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German Pages 85 Year 1982
PETER HÄBERLE
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Schriften zum öffentlichen Band 436
Recht
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
Von
Peter Häberle
DUNCKER
& HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05300 1
Meinen Patenkindern Rolf, Iris, Jasper, Götz, Julia und Thomas Bayreuth, am 31.10.1982
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung: Der Problemzusammenhang I I . Der Begriff der Kultur I I I . Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht
9 10 14
1. Sachliche Teilgebiete
14
2. Rechtstechnische Erscheinungsformen
15
3. Das offene Kulturkonzept als Grundlage
16
4. Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
17
I V . Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß
18
1. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaats als kulturelle Leistung
18
2. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts
19
3. Verfassungskultur
20
V. Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsentwicklung
23
1. Sachlich-systematisches Tableau
23
2. Ansätze zu einer funktionell-rechtlichen Theorie relativer Gewichtung der Teilbeiträge
25
3. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung
27
a) Verfassungsinterpretation
27
b) Verfassungsänderungen
29
c) Verfassunggebung
31
4. Kulturelle Verfassungsvergleichung
33
8
Inhaltsverzeichnis 5. Der Zusammenhang von sachlich-gegenständlicher und personaler Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung
36
6. Schöne Literatur und Literaten im Verfassungsstaat
38
7. Staatsrechtslehre(r) als Wissenschaft und Literatur im kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption
42
V I . Programmatische Folgerungen: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft
47
1. „Kulturwissenschaft" — Ansätze, Traditionen, Fragmente
47
2. Hintergründe für die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze
50
3. Die Zweckmäßigkeit des Begriffs „Kulturwissenschaften"
52
4. Der kulturwissenschaftliche Ansatz
57
5. Einige zentrale Themen kultureller Verfassungslehre
60
a) „Kulturelle Freiheit"
60
b) Erziehungsziele und Orientierungswerte
63
c) Der kulturelle Trägerpluralismus
66
d) Der „kulturelle Bundesstaat"
68
e) Präambeln von Verfassungen
69
6. Die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre
73
7. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes
76
V I I . Resümee in Thesen
79
Personenregister
81
I. Einleitung: Der Problemzusammenhang „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" w i l l programmatisch ältere, ζ. T. verschüttete Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammenfügen: I m interdisziplinären Gespräch m i t einer älteren Tradition von „Kulturwissenschaften" ( Dilthey , Α. Weber, M. Weber) und i n Anknüpfung an bewährte Erkenntnisse der Zivilrechtslehre, insbesondere ihrer großen Tradition der Rechtsvergleichung, gilt es, an eine kulturwissenschaftliche „Spur" der Weimarer Tradition zu erinnern, die mit den Namen R. Smend und G. Holstein, H. Heller, auch A. Hensel verbunden ist, aber i m Gefolge des Wiederaufbaus nach 1945, der bundesdeutschen Fixierung auf Wirtschaft und Wohlstand und des Streits u m die „werthierarchische Methode" 1 vergessen wurde. Das i n mehr als 3 Jahrzehnten bewährte GG hat eine Tradition der Verfassungs-Kultur, Wissenschaft und Praxis haben ein Ensemble von Verständnissen und Vorverständnissen geschaffen, das nun umfassender gewürdigt werden muß — aus der Sicht einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Die GG-Texte bleiben juristische — „positive" — Texte, aber sie verweisen auf mehr als dies: auf eine Wirklichkeit, die der Text nur ausschnittsweise und „oberflächlich" indiziert — und auch geschaffen hat. So sehr sich gerade heute das Interesse Sachbereichen zuwendet, die i m engeren Sinne „Kulturverfassungsrecht" sind: Es ist nur Symptom dafür, daß die „Sache K u l t u r " noch viel umfassender und tiefer Gegenstand einer Verfassungslehre wurde: einer kulturwissenschaftlich orientierten Verfassungslehre.
1 E. Forsthoif, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für C. Schmitt, 1959, S. 35 ff. — Schon fast klassische Kritik bei A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. (wieder abgedruckt u.a. in: R. D r e i e r / F . Schwegmann [Hrsg.], Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 80 ff.).
I I · Der Begriff der Kultur Das Programm einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft darf den zentralen Begriff der K u l t u r nicht einfach voraussetzen, kann seine Vielschichtigkeit andererseits aber definitorisch oder sachlich kaum erfassen 2. Die Wissenschaft vom öffentlichen Recht geht regelmäßig von einem Begriff der „ K u l t u r " i n einem engen Sinne aus, der sich i n Anknüpfung an die Ausgestaltungen i m positiven Recht sowie wissenschaftliche Grundlegungen zum Kulturverwaltungsrecht ziemlich konkret als jene Sphäre bestimmen läßt, i n welcher der Staat mit der Welt des Geistes eine besonders enge Verbindung eingeht: nämlich i n den drei Hauptbereichen Bildung, Wissenschaft und Kunst 3 . Dieser engere Kulturbegriff hat zudem den beachtlichen Vorteil, daß er an ein verbreitetes Alltagsverständnis von „ K u l t u r " anknüpfen kann. Denkt man freilich nicht nur von Recht und Staat zur K u l t u r , sondern umgekehrt (auch) von der K u l t u r her zum Recht h i n und ergänzt man das Alltagsverständnis von K u l t u r u m anthropologische und soziologische Definitionen, dann zeigen sich schnell die (Erkenntnis-)Grenzen einer solchen begrifflichen Verengung (so sehr sie auch den Begriff der K u l t u r als juristischen praktisch handhabbar machen mag). Nach einer klassischen Definition von Ε. B. Tylor ist nämlich K u l t u r oder Zivilisation jenes komplexe Ganze, das Kenntnis, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitten und andere Fähigkeiten und Gewohnheiten, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat, einschließt. Andere Definitionen sprechen von „sozialer Erbschaft" (R. Linton) oder vom „Ganzen der sozialen Tradition" (Lowie). Nach Erarbeitung dieser frühen, klassischen Definition hat die weitere (kultur-)anthropologische Diskussion Begriffe wie Hochkultur, Volkskultur, Subkultur, Kastenkultur, parasitische K u l t u r u. ä. mehr geprägt 4 ; diese Begriffe weisen 2 Zum folgenden Abschnitt ausf. P. Häberle, Kultur verfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 13 ff.; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (27 ff.). 8 So grundlegend T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 8 f., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 249 (253 f.). 4 Zur Definition von Tylor, s. E.B. Tylor, Die Kulturwissenschaft, in: R. König / A. Schmalfuß, Kulturanthropologie, 1972, S. 51 (52); die Definition von Linton findet sich in seinem Werk R. Linton , The Study of Man, New York 1936; eine ausführliche Beschreibung von Kultur in den verschieden sten Koordinatensystemen bei A. Kroeber, Anthropology, 1948, S. 252 ff., bes.
I I . Begriff der Kultur
11
darauf hin, daß die K u l t u r eines Gemeinwesens von horizontalen und vertikalen Unterteilungen geprägt ist. Jene Theoretiker, die besonderes Gewicht auf bestimmte wiederkehrende Muster („patterns") legten, schrieben, daß K u l t u r aus expliziten und impliziten Mustern für und von Verhalten bestehe, die durch Symbole erworben und tradiert werden und die die spezifische Errungenschaft menschlicher Gruppen darstellen, unter Einschluß der jeweiligen Verdinglichung; der essentielle K e r n von K u l t u r bestehe aus traditionalen (d. h. historisch abgeleiteten und ausgewählten) Ideen und besonders den ihnen zugeordneten Werten; Kultursysteme könnten einerseits als Produkte von Handlungen und andererseits als konditionierende Elemente weiterer Handlungen aufgefaßt werden 5 . Kroeber und Kluckhohn haben aus über 150 derartigen Definitionen und begrifflichen Annäherungen an K u l t u r verschiedene Klassifikationsmerkmale und -ebenen erarbeitet: Neben der deskriptiven Beschreibung der Objektbereiche von Kultur® halten sie für zentral folgende Begriffsschwerpunkte: K u l t u r w i r d betrachtet historisch (als soziales Erbe oder Tradition), normativ (als Regeln oder Lebensweise bzw. i m Hinblick auf Ideale oder Werte und Verhalten), psychologisch (im Sinne von problemlösender Anpassung oder als Lernvorgang oder als Erfassung von Gewohnheiten), strukturalistisch (im Sinne der Erfassung der Muster („patterns") bzw. der Organisation der K u l t u r ) oder genetisch (im Sinne von K u l t u r als Produkt, als Ideen oder als Symbole) 7 . Solche anthropologischen bzw. sozio265 ff., 274 ff., 276 ff. (Kasten- und Parasitenkulturen), 280 ff. (Land und Stadt), 304 ff. (Funktion); zum Begriff der Subkultur R. König, Über einige Grundfragen der empirischen Kulturanthropologie, in: König / Schmalfuß, a.a.O., S. 7 ff. (34 ff.); J. M. Yinger, Contraculture and Subculture, in: A.S.R. 25 (1960), S. 625 ff.; F. Sack, Die Idee Subkultur: eine Berührung zwischen Anthropologie und Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 23 (1971), S. 261 ff. 6 A.L. Kroeber / C. Kluckhohn, Culture (1952), Reprinted New York: Vintage books ο. J., S. 357; vgl. auch M. Singer, Art. „The Concept of Culture", International Encyclopedia of the Social Sciences, London 1968, Vol. 3, S. 527. Sehr anschaulich, wie umfassend die anthropologischen Kulturansätze sind — gegenüber einem mehr auf den Bildungsbereich konzipierten Alltagsverständnis von Kultur — ist z. B. die beispielhafte Umschreibung von T. S. Eliot, Notes towards the Definition of Culture, London 1948, S. 31 : Der Gebrauch des Wortes Kultur umschreibe alle charakteristischen Aktivitäten und I n teressen eines Volkes, so z.B. für die Engländer den Tag des Derby, der Henley-Regatta, den Tag von Cowes, den 12. August, das Cup-Finale, die Hunderennen, das Darts-Spiel, gekochten Kohl, länglich geschnitten, rote Beete in Essig, gotische Kirchen aus dem 19. Jahrhundert und die Musik von Elgar. — I n einer neueren kulturanthropologischen Bestandsaufnahme wird solchen eher „fatalistischen" Betrachtungsweisen idealtypisch eine „mentalistische" gegenübergestellt, die Kultur als gedankliches System von gemeinsamen Wissens- und Glaubensinhalten enger faßt (vgl. F. R. Vivelo, Handbuch der Kulturanthropologie, 1981, S. 50 ff.). • Diesem Verständnis entspricht die obige Aufzählung von Kulturbereichen in der Verfassung (Kultur i. e. S.), wie sie im öffentlichen Recht verbreitet ist.
12
I I . Begriff der Kultur
logischen A n s ä t z e z u r E r f a s s u n g dessen, w a s K u l t u r
ist, lassen sich
k a u m p r o b l e m l o s u n d sicher n i c h t ganz f ü r „ d e n K u l t u r s t a a t " u n d sein Verfassungsrecht o p e r a t i o n a l i s i e r e n . D r e i E i n s i c h t e n seien f e s t g e h a l t e n : K u l t u r i s t d i e V e r m i t t l u n g dessen, w a s w a r — das ist d e r traditionale A s p e k t 8 . K u l t u r ist d i e W e i t e r e n t w i c k l u n g dessen, w a s w a r — dies ist d e r innovative, (auch) auf sozialen W a n d e l ausgerichtete A s p e k t ; u n d d i e K u l t u r i s t n i c h t i m m e r i d e n tisch m i t d e r K u l t u r : d. h., e i n politisches G e m e i n w e s e n k a n n verschiedene K u l t u r e n h a b e n — dies ist d e r pluralistische A s p e k t . A n diesem System der drei Orientierungspunkte Tradition, W a n d e l u n d Pluralism u s b z w . O f f e n h e i t h a t sich eine D o g m a t i k des K u l t u r v e r f a s s u n g s r e c h t s ebenso w i e d i e V e r f a s s u n g s l e h r e als K u l t u r w i s s e n s c h a f t z u o r i e n t i e r e n . D i e eingehende B e s c h ä f t i g u n g m i t a l l diesen T e i l a s p e k t e n d e r K u l t u r eines p o l i t i s c h e n G e m e i n w e s e n s 9 w ü r d e das T h e m a dieses E n t w u r f e s sprengen; w i c h t i g i s t n u r d i e E r k e n n t n i s , daß die K u l t u r eines G e m e i n wesens m e h r oder w e n i g e r s t a r k w o h l i m m e r a l l diese A s p e k t e a u f 7 A.L. Kroeber IC. Kluckhohn, Culture (Fn. 5), S. 77 ff.; ausf. (in primär kulturanthropologischer Sicht): I.-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt, 1978, S. 52 ff.; s. ferner auch R. Maurer, Art. Kultur, in: H. Krings u.a. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 1973, S. 823 ff. — Zur Begriffsgeschichte des Wortes Kultur s. die vorzügliche Münchener Dissertation (phil.) von I. Baur, Die Geschichte des Wortes „Kultur" und seiner Zusammensetzungen, 1951; J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 1941. s. auch O. Jung, Zum Kulturstaatsbegriff, Johann Gottlieb Fichte — Verfassung des Freistaates Bayern — Godesberger Grundsatzprogramm der SPD, 1976. 8 Vgl. zuletzt R. Liebermann, Zur Tradierung der kulturellen Werte, St. Gallen 1982. 9 Spätestens die zweite Weltkulturkonferenz der Unesco in Mexiko im August 1982 hat gerade wegen ihres starken Pro und Contra eine breitere Öffentlichkeit für Fragen der Kultur und Kulturpolitik sensibilisiert, vgl. etwa die kritischen Berichte in F A Z vom 4. 8.1982 und 14. 8.1982, S. 19. So polemisch die Auftritte von J. Lang, dem französischen Kulturminister, und anderer waren, die „Erklärung von Mexiko" (zit. nach FR vom 9.8.1982, S. 1) enthält einige Prinzipien, die sich zu Elementen eines „werdenden K u l turverfassungsrechts" als „soft law" verdichten sollten; z.B.: „Die Unesco spricht sich für eine Kulturpolitik aus, die die nationale Identität eines jeden Volkes wahrt und bereichern hilft". — „Es müssen neue Wege in der politischen Demokratie gefunden werden, die Chancengleichheit in der Erziehung und Kultur garantieren". — „Rückgabe illegal angeeigneter Kunstwerke an die Ursprungsländer ist ein Grundprinzip der Beziehungen zwischen den Völkern". — „Die Expansion und Wechselbeziehungen in Kultur, Wissenschaft und Erziehung sollen zur Festigung des Friedens, zum Respekt der Menschenrechte, zur Ausmerzung des Kolonialismus . . . beitragen". So lange es dauern wird, bis sich diese Prinzipien in Kulturpolitik und -Recht umsetzen, festzuhalten sind Begriffe wie „schöpferische Freiheit und kulturelle Identität der Nationen", der pädagogische Aspekt, die indirekte Anerkennung kultureller Vielfalt und kultureller Grundrechte. Auf lange Sicht könnte auch der „kooperative Verfassungsstaat" (dazu mein Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff.) neue Arbeitsfelder im kulturellen Bereich finden. — Krit. zu J. Lang: P. de Plunkett, La Culture en veston rose, 1982.
I I . Begriff der Kultur
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weisen wird. Nur eine derartig disziplinierte, den Begriff der K u l t u r zwischen seinen variablen Polen und vielfältigen Ebenen nach dem jeweiligen rechtlichen Kontext differenzierende Betrachtungsweise w i r d der Aufgabe des Juristen und seiner Wissenschaft gerecht: sich mit ihrem Normensystem (das hier i m übrigen selbst Bestandteil der K u l t u r ist) 10 auf die Schaffung eines Rahmens zu beschränken, i n dem die K u l tur des politischen Gemeinwesens sich entwickeln kann. Die so i m weiten Sinne verstandene „ K u l t u r " bildet den Kontext aller Rechtstexte und aller rechtlich bedeutsamen Handlungen i m Verfassungsstaat — vor allem auch ihrer (rechtlichen und rechtswissenschaftlichen) Bedeutung gelten die nachfolgenden Ausführungen; wo diese nur jene K u l t u r i m engeren Sinne meinen, w i r d das ausdrücklich hervorgehoben. Ein derartig weiter Kulturbegriff läuft nur auf den ersten Blick Gefahr, daß „ K u l t u r " zum Alles und Nichts erklärenden Allerwelts- oder Blankettbegriff degeneriert; jede Einengung schon auf abstrakter (und nicht erst auf sachbereichsspezifisch konkreter) Ebene würde indessen m i t einem Verlust an Problembewußtsein, Forschungsmöglichkeiten und Erkenntnischancen erkauft werden, die i m Gefolge der hier intendierten Skizze nur substanziell, d. h. i n der Sache sich bewähren bzw. widerlegt werden sollten (und nicht durch Frageverbote); die Zweckmäßigkeit dieses Ansatzes gilt es zu zeigen.
10 Vgl. zum Recht als Element der Kultur: J. M. Broekman, Recht und Anthropologie, 1979, S. 87 ff. — L. Pospisil, Anthropologie des Rechts, Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, 1982, arbeitet betont kulturgeschichtlich und -vergleichend (z.B. S. 421, 431, 433). Er feiert auch Montesquieu, der das Recht als „ein relatives, das heißt ein kulturabhängiges Gebilde" aufgefaßt habe (ebd., S. 175). — Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz im Rahmen Vergleichender Religionswissenschaft bei M. Eliade , Die Sehnsucht nach dem Ursprung, 1973, bes. S. 82 f., 85 ff., 90, 208.
I I I . Kultur in der Verfassung: Kulturverfassungsrecht Einen ersten Zugang zum Verhältnis von Verfassung und K u l t u r gibt das K u l t u r verfassungsrecht als die Summe jener Verfassungsnormen, die die kulturellen Angelegenheiten i m engeren Sinne (bundes- oder landes-)verfassungsrechtlich umfangen 11 . 1. Sachliche Teilgebiete Wie auch für das Kulturverwaltungsrecht sind danach zunächst jene drei bereits genannten sachlichen Hauptbereiche Bildung (Art. 12 i. V. m. A r t . 3, 20 Abs. 1 GG, einschließlich Erwachsenenbildung, A r t . 139 Verf. Bayern, und Privatschulfreiheit, A r t . 30 Verf. Rheinland-Pfalz), Kunst und Wissenschaft gemeint (Art. 5 Abs. 3 GG, A r t . 18 Verf. NordrheinWestfalen). Konstituierende Gemeinsamkeiten dieser Kulturbereiche, die für die Zweckmäßigkeit des Begriffs „Kulturverfassung" sprechen, sind das besondere Maß an Autonomie, Freiheit, Distanz zur Zwangsgewalt des Staates 12 mit der Folge, daß das Selbstverständnis der am kulturellen Prozeß Beteiligten für die Interpretation der K u l t u r v e r fassung eine besondere Bedeutung erlangt 1 3 ; deshalb läßt sich auch das Staatskirchenrecht (Art. 140 GG, 132—150 Verf. Bayern, Art. 41—48 Verf. Rheinland-Pfalz) als „spezielles" Kulturverfassungsrecht begreifen 14 . Die Gemeinsamkeiten rühren daher, daß Kulturverfassungsrecht sich auf jenes skizzierte Alltagsverständnis von K u l t u r i m engeren Sinne bezieht.
11 Zum folgenden Abschnitt ausf.: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht (Fn. 2), S. 17 ff.; ders., Vom Kulturstaat . . . (Fn. 2), S. 8 ff., 33 ff. 12 T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 9 f., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 255. 13 Zur Relevanz des Selbstverständnisses vgl. BVerfGE 24, 236 (247 f.) sowie P. Häberle, D Ö V 1969, S. 385 ff. (388); ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß — ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 121 (124 f.); s. jetzt BVerfGE 54, 148 (155 f.) — Fall Eppler. — Eine Bezugnahme auf das Selbstverständnis, in concreto eines Untersuchungsausschusses, in BremStGH Bd. 3, 1979, S. 75 (89). — (Teil)Kritik am Ansatz des Verf. bei J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980. 14 Vgl. K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 157 ff., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 281 ff.
15
2. Rechtstechnische Erscheinungsformen
2. Rechtstechnische Erscheinungsformen Rechtstechnisch begegnen Kulturverfassungsnormen i n verschiedener Gestalt: a) i n allgemeinen oder speziellen Kulturstaatsklauseln (z. B. A r t . 3 Verf. Bayern: Bayern ist ein „Kulturstaat"; A r t . 139 ebd.: Auftrag zur Erwachsenenbildung; s. auch A r t . 29 Abs. 1 S. 2 GG: „kulturelle Zusammenhänge") ; b) i n Erziehungs- bzw. Bildungszielen sen: Toleranz);
(z. B. A r t . 56 Abs. 3, 4 Verf. Hes-
c) i n Kompetenzkatalogen (Aufgabennormen) des Bundes (Art. 74 Ziff. 5, 13, 75 Ziff. 1 a GG) oder des Landes (Art. 141 Verf. Bayern); d) i n Grundrechtsverbürgungen (Stichwort: kulturelle (Abwehr-)Freiheiten und ihre leistungsstaatliche Förderung — kulturverfassungsrechtliches Grundrechtsverständnis, z. B. A r t . 5 Abs. 3 GG); e) i n Präambeln
15
sowie i n Eidesklauseln und
Feiertagsgarantien
16
;
17
f) i m sog. kommunalen Kulturverfassungsrecht als Teil des ,kulturellen Trägerpluralismus', vgl. A r t . 10 Abs. 4, 83 Abs. 1, 140 Verf. Bayern. I m übrigen läßt sich das Kulturverfassungsrecht strukturieren durch die Unterscheidung zwischen individualrechtlichem Kulturverfassungsrecht (ζ. B. subjektive Freiheit des Künstlers und Wissenschaftlers: A r t . 5 Abs. 3 GG, A r t . 10 Verf. Hessen; Recht auf Bildung: A r t . 27 Verf. Bremen), objektiv-institutionellem Kulturverfassungsrecht (ζ. B. Einrichtungen der Volks- und Erwachsenenbildung: Art. 32 Verf. Saar, Art. 17 Verf. Nordrhein-Westfalen; Feiertagsschutz: A r t . 22 Verf. Berlin; Anstaltsseelsorge: A r t . 54 Hessen; Kunstförderung: A r t . 7 Verf. Schleswig-Holstein) und korporativem Kulturverfassungsrecht, etwa der Garantie des Wirkens von sozio-kulturellen Verbänden (z. B. A r t . 37 Verf. Nordrhein-Westfalen), vor allem der Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 51 Verf. Hessen, A r t . 137 WRV i. V. m. A r t . 140 GG); naturgemäß gibt es hier viele Zwischen- und Mischformen bzw. Komplementärverhältnisse. 15 Z u ihnen ausf. meine Bayreuther Antrittsvorlesung, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff. 16 Dazu ders., ebd. in: FS Broermann, S. 235 ff. — Vgl. zuletzt P. Weinacht, Wochenendverhalten und Feiertagskultur, in: Lebendige Seelsorge, 33. Jg. 10/1982, S. 267 ff. Aus der Rspr. jetzt BayVerfGH, NJW 1982, S. 2656 ff. 17 Ausf. P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt — ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 21 ff.; E. Pappermann, Grundzüge eines kommunalen Kulturverfassungsrechts, DVB1. 1980, S. 701 ff.; zuletzt F.-W. Kiel, Kommune und Kunstförderung, Das Rathaus 1981, S. 426 ff. — Die Zitate der Landesverfassungen nach C. Pestalozza (Fn. 45).
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I I I . Kultur in der Verfassung 3. Das offene K u l t u r k o n z e p t als Grundlage
G r u n d l a g e d e r e r w ä h n t e n Gegenstandsbereiche des K u l t u r v e r f a s sungsrechts ist ungeachtet seines a n sich engeren B e g r i f f s v o n K u l t u r e i n offenes K u l t u r k o n z e p t , das — i n A b k e h r v o n e i n e m (nur) „ b i l d u n g s b ü r g e r h a f t e n " K u l t u r v e r s t ä n d n i s — „ K u l t u r f ü r a l l e " (H. Hoffmann) 18 u n d „ K u l t u r v o n a l l e n " als e m p i r i s c h e Größe u n d als n o r m a t i v e L e i t l i n i e ernst n i m m t . D e r w e i t e , v i e l f ä l t i g e , offene K u l t u r b e g r i f f u m schließt d i e b ü r g e r l i c h e T r a d i t i o n s - u n d B i l d u n g s k u l t u r ebenso w i e „Populär"- und Breitenkultur, wie Alternativ-, Sub- und Gegenkulturen19. K u l t u r bzw. der hier vertretene K u l t u r b e g r i f f w i r k e n zudem i n d e n b e r u f l i c h e n A l l t a g h i n e i n w i e aus d e m b e r u f l i c h e n A l l t a g h e r aus, n e b e n seiner h e r k ö m m l i c h e n u n d b e i z u b e h a l t e n d e n S i t u i e r u n g i m F r e i z e i t b e r e i c h 2 0 . Das N e b e n e i n a n d e r , d e r Austausch, auch d i e K o n kurrenz von Hochkultur, Volkskultur und Subkultur, von Konsum- und A k t i v k u l t u r i s t eine G a r a n t i e f ü r k u l t u r e l l e V i e l f a l t . Diese l e b t aus d e m gerade „ i m " B u n d e s s t a a t ausgebauten K u l t u r v e r f a s s u n g s r e c h t mit 18 H. Hoffmann, Kultur für alle, 1979, 2. Aufl. 1981. Hilmar Hoffmanns Buch „Kultur für alle" besitzt bis heute im Bereich der Kulturpolitik programmatischen Hang. Er erkannte als einer der ersten die Funktion von Kultur und (Weiter)Bildung, kämpfte für einen neuen, die Freizeit einschließenden, nicht mehr affirmativen, autonomen Kulturbegriff und verallgemeinerte die Hochkultur zur Allgemeinkultur. Als Kulturdezernent von Frankfurt/M. setzte er seine „konkreten Utopien" auch zum Teil in Praxis um: Er erfand das kommunale Kino, baute die Museumsdidaktik aus, forcierte Erwachsenenbildung und kulturelle Angebote für Minderheiten, Alte und Kinder. Es kennzeichnet die Phasenverzögerung zwischen politischer Programmatik und den Wissenschaften im allgemeinen bzw. zwischen kulturpolitischen Vorstößen und der sie aufgreifenden Rechtswissenschaft im besonderen, daß diese H. Hoffmann nur langsam zu rezipieren beginnt, obwohl das Kulturverfassungsrecht der deutschen Länder früh genug Ansätze zum Austausch geboten hätte (vgl. meine Kulturpolitik in der Stadt — ein Verfassungsauftrag, 1979, bes. S. 60). — s. auch die differenzierte Kritik bzw. Rezension des Buches von Hoff mann durch J. Kolbe, „Kulturvorarbeiters Utopia", in: Der Spiegel Nr. 16/1979, S. 241 ff. Prägnant auch H. Hoffmann, Kein Selbstbedienungsladen für Reformhaus-Kunst, FR vom 27.10. 1980, S. 22, mit Stichworten wie „kulturelle Chancengleichheit und Vielfalt der Persönlichkeit". 19 Vgl. im Zusammenhang „Massenkultur" die kulturkritischen Thesen zur „Industrialisierung der Kultur" bei M. Birnbaum, Die Krise der industriellen Gesellschaft, 1972, S. 111 ff. — Als empirische Analyse von Subkulturen in England: M. Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen, 1981. — Grdlg. I . - M . Greverus, Kultur und Alltagswelt, 1978. 20 Von „Animation zum kulturorientierten Freizeitgebrauch" spricht der Kulturbericht des damaligen Hamburger Senators für Wissenschaft und Kunst, Prof. D. Biallas, 1978 (zit. nach F A Z vom 25.4.1978, S. 23). Jüngst ist z.B. auch der Hamburger „Kulturbericht 82" stark umstritten bzw. beachtet worden, vgl. F A Z vom 13. und vom 24. 8.1982, S. 23 bzw. 19 sowie FR vom 20. 8.1982, S. 7. — O. v. Nell-Breuning erwartet, daß immer mehr Menschen von der Arbeitszeitverkürzung profitieren und einen „immer weiter wachsenden Teil ihrer Zeit für die Pflege kultureller Güter und Werte . . . verwenden" (FR vom 6.11.1982, S. 4).
4. Verhältnis zur Verfassungslehre
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seinen Elementen der kulturellen Freiheit, des kulturellen Pluralismus, der kulturellen Gewaltenteilung: Dieses offene Kulturverständnis ist Konsequenz der pluralistischen Struktur des politischen Gemeinwesens. Entscheidend bleibt der anthropologische Ansatz: Der Mensch hat verschiedene kulturelle Bedürfnisse, ihnen muß das Verfassungsrecht einen optimalen Rahmen geben. Das Recht, auch Kulturverfassungsrecht i m Bundesstaat, ist insofern nur Instrument! Der Mensch lebt nicht von der K u l t u r allein, aber er lebt doch wesentlich auch auf K u l t u r h i n und von der K u l t u r früherer und heutiger Generationen. Sie ist bzw. schafft die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Sinngebung in einer als offen gedachten Geschichte. 4. Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Was das Kulturverfassungsrecht „normiert", sind indessen nur Ausschnitte aus der Sache K u l t u r . Schon der Verfassungstext n i m m t sich ihrer direkt „unvermittelt" an, soweit dies i n diesem sensiblen Feld überhaupt möglich ist. Hier stehen die Ausschnitte von K u l t u r i m engeren Sinne wie Wissenschaft und Kunst, Bildung und Ausbildung, auch Erziehungsziele, offene K u l t u r p o l i t i k und Sport etc. i n denkbar engem Verhältnis zum Recht. Es kommt zu einer „Symbiose" von Recht und K u l t u r , man spricht mit Grund von „Kulturrecht". Das Verhältnis von Verfassung und K u l t u r i m weiteren Sinne ist demgegenüber vermittelter, indessen nicht weniger wichtig. Auch das Wirtschaftsverfassungsrecht, auch das politische Leben, die Werthaltungen eines Volkes, Gegenstand der Forschungen zu seiner „politischen K u l t u r " , sind „ K u l t u r " . Während das Kulturverfassungsrecht sich auch i m engeren Sinne juristisch erfassen läßt, bedarf ein Verständnis der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft vieler Zwischenglieder und der Zuarbeit vieler Wissenschaftler. Das ist näher zu zeigen.
