nur an der politischen Meinungsbildung mitwirken, sondern sich zum notwendigen Bestandteil der Demokratie erklären – ausdehnte und zementierte? Lück: Vielen Dank. Die Uhr läuft zum drohenden Schluss unserer Tagung. Gibt es noch weitere Wortmeldungen zum Referat von Herrn Würtenberger? – Das ist nicht der Fall, dann überlasse ich Ihnen das Wort für die letzten Antworten. Würtenberger: Besten Dank. Das BVerfG hat natürlich zwei Funktionen, zum einen Hüter der Verfassung zu sein, zum anderen, die Verfassung auszulegen. Im Rahmen der Verfassungsauslegung geschieht zunächst eine Konkretisierung der Verfassung, aber darüber hinaus auch, wie von mir entwickelt wurde, eine Fortentwicklung des Verfassungsrechts. Diese Fortentwicklung des Verfassungsrechts betrifft etwa das Bekenntnis zu einer Grundrechtstheorie, die es zuvor nicht gab, oder die Entwicklung neuer grundrechtlicher Schutzbereiche, was uns sehr geläufig ist. Dies scheint mir über eine bloße Auslegung oder Konkretisierung hinauszugehen. Wie man sich hierzu positionieren soll, mag offen bleiben. Nur eines ist sicher: Wenn man die Wirklichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit begreifen will, wie sie ist, dann muss man sich mit deren verfassungsentwickelnden

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Gewalt beschäftigen. Wenn Sie so wollen, sollte man sich insofern an der „Verfassungswirklichkeit“ im Hegelschen Sinn orientieren. Den Bedenken, die Sie, Herr Frotscher, geäußert haben, stimme ich im Prinzip zu. Mehr selfrestaint ist erforderlich. Gleichwohl bleibt das Verfassungsgericht autonom, wie es die Verfassung auslegt. Ein wichtiges Thema ist natürlich auch, Herr Borck, die Frage der Verankerung von Plebisziten im Grundgesetz. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und, wie formuliert wurde, kehrt nie wieder zum Volk zurück, weil es eben keine plebiszitären Elemente im Grundgesetz gibt. Dass das Grundgesetz eine streng repräsentative Demokratie verfasst, ist allerdings nicht ganz zutreffend. Es ist offen für plebiszitäre Elemente; um sie einzuführen bedarf es einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit. Eine derartige Grundgesetzänderung steht freilich nicht zu erwarten, da die jeweiligen Parteien an der Regierung nicht unter dem Druck von Plebisziten stehen möchten. Was den Haushaltsvorbehalt im Bereich der Landesplebiszite betrifft, so ist dessen Sinnhaftigkeit bereits seit den 1920er Jahren diskutiert worden. Blicken wir abschließend auf die Akzeptanz der Rechtsprechung des BVerfG, die soeben angesprochen wurde: Im Großen und Ganzen ist die Rechtsprechung des BVerfG sowohl in der Bevölkerung als auch in der Staatsrechtslehre auf große Akzeptanz gestoßen. Dies geht sogar so weit, dass der Staatsrechtslehre teilweise vorgehalten wurde, dass sie keine kritische Distanz zur Karlsruher Rechtsprechung entwickeln würde. Was die Akzeptanz in der Bevölkerung betrifft, so hat das BVerfG einen sehr hohen Stellenwert bei Meinungsumfragen und steht über anderen wichtigen politischen Institutionen. Dies mag darin begründet liegen, dass die Entscheidungen in aller Regel einen vermittelnden Charakter haben. Wer den Gang nach Karlsruhe wagt, gewinnt selten voll und ganz. Zur Akzeptanz der Karlsruher Rechtsprechung mögen auch die guten Pressekontakte beitragen, etwa die eigene Pressestelle oder die vielfältigen Äußerungen der Verfassungsrichter in der Öffentlichkeit. Insgesamt gesehen bestechen die Karlsruher Entscheidungen nicht nur durch hohe dogmatische Brillanz, sondern auch dadurch, dass, soweit die Entscheidungen durch die Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sie in aller Regel als richtige oder jedenfalls gut vertretbare Entscheidungen akzeptiert werden können. Auch dies macht die Stärke des BVerfG als eine das Grundgesetz fortentwickelnde Gewalt aus. – Besten Dank! Lück: Vielen Dank. Wir sind damit am Ende unserer Debatten. Ich bedanke mich nochmals ausdrücklich bei allen Referenten und Diskussionsteilnehmern und wünsche Ihnen allen eine gute Heimreise.

