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German Pages 229 Year 2010
DER STAAT ZEITSCHRIFT FU¨R STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPA¨ISCHES O¨FFENTLICHES RECHT
Beiheft 18
Verfassungsgeschichte in Europa
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Verfassungsgeschichte in Europa
BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch, Barbara Stollberg-Rilinger, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl
Heft 18
Verfassungsgeschichte in Europa Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 27. bis 29. März 2006
Für die Vereinigung herausgegeben von
Helmut Neuhaus
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Redaktion: Helmut Neuhaus, Erlangen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-13215-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorbemerkung Vorliegender Band enthält die Vorträge, die vom 27. bis 29. März 2006 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar gehalten, für den Druck überarbeitet und mit Fußnoten versehen wurden. Die Konzeption der Tagung „Verfassungsgeschichte in Europa“ geht auf den damaligen Vorsitzenden der Vereinigung für Verfassungsgeschichte, Herrn Prof. Dr. Diethelm Klippel, Universität Bayreuth, zurück, in dessen Händen auch Organisation und Durchführung der Veranstaltung lagen. Nachdem sich die Drucklegung der Vorträge über die Amtszeit des seinerzeitigen Vorstandes hinaus verzögert hatte, wurde sein Nachfolger mit der Publikation beauftragt. Bedauerlicherweise fehlt der Vortrag von Herrn Professor Dr. Eckhart Hellmuth, Ludwig-Maximilians-Universität München, über „Englische Verfassungsgeschichte des 18. Jahrhunderts“. Auch die im Frühjahr 2006 mitgeschnittenen Diskussionen können leider nicht abgedruckt werden. Bei den redaktionellen Arbeiten unterstützten mich dankenswerterweise Katrin Bauer und Daniel Stanin. Erlangen, im September 2009
Helmut Neuhaus
Inhalt Helmut G. Walther Heiliges Römisches Reich und Nationalstaat im Mittelalter. Ein altes Deutungsmuster unter europäischem Gesichtspunkt neu betrachtet . . . . . . . . . . . . . . .
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Horst Pietschmann Die Verfassungsentwicklung der spanischen Monarchie im 18. Jahrhundert . .
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Jærn Leonhard Die Grammatik der Gesellschaft: Perspektiven der Verfassungsgeschichten Frankreichs und Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anna Gianna Manca Die neueste italienische Verfassungsgeschichte und die „parlamentarische Regierung“ im Königreich Italien (1861 – 1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Neschwara Verfassungsgeschichte in Österreich: Entwicklungstendenzen und aktueller Stellenwert an den Rechtsfakultäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Kley und Christian Kissling Verfassungsgeschichte und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ewald Grothe Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland. Probleme und Perspektiven aus der Sicht eines Historikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christian Waldhoff Stand und Perspektiven der Verfassungsgeschichte in Deutschland aus Sicht der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ulrike Mçûig Forschungsaufgaben, Probleme und Methoden einer europäischen Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Heiliges Römisches Reich und Nationalstaat im Mittelalter Ein altes Deutungsmuster unter europäischem Gesichtspunkt neu betrachtet Von Helmut G. Walther, Jena I. Nun darf also auch die Berliner U-Bahn-Station nicht mehr „Reichstag“ heißen, sondern „Deutscher Bundestag“. Begründet wurde die jüngst vorgenommene Umbenennung damit, dass künftig eine Verwirrung bei auswärtigen Besuchern, die zum Bundestag wollten, vermieden werden solle. Im Untergrund der deutschen Hauptstadt gibt es also kein Deutsches Reich mehr. Was ist aber, wenn man aus dem Untergrund steigt? Dort liegt weiterhin das Reichstagsgebäude. Der Verlauf der deutschen Geschichte macht es also weiterhin erklärungsbedürftig, warum das Verfassungsorgan „Deutscher Bundestag“ in einem als Reichstag benannten Gebäude tagt. Und noch immer gilt, dass auch das Verfassungsorgan „Reichstag“ als Parlament des Deutschen Reiches von 1871 bis 1933 bislang noch einige Jahre länger bestand als es der Bundestag der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 tut.1 Solche historischen Reminiszenzen anlässlich praktischer Begegnungen mit der deutschen Verfassungsgeschichte in der deutschen Hauptstadt stehen offenkundig in Gegensatz zur Tendenz, die deutsche Geschichte insofern vom Reich und von Reichsvorstellungen als Teil einer überwundenen Vormoderne zu entsorgen. Im gegenwärtigen politischen Bewusstsein wird die genutzte Chance zu einem Neuanfang Deutschlands als demokratisch verfasster Nationalstaat nach 1949 und 1989 in erster Linie als Bruch mit älteren, letztlich aber verfehlten Traditionen deutscher Politik und Verfassungsgeschichte gesehen und zieht dessen Legitimation fast ausschließlich 1 Das Selbstbild des Deutschen Bundestages für die deutsche Öffentlichkeit bietet das großformatige zweiseitige Faltblatt „Der deutsche Bundestag / Das Reichstagsgebäude“, das „im Rahmen der parlamentarischen Öffentlichkeitsarbeit“ seit Jahren verteilt wird. Es enthält als historische Informationen einen kurzen Text und eine von 1871 bis 1999 reichende Zeitleiste zur Geschichte des Bauwerks wie zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.
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Helmut G. Walther
aus einer in die politische Katastrophe mündenden Geschichte der Deutschen.2 Dieses Deutungsschemata könnte und müsste die Historiker zu einer mit entsprechend veränderten Parametern geführten neuen Sybel-Ficker-Kontroverse führen, wenn die Gesamtheit der deutschen Geschichte in der Rollenbestimmung des politischen Gemeinwesens der Deutschen am Beginn des 3. Jahrtausends noch eine Rolle spielte. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall: Aus dem deutschen Geschichtsbild ist diese „ältere Geschichte“ bereits weitgehend als gegenwartsirrelevant entsorgt. Doch schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden im Gegensatz zum 19. Jahrhundert die Auseinandersetzungen um die mittelalterlichen Wurzeln des deutschen Nationalstaats mit bereits merkwürdig schiefen Schlachtordnungen geführt, indem prinzipiell Teile der Vergangenheit als „Irrwege“ verworfen und nach Möglichkeit ausgemerzt werden sollten.3 Gegenwärtig bleibt trotz einiger angedeuteter Kontroversen über eine historische Legitimierung der Berliner Republik in der Publizistik oder zwischen Frühneuzeitlern im Fachorgan der „Historischen Zeitschrift“ eine 2 Dezidierten Niederschlag fand diese Tendenz in Heinrich August Winklers zweibändiger deutscher Geschichte „Der lange Weg nach Westen“ von 2000, in der deutlich die Reichsvorstellungen und die daraus resultierenden neuzeitlichen Reichsmythen der Deutschen bis ins 20. Jahrhundert dafür verantwortlich gemacht wurden, dass die Deutschen erst nach 1945 den „historischen Sonderweg“ verliessen und den Normalweg der übrigen (West-?)Europäer nach Westen einschlugen. Kritik an den schiefen Deutungen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Geschichte Winklers bei Helmut G. Walther, Zeitgeschichtliche Mediävistik oder: Wie lang ist der Weg nach Westen?, in: Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier, hrsg. von Jürgen John, Dirk van Laak, Joachim von Puttkamer, Essen 2005, S. 289 – 302. 3 Zu den Argumenten der Historiker im 19. und 20. Jahrhundert: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel, Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hrsg. und eingeleitet von Friedrich Schneider, Innsbruck 1941, 21943; aus der Fülle der Literatur: Friedrich Schneider, Neuere Anschauungen der deutschen Historiker zur Beurteilung der deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Weimar 21936; Wilhelm Smidt, Deutsches Königtum und deutscher Staat des Hochmittelalters während und unter dem Einfluß der italienischen Heerfahrten. Ein 200jähriger Gelehrtenstreit, Wiesbaden 1964; Heinz Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Dauer und Wandel der Geschichte, Aspekte europäischer Vergangenheit, Festgabe Kurt von Raumer, Münster 1966, 483 – 512; Hartmut Boockmann, Ghibellinen oder Welfen, Italien- oder Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento: il Medioevo (= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge, Bd. 1), Bologna, Berlin 1988, S. 127 – 150; Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.
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Kontroverse über die historischen Fundamente der Bundesrepublik Deutschland aus. Dies hat zweifellos mit dem von der Zeitgeschichte dominierten Geschichtsbild zu tun, das offensichtlich auf breite publizistische Zustimmung in der Bundesrepublik rechnen kann.4 Dabei werden eigentlich noch immer die Nationalstaatsdebatten des 19. Jahrhunderts geführt, nur jetzt ohne Rückgriff ins Mittelalter (und zumeist nun auch in die Frühe Neuzeit). Wenn schon Mittelalter benötigt wird, dann in Form von Lehrmeinungen, die im Kern sich auf den Kenntnisstand der Mediävistik des 19. Jahrhunderts reduzieren lassen. Wissenssoziologie und Wissenschaftsgeschichte ersetzen zumeist die Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisfortschritt mediävistischer Forschungsarbeit. Im Grunde schlägt die Neuzeithistorie damit die Schlachten der SybelFicker-Kontroverse täglich aufs neue, ohne deren Zeitbedingtheit zu reflektieren, zumindest ohne die damals eingesetzten Deutungsschemata mit denjenigen der zeitgenössischen Mediävistik und ihren Forschungsergebnissen zu vergleichen. Die das Geschichtsbild bestimmende Distanzierung vom Reich und von Reichsvorstellungen meint deswegen eigentlich auch nur vom „Dritten Reich“ beziehungsweise jenen unheilvollen Kontinuitäten, die sich als seine Vorgeschichte bis ins Bismarck-Reich zurückverfolgen ließen. Im bundesrepublikanischen Geschichtsbild ist mittlerweile die Moderne als entscheidende, die Probleme der Gegenwart allein bestimmende Geschichtszäsur so fest etabliert, dass im Regelfall ein Rückgriff in die Vormoderne nur dann angezeigt erscheint, wenn ein falsches Festhalten an vormodernen Traditionen für bestimmte historische Fehlentwicklungen als Erklärungsfaktor dienen muss. Der Diskurs um den deutschen Sonderweg belegt dies recht klar.5 Mediävisten werden gar nicht an der Debatte beteiligt, versuchen sich merkwürdigerweise auch gar nicht erst zu Wort zu melden, wenn ihre Neuzeit-Kollegen die exklusive Deutungshoheit über die deutsche Geschichte beanspruchen. Sähen die Mittelalterhistoriker – anders als in der Kontroverse des 19. Jahrhunderts über eine groß- oder kleindeutsche Lösung der Nationalstaatsfrage – nun eine mediävistische Wortmeldung in der Debatte der neuzeitlichen Kollegen schon als Einmischung oder gar als absurd an, weil sie in ihrem eigenen Geschichtsbild bereits weitgehend den Bruch mit der Vormoderne als den entscheidenden Epochenschnitt der Geschichte akzeptiert haben? Halten sie sich jetzt vornehm zurück, weil ihre Vorgänger 4 Vgl. die 18 chronologisch ausgerichteten Beiträge und die Einleitung des Hrsg. in: Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517 – 1989, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler (= Beck’sche Reihe, Bd. 1123), München 1995, und Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen (erweiterte Ausgabe), München 2009. 5 Noch deutlicher als bei Winkler, Der lange Weg nach Westen (FN 2), im Ansatz seiner „Deutschen Sozialgeschichte“ bei Hans-Ulrich Wehler!
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auf den Lehrstühlen gewissermaßen Teil des deutschen Verhängnisses waren, den Deutschen ihren Nationalstaat im 19. Jahrhundert nach dem Ideal eines mittelalterlichen Kaiserreichs zu stilisieren und sie sich als die politischen Sinnstifter kat’exochen hielten?6 Kein Neuzeitkollege hat sich bei einer Gesamtdarstellung in letzter Zeit so deutlich veranlasst gesehen, zum Mittelalter der Deutschen Stellung zu beziehen wie Heinrich August Winkler in seinem Werk über den „Langen Weg nach Westen“. Trotz des im Untertitel eingegrenzten Untersuchungszeitraums vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung bilden bereits die mittelalterlichen Jahrhunderte für Winkler die Schlüsselperiode des deutschen Sonderwegs, da in ihnen gewissermaßen die Deutschen selbst das Sperrgut „Reich“ geschaffen haben, das ihnen den Normalweg zum Nationalstaat westlichen Typs so lange versperrte. Winkler erhebt die damals einsetzende Verfallenheit der Deutschen an die Vorstellung vom Reich zum Hauptvorwurf. Wann immer die Deutschen ideale Herrschaftsordnungen konzipiert hätten, sei es auf ein Reich hinausgelaufen; sie hätten sich statt an Herrschaftsrealitäten immer nur an Mythen orientiert. Freilich ist der neuzeitliche Nationalstaat selbst inzwischen als historische Realität in Verruf gekommen. Völker und Nationen sind – anders als es die Historiker im 19. und noch lange im 20. Jahrhundert als Forschungsprämisse anzunehmen können glaubten – keineswegs Konstanten der Geschichte. Wenn Nationen nur als zeitbedingte Konstrukte bestimmter Trägergruppen gelten müssen, wird der für den Geschichtsprozess der Moderne postulierte Exklusivitätsanspruch des Nationalstaats letztlich obsolet.7 Es ist mehr als bedauerlich, dass von neuzeitlicher Seite die Ergebnisse des seit 1972 laufenden Marburger Projektes zur Genese der europäischen Nationen im Mittelalter kaum zur Kenntnis genommen wurden, obwohl sie den Konstruktcharakter der Nation bestätigten, die Begriffsgeschichte um mehrere Jahrhunderte nach hinten verlängerten und durch die im europäischen Maßstab untersuchten Prozesse der Ethnogenesen den Umgang mit dem Volks- und Nationsbegriff problematisierten. Es dauerte freilich gut ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des 2. Weltkriegs, bevor sich die mediävistische Verfassungsgeschichte von der Fixierung auf die Vorstellung von einem Staat des Mittelalters und dem diffusen Volksbegriff lösen konn6 Vgl. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Ders., Was heißt ,Erfindung der Nation‘? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: HZ 227 (2003), S. 593 – 617; Otto-Gerhard Oexle, Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 1 – 22. 7 Winkler, Der lange Weg nach Westen (FN 2). Dagegen Langewiesche, Erfindung der Nation (FN 6); Heinz Schilling, Wider den Mythos vom Sonderweg – die Bedingungen des deutschen Wegs in die Neuzeit, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000, S. 699 – 714.
Heiliges Römisches Reich und Nationalstaat im Mittelalter
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te.8 Wilhelm Waitz sah sich aus methodischen Gründen bereits im 19. Jahrhundert nicht mehr in der Lage, seine Verfassungsgeschichte mit ihrer Fixierung auf eine die Ausgangssituation der mittelalterlichen Entwicklung bestimmende angebliche altgermanische Verfassung zuende zu führen; obwohl sich diese verfehlte Basis auch in allen nachfolgenden Versuchen zeigte, so dass es zu keinen ernstgemeinten Versuchen mehr kam, wirkte der „Germanismus“ auch außerhalb völkischer Ideologie letztlich auch im Neuansatz der „Volksgeschichte“, wie sie Walter Schlesinger nach 1945 propagierte, weiter. Andererseits wurde als Folge der nationalpolitischen Zielsetzungen der Sybel-Ficker-Kontroverse, in die Waitz unter Verweis auf die Quellenlage nur sehr zurückhaltend eingegriffen hatte, in der verfassungsgeschichtlichen Diskussion der Historiker die Bedeutung des Reichs immer mehr als bloße Idee gegenüber dem Nationalstaat als einem Realziel der Geschichte abgewertet. In Georg von Belows und Fritz Kerns späten Stellungnahmen aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wird dies ganz deutlich.9 Die Erfahrungen des 1. Weltkrieges und der nachfolgenden Revolution reduzierten andererseits ganz im Zuge der Wende zur Geistesgeschichte in der Geschichtswissenschaft die konkreten machtpolitischen Ansprüche der Reichsvorstellungen und ließen stattdessen verklärende und pseudoreligiöse Züge hervortreten. In dieser Situation brach ein offener methodischer Gegensatz zwischen politischer Reichsgeschichte und traditioneller Verfassungsgeschichte auf. Eine Lösung schien sich anzubahnen, als der Kritik an den Übertragung staatsrechtlicher Normen des konstitutionellen Staates der Moderne der Verweis auf das Volk anstelle auf das Reich folgte und eine methodische Lösung von Otto Brunner durch Konzentration auf die angeblich „quellengerechte Begrifflichkeit“ vorgeschlagen wurde. Volk, Reich und Staat glaubte Theodor Mayer methodisch mit der landesgeschichtlichen Detailanalyse, terminologisch mit den aufeinander folgenden Phasen des Personenverbandsstaats und des institutionellen Flächenstaat gelöst und zugleich dem Volksstaat der eigenen Gegenwart das dauerhafte Fundament geliefert zu haben.10 8 Vgl. Klaus Schreiner, Wissenschaft von der Geschichte des Mittelalters nach 1945. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Mittelalterforschung im geteilten Deutschland, in: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 854), Frankfurt / M. 1990, S. 75 – 104; zum Marburger nationes-Projekt bilanzierend Joachim Ehlers, Die deutsche Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter (= Nationes, Bd. 8), Sigmaringen 1989, S. 11 – 58; Ders., Die Entstehung des deutschen Reiches (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 31), München 1994, Jean-Marie Moeglin, Die historiographische Konstruktion der Nation – „französische Nation“ und „deutsche Nation“ im Vergleich, in: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, hrsg. von Joachim Ehlers (= Vorträge und Forschungen, Bd. 56), Stuttgart 2002, S. 353 – 377. 9 Dazu Ehlers, Entstehung (FN 8), S. 12 ff.
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Kennzeichen der von Mediävisten betriebenen Verfassungsgeschichte war es, dass sich die Historiker zwar öfters zu programmatischen Äußerungen zu Volk, Reich und Nation herbeiließen, insbesondere in Festreden, ansonsten aber der politischen, ideengeschichtlichen und landesgeschichtlichen Detailforschung frönten. Allzu willig machten sie sich dabei den Begriff der Strukturgeschichte zu eigen.11 Sie gaben implizit zu, dass ihre Deutungsschemata und Termini (Geblütsheiligkeit, Königsfreiheit, Reichsministerialität) gar nicht neue, sondern solche waren, die schon in den späten 30er und 40er Jahren entwickelt worden waren und dem Volksparadigma entstammten. Die verfassungsgeschichtlichen Darstellungen der Rechtshistoriker benutzten dagegen weiterhin den Begriffsapparat des ihrem Publikum wie ihrer Lebenswelt vertrauten konstitutionellen Verfassungsstaates, angewandt auf germanozentrierte oder lehnrechtliche Verhältnisse. Methodisch gab es nach 1945 in der deutschen Mediävistik deshalb lange Zeit keinen Wandel. Verfassungsgeschichte wurde in der alltäglichen Praxis der Mediävisten als Landesgeschichte betrieben oder einfach zur Sozialgeschichte erklärt, ohne dass lange darüber reflektiert wurde, dass man damit die Konzeption der Volksgeschichte fortschrieb. Erst mit der auf Quantifizierung und prosopographische Methoden ausgerichteten personengeschichtlichen Forschung erhielt die mediävistische Verfassungsgeschichte eine neue Grundlage, die in den folgenden Jahrzehnten sich mit sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen zu einem neuen methodischem Spektrum ausweitete.12 Erst in der seit den 70er Jahren von der deutschen Mediävistik betriebenen Begriffsgeschichte, Personengeschichte und Politischen Ideen- und Mentalitätsgeschichte gewann der Gegensatz von Reich und (National-) Staat die analytische Schärfe, die er voraussetzt. Sie ist aber deswegen keineswegs inhaltlich so konnotiert, wie Winkler dies weniger an ihrer Methodik als an ihren Begriffen ablesen zu können meint. Er referiert als Untermauerung seiner These von der „Reichsversessenheit“ der Deutschen nur partielle mediävistische Forschungsergebnisse, ohne deren methodische Voraussetzungen zu berücksichtigen. Ich verzichte hier auf kritische Anmerkungen zu Winklers Argumentation im Detail, die ich schon an anderer Stelle formuliert habe.13 10 Schreiner, Wissenschaft (FN 8), S. 89 ff. (Brunner); Johannes Fried, Konstanz und der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte) (1951 – 1991), in: 40 Jahre Konstanzer Arbeitskreis, Sigmaringen 1991, S. 13 ff. (Kontinuität des Ansatzes Mayers über 1945 hinweg). 11 Dazu Schreiner, Wissenschaft (FN 8), S. 82 ff. 12 Während das 19. Jahrhunderts diese Begriffe im Regelfall als nicht zu hintergehende Konstanten der Geschichte betrachtete, wurden diese allerhöchstens in Karl Lamprechts methodischem Ansatz anhand von morphologischen Vorstellungen durch die Wirksamkeit der kulturellen Faktoren differenziert. 13 Dazu Walther, Zeitgeschichtliche Mediävistik (FN 2), S. 292 ff.
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Zusammenfassend lässt sich deshalb konstatieren, dass die deutschen Mediävisten im letzten halben Jahrhundert nicht aus politischen, sondern aus methodischen Gründen lernten, auf das so lange tradierte Deutungsschema des Nationalstaats zu verzichten. Die Ergebnisse der Forschungen zu den gentilen Genesen im Frühmittelalter und zu den hoch- und spätmittelalterlichen Ethnogenesen haben sie gelehrt, in den Staatsbildungsprozessen nicht sofort den Weg zum Nationalstaat zu vermuten. Es ist kein Wunder, dass heute ihre Gesprächspartner in erster Linie die FrühneuzeitHistoriker sind und ein gewisser gemeinsamer paradigmatischer Hiatus in der Forschung dagegen gegenüber den Erkenntnisinteressen der Spätneuzeitler zu konstatieren ist14. Wenn es denn durchaus Vorstellungen von der deutschen Nation im Mittelalter gab und dem Reich durchaus erste Züge staatlicher Strukturen im Spätmittelalter zueigen wurden, und daher also kaum die Reichsvorstellungen der Zeitgenossen oder gar objektiv zu benennende Strukturen des Reiches dafür verantwortlich waren, dass ein Zusammenkommen von Nation und Staat bei den Deutschen verhindert wurde, dann sollte in der Existenz des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reiches inmitten anderer Herrschaftsverbände und -ordnungen in Europa nicht gleich ein Störenfried der „Normalentwicklung“ vermutet werden. Kritik am Reich der Deutschen gab es bei mittelalterlichen Zeitgenossen innerhalb und außerhalb des Reiches genug. Es ist ja nicht so, dass sich die Deutschen schon damals gegenüber kritischen Stimmen zum Reich verstockt gezeigt hätten und alle übrigen Völker statt eines Reiches nach einem souveränen Nationalstaat gestrebt hätten. Die moderne Mediävistik zeichnet sich gerade dadurch aus, in ihren Untersuchungen sowohl den Empfindungen und Äußerungen der Zeitgenossen Rechnung zu tragen als auch in den von ihr entwickelten Kriterien für die Beurteilung damaliger Herrschaftsverbände beide Aspekte zu verbinden und damit neue Wege gegenüber der älteren Nationalstaatsdiskussion eingeschlagen zu haben.15
14 Mediävisten meinen inzwischen gelernt zu haben, dass sich das politische Gemeinwesen der Deutschen wegen seiner Struktur als Reich im Spätmittelalter zwar durchaus staatliche Züge anverwandelte (vgl. etwa Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, Berlin 1985), jedoch im Prozeß der Staatsbildung im westlichen Europa eine Variantenbreite besteht, die den in der älteren Forschung zum Paradigma festgeschriebenen Gegensatz von (westeuropäischem) Nationalstaat und dem Sacrum Imperium nationis Germanicae des Erklärungsfaktors beraubt. Vgl. Peter Moraw, ,Reich‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 423 – 456; ders., Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, in: Peter Moraw, Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, Sigmaringen 1995, S. 47 – 71. 15 Vgl. dazu Helmut G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens,
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Helmut G. Walther
II. Versuchen wir deshalb in einem ersten Schritt, die Durchsetzung der Vorstellung vom entscheidenden geschichtlichen Hiatus um 1800 dahingehend zu betrachten, wie damals in diesem Geschichtsbild und daran anschließend in der Staatsdiskussion des 19. Jahrhunderts die Rolle des Mittelalters und des Heiligen Reichs in Deutschland neu bestimmt wurde. Auch die deutschen Intellektuellen um 1800 werteten ihre turbulente eigene Gegenwart deutlich als eine Umbruchzeit und versuchten entsprechend das Ende des Alten Reichs einzuordnen.16 Es war durchaus symptomatisch, wie Friedrich Schlegel auf die durch Napoleon nach 1806 nachhaltig veränderte politische Situation reagierte: Erst nach dem Frieden von Schönbrunn 1809 wurden ihm die Folgen des Endes des Heiligen Römischen Reiches deutlich bewusst. Noch zehn Jahre zuvor hatte er im November 1799 beim denkwürdigen Symposium der Romantiker in Jena zu den Kritikern des Aufsatzes „Die Christenheit oder Europa“ Friedrich von Hardenbergs (Novalis) gehört, wenn auch zu den wohlwollenderen. Es war auch der jüngere der beiden Schlegel-Brüder, der dafür sorgte, dass die erste Werkausgabe des Novalis nur acht Auszüge dieses Aufsatzes enthielt.17 Bei seinen Wiener Vorlesungen von 1810 „Über die Neuere Geschichte“, die ein Jahr später auch im Druck erschienen18, zeigte sich Friedrich Schlegel vom Konzept Hardenbergs, dass allein die Beziehung von Politik und Religion Europas Identität auch weiterhin verbürgen könne, nun selbst überzeugt. In seiner sechsten und siebenten Vorlesung, die dem Mittelalter gewidmet waren, folgte er diesem Deutungsansatz. Novalis hatte damals „schöne glänzende München 1976; Jürgen Miethke, Politisches Denken und monarchische Theorie. Das Kaisertum als supranationale Institution im späten Mittelalter, in: Ansätze (FN 8), S. 121 – 144. 16 Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1924. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt / M. 1975; Volker Press, Altes Reich und Deutscher Bund. Kontinuität in der Diskontinuität (= Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge, Bd. 28), München 1995; Georg Schmidt, Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800, in: HZ 284 (2007), S. 597 – 621; Georg Schmidt, Deutschland 1806 – staatliche Zäsur und nationale Kontinuität, und Dieter Langewiesche, Zum Überleben des ,Alten Reiches im 19. Jahrhundert. Die Tradition des zusammengesetzten Staates, beide in: Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, hrsg. von Andreas Klinger, Hans-Werner Hahn, Georg Schmidt, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 101 – 122 und S. 123 – 133. 17 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, 3 Bde., München 1978 – 1987, Bd. II, S. 731 – 750 (Text Christenheit oder Europa), Bd. III, S. 579 – 604 (Kommentar). 18 Friedrich Schlegel, Über die Neuere Geschichte [1810 / 11], in: Studien zur Geschichte und Politik, hrsg. von Ernst Behler (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7), München, Paderborn, Wien 1966, S. 125 ff. (6. und 7. Vorlesung, S. 200 – 223).
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Zeiten“ gesehen, „wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte.“19 Weitaus stärker als noch vor 1806 Hardenberg lässt sich Schlegel nun auf eine Schilderung der politischen Entwicklungen ein, da es ihm nun darauf ankommt, die Bedeutung des inzwischen erlittenen Verlustes des im Mittelalter entstandenen Heiligen Reichs der Deutschen herauszustellen. Als wichtige Voraussetzung der mittelalterlichen Verhältnisse galt ihm dabei das Reich Karls des Großen. Es habe das Band zwischen Staat und Kirche so dauerhaft geknüpft, dass es auch nach dem Ende der Karolinger „bis auf die neueren Zeiten von der wesentlichsten Wirkung geblieben ist“ (ebd. S. 201). Ja, Karls überdauernde historische Bedeutung liegt in seiner Funktion als Gesetzgeber, der dem „christlichen Verein aller abendländischen Nationen“ seine ständische Verfassung und Staatseinrichtung gegeben habe. Es sei den christlich gewordenen Deutschen zu verdanken, dass sie eine „gewisse Vermengung des Geistlichen und des Weltlichen“ vornahmen und damit die Stände des jeweils nationalen Adels und der Geistlichkeit in ein besonderes Gleichgewicht brachten, so dass ein „allgemeiner Verein der christlich gesitteten Nationen“ entstehen konnte. Karl erscheint Schlegel als ebenso weitsichtiger wie idealer Herrscher, indem er den geistlichen Stand förderte und die Kirche beschützte. An dieser Stelle taucht erstmals der sich als Schlüssel für Schlegels Vorstellungen entpuppende Begriff der Freiheit auf. Schlegel erklärt: „Eine wahrhaft lebendige Kraft beruht nicht auf der Vertilgung allen freien Lebens rund um sich her; vielmehr wird ein Herrscher von starkem Geiste und von großer Seele umso mächtiger sein, je mehr Leben und freie Kraft auch in allen übrigen Teilen des Staatskörpers ist.“20 Hierin habe auch die Idee des mittelalterlichen Kaisertums und seines Verhältnisses zu den „ersten Bischöfen der Christenheit“ gelegen, die ebenfalls als „Volksmacht“ „Sprecher und Schiedsrichter der europäischen Republik“ gewesen seien, wie er die politische Gemeinschaft der christlichen Völker tituliert. Hier habe sich gezeigt „das Ideal eines rechtlichen Bandes, eines freien Vereins, welche alle Nationen und Staaten der gebildeten und gesitteten Welt umschlänge, ohne dass die Einheit, die freie und eigentümliche Nationalentwicklung jeder einzelnen Nation aufgeopfert würde“ (ebd., S. 208). Der Staat der Deutschen sei darauf aus gewesen, die alte Freiheit im deutschen Vaterlande zu erhalten und existierte deshalb als ein Wahlreich der von Schlegel als deutsche Hauptnationen bezeichneten Franken, Sachsen, Schwaben und Bayern. Als schädlich habe es sich erwiesen, dass die fränkische Dynastie der Salier die besonderen Rechte dieser Nationen zugunsten der königlichen Gewalt einschränken wollte, was in seinen Aus19 20
Novalis, Werke (FN 17), Bd. II, S. 731. Schlegel, Neuere Geschichte (FN 18), S. 202 ff. (die Zitate ebd., S. 203, 204).
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wirkungen schließlich zum Kampf mit der Kirche führte. Nicht weniger schädlich sei es gewesen, als die schwäbische Dynastie der Staufer ihre Aufgabe des gesamtchristlichen kaiserlichen Berufs zugunsten des Anspruchs als unumschränkte Monarchen Italiens vernachlässigt habe. Freilich sei die Verbindung mit Italien als solche keineswegs für den deutschen Staat schädlich gewesen und habe für die Kultur durchaus Vorteile gebracht. Dagegen sei die Einverleibung slawischer Länder und Völker im Osten zu tadeln: Deutschland sei nun einem doppelten Einfluss ausgesetzt gewesen, der seine alte Freiheit geschädigt habe: einerseits durch das aus Frankreich importierte Lehnswesen, das den Stand der Freien verschwinden ließ, und andererseits durch ein Herrschaftsrecht „nach slawischer Sitte“ mit „härterem Druck der nicht edlen, nicht freien Leute“. An die Stelle des alten Standes der Freien sei der neue Bürgerstand getreten. Weder der Kaiser noch die Päpste hätten den Kampf für sich entscheiden können, der im 11. Jahrhundert um die Stellung der zu Reichsfürsten aufgestiegenen Bischöfe entbrannt sei. Auf die europäische Republik habe jedoch das Rittertum als eine neue Kraft Einfluss gewonnen. Es habe aus germanischen Wurzeln gestammt und sei durch die Kreuzzugsbewegung gefördert worden. Somit vereinigte ein „neues sehr wohltätiges gemeinsames Band die verschiedenen christlichen Nationen von Europa [ . . . ] wenigstens durch gemeinschaftliche Grundsätze und Sitten der Ehre, der Liebe und des gebildeten Lebens“ (ebd., S. 221). Friedrich Schlegel versucht im folgenden, die politische Fehlentwicklung der Gegenwart auf die Abkehr von den Prinzipien der alten kollektiven Freiheit zugunsten individueller Freiheitsrechte zurückzuführen. In der eigenen Gegenwart stünden nun der von der Französischen Revolution und Napoleon verkörperte Staat der individuellen Freiheitsrechte und eines despotischen Staates gegen die Welt der traditionalen kollektiven Freiheit und des ständisch geordneten Staats. Angesichts der Neuordnung der politischen Verhältnisse Europas zugunsten Napoleons bedeute dies freilich, dass zwar das österreichische Kaisertum die historische Legitimation einer ständischen Gesellschaft für sich beanspruchen könne, die Schlegel so beredt mit seinen Vorlesungen evoziert und gegen das französische usurpierte Imperium kehrt. Dem Autor geht es aber deutlich in gleicher Weise darum, zugleich die Welt der alten freiheitlichen Ordnung eines vollkommen geordneten Vereins verschiedener christlicher Nationen in Europa gegen jenes neue Freiheitsverständnis und die Idee des Nationalstaats zu verteidigen. Auch wenn es so im Vorlesungszyklus nicht direkt benannt wurde, stellte er die christliche Kulturnation gegen die politische Staatsnation und radizierte den Gegensatz auf denjenigen zwischen (alter deutscher) kollektiver und (neuer französischer) individueller Freiheit.
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Das war zugegebenermaßen ein Geschichtsbild aus sehr deutscher Perspektive, und es entsprach in seiner Idealisierung in keiner Weise dem, was die neue quellenkritische historische Forschung seit dem frühen 19. Jahrhundert über das Verhältnis des Sacrum Imperium zu den Nachbarreichen zutage förderte.
III. Es ist deshalb an der Zeit, den von der mediävistischen Forschung erschlossenen Stimmen der mittelalterlichen Zeitgenossen, insbesondere aus dem nichtdeutschen Raum, Gehör zu schenken, um das europäische Deutungsspektrum des Reichs in den damaligen Jahrhunderten hervortreten zu lassen. Dazu bietet sich exemplarisch der Diskurs um die Universalität des Kaisertums an, der um 1200 an der Universität Bologna geführt wurde, deren kanonistische Fakultät damals bereits einen Treffpunkt der Intellektuellen aus der gesamten westlichen Christenheit bildete. Einen deutlichen Gegensatz zur Idealisierung durch Friedrich Schlegel post festum bilden die Kommentare des Portugiesen Vincentius Hispanus aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Vincentius schaffte den Aufstieg vom renommierten Kirchenrechtslehrer in Bologna zum Bischof in seinem heimatlichen lusitanischen Königreich und zugleich zum einflussreichen Politiker21. Was die Frage des Kaisertums anlangt, stellte sich Vincentius wie sein deutscher Kollege und ehemaliger Mitschüler Johannes Zemeke aus Halberstadt ganz auf die Seite der Verfechter eines mit dem dominium mundi ausgestatteten Kaisertums. Die gegenteilige Lehren des ebenfalls in Bologna dozierenden Engländers Alanus und des Lombarden Tankred lehnten Vincentius wie Johannes Teutonicus ab: Vincentius sah diese an der prinzipiellen Universalgewalt des römischen Kaisertums rüttelnden Lehren seiner kanonistischen Kollegen jeweils aus den Nationalcharakteren der Völker resultieren, denen diese angehören: Das Konstantinopolitanische Kaisertum als das ursprüngliche galt Vincentius freilich in der gegenwärtigen Periode nun als verdunkelt. Das reg21 Zu Vincentius und seinen kanonistischen Zeitgenossen sowie ihrem Diskurs ausführlich Helmut G. Walther, Spanische und deutsche Kanonisten in Bologna und ihr Dialog über das Imperium, in: España y el „Sacro Imperio“. Procesos de cambios, influencias y acciones recíprocas en la época de la „europeización“ (siglos XI-XIII), coordinadores: Julio Valdéon Baruque, Klaus Herbers, Karl Rudolf (= Historia y Sociedad, Bd. 97), Valladolid 2002, S. 151 – 178, und Ders., Das Reich in der politischen Theorie der Legistik und im Umkreis der päpstlichen Kurie, in: Heinrich Raspe – Landgraf von Thüringen und römischer König (1227 – 1247). Fürsten, König und Reich in spätstaufischer Zeit (= Jenaer Beiträge zur Geschichte, Bd. 3), Frankfurt / M. [u. a.] 2003, S. 29 – 52.