I V . Verfassung als Kultur und kultureller Prozeß 1. Der Typus des demokratischen Verfassungsstaats als kulturelle Leistung Verfassungslehre bezieht sich auf den Typus der demokratischen Verfassungen, wie sie sich i n der freien, westlichen Welt durchgesetzt haben 21 , auf ihre wesentlichen Inhalte und Verfahren, nicht auf ihre einzelnen Beispiele i n der Tiefe und i m Laufe der Geschichte sowie i m weltweiten Raum. Dieser Typus setzt sich aus idealen und realen — Staat und Gesellschaft betreffenden — Elementen zusammen, die bei kaum einem Verfassungsstaat alle gleichzeitig erreicht sind, die aber einen optimalen Sollzustand und einen möglichen Istzustand meinen. Solche Elemente sind: die Menschenwürde als Prämisse, erfüllt aus der K u l t u r eines Volkes und universalen Menschheitsrechten, gelebt aus der Individualität dieses Volkes, das seine Identität i n geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen und seine Hoffnungen in Wünschen und i m Gestaltungswillen für die Zukunft findet; das Prinzip der Volkssouveränität, aber nicht verstanden als Kompetenz zur Beliebigkeit und als mystische Größe über den Bürgern, sondern als Formel zur Kennzeichnung des immer neu gewollten und öffentlich verantworteten Zusammenschlusses; die Verfassung als Vertrag, i n deren Rahmen Erziehungsziele formuliert und Orientierungswerte möglich und notwendig sind; das Prinzip der Gewaltenteilung i m engeren staatlichen und weiteren pluralistischen Sinne, das Rechtsstaats- und Sozialstaats-, aber auch das (offene) Kulturstaatsprinzip, Grundrechtsgarantien, Unabhängigkeit der Rechtsprechung etc. A l l dies fügt sich zu einer verfaßten Bürgerdemokratie m i t dem Pluralismus als Prinzip. Diese Skizze soll verdeutlichen, daß dieser Typus m i t seinen zentralen Elementen selber eine kulturelle Errungenschaft des westlichen abendländischen Kulturkreises ist. Er ist Ergebnis und Leistung kultureller Prozesse, wie sie als „kulturelles Erbe" etwa i n Klassikertexten tra21 Vgl. dazu auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 11. — Verfassungslehre als Lehre von der „guten" Verfassung übersteigt die herkömmliche Verfassungsrechtslehre: Durch ihre von vorneherein erkannten verfassungspolitischen, -vergleichenden und -geschichtlichen Dimensionen meint sie nie nur das positive Verfassungsrecht, wie es ist, sondern auch das mögliche Recht, wie es innerhalb des Typus „westlicher Verfassungsstaat" je nach dem kulturspezifischen Rahmen sein kann und sein soll.
2. Kulturelle Grundierung
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diert und immer neu angeeignet werden, und erhebt zugleich einen Zukunftsanspruch, das einmal erreichte kulturelle Niveau des Verfassungsstaates nicht mehr zu unterschreiten, sondern zu bewahren, allenfalls zu verbessern (soweit Zwerge auf den Schultern der klassischen Riesen besser sehen können 22 ). 2. Die kulturelle Grundierung des Verfassungsrechts M i t „bloß" juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren — sie w i r k t wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines k u l turellen Entwicklungszustandes, M i t t e l der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen", Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten 23 . Entsprechend tiefer liegt ihre — kulturelle — Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfaßt i n dem von H. Heller aktivierten B i l d Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert k u l t u r e l l betrachtet ist es i n (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die A k zeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung i m Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen etc. — all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, daß ein Verfassungsstaat hic et nunc „ w i r k l i c h " ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur i n Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung i n der „politischen Kultur" eines Volkes? Sind die spezifisch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so i n die Wirklichkeit umgesetzt, daß sich der Bürger m i t ihnen identifizieren kann? M. a. W.: Die rechtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit einer 21
R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1980 (amerik. 1965). I m nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung" nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142. 23
2·
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I V . Verfassung als kultureller Prozeß
„lebenden Verfassung", die — weit- und tiefgreifend — kultureller A r t ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung „ k u l t i v i e r t " werden. Vor allem die Präambeln und (ausdrücklichen oder verdeckten) Erziehungsziele (wie Toleranz, Pflichtbewußtsein, Solidarität), auch Symbole oder Feiertagsgarantien formulieren als „kulturelle Kristallisationen" (L. Kolakowski) i m Verfassungstext Kulturgehalte der Verfassungen m i t eher nicht-juristischen M i t t e l n und i n einer nicht-juristischen Sprache, die vielfach bürgernäher, aber auch „idealistischer" ist als die der übrigen Verfassungsnormen. Der verfassungstextlich aggregierte Kulturgehalt ist aber nur eine besondere Form der „juristischen Verdichtung"; dieser rechtliche „Aggregatzustand" bedarf anderer „ A g gregate": der „kulturellen Ambiance", etwa aus Verfassungstexten i. w. S. wie Klassikertexten 2 4 u. ä. Ihre Dichte ist unterschiedlich, sie „gelten" kulturell, nicht-juristisch, und bilden letztlich doch ein Ganzes. Sie sind eine A r t „nicht-juristischer Fassung" der Verfassung. Als Glaubensartikel wollen sie den „Geist" zum Ausdruck bringen, aus dem die verfassungsjuristische Seite von Verfassungen entsteht und tradiert werden soll. Die Identität der Verfassung des Pluralismus zwischen Überlieferung, Erbe und geschichtlicher Erfahrung einerseits, Hoffnungen, Möglichkeiten und Gestaltungsfähigkeit der Zukunft eines Volkes andererseits ist von vornherein eine Bezugnahme auf den k u l turellen Zusammenhang eines Volkes, wie er i n großen Zeiträumen geworden ist. Die Vielfalt kultureller Kristallisationen (vom Klassikertext über eine Festrede des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers bis zum Sondervotum des BVerfG und der A r t i k u l a t i o n von Selbstverständnissen durch Künstler und Wissenschaftler) ist das Substrat für die Entfaltung der normativen Texte, die als Katalysator wirken. 3. Verfassungskultur I m Begriff „Verfassungskultur" 2 5 als dem Insgesamt der subjektiven Einstellungen, Erfahrungen, Werthaltungen, der Erwartungen und des 24 Dazu eingehend P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 49 ff. 25 Dazu ausf. P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. P e i s l / A . Möhler (Hrsg.), Die Zeit, 1983, i. E. — Ein Parallelbegriff zu „Verfassungskultur" ist „Verwaltungskuliur". Sie meint jene Einstellungen und Praxen, Traditionen und Ziele, Selbstverständnisse und Vorverständnisse, die die öff. Verwaltung über das „rein Rechtliche" hinaus und über längere Zeit hin prägen. Hierzu gehören auch Defizite: die gute oder weniger gute Art, in der die Verwaltung mit dem Bürger „umspringt", ihre tatsächliche oder verfehlte Bürgernähe, ihre Vollzugsdefizite und ihre Effizienz, ihr „Stil", ihre „personale Substanz", ihr Gegen- und Miteinander zu den anderen staatlichen Funktionen sowie ihr Verhältnis zur organisierten und nicht organi-
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3. Verfassungskultur
D e n k e n s sowie des ( o b j e k t i v e n ) H a n d e l n s d e r B ü r g e r u n d P l u r a l g r u p pen, d e r O r g a n e auch des Staates etc. i m V e r h ä l t n i s z u r V e r f a s s u n g als ö f f e n t l i c h e m Prozeß f i n d e t diese nicht-juristische sung eines politischen
Gemeinwesens
Fassung
der
Verfas-
e i n e n angemessenen A u s d r u c k .
Z u m Beispiel sind die Grenzen der Verfassungsänderung k a u m allein i n e i n e r r e c h t l i c h e n sog. „ E w i g k e i t s k l a u s e l " w i e i n A r t . 79 A b s . 3 G G (einer t y p i s c h e n „ J u r i s t e n n o r m " ! ) z u suchen als v i e l m e h r ü b e r p r a k t i zierte Erziehungsziele i m B l i c k auf Menschenwürde u n d Toleranz, F r e i h e i t u n d G l e i c h h e i t : „Pädagogische V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n " als V e h i k e l f ü r Verfassungskultur u n d der pflegliche U m g a n g m i t der q u a l i t a t i v verstandenen Verfassung werden zur w i r k l i c h e n Garantie der Verfassung. B i s aus „erlassenen" V e r f a s s u n g e n eine V e r f a s s u n g s k u l t u r w i r d , b r a u c h t es v i e l Z e i t . D a r u m m u ß ζ. B . d e r Satz, dieses G G sei d i e f r e i h e i t l i c h s t e Verfassung, die es j e a u f deutschem B o d e n gab, d u r c h d i e F r a g e r e l a t i v i e r t w e r d e n , w i e t i e f d i e „ p o l i t i s c h e K u l t u r " 2 6 auch i n K r i s e n d e m o k r a t i s c h g e g r ü n d e t sei, w i e sehr sich i n W o r t u n d T a t d e r einfache B ü r g e r m i t d e n G r u n d r e c h t e n a l l e r a n d e r e n B ü r g e r i d e n t i f i z i e r t , n i c h t n u r m i t d e n eigenen, u n d w i e p f l e g l i c h d i e V e r f a s s u n g v o n allen gewahrt w i r d 2 7 . „Politische K u l t u r " geht der Verfassungskultur sierten Öffentlichkeit. Die Gerichte operieren schon durchaus mit einzelnen Aspekten: etwa im Topos „Sachlichkeit" und bei anderen Anforderungen an „gutes" Verwalten (im Rahmen von Amtspflichten). Gute Verwaltungskultur prägt die Verfassungskultur mit, schlechte verdirbt sie. Die Neigung der Bürokratie, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen, ist schlechte Verwaltungskultur. Zum Allgemeinen Verwaltungsrecht als „Ordnungsidee", durch die die „Verwaltungskultur" eines Landes geprägt werde: E. SchmidtAßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, S. 7. — „Prozeßrechtskultur" wäre ein eigenes Thema. 28 Der Begriff der „politischen Kultur" wird seit geraumer Zeit und neuerdings verstärkt diskutiert; aus der Fülle der Literatur zur „politischen K u l tur" zuletzt etwa: P. Reichel, PVS 21 (1980), S. 382 ff.; ders. t Politische Kultur der Bundesrepublik, 1981; dersPVS 22 (1981), S. 415 ff.; D. Berg-Schlosser, H. Gerstenberger, K. L. Shell / J. Schissler bzw. O. W. Gabriel, jeweils PVS 22 (1981), S. 110 ff., 117 ff., 195 ff. bzw. 204 ff.; J. Schissler (Hrsg.), Politische Kultur und politisches System in Hessen, 1981, bes. S. 7 ff.; G. A. Almond! S. Verba (Eds.), The civic culture revisited, 1980; H. Rausch, Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, 1980; M. und 5. Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands, 1979, bes. S. 18 ff.; T. Stammen, in: J. Becker (Hrsg.), Dreißig Jahre Bundesrepublik — Tradition und Wandel, 1979, S. 11 ff.; s. auch SPD-Grundwertekommission (Hrsg.), Theorie und Grundwerte. Zur politischen Kultur in der Demokratie, 1980; jetzt P. Reichel, Politische Kultur, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 42/82 vom 23.10.1982, S. 13 ff. Demgegenüber besitzt „Verfassungskultur" noch kaum Tradition. Die Sache, die sie meint, ist freilich unter anderen Namen schon diskutiert worden. Das Wort vom Verfassungsrecht als „politischem Recht" (R. Smend, auch ff. Triepel), D. Schindlers „Ambiance", aber auch Überlegungen zum — kulturellen — Kontext von Verfassungsnormen liefern Gesichtspunkte für die Erarbeitung der „Verfassungskultur".
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IV. Verfassung als kultureller Prozeß
i n zeitlicher Hinsicht oft voraus, diese bildet einen spezifischen Aggregatzustand jener 2 8 . Es besteht aber keine volle Identität. Formal setzt Verfassungskultur einen höheren Grad an Dichte, Beständigkeit, Dauer und Objektivation voraus als „politische K u l t u r " : nicht alles, was politische K u l t u r ist, w i r d zur Verfassungskultur; diese verlangt ein M i n destmaß an Ausdauer und Objektivierbarkeit. Verfassungskultur ist Ergebnis generationenlanger Arbeit an der Verfassung. — Inhaltlich hat der (freilich ungeklärte) Begriff der „politischen K u l t u r " einen stärker betonten Bezug zum politischen Prozeß; er meint die kulturellen Grundlagen demokratischen Verhaltens. Verfassungskultur meint diese auch, umfaßt aber noch weiterhin alle verfassungsrelevanten kulturellen Grundlagen des verfaßten Gemeinwesens, auch soweit es an einem unmittelbaren Bezug zur Bestellung, Ausübung und Kontrolle politischer Macht fehlt. Für den Bereich der Demokratie können beispielhaft Felder genannt werden, i n denen das Verfassungsrecht Raum läßt für ein eigenes Werden politischer Kultur. Verfassungskultur nimmt dabei allmählich Elemente dessen auf, was man i n Deutschland allenfalls „Nationalk u l t u r " nennt: Das Wahlverhalten der Bürger, etwa die Bereitschaft, „Machtwechsel" auch wirklich herbeizuführen (wie i n England), Parlamentsbräuche und praktizierter Ehrenkodex der Abgeordneten, die Rolle des Journalismus, auch der freien Advokatur, Sensibilität, Wachsamkeit und Kritikbereitschaft der öffentlichen Meinung, all das sind Momente der „Verfassungskultur" 2 9 .
27 Zum Zusammenhang von Grundrechten und (politischer) Kultur jetzt auch H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 200 ff., 308 f.; s. schon meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 ff. 28 Vgl. auch die These von J. Schissler (Fn. 26), S. 9, demzufolge „jede Wertimplikation im politischen Handeln, in den Verfassungen und den Institutionen als Element von politischer Kultur aufgefaßt und analysiert werden kann". 29 I m einzelnen kann der Inhalt von „Verfassungskultur" ambivalent sein. Die hohe Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen kann als charakteristisches Merkmal der Verfassungskultur angesehen werden, die vom „Willen zur Verfassung" i. S. von K. Hesse gekennzeichnet ist (so: H.-P. Schneider, in: AöR-Beiheft 1, 1974, S. 64 ff. [68 ff.]), aber auch als Signal für politische Störungen oder politischen Zwang (vgl. in dieser Tendenz R. Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, 1968, S. 36 ff.). Der Begriff „Verfassungskultur" findet sich jetzt auch in einem Leserbrief (Prof. G. Wittkämper, F A Z vom 16.10.1982: „Verfall der Verfassungskultur"). — Ausdruck der „Verfassungskultur" ist ζ. B. die Bürgernähe der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie auch dank der das „Rechtsgespräch" eröffnenden Popularklage in Bayern praktiziert wird. — Einen die Wissenschaft vom öffentlichen Recht befruchtenden Vorstoß unternimmt A.-H. Mesnard, L'action culturelle des pouvoirs publics, 1969.
V. Kulturelle Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsentwicklung 1. Sachlich-systematisches Tableau Die Entwicklung jener Verfassungskultur vollzieht sich i m Medium von vielgestaltigen kulturellen Kristallisationen, die die Prozesse der Verfassungsinterpretation, vor allem auch der Verfassungsänderung und Verfassunggebun g nachhaltig mitbestimmen. Realistisch gesehen besorgen nämlich nicht nur eine Vielzahl von Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinn das „Geschäft" der Verfassungsauslegung; bei realistischer Betrachtung bestimmen auch zahlreiche sachliche Momente „neben", „ v o r " oder „nach" den juristischen Texten i n einem tieferen Sinn „ i n " ihnen die Prozesse der Verfassungsentwicklung mit. Bei einer Vergegenwärtigung der tatsächlich wirksamen Faktoren, Momente, Elemente, Gegenstände, kurz: „Objektivationen" des Arbeitens von Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinn ergibt sich folgendes B i l d 8 0 : a) Die staatlichen Funktionen und ihre „Resultate" aa) die Werke der Gesetzgebung, der Exekutive und der Rechtsprechung einschließlich der Teilaspekte einer („bloßen") Staatspraxis wie repräsentative (Fest-)Reden (Bundespräsident, Bundeskanzler); bb) letztverbindlich: die Entscheidungen des BVerfG, gestuft i n tragende Gründe (vgl. § 31 BVerfGG), obiter dicta und die i n ihrer normierenden K r a f t nicht zu unterschätzenden Sondervoten als „Alternativjudikatur" (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) und potentiell letztverbindliche Verfassungsinterpretation von morgen, gestuft aber auch i n Grundsatzurteile oder „ständige Rechtsprechung", i n von der Wissenschaft einhellig als „Fehlurteile" verworfene oder allgemein konsentierte Entscheidungen. b) Die (nicht notwendigerweise staatlichen, aber formell) Verfahrensbeteiligten (und ihr Selbstverständnis) an den Entscheidungen zu a) 30 Vorbild ist, ζ. T. modifiziert, das systematische Tableau bei P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff., jetzt in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. sowie ders., ZSR 97 (1978), S. 1 ff.
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V. Kulturelle Objektivationen
bzw. ihre Werke, z.B.: Gutachten auf allen Ebenen und i n allen Formen: i n Enquête-Kommissionen, Hearings des Gesetzgebers oder der Exekutive (ζ. B. das von der niedersächsischen Landesregierung 1979/80 durchgeführte Gorleben-Hearing oder jüngst (1982) die A n hörung für ein etwaiges Gleichberechtigungsgesetz) 81 , Schriftsätze von Verfahrensbeteiligten; sonstige Arbeiten, i n denen ein „Rechtsgespräch" mit den staatlichen Instanzen aller drei Staatsfunktionen gesucht wird, von der Berufungsschrift bis zur Verfassungsbeschwerde, von der Petition (Art. 17 GG) bis zu einer Pressekonferenz (ζ. B. i n Sachen einer unter Terrorismusverdacht vorläufig i n Untersuchungshaft einsitzenden Studentin i m Fall Ponto). c) Die Objektivationen der pluralistischen Öffentlichkeit als „großen Anregers", gegliedert i n Stellungnahmen der aa) politischen Öffentlichkeit: wie politische Parteien (Parteiprogramme!), Verbände und Vereine, Kirche, Bürgerinitiativen, Bürger-Initiativen etc. und der Medien, eingeschlossen das Verhalten und die Öffentlichkeitsarbeit von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden ; bb) der kulturellen Öffentlichkeit — zu ihr gehören Werke und Leistungen des kulturellen Prozesses eines politischen Gemeinwesens, (besonders) solche i m Bereich der (1) Kunst: kulturelle Kristallisationen wie Klassikertexte oder auch andere klassische Kunstwerke (samt alten und neuen Interpretationen i n der Handschrift großer Regisseure) oder i n den Fachwissenschaften (z. B. der Germanistik oder Pädagogik); (2) der Wissenschaften insgesamt: z. B. die Stellungnahmen der Natur- und Ingenieurwissenschaften zu „Regeln von Wissenschaft und Technik" 3 2 oder der Erziehungswissenschaften zum Thema „staatliche Erziehungsziele"; (3) der Religion: objektiviert i n Bibeltexten, Kirchentraditionen, Ausdrucksformen für Selbstverständnisse und religionstextliche „Weisungen" usw., aber auch z. B. vorbildliche persönliche Lebenshaltungen großer Persönlichkeiten (man denke an Altbundespräsidenten wie T. Heuss). 31 Zu Problemen dieses Hearings: W. Schmitt Glaeser, Die Sorge des Staates um die Gleichberechtigung der Frau, D Ö V 1982, S. 381 ff. 32 Zum Ganzen: P. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979; R. Gr awert, Technischer Fortschritt in staatlicher Verantwortung, in: FS Broermann, 1982, S. 457 ff.
2. Gewichtung der Teilbeiträge
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d) (in noch zu klärender Weise zwischen a), b), c) einzuordnen:) Die Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur, gestuft i n arbeitsteiligen Leistungen erbracht zusammen mit aa) den staatlichen Funktionen (Auftragsarbeiten wie (Partei)Gutachten oder Sachverständigenvoten), freie wissenschaftliche Stellungnahmen zur Verfassungspolitik von Parteien u. ä., Buchoder Entscheidungsrezensionen (ζ. B. auch aus Anlaß des M i t bestimmungsstreits und -Urteils!); bb) Werken und Leistungen der übrigen wissenschaftlichen, der sonstigen kulturellen Öffentlichkeit (in Gestalt von Gegenaufsätzen, Beteiligung an wissenschaftlichen Kontroversen, rechtspolitischen Kongressen wie dem Deutschen Juristentag, auch der Verwaltungsrichtertagung oder dem Verkehrsgerichtstag usw.). 2. Ansätze zu einer funktionell-rechtlichen Theorie relativer Gewichtung der Teilbeiträge Das relative Gewicht, das die einzelnen Grundierungselemente der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten besitzen, entspricht nicht immer dem Gewicht, das sie idealiter haben sollen; Maßstäbe, die die Vielzahl der einzelnen Faktoren von Verfassungstraditionen bis zu Klassikertexten, von Rechtsprechungstraditionen und Staatspraxen bis zu Alternativinterpretationen von Untergerichten, Sondervoten oder Minderheits-, ja Außenseiterpositionen i n der Wissenschaft einander optimal zuordnen, sind aus dem funktionellrechtlichen Ansatz zu gewinnen 8 3 . Aus i h m auch folgt ζ. B., daß es self-restraint beim Absetzen von verfassungsrichterlichen Sondervoten gibt 3 4 ; denn ein Übermaß an Sondervoten ist keine fruchtbare Relativierung einer Entscheidung, sondern tendenziell ihre Negierung. Anders als beim vielstimmigen Meinungsstreit i n der Wissenschaft bleibt der Sondervotant Teil der Funktion „Verfassungsgerichtsbarkeit". Klassikertexte 35 sind von der kulturellen Öffentlichkeit, als Teil von ihr aber auch von der juristischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit, ins Spiel gebrachte Texte. Als kulturelle Kontexte von Verfas33 Grdlg. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963), S. 53 ff., jetzt in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 329 ff. 34 Negatives Beispiel ist die hohe Zahl der Sondervoten im Urteil des BVerfG zum AP1FG (E 55, 274 ff., 329 ff.); krit. auch R. Stettner, DVB1. 1981, S. 375 (376); H. Schulze-Fielitz, DVB1. 1982, S. 328 (337). s. noch unten Fn. 64. 35 Einzelheiten bei P. Häberle, Klassikertexte (Fn. 24), S. 18 ff., 49 ff.
26
V. Kulturelle Objektivationen
s u n g s p r i n z i p i e n s i n d sie aber n i c h t n u r i n t e r p r e t a t i o n s fähig, auch j e n e u i n t e r p r e t a t i o n s bedürftig.
sondern
A l s Verfassungstexte i m weiteren
Sinne sind an ihrer Auslegung Nichtjuristen wie Juristen
beteiligt:
Wissenschaftler w i e Pädagogen, K ü n s t l e r w i e Regisseure u n d Schauspieler. S p e z i e l l f ü r das M i t - u n d G e g e n e i n a n d e r d e r Rechtsprechungsrezensionen als „ k o m m e n t i e r t e r Verfassungsrechtsprechung" i s t i m p l u r a l i s t i s c h e n G e m e i n w e s e n ebenso eine n o r m a t i v e Rezensionstheorie n o t w e n d i g u n d t e n d e n z i e l l schon R e a l i t ä t , w i e dies f ü r wissenschaftliche Buchrezensionen i m B e r e i c h ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e r L i t e r a t u r n a c h w e i s b a r i s t 3 6 . D i e b e h u t s a m e A n e r k e n n u n g d e r R e l e v a n z des S e l b s t v e r s t ä n d nisses v o n K i r c h e n , G r u p p e n , aber auch d e r G r u n d r e c h t s b e r e c h t i g t e n ( B ü r g e r ) 3 7 g e h ö r t ebenso i n dieses p l u r a l i s t i s c h e G e s a m t b i l d v o n Teilmomenten w i e d i e S c h r i t t m a c h e r r o l l e des Gesetzgebers: E r p r ä j u d i z i e r t V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n v i e l f ä l t i g : er schafft p r ä j u d i z i e r e n d e s „ M a t e r i a l " — i n d e r F o r m eines Gesetzes — , das a u f l a n g e Sicht i n d i e „ H ö h e " d e r V e r f a s s u n g a u s s t r a h l t u n d sogar z u m S c h r i t t m a c h e r v o n Verfassungswandel werden kann38. 86
Ausf. P. Häberle, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 15 (63 ff.). Auch im Rezensionsteil sollten die juristischen Fachzeitschriften Impulse vermitteln, ein Stück der Zeit prägen und Wirkung ausüben. Sie gehören nicht nur reflektierend zum „juristischen Gesicht der Zeit", sie bestimmen es auch mit. Dies verpflichtend ins Bewußtsein zu heben, ist das Anliegen meiner Arbeit „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft", 1982. Erste Reaktionen in C. Starcks gleichnamigem Besprechungsaufsatz, JZ 1982, S. 674 f. 87 Nw. oben Fn. 13. 88 Vgl. dazu P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 240 ff.; ders., Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, FS Maunz, 1971, S. 285 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, 2. Aufl. 1972, S. 167 ff., 180 ff., 213 ff. s. a. D. C. Göldner, Verfassungskonflikt und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 88 ff.; O. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht?, 1971, S. 86 ff.; zuletzt H. Schulze-Fielitz, DVB1. 1982, S. 333 ff. — Eine bemerkenswerte Gesetzesnovellierung vollzieht sich derzeit in Griechenland (vgl. F A Z vom 25.9.1982): Das Zensurgesetz von 1931 wird entschärft durch einen Zusatz, wonach als „unschicklich" nicht mehr künstlerische oder wissenschaftliche Werke gelten können, „die zum kulturellen Erbe der Menschheit" gehören oder „die menschliche Erkenntnis erweitern". U m den „künstlerischen oder wissenschaftlichen Wert" eines Werkes zu definieren, soll im Streitfall ein fünfköpfiger Rat berufen werden, der aus Dozenten für bildende Kunst, aus Pädagogen und Vertretern von Kinderschutzverbänden besteht, Kulturelle Freiheit, kulturelles Erbe und Wissenschaft setzen sich hier gegen das herkömmliche Strafrecht auf einfacher Gesetzesebene durch. Zu Kulturelles-Erbe-Klauseln im Verfassungsrecht allgemein: mein Münchener Vortrag „Zeit und Verfassungskultur" (1981), (Fn. 25). Auch sonst gibt es im Typus „Verfassungsstaat" viel „Verfassungserbgut" : z.B. Präambeln, Grundrechts- bzw. Kompetenzteil, Normierungstechniken, Ewigkeitsklauseln, Rezeptions- und Ubergangsvorschriften etc.
3. Ebenen der Verfassungsentwicklung
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3. Funktionsebenen der Verfassungsentwicklung a) Verfassungsinterpretation Schon die Arbeit des Verfassungsinterpreten geht nicht nur mit dem „positiven" Text um — daß sie dies vornehmlich tut, mag eine unverzichtbare „berufsnotwendige" Fiktion sein, so wie das Strafrecht die Willensfreiheit wenigstens als Fiktion ernst nehmen muß S9 . Allenthalben w i r d der Rückgriff auf jenseits oder diesseits des, über oder unter dem juristischen Text(es) liegende „kulturelle Kristallisationen" erforderlich. Methodisch-hermeneutisch gesehen prägen (personal) kulturelle Voraussetzungen schon das jeweilige juristische Vorverständnis des einzelnen Interpreten; aber auch i m Rahmen der einzelnen herkömmlichen handwerklichen Kunstregeln und Auslegungstechniken färbt der kulturelle Kontext von Verfassungsnormen (sachlich) auf deren „fachjuristische" Interpretation ab: Die Explikation des Wortlauts etwa durch historische oder teleologische Interpretationen stößt bald auf kulturelle Hintergründe, die i n den Auslegungsvorgang hereinzunehmen und damit zu disziplinieren sind (und tatsächlich auch hereingenommen und diszipliniert werden). Als ein Beispiel sei der Begriff der „Kunst" i. S. von A r t . 5 Abs. 3 GG genannt: Die These vom staatlichen Definitionsverbot 40 entbindet zwar nicht von den Entscheidungsnotwendigkeiten der Rechtspraxis, verweist aber (auch) auf das sich fortentwickelnde Selbstverständnis der Künstler. Ein sehr weites, i n der Öffentlichkeit mitunter als Scharlatanerie interpretiertes, durch jahrzehntelange künstlerische Praxis entwickeltes Kunstverständnis wie das von J. Beuys w i r k t über die kulturelle Öffentlichkeit allmählich auf den Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG zurück. — Ähnlich läßt sich die stets neu umstrittene rechtliche Reichweite von „Satire" nicht gänzlich unabhängig von den sich wandelnden Einschätzungen des Kulturellen, hier besonders der literarischen Öffentlichkeit, bestimmen. — Auch die ζ. Z. aktuelle Frage, inwieweit die Polizei ihren zusätzlichen Kostenaufwand für Großsportveranstaltungen von den Veranstaltern zurückfordern darf 4 1 , läßt sich ohne eine 39 Zu vorläufigen Überlegungen zum Sinn von Fiktionen im Bereich von Verfassungsrecht und -theorie s. meine Besprechung des Buches von M. Peiffer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, 1980, in: DÖV 1981, S. 809 f. ; s. auch bereits BVerfGE 31, 334 ff. (SV Geller / Rupp), 337 (349 ff., SV Geiger / Rinck / Wand). 40 W. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 217 ff. Allgemein zuletzt F. Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, 1982.
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V. Kulturelle Objektivationen
B e s t i m m u n g des k u l t u r e l l e n S t e l l e n w e r t s des L e i s t u n g s - u n d S p i t z e n sports i n d e r m o d e r n e n „ M a s s e n k u l t u r " ( i m R a h m e n d e r Ermessensa u s ü b u n g nach § § 8 1 A b s . 2 b a d . - w ü r t t . P o l G , 1 nds. P o l G e b O ) s c h w e r l i c h b e a n t w o r t e n : D i e k u l t u r e l l e n H i n t e r g r u n d d i s k u s s i o n e n reichen, auch ü b e r G e m e i n w o h l f o r m e l n , b i s i n d i e e i n z e l n e n F a s e r n des besonderen Verwaltungsrechts hinein. K u l t u r e l l e r Wandel „ f ä r b t " die V e r fassungsinterpretation 42. „ W e n n z w e i Grundgesetze dasselbe sagen, so i s t es n i c h t dasselbe." D i e s e r Satz R. Smends v o n 1951 f ü h r t a u f d i e Frage, w i e es z u r e c h t f e r t i g e n sei, daß dieselben j u r i s t i s c h e n T e x t e , e t w a i n d e n Menschenr e c h t s p a k t e n z w i s c h e n Ost u n d West, aber auch i n d e n e i n z e l n e n V e r fassungsstaaten des Westens, i n R a u m u n d Z e i t verschieden interpretiert w e r d e n u n d verschieden i n t e r p r e t i e r t w e r d e n d ü r f e n . D e r sachliche H i n t e r g r u n d , auf d e m die einzelnen Auslegungsmethoden „geb ü n d e l t " w e r d e n , ist d i e d e n j e w e i l i g e n Verfassungsstaat g r u n d i e r e n d e n a t i o n a l e Kultur. M . a. W . : D e r s e l b e T e x t g e w i n n t i n d e n e i n z e l n e n R e c h t s k u l t u r e n e i n e n j e nach R a u m u n d Z e i t u n t e r s c h i e d l i c h e n I n h a l t . „Kulturspezifische Verfassungsinterpretation" m e i n t die Methoden u n d V e r f a h r e n , aber auch „ H i n t e r g r ü n d e " f ü r diese A u s l e g u n g .