Verzeichnis der Redner Borck 80 f., 157 f., 313 f. Brauneder 41, 85, 123, 219 ff., 277 Burkhardt 38 f., 83 f., 184 f. Cancik 273 Dann 222, 250, 283 Erkens 36 ff. Frotscher 119 ff., 155 f., 280 f., 312 f. Gusy 185 ff. Härter 40, 246, 274 f., 311 Hillgruber 191 f., 283 f., 308 f. Hufeld 184 Kley 218 ff., 246 ff. Klippel 123 Kohl 218 f., 277 Kotulla 82, 119 f., 274 Kraus 117 ff., 154 ff., 184 ff., 282 Kühne 42, 87, 154, 192, 221 f. Kunze 189, 246, 273 ff. Lanzinner 81 ff. Lingelbach 222, 276 f. Lück 273 ff., 306 ff. Lutterbeck 283 Manca 122, 218, 249 Mußgnug 117 ff., 158 Neitmann 281 f. Neuhaus 35 ff., 80 ff. Nicklas 247 ff., 276 Pape 247 Ruppert 124, 154 f., 188 f., 252 f., 307 Schmidt-De Caluwe 154 ff. Simon 280, 307 Waldhoff 187 de Wall 306 Weitzel 35 Würtenberger 156, 249 f., 279 f., 306 ff.

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§ 2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§ 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie münd-

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liche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.

§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.

§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß

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Vereinigung für Verfassungsgeschichte

bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.

§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 30. September 2011) Vorstand 1.

Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main

2.

Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich

3.

Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Kirchenrechtliches Institut, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn

Beirat 1.

Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich

2.

Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld

3.

Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld

4.

Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau

5.

Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und vergleichende Staatslehre, 95440 Bayreuth

6.

Neitmann, Dr. Klaus, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Postfach 600449, 14404 Potsdam

7.

Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg

Mitglieder 1.

Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster

2.

Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, 79085 Freiburg

3.

Asche, Dr. Matthias, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen

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Verzeichnis der Mitglieder

4.

Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, 82431 Kochel

5.

Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold

6.

Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Ltd. Archivdirektor, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt

7.

Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg

8.

Becht, Dr. Hans-Peter, Stadtarchiv Pforzheim, Kronprinzenstraße 28, 75177 Pforzheim

9.

Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg

10. Birke, Dr. Adolf M., Professor, Universität München, Institut für Neuere Geschichte, Schellingstraße 12, 80799 München 11. Birtsch, Dr. Günter, Professor, Universität Trier, FB III Geschichte, 54286 Trier 12. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, 2300 Leiden, Niederlande 13. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 79280 Au bei Freiburg 14. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, 79379 Müllheim 15. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Direktor des Landeshauptarchivs Koblenz a. D., Obere Meerbach 6a, 56179 Vallendar 16. Bosbach, Dr. Franz, Professor, Prorektor der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Universitätsstraße 2, 45141 Essen 17. Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, 40822 Mettmann 18. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 19. Brandt, Dr. Hartwig, Professor, Wilhelmstraße 19, 35037 Marburg 20. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 21. Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 22. Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, 86135 Augsburg 23. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Universität Salzburg, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg, Österreich 24. Butzer, Dr. Hermann, Professor, Moltkestraße 4, 30989 Gehrden 25. Cancik, Dr. Pascale, Professorin, Universität Osnabrück, Professur für Öffentliches Recht, Martinistraße 8, 49078 Osnabrück 26. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-BehaghelStraße, 35394 Gießen 27. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle 7, 20122 Milano, Italien 28. Collin, Dr. Peter, Privatdozent, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main

Verzeichnis der Mitglieder

323

29. Cordes, Dr. Albrecht, Professor, Universität Frankfurt am Main, Institut für Rechtsgeschichte, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt am Main 30. Dallmeier, Dr. Martin, Fürstlicher Archivdirektor, Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv, Postfach 110246, 93015 Regensburg 31. Dann, Dr. Otto, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, 50923 Köln 32. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 61462 Königstein / Taunus 33. Dippel, Dr. Horst, Professor, Universität Kassel, Fachbereich 8, Georg-ForsterStraße 3, 34127 Kassel 34. Dölemeyer, Dr. Barbara, Professorin, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 35. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 58097 Hagen 36. Endres, Dr. Rudolf, Professor, An den Hornwiesen 10, 91054 Buckenhof 37. Fenske, Dr. Hans, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, 79085 Freiburg 38. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität des Saarlandes, Campus, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 39. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Università degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9, 50129 Firenze, Italien 40. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, 35032 Marburg 41. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt am Main, Historisches Seminar, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt am Main 42. Gergen, Dr. Dr. Thomas, Privatdozent, Universität des Saarlandes, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 66123 Saarbrücken 43. Gosewinkel, Dr. Dieter, Privatdozent, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin 44. Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4/BK 11, 91054 Erlangen 45. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum 46. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 11, 10117 Berlin 47. Grothe, Dr. Ewald, Professor, Bergische Universität Wuppertal, Historisches Seminar, FB A, Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal 48. Grypa, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 49. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 50. Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 51. Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, 26111 Oldenburg 52. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena