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num Francie freilich werde von seinen eigenen Pairs verachtet. Doch hätten schon die Vorfahren dieser hochmütigen Franzosen von den Spaniern zur Zeit Karls des Großen ihre gerechte Strafe mit der Niederlage von Roncevalles erfahren. Was aber den imperator Theutonicorum betreffe, so erhalte er nun sein Schwert vom Papst, weshalb man sagen könne, dass nur der spanische Kaiser der wahre Kaiser sei, weil er von niemand außer Gott sein Schwert besitze.22 Damit sah Vincentius prinzipiell in seiner Gegenwart drei Kaiserwürden nebeneinander in der Christenheit bestehen: die älteste in Byzanz, die jüngere der Deutschen und diejenige der Spanier. Nur das spanische Kaisertum sei jedoch gegenwärtig noch ein wahres Kaisertum, da allein der leonesisch-kastilische Herrscher faktisch und de jure seine weltliche Gewalt unmittelbar von Gott herleite. Dies scheint für Vincentius unhintergehbares Kriterium für ein legitimes eigenständiges Kaisertum zu sein. Deswegen verweist er auch auf die unterschiedlichen gegenwärtigen Legitimationsgrundlagen des deutschen und des spanischen Kaisertums. Während die hispani ihre virtus bewahrt hätten, mit denen sie ihr Kaisertum schon vor geraumer Zeit geschaffen hätten, hätten die Deutschen das einst ebenfalls durch virtus errungene durch eigene Dummheit (busnardia) verspielt.23 Vincentius Hispanus ging mit solchen Ausführungen einen beträchtlichen Schritt über die Kaiserlehre seines Lehrers Laurentius Hispanus hinaus. Wie schon bei einem anderen iberischen Landsmann, Bernardus Compostellanus, der über ein Jahrzehnt zuvor in Bologna gelehrt hatte, galt dem Kirchenrechtler Vincentius das wahre Kaisertum als ein weltliches, vom Papst unabhängiges Herrscheramt. Doch sah er in den Argumenten, die der deutsche Kollege Johannes Teutonicus in seinen Lehren und Kommentaren zur 22 Vincentius begründet seine Ablehnung der Lehrmeinung sowohl des Tankred wie des Alanus in einer ausführlichen Schlusspassage seiner Glosse zur päpstlichen Dekretale Innocenz’ III. zur Königswahl und dem Kaiseranspruch der Deutschen: „Ego Vincentius nec credo alano, quia anglicus est et timidus, nec magistro t(ancredo), quia Lombardus est et acephalus, et sto illi canoni XCVI. di. ,Cum ad verum‘ (= D.96.C.6). Et quia constantinopolitanus, qui verus imperator esse debeat, offuscatus est, regnum Franciae contemptum debet esse paribus suis, quarum antecessores finalem penam acceperunt apud yspanos, et theutonicorum imperator a papa habet gladium, dicere potestis imperatorem yspanum esse verum imperatorem, qui a nullo nisi a deo habet gladium“. 23 Sed ego Vincentius dico, quod Theutonici per busnardiam perdiderunt imperium, quodlibet thigurium sibi usurpat dominium, et quelibet civitas de dominio cum eis contendit. Sed soli yspani virtute sua obtinuerunt imperium et episcopos elegerunt, lxiii, di. ,longe‘ [= D. 63 c.25]. Nonne in Francia et in Anglia et in Theutonia et in Constantinopoli yspani dominantur? Beate due yspanie, que dominium pariunt et dominantes audacie et probitatis virtutibus expanduntur. Iuvantur ergo yspani meritis et probitate ne indigent torpore prescriptionum vel consuetudinem sicut Theutonici. Vincentius, App. ad X I.6.33 (Venerabilem), s. v. in Germanos. Vgl. Walther, Spanische und deutsche Kanonisten (FN 21), S. 170 ff.
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Abwehr der Unabhängigkeitsansprüche der westeuropäischen Könige und deren kanonistischen Parteigängern mobilisierte, nur Zeugnisse für Nachhutgefechte auf bereits verlorenem Posten, der mit der Anerkennung des römischen Charakters des Kaisertums der Deutschen zur kurialen Translationslehre und zum die universale Kaisergewalt auflösenden Souveränitätsmodell Papst Innocenz’ III. führen mußte.24 Gegen die Arroganz der Engländer und Franzosen, die einfach eine Unabhängigkeit vom römischen Imperium behaupten (rex est imperator in regno suo) und den Anspruch der Lombarden, in ihren Kommunen auch ohne legitimes Oberhaupt als acephali existieren zu können, und schließlich gegen die busnardia der Deutschen beim Umgang mit dem Kaisertum setzt Vincentius auf die virtus der Spanier, die er bei den Deutschen nun erschlafft sieht. Als Kanonistik-Lehrer wie als an führender Stelle für sein Königreich Portugal politisch wirkender Intellektueller sieht sich Vincentius aufgrund seiner Erfahrungen nur in der Überzeugung bestärkt, dass sich die hispani von den übrigen nationes und Reichen der Christenheit erheblich unterscheiden. Kaum deutlicher könnten die Folgen des neuen engen Kontaktes zutage treten, den die Europäer seit dem 12. Jahrhundert untereinander pflegen.25 Was galt in diesem Europa noch das traditionelle Kaisertum? Kuriale Propagandisten bezeichneten schon die Päpste als die wahren Kaiser, und die Päpste selbst leiteten als ausgebildete Kanonisten aus dem von ihnen selbst geförderten Fehlen von in Rom gekrönten Kaisern ihr Vorrecht ab, zumindest für Reichsitalien Vikare zu ernennen. Im durch die kapetingische Seitenlinie der Anjou beerbten, einst staufischen Königreich Sizilien mehrten sich nun die Stimmen, die dem römischen Imperium von Anfang an Unrechtscharakter unterstellten. Schließlich erhielt Papst Clemens vom dortigen Hof sogar den Rat, in Zukunft auf Kaiserkrönungen zu verzichten, hätten doch Kaiser deutscher Herkunft Italien bislang nur stets verwüstet und die Kirche bedrängt. Konkreter Anlass für solche Äußerungen war die erste Kaiserkrönung nach 93 Jahren in Rom, nach der Kaiser Heinrich VII. erklärte, dass er damit tatsächlich universale Rechte gegenüber den europäischen Königen beanspruche. Kaisertumsfeindliche Propaganda war andererseits kein Hinderungsgrund, dass nicht mehrere Prinzen aus der Kapetinger-Dynastie, sogar König Robert I. von Sizilien selbst bei passen24 Zur Kaiserlehre Innocenz’ III. und zur kanonistischen Diskussion seiner Dekretalen: John A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century, London, New York 1965; Walther, Imperiales Königtum, (FN 15), S. 14 – 19, S. 60 – 65; Kenneth Pennington, Pope Innocent III’s Views on Church and State: A Gloss to Per Venerabilem (1977), in: Kenneth Pennington, Popes, Canonists and Texts 1150 – 1550, Aldershot 1993, Nr. IV; Michele Maccarone, La papauté et Philippe Auguste. La décrétale ,Novit ille‘, in: Robert-Henri Bautier (Hrsg.), La France de Philippe Auguste. Le temps de mutations, Paris 1962, S. 385 – 409. Die einschlägige Glosse des Vincentius findet sich zu X, 4.17.7 (Causam), s. v. regem. 25 Walther, Spanische und deutsche Kanonisten (FN 21), S. 176 ff.
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der politischer Gelegenheit nach dem römischen Kaisertitel als sichtbarer Erhöhung des eigenen Herrschertums strebten. Noch der französische König Franz I. kandidierte ja 1519 gegen den Habsburger Karl V.26 Solche Attraktivität des Kaisertitels bedeutete freilich nicht, dass einer der großen Höfe West- und Südeuropas je bereit gewesen wäre, das eigene Königtum als dem Kaisertum der Deutschen untergeordnet anzusehen, mochten auch gelehrte Juristen weiterhin lehren, dass nach den Grundsätzen des römischen Rechts der Kaiser princeps mundi sei. Der König sei Kaiser in seinem Reich und erkenne keinen Höhergestellten in weltlichen Angelegenheiten an, lautete die gegenteilige Formel der Juristen aus diesen Königreichen. Diese Formel hielt denn auch der französische König Philipp IV. der vollmundigen Krönungsanzeige seines zum Kaiser avancierten ehemaligen Lehnsmannes Heinrich VII. entgegen. Universale Ansprüche hatten seit dem Ende des 13. Jahrhunderts auch im geistlichen Bereich mit erheblichem Widerstand zu rechnen, wie Bonifaz VIII. leidvoll ebenfalls von Philipp IV., Johannes XXII. und seine Nachfolger von Ludwig dem Bayern erfahren mussten. Im Großen Schisma nach 1378 war die einheitliche Kirchenleitung durch einen allgemein anerkannten Papst nur nach Respektierung der Herrschaftsinteressen der abendländischen Könige zu erreichen und konnte im Verlauf des 15. Jahrhunderts erst nach schweren Kämpfen gegen die in der Konzilbewegung aufbegehrenden regionalen Kräfte gesichert werden.27 Das Reich war ein unbestrittener Teil des gesamteuropäischen Herrschaftsgefüges, keinesfalls ein Fremdkörper. Das bedeutete nicht, dass die Nachbarn oder die deutschen Fürsten mit der dem Reich und seinem Herrscher zugebilligten Rolle zufrieden gewesen wären. Doch der vom Papsttum im Konflikt mit Ludwig dem Bayern zweifellos überspannte politische Bogen setzte deutlich Widerstandskräfte unter den Reichsständen, insbesondere bei den so wichtigen und in ihrer Siebenerzahl nun eindeutig festgeschriebenen Kurfürsten frei. Ziel des nach der Einigung des Kurvereins von 1338 verfassten Traktats über die Rechte von Kaiser und Reich des in Bologna als Kanonist promovierten Lupold von Bebenburg war es gerade, mit Hilfe einer bis auf das Frankenreich zurückgreifenden historischen Argumentation die durch das päpstliche Dekretalenrecht umgeformten selbständigen Rechte des Römischen Königs der Deutschen und Kaisers 26 Walther, Imperiales Königtum (FN 15), S. 96 ff., S. 213 ff., Kenneth Pennington, The Prince and the Law 1200 – 1600. Sovereignty and rights in western legal tradition, Berkely, Los Angeles, Oxford 1993, S. 165 ff. 27 Walther, Imperiales Königtum (FN 15), S. 78 – 111, S. 137 – 159, S. 213 – 229; ders., Ekklesiologische Argumentationen der Papstbullen von Pius bis Sixtus IV., in: Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (c. 1415 – 1475), hrsg. von Jürgen Dendorfer und Claudia Märtl, (= Pluralisierung und Autorität, Bd. 13), Münster 208, S. 307 – 330.
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wieder deutlich erkennbar zu machen. Mit solchen theoretischen Bemühungen von gelehrten und politisch als Berater der Fürsten immer stärker hervortretenden Persönlichkeiten, vor allem Juristen, wurde der praktische Prozess des sich zunächst herrschaftsrechtlich verdichtenden, dann institutionell sich erweiternden Reichs im 14. und dann im 15. Jahrhundert ständig begleitet. Der Kanonist Lupold hatte ganz richtig die politische Notwendigkeit empfunden, dem Römischen König nun argumentativ endlich auch die Stellung eines rex est imperator in regno suo zuzubilligen, den die westeuropäischen Könige schon im 13. Jahrhundert erreicht hatten. Mit der Regelung der Königswahl durch die als Kollegium definierten Kurfürsten konnte Lupold den zweiten Teil der Souveränitätsformel hinzufügen: auch der Römische König als Kandidat für die Kaiserwürde brauchte in weltlichen Angelegenheiten keinen Höhergestellten anzuerkennen, auch ihm gegenüber war der Papst nur superior in spiritualibus.28
IV. War auch ein Bezug des Reiches auf eine Nation ein notwendiges Element der Europäisierung im Spätmittelalter analog zu den Staatsbildungsprozessen in den Königreichen des Westens? Enthielt der Reichstitel schließlich deshalb eine Bezugnahme auf die deutsche Nation, so wie sie 1474 erstmals direkt bezeugt ist? – In den letzten Jahren wurde die alte Forschungskontroverse, ob damit der Träger des Reichs hervorgehoben werden sollte oder ob damit nur eine regionale Beschränkung des Reichs auf eine Kernzone der Herrschaft angedeutet werden sollte, neu belebt. Peter Moraw meinte schon vor gut zwei Jahrzehnten, dass wohl beides gemeint gewesen sein könnte, ohne dass dabei eine genaue Terminologie vorausgesetzt werden könne.29 Überprüfen wir deshalb zum Schluss das Verhältnis von Nation und Reich im 15. Jahrhundert an einem wohlbekannten Fall: 1454 unterbreitete der gelehrte Kanonist und Rat des Trierer Erzbischofs Dr. Johannes Lieser den auf dem Regensburger Hoftag vertretenen Reichsfürsten einen Reformvorschlag. Nach dem Fall Konstantinopels an Mehmed II. wollte der Kaiser von den Reichsständen Militärhilfe gegen die Osmanen erhalten. Lieser 28 Zur Theorie Lupolds jetzt ausführlich: Lupold von Bebenburg, Politische Schriften, hrsg. von Jürgen Miethke (= MGH, Staatsschriften), Hannover 2004 (allgemeine Einleitung ebd., S. 1 – 142). Neben dieser editio maior des Tractatus de iuribus regni et imperii vgl. auch Lupold von Bebenburg, „De iuribus regni et imperii“ / Über die Rechte von Kaiser und Reich, hrsg. von Jürgen Miethke, übersetzt von Alexander Sauter (= Bibliothek deutschen Staatsdenkens, Bd. 14), München 2005. 29 Moraw, Reich (FN 14), S. 464 – 466, zuletzt auch Moraw, Neue Ergebnisse (FN 14), S. 57 ff.
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argumentierte im Auftrag seines kurfürstlichen Herrn aber gegenüber den Fürsten, dass vor einer solchen Hilfsmassnahme zunächst das Reich wieder funktionstüchtig zu machen sei. Was seinen Vorschlag von allen bislang im 15. Jahrhundert formulierten Reichsreformvorstellungen und -plänen unterscheidet, ist Liesers steter Verweis auf die deutsche Nation, die hier volkssprachlich äquivalent als deutsches gezung benannt wird. Der Redner gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Sorge um das Heilige Reich als Aufgabe für alle Angehörigen der deutschen Nation hinzustellen und diese zur Übernahme dieser Aufgabe geneigt zu machen. Lieser appelliert deshalb an die Bedeutung des Reichs für die Ehre, für Nutz und Frommen sowie die allgemeine Wohlfahrt vor allem der Reichsfürsten. Zugleich will er seine Zuhörer zur Beteiligung an der Reform mit dem historischen Verweis auf den einstigen Erwerb des Reiches nicht nur durch die Könige, sondern auch durch alle grundfesten Deutschen anstacheln. Deswegen sei auch von allen das Heilige Reich „in Deutschem lande und gezung“ gegen den gegenwärtigen Niedergang zu schützen. Mit all seinem rhetorischen Aufwand gelang dem auch in deutscher Sprache eloquenten Lieser nicht, erfolgreich an nationale Werte zu appellieren und eine positive Reaktion bei den Reichsständen auf das Verlangen der Kurfürsten zu erreichen. Zwanzig Jahre später sah das schon anders aus, und König Maximilians I. Propagandisten brachten dann in der Brautraub-Affäre wie auch 1495 in Worms gegen den französischen Einmarsch in Italien trefflich die nationale Saite zum Klingen.30 Gerade diese zögerliche Reaktion auf nationale Argumentation erfolgte bei den Ständen außerhalb des Kurkollegs erst dann, wenn sie überzeugt waren, dass das Reich tatsächlich als Ganzes und damit auch ihre Interessen gegen substanzgefährdende Übergriffe von außen zu schützen sei. Die 30 Die frühneuhochdeutsche Textfassung ist am leichtesten zugänglich bei Lorenz Weinrich (Hrsg.), Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 39), Darmstadt 2001, Nr. 34, S. 309 – 314. Die lateinische Fassung in: Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 19 / 1, Göttingen 1969, Nr. 29.1d,. S. 241 – 243 (lat.), 29.3, S. 243 – 247 (dt.) stammt vom kaiserlichen Gesandten, Bischof Enea Silvio Piccolomini. Vgl. dazu Alfred Schröcker, Die deutsche Nation. Beobachtungen zur politischen Propaganda des ausgehenden 15. Jahrhunderts (= Historische Studien, Bd. 426), Lübeck 1974; Ignaz Miller, Der Trierer Erzbischof Jakob von Sierck und seine Reichspolitik, in: Rheinische Vierteljahresblätter 48 (1984), S. 86 – 101. Morimichi Watanabe, Imperial Reform in the Mid-Fifteenth century: Gregor Heimburg und Martin Mair, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 9 (1979), 209 – 235; Ulrich Nonn, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Zum Nationen-Begriff im 15. Jahrhundert, in: ZHF 9 (1982), S. 129 – 142; Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410 – 1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; Claudia Märtl, Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts, in: Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414 – 1418) und Basel (1431 – 1449), hrsg. von Ivan Hlavácˇek und Alexander Patschovsky, Konstanz 1996, S. 91 – 108.
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nationale Propaganda musste dabei das Heilige Reich weiterhin auch von Europa her, von seiner Aufgabe her definieren, die Hermann Heimpel 1933 etwas arg verfänglich als „Weltdienst“ benennen zu können gemeint hatte. Was dem Reich von den Historikern des 19. Jahrhunderts den Tadel eintrug, zu wenig auf die Macht der Nation und zu sehr auf den eigenen Nutzen der Reichsstände bedacht gewesen zu sein, lässt sich in europäischer Perspektive ins Positive kehren, ohne die Kritik zu vergessen, die konkretes Verhalten der deutschen Herrscher und Fürsten schon im 12. Jahrhundert nach sich zog: „Wer hat die Deutschen zu Schiedsrichtern über die Völker bestellt?“ argwöhnte damals bekanntlich der in Frankreich ausgebildete englische Kleriker Johannes von Salisbury. Im Spätmittelalter verpflichtete nun die nicht mehr auf das Herrschaftsinteresse der jeweiligen Königsdynastie ausgerichtete „verdichtete Verfassung“ (Moraw) das Reich, notfalls gegen den Willen von Kaiser, Kurfürsten und einzelnen Reichsständen, auch europäische Gesamtinteressen zu wahren. Die fehlende Möglichkeit des Reichs zur Aggression gilt somit nicht erst seit dem zuletzt von der Forschung gefeierten System von 1648 als Folge seiner Verfassungsstruktur. Das Reich hatte den Weg zum Konservator der „europäischen Republik“, wie das Friedrich Schlegel verklärend nannte, offensichtlich schon spätestens im ausgehenden 13. Jahrhundert beschritten; sicherlich weder willentlich oder gar in ideeller Überhöhung einer Reichsidee, wie das die ältere Forschung oft unterstellte. Doch der hier nur kurz angedeutete praktische Säkularisierungsprozess des Reichszwecks auf den Zweck der Bewahrung einer gemeinsamen christlich-europäischen Herrschaftsordnung ist es wert, Gegenstand neuer ausgiebiger und detaillierter verfassungsgeschichtlicher Forschung zu werden: um einerseits die zugrunde liegenden Strukturen genauer beschreiben zu können und um andererseits endlich aus dem für die ältere deutsche Geschichte unfruchtbaren teleologischen Diskurs der Spätneuzeitler über den Weg des modernen deutschen Nationalstaats herauszukommen.
Die Verfassungsentwicklung der spanischen Monarchie im 18. Jahrhundert Von Horst Pietschmann, Hamburg / Köln
Das 18. Jahrhundert in Spanien mit dem Dynastiewechsel von den Habsburgern zu den Bourbonen im Jahre 1700, der nach dem spanischen Erbfolgekrieg mit den Friedensschlüssen von Utrecht und Rastatt 1714 von der europäischen Vertragspolitik sanktioniert wurde, wird in der Historiographie immer noch mit der Begrifflichkeit „Zeitalter der bourbonischen Reformen“ charakterisiert. Angesichts der wenig aussagekräftigen Begrifflichkeit wird diese mit Zusätzen aus den verschiedensten europäischen Bezeichnungen für diese Epoche, wie „Absolutismus“ bzw. „Despotismus“, „Vernunft“, „Aufklärung“, „Modernisierung“, „Nation“ usw. ergänzt bzw. unterlegt, je nach Schwerpunktsetzung der jeweiligen historiographischen Schule oder der ideologischen Ausrichtung der einzelnen Autoren.1 Mehr oder weniger direkt wurde dabei das französische Vorbild dieser Politik betont oder relativiert und erst in jüngster Zeit wurden vereinzelt auch Bezüge zu Italien, England und den Staaten im Verband des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation hergestellt und das unterschiedliche Echo auf diese Politik auch innerhalb Spaniens betont.2 Andere und breitere 1 Noch im Jahre 2008 wurde eine von zahlreichen Kultureinrichtungen Spaniens getragene und dem spanischen Herrscherpaar durch das Ehrenpräsidium ausgezeichnete Ausstellung zu Leben und Wirken des bedeutenden Staatsmannes der Epoche, dem aus Murcia stammenden Grafen von Floridablanca, mit dem Untertitel „Die reformerische Utopie“ versehen; vgl. den Katalog: Floridablanca 1728 – 1808. La utopía reformadora. Murcia 18 Septiembre / 8 Diciembre 2008. Madrid 22 Diciembre 2008 / 22 Febrero de 2009. Der Hidalgo und Jurist José de Moñino stieg unter Karl III. zum Kronanwalt – Fiscal – im Kastilienrat auf, führte als spanischer Botschafter in Rom die Verhandlungen über die päpstliche Aufhebung des Jesuitenordens und leitete als Premierminister von 1776 bis 1792 die spanische Politik; eine Deutung der Reformen als „Leidenschaft“ in Verlängerung nach Hispanoamerika versuchte bereits Francisco Solano Pérez Lila, La pasión de reformar. Antonio de Ulloa, marino y científico, 1716 – 1765, Cádiz 1999; – Grundlegend zur 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Quellenedition von Hans Juretschke (Hrsg.), Berichte der diplomatischen Vertreter des Wiener Hofes aus Spanien in der Regierungszeit Karls III., 1759 – 1788, bearbeitet und erläutert von Hans-Otto Kleinmann, 13 Bde., Madrid 1970 – 1987; ders. (Hrsg.), Berichte der diplomatischen Vertreter des Wiener Hofes aus Spanien in der Regierungszeit Karls IV. (1789 – 1808), bearbeitet und erläutert von Hans-Otto Kleinmann, 6 Bde., Madrid 1990 – 1999.
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neuere Deutungsversuche stellen Spanien in den Kontext einer westeuropäisch – amerikanisch geprägten atlantischen Geschichte3, während die deutschsprachige Historiographie zuletzt eher das seit dem 17. und 18. Jahrhundert erkennbare Entwicklungsgefälle zwischen Nord- und Südeuropa betonte.4 Die mit Hispanoamerika befasste Historiographie hat diese Epoche ohnedies mehr oder weniger explizit als „Vorgeschichte der lateinamerikanischen Unabhängigkeit“ bzw. als „Ende des spanischen Imperiums“ im Gefolge des napoleonischen Zeitalters interpretiert. Dabei wurde allerdings zuletzt die Beschränkung auf die Epoche Karls III. aufgegeben und die Suche nach den Ursachen rückwärts bis in die Regierungszeit Philipps V. ausgedehnt. Während anfänglich nicht nur Rechtshistoriker sich mit verfassungsund institutionsgeschichtlichen Entwicklungen in diesem Jahrhundert auseinandergesetzt haben, sind diese Fragen im Gefolge der diversen methodisch-theoretischen Neuansätze der letzten beiden Jahrzehnte eher in den Hintergrund getreten, bzw. nur noch von einer infolge ihres Rechtspositivismus zusehends randständiger gewordenen Rechtsgeschichte diskutiert worden. So hat man lange Zeit die einschneidenden Veränderungen in den Reichen der Krone von Aragón nach dem Ende des spanischen Erbfolgekrieges als Bestrafung für deren Erhebung gegen Philipp V. interpretiert, dem diese zunächst die Treue geschworen hatten, und die Maßnahmen ansonsten als französisch inspirierte Zentralisierungsbestrebungen gedeutet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die frankistisch geprägte Historiographie Spaniens für die Zeit Karls III. von „aufgeklärtem Despotismus“ und einer „bürgerlichen Revolution“ geschrieben.5 Anfang der 1970er Jahre postulierte der 2 Vgl. etwa Ernest Lluch, Las Españas vencidas del siglo XVIII. Claroscuros de la Ilustración. Barcelona 1999, mit Blick auf die ehemaligen Reiche der Krone von Aragón; Alexandra Gittermann, Die Ökonomisierung des politischen Denkens. Neapel und Spanien im Zeichen der Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft Karls III., Stuttgart 2008; eine Zusammenfassung der diversen ideengeschichtlichen europäischen Einflüsse auf Spanien bietet José Enrique Covarrubias, En busca del hombre útil. Un estudio comparativo del utilitarismo neomercantilista en México y Europa 1748 – 1833, México 2005. 3 Vgl. Bernard Bailyn, Atlantic History. Concept and Contours, Cambridge / Mass., London 2005, oder John Huxtable Elliott, Empires of the Atlantic World. Britain and Spain in the Americas 1492 – 1830, New Haven, London 2006, ohne jede Rücksicht auf die erheblichen Unterschiede in Bezug auf Zeit und Raum zwischen beiden „Imperien“. 4 Vgl. Debora Gerstenberger, Iberien im Spiegel frühneuzeitlicher enzyklopädischer Lexika Europas. Diskursgeschichtliche Untersuchung spanischer und portugiesischer Nationalstereotypen des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Frithjof Benjamin Schenk, Martin Winkler (Hrsg.), Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion, Frankfurt am Main, New York 2007. 5 Vicente Palacio Atard, El despotismo ilustrado español, in: Historia de España. Estudios publicados en la Revista Arbor, Madrid 1953; Vicente Rodríguez Casado, La revolución burguesa del XVIII español, Madrid 1951.
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englische Historiker David Brading in seiner klassisch gewordenen Studie zum mexikanischen Silberbergbau in Anknüpfung an die Veränderungen im Mutterland einleitend immerhin noch eine „Revolution in government“ zumindest für das spätkoloniale Mexiko.6 Nahezu zeitgleich war dieser Autor damals einerseits bemüht, Kontinuitäten zu den Reformbemühungen im 17. Jahrhundert unter habsburgischer Herrschaft aufzuzeigen und die Reformen differenzierter als obrigkeitlichen Versuch einer Modernisierung und Rationalisierung von Herrschaft und Verwaltung zu deuten.7 Die Rechtsgeschichte übernahm später den Begriff der „zusammengesetzten Monarchie“ und war bestrebt, die Reformen als Vereinheitlichung unter kastilischem Recht zu deuten.8 In der allgemeinen Historiographie setzte sich dann schrittweise ein diffuser Imperiumsbegriff durch, unter den die verschiedenen Reformmaßnahmen pauschal als Modernisierungsversuch bzw. als Bemühungen zur Sicherung der Herrschaft in Amerika subsummiert wurden. So deutet man jüngst das erneute Ausgreifen nach Italien unter Philipp V. tendenziell mehr als Restauration des früheren Herrschaftsbereichs und nicht mehr als rein dynastisches Bestreben zur Versorgung der Infanten aus der zweiten Ehe Philipps V. mit Elisabeth Farnese. Im Hinblick auf Hispanoamerika wird sogar in Anklang an die ursprüngliche Landnahme von einer „zweiten Conquista“ der autonom gewordenen Überseegebiete gesprochen.9 Diese knappe Skizze läßt nicht nur veränderte Deutungen der historischen Entwicklung erkennen. Sie verweist auch auf den Umstand, daß die Deutungen sehr stark davon abhängen, wie einmal die vorangehende Epoche der habsburgischen Herrschaft beurteilt und welche Rolle und Gewichtung andererseits Hispanoamerika in dem weiteren Zusammenhang der Politik der Dynastie der Bourbonen beigemessen wird. Für beide Bereiche haben sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten durch die Erschließung von neuen Quellen auf breiter Front im Hinblick auf die anstehenden 200. Jubiläen zur Unabhängigkeit Lateinamerikas einerseits und im Gefolge der 400. Wiederkehr des Todes von Philipp II. und des 500. Gedenk6 David Brading, Miners and Merchants in Bourbon Mexico 1763 – 1810, Cambridge 1971; dort Part One: The Revolution in Government, S. 33 – 92. 7 Horst Pietschmann, Die Einführung des Intendantensystems in Neu-Spanien im Rahmen der allgemeinen Verwaltungsreform der spanischen Monarchie im 18. Jahrhundert, Köln, Wien 1972. 8 Mit Schwerpunktsetzung auf Hispanoamerika vgl. Feliciano Barrios (Hrsg.), El Gobierno de un Mundo. Virreinatos y Audiencias en la América Hispánica, Cuenca 2004, vgl. dort insbesondere den Beitrag von Bernardino Bravo Lira, Régimen virreinal. Constantes y variantes de la Constitución política en Iberoamérica (siglos XVI al XXI), S. 375 ff. 9 Zu letzterem vgl. z. B. Hans-Joachim König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, Stuttgart 2006, S. 105 ff. – Andere Autoren verwenden gar den Begriff „Reconquista“.
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jahrs der Geburt Karls V. sehr wesentliche Neuansätze in der Forschung ergeben. Diese sind in beiden Fällen durch massive staatliche Investitionen in einschlägige Forschungen und große Ausstellungen befördert worden, wofür die spanische Regierung sogar eine Sociedad Estatal als dauerhafte Einrichtung gründete.10 Aus den Gedenkjahren zu Philipp II. und Karl V. resultierte unter anderem das Konzept von der spanischen Monarchie als einer ,Monarchie der Höfe‘, demzufolge Philipp II. den Einzelteilen seiner von Vizekönigen oder Regenten verwalteten Herrschaftsgebiete – der Kronen von Aragón, Sizilien, Neapel und Herzogtümern etc. von Mailand, den Niederlanden, der Freigrafschaft Burgund, Lima / Peru und México / Neuspanien – eine gewisse Autonomie zugestanden habe.11 Indirekt ist diese These unabhängig von der spanischen Historiographie durch die sich auf Hispanoamerika konzentrierende Forschung bestätigt worden, die die dominierende Position der beiden vizeköniglichen Metropolen Lima und Mexiko herausarbeitete, die sich zwar schon durch ihre Sonderrolle im Unabhängigkeitsprozeß nach 1808 abzeichnete, aber erst durch Untersuchungen der großräumigeren Vernetzungen auf den verschiedensten Gebieten geklärt werden konnte.12 Diese Befunde belebten erneut die Diskussion um den Charakter der Monarchia Hispanica – war sie ein Imperium oder nicht? Nach den Studien von Anthony Pagden, James Muldoon und anderen schien diese Frage seit den 1990er Jahren einigermaßen geklärt.13 Es finden sich aber Hinweise
10 Vgl. die Übersicht über einschlägige Ausstellungskataloge in: Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann, Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 4., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2005, S. 482 ff. 11 Vgl. z. B. José Martínez Millán, Carlos J. de Morales (Hrsg.), Felipe II (1527 – 1598). La configuración de la Monarquía Hispana, Salamanca 1998, und die jeweils von José Martínez Millán mit herausgegebenen Werke über die Hofhaltungen Karls V., Philipp II. und jüngst Philipp III. – Dazu ist auch auf I. A. Thompson, War and Government in Habsburg Spain 1560 – 1620, London 1976, zu verweisen, der bereits seinerzeit auf die wiederholten Territorialisierungs- und Zentralisierungsversuche Philipps II. verwiesen hatte, die jeweils in Friedenszeiten unternommen und in Kriegszeiten wieder rückgängig gemacht wurden und durch erneute Zusammenarbeit mit den Ständen – Cortes – zur Sicherung der Kriegsfinanzierung und -rekrutierung ersetzt werden mußte. In Ermangelung von amerikanischen Ständeversammlungen hatte der Verfasser selbst noch 1980 die Entwicklung der institutionellen Ordnung als fortschrittlich gedeutet und für das 17. Jahrhundert die Zunahme von Korruption postuliert; vgl. Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1989; ders., Corrupción en las Indias españolas: Revisión de un debate en la historiografía sobre Hispanoamérica colonial, in: Manuel González Jiménez / Horst Pietschmann / Francisco Comín / Joseph Pérez, Instituciones y corrupción en la historia, Valladolid 1998, S. 31 – 52. 12 Dazu neuerdings Bartolomé Yun Casalilla (Hrsg.), Las Redes del Imperio. Elites sociales en la articulación de la Monarquía Hispánica. 1492 – 1717, Madrid 2009. – Im Gegensatz zu den hier knapp angesprochenen Neuansätzen folgt die Rechts- und Institutionengeschichte eher traditionellen Deutungsmustern; vgl. Barrios (Hrsg.), El Gobierno (FN 8).
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darauf, das unter Philipp II. die Annahme des Kaisertitels tatsächlich erwogen14 und später am Hof zeitweise eine imperiale Symbolik kultiviert wurde, auch wenn sich dies nie in der offiziellen, in Gesetzgebung und Vertragspolitik benutzten Herrschertitulatur niederschlug. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß zumindest für die Überseegebiete sich zeitweise die Bezeichnung „Provinzen“ auch für die Metropolregionen durchsetzte, die sich als eigene Reinos – Königreiche – bezeichneten und verschiedentlich auch von der Krone so genannt wurden. Daneben kultivierten beispielsweise in Neuspanien seit dem 17. Jahrhundert sowohl indigene als auch kreolische Eliten die Vorstellung eines mexikanischen Imperiums – Imperio mexicano – selbst anläßlich offizieller Festlichkeiten, wie zum Beispiel dem Empfang eines neuen Vizekönigs.15 Zwar hat sich die Rechtsgeschichte damit nicht ernsthaft auseinandergesetzt, möglicherweise hängt aber damit ein bislang nicht zufriedenstellend erklärtes, seit Philipp II. offenes Problem zusammen. König Philipp hatte sich sehr um die Systematisierung der Gesetzgebung seiner spanischen Reiche bemüht. In Kastilien setzte er eine Recopilación de las Leyes de Castilla, eine Gesetzessammlung (und Systematisierung) der kastilischen Rechtsordnung, in Kraft und in Aragón die Fori Aragonum, das entsprechend der dortigen Gerichtssprache lateinische Gegenstück zur kastilischen Recopilación. Auch für die Überseegebiete war eine solche Sammlung in Auftrag gegeben. Bis zum Ende von Philipps Regierungszeit war eine solche Sammlung abgeschlossen, die 1596 anonym publiziert, aber nicht verkündet wurde.16 Im 17. Jahrhundert 13 Anthony Pagden, Spanish Imperialism and the Political Imagination. Studies in European and Spanish-American Social and Political Theory 1513 – 1830, New Haven, London 1990; ders., Lords of all the World. Ideologies of Empire in Spain, Britain and France c.1500 – c.1800, New Haven, London 1995; James Muldoon, Empire and Order. The Concept of Empire. 800 – 1800, Basingstoke, London, New York 1999; Lara Vilà i Tomàs, Epica e imperio. Imitación virgiliana y propaganda política en la épica española del siglo XVI, Barcelona 2001; Barbara Simerka, Discourses of Empire. Counter-Epic literature in Early Modern Spain, Pennsylvania University Press 2003; Elliott, Empires (FN 3); auch David Brading, The First America: The Spanish monarchy, Creole patriots and the Liberal state. 1492 – 1867, Cambridge 1991, behandelt diese Frage in weniger prononcierter Form. 14 Vgl. z. B. Peer Schmidt, Felipe II – „Emperador“ de las Indias? La recepción de un nuevo continente en la corte española, in: Sonja M. Steckbauer / Günther Maihold (Hrsg.), Historia, literatura, política. Articulando las relaciones entre Europa y América Latina. Actas del simposio en honor de Karl Kohut. Berlín, 23 -24 de octubre de 2003, Frankfurt am Main, Madrid 2004, S. 29 – 42. 15 Vgl. Horst Pietschmann, Das koloniale Mexiko als Kaiserreich? Anmerkungen zu einem Forschungsproblem, in: Plus Ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, hrsg. von Friedrich Edelmayer, Martina Fuchs, Georg Heilingsetzer und Peter Rauscher, Münster 2008, S. 488 – 510. 16 Cedulario Indiano, recopilado por Diego de Encinas, Oficial Mayor de la Escribanía de Cámara del Consejo Supremo y Real de las Indias. Estudio e índices por el Doctor Don Alfonso García Gallo, 4 Bde., Faksimile, Madrid 1945.