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Vgl. zum Problem zuletzt D. Majer, Die Kostenerstattungspflicht für Polizeieinsätze aus Anlaß von privaten Veranstaltungen, VerwArch 73 (1982), S. 167 ff. 42 Ein Beispiel für aktuelle und zukünftige verfassungsrechtliche Folgen sichtbaren kulturellen Wandels ist die jüngst entschiedene Frage der Vereinbarkeit von § 1705 BGB mit dem Grundgesetz (vgl. BVerfGE 56, 363, 380 ff.). Das BVerfG knüpft an einen kulturellen Wandel an, wenn es u. a. aus den heutigen Möglichkeiten der Schwangerschaftsplanung und damit einer möglicherweise bewußten Entscheidung für eine nichteheliche Mutterschaft das Gebot für den Gesetzgeber ableitet, der Mutter insoweit Vorrang bei der Zuteilung der Sorgepflicht einzuräumen (S. 390), oder wenn es aufgrund gewandelter sozialer Gegebenheiten und der zunehmenden Verbreitung nichtehelicher Lebensgemeinschaften dem Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG das Gebot für den Gesetzgeber entnimmt, den persönlichen Einsatz des nichtehelichen Vaters für sein Kind hinreichend zu berücksichtigen (S. 385; zum früheren Bild des nichtehelichen Vaters aber S. 383). Die verfassungsrechtliche Billigung rechtlicher Defizite bei der Wahrnehmung der Vaterverantwortung durch das BVerfG könnte freilich in wenigen Jahrzehnten (bei einer Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften einerseits und vermehrter wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Bedeutung der Präsenz des Vaters andererseits) jedenfalls in ihrem Ausmaß als kulturell überholt erscheinen: Das „Wohl des Kindes" könnte trotz der Entscheidung der Eltern gegen ihre Eheschließung eine verstärkte Bürgerrechtsstellung des nichtehelichen Vaters gegenüber dem Kind gebieten (im Ergebnis zu Recht a. A. noch BVerfGE 56, S. 387 unter — doch wohl zirkulärem — Hinweis auf die fehlende „rechtlich verbindliche personale Verantwortung der Eltern eines nichtehelichen Kindes füreinander"). — Man vergleiche aber solche Ausführungen mit BGHSt 6, 46 (50 ff.); 17, 230 (232 ff.) — und man erkennt plastisch die prägende Kraft kulturellen Wandels in der Bundesrepublik binnen 20 Jahren im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung.
3. Ebenen der Verfassungsentwicklung
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Diese „Relativität" des Inhalts von Rechtstexten ist kein notwendiges Übel, sondern durch die Sache bedingt. Die Individualität einer Verfassung färbt identisch erscheinende Texte inhaltlich verschieden ein, d. h. sie prägt sie kulturspezifisch. Kulturspezifische Verfassungsinterpretation vermag der Zeit am besten „auf die Spur" zu kommen. Die Methoden der Verfassungsinterpretation haben dem Zeitfaktor mehr oder weniger verdeckt Eingang ins Geschäft der Auslegung verschafft. Zum Teil verabsolutieren sie einzelne „Zeiten". H. Ehmkes flexible Anwendung der einzelnen Interpretationsmethoden 423 ist daher ein Durchbruch gewesen, doch blieb offen, nach welchen Maßstäben die einzelnen Auslegungsmethoden letztlich kombiniert werden sollen. Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, was kulturell i n der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinterpretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten. Recht und Rechtswissenschaft, Gesetzgeber und Richter leben nicht aus sich selbst. Sie sind auf „Materialien" angewiesen, auf „Anstöße" und „Stoffe", ζ. B. auf neue Gerechtigkeitselemente, neue Erkenntnisse und Erfahrungen, aber auch neue Hoffnungen und Ideale, die das bisherige Recht i n neuem Licht erscheinen lassen, oder die sie zwingen, die herkömmlichen Inhalte zu verteidigen. I m Bewußtsein, daß das Recht selbst Faktor und Ausdruck von K u l t u r ist, können sie — i n ihren Kunstregeln „diszipliniert" — auch auf diese kulturellen Entwicklungen zurück-, notfalls auch vorausgreifen. Diese „kulturspezifische Verfassungsinterpretation" ist gewiß kein „Zauberstab", der nun die Auslegungsprobleme plötzlich löste. Wohl aber gewinnt die Verfassungsinterpretation offener als bisher Anschluß nicht nur an die sozialen und wirtschaftlichen, sondern vor allem an die kulturellen Bewegungen, Entwicklungen und Selbstbehauptungen, die ein politisches Gemeinwesen charakterisieren. b) Verfassungsänderungen I n noch höherem und intensiverem Maße als bei der Verfassungsinterpretation sind die anderen funktionellen Arten der Fortbildung einer Verfassung 43 auf „kulturelle Kristallisationen" angewiesen, nämlich die Verfassungsänderung (bzw. der sog. „Verfassungstüandel") und die Verfassungsgebung (Verfassungspolitik): Parteiprogramme, die Vor42a H. Ehmke, W D S t R L 20 (1963), S. 53 (57 ff.), jetzt in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 329 (332 ff.). 43 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 111 ff., 216 f., 293, 308 u. ö. übernimmt jetzt im Ansatz mein Tableau aus JZ 1975, S. 297 ff. (Fn. 30).
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V. Kulturelle Objektivationen
Schläge der Wissenschaft (!), persönliche Lebenshaltungen großer Persönlichkeiten, sachliche bzw. persönliche Leit- bzw. Vorbilder, Orientierungswerte usw. sind mitbestimmende Momente und Elemente i m Ganzen des Spannungsfeldes der Fortbildung von Verfassungen, ihrer Bewährung und ihrer Bewahrung 4 4 . Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Verfassungsänderungen i n den einzelnen deutschen Ländern seit 1945 einmal systematisch auf Anlaß und „Promotoren", Stil und Inhalte, auf Sprache, Formen und Wellenbewegungen i n Abhängigkeit zur kulturellen Entwicklung h i n zu untersuchen 45 . Man denke nur daran, wie die Bekenntnisschule von der Gemeinschaftsschule Ende der 60er Jahre abgelöst wurde, nachdem tiefe Veränderungen i n der kulturellen Öffentlichkeit vorausgegangen waren: Schulkonzentration, die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen mit der damit verbundenen stärkeren Mischung der Konfessionen i n den Bundesländern haben sich auf Verfassungsebene niedergeschlagen (Art. 15 Verf. Baden-Württemberg, A r t . 135 Verf. Bayern, A r t . 29 Verf. Rheinland-Pfalz und A r t . 27 Abs. 3 Verf. Saarland) 46 . Gerade der Bundesstaat m i t seinen vielen alternativen Möglichkeiten der Fortentwicklung der Einzelverfassungen ist Ausdruck pluralistischer kultureller Entwicklung. Die Institutionalisierung der parlamentarischen Opposition (Art. 23 a Verf. Hamburg), Rundfunkartikel (Art. I l i a Verf. Bayern), der Datenschutz (Art. 4 Abs. 2, 77 a Verf. Nordrhein-Westfalen) sind Beispiele dafür, wie einzelne Verfassungen i m „Probelauf" für die übrigen Verfassungen i m Bundesstaat kulturelle Entwicklungsprozesse aufnehmen können. Auch gescheiterte Verfassungsänderungen i n den Ländern (einschließlich ihrer kulturellen (?) Hintergründe) sollten einmal systematisch aufgearbeitet werden 47 . Vor allem auch auf der Ebene der Bundesverfassung sind Verfassungsänderungen i m kulturellen Zusammenhang zu begreifen 48 . Schon 44 Verfassungstheoretisch muß ein Mittelweg gefunden werden zwischen der Einbindung der Generationen in die Verfassung (Art. 79 Abs. 3 GG), ihrer Freistellung von der Verfassung (Art. 79 Abs. 2 GG) und der Verpflichtung der heutigen Generation, der künftigen das „natürliche" und „kulturelle" Erbe zu erhalten. Zur Behandlung dieser Fragen im Rahmen von „Zeit und Verfassungskultur" mein gleichnamiger Münchner Vortrag (1981), (Fn. 25), i. E. 45 Ein Einzelvergleich ist ein Desiderat der Forschung. Ansätze bei C. Pestalozzi Einführung, in: ders. (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 2. Aufl. 1981, S. X I I ff.; B. Beutler, Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, JöR 26 (1977), S. 1 (28). 48 Vgl. C. Pestalozzi Einführung (Fn. 45), S. X V f. 47 Ein Beispiel ist der nur auf einfacher Gesetzesebene eingeführte Bürgerbeauftragte in Rheinland-Pfalz, dazu H. Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 88 ff., 93 ff. 48 Vgl. jetzt die (politische) Analyse der GG-Änderungen von A. Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes und ihre Hintergründe, 1981.
3. Ebenen der Verfassungsentwicklung
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die erste Ebene des „gemeindeutschen" (Landes-)Verfassungsrechts läßt sich als ein Spiegel gesamtstaatlicher kultureller Prozesse begreifen: So sind die zahlreichen Landesverfassungsänderungen betreffend die Stellung der Landesparlamente und die Tendenz des Ausbaus direktdemokratischer Elemente4® sicher auch als Folge von „Demokratisierungstendenzen" zu begreifen, die i m Zuge des Regierungswechsels 1969 und der Studentenbewegung 1968 ff. das politisch-kulturelle K l i m a i n der Bundesrepublik nachhaltig geprägt haben. Auch die Änderungen des Grundgesetzes lassen sich nicht nur i m Detail (z. B. A r t . 91 a Abs. 1 Ziff. 1 GG), sondern auch i n der allgemeinen Tendenz zur Unitarisierung (etwa durch Zentralisierung von Kompetenzen) und der Festigung der Verfassungsstaatlichkeit der Bundesrepublik als Ausdruck kultureller Wandlungsprozesse der Nachkriegszeit verstehen. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft greift die zugrundeliegenden k u l turellen Prozesse nicht nur inhaltlich auf, sondern geht auch den verschiedenen Formen und Möglichkeiten gegenseitiger Beeinflussung der verschiedenen Verfassungsrechtsmaterien i m Bundesstaat nach 50 . c) Verfassunggebung Gerade i m Feld der Verfassunggebung schließlich reicht der herkömmlich juristische Ansatz nicht aus. Denn hier liegt ja noch kein „geltender" positiver Text vor. A l l e i n der tiefere und breite k u l t u r wissenschaftliche Ansatz kann bestimmte Bewegungen, ihre „Promotoren" und Akteure thematisieren und auf den Begriff bringen. Die neueren Prozesse der Verfassunggebung i n Portugal (1976)51, Griechenland (1975)52 und Spanien (1978)53, jetzt auch i n Kanada (1981), sowie die Schweizer Diskussion um die „Totalrevision" der Bundesverfassung 49
s. dazu C. Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981, S. 15 ff. s. den Auftrag des saarländischen Landtages an die Enquête-Kommission für Verfassungsfragen, „unter Berücksichtigung neuer verfassungsrechtlicher Erkenntnisse in Bund und (!) Ländern Anregungen zu zweckdienlichen Änderungen zu geben" (zit. nach P. Krause, Verfassungsentwicklung im Saarland 1958—1979, in: JöR 29 (1980), S. 393 [448]). 61 Ausf. A. Thomashausen, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal, 1981; ders., Der Freiheitsbegriff, die Grundrechte und der Grundrechtsschutz in der neuen portugiesischen Verfassung vom 2. April 1976, EuGRZ 1981, S. 1 ff.; G. Schmid , Die portugiesische Verfassung von 1976, AöR 103 (1978), S. 203 ff. 52 Der Text der Verfassung von 1975 ist zitiert nach der Übersetzung von P. Dagtoglou, Athen 1976. Aus der Literatur: (eher kritisch) D. Tsatsos, Die neue griechische Verfassung, 1980; (eher positiv) mein Athener Gastvortrag, Menschenwürde und Verfassung, am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland 1975, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 ff. 53 Dazu jetzt A. Randelzhofer (Hrsg.), Deutsch-spanisches Verfassungsrechts-Kolloquium, 1982; s. auch A. Weber, Die Spanische Verfassung von 1978, JöR 29 (1980), S. 209 ff. 60
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V. Kulturelle Objektivationen
(VE 1977)54 lassen sich nicht allein wirtschaftlich und politisch, d. h. ohne Beachtung der kulturellen Hintergründe beschreiben und erklären. Vor der textlichen Ausgestaltung liegen i n Fülle unterschiedliche Bau-Elemente für die neue Verfassung „auf dem Platz". Sachlich ringen Klassikertexte, Partei- und Verbandsprogramme, Erkenntnisse der Wissenschaft, Bruchstücke alter Verfassungstexte, aber auch Lebensleistungen einzelner Persönlichkeiten miteinander. Politische Hoffnungen und Erfahrungen gehen ebenso i n die Prozesse der Verfassunggebung ein, wie Elemente auswärtiger Verfassungsstaaten als Beispiel des Typus Verfassungsstaat. So w i r k e n sich die deutschen Leitbilder von Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, auch das Verhältnis von Staat und Kirche und der Grundrechtskatalog heute zunehmend i n manchen neuen Verfassungen Europas aus. Kulturelle Rezeptionsprozesse etwa der Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG lassen sich nicht nur i m Blick auf die Schweizer Totalrevision, sondern auch und sogar bis i n das südliche A f r i k a (nach Bophuthatswana) verfolgen 55 . Bis all dies zu einem positiven Verfassungstext „gerinnt", gibt es viel Kampf, viel Parteinahme und Interessenwahrung. Funktionell und prozessual gesehen sind es die vielen an Verfassunggebung Beteiligten wie politische Parteien, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, Einzelpersönlichkeiten, die Wissenschaft, die Richterschaft, die Wirtschaft, i n Spanien und Portugal auch das Militär, für das GG (begrenzt) die Alliierten, die Teilbeiträge leisten und sich dabei an kulturellen Objektivationen orientieren (müssen). Beides bedingt einander: Die an Verfassunggebung als komplexem pluralistischem Prozeß Beteiligten sind auf das Vorhandensein von Materialien als Baustein für eine Verfassung angewiesen. Umgekehrt wirken diese Elemente erst über die Promotoren, Akteure der an Verfassunggebung als öffentlichem Prozeß Beteiligten. Bei näherem Zusehen ergibt sich freilich, daß dieselben sachlichen Objektivationen und kulturellen Kristallisationen mögliche und w i r k liche grundierende Materialien sind für die unterschiedlichen Arbeiten bzw. Funktionen der Fortbildung von Verfassungen: für ihre Interpretation, Änderung und für Verfassunggebung. Sondervoten ζ. B. können normierende K r a f t i n den Text hinein oder für die Gesetzgebung entfalten, aber auch Anlaß für Verfassungsänderung sein. Parteipro54 Vgl. den Verfassungsentwurf 1977, abgedruckt in: AöR 104 (1979), S. 475 ff.; vgl. dazu auch P. Saladin, AöR 104 (1979), S. 345 (358, 367, 374 f. u. ö.); K. Eichenberger, in: ZaöRV 40 (1980), S. 477 ff.; G. Müller, in: Der Staat 20 (1981), S.83ff.; krit. E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), S. 580 (600 ff.). 55 Dazu meine Besprechung von JöR Band 29 (1980), in: AöR 107 (1982), i. E.
4. Kulturelle Verfassungsvergleichung
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gramme, auch i n ihrem Kulturteil, wirken auf alle staatlichen bzw. öffentlichen Funktionen eines Verfassungsstaates. Auch „Klassikertexte" können sogar zu neuen Prozessen der Verfassunggebung führen. So liegen der Rückkehr Griechenlands und Spaniens zum Verfassungsstaat 1975 bzw. 1978 gewiß auch viele Klassikertexte unausgesprochen oder erklärtermaßen zugrunde! Nicht zuletzt erbringt die Wissenschaft, vor allem die Verfassungs(rechts)lehre, als Ratgeber viele Beiträge zur Fortbildung der Verfassung. Eben diese Wissenschaft ist aber i n Inhalten und ihren Prozessen ihrerseits ein wesentliches Stück K u l t u r . Diese Identität der inhaltlichen Einzugsbereiche („Sachen"), d. h. der „kulturellen Kristallisationen" für die verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionen kann letztlich nicht überraschen. Denn k u l turelle Produktionen und Rezeptionen haben i m politischen Gemeinwesen denselben „Gegenstand": Klassikertexte sind Klassikertexte, so unterschiedlich sie i n die staatlichen und öffentlichen Funktionen w i r ken. Auch die anderen kulturellen Kristallisationen sind als „Material" identisch. Welche unterschiedliche Wirkung sie auf den verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionsebenen haben, ist eine andere Frage. Der kulturelle Grund ist derselbe. 4. Kulturelle Verfassungsvergleichung Verfassungsvergleichung erweist sich als für kulturwissenschaftliches Denken besonders geeignet: auf der Ebene der europäischen Rechtsvergleichung, insonderheit i m Rahmen einer Österreich, die Schweiz und die BR Deutschland umschließenden deutschsprachigen Verfassungslehre, sowie auf der Ebene „innerer" Verfassungsvergleichung i n Bundesstaaten zwischen den Verfassungen der Gliedstaaten untereinander und zwischen ihnen und dem Bundesverfassungsrecht (dem die Glied Verfassungen als „andere" Ebene von vornherein zuzurechnen sind). Da die drei deutschsprachigen Länder Bundesstaaten sind, ist kulturwissenschaftlich betriebene Rechtsvergleichung hier besonders ergiebig, denn der Bundesstaat lebt wesentlich aus kultureller Vielfalt 5 6 . Funktionell kann Verfassungsvergleichung dabei auf allen drei Ebenen der Verfassungsentwicklung (Verfassungsinterpretation, Verfassungsänderung, Verfassunggebung) und i n deren Rahmen fruchtbar gemacht werden. Vorgänge, Inhalte und Verfahren kultureller Produktion und Rezeption lassen sich innerhalb der Bundesstaaten belegen, aber auch zwi56 Hierzu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht (Fn. 2); ferner der Besprechungsaufsatz „Kulturverwaltungsrecht im Wandel", 1981, AöR 107 (1982), S. 301 (306 f.).
3 Häberle
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V. Kulturelle Objektivationen
sehen den Bundesstaaten untereinander: So hat die deutsche Bundesstaatswissenschaft gerade auf einem kulturverfassungsrechtlichen Gebiet (Stichwort: „Kulturförderungsgesetze" Österreichs) rechtspolitische Impulse aus Österreich aufgegriffen, die Schweiz lehnt sich i n ihren Arbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung auch an Werke der deutschen Staatsrechtslehre an. Auch das Gegenteil, das Verweigern von Rezeptionen, die Differenz läßt sich oft kulturell erklären, weil die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und ihrer kulturellen Ambiance zu verschieden sind und „Importe" nur bedingt empfohlen werden können 57 . Nicht nur i m Felde der Verfassungs- und Rechtspolitik, auch bei der „bloßen" Interpretation von geltendem (Verfassungs-)Recht erweist sich kulturwissenschaftliche Rechtsvergleichung als hilfreich. Nur sie kann etwa erklären, warum gleichlautende Texte i m Laufe der Zeit oder von Anfang an einer unterschiedlichen Interpretation zugänglich und bedürftig sind. Der Gleichheitssatz etwa w i r d i n der Rechtskultur einer Schweiz immer auch andere Ergebnisse zeitigen als i n der BR Deutschland 58 . Ebenso können gleiche Institutionen i n unterschiedlichen Nationen ganz unterschiedliche Aufgaben haben 59 . So kann das kulturwissenschaftliche Denken i n der (Verfassungs-) Rechtsvergleichung teils Unterschiede erklären und rechtfertigen 60 , 57 Der rechtspolitische Vorschlag etwa, das richterliche Beratungsgeheimnis für Revisionsgerichte und das BVerfG nach Schweizer Vorbildern durch öffentliche Beratungen der Richter aufzugeben (so J. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit als Medienöffentlichkeit, 1979, S. 155 ff.), findet seine Grenzen an der bundesdeutschen politischen bzw. Verfassungskultur: Sind bei uns nicht in mehrfacher Weise die Bürgeröffentlichkeit, die Medienöffentlichkeit und auch die Justiz selber erst noch auf jene Bahnen gewachsener kultureller Verfassungstraditionen zu bringen, die Bedingung für das Funktionieren öffentlicher Urteilsberatungen in der Schweiz sind? Zur Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, i. E. Zum Problem auch mein Diskussionsbeitrag in W D S t R L 39 (1981), S. 203. 58 Zu dieser „kulturspezifischen Varianz" vgl. meine Diskussionsbemerkungen in C. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 83 ff., 104 f.; zum „Kulturverwaltungsrecht im Wandel" vgl. meinen gleichnamigen Besprechungsaufsatz in AöR 107 (1982), S. 301 ff. 59 Grdlg. A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 96. eo Ist z.B. im Mitbestimmungsurteil des BVerfG (E 50, 290ff.) nicht ein prinzipiell kooperatives Verhältnis von Arbeitnehmern (bzw. Betriebsrat und/oder Gewerkschaft) und Arbeitgeber eine vorrechtliche Grundbedingung, die ihrerseits Ausdruck einer spezifisch deutschen politischen (Arbeiter-) Kultur und -tradition ist? Der Versuch eines internationalen 12-LänderRechtsvergleichs stößt denn auch sofort auf die vorherrschenden Werthaltungen der Bevölkerung oder die jeweiligen Rechtstraditionen, die den Vergleich identisch gefaßter Normen beschweren, vgl. näher: International Research Group (B. Wilpert), Die Messungen von Mitbestimmungsnormen — Darstellung eines international vergleichenden Forschungsansatzes, in: E. Blankenburg / K. Lenk (Hrsg.), Organisation und Recht, 1980, S. 310 ff. (311 f.).
4. Kulturelle Verfassungsvergleichung
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t e i l s z u Gemeinsamkeiten f ü h r e n . Z u g l e i c h e r w e i s e n sich so d i e k o n k r e t e n V e r f a s s u n g e n (ζ. B . d e r Schweiz, Österreichs oder d e r B R Deutschl a n d ) als k u l t u r b e d i n g t e V a r i a t i o n e n des G r u n d t y p u s d e m o k r a t i s c h e r Verfassungsstaat w e s t l i c h e r P r ä g u n g . Es ist d u r c h a u s k e i n P r i v i l e g gerade d e r Verfassungslehre, f ü r d e n k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A n s a t z besonders geeignet z u sein. D i e Zivilrechtslehre k a n n nicht minder fruchtbar kulturwissenschaftliche Frag e n a u f g r e i f e n u n d sie h a t dabei, v o r a l l e m i m F e l d e d e r Rechtsvergleichung, T r a d i t i o n 8 1 . A u c h i m Strafrecht lassen sich k u l t u r e l l e H i n t e r g r ü n d e e r a r b e i t e n 6 2 . I n d e s scheint d i e V e r f a s s u n g s l e h r e i n besonderem β1 Die Rechtsv er gleichung als Wissenschaft hat den kulturwissenschaftlich zu erschließenden Hintergrund des Rechts seit langem im Auge, ohne daß sie ihn jedoch genügend tief ausgeleuchtet und strukturiert hätte. Fast ein Klassikerzitat ist schon das Wort von J. Kohler, das Recht sei eine Kulturerscheinung, vgl. etwa Ernst Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924), jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. I I I (1967), S. 4, mit einem Verweis auf die Rechtstatsachenforschung als bloßem Ausschnitt und mit Bezugnahme auf den Zusammenhang des Rechts mit Vergangenem und Heutigem, mit geschichtlichen Schicksalen der Völker, der schöpferischen Kraft von Einzelpersönlichkeiten, Interessen von Schichten, Parteien und Klassen und dem Wirken von „Geistesströmungen aller Art" (ebd. S. 5). Zum „Recht als Ganzem", als Kulturerscheinung zuletzt H. Coing, Aufgaben der Rechtsvergleichung in unserer Zeit, JuS 1981, S. 601 (603). — J. Kohler selbst präzisiert seinen Ansatz ζ. B. in der Arbeit über die Methoden der Rechtsvergleichung (1901), jetzt in: K. Zweigert/ H.-J. Puttfarken (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1978, S. 18 ff., in Sätzen wie: „Es handelt sich darum, jedes nationale Recht als ein adäquates Glied der Menschenkultur aufzufassen und in seiner Stellung zur Bildung der Menschheit zu beleuchten". Mag sein Ansatz auch zu stark vom Fortschrittsdenken geprägt sein (z. B. S. 25), er bleibt im übrigen aktuell, etwa in Sachen Rezeption (S. 26) : „Die Rezeption soll nicht bloß eine äußerliche sein, sondern das Aufgenommene in die Rechts- und Kultursphäre organisch einfügen und dem bisherigen Kulturleben assimilieren." „Die Rezeption soll in Verbindung stehen mit der ganzen Kulturordnung." Auch der Stil-Begriff der Rechtsvergleichung (z.B. M. Rheinstein, Gesammelte Schriften Bd. 1 (1979), S. 74; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I (1971), S. 73) deutet auf kulturwissenschaftliches Denken. Vgl. noch unten bei Fn. 94 f. Die alte Idee von „Kultur- und Rechtskreisen" findet sich jetzt wieder bei J. J. van der Ven, Sozialrecht und Menschenbild, VSSR 9 (1981), S. 1 (4 ff.). e2 Die Strafrechtswissenschaft betont seit langem die Einbettung ihres Gegenstandes in die Kultur. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Graf Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemein gültiges Merkmal im Tatbestand strafbarer Handlungen, 1905) bezieht sich die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit im Gegensatz zur rein positivistisch-formellen Sicht auf „den ganzen Kulturzusammenhang" des Rechts, „den gesamten Zusammenhang der Kultur, aus der das Recht erwächst und auf die es regelnd sich bezieht", als „Grundlage" der Gesetze (E. Mezger, Strafrecht, 3. unveränd. Aufl. 1949, S. 203 f.). Anstoß war u. a. M. E. Mayers Werk Rechtsnormen und K u l turnormen, 1903 (s. auch ders., Rechtsphilosophie, 1922, S. 36 ff.; Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. unveränd. Aufl. 1923, S. 37 ff.) und die darauf bezogene Diskussion (etwa Graf Dohna, in: Der Gerichtssaal 63 (1904), S. 355 ff.; R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, 1925, S.22ff.; E. Heinitz, Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit, 1926, S. 85 ff.). Seitdem (F. v. Liszt / E. Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 24. Aufl. 1922, S. 4: „Das Recht
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V. Kulturelle Objektivationen
Maß fähig und bedürftig, u m die Dimension der Kulturwissenschaften bereichert zu werden, zielt sie doch auf das übergreifende Ganze einer Rechtsordnung 63 . 5. Der Zusammenhang von sachlich-gegenständlicher und personaler Vielfalt im Prozeß der Verfassungsentwicklung D e r vorstehende Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der sachlich-gegenständlichen „Mitbestimmungsfaktoren" der Verfassungsentwicklung ergänzt die personale V i e l f a l t der offenen Gesellist eine Kulturerscheinung und unlöslich mit der Gesamtkultur verbunden."; E. Heinitz, a.a.O., S. 91 ff., 93: „ . . . wie der einzelne Rechtssatz, ist das gesamte Rechtssystem kulturell bedingt . . . kann das Rechtssystem . . . nur dann verstanden werden, wenn die gesamte Kulturlage . . . in Betracht gezogen wird") bis heute (W. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 135: Das Strafverfahrensrecht „ist ein Ausdruck dieser Kultur, es spiegelt sie", s. auch S. 136, 144, 171, 203) finden sich ähnliche Formulierungen. Wohl zu formal argumentiert E. Beling, in: ZStW 44 (1924), S. 220 ff., 222: „Den Geist der ,Kultur' und ihrer Normen zu beschwören, um Rechtsnormierungsinhalte zu finden, geht deshalb nicht an, weil ,Kultur' ein compositum ist, in dem das Recht als Bestandteil enthalten ist (juris cultura), man also die Kenntnis der Rechtsnormen braucht, um die Kultur zu kennen, und man aus den außerrechtlichen Bestandteilen der Kultur . . . niemals auf Rechtsnormen schließen kann." Die Beachtung des Spezifischen der jeweiligen Kultur wird ebenso gefordert (in der Strafrechtsu ergleichung bzw. der vergleichenden Kriminologie: E. Mezger / A. Schänke / H.-H. Jescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, 1955, S. 7; G. Kaiser, in: ders./T. Vogler, Strafrecht, Strafrechtsvergleich, 1975, S. 79 ff., 87 ff., 88: „interkultureller Vergleich"; ders., in: H.-H. Jescheck, Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum X . Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, 1978, S. 129 ff., 135 f.: „Rechtsnormen in einem gegebenen kulturellen Zusammenhang", „Besonderheiten . . . und kulturelle Gemeinsamkeiten") wie von der „Verteidigung gemeinsamer Kulturinteressen im Wege des Strafrechts" die Rede ist (H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Straf rechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1972, S. 134). Auch die zeitliche Dimension von Kultur und Recht ist angesprochen (Heinitz, a.a.O., S. 93 ff.; Hassemer, a.a.O., S. 136 f., 171: „Strafrechtsgeschichte innerhalb unserer Kultur"). — Auch die Strafgerichtsbarkeit zieht kulturelle Momente heran, etwa BGHSt 23, 40, 42: „auf den Wertvorstellungen unserer Kultur beruhende sittliche Grundanschauungen der Gemeinschaft". — Vgl. jetzt das Urteil des B G H (Dritter Strafsenat I I I StR 228/82, zit. nach FR vom 30. 9.1982, S. 22), in dem der Aspekt der „besonderen kulturell-ethischen Bewußtseinslage" eines Straftäters (Ausländers) eine Rolle 63 spielt.Die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht hat, soweit ersichtlich, bislang noch nicht das Kulturspezifische methodologisch thematisiert (vgl. dazu J.H. Kaiser, H. Strebel, R. Bernhardt und K. Zemanek, in: ZaöRV 24 (1964), S. 391 ff., 404 f., 431 ff. bzw. 452 ff.; J. M. Mössner, in: AöR 99 (1974), S. 193 ff.; s. aber auch P. Häberle, in: K. Vogel (Hrsg.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979, S. 65 f. — Diskussion). Das überrascht, da bei der Menschenrechtsdiskussion unschwer zu erkennen ist, daß die juristischen Texte verschieden verstanden werden und auch — ohne „schlechtes Gewissen" — begrenzt verschieden verstanden werden dürfen (vgl. dazu auch W. v. Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: FS B. Aubin, 1979, S. 217 ff.).
5. Sachliche und personale Vielfalt
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schaft der Verfassungsinterpreten (und ist mit ihr zusammenzusehen, so wie personale Freiheit und sachliche Orientierung zusammengehören). Diese Offenheit der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten manifestiert sich auch darin, daß jene sachlichen Faktoren, die die Auslegung von Verfassungsnormen mitbestimmen, nicht ein für alle Male festlegbar sind (so wie es auch keine feststehende Methodenhierarchie gibt). Auch gibt es keine „feste" Zuordnung von bestimmten sachlichen Faktoren zu bestimmten Personen: so w i r d der Faktor „Sondervotum" des BVerfG nicht nur vom wissenschaftlichen und politischen Prozeß bzw. seinen personalen Beteiligten aufgegriffen, er kann i n der Folgezeit selbst i n der Interpretation der alten Senatsmehrheit Gewicht erlangen. Andere Funktionen und Instanzen wie Untergerichte oder die Verwaltungspraxis können das Sondervotum für sich aufgreifen. So gewinnt es als „Alternativjudikatur" allmählich so viel Gewicht, daß es herrschende Meinungen modifizieren oder vielleicht ersetzen kann 6 4 . — Auch ist die Berufung auf Klassikertexte nicht nur „Privileg" der „gebildeten Stände" oder der Pädagogen, sie ist nachweisbar bei den Juristen selbst. Ihr Rückgriff auf Klassikertexte zur Interpretation von Verfassungsnormen verbindet sie m i t den sachlichen Anliegen und Traditionen anderer Wissenschaften und Disziplinen, ja selbst der Kunst, und fügt sie bzw. den von ihnen interpretierten Rechtstext i n den übergreifenden Zusammenhang der (Rechts-)Kultur. Verfassungstexte und -Interpreten i m engeren und weiteren Sinne sind dabei einander flexibel zugeordnet. Die Bindung an „Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG) für die staatlichen Funktionen schließt nicht aus, daß diese auch zu Verfassungstexten i m weiteren Sinne greifen. Die Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne sind zwar vornehmlich auf nicht-juristische Verfassungstexte i n nicht-juristisch trainierter Weise fixiert: auf Texte der klassischen Literatur, auf Minderheiten64 Sondervoten können innerhalb und außerhalb des BVerfG als „Alternativjudikatur" vielfältige Dynamik entfalten. So nimmt ein Senat des BVerfG auf ein Sondervotum Bezug z. B. in E 56, 146 (169) sowie in E 56, 216 (236). Das SV Dr. Benda und Dr. Katzenstein (BVerfGE 58, 129 [133]) verweist auf ein älteres SV v. Schlabrendorff (E 37, 414 [418]), das SV Hirsch (E 57, 182 [189]) zitiert das SV Dr. Böhmer (E 56, 266 [278]). Besonders spektakulär ist der Durchbruch des SV Rupp-von Brünneck (E 32, 129 [142]) in BVerfGE 53, 257 (289 f.). Er kündigte sich schon in E 40, 65 (83 f.) an. Eine „Mehrheitshälfte" des 2. Senats verweist auf ein SV von Frau Rupp-von Brünneck in E 52, 131 (156), s. auch das Rechtsgespräch in E 52, 155 f. mit dem SV Dr. Böhmer (E 49, 228 ff.). Vieles deutet darauf hin, daß sich das Wirken von Sondervoten innerhalb der Senate erst in den letzten Jahren greifbar intensiviert hat, der Zeitfaktor spielt hier eine eigene Rolle. — I n der Literatur zitiert z.B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, S. 156 Anm. 38 sowohl BVerfGE 35, 79 (120 ff.) als auch die abweichende Meinung ebd. S. 149 ff. als „grundlegend". Zum Problem normierender Kraft von Sondervoten: meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 24 ff.