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Verzeichnis der Mitglieder

53. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1 – 3, 1364 Budapest, Ungarn 54. Hartlieb von Wallthor, Dr. Alfred, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 55. Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professorin, Universität Graz, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, 8010 Graz, Österreich 56. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Fasanenweg 28, 56179 Vallendar 57. Herborn, Dr. Wolfgang, Waldstraße 53 b, 53902 Bad Münstereifel 58. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Goßlerstraße 11, 37073 Göttingen 59. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, 17489 Greifswald 60. Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 61. Höbelt, Dr. Lothar, Ass.-Professor Univ.-Dozent, Porzellangasse 19 / 4, 1090 Wien, Österreich 62. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, 10099 Berlin 63. Hoke, Dr. Dr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 64. Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Helmut Schmidt Universität Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Postfach 700822, 22008 Hamburg 65. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 66. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Osaka International University, Department of Economy and Policy, Hirakat-shi, Sugi 3-50-1, Osaka Fu, Japan 67. Jahns, Dr. Sigrid, Professorin, Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München 68. Jestaedt, Dr. Matthias, Professor, Universität Freiburg, Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Abteilung 3: Rechtstheorie, 79085 Freiburg 69. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 70. Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Bergstraße 5, 79294 Sölden 71. Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, 35032 Marburg 72. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Freiburg, Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung, Platz der Alten Synagoge, 79085 Freiburg 73. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristische Fakultät, Burgstraße 27, 04109 Leipzig 74. Kersten, Dr. Jens, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth 75. Kirsch, Dr. Martin, Professor, Universität Koblenz-Landau, Historisches Seminar, Fortstraße 7, 76829 Landau 76. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Juristische Fakultät, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn

Verzeichnis der Mitglieder

325

77. Kley, Dr. Andreas, Professor, Hubelmattstraße 58, 3007 Bern, Schweiz 78. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, 95440 Bayreuth 79. Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 80. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 81. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld 82. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau 83. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, 79102 Freiburg 84. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, 30167 Hannover 85. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 86. Landau, Dr. Dr. Peter, Professor, Universität München, Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München 87. Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Konviktstraße 11, 53113 Bonn 88. Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, 79085 Freiburg 89. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth 90. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, 06114 Halle (Saale) 91. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, 07743 Jena 92. Löffler, Dr. Bernhard, Professor, Auhölzlweg 34, 93053 Regensburg 93. Lottes, Dr. Günther, Professor, Forschungszentrum Europäische Aufklärung e.V., Am Neuen Markt 9 D, 14467 Potsdam 94. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, 06108 Halle (Saale) 95. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, 34519 Diemelsee 96. Lutterbeck, Dr. Klaus-Gert, Privatdozent, Universität Greifswald, Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Baderstraße 4 / 5, 17489 Greifswald 97. Majer, Dr. Diemut, Professorin, Universität Karlsruhe, Karlstraße 62, 76133 Karlsruhe 98. Maleczek, Dr. Werner, Professor, Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 99. Malettke, Dr. Dr. Klaus, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35032 Marburg 100. Manca, Dr. Anna Gianna, Professorin, Università degli Studi di Trento, Via Santa Croce 65, 38100 Trento, Italien 101. Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Universität Nacional, Altos de Sotileza, Bogotá, Columbia