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wurden die Arbeiten erneut in Angriff genommen und bis 1638 eine Recopilación de las Indias17 fertig gestellt, aber weder in Kraft gesetzt noch veröffentlicht.18 Sollte mit der vagen Bezeichnung dieser Texte das Problem des Status der Überseegebiete angesprochen sein? 1680 schließlich setzt Karl II. die Recopilación de Leyes de los Reynos de las Indias in Kraft, die ein Jahr später gedruckt in Hispanoamerika verteilt wird.19 Für den Allgemeinhistoriker verdeutlicht allein der Titel dieses Gesetzeswerkes den Unterschied zu den beiden Vorgängern, hier werden die hispanoamerikanischen Gebiete der Krone uneingeschränkt als Reinos – Königreiche – bezeichnet und zwar in einer als Leyes bezeichneten Gesetzessammlung, vergleichbar derjenigen, die bereits Philipp II. für Kastilien in Kraft gesetzt hatte. In einem Gesetzeswerk mit grundgesetzlichem Charakter – leges haben in römischrechtlicher Tradition einen höheren Rang als königliche Einzelanweisungen, welcher Form auch immer – wurde nun erstmals der Charakter von Königreichen anerkannt und zumindest die Gebiete in Amerika, die diesen Rang hatten, den spanischen Königreichen gleichgestellt.20 Die einschlägige Rechtsgeschichte, die sich ohnedies nie mit dem Imperiumsproblem befaßt hatte, hat viel herumgerätselt, warum diese Gesetzessammlung ungeachtet ihrer Vorläufer erst so spät und dann ausgerechnet von dem als krank und schwach angesehenen Karl II. erlassen wurde. Vieles deutet darauf hin, daß es sehr politische Gründe waren, die diese Maßnahme auslösten, waren doch wenige Jahre zuvor die ersten – ge17 Antonio de León Pinelo, Recopilación de las Indias. Edición y estudio preliminar de Ismael Sánchez Bella, 3 Bde., México 1992. 18 Zur Geschichte dieses Gesetzeswerkes vgl. Juan Manzano Manzano, Historia de las Recopilaciones de las Indias, 2 Bde., Madrid 1952 – 1956. 19 Recopilación de las Leyes de los Reynos de las Indias. Mandadas imprimir, y publicar por la Magestad Católica del Rey Don Carlos II., Nuestro Señor, 4 Bde., Faksimile, Madrid 1973. – Interessant das zeitgenössische Frontispiz: ein von drei Engeln gehaltener Bilderahmen, in dem die bekrönten Säulen des Herkules mit dem Motto Karls V., Plus Ultra, einen Blick aufs Meer freigeben, auf dem ein Dreimaster gegen den Wind ankreuzt, über dem das kastilische Wappen mit dem Kennzeichen des Goldenen Vliesses, bekrönt von einer Bügelkrone, die Bildmitte bildet. – Die zumindest theoretisch erforderliche Konsequenz, diese Königreiche mit eigenen Ständeversammlungen auszustatten oder sie zumindest an den kastilischen Cortes zu beteiligen, wurde freilich in der Recopilación nicht gezogen. 20 Nicht alle Gebiete werden als Reinos angesprochen, da es daneben auch weiterhin Provincias gibt. Die Kriterien, denen zufolge die beiden Bezeichnungen benutzt werden, bleiben unklar. Sie deuten mehr auf den Verlauf und die Form der Landnahme im 16. Jahrhundert als auf die institutionelle Ordnung des 17. Jahrhunderts hin. Zwar finden sich in den meisten Reinos königliche Obergerichte mit dem Recht zur Führung des königlichen Siegels – Audiencia y Chancillería – oder einfache Audiencias, aber es finden sich durchaus auch Reinos ohne entsprechende Institutionen neben Provincias. Letztere sind jedoch offenbar die Gebiete, in denen die Kolonisation am wenigsten fortgeschritten war. Alle diese Gebiete sind jedoch in unterschiedlicher Weise den beiden Vizekönigen in Lima und México zugeordnet.
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heimen – Teilungspläne für die spanische Monarchie zwischen Paris und Wien vereinbart worden, von denen ungeachtet aller Geheimhaltung sicherlich Kunde nach Madrid gedrungen sein wird. Der Erhalt der hispanoamerikanischen Besitzungen wurde in Madrid aber als grundlegend dafür angesehen, daß Spanien auch im Falle eines Dynastiewechsels in Europa noch eine politische Rolle würde spielen können. Zudem waren an diesen Gebieten schon aufgrund ihres Edelmetallreichtums die europäischen Großmächte durchweg interessiert.21 Es galt also, alles zu unternehmen, um die Verbindung zwischen Hispanoamerika und dem Mutterland zu erhalten, selbst auf die Gefahr hin, durch die Aufwertung der Überseegebiete dem Nachfolger Karls II. eine schwere politische Hypothek aufzubürden. Diese bestand vor allem darin, daß die Gesetzessammlung entsprechend der habsburgischen Herrschaftstradition das Prinzip des rechtlich verfaßten Personenverbandsstaats gesetzlich verankerte. Demzufolge wurde Herrschaft in erster Linie über ständisch verfaßte Vasallen ausgeübt, die über Besiedlung und Besitz das beanspruchte Territorium definierten. Bis dahin waren nur die Grenzen zu Frankreich zu definieren gewesen, bzw. die Herrschaft über einzelne Inseln in Amerika vertraglich zu regeln. Die Dynastie der Bourbonen sollte diese hierarchische Ordnung insofern ändern, als sie Herrschaft über ein Territorium anstreben sollte, auf dem die verschiedensten Vasallen unterschiedlichen ethnischen und ständischen Status lebten. Diese Herrschaftskonzeption war zugleich untrennbar mit dem Merkantilismus Colbert’scher Prägung verbunden, mehr noch, sie war die Voraussetzung für eine merkantilistische Politik. Bereits während des Erfolgekrieges22 und verstärkt nach dessen Abschluß in den Friedensverträgen von 1714 / 5 ergriff Philipp V. einschneidende, die Verfassungsordnung Spaniens drastisch verändernde Maßnahmen. Hatte man schon während des Krieges in den Gebieten, in denen Truppen operier21 Schon im Verlauf des 16. Jahrhunderts war die Abfahrt und die Ankunft der beiden spanischen Flotten nach Amerika ein Ereignis, das nachrichtlich an alle Fürstenhöfe schnellstens übermittelt und dort aufmerksam registriert wurde; vgl. Renate Pieper, Die Vermittlung einer Neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des Habsburgischen Imperiums 1493 – 1598, Mainz 2000. 1702 schrieb ein weit herumgekommener Spanier dann im Dienste Ludwig XIV. mehrere umfangreiche Texte über die hispanoamerikanischen Gebiete und betonte deren Reichtum, vgl. Francisco de Seijas y Lobera, Gobierno militar y político del reino imperial de la Nueva España (1702). Estudio, transcripción y notas de Pablo Emilio Pérez-Mallaína Bueno, México 1986. Darin betonte der Verfasser, daß der Vizekönig von Neuspanien über weitaus mehr Geld verfügen könne als jeder andere europäische Herrscher. Auch wenn dies übertrieben sein mag, so gibt es parallel dazu unabhängige Zeugnisse, die belegen, daß ein Vizekönig nach 5 oder 6 Jahren von dort mit eigenen Einnahmen von 1 Million Pesos und mehr nach Spanien zurückkehren konnte. 22 Zum Erbfolgekrieg in Spanien vgl. Henry Kamen, The War of Succession in Spain, 1700 – 1715, London 1969.
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ten oder stationiert waren, Intendanturen mit der Zuordnung von Jurisdiktionsgebieten, als Provinzen bezeichnet, eingerichtet23 – eine Maßnahme, die danach schnell auf ganz Spanien mit Ausnahme von Navarra und den Baskischen Provinzen24 ausgedehnt wurde –, so erfolgten nach dem Friedensschluß auch an der Spitze der Monarchie wesentliche Änderungen. Mit den sogenannten Decretos de Nueva Planta wurden die Reiche der Krone von Aragón „gleichgeschaltet“, das heißt ihrer überkommenen Verwaltungsordnung verlustig erklärt und kastilischem Verwaltungsrecht unterstellt. Die bis dahin in Zaragoza, Barcelona und Valencia die Regierung leitenden Vizekönige wurden abgeschafft und jeweils durch einen Generalkapitän und Gouverneur ersetzt. Zugleich mit der Rückstufung des Ranges der Regenten erfolgte die Einführung von Intendanturen des kastilischen Steuersystems sowie die Abschaffung der Zollgrenzen zwischen den Reichsteilen.25 Die Hauptstädte der drei Teilreiche erhielten Sitz und Stimme bei den kastilischen Cortes – Versammlungen, die freilich nur noch bei Änderungen der Thronfolgeordnung durch die Krone einberufen wurden. Parallel dazu organisierte die Krone 1715 die Zentralverwaltung der Monarchie durch die Einrichtung der Secretarías de Estado y del Despacho Universal de . . . (es folgte der Name des Geschäftsbereichs), Vorläufern der modernen Staatsministerien, um.26 Deren Zahl schwankte, aber schon bald hatten sich das Sekretariat für Außenbeziehungen, Primera Secretaría de Estado genannt und die Funktionen eines Premierministers ausübend, das Sekretariat für Justiz, das für Finanzen und Kriegswesen
23 Dies geschah durch Fixierung einer Hauptstadt mit Sitz des Beamten und die Zuordnung von Munizipaldistrikten, Corregimientos. Zu den gesetzlichen Grundlagen dieser das ganze 18. Jahrhundert anhaltenden Reformen der Provinzverwaltung vgl. Gisela Morazzani de Pérez Enciso, La Intendencia en España y en América. Caracas 1966; mit Schwerpunkt auf Neuspanien vgl. Pietschmann, Die Einführung (FN 7), und folgende Überblicksdarstellung: ders., Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart 1980. 24 Wohl aufgrund der massiven Unterstützung, die Philipp V. in Nordspanien erfahren hatte, blieben diese Gebiete von den Maßnahmen zur Territorialisierung der Verwaltung ausgenommen. 25 Vgl. Fabrice Abbad, Didier Ozanam, Les intendants espagnols du XVIIIe siècle, Madrid 1992. 26 Zur Reform der spanischen Zentralverwaltung im 18. Jahrhundert vgl. José Antonio Escudero, Los secretarios de Estado y del despacho (1474 – 1724), 4 Bde., Madrid 1969; die überraschende Datierung verweist auf die Herkunft dieser Sekretäre vom königlichen Rat; ders., Administración y Estado en la España moderna, 2. Aufl. Valladolid 2002; ders., Los orígenes del Consejo de Ministros en España: la junta suprema de estado, Madrid 1979, eine Untersuchung, die die Entstehung dieses 1789 auf Betreiben des Grafen von Floridablanca errichteten Vorläufers des Ministerrates verfolgt. Für das Sekretariat der Indien ist besonders ergiebig Gildas Bernard, Le Secrétariat d’Etat et le Conseil Espagnol des Indes (1700 – 1808), Genf, Paris 1972.
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und das für Marine mit Indien herausgebildet. Diese bald mit diversen Unterabteilungen ausgestatteten Sekretäre erledigten nunmehr die Geschäfte direkt mit dem König, während die überkommenen Ratsbehörden mehr und mehr auf ihre Funktion als beratende Gremien und oberste Gerichtsbehörden beschränkt wurden. Wesentlich an dieser Maßnahme ist vor allem gewesen, daß mit ihrer Einrichtung nicht nur schrittweise die alten Ratsbehörden mit ihrer auf juristische Einzelfallprüfung ausgerichteten Arbeitsweise zurückgedrängt wurden und an Einfluß verloren, sondern die keine Gerichtsverfahren betreffenden Angelegenheiten über diese Minister exekutiv mit dem König verhandelt, entschieden und auf königliche Anweisung – real órden – den untergebenen Dienststellen mitgeteilt wurden. Parallel dazu bemühte sich die Krone schrittweise, den Dienstweg in der Verwaltung durchzusetzen. War nach dem habsburgischen System zumindest theoretisch jede noch so entfernte Person oder Institution berechtigt, sich direkt an den König zu wenden – selbst wenn es ein Jahrzehnt dauern konnte, bevor eine Antwort kam27 –, so wurden solche Fälle nun entweder auf den ordentlichen Gerichtsweg verwiesen oder nach Einholung entsprechender Informationen über die Verwaltungshierarchie direkt entschieden. Die Distanz zum Königtum als Quelle des Rechts wurde so mit dem geographischen Abstand des Beschwerdeführenden größer und der Instanzenweg länger. Für die politisch bewußten Institutionen und Persönlichkeiten in Übersee dürfte zudem die Zuordnung der amerikanischen Gebiete zum Marineministerium als Zurücksetzung gegenüber dem Mutterland angesehen worden sein. Man hat vor allem die Maßnahmen gegenüber den ehemaligen Reichen der Krone von Aragón lange Zeit als „Bestrafung“ derselben aufgrund ihrer Parteinahme für den habsburgischen Thronprätendenten interpretiert und die Gründung der Ministerien als Sanktion dafür bezeichnet, daß die alten Ratsbehörden tendenziell überwiegend ebenfalls dem Habsburger zugeneigt waren. Dies mag vielleicht ein Faktor zur Beschleunigung und Rechtfertigung dieser Reformschritte gewesen sein, tatsächlich erwiesen sie sich jedoch schon bald aufgrund der folgenden Maßnahmen als eine Vorwegnahme der von der neuen Dynastie verfolgten langfristigen Politik zur administrativen Umstrukturierung der spanischen Monarchie. Diesen Maßnahmen folgten schon bald ergänzende Reformen28, wie die Über-
27 Diese Vorgehensweise konnte jeweils vor Ort aufschiebende Wirkung haben und wurde oft zur Verfahrensverzögerung genutzt. 28 Eine gute Übersicht über die Entwicklungen im 18. Jahrhundert bietet John Lynch, Bourbon Spain. 1700 – 1808, London 1989; knapper Horst Pietschmann, Spanien unter bourbonischer Herrschaft: Vom Erbfolgekrieg über die Errichtung des Territorialstaates zur Nation, in: Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann, Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. 4., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2005, S. 176 – 237.
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nahme der gesamten Finanzverwaltung und Steuereinziehung in staatliche Verwaltung und deren Unterstellung unter die neuen Provinz- und Heeresintendanturen29, der Beginn des Aufbaus eines Provinzialmilizsystems auf der Grundlage der Musterung und Rekrutierung der nichtadeligen männlichen Bevölkerung mit dem Ziel der Schaffung einer Heeresreserve30 und die Reorganisation der spanischen Kriegsmarine, verbunden mit der Erfassung der männlichen Küstenbevölkerung zu deren Mobilisierung im Kriegsfall.31 Nach und nach folgte den Militär- und Marinereformen auch eine Politik, die Söhne des Adels für die Offizierslaufbahn zu gewinnen und durch die Disziplinierung und Uniformierung der Armee, die Unterstellung von deren Angehörigen unter die Militärgerichtsbarkeit und die Schaffung professioneller Ausbildungszentren Anreize zum Eintritt in die Offizierslaufbahn und den Dienst in Armee und Marine zu schaffen. Die mittleren und höheren Ränge unter den Absolventen der Militärlaufbahn wurden zunehmend mit den verschiedensten Regierungsfunktionen in Spanien und in Amerika betraut, so daß man für den weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts auch von einer Militarisierung nicht nur der Verwaltung, sondern auch des öffentlichen Lebens gesprochen hat. Karl III. ordnete bald nach Regierungsantritt an, daß in der ganzen Monarchie an den Trauertagen zu Anfang November feierliche Messen für alle Angehörigen des Militärs gelesen werden sollten, die je in Kriegen für Spanien gefallen seien. Viele der aus diesen Anlässen gehaltenen Predigten sind in der Folge auch gedruckt worden. Parallel dazu erfolgte die Gründung des „Orden de Carlos III“, eines Ordens für zivile Verdienste, dem neben im öffentlichen Leben verdienten Militärs auch Juristen, Gelehrte, Kaufleute, Geistliche – kurz: alle durch ihr Engagement in den verschiedensten Lebensbereichen hervortretende Untertanen – angehören konnten. Kurz nach Regierungsantritt und noch während des Erbfolgekrieges hatte Philipp V. eine weitere Front eröffnet, nämlich sich und seine Regierung in Auseinandersetzungen mit der römischen Kurie und dem spanischen hohen Klerus verstrickt. 1707 forderte der König in den von ihm kontrollierten Gebieten den Klerus zur Zahlung von Subsidien auf. Dieser lehnte dies mit dem Hinweis darauf ab, daß dazu die Bewilligung des Papsttums erforderlich sei.32 Papst Clemens XI., der sich in den Erbfolgekrieg 29 Miguel Artola, La Hacienda del Antiguo Régimen, Madrid 1982; Renate Pieper, Die spanischen Kronfinanzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1753 – 1788). Ökonomische und soziale Auswirkungen, Stuttgart 1988. 30 Vgl. Johann Hellwege, Die spanischen Provinzialmilizen im 18. Jahrhundert, Boppard am Rhein 1969. 31 Rolf Mühlmann, Die Reorganisation der spanischen Kriegsmarine im 18. Jahrhundert, Köln, Wien 1975.
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nicht einmischen wollte, bestätigte diese Sicht des spanischen Klerus. Philipp setzte nun entgegen dem Rat Ludwigs XIV. auf Eskalation und ernannte in Valencia Melchor Rafael de Macanaz zum Juez de Confiscaciones, ein ad hoc geschaffenes Amt zur Eintreibung der gewünschten Subsidien. Dieser verkündete im Dezember des gleichen Jahres ein Dekret, in dem der Klerus aufgefordert wurde, seine Güter zu deklarieren. Im weiteren Verlauf des Konfliktes brach Philipp V. 1709 die Beziehungen zum Papsttum ab und schloß die Nuntiatur in Madrid. Zur Vorbereitung von Vermittlungsgesprächen in Paris, die der Papst und Ludwig XIV. anstrebten, ließ Philipp von Macanaz, inzwischen Kronanwalt des Kastilienrates, 1713 ein Gutachten über die Mißbräuche kurialer Einflußnahme in Spanien anfertigen. Darin warf Macanaz so grundsätzliche Fragen wie die Akkumulation von Kirchenbesitz, die viel zu große Zahl von Klöstern, kirchlichen Einrichtungen und des Klerus, die Immunität der kirchlichen Einrichtungen, den exzessiven Abfluß von Finanzmitteln nach Rom usw. auf, die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts allgemein an Bedeutung gewinnen sollten. Zugleich beklagte das Gutachten, daß sich die Spanier von Rom genauso ausgebeutet fühlten wie die Indios in Amerika durch die dortigen Eliten. Damit begegnete erstmals in regierungsamtlichen Texten eine zumindest unterschwellig das ganze Jahrhundert über bei Europaspaniern zu beobachtende fixe Idee, nämlich die der Ausbeutung der Indios durch die Amerikaspanier, verbunden mit der Vorstellung selbst von anderen ausgebeutet zu werden. Gegenüber Amerika schlug sich dies in einer latent antikreolischen Politik der Krone nieder und ungeachtet der Arrangements mit Rom behielt man an der Spitze des spanischen Staates ein Mißtrauen gegenüber kirchlichen Institutionen und dem Klerus bei. In der breiteren Volksmeinung setzte sich dagegen mehr und mehr eine gegen Frankreich und die Franzosen gerichtete Haltung durch.33 Früh im 18. Jahrhundert begann sich so eine tiefe
32 Für die spanischen Habsburger war es meist kein Problem, die päpstliche Bewilligung für solche Zugriffe auf den Kirchenbesitz zu bekommen, da einmal Neapel für die Getreideversorgung des Kirchenstaates bedeutsam war und zudem die Könige das Gros der Kardinäle durch Subsidienzahlungen für sich eingenommen hatten, vgl. Thomas James Dandelet, Spanish Rome. 1500 – 1700. New Haven, London 2001. 33 Ungeachtet der zahlreichen Studien, die den Einfluß der französischen Aufklärung auf die spanischen Eliten belegen, wuchs auf der Ebene der breiteren Bevölkerung das Ressentiment gegen Frankreich, wie z. B. 1780 / 81 der spanische Kommissar zur Koordinierung der gemeinsamen Militäraktionen mit Frankreich im Unabhängigkeitskrieg der USA in der Karibik mehrfach bekundete, z. B. wenn er feststellte, daß spanische und französische Truppen durchweg auf Distanz zu halten wären, da gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen beiden an der Tagesordnung seien, vgl. Francisco de Saavedra, Los Decenios (Autobiografía de un Sevillano de la Ilustración). Transcripción, introducción y notas por Francisco Morales Padrón (= Colección Clásicos Sevillanos, Bd. 10), Sevilla 1995, passim. Dem Autor, später Finanzminister unter Karl IV., der die Säkularisierung des Kirchenbesitzes einleitete, dürfte wohl auch der Tatbestand bewusst gewesen sein, daß die spanische Wirtschaft weithin von
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innere Spaltung Spaniens abzuzeichnen: einer Frankreich eng verbundenen Dynastie und der sie stützenden politischen Elite stand eine wachsende antifranzösische Gesinnung in der Bevölkerung gegenüber, die in vieler Hinsicht die Konstellationen von 1808 ff. vorwegnahm. 1717 kam es schließlich zu einer Wiederannäherung zwischen Philipp V. und der Kurie und zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen auf der Basis des status quo ante. Macanaz wurde aus seinem Amt entfernt und gefangen gesetzt. Hintergrund für die veränderte Haltung war die Eheschließung Philipps V. mit Elisabeth Farnese, die nun bald die Italienpolitik in den Vordergrund treten ließ und anstelle der Konfrontation mit dem Kirchenstaat und dem Papst den Wunsch Oberhand gewinnen ließen, selbst wieder in Italien Einfluß zu gewinnen. Die Söhne aus Philipps Ehe mit Elisabeth Farnese boten dazu ein dynastisches Vehikel. Diese Konstellation trug denn später auch dazu, daß der älteste Sohn aus dieser Ehe, Karl, ab 1730 König in Neapel wurde34 und so dazu beitrug, daß sein älterer Stiefbruder, König Ferdinand VI., 1753 durch ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl die offen gebliebenen Fragen im Verhältnis von Staat und Kirche beizulegen vermochte. Zwar begann die Krone schon 1717 mit der Ausweitung der Reformmaßnahmen auf Amerika und befahl die Abschaffung des Ämterhandels, errichtete vorübergehend ein neues Vizekönigreich in Neugranada, dem heutigen Kolombien, usw., doch schon 1721 brach man die Ausweitung der Reformpolitik auf Amerika ab, um sie erst gegen Ende der Regierungszeit Philipps V., etwa seit Mitte der 1740er Jahre, wieder entschlossener voranzutreiben. Abgesehen von der Eheschließung mit Elisabeth Farnese und dem Konflikt mit der Kurie hatte zunächst auch aus anderen Gründen die Ostflanke der Monarchie politisch Vorrang, galt es doch die von England besetzten Balearen und Gibraltar zurückzugewinnen und dies mit einem Entgegenkommen gegenüber den mannigfach mit dem westlichen Mittelmeerraum verknüpften Eliten Kataloniens und Valencias, ja, selbst Aragóns, zu verbinden. Diese mußten nach deren Niederlage im Erbfolgekrieg und der darauf folgenden Beseitigung ihrer angestammten Privilegien sowie im Gefolge der damit verbundenen Sprachpolitik zur Durchsetzung des Kastilischen dringend mit der neuen Dynastie ausgesöhnt werden. Zudem bedurfte es auch im restlichen Spanien einer ausgleichenden Politik, nachdem die Reformmaßnahmen und der Konflikt mit der römischen Kurie und dem Klerus sowie die Dominanz von Ausländern – zuerst Franzosen, danach Italiener – und Nordspaniern in der Leitung der Politik latent zu Akzeptanzproblemen auch in anderen Landesteilen geführt hatten.35 Frankreich dominiert war; vgl. Michel Zylberberg, Une si douce domination. Les milieux d’affaires français et l’Espagne vers 1780 – 1808, Paris 1993. 34 Vgl. dazu Gittermann, Die Ökonomisierung (FN 2).
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Neben der nachdrücklicher betriebenen Politik im westlichen Mittelmeerraum, die man durch die europäische Politik abzusichern suchte, erlangte seit den 1720er Jahren zusehends auch die Flottenpolitik im Atlantik an Bedeutung. Man lockerte das starre System der beiden jährlich zwischen Spanien und Amerika verkehrenden Flotten und begünstigte die Randprovinzen wie Buenos Aires, Venezuela, Cuba mit der schrittweise erfolgenden Gewährung direkter Schiffsverbindungen mit dem Mutterland. Damit sollte einerseits dem umfangreichen Schmuggelhandel vorgebeugt und zugleich aber auch deren direkte oder indirekte Kontrolle durch die beiden amerikanischen Metropolen geschwächt werden. Seit den 1730er Jahren begann die Politik der Errichtung privilegierter Monopolhandelskompanien, die von Spanien aus den Verkehr und den Warenaustausch mit solchen Randprovinzen vor allem in der Karibik kontrollieren und auf das Mutterland ausrichten sollten. Die Forschung hatte lange Zeit übersehen, daß diese Handelskompanien nicht nur Ausdruck einer merkantilistischen, das Mutterland begünstigenden Handelspolitik waren, sondern zugleich auch das Ziel hatten, neben dem ausländischen Schmuggelhandel die wirtschaftliche – und damit verbunden auch eine gewisse politische – Kontrolle dieser Gebiete durch die vizeköniglichen Metropolen zu brechen. Diese Kompanien waren ein wesentlicher Teil der schon erwähnten „zweiten Conquista“, auf den nach Ablauf einiger Jahre oder Jahrzehnte die Auflösung der Kompanien und die Einsetzung eines direkt der Metropole unterstellten Heeresund Finanzintendanten folgte. Diese Politik bedeutete mithin politisch eine schrittweise Einschränkung des Kompetenz- und Machtbereichs der beiden Vizekönige in Lima und México. Der Umstand, daß die Krone ungeachtet der Abschaffung der Vizekönige in der Krone Aragóns für Amerika weiterhin Vizekönige ernannte, ist zusammenhängend nicht untersucht. Dies dürfte aber einerseits als eine indirekte Anerkennung der mit der Recopilación de las leyes de Indias geschaffenen Rechtslage anzusehen sein, andererseits aber auch aus dem Wissen um die Risiken massiver Veränderungen der Rechtsverhältnisse in Amerika zu erklären sein. Schon der erste von Philipp V. ernannte Vizekönig in México, der Herzog von Alburquerque, opponierte gegen Maßnahmen der Krone.36 Die nach Amerika entsandten Vizekönige sahen sich nämlich in ihren Hauptstädten mit einem komplizierten und einflußreichen Interessengeflecht konfrontiert und nicht mit einer sich gegenüber der Metropole 35 Daneben waren auch ansehnliche Kontingente von spanisch gesonnenen Personen aus den Niederlanden, Italien, katholische Iren usw. während und nach dem Erbfolgekrieg nach Spanien gelangt, wie allein die „plurinationale“ Zusammensetzung der königlichen Garden erkennen läßt. Nähere Untersuchungen dieses Phänomens stehen freilich noch aus. 36 Vgl. Christoph Rosenmüller, Patrons, Partisans, and Palace Intrigues. The Court Society of Colonial Mexico 1702 – 1710, Calgary 2008, S. 127 ff.
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resignierend in die aus Europa eintreffenden Anweisungen schickenden Kolonialgesellschaft. Erst ein Jahrzehnt zuvor unter dem letzten Herrscher aus dem Hause Habsburg hatte ein von elitären Interessengruppen angestachelter Mob den vizeköniglichen Palast gestürmt. Zudem verfolgten die dem hohen Adel entstammenden Vizekönige durchaus auch eigene, meist materielle Interessen und beharrten auf ihrem Ansehen als alter ego des Königs, welches zugleich unverzichtbar war, um ihren Regierungsaufgaben nachkommen zu können. Im Gefolge der Politik der Krone zur Einschränkung der Einflußbereiche der beiden vizeköniglichen Hauptstädte entwikkelten zudem viele der Amtsinhaber Abwehrstrategien gegenüber der Politik der Krone, zu denen unter anderem die Taktik gehörte, die Bürokratisierungs- und Zentralisierungsstrategien der Krone zum Ausbau des unter eigener Kontrolle stehenden Verwaltungsapparates in den vizeköniglichen Hauptstädten zu nutzen. In den beiden Hauptstädten Lima und México konzentrierten sich daher im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr neue Behörden und Institutionen, die formell den Vizekönigen unterstanden, de facto aber auch ihren Anteil an der Machtausübung einforderten. Die vizeköniglichen Hofhaltungen entwickelten sich mithin zu Parallelgesellschaften des Madrider Hofes, in denen Konflikte häufig über symbolische Politik ausgetragen wurde. 1746 kam mit dem ersten Grafen von Revillagigedo in México ein neuer Vizekönig ins Amt, der einer unter der neuen Dynastie im Militär aufgestiegenen Familie angehörte. Dieser sandte in einer völlig nebensächlichen Angelegenheit dem Stadtrat – Cabildo – eine Anweisung – órden. Der Rat war empört über die Form des vizeköniglichen Vorgehens und beschloß, zwei Mitglieder des Rates zum Vizekönig zu senden, um ihm zu erläutern, daß die Vizekönige traditionell dem Stadtrat als Vertreter des Gemeinwesens keine schriftlichen Anweisungen geben, sondern ein Billet – billete – sandten, ähnlich wie die Vizekönige auch dem Erzbischof ihre Wünsche als Bitte und Auftrag – ruego y encargo – übermittelten.37 Betrachtet man nur das Frontispiz der seit Mitte der 1720er Jahre erscheinenden Gaceta de México, einer monatlich mit Lizenz von Vizekönig und Erzbistum erscheinenden Zeitung, so stellt man fest, daß diese nahezu jeden Monat mit einem graphischen Symbol und Texterläuterungen aus der Kultur des Aztekenreiches erschien. Da das Blatt natürlich auch nach Madrid gesandt wurde, wußte man dort sehr genau, welchen Sinnes die kreolischen Eliten der Hauptstadt des Vizekönigreiches waren. Der genannte Vizekönig hatte denn auch mit den ersten einschneidenden Reformen in Neuspanien zu beginnen, in einer Zeit, in der die Krone gegenüber Lima einen ersten ,Frontalangriff‘ 37 Vgl. dazu Horst Pietschmann, Antecedentes políticos de México 1808: Estado territorial, Estado novohispano, crisis política y desorganización constitucional, in: Actas del Coloquio „México 1808 – 1821, El Colegio de México, 8 – 10 de noviembre de 2007“, im Druck.
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fuhr und 1748 definitiv das Vizekönigreich Neugranada mit der Hauptstadt Bogotá einrichtete, dessen Territorium zuvor größtenteils Lima unterstanden hatte. Zugleich wurde allenthalben der Ämterhandel abgeschafft, eine vor allem die Distriktsbeamtenschaft betreffende Maßnahme, deren Ämter von Angehörigen der Kaufmannselite oft erstanden wurden, um sich zum einen vor unliebsamen fremden Obrigkeiten zu schützen und zum andern über eine Art Verlagssystem Handel und Produktion zu kontrollieren. Als nun gleichzeitig von der Krone angeordnet wurde, den Warenhandel dieser Distriktsbeamten zu kontingentieren, hatte Vizekönig Revillagigedo einen umfangreichen Aktenvorgang mit den Erhebungen zu diesem Handel in den einzelnen Jurisdiktionen anlegen lassen. Als es daran ging, darüber nach Madrid zu berichten, war der Aktenvorgang verschwunden und blieb dies über Jahre hinweg, bis die Gefahr vorüber war. Unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses wurde der Aktenvorgang später zurückgegeben. In Peru wurde diese Kontingentierung zwar vorgenommen, erwies sich aber als weitgehend nutzlos.38 Als Vizekönig Revillagigedo 1749 aus Madrid gefragt wurde, ob es angebracht sei, in Neuspanien das Intendantensystem einzuführen, warnte er dringend vor einer solchen Maßnahme, da die andersartigen Verhältnisse ein anderes Regierungssystem erforderten. Gleichwohl gelang es ihm in den Folgejahren, die Einziehung der bis dahin verpachteten indirekten Steuern in staatliche Verwaltung zu übernehmen, eine Maßnahme, die jedenfalls zunächst auch viele Posten in der Verwaltung schuf und das politische Gewicht der Hauptstadt México gegenüber Madrid stärkte. Andererseits verstärkte das zunehmende politische Gewicht der vizeköniglichen Hauptstädte auch den Gegensatz zu den von diesen aus regierten Provinzen, da diese von den Zentren immer abhängiger wurden. Dies ging soweit, daß Abgesandte von Städten des Binnenlandes zum Vizekönig, von jeweils zwei Mitgliedern des Stadtrates von México zur Audienz begleitet wurden. Der Rat der Hauptstadt beanspruchte dieses Recht aufgrund der schon von Karl V. ausgesprochenen Erhebung zur „ersten Stadt Neuspaniens“. Die Unabhängigkeitsbewegungen bestätigen aus der Rückschau den Gegensatz der vizeköniglichen Metropolen zu ihrem näheren und weiteren Umfeld, waren es doch entweder abgelegenere Binnenprovinzen, wie in Neuspanien, oder hispanoamerikanische Randgebiete, wie Venezuela und Buenos Aires39, in denen die Unabhängigkeitsbewegungen ausbrachen.
38 Vgl. dazu Horst Pietschmann, Alcaldes Mayores, Corregidores und Subdelegados. Zum Problem der Distriktsbeamtenschaft im Vizekönigreich Neuspanien, in: ders., Mexiko zwischen Reform und Revolution. Vom bourbonischen Zeitalter zur Unabhängigkeit, hrsg. von Jochen Meißner, Renate Pieper und Peer Schmidt, Stuttgart 2000, S. 1 – 98. 39 Buenos Aires wurde zwar 1776 zur Hauptstadt eines neuen Vizekönigreiches erhoben, doch war das Gebiet seinerzeit noch eine Frontierregion, die nur über einen
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In den hispanoamerikanischen Metropolen ließen sich 1808, nach der von Napoleon erzwungenen Abdankung Karls IV. und seines Sohnes Ferdinand VII. allenfalls Juntabewegungen beobachten, die eifrig auf Wahrung der Legitimität bedacht waren und über zahlreiche andere Möglichkeiten verfügten, Opposition gegenüber der Metropole Spanien zum Ausdruck zu bringen, da ihnen allein mit der Übersendung der Fiskaleinnahmen ein Druckmittel zur Verfügung stand, das selbst gegen den Willen der Vizekönige in vielfältiger Form genutzt werden konnte.40 Ähnlich wie sich im Mutterland im Zuge der Reformpolitik mehr und mehr ein Gegensatz zwischen dem Hof und dem Umland aufzubauen begann, findet sich auch in Hispanoamerika ein wachsender Gegensatz zwischen den vizeköniglichen Metropolen und den nachgeordneten Provinzen. Es bedurfte hochrangiger und politisch erfahrener Stellvertreter des Königs, um diese weiten Gebiete friedlich und Gegensätze ausgleichend zu regieren, was wohl auch der Grund dafür war, daß besonnene Nachfolger des Vizekönigs Revillagigedo vor der Einführung des Intendantensystems warnten, da die amerikanischen Gebiete nur politisch und nicht durch mehr exekutiv bürokratisch agierende Beamte regiert werden könnten. In Spanien selbst formierte sich ebenfalls Widerstand gegen die Reformpolitik vonseiten des angestammten Adels und von Teilen des Klerus – ja selbst unter den den elitären universitären Colegios Mayores entstammenden Juristen, die eine dominierende Rolle in den zentralen Ratsbehörden und den Obergerichten beiderseits des Atlantiks – den Audiencias y Chancillerías – spielten und häufig durch die im Bildungswesen dominierenden Jesuiten ausgebildet wurden. Diese Juristenelite war großenteils gegen die mehr exekutiv ausgerichteten Verwaltungspraktiken der neuen Dynastie eingestellt und verhalf oftmals Klagen gegen Regierungsmaßnahmen unter Berufung auf alte Rechtstraditionen zum Erfolg. In den Regierungsfunktionen stiegen dagegen mehr und mehr neben Militärs neuen Typs auch juristische Newcomer auf, die ihre Studien zwar an den gleichen Universitäten, aber nicht als Mitglieder der elitären Kollegien absolviert hatten. Auch im Klerus begann sich eine solche Zweiteilung in eine eher traditionalistische Fraktion und eine progressiv-regalistische, oft als jansenistisch bezeichnete Richtung abzuzeichnen. Lange Zeit hat man diese Friktionen über die Trennungslinie schmalen Landkorridor mit den älteren und traditionell auf Peru ausgerichteten Binnenprovinzen verbunden war. 40 Als die Krone beispielsweise 1766 in Neuspanien die Einführung des Provinzialmilizsystems energisch vorantrieb und der damit betraute Vizekönig Croix mit Anweisungen an den Stadtrat nicht mehr zimperlich war, unternahm der Stadtrat mit deutlicher Entschlossenheit einen weiteren Schritt der Eskalation, indem er beschloß, angesichts des Verhaltens des Vizekönigs künftig mit diesem nur noch por carta, also durch streng förmliche bürokratische Vorgehensweisen zu verkehren – man bedenke, beide agierten an dem gleichen Hauptplatz der Stadt México in höchstens 150 Meter Luftlinie Entfernung voneinander.