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V. Kulturelle Objektivationen
Positionen etc., sie wagen auch einmal Thesen, die so noch nicht konsensfähig sind, oder sie schließen sich alternativen Positionen von Sondervoten i m wissenschaftlichen oder gerichtlichen Interpretationsprozeß an. Dennoch orientieren sie sich auch an Verfassungstexten i m engeren Sinne, wenngleich nicht i n „zunftmäßiger" Manier. Insofern darf hier das Prinzip gegenseitigen Respekts der i n Arbeitsteilung gewonnenen Interpretationsergebnisse formuliert werden. Insgesamt verwirklicht sich i n der Offenheit der möglichen (Verfassungs-)Interpretationsfaktoren und der Offenheit des Kreises der Verfassungsinterpreten ein Stück der Offenheit der Gesellschaft. Gerade die Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne sind eine Kraftquelle für i n das Verfassungsrecht hinein vermittelte Innovation. Das kulturelle Innovationspotential ist auf lange Sicht — und vielgliedrig vermittelt — auch das kulturelle Innovationspotential für die Staatsrechtswissenschaft (gewesen). Das kann mit persönlichen Tragödien verbunden sein und ins Biographische reichen: Das persönliche Drama von Thomas Morus 65 war ein sachlicher Gewinn i n der Entwicklung des westlichen Verfassungsstaates, weil die Glaubwürdigkeit seiner Person und Sache identisch wurden. Der skizzierte Zusammenhang von sachlicher und personeller Vielfalt i m Interpretationsprozeß sei konkretisiert am Beispiel der Schönen Literatur und der Literaten als Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne (6.) sowie der Staatsrechtslehre und der Staatsrechtslehrer als Verfassungsinterpreten i m engeren Sinne (7.). 6. Schöne Literatur und Literaten im Verfassungsstaat Abwehr- und leistungsrechtliche Garantien der Kunstfreiheit und speziell von Literatur und Literaten entfalten spezifisch verfassungspolitischen Sinn insoweit, als damit der Verfassungsstaat sich selbst, d. h. seine eigenen Voraussetzungen (mit-)zugarantieren sucht 66 : Literatur und Literaten sind Lebensbedingungen jeden Verfassungsstaats. Das Deutschland-Lied (3. Strophe) etwa ist heute eine der wenigen literarischen Grundlagen der Identität des deutschen Verfassungsstaates, der 65 Vgl. etwa T. Nipperdey, Thomas Morus, in: H. M a i e r / H . Rausch / H . Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Band 1, 5. Aufl. 1979, S. 222 (238 ff.). ββ Gerade eine kulturwissenschaftliche Verfassungslehre braucht deshalb nicht (ver-)fassungs-los bei dem ebenso bekannten wie resignativen Dictum von E.-W. Böckenförde stehen zu bleiben, ohne der Gefahr eines Gesinnungsstaates zu erliegen, vgl. ders., FS E. Forsthoff, 1967, S. 72 (93): „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Dazu zuletzt H. Lübbe, Staat und Zivilreligion, ein Aspekt politischer Legitimität, in: N. Achterberg / W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, 1981, S. 40 (57 ff.). — Zum Folgenden: P. Häberle, Das Grundgesetz im (Zerr?)Spiegel der Schönen Literatur, 1983, i. E.
6. Schöne Literatur und Literaten
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„Wilhelm Teil" von Friedrich Schiller fundiert die Schweizer Eidgenossenschaft i n Gestalt eines Klassikertextes mit, die von A. Muschg erdachte Präambel des Entwurfes für eine Schweizer Bundesverfassung (1977) ist das vielleicht schönste neuere Beispiel positiver Leistungen von Literatur und Literaten für den Verfassungsstaat 87 . Negativbeispiele aus der deutschen Geschichte zeigen, wie sehr der Verfassungsstaat der M i t w i r k u n g der Künstler bedarf und wie sehr er ohne sie leidet: Wenn man von Weimar sagen konnte, es sei eine „Republik ohne Republikaner" gewesen, so gilt auch dies: Es war ζ. T. eine Republik ohne Literaten! Verfassungsstaatliche Verfassungen müssen immer neu angenommen oder paktiert werden. Das berühmte „plébiscite de tous les jours", besser: das immer neue „Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller", schließt die Partizipation der Literaten ein. Damit w i r d keine irgendwie geartete „Verfassungstreue" — gar mit Sanktionen — verlangt, keine auch nur moralische Inpflichtnahme i. S. eines „Hof- oder Staatsdichters", auch keine „Linientreue" 6 8 und keine „Politisierung". Wohl aber läßt sich sagen, daß das politische Gemeinwesen mindestens auf einen Teil seiner Literaten muß rechnen können. „Kritische Sympathie" (W. Scheel) als Desiderat auch hier! Die kulturelle Ambiance der Verfassungstexte ist eine wesentliche Geltungsvoraussetzung. Eine Teil-Mitverantwortung i n den den Verfassungsstaat gestaltenden k u l turellen Prozessen trägt die Literatur 6 9 — wie immer sie sich äußert: durch ungeteilte Zustimmung oder Widerspruch, K r i t i k und Provo67 Vgl. auch A. Muschg, Wohin mit der Kultur? (1977), in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 355 ff. — Der Text des Präambelentwurfs ist abgedruckt in AöR 104 (1979), S. 475. 68 Erich Kästner, Der trojanische Wallach, in: K. Wagenbach/W. Stephan/ M. Krüger (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache, Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, 1979, S. 91: „Die freien Künste dürfen nicht zum staatlich betriebenen Flohzirkus werden." — Das ebenso politische wie verfassungstheoretische Anliegen von R. Smend, die Grundrechte als „persönliches Berufsrecht des deutschen Staatsbürgers" und die Verfassung als „Form" zu sehen, „in der wir alle zusammen unseren gemeinsamen geschichtlich-sittlichen Beruf als Nation ergreifen" (Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933, jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309 [318 f., 323 f.]), kam aber für die Weimarer Zeit zu spät. 69 Was von Literaten auch gesehen wird: „ . . . Es gibt keinen Berufsstand, der in der Vergangenheit mehr für die deutsche Demokratie geleistet und mehr unter den Feinden der Freiheit gelitten hat als die deutschen Schriftsteller . . . Wir, die deutschen Schriftsteller, werden unsere Verantwortung nicht so vergessen, wie es viele Politiker jetzt tun . . . Noch ist dies auch unsere Republik, mit all ihren Fehlern, die zu kritisieren wir als unsere Pflicht erachten, wobei sich für uns die Frage nicht stellt, wie sympathisch diese Kritik den anderen ist, sondern nur, ob sie berechtigt genannt werden darf." (B. Engelmann auf der Pressekonferenz des Verbandes deutscher Schriftsteller während der Buchmesse 1977, abgedruckt in: K. Wagenbach u.a. [Hrsg.], Vaterland, Muttersprache, 1980, S. 309 f.); zur allgemeinen Rolle von Literatur jetzt: W. Iser, Das Literaturverständnis zwischen Geschichte und Zukunft, St. Gallen 1981.
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V. Kulturelle Objektivationen
kation, ja Ablehnung, durch Reflexion oder Stücke konkreter Utopie — all diese aber weniger oder doch nur zum Teil i n Fundamentalopposition zum System, wenn dieses „System" eine freiheitliche Ordnung ist: Gerade weil der Verfassungsstaat keine Möglichkeiten zur Erzwingung von Zustimmung besitzt, ist er langfristig auf freie Zustimmung auch der „schönen" Literatur angewiesen. Die sehr deutsche Neigung zur Übertreibung, zu extremen Positionen (so Lessings Freund und Verleger Nicolai) bzw. zum Rückzug auf die Innerlichkeit dürfte ein Grund sein, warum heutige Literaten mit dem GG als Verfassung des Maßes und der Mäßigung der Freiheit als Normalität zu wenig anzufangen wissen 70 . Zu Recht w i r d für Deutschland das Fehlen einer „politischen K u l t u r der schreibenden Zunft" konstatiert, i m Gegensatz etwa zu Frankreich 7 1 und seinem „kulturellen Nationalismus". Bei aller K r i t i k an politischen Zuständen und Vorgängen i m einzelnen: von Victor Hugo bis Jean Paul Sartre hat „Literatur" dort einen die Republik mitbegründenden Stellenwert. Das kommt nicht zuletzt i n dem berühmten Satz von de Gaulle i n Bezug auf Sartre zum Ausdruck: „Einen Voltaire verhaftet man nicht." Eine derartige „Verfassungs(sub)kultur" kann nicht von heute auf morgen begründet werden, sie läßt sich auch nicht einfach „kopieren". I n Frankreich war und ist Literatur nun einmal kontinuierlich „politischer" als i n Deutschland 7 2 . Dennoch zeigt sich die Zusammengehörigkeit von Verfassungsstaat und Literatur: Sie muß wachsen können. 70 Wie kann die heutige Entfremdung zwischen Literatur und Verfassungsjuristen abgebaut werden? Denkbar wäre die vermehrte Einrichtung von Foren zur Begegnung. Hierher gehört ζ. B. die Tatsache, daß Bundespräsident Karl Carstens kürzlich die Schriftsteller H. Boll, M. Walser und M. GregorDellin zu einem Abendessen mit Diskussionen bis Mitternacht empfing (Bonner GA vom 23. 9.1981, S. 5). — Ergiebig war ζ. B. das Bitburger Gespräch über Kunst und Recht im Januar 1978, in Jahrbuch 1977/1978, S. 109 ff. unter Beteiligung von Künstlern (wie Beuys), Literaten, Politikern und Staatsrechtslehrern. 71 So P. F. Reitzke, Das Buch ist eine Messe wert, Christ und Welt / Rheinischer Merkur vom 16.10.1981, S. 1. 72 Zum Defizit der deutschen Literatur an Meisterreden und bedeutenden Rhetorikern, welche sich mit den Leistungen der Franzosen oder Engländer messen können: Hans Mayer, Politische Rhetorik und deutsche Gegenwartsliteratur, in: FS A. Arndt, 1969, S. 293 ff.; erst seit 1964 entwickele sich ein „neues Verhältnis zur öffentlichen Rede" (S. 300 ebd.). — Vgl. jüngst das Dictum des französischen Publizisten A. Gorz in: Der Spiegel Nr. 4 vom 25.1.1982, S. 35: „Der deutschen Geschichte fehlt der kulturelle Bezug zur Freiheit." I n Frankreich konstituieren Montesquieus „De l'ésprit des lois" oder Teile von Rousseaus Werk die Republik nicht nur deshalb mit, weil sie direkt in manchen juristischen Verfassungstexten (teil)rezipiert worden sind (vgl. die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: Art. 1 S. 1; Art. 6 S. 1; Art. 16; zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975). Diese Literatur ist gleichermaßen juristische wie sonstige „Literatur". Sie ist zugleich juristischer Text und kultureller Text der französischen Verfassungstradition.
6. Schöne Literatur und Literaten
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Der Verfassungsstaat als Individualität ist auf Kunst und Literatur als eine Hervorbringung der Freiheit als „kulturelle Kristallisation" angewiesen. Literarische Texte wirken als „Ferment", sie sind „Stoff", aus dem das Recht und die Juristen einer offenen Gesellschaft kurz-, mittel- und langfristig viel Anregung und „Material" sowie (Orientierungs)„Werte" gewinnen können. Auch die Äußerung des Nichtjuristen zu Verfassungsfragen ist ein Beitrag zum „Konzert" des Ganzen i n den Prozessen der „Erfindung" von Orientierungswerten, wie auch der inhaltlichen Bestimmung der Grundbegriffe des Verfassungsstaates 73 . Ob und wie die Verfassung als Teil des Kulturzustandes eines Volkes auf Dauer „hält", ist nicht allein Sache der Juristen, nicht nur Sache aller Bürger i m allgemeinen, sondern auch der Künstler und Literaten, jener also, die von Berufs, wenn man w i l l : von „Amts wegen" mit dem Wort umgehen. Gerade i n Not- und Krisenzeiten ist die rechtliche Verfassung nur begrenzt wirksam, wenn sie nicht durch kulturelle Strukturen (auch irrationale Inhalte) abgesichert und „gehalten" wird. K r i tische Literatur ist ein Ferment i n den Gärungsprozessen der Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit 74 , sie dient auch der Formulierung des Selbstverständnisses eines pluralistisch verfaßten Volkes. Es dürfte jedenfalls nicht überraschen, wenn einmal ein Dichter den Satz wagen würde: „Der Verfassungsstaat ist zu wichtig, als daß man ihn nur den Juristen überlassen dürfte", denn: W i r alle sind Hüter der Verfassung 75 !
73 So kann die Dominanz einiger (Juristen) verhindert werden, die H. M. Enzensberg er (Deutschland, Deutschland unter anderem, 1967, S. 46) beklagt. Sie würde eine geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten etablieren, die nicht dem GG entspricht. 74 Empirische Nachweise für die politische Vorreiterrolle der Literatur (am Beispiel der Gruppe 47 für die politischen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland) bei H. M. Kepplinger, Realkultur und Medienkultur, 1975, zusammenfassend S. 193 ff.; dort auch zum Zusammenhang von literarischer und politisch-publizistischer Bedeutung von Autoren (S. 135 ff.). 75 Das hier gesuchte Verhältnis zwischen Literatur und politischem Gemeinwesen ist nicht etwa irgendeine Art von „Staatsdichtung" bzw. „Staatskunst" oder „positiver Kunst". Sie hat dem Staat meist wenig genutzt und dem Autor eher geschadet; Vergil mag eine Ausnahme sein. Zu Recht meint L. Kopelew in seiner Frankfurter Rede als Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 1981 (FAZ vom 19.10.1981, S. 8): „Das wahre geistige Leben in allen Ländern, besonders in denen, die autoritär oder gar totalitär beherrscht werden, entwickelt sich unabhängig von der Staatsmacht. Staatspolitische Traditionen, administrative Routine und ideologische Überlieferungen bleiben entweder fremd oder stehen den geistigen, sittlichen Traditionen, den Überlieferungen nationaler Kultur direkt feindlich gegenüber." Dieser stark von der Idee der Nationalkultur und Kulturnation her geprägte Passus steht gewiß unter dem Eindruck der totalitären UdSSR. Aber er dürfte bedingt auch für freiheitliche Verfassungen gelten, jedenfalls kann er gegenüber jeder Art „konstantinischer Nähe" skeptisch machen.
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V. Kulturelle Objektivationen
7. Staatsrechtslehre(r) als Wissenschaft und Literatur im kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption Dennoch thematisiert vor allem die (verfassungsrechts-)wissenschaftliche Interpretengemeinschaft Intensität und Ausmaß des sachlichen A n teils der anderen Faktoren bzw. Momente, etwa das Zusammenwirken von „großer Literatur" und Philosophie bei der Ausdeutung und Einbringung von Klassikertexten i n juristische Interpretationsvorgänge, oder die Aktivierung von Verfassungsprinzipien „als" Erziehungsziele m i t Hilfe der Pädagogik. Die Verfassungsrechtslehre ist selbst aber auch auf fast allen verschiedenen Ebenen und i n unterschiedlichem „Mischungsgrade" unmittelbar, jedenfalls mittelbar beteiligt; sie ist freilich keine Überwissenschaft und ihrerseits dem Wirken und den Werken der staatlichen Funktionen, der Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne und den sonstigen Ausprägungen der pluralistischen Öffentlichkeit i n Kunst, Wissenschaft und Religion ausgesetzt, auch der K r i t i k der „schönen" Literatur 7 6 . Teil der Verfassungsinterpretengemeinschaft i m ganzen, ordnet sie doch die Aufgabe der anderen M i t wirkenden und ihre Leistungen einander zu: Sie hat dabei weitere Elemente der Verfassungskultur aufzuspüren, die — wie etwa Aspekte des Grundkonsenses i n Präambeln oder Erziehungszielen, welche Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft eines Volkes und leidvolle Erfahrungen i n seiner Geschichte zum Ausdruck bringen — alle oder doch die meisten Objektivationen der Verfassungsinterpretengemeinschaft verbindet. Die Verfassungsrechtslehre w i r k t als Wissenschaft und Literatur (a) i n einem kulturellen Prozeß von Produktion und Rezeption (b). a) Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur benennt eine doppelte Qualität, die die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten entsprechend doppelt grundiert. Als (Rechtswissenschaft leistet Verfassungsrechtslehre die Verfassungsrechtsprechung kommentierende, aber auch sich selbst kommentierende Tätigkeit 7 7 . Jenes produktive 79 Trotz aller Kulturstaatlichkeit dürfte die Staatsrechtslehre auf die Künstler zu wenig zugegangen sein. Nur gelegentlich finden sich — stets mehr als Schmuckzitat? — Berufungen in unserer Fachliteratur auf „schöne Literatur" (ζ. Β. E. Denninger, W D S t R L 37 [1979], S. 7 [48] in Bezug auf Justinus Kerner; G. Roellecke, W D S t R L 34 [1976], S. 7 [19 f.] in Bezug auf das Alte Testament [König Salomon ]; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 190, 298 [F. Schüler] ; W. Hamel, Deutsches Staatsrecht I, Grundbegriffe, 1971, S. 67 [G. Büchner]; Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 33 [ff. Heine] ; U. Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 633 [F. Schiller]). — Dieses Defizit ist um so bedauerlicher, als auch Staatsrechtslehre ein Stück „Literatur" sein kann und, wo sie es ist, sich zusätzliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet. Große Stilisten wie Otto Mayer, Georg Jellinek oder Carl Schmitt haben darum wohl immer gewußt. 77 Ausf. dazu P. Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 (18 ff.); ders., Einleitung (Fn. 36), S. 54 ff.
7. Staatsrechtslehre(r)
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Element der Rechtsprechung i n Bezug auf das Gesetz 78 hat sein Pendant i n den produktiven Beiträgen, die die Verfassungsrechtslehre selbst bei der Erarbeitung des Inhalts von (Verfassungs-)Gesetzen erbringt 7 9 . Verfassungrechtslehre als Literatur w i r k t i n Gestalt prägnanter Thesen, auch Zuspitzungen, Doktrinen, Einzelausarbeitungen etc., die als solche zu den einzelnen Verfassungsrechtssätzen hinzugenommen und mitgelesen werden. Man denke ζ. B. an die Figur der „Bundestreue" (R. Smend), die heute zum Bundesstaatsprinzip des GG einfach hinzugenommen wird, obwohl sie nicht ausdrücklich i m GG normiert ist. Verfassungsrechtslehre als Literatur bildet — bei allen Dissensen und Kontroversen, bei aller Widersprüchlichkeit und Heterogenität — letztlich ein (kulturelles) Ensemble, das als ein wesentliches Element unter anderen die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten grundiert. Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur ist einerseits ein Teilfaktor i n interpretatorischen Insichprozessen — etwa wenn sich einzelne Wissenschaften und Richtungen bekämpfen, auch wenn sie letztlich eine Verfassungsinterpretengemeinschaft als Wissenschaftlergemeinschaft bilden (sollten) —, sie erbringt aber zugleich auf anderen Ebenen Beiträge und Eigenleistungen i n den Prozessen der Verfassungsinterpretation: Sie begleitet Arbeiten des Gesetzgebers und/oder der Verwaltung, sie provoziert oder legitimiert solche und sie stellt „vermittelnde" Gesprächsebenen, ja sogar die Ausdrucksformen zwischen den verschiedenen staatlichen und öffentlichen Funktionen her: etwa zwischen Bürger und Staat oder Gruppen und Staat, i n Gestalt der Begründung einer Verfassungsbeschwerde zwischen den staatlichen Funktionen, indem etwa eine Bundesstaatsstreitigkeit nach A r t . 93 Abs. 1 Ziff. 3 GG auf beiden Seiten unter dem „Beistand" von Staatsrechtslehrern vor dem BVerfG ausgefochten wird, i n Gestalt der Parti— Zu (vor-)politischen Wirkungsebenen von Staatsrechtslehrern vgl. meine Besprechung von K. Doehring, Sozialstaat, Rechtsstaat und freiheitlich-demokratische Grundordnung, 1978, in: D Ö V 1980, S. 928 f. 78 Grdlg. J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 3. Aufl. 1974. 79 Während das produktive „Zutun" der (Verfassungs-)Rechtsprechung im Verhältnis zum Gesetz vielfältig untersucht worden ist, fehlt es an vergleichbaren Arbeiten, die den Wirkungsebenen, Wirkungsformen, Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur im politischen Gemeinwesen entsprechend grundsätzlich nachgingen. Verfassungsprinzipien sind aber ein Ensemble von Traditionen von Staatsrechtslehrern und ihren Dogmatiken, politischen Erfahrungen, Staatspraxen und anderen politischen und kulturellen Kontexten „um" die geschriebenen Texte bzw. „zu" ihnen, also von Texten und Kontexten. Realistische Verfassungsinterpretation müßte diese den Verfassungstext mittragenden Elemente und Momente rechts- bzw. verfassungssoziologisch und verfassungstheoretisch in ihren Wirkebenen und Resultaten, in ihrem Vokabular und ihren Begriffen, in ihren Prozessen und Beteiligten strukturieren.
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V. Kulturelle Objektivationen
zipation als Enquête-Kommission (ζ. Β. zur „Verfassungsreform") oder i n anderer Weise — indem sie etwa Stichworte für eine „Verfassungsdebatte" liefert, wie sie sich 1974 i m Deutschen Bundestag entfaltete. Verfassungsrechtslehre w i r k t so als vermittelnde Instanz. b) Verfassungsrechtslehre steht dabei i n Prozessen von Produktion und Rezeption und Rezeption und wiederum Produktion 80, i n denen alle öffentlichen und staatlichen Funktionen i n einem dauerhaften Prozeß beteiligt sind. „Beteiligung" ist der Idee nach potentiell immer produktiver A r t : Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, ist dabei ebenso beteiligt, wie das BVerfG, das darüber entscheidet, der Staatsrechtslehrer, der die Entscheidung des BVerfG kommentiert, und die wissenschaftliche, politische und kulturelle Öffentlichkeit, die sie rezipiert. Diese Vorgänge von Rezeption und Produktion treiben die Entwicklung des Verfassungsstaates voran und integrieren die fragmentarischen Beiträge aller Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinne: von Klassikertexten bis zu Erziehungszielen, von Gerichtsentscheidungen und Sondervoten, von „abwegigen" Dogmatiken bis zu herrschenden Meinungen. Erst die verfassungsinterpretatorischen Vorgänge von Produktion und Rezeption öffnen und grundieren die Verfassung des Pluralismus. Rezeption ohne potentielle latente und aktuelle Produktion bedeutet Stillstand und Rückschritt; Produktion ohne Rezeption bedeutet Auflösung, Beliebigkeit und letztlich Anarchie. Mögen i m einzelnen die Akzente wechseln, etwa stärker rezipierende auf stärker produzierende Phasen i n einem politischen Gemeinwesen folgen: „ M i t telfristig" muß das Verhältnis von Innovation und Rezeption ausgewogen sein: Nur so wird offene Gesellschaft, nur so bleibt sie bestehen. Der Gesichtspunkt von Produktion und Rezeption trennt und verbindet alle an Verfassungsinterpretationen Beteiligten. Kein grundierendes Moment der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten w i r d nur von einer Funktion oder Person rezipiert. Die Gemeinschaftsaufgabe und -leistung ist i m Zeithorizont letztlich auch hier das Entscheidende. Dazu einige Beispiele: Verfassungsrichterliche Sondervoten leben nicht aus sich. Ihnen hat der wissenschaftliche Prozeß vorgearbeitet, ihnen arbeitet er nach: Wissenschaftliche Vorratspolitik und die 80 P. Häberle, Einleitung (Fn. 36), S. 58 ff. — Vgl. zur literaturtheoretischen Diskussion um Rezeptionsprozesse grdlg. H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, 1970, S. 144 ff.; zur Kritik vgl. aber auch P. Bürger, Vermittlung, Rezeption, Funktion, 1979, bes. S. 133 ff. Zuletzt H.R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 1982. — Grenzen des rezeptionswissenschaftlichen Ansatzes ergeben sich daraus, daß nicht nur zu fragen ist, welchen Einfluß die Wirkungsgeschichte eines Kunstwerkes tatsächlich auf die Werkinterpretation hat, sondern auch, welchen Einfluß sie haben darf. Andernfalls drohte eine versteckte bloße Erfolgsmetaphysik.
7. Staatsrechtslehre(r)
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Alternati ν judikatur der Sondervoten arbeiten zusammen und brauchen einander. Auch die „herrschende Ansicht" 8 1 konstituiert sich aus den Beiträgen vieler — jedenfalls ist sie nur so i n pluralistischen Gesellschaften erträglich und tragbar, aber auch „tragend". — Das Lebenswerk eines Staatsrechtslehrers w i r d nie total rezipiert — es wäre das Ende der offenen Wissenschaftlergemeinschaft —, und doch kann es produktiv konstitutive Teilbeiträge für das politische Gemeinwesen leisten. — U m sachlich zu konkretisieren: Der das GG seit 1949 kennzeichnende Ausbauprozeß des sozialen Rechtsstaates ist ein exemplarisches Gemeinschaftswerk vieler staatlicher und öffentlicher Funktionen; (Leistungs-)Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung, aber auch die Verfassungsrechtsdogmatik, das öffentliche Bewußtsein und ganz allgemein der politische Prozeß haben dazu ihre Beiträge geleistet. Hier sei erwähnt: die Formel vom „sozialen Rechtsstaat" als eine frühe Leistung der wissenschaftlichen Dogmatik noch vor dem GG — H. Heller hat sie geprägt 82 . Die Fülle sozialer Gesetze beginnt mit Bismarcks Sozialversicherung, die deutsche Staatsrechtslehre unter dem GG hat einen bleibenden Beitrag i n der Entdeckung der Sozialstaatsklausel (seit Η. P. Ipsens Hamburger Rektoratsrede 1949)83 geleistet, der politische Prozeß hat die „dynamische Rente" geschaffen, das BVerwG hat schon i m 1. Band seiner Entscheidungen den Fürsorgeanspruch als solchen bejaht 8 4 : So konstituiert sich die Wirklichkeit des sozialen Rechtsstaats aus einer Vielzahl von über den Verfassungstext i m engeren Sinn hinausgehenden Elementen: tendenziell sind sie zu Verfassungstexten i m weiteren Sinne geworden, auch wenn heute die „Grenzen des Sozialstaats" konturenschärfer werden. Schwer können die Faktoren vorausgesagt werden, die A r t und Intensität von derartigen Produktionsprozessen und Rezeptionen (mit-) bestimmen. So läßt sich nicht vorhersehen, welches Staatsrechtslehrervotum, welches Sondervotum, welche Entscheidung des BVerfG i m politischen Gemeinwesen so viel Gewicht erlangt, daß es aktuell zu einem Verfassungstext i m weiteren Sinne wird. Bedingung von Rezep81 Dazu R. Schnur, Der Begriff der „herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: FS E. Forsthoff, 1969, S. 43 ff.; vgl. auch N. Luhmann, öffentlich-rechtliche Entschädigung — rechtspolitisch betrachtet —, 1965, S. 195 ff. 82 H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1930), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, 1971, S. 443 ff. 83 Η . P. Ipsen, Uber das Grundgesetz, 1950; zuletzt ders., Fragwürdiges zur Sozialstaatlichkeit, in: Ansprachen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundessozialgerichts, 1979, S. 39 ff. 84 BVerwGE 1, 159 (161 f.). — Zur Geschichte des Sozialstaatsprinzips bzw. der Diskussion seit 1949: H.H. Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1970, 2. Aufl. 1977, S. 17 ff., 281 ff.; s. auch H.F. Zacher, Was können wir vom Sozialstaatsprinzip wissen?, in: FS Η . P. Ipsen, 1977, S. 207 ff.
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V. Kulturelle Objektivationen
tionen dürften Konsensfähigkeit, Überzeugungskraft, Plausibilität und Gerechtigkeitswert einer m i t Hilfe von Verfassungstexten i m weiteren Sinne erarbeiteten „alternativen Interpretation" sein. Manche Staatsrechtslehrervoten oder Buchrezensionen mögen höchst „folgenlos" bleiben, andere haben „durchschlagende Wirkung". Daß sich die Formel Hellers vom „sozialen Rechtsstaat", Smends „Bundestreue", Scheuners „Vorformung des politischen Willens" als integrierende Elemente des GG durchsetzten, war schwer vorauszusehen. Welches Einzelurteil des BVerfG eine „ständige Rechtsprechung" konstituiert, kann regelmäßig erst nachträglich rekonstruiert werden. Das Forum für die Prozesse der Verfassungsinterpretation, wenn man w i l l die „Bühne" für Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinne ist gewiß das GG als Verfassung des Pluralismus. Das Gewicht der „Rollen" der Beteiligten und der Ablauf des „Stückes" bleiben so offen, wie der „Regisseur", so es einen gäbe, unbekannt bleibt. Entscheidend ist, daß die jeweils einschlägige Öffentlichkeit eine pluralistische Öffentlichkeit ist, d. h. daß sich der Interpretationsvorschlag einer Vielzahl von Gegenargumenten stellen muß und Gegnern, die sie vertreten. So muß Offenheit bestehen für einander widersprechende Klassikertexte, Offenheit auch für Staatsrechtslehrervoten, die der Judikatur des BVerfG widersprechen, Aufmerksamkeit für Untergerichte, die mit den Auslegungsergebnissen der Obergerichte nicht übereinstimmen, Bereitschaft für ein Gespräch über die Revision von Erziehungszielen, Offenheit für wissenschaftliche Positionen oder für eine Neuformulierung alter innerhalb der Staatsrechtslehrer, aber auch über sie hinaus: i n den übrigen Kreisen der Verfassungsinterpretengemeinschaft. Erst aus dem Pluralismus, d. h. der Vielfalt von Ideen und Interessen können die Beiträge vieler zu Verfassungstexten i m weiteren Sinne gerinnen, kann Offenheit für alternative Interpretationen entstehen, die die schrittweise Fortentwicklung des politischen Gemeinwesens erlaubt.