326

Verzeichnis der Mitglieder

102. Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg 103. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Via Orazio 31, 80122 Napoli, Italien 104. Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, 35037 Marburg 105. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, 22105 Lund 1, Schweden 106. Möllers, Dr. Christoph, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, 10099 Berlin 107. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 Frankfurt am Main 108. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, 6500 KK Nijmegen, Niederlande 109. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße 10, Postfach 111440, 35394 Gießen 110. Murakami, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7-3-1, Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 111. Müssig, Dr. Ulrike, Professorin, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Innstraße 39, 94032 Passau 112. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, 69117 Heidelberg 113. Neitmann, Dr. Klaus, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Postfach 600449, 14404 Potsdam 114. Neschwara, Dr. Christian. Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 115. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 116. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Fichtestraße 46, 91054 Erlangen 117. Nicklas, Dr. Thomas, Professor, Université de Reims, Départment d’allemand, 57 rue Pierre Taittinger, 51096 Reims Cedex, Frankreich 118. Nilsén, Dr. Per, Professor, Syddansk Univesitet, Juridisk Institut, Campusvej 55, 5230 Odense M, Dänemark 119. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Wettbewerbsrecht, Schloss Westflügel (W 137), 68131 Mannheim 120. Pape, Dr. Matthias, Privatdozent, Lindenstraße 1, 57462 Olpe 121. Pauly, Dr. Walter, Professor, Universität Jena, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, 07737 Jena 122. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Hochschuldozent, Universität Mainz, Fachbereich 7, Historisches Seminar I, Jakob-Welder-Weg, 55099 Mainz 123. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, 10691 Stockholm, Schweden 124. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Wilmergasse 28, 48143 Münster

Verzeichnis der Mitglieder

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125. Pietschmann, Dr. Horst, Professor, Mommsenstraße 27, 50935 Köln 126. Polley, Prof. Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, 35037 Marburg 127. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via Santa Croce 77, 38100 Trento, Italien 128. Ranieri, Dr. Filippo, Professor, Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Europäisches Privatrecht, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 129. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professorin, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 130. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V: Rechtswissenschaften, Postfach 38 25, 54286 Trier 131. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte und Zivilrecht, Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt am Main 132. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig 133. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, 67354 Römerberg 134. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26 / 28, 00 927 Warszawa, Polen 135. Scheel, Dr. Günter, Professor, Am Okerufer 23, 38302 Wolfenbüttel 136. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Via Zara 1, 38100 Trento, Italien 137. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 138. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 139. Schmidt-De Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, 06099 Halle (Saale) 140. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 141. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 69117 Heidelberg 142. Schneider, Dr. Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Deutsches Institut für Föderalismusforschung, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover 143. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Straße 26, 04197 Berlin 144. Schönberger, Dr. Christoph, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 10 / Fach D-110, 78457 Konstanz 145. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, 24118 Kiel 146. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, 48143 Münster 147. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burgberg 24, 52080 Aachen 148. Schwab, Dr. Dr. Dieter, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, 93040 Regensburg 149. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich

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Verzeichnis der Mitglieder

150. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Am Höchberg 40, 97234 Reichenberg 151. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, 9020 Klagenfurt, Österreich 152. Steiger, Dr. Heinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76, 35394 Gießen 153. Stickler, Dr. Matthias, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 154. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professorin, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 155. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach, 60457 Frankfurt am Main 156. Takii, Kazuhiro, Professor, LL. D. Dr., International Research Center for Japanese Studies, 3-2 Oeyama-cho, Goryo, Nishikyo-ku, Kyoto 610 – 1192 Japan, Email: [email protected] 157. Thier, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Forschungsstelle für Rechtsgeschichte, Rämistrasse 74, 8001 Zürich, Schweiz 158. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 159. Vormbaum, Dr. Dr. Thomas, Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Fernuniversität Hagen, 58097 Hagen 160. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Hagenmattenstraße 6, 79117 Freiburg 161. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Kirchenrechtliches Institut, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 162. de Wall, Dr. Heinrich, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, 91054 Erlangen 163. Walther, Dr. Helmut, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 164. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ammerseestraße 102, 82131 Gauting 165. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Universität Bayreuth, Professur für Bayerische Landesgeschichte, 95440 Bayreuth 166. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 167. Westphal, Dr. Sigrid, Professor, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Neuer Graben 19/21, 49069 Osnabrück 168. Wienfort, Dr. Monika, Professorin, Technische Universität Berlin, Institut für Geschichte, Franklinstraße 28 / 29, 10587 Berlin 169. Will, Dr. Martin, Privatdozent, Universität Marburg, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, 35032 Marburg 170. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Rechtsgeschichte, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 171. Wißmann, Dr. Hinnerk, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth 172. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Neue Universität, Südflügel, 69120 Heidelberg

Verzeichnis der Mitglieder

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173. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Forschungsstelle für Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht, Belfortstraße 20, 79085 Freiburg 174. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Mommsenstraße 13, 01062 Dresden 175. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Donati u. 35 – 45, 1525 Budapest, Ungarn