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der Aufklärung zu charakterisieren versucht, doch ist diese Deutung kaum haltbar, da beispielsweise der Jesuitenorden in puncto Naturphilosophie durchweg modern und progressiv ausgerichtet war, allerdings daneben stets den Repräsentativgedanken in seiner althergebrachten Form ebenso wie gewisse regionale Autonomietendenzen verfocht. Ohnedies ist die Verbreitung der Aufklärung in Spanien eine sehr von Teilen des Klerus beförderte geistige Strömung gewesen, die seit den späteren 1720er Jahren von dem Benediktinermönch Benito Feijóo in Spanien verbreitet wurde. So richtig kam sie jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Tragen. Der Beginn der Reformpolitik des Bourbonen und deren auf Territorialisierung der Herrschaft ausgerichtetes politisches Grundanliegen war weitaus stärker dem Rationalismus des späteren 17. Jahrhunderts als der Aufklärung verbunden. Diese Tendenz läßt sich auch in den vom Merkantilismus geprägten politischen Diskursen der ersten Jahrhunderthälfte erkennen, die sehr stark auf den Atlantikhandel und die Beziehungen zu den Überseegebieten abhoben. 1724 erschien das Buch des Beamten Gerónimo de Uztáriz über Theorie und Praxis des spanischen Handels, zu dem sich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zahlreiche weitere, teils gedruckte, teils ungedruckte Denkschriften zum Thema gesellten.41 An der Wende von den 1730 zu den 1740er Jahren gesellte sich auch der Finanz-, Kriegs- und Marineminister José del Campillo y Cossío zu den Autoren, die eine koloniale Komplementarität zwischen Spanien und Hispanoamerika einforderten. Spanien müsse Gewerbe und Manufakturen entwickeln, die aus Hispanoamerika mit den erforderlichen Rohstoffen beliefert werden sollten, um dann die Fertigprodukte des Mutterlandes abzunehmen. Im Gefolge dieser spanischen Diskurse wurden die amerikanischen Gebiete offen als Colonias im modernen Sinne bezeichnet. Inwieweit diese Publikationen von der Krone gesteuert wurden, um die Industrialisierungs- und Manufakturgründungspolitik der Krone abzusichern, muß dahin gestellt bleiben, entbehrt aber nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Mit der Gründung von Akademien und neuen Bildungseinrichtungen wurde die Druckerpresse zunehmend von den diese Einrichtungen kontrollierenden Reformern zur Propagierung ihrer Politik genutzt. Ebenso muß aber auch festgestellt werden, daß diese neue Sprache gegenüber den Überseegebieten dort keine freundliche Aufnahme fand und sich darauf mehr oder weniger verschlüsselte Antworten in der Publizistik der hispanoamerikanischen Metropolen finden. Der Nachfolger Philipps V., Ferdinand VI., setzte zunächst die Reformpolitik fort. Der Finanz- und Kriegsminister Marquis von Ensenada, Partei41 Vgl. dazu Enrique Fuentes Quintana (Hrsg.), Economía y economistas españoles, 2 Bde., Barcelona 1999; neuerdings auch Luis Perdices de Blas, Alfonso Sánchez Hormigo, 500 Años de Economía a través de los Libros Españoles y Portugueses – 500 Years of Economic Writing in Spanish and Portuguese, Madrid 2007 (Ausstellungskatalog).
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gänger einer engen Bindung zu Frankreich, betrieb sein umfangreiches Projekt zur Einführung einer contribución única, einer Art einheitlicher Einkommensteuer, auf der Grundlage der Ermittlung der individuellen Vermögensverhältnisse aller Untertanen. Dazu wurden umfangreiche Katastererhebungen durchgeführt. Das Projekt scheiterte aber, als sich König Ferdinand im Vorfeld des Siebenjährigen Krieges für die konsequente Neutralität entschied, Ensenada abberief und gefangen setzen ließ. Angesichts der Gemütskrankheit Ferdinands endete die Regierungszeit des kinderlosen Monarchen 1759 ohne weitere wesentliche Reformmaßnahmen. 1759 folgte ihm sein bereits seit langen Jahren in Neapel regierender Stiefbruder als Karl III. nach, trat spät noch an der Seite Frankreichs in den Siebenjährigen Krieg ein und führte Spanien an dessen Seite in die Niederlage. Der Verlust Cubas, der Philippinen und anderer Gebiete wog schwer, auch wenn im Frieden von Paris Cuba und die Philippinen von England restituiert und der Verlust Floridas durch den Erwerb Louisianas teilweise kompensiert wurden. Diese Mißerfolge zu Beginn seiner Herrschaft ließen Karl die Reformpolitik energisch wieder aufzunehmen. Ein umfangreiches Modernisierungsprogramm für die Hauptstadt Madrid und die Ausweitung der Reformmaßnahmen auf das Vizekönigreich Neuspanien stießen auf Widerstände in Übersee und provozierten 1766 einen Volksaufstand in Madrid, die den König zur Flucht aus der Hauptstadt veranlaßten. Viva el Rey, muera el mal gobierno – es lebe der König, nieder mit der schlechten Regierung – war, wie schon oft bei Unruhen und Volksaufständen in der spanischen Monarchie beiderseits des Atlantiks, der Schlachtruf der Aufrührer. Die Unruhen blieben nicht auf die Hauptstadt beschränkt, konnten in den Provinzen aber schnell erstickt werden. Nach Vermittlungsgesprächen konnte in Madrid die Ruhe um den Preis einer Umbildung des Kabinetts wiederhergestellt werden. Nach entsprechenden Untersuchungen der Vorfälle beriet der Staatsrat in geheimen Sitzungen über die zu ziehenden Konsequenzen. Der Jesuitenorden wurde als hinter den Unruhen stehende Institution ausgemacht und seine Vertreibung – wie schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor aus Portugal – aus allen Gebieten der Monarchie beschlossen. In einer generalstabsmäßig organisierten, geheim gehaltenen Aktion wurde die Vertreibung 1767 zeitgleich in Europa und Amerika durchgeführt. Seine Angehörigen wurden in den Kirchenstaat deportiert und sollten mit einer bescheidenen Rentenzahlung auf Lebenszeit abgefunden werden. In Amerika, vor allem in Neuspanien, löste die Vertreibung des in der Gesellschaft stark verwurzelten Ordens verschiedentlich Unruhen unter der indigenen Bevölkerung und auf dem flachen Land aus, die aber unter Kontrolle gebracht werden konnten. Die Enteignung der reichen Besitzungen des Ordens und deren späterer Verkauf an Interessenten aus den Regionen sowie die Überstellung der Kulturgüter an andere ortsansässige Bildungseinrichtungen vermochten den verbreiteten Unmut über die Maßnahme etwas zu dämpfen. Die gleichzeitig in Neuspanien durchgeführ-
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ten Reformmaßnahmen in Verwaltung und Kirche verschärften aber die Gegensätze latent weiter. 1772 sandte der Rat der Stadt Mexiko eine lange Eingabe an König Karl III., in dem er ganz in der Terminologie der Recopilación von 1680 die Eigenständigkeit des Reino und das daraus abzuleitende Recht, von Personen regiert zu werden, die aus Neuspanien stammten, einforderte und die Beziehungen zu Spanien dergestalt abgrenzte, daß zwischen beiden zwar eine Art geschwisterliches Verhältnis bestehe, beide aber eigenständig seien und nur dem König unterstünden. Fraglos war dies auch eine Reaktion auf die Politik der Krone, die verantwortungsvollen Positionen in der Verwaltung mit Europaspaniern zu besetzen. Zwei Jahre später wurden die Bergbaubetreiber bei ihrer Forderung nach Errichtung einer privilegierten Standesorganisation noch deutlicher. In dem langen Text weisen sie darauf hin, daß Neuspanien ohne den Bergbau und dessen Erträge nicht die Importe aus dem Mutterland bezahlen könne und dann keine Alternative haben würde, als selbst rasch eine eigene Industrie und ein Manufakturwesen aufzubauen – eine kaum verhüllte Drohung gegenüber einer europäischen Kolonialmacht und der Hinweis darauf, daß sich die Verhältnisse umzukehren begannen. Die Krone reagierte denn auch umgehend und kam dem Gesuch nach.42 Zugleich beschloß der Staatsrat 1766 freilich auch ein umfangreiches politisches Programm. Dieses sah vor, alles Mögliche zu unternehmen, um Amerika und Spanien zu einem Cuerpo unido de Nación – einem einheitlichen Nationalkörper – zu verschmelzen. Um die Bevölkerung stärker in das Reformprogramm einzubinden, propagierte die Krone nun die Bildung von lokalen bzw. regionalen patriotischen Gesellschaften – Sociedades Económicas de Amigos del País. Diese sollten sich jeweils „vor Ort“ um die Verbesserung der Wirtschaft, die Armenfürsorge, die Hebung der Bildung und ähnliche Fördermaßnahmen bemühen und durch gemeinsame Lektüre und Diskussion modernen Schrifttums geeignete Projekte entwickeln und umsetzen. Zur Lockerung der verkrusteten Strukturen in den Stadträten beiderseits des Atlantiks wurde die Einführung von Stadträten ehrenhalber und die jährliche Wahl eines procurador síndico del común – einer Art Anwalt des Gemeinwohls – angeordnet. Diese Politik war in Spanien außergewöhnlich erfolgreich. Allerorten wurden entsprechende Vereinigungen gegründet und nahmen ihre Arbeit, manche freilich nur über eine Reihe von Jahren hinweg, auf. Andere, wie die Sociedad Vascongada in den Baskischen Provinzen, bestehen bis heute. Diese Gesellschaft vermochte auch zahlreiche Mitglieder in Amerika zu gewinnen. Allein aus Neuspanien schlossen sich mehr als 500 baskischstämmige Angehörige der wirtschaftlichen Elite dieser Organisation an. In Amerika war das Echo deutlich geringer, wohl auch weil die Krone nach 42
Vgl. Pietschmann, Antecedentes políticos (FN 37).
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1776, dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges der USA sich deutlich zurückhielt, solche Vereinigungen zu erlauben. Auch die nationale Rhetorik hatte in Spanien einen großen Erfolg. Bereits zu Beginn der 1780er Jahre taucht der Begriff „la nación española“ allenthalben in den Dokumenten auf und wird mehrere Jahre vor der französischen Revolution zu einem verbreiteten Schlagwort durchaus in modernem Sinne.43 Auch die Munizipalreformen scheinen insofern von Erfolg gekrönt gewesen zu sein, als sie beiderseits des Atlantiks dazu beitrugen, die alten Eliten schrittweise aus den Stadträten zu verdrängen und zumindest teilweise durch neue Gruppierungen zu ersetzen, die als Aufsteiger freilich weniger an Althergebrachtem hingen. Schon um 1780 war man in Madrid jedenfalls ernsthaft über die Entwicklungen in Amerika besorgt und fürchtete, daß man dort ebenfalls die Unabhängigkeit anstreben würde. Nun stellte sich aber zunehmend die Frage, welche der gesellschaftlichen Gruppen die Politik bedienen sollte, um dies zu verhindern. Nach der Französischen Revolution und der Thronfolge Karls IV. diskreditierte sich freilich das Herrscherhaus zunehmend selbst, so daß nur noch die Krone – das seit Jahrhunderten immer wieder zitierte, aber materiell nicht existierende Symbol – die verschiedenen Reichsteile verband. Man hat die Verfassungsentwicklung der spanischen Monarchie unter vielen Oberbegriffen fassen wollen, unter denen natürlich alle denkbaren Varianten von Absolutismus und / oder Despotismus, bourbonischem Reformismus, Aufklärung usw. eine prominente Rolle spielten. Aber zunächst muß man einräumen, daß die Erforschung des 18. Jahrhunderts in der nachfrankistischen Zeit sich vor allem aus den Unmengen von Quellen nährte, die diese Politik hinsichtlich Verwaltung, Militär, Finanzen, Marine, Manufakturen usw. produzierte – der Verfasser schließt sich hier durchaus ein. Dieses reichhaltige Quellenmaterial ließ die Reformpolitik ungemein eindrucksvoll und sogar effektiv erscheinen. Die darunter verdeckt weiter bestehenden alten Strukturen in Bezug auf Rechtspflege, seniorialer und kirchlicher Herrschaft, Einfluß und Besitz kamen erst spät zum Vorschein, vor allem als man begann, die erste Desamortisation – wie der im Spanischen gebräuchliche Begriff für Säkularisierung lautet – gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter Karl IV. näher zu untersuchen, die ebenfalls ganz im Zeichen der Begrifflichkeit der Nation stand.44 In vielerlei Hinsicht hat die 43 Vgl. Tamar Herzog, Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America, New Haven, London 2003; José María Portillo Valdés, Revolución de nación. Orígenes de la cultura constitucional en España 1780 – 1812, Madrid 2000; zu den Bezügen zur Verfassung von Cádiz 1812 vgl. Andreas Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien, Münster 2007. 44 Vgl. Peer Schmidt, Die Privatisierung des Besitzes der Toten Hand in Spanien: die Säkularisierung unter König Karl IV. in Andalusien (1798 – 1808), Stuttgart 1990.
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Dynastie die Monarchie administrativ umgestaltet, ja, auch modernisiert. Dies erfolgte aber ohne Mitwirkung der Stände als von oben diktiert und daher zumindest am Rande selbst der überkommenen Legalität. Spätestens nach der Vertreibung der Jesuiten bekam die Dynastie daher auch Legitimitätsprobleme, in Amerika offenkundig stärker als in Spanien selbst. Bereits in den 1770er Jahren bestand daher auch seitens der Regierenden das Bedürfnis nach einem neuen Rechtskodex. Karl III. gab entsprechende Arbeiten in Auftrag, doch dauerten die Arbeiten daran circa drei Jahrzehnte. Als 1804 schließlich die Novísima Recopilación veröffentlicht wurde, interessierte sie bereits so wenig, daß auch die neueste Literatur zur spanischen Verfassungsgeschichte des napoleonischen Zeitalters sie meist nicht einmal erwähnt oder ins Quellen- und Literaturverzeichnis aufnimmt.
Die Grammatik der Gesellschaft: Perspektiven der Verfassungsgeschichten Frankreichs und Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert Von Jörn Leonhard, Freiburg I. Einleitung: Dekonstruktion von Verfassungsbildern und Vergleich von Verfassungstraditionen Verfassungstraditionen als Teil der politischen Kultur erklären sich aus historischen Prozessen.1 Begreift man Verfassung und Recht als die TeilGrammatik eines politischen Systems und einer gesellschaftlichen Ordnung mit symbolisch-integrativer Wirkung, dann werden die Bedeutungsschichten dieser Grammatik erst im Dialog zwischen Epochen und Generationen deutlich.2 Eine solche Verfassungsinterpretation widerspricht der mythischen Überhöhung einer Ursprungsverfassung und setzt an ihre Stelle die Frage nach der historischen Imprägnierung von Verfassungstraditionen und die Unterscheidung zwischen der Entstehung einer Verfassung und ihrer Dauer im Wandel der politisch-sozialen Kontexte, wie etwa der amerikanische Rechtshistoriker Bruce Ackermann in seiner Analyse des historischen Umgangs mit den Defiziten der amerikanischen Verfassung am Beginn des 19. Jahrhunderts in einer kritischen Wendung gegen die originalistische Richtung amerikanischer Verfassungsinterpreten hervorgehoben hat.3 Die folgenden Überlegungen knüpfen hier an und fragen nach den verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen und Traditionen in Frankreich und Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert in der Perspektive der Forschungsentwicklung. Beide Fälle wurden und werden noch immer als zwei 1 Vgl. Peter Brandt, Arthur Schlegelmilch und Reinhard Wend (Hrsg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, sowie Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, Berlin 2008. 2 Vgl. E. Corwin, The Constitution as Instrument and Symbol, in: The American Political Science Review 30 (1936), S. 1071 – 1085; Otfried Höffe, Aristoteles‘ „Politik“: Vorgriff auf eine liberale Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Aristoteles‘ Politik, Klassiker auslegen, Berlin 2001, S. 187 – 205, hier: S. 200; Hans Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 4. Auflage, München 2004, S. 7. 3 Vgl. Bruce Ackerman, We the People, 2 Bde., Cambridge 1991 und 1998.
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entgegengesetzte Pole einer verfassungshistorischen Typologie zitiert: So verweist man für Frankreich auf die Geschichte eines augenscheinlich permanenten Verfassungswandels, für Großbritannien auf die scheinbare Kontinuität einer ungeschriebenen historischen Verfassung bis in die Gegenwart. Symptomatisch zuspitzend sollen für beide Fälle wichtige Positionen, Zugriffe und methodische Perspektivenwechsel der Forschung nachgezeichnet werden, um vor diesem Hintergrund die Dekonstruktion überkommener Verfassungsbilder zu erklären und die Valenz von Verfassungstraditionen als Teil einer europäisch-vergleichenden Geschichte erkennbar zu machen.4
II. Frankreich: Die lange Dauer des permanenten Verfassungswandels? Kein europäisches Land erlebte im 19. und 20. Jahrhundert so viele Verfassungen und konstitutionelle Umbrüche wie Frankreich. Zwischen 1791 und 1958 lösten sich nicht weniger als sechzehn Verfassungen ab, wenn man die nie in Kraft getretene Verfassung von 1793 und die der Dritten Republik von 1875 miteinbezieht, die auf keinem geschlossenen Verfassungstext, sondern auf drei lois fondamentales gründete. Frankreich erschien bereits den Zeitgenossen als das konstitutionelle Laboratorium Europas, in dem die vielfältigen Versuche, die Umbrüche zwischen Ancien régime und bürgerlicher Gesellschaft in eine stabile politische Ordnung zu übersetzen, wie in einem Brennglas zu beobachten waren.5 Das sicherte den Verfassungszyklen, der Erosion der Verfassungsmodelle und den daraus resultierenden Konsequenzen weit über die innerfranzösische Perspektive hinaus eine große Aufmerksamkeit in allen anderen europäischen Gesellschaften und führte auch in Frankreich selbst zu einem intensiveren Nachdenken über das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität der Verfassungsgeschichte.6 In der Entwicklung der Verfassungshistoriographie lassen sich vier verschiedene Perspektiven und Ansätze unterscheiden. 4 Vgl. Christof Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, S. 173 – 198. 5 Vgl. allgemein Jean-Louis Harouel et al., Histoire des institutions de l’époque franque à la Révolution, Paris 1990; Marcel Morabito und Daniel Bourmaud, Historoire constitutionnelle et politique de la France, 1789 – 1958, Paris 1996; Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma, München 1997, sowie Peter Claus Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450 – 2002). Ein Überblick, 2. Aufl., Berlin 2003. 6 Vgl. Gilles Le Breguec, Les Français et leurs Constitutions, in: Pouvoirs. Revue française d’études constitutionnelles et politiques 50 (1989), S. 113 – 120, sowie Geor-
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1. Verfassungsgeschichte als Beschreibung von Regierungsformen, Kompetenzen und Institutionen
Aus dieser Perspektive, angelehnt an einen engeren Verfassungsbegriff und eine primär staatsrechtliche Argumentationsweise, dominiert zunächst das Datum von 1789 als entscheidende Zäsur, die das Ancien régime als Periode weitgehend nicht kodifizierter materiell-rechtlicher Grundgesetze von einer postrevolutionären Phase unterschied, in der die zahlreichen geschriebenen Verfassungen Frankreichs entstanden.7 Dazu gehört sowohl das Bild Frankreichs als eines verfassungshistorischen Impulsgebers für den kontinentaleuropäischen Konstitutionalismus, als auch als Land des dauernden konstitutionellen Experiments mit der Folge eines zyklischen Wechsels von parlamentarischen und monarchischen Tendenzen, der mit der Französischen Revolution in ihren verschiedenen Phasen begann und sich in den postrevolutionären Konstellationen nach den Umbrüchen von 1814 / 15, 1830 und 1848 / 1851 fortsetzte. Auch die Jahre 1870 / 71 markierten in dieser Hinsicht noch einmal ein entscheidendes Scharnier. Dieses Schema von Verfassungsumbrüchen als Abfolge konstitutioneller Reaktionen auf das Problem politischer und sozialer Instabilität kann hier nur angedeutet werden. Der deskriptive Charakter dieser Ansätze, der bis heute von den Darstellungen bei Maurice Duverger geprägt ist und den universitären Syllabus bestimmt, rekurriert auf den Wechsel von Regierungsformen, sowie auf die Beschreibung staatsrechtlicher Kompetenzen von Institutionen und Amtsträgern.8 Ausgehend von der Zäsur von 1789, aber vor allem aus der langfristigen Perspektive der Durchsetzung der republikanischen Staatsform, erscheint die Verfassungsgeschichte Frankreichs dabei als Kampf, Wiedererrichtung und Verteidigung freiheitlich-republikanischer Errungenschaften. So entwickelten sich zwischen 1791 und 1815 politisch unterschiedlich imprägnierte Verfassungen und Verfassungsentwürfe, die von der konstitutionellen Monarchie bis zur sozialegalitären Republik reichten und das Spektrum ideologisch unterschiedlicher Lager abbildeten. Die Auseinandersetzung um die richtige Grammatik der Gesellschaft verlängerte den verfassungshiges Vedel, La continuité constitutionnelle en France de 1789 à 1989, in: Revue française de Droit constitutionnel 1 (1990), S. 5 – 15. 7 Vgl. Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution. Eine Untersuchung zur Genesis der kontinentalen Theorie und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus der Herrschaftspraxis des Ancien régime in Frankreich (1760 – 1789), München 1969, sowie Ernst Hinrichs, Ancien Régime und Revolution. Studien zur Verfassungsgeschichte Frankreichs zwischen 1589 und 1789, Frankfurt / M. 1989. 8 Vgl. Maurice Duverger, Constitutions et Documents politiques, 14. Aufl., Paris 1996; ders., Le système politique français: Droit constitutional et les systems politiques, 21. Aufl., Paris 1996; ders., Les Constitutions de la France, 14. Aufl., Paris 1998.
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storischen Erfahrungsgehalt der Französischen Revolution und ihre kontroverse Interpretationsgeschichte bis weit über 1815 hinaus, wie zumal der Kampf um die Bedeutung der Charte Constitutionnelle nach 1814 zeigte. Mit der Menschenrechtserklärung von 1789 wurde die Nation zum Inhaber der Souveränität. Die Verfassung von 1791 verankerte zwar die Gewaltenteilung zwischen König und Ministern einerseits, der Einkammerlegislative unter Vermeidung eines potentiell gegenrevolutionären Oberhauses und der Justiz andererseits, die als revolutionäre Errungenschaft durch Geschworenengerichte erweitert wurde. Aber das Prinzip staatsbürgerlicher Egalität blieb einstweilen deklamatorische Absicht, bei der drei Siebtel der männlichen Bevölkerung durch ein entsprechend rigides zensitäres Wahlrecht vom Stimmrecht ausgeschlossen blieben. Das Scheitern der konstitutionellen Monarchie und die Radikalisierung durch den Krieg schlugen sich 1793 in einer neuen Verfassung nieder, in der radikaldemokratische und sozial-egalitäre Prinzipien nebeneinanderstanden. Neben die Menschen- und Bürgerrechte traten eine Agenda sozialer Grundrechte sowie die Pflicht zum Widerstand gegen Rechtsverletzungen der Staatsgewalt. Frauen sollten prinzipiell gleichberechtigt sein, wenn auch ohne Zusicherung des Stimmrechts. Die konstitutionelle Gewaltenteilung wich einer aus der Legislative gebildeten Ausschußregierung, die von Volksbefragungen ergänzt werden sollte. Aber wegen der durch den äußeren Krieg ausgelösten Krisensituation wurde diese Verfassung niemals in Kraft gesetzt. Dieses Vakuum füllte die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses durch eine neuartige ideologisierte Legitimation staatlicher Intervention. Aber als geschichtspolitischer Anknüpfungspunkt blieb die republikanische Verfassung von 1793 auch später präsent, wie sich in den Krisen von 1830, 1848 und 1871 zeigte. Die erinnerte oder imaginierte Verfassung war ein entscheidendes Element der politischen Auseinandersetzung in der postrevolutionären Gesellschaft Frankreichs. Die Direktorialverfassung von 1795 mit ihrer strikten Gewaltentrennung und der Rückführung sozialer Egalitätsansprüche auf das Prinzip der bürgerlichen Rechtsgleichheit stellte vor diesem Hintergrund eine Antwort auf die Krisenerfahrungen der 1790er Jahre dar.9 Die innenpolitische Instabilität, die sich in Wahlerfolgen oppositioneller Gruppen von rechts und links zeigte, führte zu mehreren Staatsstreichversuchen. Als sich abzeichnete, daß auf dem Wege einer Direktorialordnung eine postrevolutionäre Stabilisierung der politischen Ordnung nicht möglich war, bediente man sich 1799 eines erfolgreichen Revolutionsgenerals. Der Staatsstreich Bonapartes im Brumaire 1799 nahm dabei seinen Ausgang von einer geplanten umfassenden Verfassungsrevision, deren Scheitern zur gewaltsamen Intervention führte. Napoleon reagierte mit seinen 9 Vgl. Hartmann, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 58 – 75, sowie Jacques Godechot, Les Institutions de la France sous la Révolution et l’Empire, 5. Aufl., Paris 1998.
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Verfassungen und Verfassungsplänen auf die zurückliegenden Erfahrungen seit 1789 mit einer besonderen Kombination konstitutioneller Elemente: Neben der Verstärkung der Exekutive und einer gleichzeitigen funktionalen Zersplitterung und damit Paralyse legislativer Körperschaften (Tribunat, Corps législatif und Senat) stand das Bekenntnis zur revolutionär errungenen Rechtsgleichheit und zum Prinzip der Volkssouveränität.10 Vor allem mit der plebiszitären Absicherung durch manipulierte Volksabstimmungen antizipierte die napoleonische Verfassungspraxis eine das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation umgehende Legitimationsstrategie, die weit in die Zukunft wies. Geschichtspolitisch durch den napoleonischen Mythos aufgewertet, wurde sie zu einer Säule des bonapartistischen Verfassungsdenkens, das sich über 1851 und die Krisen der Dritten Republik bis zum Ende der Vierten Republik 1958 und der Installation des gaullistischen Präsidialsystems der Fünften Republik fortsetzte.11 Dem Epochenbruch von 1789 folgte 1814 / 15 keine verfassungsrechtliche Wiederherstellung des Ancien régime, sondern eine besondere Überlappung aus revolutionärem Erbe und restaurativen Intentionen.12 Gewaltenteilung, die Bestätigung der bürgerlichen Eigentumsordnung und das Bekenntnis zu den rechtlichen Errungenschaften der Revolution kennzeichneten die Charte Constitutionelle als constitution libérale und sicherten ihr eine große Ausstrahlungskraft in die kontinentaleuropäischen Gesellschaften nach 1815.13 Dem königlichen Bekenntnis zum Gottesgnadentum und der Fiktion der ununterbrochenen Monarchie in der Präambel stand die Anerkennung 10 Vgl. Claude Goyard, Constitution de l’an VIII, in: Jean Tulard (Hrsg.), Dictionnaire Napoléon, Bd. 1, Paris 1999, S. 519 – 524; Claude Goyard, Constitution de l’an X, in: ebd., S. 524 – 527, sowie ders., Constitution de l’an XII, in: ebd., S. 527 – 529. 11 Vgl. Hartmann, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 75 – 88; Karl Hammer und Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Der Bonapartismus. Historisches Phänomen und politischer Mythos, Zürich 1977; Peter McPhee, Electoral Democracy and Direct Democracy in France 1789 – 1851, in: European History Quaterly 16 (1986), S. 77 – 96, sowie Jörn Leonhard, Ein bonapartistisches Modell? Die französischen Regimewechsel von 1799, 1851 und 1940 im Vergleich, in: Helmut Knüppel / Manfred Osten / Uwe Rosenbaum / Julius H. Schoeps / Peter Steinbach (Hrsg.), Wege und Spuren. Verbindungen zwischen Bildung, Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Politik. Festschrift für Joachim-Felix Leonhard, Berlin 2007, S. 277 – 294. 12 Vgl. Hans Gangl, Die Verfassungsentwicklung in Frankreich 1814 – 1830, in: HZ 202 (1966), S. 265 – 308; Felix Ponteil, Les Institutions de la France de 1814 à 1870, Paris 1966, sowie Rudolf von Thadden, Restauration und Napoleonisches Erbe. Der Verwaltungszentralismus als politisches Problem in Frankreich (1814 – 1830), Wiesbaden 1972. 13 Vgl. Stéphane Rials, Une grande étape du constitutionalisme européen. La question constitutionnelle en 1814 – 1815, in: ders., Révolution et Contre-Révolution au XIXe siècle, Paris 1987; Jörn Leonhard, Liberalismus – Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 144 – 158; Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, S. 225 – 273, sowie Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhun-
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wichtiger Errungenschaften der Revolution im Verfassungstext entgegen. Die Zweikammerlegislative nach englischem Vorbild legte durch das Budgetrecht auch eine Grundlage zur Entwicklung eines parlamentarischen Systems mit Ministerverantwortung. Während Ludwig XVIII. sich um eine Integrationsstrategie auf der Grundlage dieser Verfassung bemühte, entwickelte sich unter seinem Nachfolger Karl X. eine restaurative Verfassungsauslegung, welche weite Teile der politischen Öffentlichkeit provozieren mußte, die in der Verfassung eine Chance zur postrevolutionären Stabilisierung Frankreichs erkannt hatten. 1830 mündete diese Politik in einen offenen Konflikt, der insbesondere von den Liberalen als Anschlag auf die Verfassung von 1814 / 15 begriffen wurde. Die Julirevolution 1830 erschien entsprechend als legitime Verteidigung der Charte und wurde von vielen bürgerlich-konstitutionell orientierten Zeitgenossen mit der englischen Glorious Revolution von 1688 / 89 verglichen. Die Julimonarchie gründete demnach auf einem Vertrag, der den neuen Monarchen als ersten Bürger des Staates begriff, der auf die Verfassung vereidigt wurde, auf keine sakraltraditionalen Legitimationsgrundlagen mehr zurückgreifen konnte und in seiner Titulatur als roi des Français den Gedanken der Volkssouveränität gegenüber dem territorial-dynastischen Anklang des roi de France anerkannte.14 Die Verfassung der Zweiten Republik von 1848 erscheint in dieser Abfolge der Verfassungszyklen als demokratische Episode zwischen Julimonarchie, Präsidialverfassung und Zweitem Kaiserreich. Ihre Anlehnung an die republikanische Verfassung von 1793 mit der Betonung von Volkssouveränität, Widerstandsrecht, sozialen Grundrechten und Einkammerparlament war mit einer strikten Gewaltenteilung und einem starken, aus direkten Wahlen hervorgehenden Präsidenten verbunden.15 Der Ausschluß einer Wiederwahl führte 1851 zum Staatsstreich Louis Bonapartes. Seiner Präsidialverfassung von 1852 folgte das Seconde Empire, in dem das Corps législatif ohne Gesetzesinitiative blieb. Erst die erzwungenen Konzessionen machten 1869 aus dem Empire autoritaire ein Empire libéral mit parlamentarischer Regierungsweise nach britischem Vorbild.16
dert: Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999. 14 Vgl. Hartmann, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 88 – 101. 15 Vgl. Paul Bastid, Doctrines et Institutions politiques de la Seconde République, 2. Bde., Paris 1945. 16 Vgl. Henry Berton, L’évolution constitutionnelle du Second Empire. Doctrine, texts, histoire, Paris 1900; Theodor Zeldin, The Political System of Napoleon III, London 1958, sowie Manfred Wüstemeyer, Demokratische Diktatur. Zum politischen System des Bonapartismus im Zweiten Empire, Köln 1986.
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Nach dem Zusammenbruch des Empire blieb die Rückkehr zu einer monarchischen Verfassung als Fortsetzung des 1791 erstmals begonnenen Verfassungszyklus bis Ende der 1870er Jahre das von den meisten Zeitgenossen erwartete Szenario. Dem entsprach auch der provisorische Charakter der Verfassungsgrundgesetze der Dritten Republik von 1875. Erst der Verzicht des Präsidenten MacMahon auf einen Staatsstreich in der Krise von 1879 führte zu einer Stabilisierung der Republik. Die relative politische Zurückhaltung der nachfolgenden Präsidenten ließ ein relatives Übergewicht des Parlaments mit häufigen Regierungswechseln und dem Eindruck verfassungspolitischer Instabilität entstehen, das im Prinzip auch noch die Vierte Republik kennzeichnete.17 1946 in Kraft getreten sollte sie sich auch verfassungsrechtlich sowohl von der Vichy-Phase, deren eigene Verfassungsprojekte nie in Kraft gesetzt wurden, als auch von der Dritten Republik abheben.18 Der Grundrechtskatalog enthielt nun auch die Sicherung der Rechtsgleichheit für Frauen.19 An den Dekolonisationskrisen und der Selbstblockade einer zunehmend zersplitterten Parteiendemokratie scheiterte die Republik 1958. Die Fünfte Republik schließlich stellte neben die parlamentarische Kabinettsregierung und das Zweikammernsystem ein Präsidialregime, das dem Staatsoberhaupt durch Direktwahl, außen- und verteidigungspolitische domaines réservés und die möglichen Abhaltung von Plebisziten eine vom Parlament unabhängige Legitimation sicherte. In dieser konstitutionellen Machtverstärkung sowie in der gespaltenen Exekutive wurden amerikanische Verfassungselemente, aber auch eine an bonapartistischen Ideen orientierte Ausrichtung erkennbar.20 Allen skeptischen 17 Vgl. Louis Blanc, Histoire de la Constitution du 25 février 1875, Paris 1882; Gabriel Hanotaux, Histoire de la foundation de la IIIe République, le gouvernement de M. Thiers 1870 – 1873, Paris 1925 (ND. 1954 / 55); Maurice Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France. L’avènement de la Troisième République. La Constitution de 1875, Paris 1937; Odile Rudelle, La République absolue! Aux origines de l’instabilité constitutionnelle de la France républicaine 1870 – 1889, Paris 1982, sowie René Rémond, La République souveraine: la vie politique en France: 1879 – 1939, Paris 2002. 18 Vgl. Maurice Abeberry, Le projet de Constitution du maréchal Pétain, Bordeaux 1953, sowie Julien Laferrière, Le Nouveau Gouvernement de la France. Actes constitutionnels de 1940 – 1942, à l’usage de la licence en droit ou des concours administratifs, Paris 1959. 19 Vgl. François Goguel, Le régime politique français, Paris 1955; Werner Ludwig, Regierung und Parlament im Frankreich der IV. Republik. Würzburg 1956; Jean Touchard, Le Gaullisme 1940 – 1969, Paris 1978, sowie Jacques Julliard, François Furet und Pierre Rosanvallon, La République de centre: la fin de l’exception française, Paris 1988. 20 Vgl. Peter Campbell und Brian Chapman, The Constitution of the Fifth Republic, 2. Aufl., Oxford 1959; Georg Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, Köln 1960; Antoine Azar, Genèse de la Constitution du 4 Octobre 1958, sollution gaulliste à la crise du pouvoir, Paris 1961; Hans Gangl, Verfassungsfragen der Fünften Republik, Graz 1964; Peter Zürn, Die republikanische Monarchie. Zur
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Prognosen anläßlich der ersten cohabitation in den 1980er Jahren, also der Konstellation, in der Präsident und Premierminister mit unterschiedlichen Mehrheiten gewählt worden sind, zum Trotz hat die Fünfte Republik alle kritischen Diskussionen um eine neue Verfassung bisher überstanden.21
2. Verfassungsgeschichte als Abbild sozialhistorischer Prozesse
Gegenüber der deskriptiven Verfassungsgeschichte tritt auf dieser Ebene, die untrennbar mit der Dominanz der Sozialgeschichte innerhalb der französischen Historiographie seit den 1960er Jahren verbunden ist, stärker die Frage nach der Funktion der Verfassung in den Vordergrund, die Bedingungen legitimer Herrschaft vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche zu entwickeln anstatt sie unhinterfragt bereits vorauszusetzen.22 Gegenüber einer bloßen Beschreibung der Abfolge von Verfassungskompetenzen und -institutionen erscheint die Verfassung hier als ein Mittel der Neubegründung politischer und gesellschaftlicher Machtstrukturen und deren Verrechtlichung. Der französische Verfassungszyklus reflektiert in dieser Perspektive jene Probleme der Anpassung an die Moderne, die mit der Revolution von 1789 erstmals aufbrachen und durch ganz heterogene Gruppen der Gesellschaft repräsentiert wurden. Nach dieser Interpretation, die stark auf die sozialgeschichtliche Entwicklung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Etablierung der Dritten Republik rekurriert, standen vor allem die Verfassungen bis zur Dritten Republik unter dem Eindruck von Regimewechseln, in denen durch zensitäre Wahlrechtsänderungen immer wieder größere soziale Gruppen von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wurden. So basierten die napoleonischen Verfassungen auf dem siegreichen Militär und den bürgerlichen Mittelschichten, die in der bürgerlichen Rechtsgleichheit und dem Verkauf der verstaatlichten Kirchengüter die entscheidenden Errungenschaften der Revolution erkannten. Nach 1812 / 13 erkannten diese bürgerlichen Gruppen in Napoleon immer weniger einen Garanten für die weitere wirtschaftliche Entwicklung und die äußere Sicherheit Frankreichs. Die Legitimation des Kaiserreichs erodierte, und die constitution libérale wurde zur Chiffre für ihre politische Oppositionshaltung. 23 Struktur der Verfassung der V. Republik in Frankreich, München 1965; Maurice Duverger, La Cinquième République, 5. Aufl., Paris 1974; Jean-Louis Quermonne und Jacques Bonfois, Le Gouvernement de la France sous la Ve République, 5. Aufl., Paris 1996, sowie Guy Carcassone (Hrsg.), La constitution, 3. Aufl., Paris 1999. 21 Vgl. Maurice Duverger, La cohabitation des Français, Paris 1987, sowie Wolfram Vogel, Demokratie und Verfassung in der V. Republik. Frankreichs Weg zum Verfassungsstaat, Opladen 2001. 22 Vgl. Michael Erbe, Vom Konsulat zum Empire libéral. Ausgewählte Texte zur französischen Verfassungsgeschichte, 1799 – 1870, Darmstadt 1985.