V I . Programmatische Folgerungen: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Die grundlegende Bedeutung der skizzierten kulturellen Kristallisationen und Objektivationen als Medien der Verfassungsfortbildung hat Konsequenzen für ein angemessenes (Selbst-)Verständnis der Verfassungs(rechts)lehre: diese läßt sich adäquat nur als Kulturwissenschaft begreifen. 1. „Kulturwissenschaft" — Ansätze, Traditionen, Fragmente Begriff und Sache „Kulturwissenschaften" haben bzw. hatten Heimat vor allem i n der deutschen Philosophie. Die „Kulturphilosophie" ist sozial i n A n t w o r t auf die industriestädtischen Schwierigkeiten und Veränderungen und wissenschaftsgeschichtlich i n Abgrenzung von den sich ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften (unter Verarbeitung der historischen Kulturwissenschaften) ein „ K i n d " des 19. Jahrhunderts und fand als „Mode"-Philosophie der 20er Jahre einen Höhepunkt: als philosophische K u l t u r k r i t i k (vor der Folie einer neuen, anzustrebenden „wahren" Kultur), als formale Kulturphilosophie (mit dem Ziel, übergreifend den Aufbau der K u l t u r in den einzelnen Kulturwissenschaften zu erkennen) und als materiale Kulturphilosophie (mit dem Aufbau der geschichtlich-konkreten K u l t u r e n als Thema) 85 . Namentlich etwa Philosophen der südwestdeutschen Schule (H. Richert, W. Windelband) bemühten sich u m eine Begründung der Kulturwissenschaften i n A b grenzung von den Naturwissenschaften durch die unterschiedlichen Denkformen: Sahen sie Geschichte (im Sinne aller geschichtlich verfahrenden Wissenschaften) als K e r n der Kulturwissenschaften, betonte W. Dilthey das Moment philologischen Verstehens als die kulturwissenschaftliche Erkenntnisform 8 6 . Material wurde K u l t u r als „geschicht85 So im Überblick W. Perpeet, Kulturphilosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42 ff. — Kulturwissenschaftliches bzw. kulturgeschichtliches Denken prägte besonders das Lebenswerk von J. Huizinga; vgl. z. B. ders., I m Schatten von morgen, 5. Aufl. 1936, bes. S. 30 ff.; ders., Geschichte und Kultur, 1954, bes. S. 127 ff.; ders., Homo ludens (1938), 1956. 86 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft in der Geschichte, Bd. 1, 5. Aufl. 1962; er zog freilich (S. 5 f.) dem Ausdruck „Kulturwissenschaften" den Begriff „Geisteswissenschaft" vor.
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V I . Programmatische Folgerungen
lich-gesellschaftliche W e l t " schlechthin (W. Dilthey) vor allem wertp h i l o s o p h i s c h (H. Rickertf 7, lebensphilosophisch (W. Dilthey u. a.) u n d (später) ontologisch (A. Gehlen, E. Rothacker) b e g r ü n d e t . Das „ K l i m a " dieser „ k u l t u r " - h a l t i g e n D i s k u s s i o n e n h a t d a n n a u f andere W i s s e n schaftler (besonders i n H e i d e l b e r g ! ) f o r t g e w i r k t : Max Weber v e r s t a n d Soziologie 8 8 , G. Radbruch d i e Rechtswissenschaft als K u l t u r w i s s e n schaft 8 9 . D i e Staatsrechtslehre, h e r k ö m m l i c h m e i s t „ N a c h z ü g l e r " i n d e n E n t w i c k l u n g s p h a s e n des Denkens, n a h m sich dieses T h e m a s j e t z t i n W e i m a r an: i n A n k n ü p f u n g n a m e n t l i c h a n W. Dilthey u n d M . Weber h a t v o r a l l e m H . Heller Staatslehre p r i n z i p i e l l als K u l t u r w i s s e n s c h a f t b e t r a c h t e t 9 0 . I m e i n z e l n e n lassen sich n e b e n R. Smend m i t seiner W e n d e z u m geistesgeschichtlichen u n d w e r t o r i e n t i e r t e n D e n k e n 9 1 auch e t w a b e i G. Holstein 92 oder A. Hensel 93 k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e A n s ä t z e nach87 ff. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6. und 7. Aufl. 1926, z. B. S. 18; ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl. 1929. — M i t dem Kulturbegriff arbeitet auch E. Spranger, vgl. z.B. sein Buch Lebensformen, 8. Aufl. 1950, S. 16, 28 f.: „Kultur als historisch gegebenes Geistesleben und Wertverwirklichung". Nach Sprang er (a.a.O., S. 380 ff.) vollzieht sich das „Leben der Kultur" in zwei Tätigkeiten: im Kulturschaffen und in der „Kulturfortpflanzung" (d. h. Erziehung). — Bei Friedrich Naumann spielt der Kulturbegriff eine nicht geringe Rolle. Er charakterisiert „Freiheit" ausdrücklich als „Kulturbegriff" und spricht von einem „kulturellen Freiheitsbegriff" (F. Naumann, Werke, Bd. 5, hrsg. von T. Schieder, 1964, S. 360) und über „Kunst und Volk" (ders., Werke, a.a.O., Bd. 6, hrsg. von H. Ladendorf, 1964, S. 78 ff.) oder stellt die These auf, „wir haben keine einheitliche Kultur" (in: Ausgewählte Schriften, hrsg. von H. Vogt, 1949, S. 181). s. auch ders., Von Vaterland und Freiheit, 1913, S. 214: „Alle Kultur lebt davon, daß man mehr hat, als man braucht" und den Vergleich zwischen englischer, französischer und deutscher Kultur, in: ders., Die deutsche Sache. Die deutsche Seele, 1917, S. 34 ff. 88 M. Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkentnis, 1904; ders., Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwisssenschaftlichen Logik, 1906, beide jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. 1973, S. 46 (161 ff.) bzw. S. 215 ff.; ausf. aus der Sekundärliteratur: F. Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, 1970, S. 17 ff. Zu M. Weber zuletzt: H.J. Helle, Stufen der Kultur und des Staates bei Max Weber und Elman Service, in: FS Broermann, 1982, S. 107 ff. 80 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1914), hrsg. von Erik Wolf, 6. Aufl. 1963, S. 220 ff. — Wolf zeigt in seiner Einleitung Rickerts Einfluß betreffend die Kulturwerte (bzw. den Rechtswert) als Ausgangspunkt der wertbeziehenden Wissenschaften (bzw. der Rechtswissenschaft). 90 Vgl. bes. ff. Heller, Staatslehre, 1934, S. 32 ff., jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1971, S. 124 ff.; ders., Vom Wesen der Kultur (1924), jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1971, S. 425 ff. — Vgl. zum kulturwissenschaftlichen Ansatz bei H. Heller auch die ausf. Analyse bei W. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 1968, S. 268 ff., zu seinem „nationalen Kultursozialismus", S. 119 ff., zu Hellers aus der christlichen Kultur des Abendlandes erwachsenen Kulturkreis- und Kulturtheorie als „rudimentären Geschichtsphilosophie" (Schluchter), S. 158 ff. (160). 91 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Abhandlungen (Fn. 68), S. 119 ff. (123 ff.). — Zum geistesgeschichtlichen Ansatz auch E. Kaufmann, W D S t R L 4 (1928), S. 78 ff., bes. S. 81 (Diskussion).
1. „Kulturwissenschaft"
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weisen (wobei i n den Rechtswissenschaften (via Rechtvergleichung) J. Kohler 94 oder auch die Zivilrechtslehre 95 kulturwissenschaftliche Spuren (vor)gezogen haben) 96 . 92
G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, AöR N F 11 (1926), S. 1 ff. (auf S. 31 die Forderung nach einer Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode); ders., Elternrecht, Reichsverfassung und Schulverwaltungssystem, AöR N F 12 (1927), S. 187 ff. 03 A. Hensel, Art. 150 der Weimarer Verfassung und seine Auswirkung im preußischen Recht, AöR N F 14 (1928), S. 321 ff. 94 J. Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung, 1885; vgl. noch die Nachweise in Fn. 61. Auch heute ist eine methodenvergleichende Rechtswissenschaft auf die kulturellen Hintergründe angewiesen: vgl. nur W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 1, 1975, S.49ff., 60 ff., 149 ff.; aber gerade auch im Rahmen rechtsdogmatischer zivilrechtlicher Diskussion heute ist ein Rückgriff auf kulturelle Grundlagen notwendig, vgl. Fikentscher, a.a.O., Bd. I V , 1977, S. 13, 16, 18, 23, 26, 29, 31, 45, 63—66, 83, 109, 197, 279 u. ö. (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit). 95 Ein klassisches Lehrbuch wie das von L. Enneccerus / H. C. Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, ist sich soldier kultureller Hintergründe allenthalben bewußt, vgl. etwa die Hinweise auf den Zusammenhang von rechtlichem und kulturellem Wandel (S. 201, 219), die Einbettung des Rechts in den gesamtkulturellen Zusammenhang (S. 213, 219 f.) mit der Folge, daß bei der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, bes. bei Generalklauseln, aber auch bei der Fortentwicklung des Rechts, ζ. B. der Frage analoger Anwendungen, die Entwicklung der gesamten Kultur und ihrer Werte mitberücksichtigt werden muß (etwa S. 309, 322, 334 f., 339 f.). Vgl. ferner F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 13, 26; J. Esser, Grundsatz (Fn. 78), weist auf — den Kulturnationen gemeinsame — kulturelle Grundlagen des Rechts und auf von allen Kulturnationen anerkannte Rechtsgrundsätze hin, etwa S. 28, 34 ff., 378. s. auch die Bezugnahme auf kulturelle Zusammenhänge und Voraussetzungen in Kommentaren zum BGB, etwa: T. Mayer-Maly in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 1, 1978, § 138 Rn. 15, § 157 Rn. 11; G. H. Roth in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 1979, § 242 Rn. 4, 26; W. Hefermehl in: Soergel-Siebert, Kommentar zum BGB, Bd. 1, 11. Aufl. 1978, § 138 Rn. 8; H. Coing in: Staudingers Kommentar zum BGB, Bd. 1, 11. Aufl. 1957, § 138 Rn. 4, 5; H. Heinrichs in: Palandt, BGB, 41. Aufl. 1982, § 138 Anm. 16 und § 242 Anm. la, aa/bb. — Der kulturelle Aspekt ist mehr oder weniger deutlich ausgeprägt im „ordre public" des deutschen Internationalen Privatrechts (vgl. aus der älteren Literatur: E. Frankenstein, Internationales Privatrecht [Grenzrecht], 1926, 1. Bd., S. 212: „Wertung nach der ethisch-sozialen Seite"; G. Walker, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1926, S. 264: „Recht und Sittlichkeit sind Erzeugnisse der menschlichen Gemeinschaft . . . " in der „Entwicklung der Kultur eines Volkes . . . " ; aus der neueren Literatur: M. Wuppermann, Die deutsche Rechtsprechung zum Vorbehalt des ordre public im Internationalen Privatrecht seit 1945 vornehmlich auf dem Gebiet des Familienrechts, 1977, S. 25: „kultureller ordre public", „Unterschiedlichkeit der Kulturkreise", „abendländische Kulturvorstellungen"; aus der Rechtsprechung: RGZ 138, 214 [216]: „Staatspolitische oder soziale Anschauungen"; Β GHZ 50, 370 [376]: Maßgeblichkeit der Gerechtigkeits Vorstellungen; B G H NJW 1979, 488 f. [489] : „innerstaatliche Sozialordnung"). 96 Stark eurozentrisch geprägt sind im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Begriffe „Kulturvolk" und „Kulturstaat", die einen erreichten Entwicklungsstand kennzeichnen sollen. Vgl. nur: Internationale Kriminalistische Vereinigung (Hrsg.), Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. I, Berlin 1894, S. X I V ; K. v. Birkmeyer u. a.
4 Häberle
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V I . Programmatische Folgerungen
Diese Ansätze haben seitdem wenig grundsätzliche Nachfolge gefunden. I n der heutigen Staatsrechtslehre fällt nur selten der Begriff „Kulturwissenschaften" 97 . Selbst die Autoren, die sich u m das K u l t u r verfassungsrecht bemühen, ziehen daraus nicht die gebotenen methodischen Konsequenzen 98 , das weite Verständnis von K u l t u r w i r d als möglich akzeptiert, aber pragmatisch ausgeklammert 99 oder eher en passant ohne Vertiefung gebraucht 100 . Die Sache der K u l t u r und K u l t u r wissenschaften macht sich freilich politisch und rechtlich allenthalben geltend, nur eben noch nicht m i t dem notwendigen Methodenbewußtsein. Z u fragen ist nach den Gründen. 2. Hintergründe für die Vernachlässigung kulturwissenschaftlicher Ansätze Ein erster zentraler Grund knüpft an die verfassungsgeschichtliche, aber auch wissenschaftssoziologische Zäsur 1933/45 an. Die K u l t u r philosophie hat unter dem Druck der K r i t i k des analytischen philosophischen Denkens aus dem angelsächsischen Bereich und der historischen Erfahrung des Dritten Reiches heute ihre diskussionsbestimmende K r a f t verloren, auch wenn i n der Naturrechts-Renaissance solche k u l t u r - und wertphilosophischen Grundlagen fortgeführt wurden 1 0 1 und i m Bereich der Verfassungsrechtswissenschaft etwa i m grundrechtlichen Wertsystemdenken 102 erhebliche praktische Bedeutung gewonnen haben. Dennoch hat sich ein kulturwissenschaftliches Denken i n Verfassungsrecht und Verfassungslehre schon wegen des Untergangs der Weimarer Republik nach 1945 bzw. 1949 nicht grundsätzlicher auswir(Hrsg.), Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, A T Bd. I I , Berlin 1908, S. V. 97 z.B. bei M. Usteri in: FS H. Nef, 1981, S. 299 (301), der Sache nach aber S. 304 ff. — Da und dort wird empfunden, daß der juristische Ansatz nicht mehr ausreicht, um „Verfassungsinterpretation" zu leisten, vgl. etwa H. Schäffer, Die Interpretation, in: H. Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, S. 57 (76 ff.): „Rechtskulturelle Voraussetzungen der Verfassungsinterpretation — VerfassungsVerständnis und Verfassungsbewußtsein in Österreich". 98 Grdlg. für die historische Perspektive aber E. R. Hub er, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, zuletzt Bd. 6, 1981, bes. S. 855 ff. 99 Vgl. T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht (Fn. 3), S. 6 ff. mit ausf. Nw., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 249 ff. 100 -wie z β bei K. Doehring, I n Erinnerung an Karl Zeidler, FS E. Forsthoff, 1967, S. 5 (6). ιοί vgL ciie Dokumentation bei W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 2. Aufl. 1966, 3. Aufl. 1982; H. Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977. 102 Dazu ausf. P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 16 ff.
2. Vernachlässigung der Kulturwissenschaften
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ken können. Die Notwendigkeit des ökonomischen Wiederaufbaus und i n seiner Konsequenz das sog. „Wirtschaftswunder" haben anscheinend keinen Raum für kulturwissenschaftliches Denken gelassen bzw. diesem kein zeitgenössisches Echo ermöglicht 108 . Die Bundesrepublik Deutschland ist so i n einer unproportionalen Weise auf Wirtschaft und Wohlstand, auf ökonomischen Besitzstand, auf Materielles und auf W i r t schaftswachstum fixiert. Eine ökonomisierung des Denkens und politischen Verhaltens hat Platz gegriffen. Sie zeigt sich nicht nur an der überzogenen Bestimmung des Eigentums einerseits, mittelbar auch i m anspruchsorientierten Sozialstaatsdenken andererseits, sondern schlägt sich auch i n der Schwerpunktbildung, der Themenwahl, und den grundsätzlichen Diskussionen der Verfassungsrechtslehre nieder. Zu wenig Raum i n der Diskussion haben jene Teile der Verfassung bis heute eingenommen, die schon prima facie „Kulturverfassungsrecht" sind. Selbst dort, wo Begriff und Sache K u l t u r etwa vom BVerfG i m L ü t h Urteil zentral erwähnt wurden 1 0 4 oder wo ein Dictum von R. Smend über die Grundrechte („Grundrechte als Ausdruck eines K u l t u r - und Wertsystems") referiert bzw. kritisiert wurde 1 0 5 , blieb der Kulturgedanke i m grundsätzlichen ausgespart. Hinzu kommen weit ältere sehr deutsche Ursachen. Die viel zitierte Gebrochenheit der deutschen Nationalkultur und Geschichte, das Fehlen eines Frankreich seit 1789 vergleichbaren republikanischen Traditionszusammenhangs, die Fremdheit und Distanz zwischen (Verfassungs-)Staat einerseits, Kunst und Künstlern andererseits (sie bestanden schon i n Weimar), die Ungelöstheit der deutschen Frage — all dieses war der Entfaltung eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes nicht gün103 Vgl. aber H. Peters, Hat kulturelle Arbeit einen Sinn? (1946), jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 72 ff. 104 BVerfGE 7, 198 (206): „ . . . Gesamtheit der Wertvorstellungen . . . , die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklungen erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat." s. auch BVerfGE 5, 85 (379): „Die Ordnung in der Bundesrepublik ist legitim. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie auf demokratische Weise zustande gekommen und seit ihrem Bestehen immer wieder in freien Wahlen vom Volke bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, weil sie — nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach — Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die — aus älteren Quellen gespeist — von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d. h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Überzeugung bejaht." (Hervorhebung vom Verf.). 105 Vgl. vor allem E. Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Der Staat 2 (1963), S. 385 (388 ff.), jetzt in ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1977, S. 175 (177 ff.).
4*
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VI. Programmatische Folgerungen
stig. Speziell die Staatsrechtslehre stand zunächst auch viel zu sehr vor der Aufgabe, das GG dogmatisch zu entfalten. Allgemeine Staatslehren wurden betont retrospektiv konzipiert 1 0 6 . Verfassungslehren w u r den nicht geschrieben bzw. oft verfehlt 1 0 7 , auch hier schien die Zeit für ein Wiederaufgreifen bzw. eine Fortführung des Traditionsstroms „Kulturwissenschaften" noch nicht reif. Die Faszination, die die Sozialwissenschaften Ende der 60er Jahre bis heute auf die Jurisprudenz und ζ. T. auch auf die Staatsrechtslehre ausübten 108 , kam nicht der K u l t u r wissenschaft als Methode und nicht der K u l t u r als Sache zugute. Selbst i n den langwierigen Kontroversen um das Verhältnis von (Verfassungs-) Recht und Wirklichkeit blieb verdeckt, daß diese Wirklichkeit gewiß auch eine soziale Wirklichkeit ist, weiter und tiefer gesehen aber vor allem eine kulturelle Wirklichkeit. So ist es wohl auch kein Zufall, daß die Erforschung der „politischen K u l t u r " eines Volkes aus den USA kommt (Almond I Verba) und bei uns erst m i t großer Phasenverschiebung rezipiert wurde bzw. wird 1 0 9 . Schließlich setzt „ K u l t u r " Zeit(ablauf) voraus. Die BR Deutschland war vielleicht noch zu jung, u m K u l t u r als Gewachsenes thematisieren zu können. 3. Die Zweckmäßigkeit des Begriffs „Kulturwissenschaften" Eine Reanimierung jener verschütteten kulturwissenschaftlichen A n sätze kann sich zwar äußerlich auf die i n den letzten Jahren deutlich sichtbare Sensibilisierung für die Sache K u l t u r i n Recht und Gesellschaft berufen 110 . Wer solche Tendenzen zum Anlaß für ein eigenständi108 So durch Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966. — Eine für das Selbstverständnis der 50er Jahre charakteristische Berufung auf die „abendländische Kulturauffassung" findet sich mit juristischen Konsequenzen für die „freie Entfaltung der Persönlichkeit" und das „Sittengesetz" (Art. 2 Abs. 1 GG) etwa bei H. Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: FS R. Laun, 1953, S. 669 (673, 677). 107 Dazu mein Literaturbericht in ZfP 12 (1965), S. 381 ff.; s. aber auch die Besprechung der Allgemeinen Staatslehre von R. Herzog, in: AöR 98 (1973), S. 119 ff. los Vgl. etwa den großen Einfluß von J. Habermas und N. Lühmann auch auf die rechtswissenschaftliche Diskussion. — s. allg. aus der Literatur: H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973; D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1976. — Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 1 : Zivil- und Wirtschaftsrecht, hrsg. von N. Horn und R. Tietz, 1976; Bd. 2: Verf assungs- und Verwaltungsrecht, hrsg. von W. Hoffmann-Riem, 1977; H. Schulze-Fielitz, Sozialplanung im Städtebaurecht, 1979, S. 108 ff.; W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, 1981. 109
Nw. oben bei Fn. 26. Einige Stichworte mögen hier genügen: Aktuell werden diskutiert: Fragen einer (europäischen) „Charta der Kultur", der (deutschen) Auswärtigen Kulturpolitik (bes. in Ländern der Dritten Welt), der kommunalen Kulturpolitik, einer Bundeskunsthalle, der Nationalstiftung, Deutschland als 110
3. Zweckmäßigkeit des Begriffs
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ges Wissenschaftsprogramm i n Form einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre nimmt, muß sich freilich vorab zwei Einwänden stellen, die den Wissenschaftscharakter der „Kulturwissenschaften" betreffen. a) Einmal könnte die Hede von dem kulturwissenschaftlichen A n satz fälschlich suggerieren, es gäbe eine oder „die" Kulturwissenschaft als abgrenzbares Wissenschaftsgebiet; tatsächlich kann und w i l l diese Terminologie die Heterogenität der Kulturwissenschaften nicht verdecken. Wissenschaftsgeschichtlich scheint der Begriff „Kulturwissenschaften" sogar eher anachronistisch zu sein: entstanden aus programmatischen und methodologischen Abgrenzungsbemühungen zu den sich entfaltenden Naturwissenschaften, kehrt er heute begrifflich eher als normativer oder als hermeneutischer Theorieansatz wieder 1 1 1 , wenn man diese Abgrenzungen nicht i m Sinne der kritizistischen Einheitsthese überhaupt für falsch hält 1 1 2 . Soweit der Begriff material die Sache K u l t u r meint, beschäftigen sich eine Fülle von Einzelwissenschaften m i t der K u l t u r ; nicht zufällig ist heute „Kultursoziologie" als abgrenzbare Fachwissenschaft kaum erkennbar, sondern (ver)sammelt eher verlegen Untersuchungen, die keiner anderen Bindestrich-Soziologie eindeutig zuzuordnen sind 1 1 3 . Gerade darin liegt aber die Funktion des Begriffs „Kulturwissenschaften": eine Vielzahl von Einzelwissenschaften zu einem gemeinsamen Gegenstand und Auftrag zu verbinden. Auch erlaubt er, den Kreis der (auch) auf das Kulturwissenschaftliche gerichteten Einzeldisziplinen offen zu halten. So gesehen ist Verfassungslehre als Kulturwissenschaft eine „Integrationswissenschaft": Sie integriert das von den einzelnen Geistes- und Sozial-, von den Normund Wirklichkeitswissenschaften allzu getrennt Gedachte — soweit es die Sache Verfassung betrifft. Es ist also nicht nur die Rechtswissenschaft, die „als" Kulturwissenschaft spezifische Aufgaben und Methoden hat — am ehesten i m Bereich der Rechtsvergleichung praktiziert. Auch die Geschichte kann K u l t u r Kulturnation, der Politischen Kultur, des Verhältnisses von Künstlern und Staat (Künstlersozialversicherung, Rolle der Schriftsteller u. a.), der Erziehungsziele in der Schule u.a.; Nw. bei P. Häberle, Vom Kulturstaat . . . (Fn. 2), S. 2 ff. 111 Vgl. die (schon bei Dilthey , Geisteswissenschaften [Fn. 86, S. 26 f.] erkennbare) Trias von empirisch-analytischen, historisch-hermeneutischen und kritisch-dialektischen Theorieansätzen bei J. Habermas, Erkenntnis und I n teresse, in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie", 1968, S. 146 ff. 112 Vgl. dazu H. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Licht des Kritizismus, in: H. Albert, u. a., Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 80 ff., und die dortige Kritik von E. v. Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus. Polemische A n merkung zu Hans Albert: Erkenntnis und Recht, ebd., S. 97 ff. 113 Insoweit repräsentativ die (nicht nur festschriftenbedingte) „Heterogenität" bei J. Stagi (Hrsg.), Aspekte der Kultursoziologie, 1982.
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V I . Programmatische Folgerungen
Wissenschaft sein: unmittelbar als „Kulturgeschichte" oder mittelbar als kulturspezifisch und kulturell interpretierte Geschichte. Entsprechendes gilt für die Verfassungsgeschichte. Als Kulturwissenschaft w i r d sie am ehesten derzeit wohl von E. R. Hub er betrieben; für Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ist sie mehr als nur „Nachbardisziplin": Sie erforscht denselben Gegenstand wie jene i n der historischen Dimension, so wie Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung die Zeitdimension i n den Raum (der westlichen Welt) verlegt. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft integriert insoweit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — man denke an „Kulturelles-Erbe-Klauseln" und andere Rezeptionsprozesse —, soweit diese Zeitmodalitäten die Verfassung betreffen. Vielleicht kann so eine Neufassung des Verhältnisses von Verfassungsrecht und Wirklichkeit (auch von Theorie und Praxis) gelingen, die momentaner Ausschnitt aus der zeitlichen Dimension ist: Zeit und Verfassungskultur 114 . b) Ein anderer Vorbehalt könnte i m kulturwissenschaftlichen Ansatz nur die umbenannte Neuauflage der programmatischen Forderungen nach einer Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft sehen 115 ; doch gerade weil deren abstrakte Diskussion inzwischen unergiebig geworden zu sein scheint, kann eine kulturspezifischere Fragestellung hier möglicherweise neue Impulse geben. Freilich thematisieren die modernen Sozialwissenschaften das Kulturelle mit, findet man häufig das Wort von „sozio-kulturellen Zusammenhängen" u. ä.; indes steht i m Vordergrund das Gesellschaftliche 116 , oft auf das Ökonomisch-Materielle und Empirische verkürzt. Bewußt w i r d darum hier von Verfassungslehre als Kulturwissenschaft gesprochen — i n Distanzierung von der „Mode" der Ende der 60er bzw. 7Öer Jahre sozialwissenschaftlich zu bestimmenden Dimension der Rechtswissenschaften. Das Soziale ist gewiß ein wichtiger Aspekt des Kulturellen, ebenso wie das ökonomische und Politische. Aber das Kulturelle erschöpft sich nicht i n diesen „Realien". Umgekehrt wäre auch der Begriff der „Geisteswissenschaften" zu eng. Er könnte das Reale am Kulturellen ausblenden. So meint denn K u l t u r wissenschaften ein Ensemble von Aspekten und Dimensionen, das jetzt gemeinsam i n seiner Wirkung auf die Verfassung, aber auch i n seiner begrenzten Steuerung durch die und i n der Verfassung erforscht wird 1 1 7 . 114
Vgl. P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur (Fn. 25), i. E. Vgl. die Nw. in Fn. 108; eine Fortsetzung dieser abstrakten Diskussionen scheint derzeit unergiebig, wie überhaupt traditionsreiche Kontroversen sich nach einiger Zeit argumentativ erschöpfen, vgl. etwa den „Richtungsstreit" aus der Weimarer Zeit, dazu R. Smend, FS Scheuner, 1973, S. 575 ff.; M. Friedrich, AöR 102 (1977), S. 161 ff., oder die Diskussionen um die Alternative „Naturrecht oder Rechtspositivismus". 118 Auch beim H. Heller-Schüler M. Drath, Über eine kohärente soziokulturelle Theorie des Staates und des Rechts (1966), jetzt in: ders., Rechtsund Staatslehre als Sozialwissenschaft, 1977, S. 154 ff. 115
3. Zweckmäßigkeit des Begriffs
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E i n e k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e (Verfassungs-)Rechtswissenschaft l e n k t also d e n L i c h t k e g e l des E r k e n n t n i s i n t e r e s s e s a u f die k u l t u r e l l e n D i m e n sionen d e r u n d i n d e r Verfassung. D a r i n l i e g t n u r scheinbar eine V e r e n g u n g des P r o g r a m m s e i n e r sozialwissenschaftlich v e r t i e f t e n Rechtswissenschaft. V i e l m e h r w i r d d a m i t n u r als wissenschaftliche Prämisse f o r m u l i e r t , daß K u l t u r u n d i h r e E n t w i c k l u n g — i n s t ä r k e r e m M a ß als b i s h e r t h e m a t i s i e r t — d i e E n t w i c k l u n g des Verfassungsrechts u n d d e r V e r f a s s u n g e n i n d e m o k r a t i s c h e n Verfassungsstaaten a l l g e m e i n b e einflussen. Diese p r o g r a m m b i l d e n d e These k a n n sich d a b e i auf b e d e u t e n d e neuere gesamtgesellschaftliche T h e o r i e e n t w ü r f e b e r u f e n , d i e das Recht u n d die soziale E n t w i c k l u n g a l l g e m e i n i n l e t z t e r A b h ä n g i g k e i t auch v o n k u l t u r e l l e n E n t w i c k l u n g s p r o z e s s e n analysieren. I n d e r E n t w i c k l u n g d e r S y s t e m t h e o r i e v o n T. Parsons
hatte die K u l -
t u r stets eine bedeutsame R o l l e gespielt. D i e b e d e u t s a m s t e n G e h a l t e des 117
Es ist bemerkenswert, daß an deutschen Universitäten jüngst kulturwissenschaftliche Fakultäten gegründet wurden (Bayreuth), in der Schweiz früher in St. Gallen. I m einzelnen wäre zu prüfen, ob dies mehr der Verlegenheit bzw. einem Sammelsurium vieler nicht weiter „unterzubringender" Einzelfächer entspricht oder Ausdruck einer neuen Forschungsrichtung und Denkweise ist. — Eine Momentaufnahme von Organisationsstrukturen, Vorlesungen und Forschungsprogrammen deutscher Universitäten und Hochschulen im Spiegel der Vorlesungsverzeichnisse je eines Semesters der Jahre 1980/81/82 ergibt für die „Kulturwissenschaften" folgendes Bild: Organisatorisch, d. h. als Name für Fakultäten oder Teilbereiche fungiert „Kultur" z.B. in Bayreuth „Kulturwissenschaftliche Fakultät", in der F U Berlin (Bereich Philosophie und Sozialwissenschaften I I : „Schwerpunkt Kultur und Interaktion"), in Bonn („Seminar für Sprach- und Kulturwissenschaften Zentralasiens"), Bremen (Lehrstuhl für „Kulturgeographie", für „Literaturwissenschaften einschließlich Kulturtheorie", für „englische Literatur und Kulturgeschichte"), Universität Essen (Studiengebiet „Kultur und Bildungssoziologie"), Universität Duisburg („Kultur und Kommunikation"), Universität Gießen (Professur für „Kultursoziologie und Kulturanthropologie"), Hannover („Kulturwissenschaft", im Bereich englischer Sprache), Mainz („Institut für allgemeine Sprach- und Kulturwissenschaften"), Marburg (Fachbereich: „Außereuropäische Sprachen und Kulturen"), Tübingen („Fakultät Kulturwissenschaften"), Würzburg („Altertums- und Kulturwissenschaften"). — Einschlägige Vorlesungen sind etwa: „Soziale Kulturarbeit auf dem Lande" (Bamberg), „Kultursoziologie" (Augsburg), „Natur und Kultur" (Aachen), „Einführung in die Literatur- und Kultursoziologie" (TU Berlin), Seminar für „Kulturgeographie" sowie eine Vorlesung „Multikulturelle Bildung" (Bochum), Proseminar „Kulturgeographie" (Darmstadt), Vorlesung „Materielle Kultur und Volkskultur" (Freiburg/Br.), „Soziokulturelle Zentren" (Kassel), „Kulturtheorie" (Köln), „Theorien der Kultur", der „kulturellen Verschiedenheit", der „Entwicklung und Unterentwicklung" (Mainz), Übung: „Kulturgesellschaft" (Regensburg). — Als Projekte mit kulturwissenschaftlichen Inhalten fungieren etwa „Massenkultur und Elitekultur in Frankreich" (Bremen), „Kultur und Frieden" (Oldenburg). — I n vielen Jahren mag es angezeigt sein, den Kulturwissenschaften systematisch über einen längeren Zeitraum hin so nachzugehen, wie dies hier punktuell geschah. Vorbildlich im Methodischen hierfür wäre J. Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz" auf deutsdien Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979 (dazu meine Besprechung in D Ö V 1982, S. 660).
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V I . Programmatische Folgerungen
kulturellen Systems sind nämlich Werte, die sehr weite und allgemeine Definitionen anzustrebender Zustände, Prozesse usw. enthalten. Diese Werte sind für Zustandekommen und Stabilität sozialer Ordnung von zentraler Wichtigkeit 1 1 8 . Parsons hält Wert und Normen bei der Fortentwicklung von Systemen durch fundamentale Innovationen für wichtiger als politische und ökonomische Interessen und bezeichnet sich i n diesem Sinne letztlich als „Kulturdeterministen", auch wenn er u m die Vielfalt der verschiedenen Faktoren bei der Evolution sozialer Systeme weiß 1 1 0 . Auch J. Habermas vertritt i n seinen Entwürfen die These, daß die Entwicklung normativer Strukturen (Konfliktlösungsmechanismen 120 , Weltbilder, Moralvorstellungen, kulturelle Werte, Rechtsnormen, Identitätsformationen usw.) der Schrittmacher sozialer Evolution ist, weil erst ihre gesellschaftliche Verankerung höhere gesellschaftliche Komplexität ermögliche, auch wenn der Wandel solcher normativen Strukturen auf neue, ungelöste, ökonomisch bedingte Systemprobleme antworte 1 2 1 . Seine Theorie des kommunikativen Handelns läßt sich so auch als ein Versuch lesen, i n Korrektur ökonomistischer und holistischer Theoreme eines dogmatischen Marxismus die Abhängigkeit gesamtgesellschaftlicher (ökonomischer, politischer, sozialer) Entwicklungen und Strukturen (auch) von kulturellen Wandlungsund Wachstumsprozessen zu analysieren 122 . Zwar erscheint i n diesen grundlagentheoretischen Arbeiten das Verfassungsrecht bzw. die Verfassung selber als Teil „der" K u l t u r (im weiteren Sinne); deutlich w i r d aber die Einbettung von Verfassung und Verfassungsrecht (und ihrer Theorie) i n parallele und tiefere kulturelle Zusammenhänge sowie das Eigengewicht der kulturellen Entwicklungen gegenüber sozial-ökonomischen Prozessen. So ungewiß solche theoretischen Grundlagen i m einzelnen auch noch sein mögen — sie bestätigen die Überfälligkeit 118 Vgl. z. B. T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, 1972, S. 14; ders., Structure and Process in Modern Societies (1960), 1967, S. 295 ff.; w. Nw. über die Entwicklung bei R. Damm, Systemtheorie und Recht, 1976, S. 108 ff., der Parsons in die Nähe von H. Heller rückt (S. 116). 119 Vgl. etwa T. Parsons, Gesellschaften, 1975, S. 174 f.; krit. differenzierend W. Schluchter, in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System, 1980, S. 106 (115 f.), der aber selber für das Verhältnis von Kultur und ihren Bezug auf alle Lebensordnungen (auch die rechtlich-politische) auf das soziologische Konzept der „Interpénétration", d. h. der wechselseitigen Verschränkung und Beeinflussung zurückgreift (S. 130 ff.). 120 Darunter dürften sich wohl auch die verfassungsrechtlichen Regeln subsumieren lassen. 121 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 12, 35, 175 f.; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1981, S. 464 u. ö.; zuletzt ders., in: FR vom 3.12.1982, S. 10 f. 122 Diese Kennzeichnung wird dem Werk naturgemäß nicht gerecht; an dieser Stelle geht es nur um die bemerkenswerte Tendenz: Kultur im weiten Sinne ist geradezu zu einem Schlüsselbegriff geworden.
4. Eigener Ansatz
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des Anlaufs zu einem kulturwissenchaftlich vertieften Denken auch in der Verfassungslehre 123 . 4. Der kulturwissenschaftliche Ansatz Der i m Anschluß an Hermann Heller hier als kulturwissenschaftlich gekennzeichnete Ansatz 1 2 4 w i l l die kulturellen Wurzeln des Rechts erarbeiten und für Verfassungstheorie und Verfassungsrecht fruchtbar machen. Werte, Wertsystem, Erziehungsziele, Orientierungswerte verweisen auf Schichten und Zusammenhänge, meinen eine Wirklichkeit und Möglichkeiten, die mit der „juristischen Methode" nur ζ. T. erfaßbar sind, vor allem deswegen, weil auch das Recht nur ein Teil der K u l t u r des Gemeinwesens i m anthropologischen Sinne ist. Verstehen w i r K u l tur als ein System von expliziten und impliziten Mustern für und von Verhalten, die durch Symbole erworben und tradiert werden — unter Einschluß der Verdinglichungen —, so besteht der essentielle K e r n dieser K u l t u r aus traditionalen Ideen und besonders aus den ihnen zugeordneten Werten 1 2 5 . Diese Werte finden i m Recht ζ. T. eine direkte, ζ. T. nur eine gebrochene, ζ. T. überhaupt keine Widerspiegelung 126 . Zwischen „der K u l t u r " und ihrem Teilbereich „Recht" besteht also oft eine Differenz 127 , die unter dem Gesichtspunkt „Recht und sozialer Wan123 Auch sonst läßt sich allenthalben eine Wiederbesinnung auf das Thema „Kultur" beobachten, vgl. aus jüngster Zeit etwa J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur „geistigen Situation der Zeit", 1979, Bd. 2: Politik und Kultur; dort zum programmatischen Anspruch einer „kritischen Kulturwissenschaft" P. Bürger, Literaturwissenschaft heute, S. 781 (782, 788); Κ . H. Bohrer, Die drei Kulturen, S. 636 ff.; aus Band 1 („Nation und Republik") vgl. vor allem H. Ehmkes „kritische Distanz" gegenüber dem Begriff „Kulturnation" (S. 51 ff., 68). — s. auch J. Clayton , Kulturbegriff und Kulturwissenschaft, in: FS W. F. Kasch, 1981, S. 323 ff. — Ein „kulturwissenschaftlicher Disziplinenkontakt" zwischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft findet statt in dem Band: R. Berdahl u. α., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, 1982. — Das jüngst viele Einzeldisziplinen wohl am besten spezifisch kulturwissenschaftlich integrierende Buch stammt von R. Wendorf, Zeit und Kultur, 1980. — Eine große Rolle spielt der Kulturaspekt bei R. Dawkins , Das egoistische Gen, 1978, ζ. B. S. 193, 223 ff. (vgl. seine Einheit „Mem" im Rahmen kultureller Evolution). 124 Vgl. ausf. P. Häberle, Klassikertexte (Fn. 24), S. 44 ff.; ders., Erziehungsziele (Fn. 102), S. 40 ff. 125 A. L. Kroeber/C. Kluckhohn, Culture (Fn. 5), S. 357. 126 Man denke nur an bestimmte Vorschriften aus der StVO wie Parkverbote oder auch an die Qualifizierung von Steuerhinterziehungen (im kleineren Maßstab) als „Kavaliersdelikte". — Zur Einordnung des Redits in seine sozio-kulturelle Umgebung s. R. König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: ders. (Hrsg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 11/1967 (hrsg. v. E.E. Hirsch/ M. Rehbinder), S. 36 ff.
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V I . Programmatische Folgerungen
del" (der immer auch ein kultureller Wandel ist 1 2 8 ) thematisiert wurde. Dieses bedeutet zweierlei: Zum einen können das Recht und seine Inhalte nur dann zutreffend erfaßt wie auch bewußt eingesetzt werden, wenn man sich dieser „Schere" bewußt ist und (ebenso) das Recht kulturell (wie auch manchmal die K u l t u r mit den Augen des Rechts) sieht — unter dem Aspekt „Kontext" ist dies vom Verfasser an einem Teilproblem schon behandelt worden 1 2 9 . I n diesem Sinne ist der „ k u l t u r wissenschaftliche Ansatz" eine Absage an die latenten Spätfolgen des Positivismus 130 . Zum anderen bedeutet dies, daß — u m i m B i l d zu bleiben — die „Verbindung zwischen beiden Schenkeln der Schere" nicht aufgegeben werden darf: Eben diese Verbindung aber leisten ζ. B. Erziehungsziele und Orientierungswerte. Auf der Zeitachse strukturieren das geschichtliche — kulturelle — Erbe, die „Erfahrung" eines Gemeinwesens, seine politisch-kulturelle Gegenwart und seine entsprechenden Hoffnungen zusammen das Wertsystem des Gemeinwesens so, daß die juristisch geltende und juristisch erfaßbare und auszubauende Verfassung darauf „setzen" kann. Das oft gesuchte „Hintergründige" am GG oder das „Vorverfassungsrechtliche" — wie ζ. B. das „vorverfassungsrechtliche Gesamtbild" H. Nawiaskys 131 — meint die Sache, die kulturwissenschaftlich zu erschließen ist. I n der Raumdimension fällt zunächst das Phänomen der kulturellen Verdinglichung, der „Greifbarkeit" kulturellen Schaffens ins Auge: Dies ist jedoch nur die erste Schicht 132 . Die Verfassung des Bundesstaates kann jedoch ohne die kulturwissenschaftliche Perspektive ebensowenig erschlossen werden wie die Kommunalverfassung oder wie kulturelle Regionen ohne jene Zusammenhänge, i n denen die „kooperativen Verfassungsstaaten" der Welt oder auch Europa als Kulturgemeinschaft dank seines kulturellen Erbes stehen. Juristische Texte geben lediglich erste Anhaltspunkte für Erziehungsziele und Orientierungswerte. So müssen beim juristischen Erziehungsziel „Toleranz" etwa Klassikertexte wie Lessings „Nathan" als Bestandteil kultureller Öffentlichkeit, als Vehikel personaler Freiheit m i t gelesen werden 1 3 8 , beim Erziehungsziel „verantwortete Freiheit" und 127 Vgl. auch J. Clayton , Kulturbegriff (Fn. 123), S. 326 ff.; s. weiter R. König (Fn. 126), S. 45. 128 Sofern man zwischen „sozialem" und „kulturellem" System differenziert, entsprechend T. Parsons, The Social System, 1951 (Pb. 1970), S. 9 ff., 14 ff., 86 f., 332 ff. u. ö. 129 P. Häberle, Recht aus Rezensionen (Fn. 77), S. 44 ff. 130 Nicht umsonst dürfte sich wohl ff. Heller auf M. Weber bezogen haben; vgl. Nw. oben Fn. 90. 131 Vgl. zuletzt m. w. N.: L. Grämlich, Abschied vom „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild", DVB1. 1980, S. 531 ff. 132 Zum Versuch einer Exemplifizierung bezüglich des — umgrenzten — kommunalen Raumes s. P. Häberle, Kulturpolitik (Fn. 17), S. 38 ff.
4. Eigener Ansatz
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„Humanität" Texte von F. Schüler bis B. Brecht 134. Nur so „wiederholt" sich die Sozialethik heute. Daß die Verfassung, daß die Verfassungslehre damit nur als Teil eines kulturellen Ganzen erscheinen, schwächt nicht ihre Geltungskraft und relativiert auch nicht ihren Zuständigkeitsbereich. Es läßt vielmehr ihre tieferen Wurzeln erkennen, die der staatsrechtliche Positivismus nicht sehen konnte und die das naive Wertdenken glaubte, einfach „abzubilden" oder auch postulieren zu können. Die Arbeit des Juristen w i r d dadurch nicht leichter, seine Verantwortung intensiviert sich. Er muß selbstbescheidener sein, doch zugleich mit Hilfe der Nachbarwissenschaften weiter und tiefer sehen. Diese Anstrengung könnte sich aber letztlich als lohnend erweisen u m des gemeinsamen Ausbaus der Verfassung des Pluralismus willen. Selbst dort, wo juristische Texte reichlich vorhanden sind, bedarf es der Erschließung der kulturellen Ambiance, der kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen Zusammenhänge „hinter" oder „vor" den Texten. Gerade die „Verfassung des Pluralismus", gerade die Verfassung der offenen Gesellschaft bedarf einer Grundierung durch wenn man w i l l : „Werte", durch „kulturelle Kristallisation" und Objektivationen, sie bedarf der Orientierung an Werten als Direktiven, einer Rahmenordnung u. a. Menschliche Identitätsfindung w i r d möglich nur durch Freiheit und Einbindung, „Lebenschancen" und „Ligaturen" (R. Dahrendorf), „kulturelles Erbe" und Zukunft. Ein (Kultur-)Volk bedarf der identitätsbestimmenden und -sichernden Richtpunkte bzw. „Werte", ebenso (wie) der einzelne Bürger 1 3 5 . Ohne sie werden Freiheit und Pluralismus buchstäblich leer, gegenstandslos und „bodenlos". Dabei lassen sich „kulturelle Wachstumsprozesse" (Kolakowski) ebenso beobachten, wie w i r „Wachstumsprozesse" der Verfassung kennen. Das Kulturverfassungsrecht ist ein Hauptgegenstand dieser Vorgänge 136 . Die Erschließung der kulturellen Hintergründe ist kein Aufgeben des „Genuin-juristischen", keine Kampfansage an die Eigenständigkeit des Normativen und die Identität des Juristen. Seine handwerklichen Kunstregeln behalten ihr — relatives — Recht, der Jurist behält seine — relative — Kompetenz, die Rechts- bzw. Verfassungsnormen behalten ihren Eigenwert. Ins Licht gerückt w i r d nur der je immer schon be133 Vgl. meinen Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: (zweite) FS H. Huber, 1981, S. 211 (229). 134 s. auch H. von Hentigs Plädoyer für die „allgemeine Bildung" (FAZ vom 27.9.1980), die in der von „Wissenschaft erweiterten und geprägten Welt auch eine moralische Funktion" habe. 135 s. etwa Karl Popper, „Freiheit vor Gleichheit", in F A Z vom 24.12.1976: „Ich glaube nicht, daß eine Gesellschaft ohne Wertvorstellungen lebensfähig ist. Es kommt aber sehr darauf an, was für Wertvorstellungen man hat." ΐ3β V g l N w > o b e n b e i F n # n f f >
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V I . Programmatische Folgerungen
stehende, selten aber genügend bewußte kulturelle Kontext der Verfassungsnormen und ihrer Interpreten. Er grundiert je immer schon den Interpretationsvorgang und den Interpretationsgegenstand, aber auch den Interpretierenden 137 . 5. Einige zentrale Themen kultureller Verfassungslehre a) „Kulturelle
Freiheit"
I n der kulturellen Dimension muß die grundrechtliche Freiheit, muß die freiheitliche (und kulturelle) Demokratie auch von ihren Ergebnissen her gesehen werden. So beliebig das sein darf und soll, was der einzelne m i t seiner Freiheit anfängt bzw. aus ihr macht (oder nicht macht), so ergebnisorientiert ist aufs Ganze gesehen die Garantie der Freiheit für alle bzw. als solcher. Kulturelle Freiheit ist — i n der Zeitachse betrachtet — eine Leistung vieler Generationen, i m „Querschnitt" gesehen ist sie Produkt vieler unterschiedlicher Kreise und Gruppen eines Volkes bzw. der Verfassungsinterpreten. Von der individuellen Statur eines Volkes aus gesehen ist Freiheit wesentlich u m ihrer „Objektivationen" und „Materialisierungen" sprich Resultate w i l l e n garantiert, die ihre Einzelausübung hervorbringen kann; Bemühungen u m „alternative" Kulturformen bestätigen den Zusammenhang von K u l t u r und Freiheit. Der Begriff „kulturelle Freiheit" sucht also die Freiheit vom Gegenständlichen her anzureichern, nicht i. S. einer normativ-verbindlichen Vorgabe, sondern vom erwarteten, gewiß oft verfehlten Ergebnis her. So gesehen ist alle Freiheit „kulturelle Freiheit": als Freiheit, die i n 137 Kräftige Impulse erfährt die kulturpolitische Diskussion europa-, ja weltweit durch die (freilich oft polemischen) Auftritte des französischen Kulturministers J. Lang. So einseitig sozialistisch, frankophon-antiamerikanisch, vielleicht auch instrumental-politisch seine Vorstöße oft sind und auch wirken und so sehr gerade von deutscher Seite hier Kritik notwendig wird (vgl. den saarländischen Kultusminister W. Knies, der lt. F A Z vom 22. 9.1982 mit Recht darauf hinweist, daß die Kraft europäischer Kultur in ihrer Vielfalt bestehe, die es zu erhalten gelte, das föderalistische Prinzip entspräche dieser Vielfalt): Das Positive an Langs Reden und Wirken sollte nicht übersehen werden. Es besteht in einer Sensibilisierung der breiteren Öffentlichkeit (und mittelfristig auch der Wissenschaften) für die Sache Kultur, in einer Verstärkung der Bemühungen um das „Kulturelle Europa" in seiner Identität und Vielfalt, seinem „Erbe" und seiner Zukunft innerhalb und außerhalb von Europarat und EG) sowie in einer Herausforderung kultur-(verfassungs- und - ver waltungs) rechtlicher Fragestellungen. Einzelne Stichworte Langs sind hier durchaus beachtenswert; vgl. das Sitzungsprotokoll des französischen Senats vom 8. 12. 1981, S. 3872 ff.: „La culture et le travail sont indissolublement associés." „La culture . . . n'appartient à personne!" „Conception élargie de la culture." Ein Teilabdruck von Jack Langs „Brandrede" in Mexiko findet sich in F A Z vom 14. 8.1982, S. 19 mit Passagen wie: „Kultur ist kein Privatbesitz", „sie geht das ganze Volk an".
5. Themen kultureller Verfassungslehre
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realistischer Betrachtung i n ein Geflecht von Erziehungszielen und Orientierungswerten, kulturellen Maßstäben und sachlichen Bindungen eingefügt ist, kurz die „ K u l t u r " buchstäblich „zum Gegenstand", ja zur Aufgabe hat. K u l t u r ist i n dieser Form Gegenstand sowohl der Freiheit des und i m einzelnen als auch der Freiheit als „Gesamtzustand" eines Volkes. Diese Freiheit „gerinnt" oder objektiviert sich zu kulturellen Elementen, es kommt zu kulturellen Kristallisationen, auf der spätere individuelle und kollektive Freiheitsausübung aufbauen kann. Kulturelle Wachstumsprozesse verlaufen über solches Wechselspiel von „potentieller" Freiheit über „erfüllte" Freiheit bzw. kulturelle Freiheitsergebnisse bis zu Werken, von denen aus wieder neue individuelle Freiheit möglich, aber auch notwendig ist und gewagt werden muß (mit der Möglichkeit des Scheiterns): Meinungs- und Pressefreiheit führen zu Meinungen und Pressewerken, die dem k u l turellen und politischen Prozeß zugute kommen; Kunst- und Wissenschaftsfreiheit führt zu Werken der Wissenschaft und Kunst, auch zur Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur, die bei späteren Auslegungsvorgängen hilfreich werden können; die Glaubensfreiheit führt zu religiösen Inhalten und Orientierungen, die das Selbstverständnis der religiösen Gruppen prägen können 1 3 8 ; ähnliches gilt für alle korporativen Aspekte grundrechtlicher Freiheit 1 3 9 . U m dieser individuellen und sozialen „Gesamterfolge", u m dieser Resultate w i l l e n werden Grundrechte normiert, ausgestaltet und entwickelt. Und das, was ihre Inanspruchnahme politisch, wirtschaftlich und kulturell hervorbringt, prägt auf längere Sicht seinerseits wieder die Grundrechte: i n ihrer normativen Gestalt und auf den Wegen ihrer Erfüllung. Die erwähnten Prozesse der Produktion und Rezeption nehmen ihren Weg gerade „durch" die Grundrechte hindurch. Das politische Gemeinwesen hat darauf zu achten, daß grundrechtliche Freiheit möglichst intensiviert, erweitert und verallgemeinert 138 Ein Beispiel für die Folgen kultureller Freiheit sind die Probleme der sog. neuen Jugendreligionen: So kommt es bei der Frage, ob diese steuerrechtlich als gemeinnützig anerkannt werden können (vgl. § 52 Abs. 2 AO), nach der Rechtsprechung der B F H darauf an, ob die religiösen Ziele und die Art ihrer Betätigung nicht den „abendländischen Kulturauffassungen" zuwiderlaufen (vgl. F. Klein, Steuerrechtliche Aspekte, in: Juristische Probleme im Zusammenhang mit den sog. neuen Jugendreligionen, hrsg. von P. A. Engstfeld u. a., 1981, S. 131 [135] m. w. Nw.). Schon J. Heckel hatte mit; seiner bekannten Formel (vgl. VerwArch 37 [1932], S. 280 ff., jetzt in: P. H ä berle [Hrsg.], Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft [Fn. 36], S. 123 ff. [127]) als Grenze für die Verengung der kirchlichen Autonomie „jedes für die Gesamtnation als politische, Kultur- und Rechtsgemeinschaft unentbehrliche Gesetz" gesehen; im Leistungsstaat muß dieser kulturspezifische Grundgedanke differenziert fortgeschrieben werden. 130 Zum korporativen Grundrechtsverständnis meine Rezensionsabhandlung: Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, ZHR 145 (1981), S. 473, bes. 481 ff.
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V I . Programmatische Folgerungen
w i r d , o h n e daß d i e n o t w e n d i g e n B i n d u n g e n u n d E i n b i n d u n g e n d e r F r e i h e i t v e r l o r e n g e h e n b z w . d a m i t M o m e n t e sachlicher G r u n d i e r u n g der Freiheit u n d Offenheit hervorgebracht werden. D i e Rechtsordnung k a n n sicherlich n i c h t u n m i t t e l b a r „ g u t e Ergebnisse" g a r a n t i e r e n , aber sie k a n n R a h m e n b e d i n g u n g e n setzen f ü r d i e o p t i m a l e G a r a n t i e v o n F r e i h e i t u n d V e r a n t w o r t u n g . V o r a l l e m m u ß sie u m d e r S t a b i l i t ä t u n d S e l b s t b e h a u p t u n g des p o l i t i s c h e n Gemeinwesens w i l l e n , u m seines k u l t u r e l l e n S t a t u s w i l l e n u n d seiner k u l t u r e l l e n Wachstumsprozesse w i l l e n grundierende M o m e n t e h e r v o r b r i n g e n . D a ß dies a u f d e m W e g i n d i v i d u e l l e r F r e i h e i t geschehen k a n n , ist d i e e i n z i g a r t i g e L e i s t u n g des V e r fassungsstaates. Es i s t z u g l e i c h sein „ G l a u b e n s b e k e n n t n i s " . D i e D o g m a t i k h a t d e n B e r e i c h g r u n d r e c h t l i c h e r F r e i h e i t seit 1949 e r w e i t e r t u n d intensiviert: Grundrechtliche Freiheit w u r d e „verallgemeinert", für m ö g l i c h s t a l l e B ü r g e r e r n s t g e n o m m e n i. S. realer F r e i h e i t 1 4 0 : v o n d e r E n t d e c k u n g n e u e r (öffentlicher) F r e i h e i t e n w i e d e r D e m o n s t r a t i o n s freiheit über die E r a r b e i t u n g der „leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte bis zuletzt e t w a zur Sicherung der Grundrechte v o n der v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e n Seite h e r 1 4 1 . G e w i ß w u r d e e i n S y s t e m d e r B i n d u n g e n d e r F r e i h e i t e n t w i c k e l t , doch n i c h t g l e i c h e r m a ß e n a u s g e b a u t 1 4 2 . 140 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, Rn. 288 ff. 141 Vgl. P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), S. 43 (86 ff.); K. Hesse, EuGRZ 1978, S. 427 (434 ff.); zuletzt H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG: E 53, 30 (65), SV 69 (71 ff.); 55, 171 (182); 56, 216 (236). Weiteres zum „status activus processualis" zuletzt in meiner Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, i. E. 142 Zum kulturwissenschaftlichen Verständnis der Grundrechte im allgemeinen und zu den kulturellen Grundrechten im engeren Sinne meine Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, i. E. Ebenda auch zum „generationenorientierten" Verständnis grundrechtlicher Freiheit. — Die Problematik der „staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland" (vgl. die Referate von K. Doehring und J. Isensee, in W D S t R L 32 [1974], S. 7 ff. bzw. S. 49 ff. samt Aussprache, ebd. S. 107 ff.; aus der Literatur zuletzt H. Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1981; G. Schult [Hrsg.], Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1982) ist entschiedener als bisher von den kulturverfassungsrechtlichen, Jculturrechtlichen und -politischen Zusammenhängen her zu diskutieren. Vor allem ist die hilfreiche Status-Konzeption von J. Isensee (a.a.O., S. 73 ff. : „rechtsstaatlicher, sozialstaatlicher und demokratischer Status" des Ausländers) zu ergänzen um den kulturv erf assungs rechtlichen Status. Gemeint ist der Inbegriff von (Grund-)Rechten des Ausländers, die in ihrer Gesamtheit den Status kultureller Freiheit für Ausländer umschreiben (auf den verschiedensten Gebieten: z.B. der Religion, in Ehe und Familie, in Schule, Wissenschaft und Kunst, in den Medien, in der korporativen Dimension — etwa in kultureller Vereinigungsfreiheit) und kulturelle Identität ermöglichen. Dabei wird nicht verkannt, daß es notwendig zu Konflikten mit der deutschen Kultur kommt, wie sie das GG teils voraussetzt, teils spiegelt, teils rechtlich ausformt. Gewiß bleibt der deutsche „ordre public" maßgebend, doch ist zu fragen, ob nicht ein Erziehungsziel wie Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen („friedliche Zusammenarbeit
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D e r f r e i h e i t l i c h e G e s a m t z u s t a n d i s t n i c h t e i n f ü r a l l e M a l festgeschrieben. D e n k b a r s i n d Phasen, i n d e n e n d e r A u s b a u d e r G r u n d p f l i c h t e n auch u n t e r d e m G G s t ä r k e r n o t w e n d i g w i r d 1 4 3 , i n d e n e n das soziale Ganze e i n M e h r a n p r a k t i z i e r t e n E r z i e h u n g s z i e l e n u n d O r i e n t i e r u n g s w e r t e n f o r d e r t : D i e V e r f a s s u n g s t e x t e i m w e i t e r e n S i n n e s i n d auch i n i h r e r S y m b i o s e m i t d e n V e r f a s s u n g s t e x t e n i m engeren S i n n e w a n d e l bar, sie s i n d schon i n sich selbst alles andere als „ f e s t g e l e g t " , sie s i n d gerade das E i n f a l l s t o r f ü r ( k u l t u r e l l e n ) W a n d e l , d e r d i e V e r f a s s u n g s t e x t e i m engeren S i n n e e r g r e i f t . b) Erziehungsziele
und
Orientierungswerte
E r z i e h u n g s z i e l e u n d O r i e n t i e r u n g s w e r t e d i e n e n spezifisch als V e r fassungstexte i m w e i t e r e n S i n n e 1 4 4 . Sie s i n d k o n s e n s b i l d e n d e E l e m e n t e i m Verfassungsstaat u n d b i l d e n e i n S t ü c k seiner k u l t u r e l l e n I d e n t i t ä t u n d Ö f f e n t l i c h k e i t . Erziehungsziele s i n d ζ. B . T o l e r a n z u n d Menschenw ü r d e (bzw. „ M e n s c h e n b i l d " ) , R e c h t l i c h k e i t , Rechtschaffenheit u n d Verantwortungsfreude, Weltoffenheit und Pflichtgefühl (Grundpflichten): v g l . A r t . 131, 136 A b s . 1 V e r f . B a y e r n , A r t . 26 V e r f . B r e m e n , aber auch A r t . 1 u n d 20 A b s . 1 ( „ R e p u b l i k " ) G G oder 12 G G ( B e r u f s f r e i h e i t , Erziehungsziel „ A r b e i t " bzw. „Arbeitsethos"), v o n ihrer „anderen Seite" mit anderen Menschen und Völkern", Ziff. 4 ebd.: „Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker") oder ein Präambel-Passus der Verf. Hamburg („im Geiste des Friedens Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt") sowie die vielzitierte „Völkerrechtsoffenheit" des GG (Präambel und Art. 24—26 GG) als kulturverfassungsrechtliche Direktive territorial nach innen wirken: i. S. größtmöglichen Respekts vor kultureller Freiheit und Identität der Ausländer in unserem Verfassungsstaat und seinem Recht auf allen Ebenen. Jedenfalls: Ein Mindestmaß an tatsächlichen Voraussetzungen für die kulturelle Entfaltungs- (und Gestaltungs-)Freiheit sollte eingeräumt werden. Das hier vertretene „offene Kulturkonzept" muß seine Offenheit auch gegenüber Ausländern bewähren. Nicht zuletzt liegen in der damit verbundenen Einwirkung der „ausländischen" auf die deutsche Kultur, ihre Identität (und das Recht) auch Chancen für deren Entwicklung: im Rahmen einer multikulturellen Gesellschaft und ihres „multikulturellen Miteinander" (vgl. F A Z vom 23.11.1982, S. 23: Tagungsbericht über die Ev. Akad. Arnoldshain, von K. Adam). 143 s. jetzt die Konstanzer Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Grundpflichten": W D S t R L 41 (1983), mit Referaten von V. Götz und Hasso Hofmann, sowie die anschließende Diskussion, i. E. 144 Zum folgenden ausf. P. Häberle, Erziehungsziele (Fn. 102); ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS Hans Huber, 1981, S. 211 ff.; ders., RdJB 1980, S. 368 ff. Aus der grdlg. Literatur: H.-U. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen . . . , 1979; ders., in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 12 (1977), S. 104 ff.; vgl. auch schon C. Starck, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 9 (1975), S. 9 ff.; T. Oppermann, Gutachten C zum 51. DJT, 1976, S. 94 ff,; E.-W. Böckenförde, Elternrecht — Recht des Kindes — Redit des Staates, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 14 (1980), S. 54 ff.