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Obwohl die bourbonische Monarchie mit der Charte Constitutionnelle 1814 / 15 zunächst eine Versöhnung zwischen dem alten Adel und den neuen bürgerlichen Profiteuren der Revolution anstrebte, wurde die Begünstigung des alten Adels, seine Verbindung zur katholischen Kirche und seine bäuerliche Anhängerschaft im Westen Frankreichs im Laufe der 1820er Jahre immer mehr zu einer Provokation für das Bürgertum. Es erkannte im Versuch einer Wahlrechtsverschärfung 1830 einen Anschlag auf die politischen und ökonomischen Errungenschaften der Revolution, welche die Zäsur von 1814 / 15 überlebt hatten. Aber auch die einseitige Begünstigung des Großbürgertums in der Julimonarchie nach 1830 schaffte weder politische noch soziale Stabilität.24 Sie drängte den legitimistischen Altadel in das politische Abseits und schloß sowohl das mittlere und untere Segment der städtischen Bevölkerung als auch die Arbeiter der entstehenden Industriestädte vom Wahlrecht aus.25 Das Ordnungsmodell François Guizots lief vor diesem Hintergrund auf eine am britischen Vorbild orientierte Verfassungspraxis hinaus, die aber in den 1840er Jahren immer mehr auf die steigenden politisch-sozialen Partizipationserwartungen der Gesellschaft stieß.26 1848 waren es nach dieser Interpretation wiederum Wahlrechtskontroversen, die zur Etablierung der Zweiten Republik führten. Das Wahlrecht wirkte als Abbild sozialer Konflikte um das Ausmaß und die Grenzen politischer Partizipation. Rückblickend erklärte Adolphe Thiers 1872, daß im Vergleich aller Verfassungen allein die republikanische Staatsform sicherstelle, die Franzosen am wenigsten voneinander zu trennen. Das verdeckte die Tatsache, daß sich gerade im Juni 1848 der offene und gewaltsam ausgetragene Gegensatz zwischen den bürgerlich-defensiven und den radikaldemokratischen und sozialistischen Anhängern der Republik gezeigt hatte. Die Wahl des Neffen Napoleons zum Präsidenten beruhte danach auf einem temporären Konsens zwischen dem konservativ-orleanistischen Bürgertum mit den monarchischen Legitimisten und den Massen der bäuerlichen Landbevölkerung sowie des städtischen Kleinbürgertums.27 Doch auch Napoleon III. mußte in den 1860er Jahren angesichts der außenpolitischen Mißerfolge in Mexiko und den nicht eingelösten Forderun23 Vgl. Jean Tulard, Napoléon ou le mythe du sauveur, Paris 1987, S. 241 – 255 und 307 – 321. 24 Vgl. Charles Morazé, La France bourgeoise, Paris 1946; Jean Lhomme, La Grande Bourgoisie au pouvoir, 1830 – 1880, Paris 1960. 25 Vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Nationalismus und Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frankreich der Restauration, Frankfurt / M. 1974, sowie ders., Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt / M. 1989, S. 115 – 200. 26 Vgl. Pierre Rosanvallon, Le Moment Guizot, Paris 1985. 27 Vgl. Karl Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: ders. / Friedrich Engels, Werke [MEW], Bd. 8, sowie in: Karl Marx / Friedrich Engels: Gesamtausgabe [MEGA], Bd. 11, Berlin 1985, S. 96 – 189; Adrien Dansette, Louis-Napoléon à la conquête du pouvoir, Paris 1961, sowie Leonhard, Modell, passim (FN 11).
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gen gegenüber Preußen erkennen, daß der Ausschluß wesentlicher Gruppen dem Zweiten Kaiserreich keine Stabilität verleihen konnte. Während sich Großbürgertum, katholische Kirche und Bauern aufgrund der Freihandelspolitik gegenüber Großbritannien und des Vorgehens in Italien nach 1859 zunehmend von dem Regime zu distanzieren begannen, drängten liberale Opposition und Arbeiterschaft auf weitergehende konstitutionelle Konzessionen. Obwohl das Empire libéral auf der Basis der plebiszitär abgesicherten Verfassungsreformen vom Mai 1870 in eine Phase der inneren Stabilisierung einzutreten schien, verlor es nur wenige Monate später in der Niederlage von Sedan gegen die preußisch-deutschen Truppen seine Legitimationsbasis. Erst der Dritten Republik gelang nach dieser Interpretation eine längerfristige Stabilisierung auf der Basis eines Grundkonsenses, der zum ersten Mal keine gesellschaftliche Gruppe mehr grundsätzlich von der politischen Partizipation ausschloß, sich dabei aber nicht auf einen elaborierten Verfassungstext stützte, sondern auf die symbolische Kontinuität der Dritten Republik zur Französischen Revolution und das Selbstbild der republikanischen Nation.28
3. Umbruch und Kontinuität: Verfassungswandel und relative Dauer von Verwaltung, Eliten und geschichtspolitischen Mythen
Die Verfassungswirklichkeit Frankreichs ging aber nicht in der Dynamik des Wechsels von parlamentarisch und monarchisch geprägten Regierungsformen und der ihr entsprechenden Verfassungen im langen 19. Jahrhundert auf. Die jüngere Forschung hat das Nebeneinander von Verfassungswandel und ausgesprochenen Kontinuitätselementen als ein Spezifikum der französischen Geschichte im langen 19. Jahrhundert herausgearbeitet, das auch im 20. Jahrhundert und in der Phase vom Vichy-Regime bis in die 1960er Jahre weiterwirkte. Der permanenten Umbruchsgeschichte der Regimes und ihrer Verfassungen standen auf verschiedenen Ebenen wichtige Kontinuitäten gegenüber. Dazu zählte die institutionelle Infrastruktur des Zentralstaates,29 sowie die relative Konstanz des politisch-parlamentarischen und administrativen Führungspersonals bei gleichzeitiger Veränderung der politischen Legitimationsmuster. Zu denken ist vor allem an die Elitenformation der sogenannten Brumairianischen Elite, an die schon von Zeitgenossen sogenannten „éternels“, an lokale Mitglieder der Notabelngesellschaft oder einzelne politische Persönlichkeiten wie Adolphe Thiers, dessen politische Karriere nahezu ununterbrochen von der Julirevolution 1830 bis zur Dritten Republik der 1870er Jahre reichte.30 Zu diesen Kontinuitätsele28 Vgl. Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870 – 1940), Köln 2007, S. 16 – 34. 29 Vgl. Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich. Von 1789 bis in die Gegenwart, Münster 2000.
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menten gehörten auch eine seit 1814 / 15 ausgebildete parlamentarische Praxis und eine ihr entsprechende Orientierungswirkung auf die öffentliche Meinung, so vor allem durch die Berichterstattung über parlamentarische Debatten und die Organisation politischer Interessen in parteienähnlichen Strukturen. Diese Infrastruktur politischer Partizipation und Kommunikation erwies sich als zäh und überlebensfähig gegenüber den zahlreichen Regime- und Verfassungswechseln.31 Elemente eines modernen demokratischen Verfassungsstaates zeichneten sich also jenseits der permanenten Regime- und Verfassungswechsel ab. So erkannte gerade die Charte von 1814 / 15 parlamentarische Grundsätze und Gepflogenheiten an. Mit Ausnahme Großbritanniens und Belgiens blieb der französische Parlamentarismus bis 1848 ein Modell für alle europäischen Zeitgenossen. Selbst der Scheinkonstitutionalismus des Zweiten Kaiserreichs und erst recht das Empire libéral ab 1869 mußten dieses Erfahrungskapital parlamentarischer Praxis und die gewachsene Bedeutung der politisch sensibilisierten Öffentlichkeit anerkennen. Zu den langfristigen Kontinuitätselementen zählte auch die Erfahrung, daß die Befürchtung vieler Konservativer, das allgemeine Wahlrecht führe über revolutionären Parlamentsmehrheiten automatisch zur Destabilisierung, unbegründet war. Daher wurde das allgemeine Wahlrecht seit den 1870er Jahren zu einem republikanischen Grundsatz, den man langfristig nicht mehr außer Kraft setzen konnte – allen Manipulationsversuchen durch Wohnsitzbindung und Wahlkreiseinteilung etwa im Zweiten Kaiserreich zum Trotz.32 Ein letztes Element verfassungshistorischer Kontinuität jenseits der Regimewechsel liegt in der plebiszitären Absicherung der Exekutive. Das Bild einer mythischen Verbindung zwischen Monarch und Volk hatte bereits Bonaparte nach 1799 durch seine Plebiszite in die postrevolutionäre Gesellschaft übersetzt. Der symbolpolitische Rekurs auf die Volkssouveränität und die direkte Legitimation der exekutiven Spitze unter Umgehung der Legislative blieb ein prägendes Modell erfolgreicher Herrschaftsbehauptung, so vor allem unter dem Präsidenten Louis Bonaparte und später unter Napoleon III. Während sich die Dritte Republik dezidiert und programmatisch durch die Aufwertung des Parlaments von dieser Herrschaftspraxis 30 Vgl. Haupt, Sozialgeschichte (FN 25), S. 128 – 158; Werner Gieselmann, Die brumairianische Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien régime und Julimonarchie, Stuttgart 1977, sowie Walter Demel, Von den Notablen von 1787 / 88 zu den Großnotablen des Bürgerkönigtums. Ein Beitrag zur Frage der Elitentransformation in Frankreich zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, in: Dieter Albrecht / Karl Otmar von Aretin / Winfried Schulze (Hrsg.), Europa im Umbruch 1750 – 1850, München 1995, S. 137 – 154. 31 Vgl. Joseph Barthélemy, L’introduction du régime parlementaire en France sous Louis XVIII et Charles X, Paris 1904 (ND. Genf 1978). 32 Vgl. Engels, Geschichte (FN 28), S. 62 – 74.
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distanzierte, blieb die Hoffnung auf Erlösung durch eine einzelne Person im Augenblick der nationalen Krise virulent. Mit der Krisenlösung 1940 und dem Anspruch Pétains, dann aber auch im Präsidialsystem der Fünften Republik erlebte das bonapartistische Paradigma eine tendenzielle Wiederbelebung, die sich mit der Erwartung auf eine dominante Einzelpersönlichkeit an der Spitze des Staates verband.33
4. Verfassung als symbolisches Kapital und Teil der politischen Kultur Frankreichs
Gänzlich unbeachtet läßt die bloße Deskription von Verfassungsumbrüchen die kulturalistische Dimension, das symbolische Kapital der französischen Verfassung als Kernelement der politischen Kultur zumindest am Ende des 18. Jahrhunderts.34 Stand der zeitgenössische Begriff constitution im Aufklärungsdiskurs vor 1789 nicht für eine geschriebene Verfassung, sondern für die Zusammenstellung grundlegender Gesetze, welche die Ausübung staatlicher Macht regeln sollten und die der Willkür der Minister und zum Teil auch des Königs entgegengehalten wurden, so stand der Begriff nach 1789 für eine Verfassungseuphorie. Sie erreichte zwischen 1792 und 1794 ihren Höhepunkt. Im Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde entwickelte sich ein regelrechter Verfassungsmessianismus, der die religiösen Symbolsprachen des 18. Jahrhunderts aufnahm. Die rapiden Veränderungen der französischen Frömmigkeitspraxis nach 1760 ließen nach 1789 die semantische Neukonnotation dieser religiösen Codes zu, die im zeitgenössischen Verfassungsenthusiasmus aufgenommen wurden. Die constitution wurde zum neuen Evangelium der Gesellschaft stilisiert und sollte nach den Vorstellungen radikaler Zeitgenossen die Bibel ersetzen. Aber dieser gesteigerte Verfassungspatriotismus blieb als Identifikationsangebot der aus der Revolution hervorgegangenen Republik nur eine Episode. Die folgenden Regimewechsel verhinderten die Ausbildung einer stabilen Deutungskultur, die sich auf eine Verfassung hätte berufen können. Der Dritten Republik gelang ihre Stabilisierung nicht durch Rekurs auf eine eigene Verfassung, die für lange Zeit ein provisorisches Konglomerat einzelner Verfassungsregeln blieb, sondern durch die geschichtspolitische Aneignung der gemäßigten Revolution auf der Grundlage ihrer Symbole, so im 14. Juli, der Trikolore, der Marseillaise und der Marianne-Ikonogra33 Vgl. Leonhard, Modell, passim (FN 11); Frederic Bluche, Le Bonapartisme, Paris 1980; Francis Choisel, Bonapartisme et Gaullisme, Paris 1987; Philip Thody und Malcom Waller, French Caesarianism from Napoleon I to Charles de Gaulle, London 1989, sowie Robert Gildea, The Past in French History, New Haven 1994, S. 62 – 111. 34 Vgl. Wolfgang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715 – 1794, Berlin 1988, sowie ders., Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2000, S. 181 – 184.
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phie.35 Das unterschied Frankreich grundsätzlich sowohl von Großbritannien, wo Walter Bagehot 1872 die historic constitution des Landes als überlegenes Modell einer parlamentarischen Regierungsweise interpretierte, als auch von der identitätsbildenden Wirkung der amerikanischen Verfassung und ihrer zu founding fathers stilisierten Autoren.36 Im französischen Staatsverständnis bildete und bildet bis heute der mögliche Rekurs auf die revolutionär errungene Volkssouveränität das entscheidende politische Kapital, von dem aus sich eine eigene politisch-soziale Protestkultur entwickelt hat. Gegenüber diesem dynamischen Element traten und treten bis heute die Statik der Verfassung, aber auch das Gewicht der parlamentarischen Repräsentation zurück.37
III. Großbritannien: Die lange Dauer des Ancien régime? Im Vergleich zu Frankreich sind für Großbritannien zunächst die bis heute andauernde Kontinuität der ungeschriebenen Verfassung und die scheinbar organische Verfassungsentwicklung ohne revolutionäre Brüche zu konstatieren.38 Dieser Eindruck spiegelt den Deutungserfolg der im 19. Jahrhundert kumulierenden Whig interpretation of history wider, welche die englische Geschichte seit dem 17. Jahrhundert als kontinuierlichen und erfolgreichen Kampf um immer mehr Freiheitsrechte gegen absolutistische Tendenzen stilisierte und damit ein gegenüber Kontinentaleuropa abgegrenztes nationales Selbstbild favorisierte, das auf liberties, parliament and protestantism gründete. Walter Bagehots Verfassungsinterpretation von 1872 stand in diesem Kontext und formulierte den Modellanspruch der historic constitution sowohl gegenüber dem permanenten Verfassungswandel der kontinentaleuropäischen Staaten als auch gegenüber dem amerikanischen Präsidialsystem. Dabei stand der Charakter der ungeschriebenen Verfassung in einem tendenziellen Spannungsverhältnis zur Wirkungsmacht der English constitution, des englischen Parlamentarismus und der europäischen Wahrnehmun35 Vgl. Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie – Politik – Kultur, Sigmaringen 1989; Maurice Agulhon, Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaine de 1880 à 1914, Paris 1989, sowie ders., La République (de 1880 à nos jours), Paris 1990. 36 Vgl. Walter Bagehot, The English Constitution (1872), 6. Aufl., London 1891. 37 Vgl. Robert Chabanne, Les institutions de la France: de la fin de l’Ancien régime à l’avènement de la IIIème République (1789 – 1875), 2. Aufl., Lyon 1990; Jean-Jacques Chevallier, Histoire des Institutions et des régimes politiques de la France de 1789 à 1958, 9. Aufl., Paris 2001, sowie Pierre Villard, Histoire des institutions politiques de la France de 1789 à nos jours, 7. Aufl., Paris 2000. 38 Vgl. zum allgemeinen Kontext Michael Foley, The Politics of the British Constitution, Manchester 1999.
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gen seit dem 18. Jahrhundert, in denen die englische Verfassung und das Parlament als Synonyme für Dauer und Beständigkeit und als Ergebnis eines historisch gewachsenen Gleichgewichts politisch-konstitutioneller Kräfte und Akteure dominierten.39 Dabei wird häufig übersehen, daß im Zuge der Dekolonisierungsprozesse im 20. Jahrhundert alle britischen Kolonien eigene Verfassungen nach dem Vorbild Westminsters erhielten. Deren Systematik stand in einem Widerspruch zu der kumulativ-unsystematischen Sammlung von Rechtsregeln und Verfahrensgrundsätzen des parlamentarischen Lebens in Großbritannien. Neben der geschriebenen Verfassung fehlt in Großbritannien bis heute auch eine regelrechte Verfassungsgerichtsbarkeit. Das entspricht der Prämisse der absoluten Parlamentssouveränität, die bereits Thomas Jefferson aus nordamerikanischer Sicht und der Perspektive strikter Gewaltenteilung als collective despotism kritisierte. Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Perspektiven des Umgangs mit dem Bild der historischen Verfassung Englands näher untersucht werden. 1. Die Persistenz der Verfassung als Spiegel der langen Dauer des englischen Ancien régime
Die Haupttendenz dieses Ansatzes liegt in der Betonung der langen Dauer des englischen Ancien régime seit den politisch-konstitutionellen Krisenerfahrungen und Grundentscheidungen im 17. Jahrhundert.40 Im Gegensatz zu der im Blick auf die Französische Revolution geprägten negativen Konnotation des Ancien régime in Kontinentaleuropa markiert der Begriff aus der Perspektive der englischen Geschichte einen entscheidenden Vorsprung, der auf die Ergebnisse der englischen Krisenepoche des 17. Jahrhunderts verwies und sich mit den Argumenten des klassischen Republikanismus verbinden ließ.41 Historisch gewachsene Parlamentssouveränität, aristokratische Parlamentsparteien und der unsystematische, unkodifizierte Charakter der Verfassung waren auch Ergebnisse der Konflikte des 39 Vgl. Hans-Christoph Schröder, Ancient Constitution. Vom Nutzen und Nachteil der ungeschriebenen Verfassung Englands, in: Hans Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 137 – 212, sowie Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689 bis 1789, München 2006. 40 Vgl. Jonathan C. D. Clark, English Society 1688 – 1832. Ideology, social structure and political practice during the ancient régime, Cambridge 1985, sowie Glenn Burgess, The Politics of the Ancient Constitution: An Introduction to English Political Thought, 1603 – 1642, Basingstoke 1992. 41 Vgl. John G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century, Cambridge 1957, sowie Mark Francis und John Morrow, After the Ancient Constitution: Political Theory and English Constitutional Writings, 1765 – 1832, in: History of Political Thought 9 / 2 (1988), S. 283 – 302.
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17. Jahrhunderts oder wurden in dieser Phase historisch festgeschrieben. Vor allem prägte das common law das politische Deutungswissen und die Kommunikation der Zeitgenossen.42 Auf dieser Grundlage entstand das Idealbild einer auf organisch-graduellen Verbesserungen beruhenden, allmählichen Anpassung des Systems an veränderte politische und soziale Bedingungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, das sich zumal nach 1789 suggestiv von den revolutionären Umbrüchen im Namen abstrakter Prinzipien absetzen ließ. Tatsächlich verfügte auch der unreformierte Parlamentarismus vor 1832 über ein erhebliches Maß an flexibler Interessenintegration. So stellten die reformorientierten Whigs mit ihren informellen persönlichen Netzwerken und ihren medialen Plattformen, zum Beispiel der Edinburgh Review, sicher, daß die durch ökonomische Erfolge geprägten besitzbürgerlichen Interessen in Westminster repräsentiert wurden.43 Allerdings gründete diese Vertretung nicht auf der Wahl, sondern auf dem geschichtspolitisch mit Rekurs auf 1688 / 89 abgesicherten Legitimationskonzept des trust, also der Berufung der Whigs auf ihre historische Funktion, als Treuhänder die liberties of all Englishmen zu verteidigen.44 Die historische Verankerung des englischen Parlamentarismus in der Frühen Neuzeit erwies sich als Vorteil in einer Phase dynamischer Veränderung und erhöhten Reformdrucks: Das System erwies sich als flexibel und anpassungsfähig, ohne durch Interessenblockaden eine kontinentaleuropäischen Verhältnissen ähnliche Konfliktstruktur zwischen Staat und Gesellschaft entstehen zu lassen. Die Reform Bill von 1832, wesentlich ermöglicht durch die Angst vor einer Revolution kontinentaleuropäischer Prägung, bedeutete eine erste Wahlrechtsrevision, unterstrich aber vor allem die Fähigkeit zu evolutionären Veränderungen, ohne das überkommene politisch-konstitutionelle System zu sprengen. Entgegen der klassischen Whigorientierten Historiographie, aber auch im Gegensatz zur historiographischen Schule um Lewis Namier mit ihrer Betonung der oligarchischen Strukturen und der weitgehenden Entpolitisierung zeichnen neue Studien zum Wählerverhalten ein differenziertes Bild: Auch nach 1832 blieben Wahlkämpfe demnach von Korruption und der beherrschenden Rolle lokaler Magnaten geprägt. Andererseits gab es zumindest in den wenigen umkämpften Wahlkreisen ein reges politisches Leben, das auch Formen der 42 Vgl. Ronald G. Asch, Das Common Law als Sprache und Norm der politischen Kommunikation in England, in: Heinz Duchhardt / Gerd Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln 1997, S. 103 – 136. 43 Vgl. Andreas Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990. 44 Vgl. Leonhard, Liberalismus (FN 13), S. 256, sowie Andreas Wirsching, Popularität als Raison d’être: Identitätskrise und Parteiideologie der Whigs im frühen 19. Jahrhundert, in: Francia 17 / 3 (1990), S. 1 – 14.
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außerparlamentarischen Politikartikulation in der Tradition des plebejischen Publikums im 18. Jahrhundert fortsetzte.45 Die auf Popularität ausgerichtete Strategie der Whigs im Kontext der Reform bedeutete vor diesem Hintergrund keinen Machtverzicht oder gar einen Übergang von einem aristokratischen zu einem demokratischen System. Aristokratische Patronage, lokale Autorität und soziale Loyalitätsstrukturen setzten sich durch die Ausbildung neuer Abhängigkeitsverhältnisse, etwa im Rahmen eines Unternehmerpaternalismus, weiter fort.46 Diese Fortwirkung des englischen Ancien régime auch unter sich wandelnden Bedingungen ließ im Gegensatz zum Mythos des historischen Parteiensystems ein echtes Zweiparteiensystem mit unterscheidbaren politischen Optionen und entsprechender Parteiorganisation lange Zeit nicht entstehen. Erst in den 1860er Jahren und mit der Personalisierung der Politik im Zeitalter Benjamin Disraelis und William Gladstones änderte sich diese Konstellation. Seit dieser Ausprägung antagonistischer Parteien und vor allem nach der programmatischen Erneuerung der Konservativen konkurrierten Liberale und Konservative gleichrangig um das Attribut der Fortschrittsfähigkeit. Verfassungsreformen standen im Zusammenhang mit diesem Nachweis als Teil der politischen Kultur Großbritanniens. Vor diesem Hintergrund ist die gerade auch parteitaktischem Kalkül folgende zweite Wahlrechtsreform durch Disraeli 1867 zu erklären, in der die neuere Forschung eher als in der Reform Bill von 1832, nach der sich zum Teil der Einfluß des Adels noch einmal verstärken konnte, den entscheidenden Reformschritt im 19. Jahrhundert erkennt.47 Dem Muster der Verfassungsreform als Ausweis der generellen Fortschrittsfähigkeit entsprachen im Prinzip auch die weiteren Reformschritte des 19. Jahrhunderts. Der sehr langsamen, aber nach 1860 kontinuierlichen Ablösung der Aristokratie als politische und parlamentarische Elite korrespondierte im Parliament Act von 1911 die Umwandlung des absoluten in ein suspensives Veto des Oberhauses. Nach den Reformen der 1990er Jahre und der Abschaffung der Life peers stellt es nur mehr ein Expertengremium dar, dem aber in einem System ohne weitergehende Kontrollen der exekutiven Macht, etwa durch ein Verfassungsgericht oder föderale Gegengewichte, eine wichtige Funktion als Artikulationsforum für oppositionelle Kritik zukommt.48 Bereits am Ende der 1830er und zu Beginn der 1840er 45 Vgl. Lewis Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III, 2. Aufl., London 1961, sowie Wirsching, Parlament (FN 43), S. 77 – 96 und 205 – 220. 46 Vgl. Peter Mandler, Aristocratic Government in the Age of Reform. Whigs and Liberals 1830 – 1852, Oxford 1990. 47 Vgl. David C. Moore, The Politics of Deference. A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political System, Hassocks 1976, sowie James Vernon, Politics and the People. A Study in English Political Culture, c. 1815 – 1867, Cambridge 1993, S. 295 – 339.
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Jahre war die Prärogative der Krone bei der Berufung der Regierung abgeschmolzen worden. Als die Regierung Melbourne 1841 / 42 trotz Neuwahlen keine Mehrheit mehr in den beiden Parlamentskammern fand, mußte Queen Victoria gegen ihren ausdrücklichen Willen Robert Peel zum Premierminister berufen. Hinter diese Entwicklungslinie des parlamentarischen Prinzips fiel Großbritannien nicht mehr zurück, und wurde dadurch zu einem zumal von deutschen Liberalen wie Robert von Mohl und später Max Weber bewunderten Vorbild für die parlamentarische Regierung. Vor allem Weber führte den Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischen Parlamentarismus wesentlich auch auf die Wirkung der parlamentarischen Wirkungsbühne, die Entstehung charismatischer Persönlichkeiten im englischen Parlament und den Ausschluß deutscher Parlamentarier von der realen Mitwirkung am Regierungsgeschäft zurück.49
2. Verfassungswandel als Auftakt zur Neuerfindung von Monarchie und Empire-Nation: Die kulturalistische Perspektive
Mit dem seit den 1830er Jahren eingeleiteten und 1867 intensivierten Systemwandel parlamentarischer Repräsentation verstärkte sich das Gewicht der Parteien und der Parteiführer, während die Monarchie einen tendenziellen Funktionsverlust erlebte. Hier setzte die partielle Neuerfindung der Monarchie als symbolische Vergegenwärtigung von Britishness und Empire an. Die neuere Kulturgeschichte in der Tradition Benedict Andersons und David Cannadines hat diesen Prozeß idealtypisch anhand der geschickten Stilisierung Queen Victorias und ihrer Funktion als Empress of India aufgezeigt.50 Verfassungswandel im Zusammenspiel von Parlament, parlamentarischer Regierung, von Wahlrechtsreformen, Parteien und politischen Führern ging also mit einem Bedeutungswandel der Monarchie und der monarchischen Symbolsprache einher. Deren Integration in den Deu48 Vgl. E. Anthony Smith, The House of Lords in British Politics and Society, 1815 – 1911, London 1992. 49 Vgl. Erich Angermann, Robert von Mohl. 1799 – 1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied 1962; Andreas Wirsching, Das Problem der Repräsentation im England der Reform-Bill und in Hegels Perspektive, in: Christoph Jamme / Elisabeth Weisser-Lohmann (Hrsg.), Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels Reformbill-Schrift, Bonn 1995, S. 105 – 125; Gregor Schöllgen, England als Vorbild. Max Weber und die deutsche Verfassungsdiskussion 1917 / 18, in: Gerhard A. Ritter / Peter Wende (Hrsg.), Rivalität und Partnerschaft. Studien zu den deutsch-britischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Festschrift für Anthony J. Nicholls, Paderborn 1999, S. 133 – 144, sowie Jörn Leonhard, Construction and Perception of National Images: Germany and Britain 1870 – 1914, in: The Linacre Journal. A Review of Research in the Humanities 4 (December 2000): The Fatal Circle: Nationalism and Ethnic Identity into the 21st Century, S. 45 – 68. 50 Vgl. David Cannadine, Die Erfindung der britischen Monarchie 1820 – 1994, Berlin 1994, S. 23 – 39.
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tungsrahmen der Verfassung versprach im Zeitalter dynamischer Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft ein stabiles Reservoir von Symbolen nationaler Selbstvergewisserung. In neueren Untersuchungen der parlamentarischen und politischen Kultur Englands wird auch die besondere Bedeutung von politischer Sprachpraxis und Verfassungsdiskursen betont.51 Gegen intellektuelle, von kontinentaleuropäischen Wahlrechtsmodellen ausgehende Positionen betonte man im ganzen 19. Jahrhundert den common sense und die Wendung gegen undurchführbare (impracticable) Vorschläge. Als stärkstes Argument gegen eine Imitation theoretischer Importe, etwa angesichts der Popularität der Schriften Alexis de Tocquevilles oder in der Diskussion um das amerikanische Modell, wurde in diesen Diskursen vor allem der genuin „English character“ der Institutionen hervorgehoben. Das reflektierte das Aufkommen eines eigenen, stark national imprägnierten Verfassungspatriotismus, der gegen ausländische Repräsentationsprinzipien immunisieren sollte. Walter Bagehot schrieb 1871: „The practical choice of first-rate nations is between Presidential Government and the Parliamentary“. Eine weise Nation werde sich immer für das englische Modell entscheiden, „framed on the principle of choosing a single sovereign authority, and making it good“. Dagegen stehe das amerikanische Präsidialsystem für „having many sovereign authorities, and hoping that their multitude may atone for their inferiority“.52
3. Die lange Dekonstruktion des Verfassungsmythos seit Beginn des 20. Jahrhunderts
Die neuere britische Verfassungsgeschichte hat sich kritisch mit diesem Verfassungsmythos in der Tradition der Whig interpretation of history auseinandergesetzt und mit Blick auf die Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert erheblich zu dessen nachhaltiger Dekonstruktion beigetragen.53 Dieser Trend hält bis in die Gegenwart an. Bereits 1896 diagnostizierte der Historiker W. H. E. Lecky einen „declining respect for parliamentarian government“.54 Im Kontext der Debatte um national efficiency vor 1914
51 Vgl. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780 – 1867, Stuttgart 1993. 52 Walter Bagehot, The English Constitution (1872), in: The Collected Works of Walter Bagehot, hrsg. von Norman St. John-Stevas, Bd. 5, London 1974, S. 202; vgl. Vernon Bogdanor, Introduction, in: ders. (Hrsg.), The British Constitution in the Twentieth Century, Oxford 2003, S. 1 – 28, hier: S. 1 f. 53 Vgl. Stuart E. Finer, Notes towards a history of constitutions, in: Vernon Bogdanor (Hrsg.), Constitutions in Democratic Politics, Aldershot 1988, S. 17 – 32; James Vernon (Hrsg.), Re-reading the constitution. New Narratives in the political history of England’s long nineteenth century, Cambridge 1996.
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und im Blick auf die ökonomische Leistungskraft und das soziale Reformpotential Deutschlands und der Vereinigten Staaten schien die englische Verfassung ihren historischen Vorsprung tendenziell einzubüßen. Die Liberalen reagierten auf diese zunehmende Kritik mit forcierten Verfassungsreformen, die, durch die Kriegserfahrungen entscheidend katalysiert, nach 1918 im Representation of the People Act gipfelten. Mit ihm fand die Ausweitung des Wahlrechts in der Tradition der Reformen des 19. Jahrhunderts einen Abschluß, auch wenn das allgemeine und gleiche Wahlrecht erst in den 1950er Jahren komplettiert wurde, als Fellows der Universitäten von Oxford und Cambridge ihre zweite Stimme für einen eigenen Abgeordneten der universitären Korporation einbüßten. Hinsichtlich des Wahlrechts kam das lange Ancien régime Großbritanniens erst jetzt zu Ende.55 Während der Premierminister vor allem durch die Außen- und Empirepolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmend beherrschende Stellung ohne weitergehende checks and balances einnahm, erhielt sich bei aller Kritik zunächst noch das Bewußtsein für die Entwicklungs- und Reformfähigkeit der Verfassung. Das schienen die Verfassungsreformen bis zu Beginn der 1920er Jahre zu unterstreichen: Mit dem Parliament Act 1911 wurde die Rolle des Oberhauses neu definiert, der People Act 1918 stabilisierte das Zweiparteiensystem mit Labour anstelle der Liberalen, und der Anglo-Irish Treaty von 1921 führte zum Abzug der irischen Abgeordneten aus dem Unterhaus bis auf die Repräsentanten der Provinz Ulster.56 Aber die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, die schmerzvolle Dekolonisation und der Verlust des Empire-Status im Schatten des Kalten Krieges ließen seit den 1960er Jahren die Verfassung immer mehr als anachronistischen Hemmschuh erscheinen. Der Blick auf das französische Modell der planéfication, also eine zentralstaatliche Planung, und auf das westdeutsche Verhältniswahlrecht und die Prinzipien der sozialen Mitbestimmung beförderten diese kritische Distanzierung. Insbesondere die „elective dictatorship“ des Premierministers, der weder Koalitionsregierungen noch Verfassungsgerichte fürchten mußte, sowie die Konsequenzen des Mehrheitswahlrechts zogen Kritik auf sich. Lord Haisham erklärte 1976 in einer vielzitierten Rede: „Our constitution is wearing out. Its central defects are gradually becoming to outweigh its merits, and its central defects consist in the absolute powers we confer to our sovereign body, and the concentration of 54 Zitiert nach: Richard A. Cosgrove, The Rule of Law: Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, London 1980, S. 207; vgl. Oliver Lepsius, Die Begründung der Verfassungsrechtswissenschaft in Großbritannien durch A. V. Dicey, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29 (2007), S. 47 – 59. 55 Vgl. Bogdanor, Introduction (FN 52), S. 3 f. 56 Vgl. ebd., S. 4 ff. und 13 f. sowie ders., Conclusion, in: ebd., S. 689 – 720, hier: S. 690 ff.
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these powers in an executive government formed out of one party which may not fairly represent the popular will.“ 57 Seit den 1970er Jahren haben vier Problembereiche die Verfassungsdiskussion in Großbritannien geprägt: Die Zukunft Nordirlands, die Möglichkeiten und Grenzen einer Dezentralisierung politischer Entscheidungsprozesse im Zeichen einer devolution, die Frage, wie sich Großbritannien zur europäischen Integration verhalten soll, sowie damit verbunden die Inkorporation des European Communities Act und des Human Rights Act. Damit steht nicht allein die Parlamentssouveränität, sondern auch die Tradition der geschriebenen Verfassung auf dem Prüfstand. Vernon Bogdanor resümiert seine jüngst erschienene umfassende Darstellung der britischen Verfassung im 20. Jahrhundert mit der Feststellung: „Britain would thus have undergone a unique constitutional experiment, in having transformed an uncodified into a codified constitution by piecemeal means. There seemed, however, little political will to complete this process, and little consensus on what the final goal should be. For the moment [ . . . ] Britain remained, constitutionally speaking, in a half-way house.“58
IV. Zusammenfassung und Ausblick: Perspektiven einer europäisch-komparativen Verfassungsgeschichte Bereits ein symptomatischer Blick auf die vielfältigen Perspektiven und Schwerpunkte der Verfassungsgeschichte in Frankreich und Großbritannien zeigt, wie sich aus der Vielgestaltigkeit der Phänomene Anschlußmöglichkeiten für die weitere Forschung ergeben können. Dabei verdienen drei Aspekte besondere Bedeutung: (1) Der traditionelle, engere staatsrechtlich-deskriptive Verfassungsbegriff wird in den neueren Arbeiten insgesamt fortentwickelt und erweitert. Vor diesem Hintergrund geraten die Ambivalenzen, die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten der historischen Verfassungsentwicklung stärker in den Blick. Sie relativieren auch Tendenzen zur Verfestigung verfassungsgeschichtlicher Kontinuitätsvorstellungen, so etwa im Blick auf Verfassungswandel bei gleichzeitiger Elitenkontinuität in Frankreich nach 1799. Dazu tritt die systematische Dekonstruktion von Verfassungsmythen, wie im Falle Großbritanniens die Distanzierung von der Whig interpretation of history. Auch der Verfassungsbegriff unterliegt einer tendenziellen kulturalistischen Öffnung. Thematisiert wird vor diesem Hintergrund etwa die Verfassung als Gegenstand politischer Diskurse, als Medium der politischen Kultur und als Bestandteil der 57 58
Zitiert nach ebd., S. 702 f. Ebd., S. 719.