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V I . Programmatische Folgerungen
her interpretiert: Solche „pädagogische Verfassungsinterpretation" ist ergiebig ζ. B. für die Sozialethik i n Wirtschaftsartikeln deutscher Länderverfassungen (z.B. A r t . 27, 30, 38 Verf. Hessen von 1946, A r t . 51, 52—56 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947), etwa Grundpflichten der Unternehmer. Erziehungsziele bilden Basisbedingungen für die Verfassung der Freiheit, sie sind materielles Verfassungsrecht und werden i n erzieherischem Trägerpluralismus teils elterlich-privat, teils staatlich-schulisch, teils gesellschaftlich-öffentlich interpretiert und v e r w i r k licht. Erziehungsziele bilden eine A r t kulturelles „Glaubensbekenntnis" des Verfassungsstaates. Orientierungswerte sind ζ. B. Moralkonzepte, Programme der politischen Parteien und der Gewerkschaften, Vereinssatzungen, Familienleitbilder und sonstige gesellschaftliche Leit- und Vorbilder (ζ. B. Klassikertexte eines F. Schiller oder B. Brecht, J. Locke oder Montesquieu, Selbstverständnisse der Kirchen und Religionsgemeinschaften). Sie werden vom mündigen Bürger verwirklicht, weiterentwickelt, aber auch verfehlt. Erziehungsziele und Orientierungswerte unterscheiden sich, sie stehen aber auch i n einem — Wandel bewirkenden — Wechselverhältnis zueinander. Viele Orientierungswerte sind i n Rechtstexten gar nicht (vor-)formuliert, nicht einmal i n Umrissen. Sie sind dies ζ. T. nur i n Erziehungszielen und damit nur m i t begrenzter Kraft und Geltung. Demgegenüber sind die wesentlichen Erziehungsziele wenigstens als Grundsätze i n Verfassungs- und anderen kulturellen Rechtstexten formuliert. Da sie, wenn auch nur „als" soft law des Kulturverfassungsrechts, dem heranwachsenden Bürger i m Sonderstatus „Schule" erzieherisch beigebracht werden sollen, bedarf es ihrer rechtlichen Fixierung. — Orientierungsw erte sind „pluralistisch", ja antagonistisch; sie widersprechen sich, konkurrieren untereinander, schließen sich zum Teil auch aus. Zwischen ihnen kann der erwachsene Bürger deshalb frei wählen; sie können rechtlich nur sehr begrenzt verbindlich gemacht, ihre Verwirklichung kann vom Staat kaum erzwungen werden. Anders bei den Erziehungszielen: Sie prägen verbindlich den staatlichen Unterricht. Hier ist der Pluralismus ein „Lernziel", via Toleranz. Hier werden Werte und Texte der Klassik und der Moderne vermittelt, Rechte und Pflichten vorgeführt, Menschenwürde und Toleranz, Freiheit und Gleichheit gelehrt. Diesem (eher formellen) Unterschied i m Grade rechtlicher Verbindlichkeit entspricht ein inhaltlicher: Die Erziehungsziele ordnen sich letztlich zu einem ausgewogenen Ganzen: Menschenwürde und Toleranz gehören zusammen, ebenso Rechtschaffenheit, Rechtlichkeit und Verantwortungsfreude, Erziehung zum Zugang bzw. zur Teilnahme an den Kulturgütern einerseits, Weltoffenheit andererseits (vgl. Art. 26 Verf. Bremen), mag es i m einzelnen Spannungen
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geben. Ganz anders die Orientierungswerte. Was i n der offenen Gesellschaft hier „angeboten" wird, schließt sich vielfach aus, steht jedenfalls nicht i n einem tendenziell ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Die politischen Parteien werben mit gegensätzlichen Programmen um den mündigen Bürger, Kirchen und Weltanschauungsgesellschaften schließen sich aus, „Wertetafeln" vieler Pluralgruppen leben gerade vom Streit untereinander. Angesichts der Unterschiede zwischen Erziehungszielen und Orientierungswerten dürfen die sachlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen ihnen nicht vernachlässigt werden: Beide beeinflussen sich nicht nur ständig wechselseitig. Der gemeinsame Bezugspunkt von Erziehungszielen und Orientierungswerten liegt i n der verantwortlichen Bindung von Freiheit: Die schönste Errungenschaft, aber auch das größte Wagnis des Verfassungsstaates ist es, Erziehungsziele vom Moment des Mündig-Werdens des Bürgers an, also heute unter dem GG mit 18 Jahren, diesem qua „Orientierungswerte" selbst zu überlassen. Das macht die Substanz grundrechtlicher Freiheit aus. Schon anthropologisch bedarf es der Erziehungsziele und Orientierungswerte als eines Stückes Sicherheit für den einzelnen: i n all jenen Abstufungen, die vom imperativ durchgesetzten Erziehungsziel einerseits bis zum „lockersten" Orientierungswert andererseits reichen. Zudem prägen Erziehungsziele und Orientierungswerte i n der Wirklichkeit die grundrechtliche Freiheit — wie stark, ergibt sich aus einem Kulturv er gleich. So viele gemeinsame Menschenrechtstexte i n Ost und West, Nord und Süd bestehen (vor allem die beiden Menschenrechtspakte von 1966), so sehr folgt erst aus dem „Kontext", der kulturell-sozialen Ambiance, was die grundrechtliche Freiheit i m jeweiligen Land praktisch bedeutet und bedeuten kann, auch ausgedrückt i m Vorbehalt der „öffentlichen Ordnung": nicht etwa weil die Menschenrechtspakte „verletzt" würden — sie werden oft genug mißachtet —, sondern weil erst der kulturelle Kontext von Menschenrechtserklärungen, weil also Erziehungsziele und Orientierungswerte konkret umreißen, was die Freiheit „ w e r t " ist! Keine Freiheit ohne K u l t u r 1 4 5 . Die Existenz solcher Grundwerte, Tugenden, Orientierungswerte (und aller Formen der „Alltagsethiken") ist Bedingung für das Funktionieren zahlreicher (verfassungsrechtlicher Einrichtungen: Beispielsweise ist die Form oder die Art und Weise, i n der von (Freiheits-) Rechten Gebrauch gemacht wird, häufig Bedingung des Funktionierens 145 So wichtig die „Konstruktion" eines „Naturzustandes" ist, so sehr der Vertragsgedanke Modell bleibt (dazu P. Häberle, in: ders., Verfassungsrechtsprechung [Fn. 64], S. 438 ff.; P. Saladin, AöR 104 [1979], S. 472 ff.), so klar muß gesagt werden, daß erst aus der Kultur Freiheit wird, so wie umgekehrt die grundrechtliche Freiheit heute Voraussetzung des Kulturellen ist.
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VI. Programmatische Folgerungen
einer Rechtsordnung 146 . Werden solche Funktionsvoraussetzungen, die von der Verfassung bzw. den Gesetzen äußerlich nicht vorausgesetzt, aber i n der Verfassung mitgedacht sind und ihren Niederschlag (auch) i n der politischen K u l t u r des Verfassungsstaates finden, problematisch oder zerstört, leidet auch die „normative Kraft der Verfassung" (K. Hesse). Erziehungsziele und Orientierungswerte stehen insoweit zum Teil i n einem Verhältnis der Komplementarität zum Recht. Manches von dem, was das Recht nur als Erziehungsziele regeln kann und sollte, w i r k t als „gesellschaftliche Norm" ohne juristische Sanktionen, zum Teil aber dank nicht minder wirksamer „gesellschaftlicher Sanktionen". N u r die Wechselwirkung von (verfassungsstaatlichen) Erziehungszielen und Orientierungswerten der (verfaßten) Gesellschaft, die „Konkordanz" beider, was Dissense und Dissonanzen einschließt, kann das Gemeinwesen so strukturieren, daß es freiheitlich ist und verantwortlich lebt, daß es Pluralismus praktiziert und eine kulturelle Identität besitzt, daß es nach revidierbaren Erziehungszielen lebt und eine Vielfalt von alten und neuen Orientierungswerten besitzt, daß es seinen Verfassungskonsens (U. Scheuner) hat und immer neu findet und fortentwickelt. Der Bürger kann seine Identität nur über Erziehungsziele und Orientierungswerte finden, ggf. i n Prozessen von „ t r i a l and error". — Dasselbe gilt für die Republik i m ganzen. c) Der kulturelle
Trägerpluralismus
Der kulturelle Trägerpluralismus ist ein konstituierendes Prinzip i m engeren Sinne kulturverfassungsrechtlicher Tätigkeitsfelder und A u f gabenbereiche eines konstitutionellen Kulturstaates 1 4 7 . Er verhindert Monopolbildung jeder A r t und ist die rechtliche Basis für die „Freiheit der K u l t u r " , einer Freiheit, die aber u m — kulturelle — Einbindungen, Formen der „Erfüllung" etc. weiß. Für die deutschen Länderverfassungen ist speziell ein erzieherischer Trägerpluralismus charakteristisch. Formeller Trägerpluralismus meint: 148
Dazu zwei unterschiedliche Beispiele: Straf prozeßrechtliche Vorschriften „greifen" oft in dem Moment nicht mehr, in dem bestimmte Orientierungswerte, deren allgemein gültige Einhaltung vor Gericht durch Angeklagte, Anwälte oder Richter vorausgesetzt wird, nicht mehr von allen Prozeßbeteiligten respektiert werden. — Oder: Man stelle sich vor, die Bundesländer würden über den Bundesrat von ihren Zustimmungsrechten stets durch Ablehnung der politisch entgegengesetzten Mehrheitsentscheidungen des Bundestages Gebrauch machen, ihre Rechte also nicht gemäßigt und kompromißbereit ausüben: Die Funktionsfähigkeit unserer Verfassungsordnung insgesamt wäre erheblich gefährdet. 147 Vgl. ausf. P. Häberle, Kulturpolitik (Fn. 17), S.37f.; ders., Kulturverfassungsrecht (Fn. 2), S. 32 f., 51; ders., Erziehungsziele (Fn. 102), S. 47 ff.; ders., Vom K u l t u r s t a a t . . . (Fn. 2), S. 46 ff.
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Erziehung w i r d voneinander unabhängigen Trägern anvertraut: d.h. den Eltern, dem Staat, den Kirchen, den Jugendverbänden oder anderen gesellschaftlichen Gruppen (ζ. B. den Parteien, der Ge werkschaf tsjugend etc.). Dieser formelle Trägerpluralismus bedarf der Ergänzung durch den materiellen. Er bedeutet: Die Verfassung (bzw. allgemeine Rechtsordnung) darf sich nicht nur m i t der formalen Verselbständigung der erzieherischen Instanzen begnügen; sie muß auch (und sei es durch Schweigen) zum Ausdruck bringen, daß es sich u m Freiräume für erzieherisches Gestalten nach unterschiedlichen Gesichtspunkten handelt — sie muß die Erziehungsziele also differenzieren: So klar sie für Schulen genannt werden, so unumschrieben bleiben sie grundsätzlich für die Eltern. M. a. W.: Die Erziehungsziele i n der (staatlichen) Schule sind abgesetzt von den elterlich-privaten Erziehungszielen und nicht wie i n sozialistischen Verfassungen gleichgeschaltet; die Erziehungsmöglichkeiten der Kirche oder anderer Religionsgemeinschaften werden unabhängig von ihren Inhalten, ja gerade wegen dieser anderen Inhalte, anerkannt etc. 148 . Kultureller Trägerpluralismus ist insoweit kultureller Schöpferpluralismus. Hinter diesem erzieherischen Trägerpluralismus verbirgt sich aber ein allgemeines Prinzip. „Trägerpluralismus", d. h. eine Vielzahl von Kulturträgern wie Staat, Kommunen, Rundfunkanstalten, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, Parteien etc. (ζ. B. i n der Erwachsenenbildung, i n der beruflichen Bildung und Jugendarbeit, i n Gestalt des Privatschulwesens und i m Kindergartenbereich) ist das Prinzip, das die Külturverantwortung zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen aufteilt und verteilt. Kulturelle Vielfalt und Freiheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Gesellschaft. Ein Zuviel an K u l t u r staat 149 entspricht dem GG ebensowenig wie ein Zuviel an gesellschaft148 Vgl. Art. 127 Verf. Bayern (1946): „Das eigene Recht der Religionsgemeinschaften und staatlich anerkannten weltanschaulichen Gemeinschaften auf einen angemessenen Einfluß bei der Erziehung der Kinder ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung wird unbeschadet des Erziehungsrechtes der Eltern gewährleistet." s. auch Art. 133 Verf. Bayern. — s. noch Verf. Saar: Art. 26 Abs. 3: „Die Kirchen und Religionsgemeinschaften werden als Bildungsträger anerkannt." Art. 37 S. 2 Verf. Rheinland-Pfalz: „Die Errichtung privater oder kirchlicher Volksbildungseinrichtungen ist gestattet." — Art. 16 Abs. 3 Verf. Bad.-Württ. verlangt bei bestimmten Zweifelsfragen gemeinsame Beratung zwischen dem Staat, den Religionsgemeinschaften, den Lehrern und den Eltern. Vorbildlich ist der formelle und materielle erzieherische Trägerpluralismus in Art. 12 Abs. 2 Verf. Bad.-Württ. (1953) formuliert: „Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend." — Die Verfassungstexte sind zitiert nach C. Pestalozza (Fn. 45). 149 Vgl. den Streit um die Aufstellung einer Henry-Moore-Plastik im neuen Bundeskanzleramt in Bonn, dazu der deutsche Bildhauer E. Fiebig, Importiertes Pathos?, F A Z 1.10.1979, S. 23. Dagegen der Leserbrief von
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licher Kulturgestaltungsmacht 150 . Kulturverfassungsrecht entsteht insofern i n der Konkurrenz von (offenem) Staat und (verfaßter) Gesellschaft i m kulturellen Bereich 151 . I n diesem weiteren, für die Gesamtverfassung des Kulturstaates gültigen Sinne ist hier nicht nur der Staat — i n Gestalt von Kommunen, Ländern und Bund — und „die" Gesellschaft einzubeziehen, auch der einzelne Bürger ist „Kulturträger" — so unglücklich der Begriff terminologisch sein mag. Nicht nur auf dem Boden von „Alternativkulturen" ist er es sogar i m besonderen Maße. Freiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für — pluralistische — K u l t u r ; sie ist zugleich die Errungenschaft der westlichen Kultur, so gefährdet sie je und je auch ist 1 5 2 . d) Der „kulturelle
Bundesstaat"
Neben einzelnen „kulturellen" Grundrechten, neben Erziehungszielen und objektiven Sachbereichsgarantien bzw. speziellen K u l t u r auftragsklauseln, neben dem kommunalen Kulturverfassungsrecht gibt es eine Verfassungsstruktur, die oft als bloßes „Staatsorganisationsprinzip" verstanden wird, die heute aber ein wesentliches materielles Prinzip der Kulturverfassung bildet: die Bundesstaatlichkeit. Der Bundesstaat ist eine spezifische Form des modernen Kulturstaates 153 . Die Theorie des Bundesstaates ist — wie auch die StaatselemenProf. Hentzen, Kulturelle Einheit Europa, F A Z 5.10.1979; differenziert G. Rühle, Die Plastik, F A Z 5.10.1979, S. 1. 150 y g i E. R. Huber, Zur Problematik des Kulturstaats, 1958, S. 9 f., jetzt in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit (Fn. 2), S. 127 f. 151 A n ihrer Unterscheidung und Zuordnung wird hier mit K. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff. festgehalten. 152 I n der DDR spielen die „Kulturwissenschaften" eine beträchtliche eigene Rolle. Symptome dafür sind das Kultur-politische Wörterbuch, Berlin (Ost), 2. Aufl. 1978, (hrsg. v. M. Berger u. a.) und Veröffentlichungen wie: H. Koch, Kultur — was, wozu, für wen?, 1979; H. Meier /W. Schmidt, Was du ererbt von deinen Vätern hast . . . , 1980; E. Heckel/D. Olle, Kultur im Friedenskampf 1981; H. Koch, Das Unsere in der Kultur, 1981 (alle aus der Reihe ABC des Marxismus-Leninismus, Berlin [Ost]). Besonders typisch: Kultur-politisches Wörterbuch, S. 424: „Die marxistisch-leninistischen Kultur- und Kunstwissenschaften haben die gemeinsame Aufgabe, einen komplexen Beitrag zum sozialistischen Kulturfortschritt zu leisten . . . I m Zentrum der kulturund kunstwissenschaftlichen Arbeit steht die Erforschung der grundlegenden Kulturprozesse bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft . . . I n der kultur- und kunsthistorischen Forschung bilden die Erforschung der klassisch-humanistischen und der proletarisch-revolutionären Traditionen in der Geschichte der deutschen Literatur und Kunst, die geschichtliche Entwicklung der Künste in der DDR, die internationale vergleichende Geschichte der Künste der sozialistischen Länder und die Geschichte der Kulturpolitik der revolutionären Arbeiterbewegung die Schwerpunkte."
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tenlehre — vom Kulturverfassungsrecht als „Seele" des Föderalismus her neu zu überdenken. Seine Geschichte i n Deutschland ist eine (verdeckte) Form der Geschichte des Kulturstaates. Jedenfalls sollte die Beschäftigung mit dem Bundesstaat kulturstaatliche Untersuchungen nicht nur als „Nebenprodukte" zur Folge haben. Freiheit der K u l t u r i m allgemeinen und speziell der Kunst, auch der Wissenschaft w i r d i m Bundesstaat nicht nur dadurch garantiert, daß sie ab wehr- und objektivrechtlich (wie i n A r t . 5 Abs. 3 GG) anerkannt ist. Sie besitzt eine spezifisch bundesstaatliche „mittelbare" Sicherung dadurch, daß sie vom Bund und den Ländern anerkannt wird, daß Bund und Länder „ K u l t u r staaten" sind, daß es mehrere je individuell geprägte Kulturstaatsklauseln für die Länder und eine begrenzte (ζ. T. ungeschriebene) auch für den Bund gibt. Die spezifisch föderalistische und damit pluralistische Kulturstaatlichkeit der BR Deutschland ist schon in sich eine Garantie der „Freiheit der K u l t u r " . Ein Beispiel aus der Kunstförderung: Was i m Bundesland A nicht subventioniert bzw. gefördert wird, hat durchaus eine Chance i m konkurrierenden Bundesland Β — erinnert sei an die viel zitierte Main-Linie! N i m m t man die kommunale K u l t u r p o l i t i k (sowie die der Gewerkschaften 154 und Unternehmerverbände) hinzu, so zeigt sich das ganze Spektrum der „Pluralisierung" der Kulturförderung. M. a. W.: „Freiheit der K u l t u r " und Vielfalt der K u l t u r werden sowohl grundrechtlich von der Garantie einzelner kultureller Freiheiten aus gesichert als auch organisationsrechtlich durch die bundesstaatliche Struktur und (ζ. B. kommunale ebenso wie rundfunkrechtliche) Trägervielfalt. e) Präambeln von Verfassungen Mehr oder weniger bewußt haben die Schöpfer verfassungsstaatlicher Verfassungen i n den Präambeln 1 5 5 schon sprachlich das Richtige getrof153 Dazu näher P. Häberle, Kulturverfassungsrecht (Fn. 2); ders., Vom Kulturstaat . . . (Fn. 2), S. 50 ff. — Die kulturpolitischen Initiativen auf Europa-Ebene intensivieren sich, vgl. zuletzt die Forderung des Europa-Parlaments nach einem EG-Fonds für Denkmalschutz, Nordbayerischer Kurier vom 16.9.1982, S. 6. Näher zur kultur(verfassungs)rechtlichen Dimension Europas mein Einleitungsbeitrag zu Kulturstaatlichkeit (Anm. 2), S. 53 ff. 154 Ausf. Nw. bei F. Eckhard u. a., Massen, Kultur, Politik, 1978; s. auch B. Emig, Die Veredelung des Arbeiters. Die Sozialdemokratie als Kulturbewegung, 1978. Zuletzt H. Fielhauer / Olaf Bockhorn (Hrsg.), Die andere Kultur, Volkskunde, Sozialwissenschaften und Arbeiterkultur, 1982. 155 Das Nähere zum Folgenden m. w. N. in meinem Beitrag in FS Broermann, 1982, S. 211 ff. — Entgegen der Logik des Verfassungsstaates und der folgenden Ausführungen sind die Überlegungen zu den Präambeln im Rahmen dieser Darstellung mit Absicht am Schluß der Exemplifizierungen piaziert: sie sollten die Eingangsabschnitte über „kulturelle Freiheit" etc. nicht zu stark prä judizier en. — Wie stark die Öffentlichkeit für einzelne Aspekte des Kulturellen im Sprachlichen schon sensibilisiert ist, zeigt sich in dem ausführlichen Bericht von K. Korn über die Jahrestagung des I n -
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V I . Programmatische Folgerungen
fen: Als „Einstimmung" 1 5 0 auf den folgenden positiven Verfassungstext und als politische und kulturelle „WegWeisung" heben sich Präambeln sprachlich ab. Sie sind (wie der Verfassungsstaat) für den Menschen da, gehen auf ihn ein, wollen i h n „gewinnen". Kommunikationen, Integration und Möglichkeiten der Identifikation („Internalisierung") für den Bürger und damit Legitimation des Verfassungsstaates sind die Hauptfunktionen von Verfassungspräambeln. Für sie ist der Bürger, nicht der Jurist der „Ansprechpartner"; dem Bürger müssen sie Übersetzungsleistungen erbringen — m i t den beschriebenen Konsequenzen einer bürgernahen, nicht „zunftmäßigen" Sprache: Die Präambel umreißt den Basiskonsens i n einer direkt an alle Bürger (das ganze Volk) 1 5 7 gerichteten und darum möglichst allgemein verständlichen Weise. Dementsprechend kompromißhaft und harmonisierend sind Präambeln oft verf aßt: Gerade deshalb können sie sich an Bürger und Juristen wenden. Die nicht i m engeren Sinne juristischen Inhalte und Formen von Präambeln und die Bürgerorientierung ihrer Aussagen geben den Blick frei für die oft verdeckten kulturellen Schichten eines Verfassungswerkes. Die — notwendige — „Positivität" des Rechts — i n A r t i k e l n und Paragraphen — hat ihren kulturwissenschaftlich zu erschließenden Wurzelgrund i n Höhen bzw. Tiefen der Präambel. Präambeln gehören zur sprachlichen „Schauseite" von Verfassungen. Gewiß w i r d sanktionsartig die Verpflichtung der Bürger durch die Präambel letztlich erst über den Juristen und seine Interpretation eingelöst. Ihre Kulturgehalte vermitteln den Präambeln aber eine tiefere Geltungsweise und einen auf eine A r t höheren Verbindlichkeitsanspruch als dies der herkömmlich (verfassungs-)juristische Ansatz zu erkennen vermag. Neben den Erziehungszielen, Feiertagsgarantien und kulturellen Grundrechstituts für deutsche Sprache 1982 unter dem Titel: „Würde und Grenzen des Alltäglichen, Die Spannung zwischen Kultur- und Umgangssprache" (FAZ vom 15. 3.1982, S. 21). 158 Sprachlich verweist das Wort „Präambel" auf eine Art „Vorlauf", eine Art Einstimmung, Intonation. Die Grundstimmung des folgenden Werkes soll umschrieben werden: vgl. Duden, Fremdwörterbuch, 3. Aufl. 1974, S. 582: „1. Einleitung, feierliche Erklärung als Einleitung einer (Verfassungs-)Urkunde od. eines Staatsvertrages. 2. Vorspiel in der Lauten- und Orgelliteratur." — Brockhaus-Enzyklopädie. Bd. 15, 1972, S. 75: „1. allgemein: Vorrede, Vorspruch. 2. evang. Kirchenverfassungen: . . . 3. Musik: . . . 4. Staatsrecht: . . . " . — Einem kulturwissenschaftlichen Ansatz nahe kommt G. Schwalm, Gedanken über Gemeinsamkeiten zwischen der juristischen und der musikalischen Interpretation, in FS E. Dreher, 1977, S. 53 ff.; ebd. S. 63 ein Hinweis auf Präambeln. — Präambeln wären besonders ergiebig für eine Untersuchung auf „Form und Information — Funktionen sprachlicher Klangmittel" — wie sie U. Gaier in seiner gleichnamigen Konstanzer Antrittsvorlesung (1971) an anderen Gegenständen vornimmt. 157 So wie der einzelne Mensch ein Stück seiner Identität in der Muttersprache findet, so kann ein ganzes Volk einen Teil seiner Identität in seiner Verfassung, und in ihr insonderheit in der Präambel (als „Geburtsurkunde") finden.
5. Themen kultureller Verfassungslehre
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ten sind Präambeln das Erkenntnisfeld für kulturwissenchaftliches Denken i m Verfassungsrecht. Prämisse ist ein bestimmtes Verständnis von Verfassung; es sei hier abgekürzt durch die Stichworte: Verfassung als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, Verfassung als öffentlicher Prozeß, als Rahmen für immer neues Sichvertragen der Bürger, als Legitimierung, Beschränkung und Rationalisierung staatlicher sowie gesellschaftlicher Macht und als Ausdruck des kulturellen Entwicklungszustandes eines Volkes. Dieses juristische und kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis bewährt sich spezifisch i n der Analyse von Präambeln. Für den Inhalt von Präambeln ist charakteristisch die Formulierung von Werthaltungen, („hohen") Idealen 158 , Überzeugungen, der Motivationslage, kurz des Selbstverständnisses der Verfassunggeber. Dieses Bekenntnishafte, der „Glaube" (so ausdrücklich ζ. B. die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950), t r i t t neben, gelegentlich an die Stelle von „Erkenntnissen". Minunter finden sich euphorische, fast hymnische Züge, die den Charakter einer Einstimmung vermitteln und überhaupt „Glanz" ausstrahlen 159 . Wo auf diese Weise „letzte" und „erste" Dinge verhandelt werden, stellt sich naturgemäß sehr rasch ein Hauch von Pathos ein. Das Bekenntnishafte, mitunter Fiktive führt i n die Tiefenschichten eines verfaßten und auch nach der Verfassunggebung immer neu sich verfassenden Volkes. Rudolf Smend hat sie i n seiner Lehre von der Integration auf seine Weise behandelt 160 . Der demokratische Verfassungsstaat kann auf diese mehr gefühlsmäßigen Bindungen seiner Bürger an ihn, auf die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten für den Bürger und auf seine eigene Bindung an und Verantwortung vor höheren Instanzen und Zusammenhängen nicht verzichten. Auch eine Verfassungstheorie des kritischen Rationalismus kann und w i l l diese eher irrationalen Bereiche nicht leugnen; sie liegen i n der anthropologischen Prämisse begründet, daß der Mensch auch irrational strukturiert ist. Die offene Gesellschaft und der Verfassungsstaat grundieren und befestigen sich durch derartige inhaltliche Bekenntnisse, sofern nur Garantien wie Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Offenheit bewahrt bleiben. iss Verf. Japan 1947, Verf. Frankreich 1958. 159 z.B. Verf. Türkei (1961): „begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus", „ . . . in der Überzeugung, daß ihre (sc. der Verfassung) Hauptgarantie im Herzen und Willen der Bürger liegt" — ein Beleg für den Bürgerbezug! (zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Auflage 1975). 100 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen. 2. Aufl., 1968, S. 119 (bes. 160 ff., 215 ff., zur Präambel etwa S. 216 f.); s. auch Hsü Dau-Lin, Formalistischer und antiformalistischer Verfassungsbegriff, in: AöR, N. F. 22 (1932), S. 27 (51).
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V I . Programmatische Folgerungen
Regelmäßige Bauelemente von Präambeln sind Ausformungen der Zeitdimension: einmal i n der Abkehr von einer bestimmten Vergangenheit oder i n der Wiederanknüpfung oder „Erinnerung" (ζ. B. Präambel Verfassung Irland, 1937) an bestimmte Überlieferungen und Perioden (Geschichtsbezug z.B. Türkei: „ i m Laufe ihrer Geschichte"; Bayern: „mehr als tausendjährige Geschichte"; Verfassung Bremen 1947: „jahrhundertealte Freie Hansestadt Bremen"); sie wollen die Vergangenheit negativ (polemisch) oder positiv beschwören 161 . Präambeln können sich ferner auf die Gegenwart beziehen, gelegentlich in Wunschorientierung, ζ. B. Berlin: „ I n dem Wunsch, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben". Sie können schließlich Gegenwart und Zukunft als solche i n den Blick nehmen 162 oder gerade die Zukunft „gewinnen" wollen 1 6 3 . Präambeln sind folglich der Versuch, die Verfassung „ i n der Zeit" zu halten: zwischen kulturellem Erbe und kultureller Zukunft, zwischen Tradition und Fortschritt etc. Dieser „großen" Dimension entspricht eine „große" Sprache! Der Verfassunggeber ordnet sich dadurch i n größere zeitliche Zusammenhänge ein und begreift sich insofern nicht als „autonom" 1 6 4 . Diese Verpflichtung mag theoretisch und formal eine Selbstbindung und Selbstverpflichtung sein: materiell und praktisch ist sie eine treuhänderische Einbindung 1 6 5 , ohne die die konkrete Verfassung nicht zu leisten gewesen wäre, und eine Umschreibung des k u l turellen und historischen Kontextes der Verfassung. Präambeln sind also auch eine Essenz des Kontextes der Verfassung. Zugleich können 161 Vgl. Bayern: „Trümmerfeld", bzw. Verf. Baden von 1947: „Treuhänder der alten badischen Uberlieferung"; s. auch Präambel E M R K 1950: „gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und Uberlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes". 162 So Hessen, 1946; Nordrhein-Westfalen: „ . . . die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden"; s. auch Präambel ESC von 1961: „Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". 163 z.B. Rheinland-Pfalz, 1947: „ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen"; ferner die Fortschrittsklausel: Verf. Baden-Württemberg 1953, EWG-Vertrag 1957; Präambel Verf. Baden von 1947: „ . . . beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten"; vgl. auch Präambel E M R K von 1950: „die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie". Präambel der Verfassung der USA von 1787: „ . . . uns selbst und unseren Nachkommen". 164 Vgl. auch H asso Hofmann , Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 270 f. 165 Vgl. die Präambel der Verfassung des Landes Baden (1947), zit. nach B. Dennewitz, Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I I , 1948: „Im Vertrauen auf Gott hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Uberlieferung beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten, folgende Verfassung gegeben:". — Eher beiläufig zu diesem Vorspruch: BVerfGE 1, 14 (50 f.).
6. Kulturwissenschaftliche Verfassungslehre
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sich i h n e n als B e s t a n d t e i l e n des T e x t e s d e r V e r f a s s u n g präzise d i f f e r e n z i e r b a r e j u r i s t i s c h e I n h a l t e e n t n e h m e n lassen 1 6 6 .
6. D i e Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre D i e h i e r f a v o r i s i e r t e A u s w e i t u n g d e r t r a d i t i o n e l l e n verfassungstheoretischen u n d verfassungsrechtlichen Sichtweise u n t e r l i e g t e i n e r gesteig e r t e n B e g r ü n d u n g s p f l i c h t ; sie v e r m a g f r e i l i c h erst d u r c h ausführliche, überzeugende i n h a l t l i c h e P r o b l e m l ö s u n g e n i n k o n k r e t e n Z u s a m m e n h ä n g e n eingelöst z u w e r d e n , die h i e r e i n s t w e i l e n n u r d u r c h d i e s k i z z i e r t e n Beispiele ersetzt w e r d e n k ö n n e n . D e n n o c h lassen sich auch a u f a b s t r a k t e r Ebene m i n d e s t e n s v i e r P l a u s i b i l i t ä t s g e s i c h t s p u n k t e f ü r d i e N o t w e n d i g k e i t e i n e r V e r f a s s u n g s l e h r e als K u l t u r w i s s e n s c h a f t 1 6 7 g e l t e n d machen. 1ββ Vgl. für das GG: BVerfGE 5, 85 (126 ff.); 31, 58 (75 f.). — Die theoretisch nicht so tief wie in den deutschen und französischen Zwanziger Jahren arbeitende und weitgehend ihrer positivistischen Tradition verhaftete französische Staatsrechtslehre und höchstrichterliche Rechtsprechung erkennen heute die normative Kraft der Präambeln von Verfassungen an. Die erste wichtige Entscheidung des Conseil constitutionnel auf diesem Weg, vom 16. 7.1971, über die Vereinigungsfreiheit (Journal Officiel, 18. 7.1971, S. 7114; L. Favoreu und L. Philip, Les Grandes Décisions du Conseil constitutionnel, 2. Auflage 1979 [zitiert: G. DJ, Nr. 21, S. 235 ff.) bezog die „principes fondamentaux reconnus par les lois de la république" der préambule der Verfassung vom 27.10.1946 in den Prüfungsmaßstab der Verfassungsmäßigkeit ein (vgl. aber auch schon Conseil d'Etat, arrêt société Eky vom 12. 2.1960, JCP 1960 I I 10629 bis, mit Anmerkung G. Vedeï, und G. D. S. 245 m. w. N., und auch Conseil constitutionnel vom 19. 6.1970, Journal Officiel, 21. 6.1970, S. 5806). Die zweite wichtige Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 28.11.1973 über freiheitsberaubende Maßnahmen (Journal Officiel, 6.12.1973, S. 12949 = G. D., Nr. 24, S. 275 ff.) erweiterte den „bloc de constitutionnalité" um die „droits de l'homme" der déclaration von 1789, auf die die préambule von 1946 Bezug nimmt (bestätigend: Entscheidung vom 27.12.1973, „Taxation d'office", Journal Officiel, 28.12.1973, S. 14004; Entscheidung vom 15.1.1975, „Interruption volontaire de grossesse", Journal Officiel, 16.1.1975, S. 671 = G. D., Nr. 26, S. 299 ff.; weitere Entscheidungs-Nachweise in: F. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 173 f. Fn. 1). Aus der Literatur vgl.: J. Robert, Libertés Publiques, 1971, mise à jour 1975, S. 98 f.; F. Luchaire , a.a.O., S. 173 ff.; C.-A. Colliard, Libertés Publiques, 5. Auflage 1975, S. 104, 147; G. Vedel, Droit Administratif, 5. Auflage 1973, S. 270. — Sehr kritisch aber: G. Burdeau (Droit constitutionnel et institutions politiques, 19. Auflage 1980, S. 79): Die Bedeutung der Präambeln nach der Rechtsprechung des Conseil constitutionnnel sei „fâcheuse" (ärgerlich), dieser handele „à l'encontre de l'intention des constituants" and „joue le rôle de législateur". — Freilich stellt sich die Frage der Vergleichbarkeit von Präambeln der französischen Verfassungen und denen anderer Verfassungsstaaten gerade angesichts unterschiedlicher kultureller Kontexte. Die an sich überraschende normative Aufwertung der Präambeln von 1958 bzw. 1946 in Frankreich mag auch damit zusammenhängen, daß die beiden Verfassungen von 1958 bzw. 1946 nur in den Präambeln Grundrechtsbezug haben. Gerade die Sensibilisierung der Franzosen für den Rechtsgehalt ihrer Präambeln ist eine kulturelle Leistung.