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kollektiven Gedächtnisse. Das geht über die Mechanik politisch-konsitutioneller Systeme hinaus und läßt die semiotischen und diskursiven Funktionen von Verfassungen als Referenzpunkte von Gesellschaften stärker hervortreten. (2) Während mit Wolfgang Reinhards vergleichender Verfassungsgeschichte Europas die historische Komparatistik auch im Bereich der Verfassungsgeschichtsschreibung zu einer gewissen Relativierung des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts im Zeichen einer Europäisierung der Untersuchungsgegenstände geführt hat, dominiert unter französischen und britischen Historikern noch immer häufig die Perspektive auf die eigene Verfassungsentwicklung und ihre Spezifika.59 Der erhebliche Aufschwung komparativer Arbeiten in der jüngeren Generation europäischer Historiker und die damit verbundenen Fragen nach dem Vorbildcharakter der französischen und englischen Verfassungsmodelle hat vor diesem Hintergrund gerade von Deutschland ausgehend neue Impulse vermittelt. Das wird etwa im Blick auf die Untersuchungen napoleonischer Modellverfassungen, der Verfassung im Königreich Hannover und zumal im Vergleich von Staatsbürgerschaftskonzeptionen deutlich.60 Hier wirken neben der vergleichenden Perspektive auch die Dimensionen von Transfer und Rezeption immer stärker als methodische Leitlinien.61 (3) Insgesamt wird die diachrone Perspektive der Verfassungsgeschichte durch Methoden des synchronen Vergleichs, der Transfer- beziehungsweise Verflechtungsgeschichte und der je besonderen Rezeption von Verfassungsmodellen in Europa erheblich befruchtet.62 Nicht zuletzt an 59 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. 60 Vgl. Martin Kirsch und Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999; Martin Kirsch (Hrsg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001; Michael Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin 2005; Carsten Hajungs, Die Geschäftsordnung des hannoverschen Landtages (1833 – 1866): Ein Beispiel englischen Parlamentsrechts auf deutschem Boden? (1833 – 1866), Baden-Baden 1999; Rogers Brubaker, Citizenship and nationhood in France and Germany, 3. Aufl., Cambridge / Mass. 1996, sowie Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen: Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001. 61 Vgl. Henk te Velde, Political Transfer: An Introduction, in: ders. (Hrsg.), Political transfer = Les transferts politiques, in: European Review of History 12 / 2 (2005), S. 205 – 221; Nicolas Roussellier, The Political Transfer of English Parliamentary Rules in the French Assemblies (1789 – 1848), in: European Review of History 12 / 2 (2005), S. 239 – 248. 62 Vgl. etwa Guido Braun, Scheid, Necker et Dupal. La connaissance du droit public allemand en France et en Grande-Bretagne (1741 – 1754), in: Francia 27 / 2 (2000),
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einer konsequenten und systematischen Europäisierung der Verfassungsgeschichte, ihren Gegenständen und Methoden, wird die Innovationsfähigkeit und Anschlußfähigkeit der Disziplin gemessen werden.
S. 213 – 247; Annelien de Dijn, Balancing the Constitution: Bicameralism in Postrevolutionary France, 1814 – 31, in: European Review of History 12 / 2 (2005), S. 249 – 268; Richard Whatmore, Etienne Dumont, the British Constitution, and the French Revolution, in: Historical Journal 50 / 1 (2007), S. 23 – 47, sowie Geoffrey Cubitt, The Political Uses of Seventeenth-Century English History in Bourbon Restoration France, in: Historical Journal 50 / 1 (2007), S. 73 – 95.
Die neueste italienische Verfassungsgeschichte und die „parlamentarische Regierung“ im Königreich Italien (1861 – 1922)* Von Anna Gianna Manca, Trient I. Zuallererst möchte ich meinen herzlichsten Dank dem Vorsitzenden dieser hochrenommierten Vereinigung, Herrn Prof. Dr. Diethelm Klippel, und allen ihren hochgeehrten Mitgliedern dafür aussprechen, dass Sie mich als Mitglied aufgenommen und zu einem Vortrag auf dieser Tagung nach Hofgeismar eingeladen haben. Die große Ehre, die Sie mir alle mit der Aufnahme in die Vereinigung erwiesen haben, weiß ich wohl zu schätzen. Ich hoffe sehr, dieser Ehre in angemessener Weise dadurch gerecht werden zu können, dass ich meine Zugehörigkeit zu diesem Gremium als Verpflichtung verstehe, mich sowohl für eine bessere Kenntnis der italienischen Verfassungsgeschichte in Deutschland als auch umgekehrt für eine bessere Kenntnis der deutschsprachigen Verfassungsgeschichte in Italien zu engagieren, wie es übrigens von Anfang an in der Tradition der Schule meines Lehrers, Prof. Pierangelo Schiera, gestanden hat. In diesem Sinne und von diesem Anliegen ausgehend möchte ich nun endlich zu meinem Thema überleiten, das sich mit Der neuesten italienischen Verfassungsgeschichte und dem Sonderweg des Königreichs Italien zur „parlamentarischen Regierung“ befassen wird. Dabei beabsichtige ich – auf Anregung einiger jüngster italienischer Arbeiten zur Verfassungsgeschichte – eine kritische Reflexion über den herkömmlicherweise als „parlamentarisch“ definierten Charakter der italienischen Regierungsform anzustellen, die sich unter dem Statuto Albertino1 im liberalen Zeitalter Italiens (also in der Zeit zwischen 1861 und 1922) herausbildete. * Im Folgenden kommt der nur leicht veränderte und ergänzte Text des im Rahmen der Tagung „Verfassungsgeschichte in Europa“ am 28. März 2006 in Hofgeismar gehaltenen Vortrags zum Abdruck. Auf eine umfangreiche Dokumentation der einschlägigen Quellen und Literatur wurde verzichtet. 1 Das „Statuto del Regno di Sardegna (4 marzo 1848)“, erstmals am 5. März 1848 in der „Raccolta di leggi, decreti, proclami manifesti . . .“, serie V, Vol. XII (1848),
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Bevor ich mit meiner Darstellung gleich beginne, scheint es mir aber vonnöten zu sein, ihr eine kurze Präzisierung vorauszuschicken, die sich auf Folgendes bezieht: Wenn im Titel meines Referats von „parlamentarischer Regierung“ die Rede ist und nicht etwa von „parlamentarischer Regierungsform“, „Parlamentarismus“ oder „parlamentarischem System“, so habe ich das nicht ganz gedankenlos, sondern aus zweierlei Gründen getan. Durch die Einführung des Terminus „parlamentarische Regierung“ möchte ich nämlich zum Ersten die sich in den zeitgenössischen politischen und staatsrechtlichen publizistischen Quellen am häufigsten aufzufindende italienische Redeweise vom „governo parlamentare“ so wortgetreu wie möglich wiedergeben. Durch mein Aufgreifen dieses speziellen Ausdrucks möchte ich zum Zweiten aber auch vermeiden, dass statt dessen einerseits viel zu allgemeine Begriffe, wie etwa der des Parlamentarismus, in diesem Zusammenhang ins Spiel kommen und man sich andererseits auf den Gebrauch von Ausdrücken wie „parlamentarische Regierungsform“ oder „parlamentarisches System“ angewiesen sieht, deren Gebrauch eine Vorstellung hervorrufen würde, die ich eigentlich durch die nachfolgende Argumentation gerade radikal in Frage stellen möchte: die Vorstellung nämlich, dass man sich schon im Italien der liberalen Epoche bewusst und systematisch mit der Frage und der Problematik der Herausbildung von Begriffen wie „parlamentarische Regierungsform“ oder „parlamentarisches System“ erfolgreich auseinandergesetzt hätte.
II. Von der These einer äußerst frühzeitigen Parlamentarisierung des Königreichs Italien ging unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Faschismus der Verwaltungsrechtler Massimo Severo Giannini in einem Aufsatz aus, den er 1946 im Auftrag des „Ministero per la Costituente“ (Ministeriums für die verfassungsgebende Versammlung) verfasste.2 Danach wurde die These immer wieder neu aufgelegt, mal mit typisch liberalem Stolz, wie ihn
S. 41 – 48 veröffentlicht, findet sich u. a. bei Alberto Aquarone, Mario D’Addio, Guglielmo Negri (Hrsg.), Le costituzioni italiane, Milano 1958, S. 662 – 669, und inzwischen auch in: Regione Piemonte, Archivio di Stato di Torino (Hrsg.), 1848 – 1948. Dallo Statuto albertino alla Costituzione repubblicana, Torino 1998, S. 63 – 66. 2 Massimo Severo Giannini, Lo Statuto albertino e la costituzione italiana, in: ders., Carlo Arturo Jemolo, Lo Statuto albertino (= Collana di testi e documenti costituzionali promossa dal Ministero della Costituente, Vol. 3), Firenze 1946, S. 43 – 78, insb. S. 62 und 70.
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Carlo Ghisalberti vertrat3, mal in kühlerem Ton, wie ihn Giuseppe Galasso an den Tag legte4; in jedem Fall stellte man aber den tatsächlichen Realitätsgehalt dieser These für lange Zeit nicht grundsätzlich in Frage. Noch heute tritt Giovanni Bognetti für den parlamentarischen Charakter des politisch-institutionellen Systems des Königreichs Italien ein, im Zusammenhang mit einer allgemeineren Auffassung von der Entwicklung des italienischen Staates, die grundsätzlich im Zeichen der Kontinuität gestanden habe.5 Einen spürbaren Impuls für eine historiographische Wende gab jedoch als Erster, wie ich glaube, Ettore Rotelli mit seinem 1978 erschienenen Aufsatz über „Die [italienische] Verfassungsorganisation in der Geschichtsschreibung der zweiten Nachkriegszeit“.6 Rotelli hatte übrigens schon in einer seiner früheren Arbeiten, die 1972 über „Das Präsidium des Ministerrats“ erschienen war7, Gelegenheit für eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema der italienischen parlamentarischen Regierung gefunden. Seine zentrale These lautete hier jedoch noch, dass die fortschreitende Herausbildung und Konsolidierung der Kabinettsregierung, die auch über die Dekrete Ricasoli vom 28. März 1867, N. 36298, Depretis vom 25. August 1876, N. 32899, und zuletzt Zanardelli vom 14. November 1901, N. 46610 erfolgte, zur Erlangung einer höheren Entwicklungsstufe zur parlamentarischen Regierung, wenn nicht sogar zu ihrer definitiven Durchsetzung beigetragen habe.11 Ein Zusammenfallen der Konsolidierung der nicht vom Statuto Albertino vorgesehenen Kabinettsregierung mit dem charakteristischen Vorrang des 3 Carlo Ghisalberti, Storia costituzionale d’Italia. 1848 – 1948, 16. Aufl. Bari 1997, S. 67. 4 Giuseppe Galasso, Potere e istituzioni in Italia. Dalla Caduta dell’Impero romano a oggi, Torino 1974, S. 200. 5 Giovanni Bognetti, La costituzione repubblicana del 1948. Elementi di continuità e elementi di innovazione nel quadro della storia costituzionale italiana, in ders., Nel quarantennale della costituzione. Due lezioni (= Quaderni di diritto pubblico, Vol. 4), Milano 1989, S. 3 – 43. Siehe auch ders., La rinascita di due democrazie: convergenze e divergenze nelle costituzioni italiana e tedesca, in: Gian Enrico Rusconi, Hans Woller (Hrsg.), Italia e Germania 1945 – 2000. La costruzione dell’Europa, Bologna 2005, S. 259 – 271. 6 Ettore Rotelli, L’organizzazione costituzionale nella storiografia del secondo dopoguerra (1978), in: ders. (Hrsg.), Costituzione e amministrazione dell’Italia unita, Bologna 1981, S. 13 – 45, insb. S. 28 – 32 und 41 f. 7 Ettore Rotelli, La Presidenza del Consiglio dei ministri. Il problema del coordinamento dell’amministrazione centrale in Italia (1848 – 1948), Milano 1972. 8 Ebd., S. 37 ff. 9 Ebd., S. 73 ff. 10 Ebd., S. 191 ff. 11 Ebd., S. 22, 81, 178 ff., 182, 204 ff., 208 f., 225, 448 f. und 466.
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Ministerpräsidenten gegenüber den anderen Ministern und der Herausbildung der „parlamentarischen“ Regierung war in Italien bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Verfassungsrechtler Gaspare Ambrosini behauptet worden.12 Eine solche Entsprechung zwischen parlamentarischer Regierung und Kabinettsregierung sah allerdings Ambrosini bezeichnenderweise schon für die unmittelbar auf das Ende des Ersten Weltkriegs folgende Periode unwiderruflich in Frage gestellt13: Es handelt sich hierbei um die Jahre, in denen zum ersten Mal die Parteien, mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts im Jahr 191814 und des Verhältniswahlsystems 191915 sowie mit der sich aus der neuen Geschäftsordnung von 1920 ergebenden inneren Strukturierung der Abgeordnetenkammer nach Fraktionen16, nunmehr zum „Kern des politischen und parlamentarischen Lebens“ geworden waren, um es mit Ambrosinis eigenen Worten auszudrücken.17 Bei Ambrosini, aber ebenso auch in der bereits zitierten Arbeit Ettore Rotellis aus den siebziger Jahren über das Präsidium des Ministerrats, wird 12 Gaspare Ambrosini, La trasformazione del regime parlamentare e del governo di gabinetto, in: Rivista di diritto pubblico XIV (1922), S. 187 – 200. Zu Ambrosini siehe Fulco Lanchester, Pensare lo Stato. I giuspubblicisti nell’Italia unitaria, Roma, Bari 2004, Kap. 3 („Crisi dello Stato liberale e democrazia di massa: Gaspare Ambrosini e il problema della rappresentanza“), S. 83 – 96, und Nicola Antonetti, Paradigmi politici e riforme elettorali: dal sistema maggioritario uninominale al sistema proporzionale, in Pier Luigi Ballini (Hrsg.), Idee di rappresentanza e sistemi elettorali in Italia tra Otto e Novecento, Venezia 1997, S. 343 – 382, insb. 379 ff., und ders., Gaspare Ambrosini e le riforme elettorali dopo la Grande Guerra, in: Giornale di storia costituzionale 3 / I (2002), S. 119 – 134. 13 Ambrosini, La trasformazione (FN 12), S. 195. 14 Zur Entstehung des Wahlgesetzes vom 16. Dezember 1918, Nr. 1985, welches das Wahlrecht auf alle über 21jährigen Männer (mehr als 11 Millionen Wähler) ausdehnte, siehe Pier Luigi Ballini, Le elezioni nella storia d’Italia dall’Unità al fascismo. Profilo storico-statistico, Bologna1988, S. 179 ff. Zur vorangehenden Einführung des (fast) allgemeinen Männerwahlrechts durch die Gesetze vom 23. Juni 1912, Nr. 665 und vom 22. Juni 1913, Nr. 648 siehe ebenda, S. 152 – 178, und Maria Serena Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 a oggi, Roma, Bari 1995, insb. Kap. VII („Dal 1909 al 1913: il suffragio universale è alle porte“) und VIII („1913: Nonostante tutto l’Italia liberale è finita“), S. 151 – 182 und 183 – 196. 15 Zur Einführung des Verhältniswahlsystems durch Gesetz vom 15. August 1919, Nr. 1401 siehe Pier Ballini, Le elezioni (FN 14), S. 179 – 207, und vor allem Maria Serena Piretti, Le elezioni politiche in Italia dal 1848 a oggi, Kap. IX („1919: Le incognite della governabilità di uno stato dei partiti nel sistema politico italiano“), S. 197 – 225 . 16 Zur Änderung der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer zwischen dem 26. Juli und dem 6. August 1920 siehe Gaspare Ambrosini, Partiti politici e gruppi parlamentari dopo la proporzionale, con un’appendice contenente il testo delle modifiche apportate il 26 luglio – 6 agosto 1920 al Regolamento interno della Camera dei Deputati, Firenze 1921. 17 Ambrosini, La trasformazione (FN 12), S. 189.
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die parlamentarische Regierung nur noch von den Organen der Exekutive aus definiert, dem Ministerpräsidenten mit den im Kabinett versammelten Ministern auf der einen und der Krone auf der anderen Seite. Insbesondere Rotelli vertritt die Auffassung, dass in Italien am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die fortschreitende „Verlagerung des politischinstitutionellen Gleichgewichts von der Krone zum Parlament zugunsten des Kabinetts“ gewirkt habe.18 In der bereits angesprochenen nachfolgenden Schrift von 1978 haben sich jedoch Rotellis Deutungsmuster scheinbar verändert. Hier wird nun nämlich die Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht, dass eine eingehendere „Untersuchung der Kabinetts- und Parlamentsgeschichte“ zur Überprüfung des „Gemeinplatzes“ führen solle, demzufolge „das Statuto Albertino, sowie es erlassen war, sofort gegen seine Buchstaben angewandt wurde, das heißt im Sinne einer parlamentarischen Monarchie“.19 Mehr noch, in derselben Arbeit wird darauf hingewiesen, dass „ein Mangel an Strenge bei der Anwendung der rein konstitutionellen Regierungsform nicht ausreicht, um das Urteil zu rechtfertigen, dass man sich ganz sicher in einem mehr oder weniger vollendeten parlamentarischen System befände“.20 Von Vorbehalten gegenüber dem Gegenstand erfüllt zeigte sich unter dieser Fragestellung die „italienische Verfassungsgeschichte“ Umberto Allegrettis von 1989.21 Allegretti legte gleich zu Anfang großen Wert auf die Präzisierung, dass der Parlamentarismus „sich nicht gerade sofort“ und gewiss nicht vor 1852, das heißt dem Machtaufstieg Cavours, und vor allem nicht ohne etliche „Kehrtwendungen“ herausgebildet habe22; doch an einer bestimmten Stelle der Abhandlung vertrat er aber auch die Auffassung, dass der Übergang Italiens zum parlamentarischen System „ohne Zweifel den positiven Hauptunterschied zwischen dem italienischen und dem deutschen liberalen System“ markierte.23 Von einem parlamentarischen System ist also nach Auffassung Allegrettis auf jeden Fall zu sprechen, wenn auch von „einem parlamentarischen System dualistischen Charakters“, da die Minister verpflichtet waren, um das doppelte Vertrauen, das des Königs und das des Parlaments, nachzusuchen. 24 Mit dieser Ergänzung machte sich Allegretti die in der Tradition Carl Schmitts von Costantino Mortati entwickelte Lehre über die beiden möglichen unterschiedlichen Parlamenta18
Rotelli, La Presidenza del Consiglio (FN 7), S. 465. Rotelli, L’organizzazione costituzionale (FN 6), S. 28 – 30. 20 Ebd., S. 30. 21 Umberto Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana. Individualismo ed assolutismo nello stato liberale, Bologna 1989. 22 Ebd., S. 435. 23 Ebd., S. 391. 24 Ebd., S. 436. 19
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rismusformen, nämlich einer dualistischen und einer monistischen, zu eigen.25 Der Umstand, dass es sich um einen Widerspruch in sich selbst handeln könnte, zugleich von einem Dualismus zwischen Parlament und Krone auf der einen26 und von einer parlamentarischen Regierung auf der anderen Seite27 zu sprechen, bei der doch streng genommen der Dualismus inzwischen im Parlament selbst, zwischen Mehrheit und Opposition, und nicht mehr außerhalb von diesem verortet sein müsste, scheint hier keinerlei Widerhall zu finden. Eine quantitative Erhebung der Stellen aber, bei denen italienische Verfassungsrechtler sich die Definition des liberalen Italien als ein dualistischer Parlamentarismus zu eigen machen, würde aber, glaube ich, ergiebiger ausfallen, als man sich vorstellen kann.28 Nach mehrjähriger Beschäftigung mit der Frage der Regierungsformen u. a. im Europa des Konstitutionalismus gelang es Rotelli in den letzten Jahren, endlich auf unzweideutige Weise den wesentlichen Unterschied zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie zu ermitteln, indem er genau von der Berücksichtigung des Wandels ausgeht, dem Rolle und Funktion des Parlaments unterworfen waren. Rotelli vertritt in der Tat die folgende Auffassung: „[ . . . ] ein bei der Gesetzesbestimmung verfassungsrechtlich nicht umgehbares Parlament, das aber von der Abberufung und Nominierung der Minister ausgeschlossen wird [ . . . ], unterscheidet sich wesentlich von einem Parlament, das über eine solche Gesetzgebungsbefugnis hinaus die Macht besitzt, in jedem beliebigen Moment durch eine Ad-hoc-Entscheidung die Rechtswirkung des obligatorischen Rücktritts des Kabinetts und seiner (oder wenigstens des Ministerpräsidenten) Ersetzung hervorzubringen.“29 25
Costantino Mortati, Le forme di governo. Lezioni, Padova 1973. Ebd., S. 146 – 153. 27 Ebd., S. 149 und 154. 28 Siehe z. B. Pietro Calamandrei, La funzione parlamentare sotto il fascismo, in: Segretariato generale della Camera dei deputati (Hrsg.). Il centenario del Parlamento, 8 maggio 1848 – 8 maggio 1948, Roma 1948, S. 285; Alberto Predieri, Lineamenti della posizione costituzionale del Presidente del Consiglio dei Ministri, Firenze 1951, S. 47 mit FN 133; Silvano Tosi, Introduzione, in: Giuseppe Maranini, Storia del potere in Italia 1848 – 1967, con una nota di Silvano Tosi alla nuova edizione, Firenze 1983, S. XIII; Augusto Barbera, I parlamenti, Roma, Bari 1999, S. 91; Maurizio Fioravanti, Costituzione e popolo sovrano. La Costituzione italiana nella storia del costituzionalismo moderno, 2. Aufl. Bologna 2004, S. 29 – 30. 29 Ettore Rotelli, La forma di governo britannica fra 1689 e 1784, in: Storia Amministrazione Costituzione 10 (2002), S. 45 – 126 (in leicht veränderter Fassung später veröffentlicht in: ders., Forme di governo delle democrazie nascenti. 1689 – 1799, Bologna 2005, dort als Kap. 1 [„La monarchia costituzionale della ,gloriosa‘ Rivoluzione inglese“], S. 17 – 96), hier S. 72, aber auch S. 48 und 106. In dieselbe Richtung tendiert auch Ettore Rotelli, La monarchia costituzionale della Rivoluzione francese (1789 – 1792), in: Storia Amministrazione Costituzione 11 (2003), S. 123 – 251 (später veröffentlicht in: Rotelli, Forme di governo delle democrazie nascenti (wie oben), dort 26
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Würden wir nun dieses Prinzip auf das von Rotelli in seiner letzten Arbeit über die Regierungsformen nicht neu untersuchten Italien des konstitutionellen Zeitalters anwenden, wo, nach der von Roberto Martucci im Jahre 2002 veröffentlichten „italienischen Verfassungsgeschichte“, „die Regierungen, [ . . . ] die durch eine Gegenstimme der Abgeordnetenkammer gestürzt wurden, selten waren und genau so wenig irgendein Parteiführer infolge eines siegreichen Wahlkampfes zum Vorsitz des Ministerrats erhoben wurde“30, dann könnten wir vielleicht leicht zu derselben Feststellung Rotellis gelangen, das liberale Italien sei „eine konstitutionelle Monarchie [gewesen], die sich nie zur parlamentarischen Monarchie gewandelt hat“.31
III. Bereits Stefano Merlini hat in einer Untersuchung von 1995 festgestellt, wie schon „seit dem Zeitalter Cavours“ die Auffassung „sehr verbreitet“ gewesen sei, dass Italien ziemlich schnell vom Konstitutionalismus zum Parlamentarismus übergegangen wäre.32 Den Begriff der parlamentarischen Regierung gebrauchten mit Bezug auf Italien in den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter anderen auch zwei der größten italienischen Staatsrechtler der liberalen Epoche, nämlich Vittorio Emanuele Orlando und Giorgio Arcoleo. Ihre grundlegenden Überlegungen zur „parlamentarischen Regierung“ habe ich in einer Untersuchung, die Ende 2005 in der Zeitschrift „Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno“ erschienen ist, einer eingehenden Betrachtung unterzogen.33 Falls man sich aber anschickt zu überprüfen, was die beiden Rechtsgelehrten tatsächlich unter parlamentarischer Regierung verstanden, wird man unvermeidlicherweise auf einige Überraschungen stoßen. Die Überraschung wird jedoch um so weniger verblüffend ausfallen, je mehr man im Kopf behält, was bisher über die Übereinstimmung zwischen parlamentarischer Regierung und Kabinettsregierung gesagt worden ist, die am Anfang des 20. Jahrhunderts von Gaspare Ambrosini festgestellt worden war und als Kap. 3 [„La monarchia costituzionale della Rivoluzione francese“], S. 251 – 354), insb. S. 124 f., 213 ff. und 238 f. 30 Roberto Martucci, Storia costituzionale italiana. Dallo Statuto albertino alla Repubblica (1848 – 2001), Roma 2002, hier S. 59. 31 Rotelli, Forme di governo (FN 29), S. 508. 32 Stefano Merlini, Il governo costituzionale, in: Raffaele Romanelli (Hrsg.), Storia dello Stato italiano dall’Unità a oggi , Roma 1995, S. 3 – 72, hier S. 31. 33 Siehe Anna Gianna Manca, Il Sonderweg italiano al governo parlamentare (a proposito delle acquisizioni della più recente storiografia costituzionale italiana), in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 33, 34 (2004, 2005), S. 1285 – 1333.
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sehr viel später auch von Ettore Rotelli mit anfänglicher Zustimmung wieder aufgegriffen wurde. Im Falle Orlandos, der die Ehre und die Bürde auf sich nahm, die rechtspositivistische methodologische Revolution Paul Labands in Italien einzuführen34, gelangt man bald zu der Feststellung, dass das, über das er sprach, das er für existent und als solches für untersuchungswürdig hielt, eigentlich nicht die „parlamentarische Regierung“, sondern die „Kabinettsregierung“ war.35 Das zentrale Element des politisch-institutionellen Systems der Kabinettsregierung ist aber offenkundig nicht das Parlament, sondern der Ministerrat mit seiner Vermittlerrolle zwischen dem Monarchen auf der einen und der Volksvertretung auf der anderen Seite. In so einer Kabinettsregierung ist innerhalb der Machtsphäre des nicht verantwortlichen Monarchen in keiner Weise die Aufrechterhaltung eines Souveränitätsbereichs ausgeschlossen, der nicht vom Statuto Albertino begrenzt wird, nämlich des Bereichs der königlichen Prärogative. Überdies stellt sich Orlandos Kabinettsregierung, indem sie sich wesentlich auf das Bemühen nach einer politischen Balance und Synthese zwischen dem monarchisch-legitimistischen Prinzip einer- und dem Repräsentativprinzip andererseits zu gründen scheint, als ein Typ von Parlamentarismus dar, der dem Konstitutionalismus nach klassischem Verständnis sehr, ja zu nahe kommt; ein Parlamentarismus, der nicht weniger ,besonders‘ oder ,einzigartig‘ in seiner Art ist als dies in Deutschland der Konstitutionalismus oder besser die monarchischkonstitutionelle Regierungsform gewesen ist, wenigstens nach den alten und neuen Verfechtern des deutschen Sonderwegs. Wenn man dann außerhalb des Wirkungsbereichs des Rechtspositivismus zur näheren Betrachtung des anderen oben genannten Verfassungsrechtlers, nämlich Giorgio Arcoleo (1850 – 1914), übergeht und nachprüft, ob wenigstens in seiner Untersuchung von 1881 über „Das Kabinett in parlamentarischen Regierungen“36 eine Auffassung von parlamentarischer Regierung auffindbar wäre, die uns nicht so sehr in der Frage, ob dem ,Wort‘ tatsäch34 Zum Orlandos Bezugnahme auf die Laband’sche Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Gesetz siehe schon Luigi Rossi, La letteratura del diritto pubblico. A proposito di recenti pubblicazioni, in: Archivio di diritto pubblico IV (1894), S. 161 – 190, insb. S. 163. Auch auf die Laband’sche Theorie vom Parlament als Staatsorgan griff Orlando zurück, siehe dazu Maurizio Dogliani, L’idea di rappresentanza nel dibattito giuridico in Italia e nei maggiori paesi europei, in: Pier Luigi Ballini (Hrsg.), Idee di rappresentanza e sistemi elettorali in Italia tra Otto e Novecento, Venezia 1997. 35 Siehe Vittorio Emanuele Orlando, Studi giuridici sul governo parlamentare, originariamente, in: Archivio giuridico, Vol. XXXVI, Bologna 1886; später wiederveröffentlicht in: Diritto pubblico generale. Scritti varii (1881 – 1940) coordinati in sistema, Milano 1954 [unveränderter Nachdruck], S. 345 – 415. 36 Giorgio Arcoleo, Il Gabinetto nei governi parlamentari, Napoli 1881, 224 S.
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lich auch die ,Sache‘ entspräche, aber wenigstens hinsichtlich der Tatsache beruhigen kann, dass wenn man in der liberalen Epoche Italiens von parlamentarischer Regierung sprach, man darunter wirklich einen spezifischen und genau bestimmten Sachverhalt verstand – so wird man schon bald darüber seine Meinung ändern müssen. Nach Arcoleos eigenem Eingeständnis verfügte der Monarch bei der italienischen parlamentarischen Regierung über einen Ermessensspielraum in der Ausübung der Exekutivgewalt, der wesentlich größer war als derjenige, über den der König unter der englischen Kabinettsregierung verfügte, wie sie von Bagehot beschrieben worden ist. Kompatibel mit der parlamentarischen Regierung ist für Arcoleo sogar die monarchische Prärogative, a) die Regierung zu bilden und sie außerhalb der Parlamentsmehrheit zu bilden37, b) außerparlamentarische Regierungskrisen, das heißt bei geschlossener Kammer, hervorzurufen38, c) im Notfall zu intervenieren (eine Prärogative, wie Arcoleo eingestand, die keine Erwähnung im Statuto fand)39 und schließlich d) als Konsequenz der letztgenannten, die Kammer aufzulösen.40 Bei dieser Befugnis zur Kammerauflösung handelt es sich nach den Worten Arcoleos um eine „delikate, aber unter ganz besonderen Umständen auch notwendige“ Macht, eine Macht, die „der Regierung all ihre Stärke und Autorität“ erhalten könne41, eine Macht jedoch, die schon Bagehot – wie Arcoleo kritisch betonte – als inkompatibel sogar „mit der konstitutionellen Monarchie“ bezeichnet hatte.42 Im gesamten Text ist deutlich die Indifferenz Arcoleos gegenüber der Autonomie und Würde des Parlamentsinstituts spürbar, aus dessen Mehrheit bei einer ,wahren‘ parlamentarischen Regierung das Kabinett und dessen Präsident hervorgehen, der es auf politisch verantwortliche Weise präsidiert, koordiniert und leitet. Aus den beiden gerade angeführten Beispielen der Auseinandersetzung, die von der italienischen Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Frage der parlamentarischen Regierung eröffnet wurde, entnimmt man deutlich den Mangel einer gefestigten Tradition sowohl institutionengeschichtlicher als auch rechtsdogmatischer Untersuchungen über den Begriff der parlamentarischen Regierung, über die Frage, welche deren wesentlichen Elemente wären, die allein ihre Unterscheidung von der allgemeineren konstitutionellen Regierungsform erlaubten. 37
Ebd., S. 168 – 173. Ebd., S. 209 – 210. 39 Giorgio Arcoleo, Diritto costituzionale. Dottrina e storia, 2. Aufl. Napoli 1904, S. 299 – 303. 40 Arcoleo, Il Gabinetto (FN 36), S. 181 – 189. 41 Ebd., S. 183 – 186. 42 Ebd., S. 182. 38
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Im liberalen Italien wurde der Ausdruck der parlamentarischen Regierung sehr oft gebraucht, um das Ergebnis einer in gewisser Hinsicht notwendigen Evolution der konstitutionellen Regierungsform zu bezeichnen, einer Evolution, die aber nie so weit zu gehen schien, dass sie eine Regierungsform hervorgebracht hätte, die sich strukturell und funktional von jener ursprünglichen Form unterschied. Und in der Tat, auf der einen Seite besaß das italienische Parlament nicht die nötige Stärke, seine politische Orientierung auch durch die Entlassung der amtierenden, vom König ernannten Regierung, die nicht sein Vertrauen genoss, durchzusetzen; und auf der anderen Seite war die Eventualität eines Rekurses des Monarchen auf die königliche Prärogative (der Ernennung beziehungsweise Abberufung der Minister sowie der Auflösung beziehungsweise Vertagung der Abgeordnetenkammer) gegenüber einem widerspenstigen Regierungschef beziehungsweise Parlament noch allzu gegenwärtig und konkret, wie die neuesten Studien über die italienische Monarchie von Filippo Mazzonis43 und von Paolo Colombo44 – wenn auch mit unterschiedlicher Methodologie – sehr deutlich gezeigt haben. Was sich in Italien eingespielt hatte, war in Wirklichkeit ,nur‘ eine so genannte Kabinettsregierung, das heißt eher eine Kabinettsregierung sui generis, die nämlich auf einer doppelköpfigen Exekutive (Monarch und Regierung) beruhte und letztendlich politisch nicht verantwortlich war. Filippo Mazzonis hat bezüglich des Machtaufstiegs und dann des Falls Rudinìs im Jahre 1897 in angemessener Weise verdeutlicht, „wie relevant die königliche ,Gunst‘ [sogar] für die Festigkeit der Treue einer Mehrheit gegenüber dem Ministerpräsidenten [war] und [ . . . ] wie dieser zwar auch vom parlamentarischen, aber vor allem vom königlichen Vertrauen [abhing]“.45 In der Rechtskultur der liberalen Monarchie Italiens erlaubte der austauschbare Gebrauch der Ausdrücke „parlamentarische Regierung“ und „Kabinettsregierung“ die Hervorhebung eines einzigen Charakterzugs der parlamentarischen Regierung – die veränderte Rolle des Ministerpräsidenten gegenüber dem Staatsoberhaupt und den Ministern –, während dagegen das Wesen und die Funktionsweise der Wahlkammer innerhalb des politisch-institutionellen Gesamtsystems insgesamt im Dunkeln belassen wurde. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Umstand sehr erhellend, dass der Erlass des Dekretes Zanardelli Nr. 466 vom 14. November 1901, das den Kompetenzbereich des Ministerrats zum Gegenstand hat und noch heute zum großen Teil in Kraft ist46, auch von den Stellungnahmen derjenigen
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Filippo Mazzonis, La Monarchia e il Risorgimento, Bologna 2003. Paolo Colombo, Storia costituzionale della monarchia italiana, Roma, Bari 2001. Mazzonis, La Monarchia (FN 43), S. 175.
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begleitet wurde, die in der Konsolidierung einer solchen Kabinettsregierung – entgegen der Auffassung Gaspare Ambrosinis – gerade eine „Antithese“ oder ein „Gegenmittel“ zum Parlamentarismus erblickten.47
IV. Ich komme zum Schluss: Die schrittweise herangereifte These lautet also, dass dieselbe dualistische, instabile und (wenn auch auf latente Art) stets konfliktreiche Dialektik zwischen dem monarchisch-gouvernementalen Pol einerseits und dem Parlament andererseits die Funktionsweise der politisch-institutionellen Systeme nicht nur der Staaten, die von der europäischen Geschichtsschreibung traditionellerweise als ,konstitutionelle Monarchien‘ katalogisiert werden (Preußen ab 1850, das zweite deutsche Kaiserreich ab 1871, das Frankreich der Restauration ab 1814 und der Julimonarchie ab 1830 etc.), sondern auch des Königreichs Italien im hier betrachteten Zeitraum regelte. Über dieses wurde bekanntlich traditionellerweise behauptet, dass es dagegen gemäß einer (nicht weiter spezifizierten) „parlamentarischen“ Regierungsform regiert worden sei, was dann völlig verständlicherweise auch hier in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederholt worden ist, nicht zuletzt anhand des Kenntnisstandes, den die größten deutschen Rechtsgelehrten aus dem sehr anerkannten, 1892 von Emilio Brusa ausdrücklich für das deutschsprachige Publikum verfassten Staatsrecht des Königreichs Italien gewinnen konnten.48 In Distanzierung von all jenen, die für das liberale Italien von einem dualistischen Parlamentarismus gesprochen haben, in dem das Kabinett noch verantwortlich sei sowohl gegenüber dem Staatsoberhaupt, der es abberufen kann, als auch gegenüber dem Parlament, soll hier dagegen mit Nachdruck betont werden, dass uns die jüngste und aktuellste Verfassungsgeschichtsschreibung immer häufiger das Bild eines Königreichs Italien vor 1922 vermittelt, in dem der Konfliktdualismus zwischen Parlament und 46 Von einer „costituzionalizzazione“ des Dekrets Zanardellis von 1901 durch Art. 95 der italienischen Verfassung von 1948 ist bei Rotelli, La Presidenza del Consiglio (FN 7), S. 478 – 79, die Rede. 47 Ebd., S. 217 – 18. In dieselbe Richtung auch Predieri, Lineamenti della posizione costituzionale (FN 28), S. 48. 48 Emilio Brusa, Das Staatsrecht des Königreichs Italien, in Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, hrsg. von Heinrich Marquardsen, Bd. IV [Staatsrecht der außerdeutschen Staaten I], 7. Abteilung, Freiburg i. B. 1892, insb. S. 108, S. 156 mit FN 2, S. 157 mit FN 1, S. 158 und 257, wo wiederholt von einer „parlamentarische Regierung“ in Italien die Rede ist, ohne dass an einer Stelle eine Erklärung darüber gegeben wird, was darunter eigentlich zu verstehen sei.
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monarchischer Regierung, der für die konstitutionelle Regierungsform charakteristisch ist, vorherrscht und überwiegt. In diesem Dualismus gelang es der Volksvertretung gewiss allmählich, und insbesondere im so genannten Zeitalter Giolittis (1900 – 1914)49, eine größere Autorität gegenüber der Regierung50 und eine stärkere Repräsentativität und Legitimität gegenüber dem Volk zu erwerben. Man denke nur an die fortschreitende Ausdehnung des Wahlrechts auf immer breitere Bevölkerungsschichten, die durch die Wahlrechtsreform von 1912 – 13 (und 1918) erfolgte51, und an die immer deutlichere Profilierung der Abgeordnetenkammer als Ausdruck und Ort der Konfrontation zwischen organisierten politischen Parteien infolge der Anwendung der Geschäftsordnung von 1920, mit der diese sich in ihrem Innern nach offiziell anerkannten parlamentarischen Fraktionen aufgliederte.52 Dem Parlament gelang es auch, seine Rolle auf dem Gebiet der Organisation der öffentlichen Verwaltung und vor allem der Ministerialverwaltung zu stärken und zu erweitern, nämlich bei der Bestimmung der Anzahl und Kompetenzbereiche der Ministerien, was definitiv durch das Gesetz Giolitti Nr. 372 vom 11. Juli 1904 bestätigt wurde, das festlegte, dass die Anzahl der Ministerien nur durch ein besonderes Gesetz geändert werden durfte.53
49 Siehe u. a. Emilio Gentile, L’Italia giolittiana, Bari 1997; Alberto Acquarone, L’Italia giolittiana (1896 – 1915), I: Le premesse politiche ed economiche, in: Storia d’Italia dall’Unità alla Repubblica, Bologna 1981, Vol. III, S. 174 – 99, und ders., Tre capitoli sull’Italia giolittiana, Bologna 1987. 50 In diesem Sinne siehe nun Silvano Montaldo, Il Parlamento e la società di massa, in: Storia d’Italia. Annali 17: Il Parlamento, hrsg. von Luciano Violante unter Mitwirkung von Francesca Piazza, Torino 2001, S. 197 – 251, insb. 216 f. 51 Silvano Labriola, Storia della Costituzione italiana, Napoli 1995, redet sogar für die Zeit danach (bis 1922) von einer „zweiten repräsentativen Verfassung“ (S. 16 und 173 – 202) im Sinne „einer neuen materiellen Verfassung“ des Königreichs (S. 15). Die Rolle der Wahlrechtsreformen (1882 und 1912 – 13) bei der Veränderung der italienischen Staatsform in Richtung einer „tendenziell demokratischen Verfassung“ wurde schon 1961 unterstrichen von Massimo Severo Giannini, Parlamento e Amministrazione, in: Cento anni di amministrazione pubblica, numero monografico di „Amministrazione civile“, V, 1961, Nr. 47 – 51, S. 145 – 158, hier 147 (später wiederveröffentlicht in: Isabella Zanni Rosiello [Hrsg.], Gli apparati statali dall’Unità al fascismo, Bologna 1976, S. 145 – 158). Weitere Beiträge zum Thema von Maria Serena Piretti, Le leggi elettorali e la loro incidenza sulla Camera dei deputati. Una analisi della ricaduta delle riforme del 1882, 1912 e 1919, in: Anna Gianna Manca / Wilhelm Brauneder (Hrsg.), L’istituzione parlamentare nel XIX secolo. Una prospettiva comparata / Die parlamentarische Institution im 19. Jahrhundert. Eine Perspektive im Vergleich (Contributi / Beiträge 10), Bologna, Berlin 2000, S. 237 – 265, und Martucci, Storia costituzionale italiana (FN 30), S. 94 – 97. 52 Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 173, S. 181 – 188. 53 Ebd., S. 94 – 98. Siehe auch Giovanni Abignente, La riforma della amministrazione pubblica italiana, Bari 1916, S. 17 ff.; Piero Calandra, Parlamento e amminis-
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Der Wahlkammer gelang es weiterhin, die Abfassung der Tagesordnung der Parlamentsverhandlungen seitens des Kammerpräsidenten auf unumkehrbare Weise dem Einfluss der königlichen Minister zu entziehen, der sich dagegen in den ersten Jahrzehnten des Königreichs stark bemerkbar gemacht hatte.54 Dem Parlament gelang es jedoch gewöhnlich nicht, sich im Moment der letzten politischen Entscheidung in der Außen-, Militär- und Kolonialpolitik oder gar als nicht umgehbarer Hauptfaktor der Gesetzgebung durchzusetzen. Zum ersten Punkt mag der Hinweis genügen, dass a) genauso, wie der Abschluss (1882) und die Erneuerung des Dreibundes ohne die Beteiligung des Parlaments erfolgt war, das nur nachträglich darüber informiert wurde55, so auch der Erwerb der Kolonien Eritrea (Vertrag von Uccialli aus dem Jahr 1889) und Somalia durch Verträge erfolgte, die ungeachtet des Art. 5 der Verfassung nicht einmal im Nachhinein den Kammern vorgelegt wurden, obwohl sie eine Veränderung des Staatsgebiets mit sich brachten56, und dass b) sogar die Entscheidung für den Kriegseintritt Italiens 1915 ohne die Einbeziehung des damals vertagten Parlaments vollzogen wurde.57 Die Übernahme außerordentlicher Vollmachten seitens der Regierung Salandra im Monat Mai desselben Jahres und für die gesamte Dauer des Kriegs implizierte dann den völligen Ausschluss des Parlaments aus dem politischen Leben.58 Zum zweiten Punkt mag es genügen, hier nochmals daran zu erinnern, dass a) die Gesetzesinitiative der Regierung einen wesentlichen Vorrang gegenüber derjenigen des Parlaments erlangte und diesen auch weiterhin behielt59, dass sich b) mit der Zeit der Rekurs der Regierung auf die vom trazione, I: L’esperienza dello Statuto albertino, Milano 1971, S. 284 – 293, und die zwei Aufsätze von Marina Giannetto (Organizzazione della pubblica amministrazione e legge di bilancio. Facoltà dell’esecutivo, sindacato parlamentare e organi di controllo) und von Giovanna Tosatti (Il Parlamento e le leggi sugli organici delle amministrazioni dello Stato), beide in Manca, Brauneder (Hrsg.), L’istituzione parlamentare nel XIX secolo (FN 51), S. 335 – 360 bzw. S. 287 – 298. 54 Mario Mancini, Ugo Galeotti, Norme ed usi del parlamento italiano. Trattato pratico di diritto e procedura parlamentare, Roma 1887, S. 132 ff., Merlini, Il governo (FN 32), S. 17, und Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 36 und 54. 55 Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 111, 116 – 117, aber auch S. 189, und ders., Il Parlamento repubblicano (1948 – 1998), Milano 1999, S. 16 f. 56 Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 112. 57 Siehe dazu u. a. Giorgio Candeloro, Storia dell’Italia moderna, VIII: La prima guerra mondiale, il dopoguerra e l’avvento del fascismo (1914 – 1922), 4. Aufl. Milano 1993, S. 102 ff., und Allegretti, Profilo di storia costituzionale (FN 21), S. 452. 58 Siehe diesbezüglich Montaldo, Il Parlamento e la società (FN 50), S. 240 ff., und Merlini, Il governo (FN 32), S. 15.
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Statuto Albertino nicht vorgesehene und somit verfassungswidrige (Not-) Verordnung (decreto-legge) vermehrte anstatt abzunehmen, wie durch Silvano Labriola gut dokumentiert wird60, und dass schließlich c) die Einmischung der Regierung in Bereiche und Gegenstände, die nach dem Statuto dem parlamentarischen Gesetz vorbehalten waren, alles andere als selten vorkam.61 Auch als Subjekt der Gesetzgebung spielte das Parlament also eine immer marginalere und dem Monarchen beziehungsweise seiner Regierung untergeordnete Rolle62, und das trotz der fortschreitenden Intensivierung seiner Aufsichts- und Untersuchungstätigkeit.63
59 Für die Zeit der „ersten repräsentativen Verfassung“ Italiens (1861 – 1912) siehe Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 133 f. Für die Überlegenheit der Regierungsinitiative gegenüber jener des Parlaments sprach sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch der damalige Staatsratsmitglied Attilio Brunialti aus (siehe sein Artikel „Camera dei deputati“ in: Enciclopedia Giuridica Italiana, Bd. 3, Teil 1, Milano 1903, S. 1 – 168, hier insb. S. 70 und 100 f.). Auch Giorgio Arcoleo konnte 1904 feststellen, dass die „iniziativa parlamentare [ . . . ] non approdò quasi mai a buon fine senza l’accordo, o sia pure l’acquiescenza del ministero; le più volte riescì ad essere piuttosto sprone a riforme [ . . . ]. Nella sessione 1898 – 99 la Camera ebbe 45 proposte di leggi di iniziativa parlamentare, delle quali soltanto 6 furono discusse e votate. Nella sessione 1899 – 1900 ne furono votate 2 sopra 42.“ Siehe Arcoleo, Diritto costituzionale (FN 39), S. 392 f. 60 Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 197 ff.; Allegretti, Profilo di storia costituzionale (FN 21), S. 447 f.; zu den nicht verfassungskonformen Delegationsgesetzen zugunsten der Regierung siehe auch Marco Bignami, Costituzione flessibile, costituzione rigida e controllo di costituzionalità in Italia (1848 – 1956), Milano 1997, insb. S. 43 ff. 61 Vgl. Brusa, Staatsrecht (FN 48), S. 171 ff. (gegen die „unzähligen“ von der königlichen Regierung erlassenen Gesetze kraft einer vom Statut nicht vorgesehenen parlamentarischen Delegation der gesetzgebenden Gewalt), S. 183 f. 62 Labriola, Storia della Costituzione (FN 51), S. 88 – 93. 63 Montaldo, Il Parlamento e la società (FN 50), S. 218, und Martucci, Storia costituzionale italiana (FN 30), S. 78.
Verfassungsgeschichte in Österreich: Entwicklungstendenzen und aktueller Stellenwert an den Rechtsfakultäten* Von Christian Neschwara, Wien I. Verfassungsgeschichte an den Universitäten im Allgemeinen Für die Bewertung der Bedeutung der Verfassungsgeschichte als Fach im Rahmen der Juristenausbildung sowie als Wissenschaftsdisziplin innerhalb der Rechtsgeschichte im Verlauf der jüngeren Vergangenheit und ihres aktuellen Stellenwerts als Prüfungsfach und Wissenschaftsdisziplin an den österreichschen Universitäten stellt das Jahr 2000 eine markante Zäsur dar. 1. Standorte
Verfassungsgeschichte wird in Österreich an den Universitäten in Forschung und Lehre traditionell an verschiedenen Standorten betrieben: Primär sind es die Rechtsfakultäten, wo sich der Verfassungsgeschichte – nahezu ausschließlich – historisch spezialisierte Juristen an eigenen rechtshistorischen Instituten (siehe unten II.2.) gewidmet haben, Juristen anderer Fachrichtungen dagegen nur sehr vereinzelt, hauptsächlich Vertreter des öffentlichen Rechts. Einen weiteren – weniger gewichtigen – Standort hatte die Verfassungsgeschichte an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, wo sich mit ihr an verschiedenen Instituten vor allem Historiker im Rahmen der allgemeinen Geschichte, teils aber auch solche der Zeitgeschichte sowie Wirtschafts- und Sozialhistoriker befasst haben. Schließlich war die Verfassungsgeschichte partiell auch im Rahmen der Sozialwissenschaften vertreten, sie hat dort insbesondere im Rahmen der Politikwissenschaften eine Rolle gespielt. 2. Lehrfächer
In der Lehre dieser Wissenschaften war die Verfassungsgeschichte bis um das Jahr 2000 als eigenes Fach an den Universitäten unterschiedlich ge* Die Vortragsfassung (2006) wurde nach dem Stand des Studienjahres 2007 / 08 aktualisiert; für die in den Fußnoten angeführten Internet-Seiten gilt als Zugriffsdatum der 1. September 2008.
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wichtet: – bei den Historikern als Wahlfach in mehreren Studienabschnitten1; – bei den Politologen als Vorprüfungsfach zur 2. Diplomprüfung2; sowie – bei den Juristen als Pflichtfach im ersten Studienabschnitt.
3. Resümee
Verfassungsgeschichte wurde an Österreichs Universitäten – jedenfalls bis um das Jahr 2000 – somit im Bereich von dreierlei Fakultäten betrieben, so dass die auf Hans Boldt zu Begriff und Gegenstand der Verfassungsgeschichte3 zurückgehende Differenzierung eine Bestätigung findet, wonach Verfassungsgeschichte betrieben werden kann als eine – sozialhistorisch bestimmte Verfassungsgeschichte, eine – politische Verfassungsgeschichte, oder eine – Verfassungs-Rechtsgeschichte, wobei diesen Varianten der „Verfassungsgeschichte“ jeweils eine bestimmte systematische Wissen1 Gemäß Bundesgesetz über die geisteswissenschaftlichen . . . Studienrichtungen 1971 (BGBl. Nr. 326) wurde die Studienrichtung Geschichte an den Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt eingerichtet. Nach der Studienordnung 1993 (BGBl. Nr. 76) war die „Rechts- und Verfassungsgeschichte“ im 1. und im 2. Studienabschnitt als Wahlfach eingerichtet (§§ 4 Abs. 1 und 7 Abs. 1); sie bildete auch einen Gegenstand der jeweiligen Diplomprüfungen (§§ 6 f., 9 Abs. 1); bis zum Studienjahr 2002 / 03 wurden dazu an der Universität Wien auch regelmäßig Vorlesungen angeboten. Für das im Studienjahr 2004 / 05 an der Universität Wien eingeführte postgraduate-Studium „Geschichtsforschung, Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft“ (verlautbart im Mitteilungsblatt der Universität Wien, Studienjahr 2004 / 2005, ausgegeben am 22. 6. 2005, 32. Stück, Nr. 179: ist unter anderem im Grundmodul (§ 5 Studienplan) eine vierstündige Vorlesung aus österreichischer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte sowie dazu im Erweiterungsmodul (§ 6) eine zweistündige Übung anhand von Quellen vorgesehen. 2 Gemäß Bundesgesetz über die geisteswissenschaftlichen . . . Studienrichtungen 1971 (BGBl. Nr. 326) wurde die Studienrichtung Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Salzburg (BGBl. Nr. 224) sowie 1984 an der Universität Innsbruck (BGBl. Nr. 245) eingerichtet; die Studienordnung 1978 (BGBl. Nr. 259) sah eine „Neuere Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“ im Umfang von 2 Semesterwochenstunden als Vorprüfung zur 2. Diplomprüfung vor (§§ 6 Abs. 1 lit. a und 7 Abs. 2), welche bereits mit der Studienordnung 1991 (BGBl. Nr. 224) aus dem Curriculum ausgeschieden wurde. An der Universität Wien blieb sie dessen ungeachtet (bis 2002) ein Bestandteil des Teilfaches „Grundlagen des österreichischen politischen Systems . . .“. – Von 1919 bis 1975 bestand in Wien die Rechtswissenschaftliche Fakultät gemeinsam mit einer Staatswissenschaftlichen. Die Staatswissenschaften wurden sodann in Wien seit 1971 als Studienrichtung an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät (bis 2004) eingerichtet; seit 2002 besteht das Institut für Staatswissenschaft () neben dem für Politikwissenschaft () in Wien an der Fakultät für Sozialwissenschaften. 3 Die Verfassungsgeschichte und ihre Methodik, in: Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, hrsg. von Hans Boldt, Düsseldorf 1984, S. 9 – 117, hier S. 17 – 26.
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schaft korrespondiert, nämlich die – Geschichtswissenschaft, die – Politikwissenschaft und die – Rechtswissenschaft. Auf den Stellenwert der Verfassungsgeschichte in Lehre und Forschung an den Rechtsfakultäten Österreichs werden sich die folgenden Ausführungen im Besonderen (II.) konzentrieren.
II. Verfassungsgeschichte an den Rechtsfakultäten im Besonderen 1. Berücksichtigung in den Lehrplänen
a) Grundlagen im älteren Studienrecht Die Verfassungsgeschichte bildet im Rahmen der österreichischen Juristenausbildung4 in Verbindung mit der Verwaltungsgeschichte5 seit 1935 ein obligatorisches Vorlesungsfach sowie einen Gegenstand der Staatsprüfung, also ein eigenes Fachgebiet innerhalb der Rechtsgeschichte. Die Wurzeln der Österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte liegen wiederum im juristischen Studienrecht der österreichischen Monarchie, das seit 18936 als Fach eine „Österreichische Reichsgeschichte“ vorsah mit der Funktion, die „Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts“ der Habsburgermonarchie darzustellen7, und zwar im Umfang von 5 Stun-
4 Ein Überblick über die Entwicklung bis zur Studienordnung 1978: Horst Wünsch, Juristenausbildung in Österreich. 65 Jahre Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934 / 35, hrsg. von Walter Hadding, Berlin 1999, S. 711 – 735. 5 Wilhelm Brauneder, Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa. Stand und Probleme der Forschung (= Ius Commune. Sonderhefte, Texte und Monographien, Bd. 18), hrsg. von Erk V. Heyen, Frankfurt am Main 1982, S. 131 – 147 (hier S. 132 f.): Die Verwaltungsgeschichte steht der Verfassungsgeschichte in akademischer Lehre und auch als rechtshistorische Disziplin nicht gleichwertig und eigenständig gegenüber, sondern bildet einen integralen Bestandteil der Verfassungsgeschichte, verdeckt unter den Rubriken „Verwaltung(sorgane)“, „Behörden(wesen)“, „(Stadt)verwaltung“ bietet sie bloß eine Geschichte des Behördenwesens, vor allem der Behördenorganisation – den Intentionen des Gesetzgebers (von 1893 bzw. 1935) entsprechend sollte im Rahmen einer Staats- und Verfassungsgeschichte auch die Entwicklung Behördenorganisation dargestellt werden; nur insofern ist die Verfassungsgeschichte auch als eine Verwaltungsgeschichte anzusehen. 6 Gesetz betreffend die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und Staatsprüfungen (RGBl. Nr. 68); Verordnung des Ministeriums für Kultus und Unterricht betreffend die Regelung der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und theoretischen Staatsprüfungen (RGBl. Nr. 204). – Vgl. dazu Friedrich Walter, die Ausbildung der Österreichischen Reichsgeschichte als eigene Disziplin, in: ders., Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500 – 1955, Wien, Köln, Graz 1972, S. 11 – 20.
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den neben weiteren 10 für die sonstige Rechtsgeschichte (zusammengefasst unter der Bezeichnung „Deutsches Recht“). Dieser Fächerkanon erfuhr durch die Studienreform von 19358 bloß eine Modifikation9 insofern, als das „Deutsche Recht“ um eine Stunde gekürzt und die „Reichsgeschichte“ angesichts der veränderten politischen Verhältnisse in eine „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“ umbenannt wurde. Nach dem Intermezzo des Anschlusses ist diese juristische Studienordnung 1945 in die österreichische Rechtsordnung übergeleitet worden10 und bis Ende der 1970er Jahre im Wesentlichen unverändert geblieben.
b) Studiengesetz 1978 – Studienordnung 1979 – Studienpläne 1980 Im Zuge einer seit 1975 anlaufenden Neuorganisation der Universitäten erfolgte auch eine Neuordnung des juristischen Studienrechts in Österreich, das 197811 durch ein Studiengesetz neu gestaltet wurde: An die Stelle der 7 Dies wurde meist von Allgemeinhistorikern besorgt: Emil Werunsky (Prag), Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Wien 1894 – 1938 (Lieferungen 1894 bis 1931, ein Torso im Umfang von etwa 1190 Seiten!); Alfons Huber (Wien), Österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts, Wien 1895 (280 Seiten; 1901 von Alfons Dopsch [Wien] bearbeitet mit ca. 370 Seiten); Adolf Bachmann (Prag), Lehrbuch der österreichischen Reichsgeschichte, Prag 1895 / 96 (ca. 470 Seiten; 2. Aufl. 1904); mit Arnold Luschin (Graz, Wien), Österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung, der Rechtsquellen und des öffentlichen Rechts. Ein Lehrbuch, Bamberg 1896 (ca. 590 Seiten; der erste Teil über das Mittelalter 1914 in 2. Aufl. mit ca 470 Seiten), in Kurzfassung 1899 unter dem Titel „Grundriß der österreichischen Reichsgeschichte“ (ca. 360 Seiten; 1918 in 2. Aufl. mit ca. 430 Seiten) erschienen, wird die österreichische Reichsgeschichte erstmals auch von einem Rechtshistoriker bearbeitet (siehe auch unten FN 39). 8 Verordnung des mit der Leitung des Bundesministeriums für Unterricht betrauten Bundeskanzlers über die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und Staatsprüfungen (BGBl. Nr. 378 [auf Grundlage des Hochschulermächtigungsgesetzes 1935, BGBl. Nr. 266, erlassen]). 9 Dazu knapp: Adolf Merkl, Die Leitgedanken der Reform des Rechtsstudiums, in: Juristische Blätter 1935, S. 377 f. – Im Deutschen Reich stand die Juristenausbildung nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten dagegen vor völlig neuen Aufgaben, was sich 1935 auch in einer neuen Studienordnung niederschlug, wodurch die Rechtswissenschaft nicht nur politisiert, sondern auch grundlegend historisiert wurde, niederschlug; sie sah neben anderen historischen Grundlagenfächern auch eine „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ vor: Ewald Grothe, Carl Schmitt und die „neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte“ im Nationalsozialismus, in: , Randziffer 7. 10 Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten (StGBl. Nr. 164). – Siehe dazu auch: Margarete Grandner, Das Studium an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1945 – 1955, in: Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hrsg. von Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb, Wien 2005, S. 290 – 312 (besonders S. 290 – 295).
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bisherigen Fächer „Deutsches Recht“ und „Österreichische Verfassungsund Verwaltungsgeschichte“ trat nun ein Gesamtfach mit der Bezeichnung „Rechtsgeschichte Österreichs und Grundzüge der Europäischen Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, worin die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte nach den Intentionen des Gesetzgebers als Kernbereich im akademischen Unterricht vorgesehen bleiben sollte.12 Eine Durchführungsverordnung dazu aus 197913 sah für dieses Fach an den einzelnen Rechtsfakultäten einen Umfang im Rahmen von 10 bis 14 Stunden vor14, und zwar als obligatorisches Prüfungsfach im ersten Studienabschnitt. Die konkrete Durchführung dieser Rahmenbedingungen ist für die fünf in Österreich bestehenden Rechtsfakultäten Wien, Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck zu Beginn des Studienjahres 1980 / 81 mit dem Erlass von detaillierten Studienplänen erfolgt: In Wien und Innsbruck waren für die Rechtsgeschichte Österreichs jeweils 12 Stunden vorgesehen, in Salzburg 11 sowie in Graz und Linz je 10.15 Als eigenes Teilfach aber hat die Verfassungsgeschichte nur in Wien und Salzburg, und zwar jeweils mit einer Vorlesung aus Neuerer Österreichischer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, im Ausmaß von 316 bzw. 2 Stunden17, fortbestanden; in Linz war der Verfassungsgeschichte im Rahmen einer Vorlesung zur Geschichte des öffentlichen Rechts immerhin noch eine „besondere Berücksichtigung“ einzuräumen18, in Graz und Innsbruck ist die Verfassungsgeschichte dagegen als eigenes Teilfach verschwunden und in einer allgemeinen Rechtsgeschichte Österreichs aufgegangen.
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Bundesgesetz über das Studium der Rechtswissenschaften (BGBl. Nr. 140). § 4 Abs. 2 Z. 3 leg. cit. 13 Verordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung über die rechtswissenschaftliche Studienordnung für das Studium der Rechtswissenschaften (BGBl. Nr. 148). 14 Ebd., § 3 Abs. 2 Z. 3. – Dazu auch die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage Nr. 528 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Österreichischen Nationalrates, XIV. Gesetzgebungsperiode. 15 Walter Rechberger, Helmut Fuchs, Das neue Rechtsstudium. Ein Wegweiser, Wien 1981, S. 183 (Wiener Studienplan), S. 189 (Grazer Studienplan), S. 197 (Innsbrucker Studienplan), S. 201 (Salzburger Studienplan), S. 208 (Linzer Studienplan). 16 Ebd., § 3 Z. 3 lit. a Wiener Studienplan. 17 Ebd., § 2 lit. c Salzburger Studienplan. 18 Ebd., § 3 Z. 3 lit. a Linzer Studienplan. 12
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c) Studiengesetz 1997 – Erlass von neuen Studienplänen seit 1999 1997 wurde im Zuge der seit Beginn der 1990er Jahre laufenden Umorganisation der staatlichen Universitäten zu autonomen Einrichtungen19 mit einem neuen allgemeinen Universitäts-Studiengesetz20 auch die Gestaltung des Curriculums für die einzelnen Studien an die betreffenden Fakultäten delegiert – mit der einzigen Maßgabe, dass das rechtswissenschaftliche Studium durch Kürzungen auf maximal 125 Wochenstunden zu reduzieren war21; davon waren Grundlagenfächer wie die Rechtsgeschichte wesentlich stärker betroffen als Fächer des geltenden Rechts: Die Schaffung von neuen Studienplänen erfolgte sodann zwischen 1999 und 200122, es kam dabei zu jeweils überproportionalen Kürzungen der Rechtsgeschichte von bis dahin 10 bis 14 Stunden auf 4 Stunden in Salzburg, 5 in Innsbruck und 6 in Linz, Graz und Wien (bis 2006); davon sind in Linz und Graz nur 4 Stunden für Hauptvorlesungen vorgesehen; in Wien ist seit 2006 mit dem neuen Studienplan das Stundenausmaß der Rechtsgeschichte auf das Niveau von Salzburg gefallen.23 Als eigenes Teilfach hat die Verfassungsgeschichte im Studienplan danach nur mehr in Wien als „Neuere österreichische Verfassungsgeschichte“ überdauert, an den anderen Rechtsfakultäten ist sie in Linz und in Salzburg in einer „Geschichte des öffentlichen Rechts“ bzw. in Innsbruck in einer allgemeinen Rechtsgeschichte aufgegangen und in Graz in eine österreichische und europäische Rechtsentwicklung integriert worden.
19 Stefan Tritscher [u. a.], Universität im Wettbewerb. Zur Neugestaltung der österreichischen Universitäten, München, Mering 2000. 20 Bundesgesetz über die Studien an den Universitäten (BGBl. I, Nr. 48: Universitäts-Studiengesetz). 21 Gemäß Anlage 1, 6.8. leg. cit. 22 Studienplan Wien (erschienen im Mitteilungsblatt der Universität, Stück XXII, Nummer 108, am 19. 7. 1999): ; Graz (Fassung erschienen im Mitteilungsblatt der Universität, Sondernummer 23, Stück 16a, am 17. 5. 2006): (aktuelle Fassung); Innsbruck (erschienen im Mitteilungsblatt der Universität, 38. Stück, Nr. 731 am 19. 7. 2001): (aktuelle Fassung); Linz (erschienen im Mitteilungsblatt der Universität, 37. Stück, Nr. 340): (aktuelle Fassung); Salzburg (erschienen im Mitteilungsblatt der Universität Nr. 414 am 15. 7. 1999): (Version 2008). 23 Der Wiener Studienplan 2006 sieht allerdings neben den rechtshistorischen Pflichtprüfungen auch den Nachweis einer historisch vertieften Kompetenz im Umfang von 2 Stunden vor (§§ 22), welche hauptsächlich vom Institut für Rechtsgeschichte vermittelt wird.
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2. Berücksichtigung in den Aufgaben der rechtshistorischen Institute
a) Selbstverständnis: Bezeichnung – Struktur und Organisation Den Änderungen der Studienordnungen sind seit 1999 sodann Anpassungen in Bezug auf die Bezeichnung bzw. Organisation der rechtshistorischen Institute24 gefolgt, worin sich partiell auch der Stellenwert der Verfassungsgeschichte widerspiegelt: Umbenennungen sind für alle rechtshistorischen Institute zu konstatieren, von organisatorischen oder strukturellen Änderungen war nur das Institut in Wien nicht betroffen: Das Wiener Institut trägt seit 2005 die seinem Selbstverständnis entsprechende Bezeichnung „Rechts- und Verfassungsgeschichte“. In Linz ist das Institut für „Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte“ zwar unter seiner bisherigen Bezeichnung bestehen geblieben, es wird aber seit 2002 die Lehre der Rechtsgeschichte mit dem Institut für „Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht“, dessen Vorstand auch für das Fach „Europäische Rechtsgeschichte“ verantwortlich ist, koordiniert. In Graz sind die beiden dort seit Mitte der 1970er Jahre bestehenden rechtshistorischen Institute25 für „Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte“ sowie für „Europäische und Vergleichende Rechtsgeschichte“ zum gemeinsamen Institut für „Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung“ vereinigt worden. In Salzburg ist es nicht nur zur Vereinigung der beiden dort bestehenden Rechtsgeschichte-Institute, dem Institut für „Österreichische Rechtsgeschichte“ und dem Institut für „Europäische und Vergleichende Rechtsgeschichte“, gekommen, sondern zugleich auch zu einer Verbindung mit dem bisher selbständigen Institut für „Kirchenrecht“ zum nunmehr gemeinsamen Institut für „Rechtsgeschichte und Kirchenrecht“, das seit 2002 an der Juristenfakultät nur mehr als eine von insgesamt sechs im Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bestehenden Abteilungen existiert, nämlich als Abteilung für „Rechtsgeschichte und Sozialgeschichte sowie Religionsrecht“. 24 Zum Folgenden allgemein die im Internet zur Verfügung stehenden Homepages der rechtshistorischen Institute in Wien , Graz und Linz ; für das rechtshistorische Institut in Salzburg liefert die Homepage nur zum Teil entsprechende Informationen; das rechtshistorische Institut in Innsbruck betreut keine eigene Homepage, entsprechende Informationen sind über die Homepage der Universität , vor allem über das Online-Vorlesungsverzeichnis und die Forschungsleistungsdokumentation abrufbar. 25 Siehe dazu auch Gernot Hasiba, 20 Jahre Institut für Europäische und Vergleichende Rechtsgeschichte (= Kleine Arbeitsreihe zur Europäischen und Vergleichenden Rechtsgeschichte, Bd. 20), Graz 1989.
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In Innsbruck ist das Institut für „Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte“ 2002 mit dem Institut für „Römisches Recht“ zum Institut für „Römisches Recht und Rechtsgeschichte“ vereinigt worden.
b) Lehre Der Stellenwert der Verfassungsgeschichte im Selbstverständnis der betreffenden Rechtsgeschichte-Institute wird im Folgenden zunächst anhand der Konkretisierung der Lehrpläne26 durch die jeweilige Organisierung von Lehrveranstaltungen [aa)] und der für die Verfassungsgeschichte bereitgestellten Lehrbehelfe [bb)] ermittelt.
aa) Lehrveranstaltungen27 (1) Wien In Wien wurde rechtshistorische Lehrstoff der historisch bedingten Zweiteilung der Rechtsordnungen in Öffentliches Recht und Privatrecht auch in entsprechende Teilgebiete gegliedert, und bis 200628 in drei jeweils zweistündigen Vorlesungen, abgekürzt als Rechtsgeschichte I, II bzw. III, vermittelt; für die Verfassungsgeschichte waren die Vorlesungen aus Rechtsgeschichte I und II reserviert. Im Rahmen der Rechtsgeschichte I wurde unter dem Titel „Grundlagen der österreichischen und europäischen Rechtsgeschichte“ eine Verfassungsgeschichte Mitteleuropas von der Ausbildung der Länder bis zur Entstehung des modernen Verfassungsstaates geboten; daran anschließend folgte chronologisch fortlaufend in der Rechtsgeschichte II im Rahmen einer „Neueren österreichischen Verfassungsgeschichte“ die Behandlung der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaates seit dem Erlass der ersten Verfassung im formellen Sinn im April 1848.29 Im Vordergrund stand in diesen Vorlesungen jeweils die Darstellung der Entwicklung von verfassungsrechtlichen Grundstrukturen.30
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Dazu im Folgenden die Studienpläne [siehe oben bei II.1.c)]. Dazu die Homepages (und die entsprechenden Verweise: Lehre, Lehrveranstaltungen etc.) der jeweiligen Institute (siehe oben bei FN 24) bzw. die Online-Lehrveranstaltungs- bzw. Vorlesungsverzeichnisse der jeweiligen Universitäten (erreichbar über die Homepage des Institutes bzw. der Universität). 28 Studienplan 1999 (FN 22), § 4 Z. 4. 29 Im Wintersemester stets als Hauptvorlesung gehalten von Wilhelm Brauneder gemeinsam mit Christian Neschwara, Ilse Zatloukal-Reiter und Thomas Simon; im Sommersemester jeweils getrennt angeboten von Neschwara und Zatloukal-Reiter bzw. Thomas Olechowski; seit dem Studienjahr 2006 / 07 wechseln einander die beiden Professoren Brauneder und Simon semesterweise ab. 27
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Als Lehrbehelf diente hauptsächlich ein Lehrbuch von Wilhelm Brauneder zur Österreichischen Verfassungsgeschichte [siehe unten b) bb)].31 Der Versuch, als Wahlfach außerdem eine „Vergleichende Europäische Verfassungsgeschichte“ im Sinn einer politischen Staaten- und Ideengeschichte einzuführen, hat kein ausreichendes Interesse gefunden.32 Seit der Studienplanänderung von 2006, wodurch die bisher für die Verfassungsgeschichte zur Verfügung stehende Zeit von 2 auf 4 Stunden reduziert wurde, beschränkt sich die Lehre im wesentlichen auf eine „Neuere österreichische“ Verfassungsgeschichte ab 1848, also auf die Darstellung der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates auf dem Boden des heutigen Österreich. Die Berücksichtigung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschafts- und Verfassungsordnungen beschränkt sich bloß auf die Vermittlung der Kenntnis elementarer Grundzüge.33 Neben den speziell der Verfassungsgeschichte gewidmeten Lehrbehelfen steht als Alternative seit 2006 auch ein allgemeines Lehrbuch von Thomas Olechowski zur Verfügung; von drei Teilen der Darstellung ist einer der „Verfassungsentwicklung“ vorbehalten [siehe unten bb) (8)].34
30 Mit dem Studienjahr 2006 / 07 ist mit der Änderung der Studienordnung (erschienen im Mitteilungsblatt der Universität, 32. Stück, ausgegeben am 2. 6. 2006, Nr. 202: ) das bisherige Fach „Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte“ in „Rechts- und Verfassungsgeschichte“ umbenannt worden; das bisherige Teilgebiet Rechtsgeschichte I ist aus dem Programm der Pflichtlehrveranstaltungen weggefallen; sein Inhalt wird aber fakultativ im studienabschnittsunabhängigen Modul „Vertiefende historische Kompetenz“ (§ 21 Z. 3 Studienplan 2006) jeweils unter dem Titel „Europäische und Vergleichende Rechtsgeschichte“ von Olechowski in einem Kurs angeboten. Die bisher im Rahmen des Teilgebietes Rechtsgeschichte II laufende „Österreichische Verfassungsgeschichte“ (Studienplan 2006 § 5 Z. 2) wird nun unter dem Titel „Geschichte des öffentlichen Rechts“ als zweistündige Vorlesung fortgeführt. 31 Für die älteren Perioden wurde es ergänzt durch ein Skriptum über die Grundlagen der Verfassungsordnung des Heiligen Römischen Reichs: Christian Neschwara, Herrschafts- und Verfassungsordnungen in Mitteleuropa vom Mittelalter bis um 1750, 3. Aufl. Wien 2004 (mit Quellenanhang 70 Seiten; ca. 35 Seiten Text). 32 Eine im Wintersemester 1999 / 2000 von Wilhelm Brauneder angekündigte Vorlesung musste abgesagt werden; sie ist – wegen anhaltenden Desinteresses – von ihm auch nicht mehr angeboten worden. 33 Zum Teil in Orientierung an dem Skriptum: Christian Neschwara, Grundzüge der Verfassungsentwicklung vor 1848, Wien 2007 (ca. 20 Seiten; 2. Aufl. 2008). 34 Thomas Olechowski, Rechtsgeschichte. Einführung in die historischen Grundlagen des modernen Rechts, 1. Aufl. Wien 2006: 340 Seiten; S. 133 – 190: Verfassungsentwicklung. – Die 2., überarbeite und erweiterte Auflage von 2008 ist 422 Seiten stark; dort S. 162 – 283: „Verfassungsentwicklung“. – Seit der Studienplanänderung von 2006 (FN 30) bietet Olechowski unter dem Titel „Vergleichende Europäische Verfassungsgeschichte einen das Pflichtfach Rechts- und Verfassungsgeschichte“ (gem. § 21 Abs 3 Studienplan) vertiefenden Wahlfach-Kurs an, der die im bisherigen Studienplan als Grundlagen der Rechtsgeschichte behandelten Inhalte zum Gegenstand
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(2) Graz In Graz sieht der Studienplan (§ 6 und 7 Abs. 8) für das Fach Österreichische und Europäische Rechtsentwicklung 4 Stunden für Vorlesungen sowie 2 Stunden für einen vertiefenden Kurs vor, wobei im Lehrbetrieb bei den Vorlesungen zwischen einer Rechtsentwicklung I und II unterschieden wird.35 Die Rechtsentwicklung I hat das öffentliche Recht zum Schwerpunkt und steht daher partiell auch für Themen der Verfassungsgeschichte zur Verfügung; es bestehen dafür in Graz drei verschiedene Lehr-Konzepte, nämlich: (1) eine Österreichische Verfassungs- (und Verwaltungs-)Geschichte, vertreten von Gernot Hasiba ˙( 2004).36 Als Lehrbehelf diente einerseits das zuvor erwähnte Lehrbuch von Brauneder sowie alternativ ein ähnlich konzipiertes Lehrbuch von Oskar Lehner [siehe unten bb) (4)], einem ehemaligen Rechtshistoriker aus Linz. Seit 2004 wechseln die beiden im Folgenden vorgestellten Vorlesungs-Konzepte in Winter- und Sommersemester einander ab, nämlich: (2) eine Geschichte des öffentlichen Rechts im Rahmen der österreichischen Rechtsgeschichte, vertreten durch Gernot Kocher, wobei es allerdings nicht nur um die Darstellung der Entwicklung der Verfassungsordnungen allein geht, sondern auch um die der Verwaltungs- und Gerichtsorganisation, des Verfahrensrechts sowie der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Als Lehrbehelf dient das Lehrbuch seines Lehrers, des früheren Grazer Rechtshistorikers Hermann Baltl (y 2004) zur Österreichischen Rechtsgeschichte, für das Kocher seit 1993 als Mit-Autor verantwortlich ist [siehe unten bb) (1)]; sowie schließlich – in Ansätzen beginnend seit dem Sommersemester 2002 – (3) eine Ideen- und Wirkungsgeschichte des öffentlichen Rechts „Von der Archaik bis zur EU“ (seit dem Studienjahr 2006 / 07 unter dem Titel „Europa zwischen Unrecht und Recht“)37 im Sinn einer so genannten „Europäischen Rechtsentwicklungsgeschichte“, vertreten von Johannes Pichler; als Lehrbehelf wird von ihm ein digitales Skriptum zur Verfügung gestellt [siehe unten bb) (7)]. hat und Aspekte der europäischen Verfassungsentwicklung vom Mittelalter bis zum Europäischen Verfassungsvertrag 2004 umfasst. 35 In den Kursen zur Rechtsentwicklung III werden fallweise auch verfassungshistorische Inhalte angeboten wie Europäische Integrationsgeschichte (z. B. Wintersemester 2005 / 06), Menschenrechtsgeschichte (Sommersemester 2007) oder Europäische Verfassungsentwicklung seit dem 19. Jh. (als Politische Staaten- und Verfassungsgeschichte, z. B. Sommersemester 2006). 36 Seiner Schule folgen die jüngeren Dozenten Martin Polaschek (karrenziert seit 2005) und Helmut Gebhardt. Nach dem Tod von Gernot Hasiba findet sich dieses Lehrkonzept nicht mehr im Pflichtprogramm der Rechtsgeschichte, weil die Hauptvorlesungen über die Geschichte des öffentlichen Rechts von Gernot Kocher (siehe sogleich (2)) bzw. von Johannes Pichler (siehe sogleich 3.) gehalten werden, welche anderen Lehr-Konzepten folgen. 37 mit Verweis auf .