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V I . Programmatische Folgerungen
a) Eine kulturwissenschaftlich aufgeklärte und vertiefte Verfassungslehre kann verfassungstheoretisch Änderungsprozesse auf der Ebene der Verfassungsinterpretation sowie Verfassungsänderungen und Verfassunggebungen beobachten und erklären, wo ein herkömmlicher verfassungsrechtlicher Positivismus eine scheinbar dezisionistisch zustande gekommene Ausgangslage akzeptieren oder ihre Einbindung i n die Verfassung des Pluralismus an k u l t u r - und sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen delegieren muß. Für die Erkenntnis von Verfassungswandlungen ist der normative, „ n u r " rechtswissenschaftliche Ansatz zu eng, weil er erst mit einem gewonnenen und „geronnenen" Text beginnen kann; der sozial wissenschaftliche Ansatz reicht nicht aus, weil er weder die Prozesse der Verfassungsentwicklung i m kulturverfassungsrechtlichen Bereich adäquat erfassen kann, noch das allgemein Kulturelle eines Volkes hinreichend würdigt. Erst der kulturwissenschaftliche Ansatz kann die Vorgänge der Verfassungsfortentwicklung sowohl sachlich-inhaltlich als auch funktional-prozessual ganz ins Blickfeld rücken. Einer kulturwissenschaftlichen Verfassungslehre ist m i t h i n eine größere Erklärungskraft eigentümlich. b) Dahinter steht letztlich der Anspruch, Verfassungstheorie und (mittelbarer) Verfassungsinterpretation zu rationalisieren, d. h. die auch an die Verfassungslehre zu stellenden wissenschaftlichen Ansprüche nicht vorschnell dezisionistisch unter Berufung auf Normtexte zu reduzieren 168 . Verfassungslehre als Kulturwissenschaft wendet sich gegen eine rechtspositivistisch halbierte Verfassungsrechtswissenschaft. Sie zieht letztlich nur die Konsequenzen aus den vertieften methodischen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte, die das juristisch-hermeneutische Vorverständnis (kulturwissenschaftlich) offenzulegen und damit methodisch zu disziplinieren suchen. Es geht ferner darum, auf allgemeiner Ebene die konkreten Varianten des Typus „Verfassungsstaat" (also ζ. B. der Schweiz oder Österreichs, Frankreichs oder der USA) i n ihrer Individualität zu begreifen und sie trotz aller Verschiedenheit als Spielform eines Typus zu sehen, auch Verfassungsreformen auf den richtigen Weg zu bringen, also „Verfassungspolitik" zu betreiben, vor allem aber 167 weitere zentrale Themen einer kulturellen Verfassungslehre sind die „pädagogische" bzw. „kulturelle" Verfassungsinterpretation, dazu meine Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 71 ff. bzw. mein Münchner Vortrag „Zeit und Verfassungskultur" (Fn. 25), i. E. 168 Die Gegenposition einer scharfen Gegenüberstellung von politischsozial-kultureller Entwicklung und rechtlich geordnetem Bereich ζ. B. bei W. Henke, in: Der Staat 19 (1980), S. 181 (190 f.), der sich neuerdings wieder auf P. Laband (!) beruft (in: Der Staat 21) (1982), S. 277 (279 f.), kann ohne übergreifende Maßstäbe wissenschaftliche Interpretationsstreitigkeiten schon nicht erklären, sondern nur in „richtig" oder „falsch" sortieren; der kulturwissenschaftliche Ansatz vermag hier vertiefend neue Entscheidungskriterien zu liefern.
6. Kulturwissenschaftliche Verfassungslehre
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auch kulturell adäquate Verfassungsinterpretation zu leisten. Die dabei möglichen Formulierungs- und Verständnishilfen bei der Erarbeitung des Kulturverfassungsrechts und der Grenzen des Rechts i n diesem Bereich sind insoweit nur ein spezieller Teilbereich der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. Der Verzicht auf eine solche Erweiterung der Erkenntnis wäre ein Schritt zur Irrationalisierung von Rechtswissenschaft, die sich den Erkenntnissen über ihre Grundlagen nicht entziehen darf, auch wenn es hier selbstverständlich ebenfalls — aber dann unfreiwillige — Erkenntnisbeschränkungen gibt. c) Verfassungslehre als Kulturwissenschaft w i r d dadurch zum Forum des interdisziplinären Gesprächs und vermeidet damit die Gefahr rechtswissenschaftlicher Provinzialität durch Abschottungsprozesse. Gerade für die Verfassungslehre als Integrationswissenschaft wäre eine solche Selbstbescheidung eine größere Gefahr als ein Dilettantismus beim Gespräch mit den Nachbarwissenschaften, so sehr auch dieser vermieden werden sollte. Der kulturwissenschaftliche Ansatz verdeutlicht, daß auch die Verfassungslehre nur Teil i n einem arbeitsteiligen Wissenschaftsprozeß ist. d) Vor allem aber dient eine kulturwissenschaftlich vertiefte Verfassungslehre der Sicherung der Verfassung und des Verfassungsstaates. Es geht darum, die ungeschriebenen, schwer faßbaren Voraussetzungen und Bedingungen eines Verfassungsstaates, auch seine Grenzen ins wissenschaftliche Bewußtsein zu rücken (ζ. B. u m Krisen zu bestehen, die Möglichkeiten und Grenzen der — schulischen — Erziehung zur Verfassung zu studieren, um den „Willen zur Verfassung" (K. Hesse) zu stärken). Es geht darum, der Verfassung i m Bewußtsein und i m Sein eines Volkes gerecht zu werden: Die juristische Geltung ist hier nur die eine Ebene und Seite. Wesentlich w i r k t auf Dauer die andere A r t von „Geltung": die von allen Bürgern und Gruppen (mit)bewirkte und empfundene. Hier w i r d K u l t u r als innere Seite grundrechtlicher Freiheit und Demokratie als kulturelle Demokratie relevant 1 6 9 . Insofern 169 Diese Zusammenhänge springen am Beispiel der Friedens-, öko-, Frauen- oder sonstiger Alternativ-„Bewegungen" ins Auge. Wenn R. Inglehart (The silent Revolution, 1977) Recht hat, daß in den westlichen Industriegesellschaften jenseits eines Links-Rechts-Schemas ein Wertewandel mit einer Hinwendung zu „postmaterialistischen" Werten stattfindet, dann lassen sich jene Bewegungen nur „kulturell" erklären: Die kurzfristigen Folgen für die politische Kultur (z.B. der „Grünen" in den Parlamenten), die mittelfristigen für die Verfassungskultur und die langfristigen für das Verfassungsrecht mögen (noch) unabsehbar sein — ohne eine kulturwissenschaftliche Sichtweite bleibt der Jurist hier hilflos. Vgl. auch R. Inglehart, Wertwandel und politisches Verhalten, in: J. Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, 1979, S. 505 ff.; H. Klag es / P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979, und den Überblick bei M. und S. Greiffenhagen (Fn. 18), S. 236 ff.; s. auch jetzt I. Fetscher, Ökologie und De-
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V I . Programmatische Folgerungen
lassen sich die Aufgaben einer kulturwissenschaftlich betriebenen Verfassungslehre begreifen als Versuche, die kulturellen Prozesse i m Gemeinwesen nicht bloß distanziert zu beobachten, sondern als Grundierungen des Verfassungsstaates für dessen rechtliche Verfassung fruchtbar zu machen. 7. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes Zur herkömmlichen Sicht der Aufgaben und Methoden sowie des Gegenstandes der Verfassungs(rechts)lehre steht der kulturwissenschaftliche Ansatz folglich in einem ambivalenten Verhältnis. Einerseits w i r d es jetzt möglich, das den Verfassungen i n Raum und Zeit „Vorausliegende" zu erfassen: die kulturelle Ambiance von Verfassungen, die kulturellen Prozesse der Produktion und Rezeption, i n die Verfassungen eingebettet sind und die sie aber nur begrenzt steuern können, die kulturellen „Träger", Promotoren und Faktoren. Andererseits darf aber die Forderung, Werden und Vergehen, Inhalte und Funktionen von Verfassungen auch kulturwissenschaftlich zu verstehen, nicht dazu ( v e r führen, die (begrenzte) Relevanz der bisherigen — durchaus bewährten — Methoden der Staatsrechtslehre gänzlich aufzugeben zugunsten einer „Überwissenschaft" „Kulturlehre"! Ohne die Verfassungsinterpreten i m engeren Sinn und ihre (Juristen)„Kunst" gäbe es keinen Verfassungsstaat als eine (disziplinierende) Seite der offenen Gesellschaft. Ihre „andere Seite" konstituiert sich aber ebenso unentbehrlich aus den umrissenen kulturellen Prozessen und Erscheinungsformen politischer und kultureller Öffentlichkeit samt ihren Kontexten. Erst das tagtägliche Zusammenwirken von Verfassungstexten i m engeren d. h. herkömmlichen Sinne und der — kulturellen — Verfassungstexte i m weiteren Sinne ergibt jenes Gesamtbild, aus dem sich die offene Gesellschaft inhaltlich grundiert. Und — auf diesem Hintergrund: erst das Zusammenwirken der Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinne ergibt eine Theorie und eine Lehre von der „guten" offenen Gesellschaft, die sich zwischen den Momenten der Dauer und des Wandels, der Hoffnung und des Rückblicks sowie als Teil kultureller Wachstumsprozesse zwischen Produktion und Rezeption behaupten kann. Wie die Verfassungstexte i m engeren und weiteren Sinne untereinander und gegenüber anderen Objektivationen des politischen Lebens bzw. kulturellen Kristallisationen abzugrenzen sind, wäre i m einzelnen noch zu untersuchen. Die „Enge" der juristischen Texte bedarf zwar der Aufhellung, Vertiefung und Erweiterung durch kulturelle (Kon-) mokratie — ein Problem der politischen Kultur, FS C. F. von Weizsäcker, 1982, S. 89 ff.
7. Grenzen des Ansatzes
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Texte, bei alledem müssen sie aber juristische Texte bleiben (können). Anders formuliert: der juristische Text darf nicht in der „Weite der K u l t u r " verloren gehen. Einen näheren Hinweis vermittelt die Einsicht, daß das zu Interpretierende m i t den M i t t e l n der Interpretation nicht identisch ist. Gewiß interpretiert sich ein politisches Gemeinwesen auch juristisch letztlich immer wieder selbst, das „Münchhausentrilemma" ist weder i m herkömmlichen Gegenstands- bzw. Methodenbereich noch sonst zu überwinden, aber die kulturellen Texte oder die sonstigen grundierenden Elemente der Verfassungsinterpretation treten nicht einfach an die Stelle des zu interpretierenden Gegenstands. Das Sondervotum w i r d durch Heranziehung von Teilaspekten seiner Argumentation noch nicht zum Inhalt der Verfassungsnorm; das Selbstverständnis von Gruppen und Kirchen w i r d durch seine Berücksichtigung etwa bei Art. 9 Abs. 1, 3 GG bzw. Art. 140 GG noch nicht zum Art. 9 Abs. 1, 3 bzw. A r t 140 GG selbst: so sehr es jeweils interpretatorisch „mitgelesen" werden muß, so sehr bleibt es nur ein grundierendes Element, das sich erst i m Konzert aus der Konkurrenz und Rivalität eines Auslegungsvorgangs verdichtet. Ebenso wie bei den herkömmlichen Methoden (und ihrer Lehre) erscheinen die herkömmlichen Verfassungsverständnisse alles andere als überholt 1 7 0 : Sie bleiben wichtige Teilaspekte. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ist nur ein — wichtiger — zusätzlicher Aspekt. Vor allem aber w i r d nun vielleicht das die Verfassungen mitbedingende Kulturelle zwar ein i n offengelegten Methoden begreifbarer Gegenstand der (Verfassungs-)Wissenschaft. Doch muß sie sich davor hüten zu meinen, das Kulturelle werde nun bewußter rationaler Gestaltung durch den Verfassungs- bzw. Rechtspolitiker verfügbar. Erfassen bedeutet nicht Verfassen! Der Verfassungsstaat und die ihn betreffende Wissenschaft von der „guten Verfassung", wie sie sein soll: die Verfassungslehre, ist zwar eine kulturelle Errungenschaft par excellence, die „kulturelle Kristallisation" der Verbindung von Menschenwürde und Volk, Vernunft und Freiheit, Einzelinteresse und Gemeinwohl, auch Recht und Macht. Aber ebensowenig wie der Verfassungsstaat ist sie m i t diesen — kulturellen — Voraussetzungen und Bedingungen wie nationale Tradition, Möglichkeiten der Selbstidentifikation von Bürger und Volk etc. identisch. Die den Verfassungsstaat „tragenden" und bewegenden Kräfte und Faktoren sind vielleicht ζ. T. formulierbar, sie sind aber nur sehr begrenzt kodifizierbar, i m Sinne von verfassungsstaatlich regelbar. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft versucht diese Gebiete und Vorgänge i n den Blick zu nehmen, 170
Zu ihnen: K. Hesse, Grundzüge (Fn. 140), Rn. 1 ff.
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VI. Programmatische Folgerungen
aber sie w i l l sie damit nicht „verrechtlichen". Verfassung als „Anregung und Schranke" (R. Smend), darüber hinausgehend als Konstituierung des Gemeinsamen und Wichtigen einer res publica verstanden, darf sich mit dem Kulturellen nicht gleichsetzen, es nicht etwa gänzlich einverleiben wollen. So sehr sie der vielzitierten Rahmenordnung gleicht, sie ist auf dem Hintergrund des Übergreifend-Kulturellen nur Teilrahmen, wenn nicht gar „Fragment". Verfassung ist ein Stück K u l t u r , spezifisch rechtlich „geronnener K u l t u r " , aber mit dieser nicht identisch. Gerade die herkömmlichen „bloß" juristischen Sichtweisen und Verständnisse der Verfassung t u n hier ein unverzichtbares Werk. Sie erinnern eine Verfassungslehre „als" Kulturwissenschaft an ihre Grenzen; sie leisten (Selbst-)Disziplinierung. Eine totale Gleichsetzung von Verfassung und K u l t u r verlöre ihren eigenen wissenschaftlichen Gegenstand und Sinn — ganz abgesehen davon, daß sie den Juristen die spezifische Legitimation nähme, gerade von den Verfassungstexten aus, aber über sie hinaus und (nur) durch sie hindurch, ihnen ζ. T. voraus, ζ. T. hinterher (als Historiker) nach „Verfassung zu fragen". Es geht also nicht u m „Entgrenzung" der Verfassung, nicht um ihre totale „Aufhebung" i n K u l t u r , sondern u m die Gewinnung eines erweiterten Blickfeldes, so wie die Entwicklung des Problems der „Verfassungswirklichkeit" ein Stück Erweiterung und Vertiefung war. Das machtfixierte Verfassungsverständnis eines F. Lassalle 171 ist auch nur ein Teilaspekt geworden. Nur i n dieser Maßgabe kann sich Verfassungslehre als K u l t u r w i s senschaft i n Anspruch und Programm geltend machen. Aber auch i n dieser Selbstbescheidung kann sie vielleicht doch einiges „Neue" leisten, so vorläufig, fragmentarisch und skizzenhaft der hier versuchte Vorstoß noch sein mag. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft mag anspruchsvoll sein, das Programm w i r d auch hier früh auf Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens stoßen. Gleichwohl sollte das Wagnis unternommen werden: Letztlich dient auch dieser wissenschaftliche Versuch dazu, die Chance einer freiheitlichen Verfassung wie des GG i n Deutschland zu steigern.
171 Vgl. F . Lassalle, Uber Verfassungswesen (1862), 1907; dazu K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 3 ff.
V I I . Resümee in Thesen 1. Das Verfassungsverständnis bedarf einer Erweiterung u m die kulturwissenschaftliche Dimension. Sie ergänzt die bisherigen juristischen Verfassungsrechtskonzeptionen, sie w i l l sie nicht ersetzen. Sie verstärkt Normativität und Normalität des Verfassungsstaates. Stichwort ist „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft". 2. Die den Verfassungsstaat westlicher Prägung kennzeichnende, tragende und weiterentwickelnde „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und -politiker" erfährt ihre unverzichtbare „Grundierung" aus „kulturellen Kristallisationen". 3. Die speziell kulturverfassungsrechtlichen — jüngst stärker diskutierten — Themen wie Verfassungspräambeln, kulturelle Freiheiten, allgemeine und spezielle Kulturstaatsklauseln, auch die verschiedenen Ebenen von Kulturverfassungsrecht i m Kommunal-, Landes- und Bundes-, aber auch Regional-, Europa- und Völkerrechtsbereich ergeben i n Zusammenschau schon bisher eine spezifische Affinität von Verfassung und K u l t u r (samt dem kulturellen Träger- bzw. Schöpferpluralismus). 4. Gesellschaftlicher Wandel, Prozesse von Stabilität und Kontinuität von Verfassungen (und damit der Zeitfaktor) sind letztlich nur kulturwissenschaftlich (allenfalls auch sozial-, geistes-, wirklichkeits- bzw. normwissenschaftlich) zu erklären. Insbesondere deuten die Vorgänge von Produktion und Rezeption auf kulturelle Hintergründe, Faktoren und Prozesse. (Die literatur- und rechtswissenschaftliche Rezeptionsforschung arbeiten hier einander zu.) 5. Verfassungsvergleichung als Kulturwissenschaft intensiviert die bisherigen interdisziplinären Bemühungen, stellt sie aber auch auf eine neue Ebene. Sie erlaubt eine Neufassung der Verhältnisse von Menschenwürde und Volk, Vernunft und Freiheit, Recht und W i r k lichkeit, Recht und Macht, Idee und wirtschaftlichem Interesse. 6. Die Verfassungsinterpretation kann i m Lichte des kulturwissenschaftlichen Denkens besser als bisher die juristischen Texte aus ihren kulturellen Kontexten erschließen (und z. B. die Bedeutungsvarianz trotz gleichen Wortlauts erklären). Sie erarbeitet auch
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V I I . Thesen
Rang und Funktion von Klassikertexten; Verfassungsänderung und Verfassunggebung leben noch intensiver von — denselben — „ k u l turellen Kristallisationen". 7. Übergreifende historische Zusammenhänge jenseits konkreter — positiver — Verfassungstexte (z. B. i n bezug auf 1848 und 1949) lassen sich — kulturwissenschaftlich — ebenso herstellen wie sie Hoffnungen für die Zukunft („Deutsche Einheit") und die Vergegenwärtigung von Feiertagen etc. (oder Formen von „soft law") ermöglichen. 8. Der kulturwissenschaftliche Ansatz bezieht auch Fragen und Ergebnisse der politischen Kulturf or schung ein und vertieft sie zur „Verfassungskultur", also u m das über das Sozialwissenschaftliche Hinausführende und das Normative. 9. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu den notwendigen Koordinaten jeder Verfassungsvergleichung: als Kulturvergleichung erscheint sie als erfolgversprechend i m Rahmen einer deutschsprachigen Verfassungslehre (Relevanz des Sprachelements), aber auch als „innere Verfassungsvergleichung" i m Bundesstaat. 10. Eine kulturwissenschaftliche Verfassungslehre kann einen Beitrag zur notwendigen Reduzierung der Fixiertheit auf Wohlstandsdenken und Materialismus sowie eine Abkehr von der ökonomisierung unseres derzeitigen politischen Denkens und Handelns leisten. Sie liefert auch die Basis für eine K r i t i k an einem lediglich quantitativen und überzogenen Sozialstaatsverständnis. Insofern stellt sie sich als Chance für eine vertiefte Begründung des Verfassungsstaates i n Deutschland auch für den Fall von Krisenzeiten dar.
Personenregister Achterberg, Ν., 38 Adam, Κ., 63 Albert, Η., 53 Almond, G. Α., 21, 52 Arndt, Α., 40 Aubin, B. C. H., 36 Baur, I., 12 Becker, J., 21 Beling, E., 36 Benda, E., 37 Berdahl, R., 57 Berg-Schlosser, D., 21 Bernhardt, R., 36 Beutler, B., 30 Beuys, J., 27, 40 Biallas, D., 16 v. Birkmeyer, K., 49 Birnbaum, M., 16 Blankenburg, E., 34 Bockhorn, Ο., 69 Böckenförde, E.-W., 32, 38, 63 Böhmer, W., 37 Boll, H., 40 Bohrer, Κ . Η., 57 Brake, M., 16 Brecht, Β., 59, 64 Broekman, J. M., 13 Broermann, J., 15, 24, 48, 69 Bryde, B.-O., 29 Büchner, G., 42 Bürger, P., 44, 57 Burdeau, G., 73 Carstens, K., 40 Cicero, M. T., 12 Clayton, J., 57 f. Coing, H., 35, 49 Colliard, C.-A., 73 Dagtoglou, P., 31 Dahrendorf, R., 22, 59 Damm, R., 56 Dawkins, R., 57 Dennewitz, B., 72 Denninger, E., 42 Denzer, H., 38 Dilthey, W., 9, 47 f., 53 Doehring, K., 42, 50, 62
Dohna, Α., Graf zu, 35 Drath, M., 54 Dreher, E., 70 Dreyer, R., 9 Eckhard, F., 69 Ehmke, H., 25, 29, 57 Eichenberger, K., 32 Elgar, E., 11 Eliade, M., 13 Eliot, T. S., 11 Emig, Β., 69 Engelmann, Β., 39 Engstfeld, Ρ. Α., 61 Enneccerus, L., 49 Enzensberger, H. M., 41 Eppler, E., 14 Esser, J., 42, 49 Evers, H.-U., 63 Favoreu, L., 73 Fetscher, I., 75 Fichte, J. G., 12 Fiebig, E., 67 Fielhauer, H., 69 Fikentscher, W., 49 Forsthoff, E., 9, 38, 45, 50 f. Frankenstein, E., 49 Friedrich, M., 54 Gabriel, O. W., 21 Gaier, U., 70 de Gaulle, C., 40 Gehlen, Α., 34, 48 Geiger, W., 27 Geller, G., 27 Gerstenberger, H., 21 Göldner, D. C., 26 Goerlich, H., 22, 62 v. Goethe, J.-W., 19 Götz, V., 63 Gorz, Α., 40 Grämlich, L., 58 Grawert, R., 24 Gregor-Dellin, M., 40 Greiffenhagen, M., 21, 75 Greiffenhagen, S., 21, 75 Greverus, I.-M., 12, 16 Grimm, D., 52
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Personenregister
Habermas, J., 52 f., 56 f. Häberle, P., 10, 14 ff., 20, 22 f., 25 f., 30 ff., 36 ff., 42, 44, 50 ff., 57 ff., 61 ff., 65 f., 68 f., 74 Hamel, W., 42 Hartwich, H. H., 45 Hassemer, W., 36 Heckel, E., 68 Heckel, J., 61 Hefermehl, W., 49 Heine, H., 42 Heinitz, E., 35 f. Heinrichs, H., 49 Helle, H. J., 48 Heller, H., 9, 19, 45 f., 48, 54, 56 ff. Henke, W., 74 Hensel, Α., 9, 48 f. v. Hentig, H., 59 Hentzen, Α., 68 Herder, J. G., 12 Herzog, R., 52 Hesse, K., 22, 37, 62, 68, 75, 77 f. Heuss, T., 24 v. Hippel, R., 35 Hirsch, E. E., 57 Hirsch, M., 37 Hoffmann, H., 16 Hoffmann-Riem, W., 52 Hofmann, H., 63, 72 Hollerbach, Α., 9 Holstein, G., 9, 48 f. Horn, M., 52 Hsü Dau-Lin, 71 Huber, E. R., 50, 54, 68 Huber, H., 59, 63 Hubmann, H., 50 Hufen, F., 27 Hugo, Victor, 40 Huizinga, J., 47 Inglehart, R., 75 Ipsen, H. P., 45 Isensee, J., 14, 62 Iser, W., 39 Jauß, H. R., 42 Jellinek, G., 42 Jescheck, H.-H., 36 Jung, O., 12 Kästner, Erich, 39 Kaiser, G., 36 Kaiser, J. H., 36 Kasch, W. F., 57 Katzenstein, D., 37 Kaufmann, E., 48 Kepplinger, H. M., 41 Kerner, J., 42 Kiel, F.-W., 15
Klages, H., 75 Klein, F., 61 Kluckhohn, C., 11 f., 57 Kmieciak, P., 75 Knies, W., 27, 60 Koch, H., 68 König, R., 10 f., 57 f. Kötz, H., 35 Kohler, J., 35, 49 Kolakowski, L., 20, 59 Kolbe, J., 16 Kopelew, L., 41 Korn, K., 69 Krause, P., 31 Krawietz, W., 38 Kriele, M., 18, 42 Krings, H., 12 Kroeber, A. L., 10 ff., 57 Krüger, Herb., 42, 52 Krüger, M., 39 Laband, P., 74 Ladendorf, H., 48 Lang, J., 12, 60 Lassalle, F., 78 Laun, R., 52 Lenk, K , 34 Lerche, P., 26 Lessing, G. E., 40, 58 Liebermann, R., 12 Link, C., 34 Linton, R., 10 v. Liszt, F., 35 Locke, J., 64 Loos, F., 48 Lowie, R. H., 10 Luchaire, F., 73 Lübbe, H., 38 Luhmann, N., 42, 52 Maier, Hans, 38 Maihofer, W., 50 Majer, D., 28 Majewski, O., 26 Malinowski, B., 19 Marburger, P., 24 Matthes, H., 30 Matthes, J., 75 Maunz, T., 26 Maurer, R., 12 Mayer, M. E., 35 Mayer, H., 40 Mayer, O., 42 Mayer-Maly, T., 49 Mayer-Tasch, P. C., 40, 71 Meier, H., 68 Merton, R. K., 19 Mesnard, A.-H., 22 Mezger, E., 35 f.
Personenregister Mössner, J. M., 36 Möhler, Α., 20 Montesquieu, C.-L., 13, 40, 64 Moore, H., 67 Morus, T., 38 Müller, G., 32 Münchhausen, 77 Muschg, Α., 39 Naumann, F., 48 Nawiasky, H., 58 Nef, H., 50 v. Nell-Breuning, Ο., 16 Nicolai, F., 40 Niedermann, J., 12 Nipperdey, H. C., 49 Nipperdey, T., 38 Oppermann, T., 10, 14, 50, 63 Palandt, O., 49 Pappermann, E., 15 Parsons, T., 55 f., 58 Peisl, Α., 20 Perpeet, W., 47 Pestalozza, C., 15, 30 f., 67 Peters, H., 51 f. Pfeiffer, M., 27 Philip, L., 73 de Plunkett, P., 12 Popper, K., 59 Pospisil, L., 13 Puttfarken, H.-J., 35 Quaritsch, H., 62
Salomon, 42 Sartre, J. P., 40 v. Savigny, E., 53 Schäffer, H., 50 Schambeck, H., 50 Scheel, W., 39 Schelsky, H., 12 Scherer, J., 34 Scheuner, U., 42, 46, 54, 66 Schieder, T., 48 Schiller, F., 39, 42, 59, 64 Schindler, D., 21 Schissler, J., 21 f. v. Schlabrendorff, F., 37 Schiaich, K., 14 Schluchter, W., 48, 56 Schmalfuß, Α., 10 f. Schmid, G., 31 Schmidt, E., 35 Schmidt, W., 68 Schmidt-Aßmann, E., 21 Schmitt, C., 9, 42 Schmitt Glaeser, W., 24 Schneider, H.-P., 22 Schnur, R., 45 Schönke, Α., 36 Schröder, J., 55 Schult, G., 62 Schulze-Fielitz, H., 25 f., 52 Schwalm, G., 70 Schwegmann, F., 9 Service, E., 48 Shell, K. L., 21 Siebert, W., 49 v. Simson, W., 36 Singer, M., 11 Smend, R., 9, 21, 28, 39, 43, 46, 48, 51, 54, 71, 78 Soergel, H. T., 49 Spranger, E., 48 Stagi, J., 53 Stammen, T., 21 Starck, C., 26, 63 v. Staudinger, J., 49 Stephan, W., 39 Stettner, R., 25 Strebel, H., 36
Rabel, E., 35 Radbruch, G., 48 Randelzhofer, Α., 31 Rausch, H., 21, 38 Rehbinder, M., 57 Reichel, P., 21 Reitzke, P. F., 40 Rheinstein, M., 35 Rickert, H., 47 f. Rinck, J., 27 Robert, J., 73 Roellecke, G., 42 Roßnagel, Α., 30 Roth, G. H., 49 Rothacker, E., 48 Rottleuthner, H., 52 Rousseau, J. J., 40 Rupp, H., 27 Rupp-v. Brünneck, W., 37
Tell, W., 39 Thomashausen, Α., 31 Tietz, R., 52 Triepel, H., 21 Tsatsos, D., 31 Tylor, E. B., 10
Sack, F., 11 Saladin, P., 32, 65
Ulle, D., 68 Usteri, M., 50
84 van der Ven, J. J., 35 Vedel, G., 73 Verba, S., 21, 52 Vergil, S., 41 Vivelo, F. R., 11 Vogel, K., 36 Vogler, T., 36 Vogt, H., 48 Voltaire, 40 Wagenbach, K., 39 Walser, M., 40 Walker, G., 49 Wand, R., 27 Weber, Albrecht, 31 Weber, Alfred, 9 Weber, M., 9, 48, 58
Personenregister v. Weizsäcker, C. F., 76 Wendorf, R., 57 Weinacht, P., 15 Wieacker, F., 49 Wilpert, B., 34 Windelband, W., 47 Wittkämper, G., 22 Wolf, Erik, 48 Wuppermann, W., 49 Yinger, J. M., 11 Zacher, H. F., 45 Zeidler, K., 50 Zemanek, K., 36 Zweigert, K., 35