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(3) Linz In Linz sieht der Studienplan (§ 9) für die Rechtsgeschichte sechs Stunden an Vorlesungen vor; zwei davon aus Rechtsgeschichte I sind für die „Geschichte des öffentlichen Rechts“ reserviert. Die Vorlesung soll Kenntnisse zentraler Elemente der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte vermitteln, und zwar unter Einbeziehung der Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitäts- sowie der Frauenrechtsgeschichte; der zeitliche Schwerpunkt liegt nach Mitte des 18. Jahrhundert, besonders ab 1848.38 Dieser Bereich der Lehre wird seit 2002 – wie erwähnt [siehe oben a)] – gemeinsam mit dem Institut für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht betreut; und zwar von Semester zu Semester abwechselnd von der Rechtshistorikerin Ursula Floßmann und von dem Kanonisten Herbert Kalb. Es gibt daher auch ein von beiden gemeinsam gestaltetes „Skriptum“ [siehe unten bb) (6)] als Lehrbehelf. (4) Salzburg In Salzburg sieht der Studienplan (§ 7 Abs. 2 Z. 2) für die Rechtsgeschichte vier Stunden an Vorlesungen vor, zwei davon für eine „Geschichte des öffentlichen Rechts der Neuzeit“. Die Vorlesung dient der Darstellung der historischen Dimensionen des öffentlichen Rechts, den zeitlichen Schwerpunkt bildet die neuere Österreichische Verfassungsgeschichte ab 1848. Die Vorlesung wird abwechselnd von zwei Dozenten gelesen, die freilich beide (noch) nicht mit Publikationen zur Verfassungsgeschichte hervorgetreten sind: Ulrike Aichhorn, primär habilitiert für Frauenrecht, und Alfred Rinnerthaler, habilitiert für Kirchenrecht. Als Lehrbehelf verwenden beide ein Skriptum, für das der 2004 pensionierte Salzburger Rechtshistoriker Peter Putzer [siehe unten bb) (5)] verantwortlich ist. (5) Innsbruck In Innsbruck sieht der Studienplan (§ 10 Abs. Z. 4) für die „Rechtsgeschichte“ eine fünfstündige Vorlesung vor, zwei Stunden für die „ältere“, drei für die „jüngere“, die Zäsur bildet die „Aufklärung“, konkret der Beginn des aufgeklärten Absolutismus Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Lehrbetrieb laufen zwei unterschiedliche Konzepte in jedem Semester parallel nebeneinander: (1) eine „Österreichische Rechtsgeschichte“ mit Schwerpunkt im öffentlichen Recht, vertreten durch Kurt Ebert, der wie Kocher in 38 Im Sommersemester wird ergänzend zur Hauptvorlesung auch eine Spezial-Vorlesung zur Geschichte des öffentlichen Rechts ab 1848 angeboten (Vortragender: Gerhard Putschögl, pensionierter Landesbeamter und seit 1980 am der Universität Linz für Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte habilitierter Privatdozent).
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Graz vorgeht; als Lehrbehelf dient ihm daher auch dessen Lehrbuch; (2) eine „Deutsche Rechtsgeschichte“, vertreten durch Gerhard Köbler; als Lehrbehelf verwendet er sein eigenes Lehrbuch [siehe unten bb) (3)], das ursprünglich aus für seine Lehrtätigkeit in Gießen hervorgegangen ist, und das daher auch nur wenige Bezüge zur österreichischen Verfassungsgeschichte aufweist.
bb) Lehrbehelfe39 Die im Folgenden vorgestellten Lehrbücher und Skripten sind chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der Erstauflage gereiht. Die inhaltliche Charakterisierung ist jeweils äußerst knapp gehalten, die inhaltliche Kritik kann daher nicht als Bewertung im Sinn einer Rezension aufgefasst werden. (1) Hermann Baltl / Gernot Kocher, Österreichische Rechtsgeschichte Von 1970 bis 2004 in 10 Auflagen erschienen, im Umfang von 132 auf 363 (6. Aufl.) Seiten angewachsen; seit der 7. Aufl. (1993) fungiert Gernot Kocher als Autor; seitdem umfassen die weiteren Auflagen stets etwa 340 Seiten. Das Grundkonzept besteht darin, eine erste Einführung in die Rechtsgeschichte nicht nur für die Rechtswissenschaften, sondern gleichermaßen auch für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, ja sogar für die Geschichtswissenschaften zur Verfügung zu stellen; die Vor- und Frühgeschichte des Rechts wird dabei ebenso ausführlich wie die neuere und neueste Zeit beschrieben – die neuere und neueste Zeit hat erst in der 2. Auflage 1972 durch die Einbeziehung der Entwicklung ab 1918 Berücksichtigung gefunden; die letzten Auflagen haben auch immer mehr Gewicht auf die Entwicklung seit Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem ab 1848, gelegt.
39 Ungeachtet der 1918 erfolgten Staatsgründung der Republik Österreich blieb man in der monarchischen Tradition der Österreichischen Reichsgeschichte und ihrer Lehrbücher; die 1935 erfolgte Umbenennung in Verfassungs- (und Verwaltungs)geschichte änderte daran auch nichts; neue Lehrbücher, welche über den Stand der Verfassungsentwicklung der österreichischen Monarchie auf dem Boden der Verfassung 1867 hinausgingen, standen erst nach 1945 zur Verfügung: Otto Stolz, Grundriß der Österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Innsbruck, Wien 1951 (ca. 290 Seiten), in Gebrauch vor allem an der Universität Innsbruck; Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien 1956 (ca. 550 Seiten; 2. Aufl. 1974: ca. 570 Seiten) in Gebrauch vor allem an der Universität Wien; Friedrich Walter, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500 bis 1955, posthum hrsg. von Adam Wandruszka, Wien [u. a.] 1972, in Gebrauch vor allem an der Universität Wien.
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(2) Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte Von 1976 bis 2005 in 10 Auflagen erschienen, der Umfang ist mit ca. 290 Seiten etwa gleich geblieben; die letzten zwei Auflagen 2003 und 2005 sind im wesentlichen unveränderte Nachdrucke der 8. Aufl. 2001. Die Darstellung bietet vorrangig eine Einführung in die Entwicklung und Strukturen der jeweiligen Verfassungsordnungen – gegliedert in Herrschaftsebenen: Länder – Länderverbindungen / Gesamtstaat – übergeordnete Einheiten: Heiliges Römisches Reich, Deutscher Bund, Europäische Union. In den Abschnitten zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit ist die Darstellung stärker an theoretischen Modellen orientiert und damit losgelöst von dynastischen Verbindungen. Die Grobgliederung innerhalb der einzelnen Perioden beruht auf einem einheitlichen Schema: Auf eine Kurzcharakteristik der Verfassungsordnung sowie ihrer Veränderungen, folgt die Darstellung des Entwicklungsganges sowie der Einzelheiten der Verfassungsstruktur. In diesen Abschnitten wird konsequent in allen Perioden differenziert nach Träger der Verfassung, Willensbildung aufgrund der Verfassung und ihre Funktionen. Außen- und innenpolitische Aspekte sowie ideen- und geistesgeschichtliche Wirkungsfaktoren sind eher verknappt und wirtschafts- und sozialgeschichtliche Perspektiven bewusst weitgehend ausgeschaltet. Es wird also von vorneherein darauf verzichtet, eine allgemeine Geschichte oder eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für Juristen zu schreiben.
(3) Gerhard Köbler, Rechtsgeschichte Ein systematischer Grundriss der geschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts von den Indogermanen bis zur Rechtsgegenwart. Von 1977 bis 2005 in 6 Auflagen erschienen; ab der 4. Aufl. 1996 unter dem Titel „Deutsche Rechtsgeschichte“. Im Umfang zwischen 253 und 318 Seiten schwankend; die aktuelle 6. Aufl. umfasst etwa 300 Seiten. Köblers Grundriss bietet eine Übersicht der Rechtsgeschichte von ihren römischen Grundlagen bis zur neuesten Rechtsgegenwart im 19. / 20. Jahrhundert, und zwar orientiert an der Entwicklung des deutschen Staates; die Perioden sind nach einem einheitlichen Schema gestaltet, allgemein wird differenziert nach Grundlagen und Recht. Der Abschnitt Grundlagen enthält jeweils Ausführungen zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie zum Geistesleben; der Abschnitt Recht setzt sich zunächst allgemein mit Rechtsbildung, Rechtsquellen und Rechtswissenschaft auseinander; es folgen Skizzen zum öffentlichen Bereich (differenziert nach den Rubriken Verfassung, Verwaltung, Verfahren, Strafe, Kirche) und zum privaten Bereich (differenziert nach den Rubriken Person, Ehe, Erbe, Sachen, Schulden). Auf knappem Umfang sind somit etwa viertausend Jahre (2000 vor bis 2000 nach Christus) Rechtsgeschichte komprimiert, die
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Ausführungen sind daher stark verknappt; das 19. und 20. Jahrhundert nehmen bloß etwa 100 Seiten ein. (4) Oskar Lehner, Österreichische Verfassungsund Verwaltungsgeschichte mit Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte40 Von 1994 bis 2002 in 3 Auflagen erschienen41; im Umfang leicht angestiegen von gut 400 auf etwa 440 Seiten (aktuelle Auflage). Die Darstellung zeigt starke Ähnlichkeiten im Konzept mit dem Lehrbuch von Brauneder, vor allem in den neueren Perioden. Lehner stellt den einzelnen Perioden jeweils als historischen Hintergrund einen Abschnitt über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie über die innenpolitische und außenpolitische Lage vor; weniger detailliert als bei Brauneder sind die verfassungsrechtlichen Strukturen nach 1848 dargestellt; die im Titel ausgewiesene Verwaltungsgeschichte beschränkt sich auf Grundzüge der Behördenorganisation. (5) Peter Putzer, Skriptum Rechtsgeschichte I (Öffentliches Recht) Von 1999 bis 2004 in 3 Auflagen erschienen; im Umfang mit 90 Seiten gleich geblieben. Das Skriptum bietet bloß eine chronologische Skizze der Staatsbildung sowie das Gerüst einer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von den mittelalterlichen Grundlagen an, die Hälfte der Darstellung entfällt auf die Entwicklung bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches; im letzten Viertel ist die gesamte neuere Verfassungsentwicklung ab 1848 komprimiert; die neueste Verfassungsgeschichte seit 1918 muss mit zehn Seiten auskommen, die jüngste Phase der Verfassungsgeschichte seit 1945 hat auf nicht einmal zwei Seiten Platz. (6) Ursula Floßmann / Herbert Kalb, „Skriptum“ Rechtsgeschichte I (Geschichte des öffentlichen Rechts) Von 2002 bis 2004 in 3 Auflagen42 erschienen, Umfang von ca. 550 auf etwa 600 Seiten angestiegen. Der – wegen des einseitigen Drucks der Seiten – als als „Skriptum“ konzipierte Lehrbehelf folgt dem Konzept der Lehrbücher von Brauneder und Lehner; jenes von Lehner prägt mehr die 40 Hervorgegangen aus dem Skriptum: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Österreichs 1867 – 1938, 118 Blätter. 41 Die 2. Aufl. 1998 blieb im Inhalt unverändert; die 3. Aufl. wurde bloß ergänzt durch die Einbeziehung der seit 1995 mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union veränderten Verfassungssituation (S. 406 – 410). 42 2002 in 3 Teilen erschienen; 2003 und 2004 in 2 Teilen.
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Abschnitte Mittelalter und frühe Neuzeit, das von Brauneder liegt dagegen den Abschnitten über die neuere Verfassungsgeschichte zugrunde, wobei dort aber besondere entwicklungsgeschichtliche Akzente hervorgehoben werden, vor allem frauengeschichtliche Erkenntnisse; jedem Kapitel ist – analog zu Lehners Lehrbuch – jeweils ein Überblick zum politischen, sozioökonomischen und kulturellen Umfeld vorangestellt. (7) Johannes Pichler, digitales Konzept „Europa des Rechts“ Seit 2005 / 06 frei im Internet verfügbar, die pdf-Fassung hat einen Umfang ca. 260 Seiten (aktuell unter dem Titel: „Europa zwischen Unrecht und Recht“).43 Pichler versteht sein Konzept selbst als den Versuch einer „anderen“ Rechtsgeschichte, nämlich einer multimedialen „Rechtsentwicklungsgeschichte“ – „von der Archaik zu Europa“. Der Text-Ebene des Konzepts44 liegt bewusst kein bestimmter geographischer Raum zugrunde, weil „Einflüsse auf eine Rechtskultur von überall herkommen“ und die Wurzeln der europäischen Rechtskultur daher nicht nur früh geprägt, sondern auch von nichteuropäischen Kulturen beeinflusst worden sind. Pichler will den Adressaten seines Lehrkonzepts ein Gesamtpanorama dessen vor Augen führen, was alles Recht sein kann. Die Darstellung setzt, wie die Lehrbücher von Baltl / Kocher und Köbler, bei den ältesten Kulturstufen an. Die frühesten Perioden (Archaik und Antike) nehmen mit 65 Seiten genau so viel Raum ein wie die Perioden von der Französischen Revolution bis 1918; der Abschnitt von 1918 bis 1945 ist dagegen auf 20 Seiten komprimiert. Pichler geht weniger von normativen Grundlagen aus, er ist stärker als alle anderen bereits vorgestellten Lernbehelfe von geistes- und ideengeschichtlich Perspektiven geleitet. (8) Thomas Olechowski, Rechtsgeschichte – Eine Einführung in die historischen Grundlagen des (modernen) Rechts 2006 zunächst als sogenanntes Manual im Umfang von 340 Seiten erschienen; in einer 2. Auflage 2008 überarbeitet und erweitert in kleinerem Format auf 420 Seiten. Das Lehrbuch ist hervorgegangen aus zwei verschiedenen Lehrveranstaltungsunterlagen, einem eigenen Skriptum über „Grundlagen der österreichischen und europäischen Rechtsgeschichte“45 43 mit Verweis auf . 44 Dazu: ), eine Literaturdokumentation, die am Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt durchgeführt und automationsunterstützt bearbeitet wird. Sie verzeichnet Publikationen der österreichischen Geschichtsforschung nur, soweit sie in Österreich erschienen sind (ausländische Austriaca nur bis 1999). 51 Die in den folgenden Fußnoten auf den Personalstand des Jahres 1990 bezogenen Daten nach: Otto Fraydenegg-Monzello, Armin Stolz, Die Personalausstattung der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Österreich 1980 – 1990. Eine Dokumentation, Graz 1990. 50
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nehmen dagegen Arbeiten zur neueren und vor allem neuesten Verfassungsgeschichte ein; auffällig ist ferner, dass nicht mehr an allen Rechtsgeschichte-Standorten die Verfassungsgeschichte zu den Forschungsaktivitäten gerechnet werden kann.
aa) Wien Am Wiener Institut bildet die Verfassungsgeschichte in Verbindung mit der Verwaltungsgeschichte einen Hauptschwerpunkt der Forschungsinteressen und damit auch der Publikationen.52 Überwiegend betreffen sie die neuere und – in Verbindung mit dem österreichischen Staatsvertrags-Jubiläum 2005 – neuesten österreichischen Verfassungsgeschichte seit 1945; thematisch konzentriert auf Parlamentarismus, Grundrechte und Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, teils auch mit (mittel-)europäischen Bezügen. Marginal sind Publikationen zur frühen Neuzeit und zum Mittelalter. Etwa ein Viertel der erhobenen Veröffentlichungen ist auch anderen Gebieten der Rechtsgeschichte zuzuordnen, hauptsächlich der Verwaltungsgeschichte, zum Teil liegen diese auch an der Schnittstelle zum geltenden öffentlichen Recht.
bb) Graz Am Grazer Institut bildet die Verfassungsgeschichte unter den aktiven Angehörigen des wissenschaftlichen Personals53 als Forschungsgegenstand eher eine Randerscheinung, nur ein Dozent nennt sie explizit als einen seiner Forschungsschwerpunkte; dagegen rechnet ein anderer der beiden Professoren die Rechtsgeschichte überhaupt nicht mehr zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten – er beschäftigte sich etwa mit Fragen der Rechtsakzeptanzforschung und aktuell mit Mediation im öffentlichen 52 An wissenschaftlichem Personal stand im Erhebungszeitraum zur Verfügung: 2 Professoren (eine Stelle war zeitweise unbesetzt), 4 Dozenten und 5 wissenschaftliche Assistenten (also 11 volle wissenschaftliche Stellen; im Vergleich dazu 1990: 13); Frequenz der Studierenden im Erhebungszeitraum: fast 9500 (Wissensbilanz 2005: bzw. fast 10000 (Wissensbilanz 2006: ). 53 An wissenschaftlichem Personal stand zur Verfügung: 5 Professoren (3 sind im Erhebungszeitraum verstorben), 4 Dozenten (einer davon zeitweilig karrenziert) und 3 wissenschaftliche Assistenten (also dauernd 9 volle wissenschaftliche Kräfte; im Vergleich dazu 1990: 10,5); Frequenz der Studierenden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Erhebungszeitraum: mehr als 4100 (Wissensbilanz 2005: ) bzw. fast 4400 (Wissensbilanz 2006: ).
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Recht. Veröffentlichungen zur Verfassungsgeschichte stehen in Graz quantitativ deutlich hinter anderen Publikationsleistungen des Instituts zurück; der Großteil der verfassungshistorischen Arbeiten behandelt Fragen des Föderalismus und seiner Reform sowie die Geschichte des öffentlichen Sicherheitswesens. Alle diese Forschungsleistungen sind zugleich auch anderen Gebieten der Rechtsgeschichte, einige auch dem geltenden Verfassungs- und Verwaltungsrecht zuzuordnen. Die meisten betreffen das 20. Jahrhundert, bloß einige wenige haben auch ältere Perioden der Verfassungsrechtsgeschichte zum Gegenstand.
cc) Linz Am Linzer Institut steht die Rechts- und damit auch die Verfassungsgeschichte als Forschungsschwerpunkt ganz im Schatten der Frauenforschung und der Legal Gender Studies.54 Es sind – von Lehrbehelfen [siehe oben S. 98] abgesehen – keine Veröffentlichungen zur Verfassungsgeschichte zu konstatieren.
dd) Salzburg An der Abteilung für Rechts- und Sozialgeschichte sowie Religionsrecht ist die Verfassungsgeschichte – von den beiden aktuell in der Lehre eingesetzten Dozenten abgesehen – ausdrücklich zu den Forschungsschwerpunkten gerechnet worden.55 Die wenigen im Erhebungszeitraum veröffentlichten Publikationen zur Verfassungsgeschichte sind überwiegend zwei inzwischen nicht mehr aktiven Institutsangehörigen zuzuordnen.
54 An wissenschaftlichem Personal stand zur Verfügung: 1 Professor und 5 – allerdings nur zum Teil dauernd besetzte – wissenschaftliche Assistenten (also etwa 4 volle wissenschaftliche Stellen; im Vergleich dazu 1990: 3); Frequenz der Studierenden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Erhebungszeitraum: gut 3000 (Wintersemester 2003 / 04) bzw. fast 4900 (Wintersemester 2007 / 08): Jahresbericht 2007 (). 55 An wissenschaftlichem Personal stand zur Verfügung: Zeitweilig 2 Professoren (beide sind während des Erhebungszeitraums in den Ruhestand getreten), 2 Dozenten (für Frauenrecht bzw. Kirchenrecht habilitiert) und 2 wissenschaftliche Assistenten (also dauernd 4 volle wissenschaftliche Stellen; im Vergleich dazu 1990: 5); Frequenz der Studierenden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Erhebungszeitraum: Frequenz der Studierenden im Erhebungszeitraum: gut 1500 (Sommersemester 2004) bzw. gut 2700 (Wintersemester 2006 / 07): .
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ee) Innsbruck Für das Innsbrucker Institut sind für den Erhebungszeitraum keine Publikationen zur Verfassungsgeschichte zu konstatieren; die letzten dazu veröffentlichten Beiträge datieren aus dem Jahr 2000 und sind einem inzwischen verstorbenen institutsangehörigen Professor zuzurechnen.56
III. Resümee – Tendenzen und Perspektiven Hinsichtlich des Stellenwerts der Verfassungsgeschichte an den österreichischen Rechtsfakultäten sind im Beobachtungszeitraum folgende Tendenzen zu verzeichnen: (1) eine zunehmende Verdrängung der Verfassungsgeschichte aus der Lehre bedingt durch Kürzungen der Rechtsgeschichte in den Lehrplänen, und – in Wechselwirkung dazu – (2) eine Reduktion des für die Rechtsgeschichte zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Personals (in Wien, Graz, Innsbruck und vor allem Salzburg). Daraus resultiert – partiell zumindest – (3) eine rückläufige Forschungstätigkeit, die sich auch auf die Verfassungsgeschichte auswirkt. Von den Standorten Wien und Graz abgesehen, gibt es an den übrigen rechtshistorischen Instituten de facto keine auf die Verfassungsgeschichte bezogene Forschung mehr. Diese Tendenzen werden (4) verstärkt durch eine zunehmende Orientierung der Rechtshistoriker an anderen Forschungsfeldern sowie durch die Hinwendung zu nichtrechtshistorischen Forschungsfeldern wie etwa Gender Studies oder Mediation in Linz und Salzburg bzw. Mediation und Rechtspolitik zum Teil in Graz. Eine komplementäre Kompensation der Defizite der Verfassungsgeschichte an den Juristenfakultäten durch Leistungen anderer universitärer Einrichtungen57 oder außeruniversitärer Forschungsstellen58 ist nicht 56 An wissenschaftlichem Personal hat zur Verfügung gestanden: 3 Professoren (einer davon ist im Erhebungszeitraum verstorben), 1 Dozent und 2 wissenschaftliche Assistenten (also dauernd 5 volle wissenschaftliche Kräfte; im Vergleich dazu 1990: 7); Frequenz der Studierenden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Erhebungszeitraum: gut 2900 (Wintersemester 2002) und fast 2700 (Wintersemester 2007 / 08): . 57 Durch die zahlreichen historischen Institute und die Politikwissenschaften. 58 Durch Institute wie der Verein Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien (2006 aufgelöst) oder einzelne historisch orientierte Institute der Ludwig-BoltzmannGesellschaft, ferner durch die Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften oder öffentliche Archive, etwa das Österreichische Staatsarchiv und das Parlamentsarchiv in Wien. Als Einzelperson sei hier hingewiesen auf den Wiener Rechtshistoriker Josef Pauser, bis 2001 Assistent am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte Wien (bei Wilhelm Brauneder), später hier stellvertretender Leiter der Rechtswissenschaftlichen Fakultätsbibliothek und seit 2004 Direktor der Bibliothek des Österreichischen Verfas-
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festzustellen, sondern eher eine Konzentration auf bestimmte thematische Schwerpunkte mit verfassungsgeschichtlichem Hintergrund: Dazu zählt etwa die Beschäftigung mit der Geschichte diskriminierter Personengruppen (Juden, Minderheiten, Fremde), mit Frauenrechtsgeschichte oder mit allgemeinen Entwicklungen der Zeitgeschichte, hier allerdings meist beschränkt auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf die anschließende Besatzungszeit bzw. auf Themen in Zusammenhang mit den Bemühungen etwa der Österreichischen Historikerkommission59 um die wissenschaftliche Erfassung und Quantifizierung der Schädigungen von Personen oder Institutionen durch den Nationalsozialismus. Auch die Gründung des Österreich-Konvents im Frühjahr 2003 mit dem Ziel der Neukodifizierung des österreichischen Verfassungsrechts hat kein gesteigertes Interesse an der Verfassungsgeschichte hervorgerufen: Ludwig Adamovich, bis 2002 Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, hat dazu Ende 2003 etwa gefordert, dass der Konvent dabei auch „. . . den historischen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Hintergrund ausleuchten“60 müsste. Dies ist keineswegs geschehen, dem Konvent wurde kein einziger Verfassungshistoriker als Mitglied oder Experte beigezogen.61 Auch im Umfeld der wissenschaftlichen Aufbereitung des StaatsvertragsJubiläums 2005 war die Präsenz der Verfassungs-Rechtsgeschichte schwach; der Beitragsband zur niederösterreichischen Landesausstellung enthält einen einzigen, im Umfang marginalen Beitrag eines Rechtshistorikers.62 Ähnliches ist auch in Verbindung mit der im Wiener Parlament orgasungsgerichtshofes, als Fachmann unter anderem für frühneuzeitliche (österreichische) Rechts- und Verfassungsgeschichte. 59 Eingerichtet am Sitz des Österreichischen Staatsarchivs; dazu: Clemens Jabloner, Brigitte Bailer-Galanda, Eva Bimlinger [u. a.] (Hrsg.), Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen (= Veröffentlichungen der Österreichischen HistorikerKommission, Bd. 1), Wien, München 2003. Die Ergebnisse sind von 2002 bis 2004 in insgesamt 32 Bänden veröffentlicht worden. 60 Workshop zum Thema: „Hat nationale Verfassungsgeschichte noch einen Stellenwert im europäischen Diskurs? Neue Themen und Fragen zur österreichischen Verfassungsgeschichte im 20. Jahrhundert“ am 4. November 2003, in: Parlamentskorrespondenz / 06 / 04. 11. 2004 / Nr. 804: . 61 Bericht des Österreich-Konvents. Wien, 31. Jänner 2005, hrsg. vom Büro des Österreich-Konvents, Wien 2005, Teil 1, S. 15 – 35 (Zusammensetzung des Konvents, Ausschüsse, Expertengruppe des Präsidiums); dazu auch: : Verweis auf die Zusammensetzung. 62 Wilhelm Brauneder, Die Kontinuität der Verfassung 1945, in: Österreich ist frei. Der österreichische Staatsvertrag 1955, hrsg. von Stefan Karner und Gottfried Stras-
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nisierten Ausstellung aus Anlass der Gründung der Republik vor 90 Jahren zu verzeichnen: der wissenschaftlichen Ausstellungsband enthält lediglich den Beitrag eines einzigen Verfassungs-Rechtshistorikers.63 Das Wiener Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte ist jüngst auch selbst mit zwei Tagungen zu verfassungshistorisch bedeutenden Jubiläen hervorgetreten: 2007 – in Kooperation mit dem Nationalrat der Republik Österreich – mit der Veranstaltung eines Symposiums zur (mitteleuropäischen) Wahlrechtsgeschichte aus Anlass der Einführung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts in Österreich im Jahr 190764; sowie im November 2008 – in Kooperation mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien sowie mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien – mit der Veranstaltung einer Tagung über Fragen der Verfassungsordnung im Zusammenhang mit Staatsgründungen am Beispiel der Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nach 1918.65 Das Institut ist Juni 2008 auch als Mitveranstalter einer internationalen Tagung über Parlamentarismus in Kleinstaaten hervorgetreten.66 Mehrere Angehörige des Instituts sind auch als Mitglieder und Funktionäre in der Vereinigung für Verfassungsgeschichte engagiert.67 Ein gesteigertes Interesse an verfassungshistorischen Projekten zeichnet sich auch in der im Rahmen der philosophisch-historischen Klasse der ser, Wien 2005, S. 102 – 104; 461 Seiten. – Aus einem zweitägigen von der Wiener Rechtsgeschichtlichen Gesellschaft veranstalteten Symposium ist, unter Mitwirkung auch von Mitgliedern des Wiener Institutes für Rechts- und Verfassungsgeschichte, immerhin ein Sammelband mit den Tagungsbeiträgen veröffentlicht worden: Fünfzig Jahre Staatsvertrag und Neutralität. Tagungsband zum Symposium der Wiener rechtsgeschichtlichen Gesellschaft, hrsg. von Thomas Olechowski, Wien 2006; mit Beiträgen u. a. von Olechowski und Reiter-Zatloukal. 63 Wilhelm Brauneder, Die Verfassungssituation 1918: ein Staat entsteht, ein Staat geht unter, in: Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband zur Ausstellung im Parlament, hrsg. von Stefan Karner und Lorenz Mikoletzky, Innsbruck, Wien, Bozen 2008, S. 15 – 24. 64 Ein Sammelband mit den Tagungsbeiträgen der Tagung am 9. November 2007 im Wiener Parlament wird vorbereitet: Modernes Wahlrecht unter den Bedingungen eines Vielvölkerstaates, hrsg. von Thomas Simon (im Erscheinen 2008). 65 Internationale Tagung „Staatsgründung und Verfassungsordnung“, 19. November in Wien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv; für die Organisation verantwortlich ist Thomas Simon. 66 Für die Organisation der gemeinsam mit dem Liechtenstein-Institut und der Internationalen Kommission für Geschichte des Ständewesens und der Parlamente von 4. bis 6. Juni in Bendern / Liechtenstein abgehaltenen Tagung war Gerald Kohl verantwortlich; er ist derzeit der Beauftragte dieser Kommission für die Sektion Österreich; sein Vorgänger war Wilhelm Brauneder, der aktuell als Präsident an der Spitze dieser internationalen Organisation steht. 67 Wilhelm Brauneder ist Gründungsmitglied der Vereinigung und war von 1993 – 1997 ihr Präsident; seit 2006 im Beirat: Thomas Simon; weitere Mitglieder vom Institut: Christian Neschwara, Gerald Kohl und Ilse Reiter-Zatloukal.
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Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2008 neu konstituierten Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs ab68: Durch die Wiederwahl69 bzw. Aufnahme von neuen70, auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte ausgewiesenen Mitgliedern.71
68 Ihr Vorsitzender (seit 1975) ist der 2003 emeritierte frühere Vorstand des Wiener Rechtsgeschichte-Instituts Werner Ogris. Er gehört der Akademie seit 1972 als korrespondierendes und seit 1975 als wirkliches Mitglied an. 69 Vom Wiener Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte gehören der Kommission an seit 2003 Christian Neschwara und Thomas Olechowski (ein OgrisSchüler; er wurde 2008 als jüngster österreichischer Dozent der Rechtsgeschichte zum korrespondierenden Mitglied berufen); sowie seit 2008: Ilse Reiter-Zatloukal. – Wilhelm Brauneder gehörte der Kommission seit fast drei Jahrzehnten als Mitglied an, er wurde bei der Neuwahl der Kommission für 2008 bis 2012 nicht mehr berücksichtigt. – Andere – 2008 wiederbestellte – Mitglieder anderer österreichischer Rechtsgeschichte-Institute (Linz: Ursula Floßmann und Herbert Kalb; Graz: Gernot Kocher) zählen die Verfassungsgeschichte – wie oben ausgeführt – nicht zu ihren Forschungsschwerpunkten. 70 Vor allem Thomas Winkelbauer, Vorstand des Instituts für Geschichte an der Universität Wien, seit 2005 Mitglied der Historischen Kommission und seit 2007 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 71 Thomas Olechowski (auf seine Anregung veranstaltet die Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs am 20. / 21. April 2009 in Kooperation mit dem HansKelsen-Institut in Wien die internationale Tagung „Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit“); Thomas Winkelbauer (auf seine Initiative fand von 10. bis 12. September 2008 in Kooperation mit dem Österreichischen Staatsarchivs die internationale Tagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien über „Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit“ statt; von Winkelbauer wurde außerdem in der von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs herausgegeben Reihe „Fontes rerum austriacarum. Österreichische Geschichtequellen, Dritte Abteilung: Fontes Juris“ als Band 19 veröffentlicht: Gundaker von Liechtenstein als Grundherr in Niederösterreich und Mähren. Normative Quellen zur Verwaltung und Bewirtschaftung eines Herrschaftskomplexes und zur Reglementierung des Lebens der Untertanen durch einen adeligen Grundherrn sowie zur Organisierung des Hofstaates und der Kanzlei eines „Neufürsten“ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Wien 2008).
Verfassungsgeschichte und Geschichtsphilosophie Von Andreas Kley, Bern, und Christian Kissling, Zürich I. Typologie von Geschichtsphilosophien Geschichtsphilosophien fragen nach dem Verlauf, den Gesetzmäßigkeiten und dem Ziel der geschichtlichen Entwicklung.1 Genauer geht es um Fragen wie die, ob die Geschichte nach einem bestimmten Entwicklungsmuster verläuft, ob dieses Muster überhaupt erkennbar ist oder ob es ein Subjekt hinter der geschichtlichen Entwicklung gibt. Letztlich steht in der Geschichtsphilosophie im materiellen Sinne also die Frage nach dem „Sinn“2 der geschichtlichen Entwicklung zur Diskussion. Daneben untersucht die Geschichtsphilosophie natürlich auch die Methoden der Geschichtswissenschaft, fragt also nach dem Wesen der historischen Erkenntnis. Wichtig ist in diesem methodologischen Zusammenhang insbesondere die erkenntnistheoretische Frage, ob historische Vorgänge – wenn überhaupt – nur (hermeneutisch) verstanden oder auch (nomothetisch) erklärt werden können.3 Dieser formale Zweig der geschichtsphilosophischen Fragestellung wird im Folgenden am Rande ebenfalls zur Sprache kommen, da er mit der Frage nach dem Ziel der Geschichte zusammenhängt. Der Sache nach gibt es Geschichtsschreibung seit der Antike.4 Es scheint geradezu zum Wesen des Menschen zu gehören, nach dem Werdegang des 1 Vgl. Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004, S. 17; Volker Depkat et al. (Hrsg.), Wozu Geschichte(n)?, Wiesbaden 2004, S. 7; zur problematischen Definition der Verfassungsgeschichte vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Beiheft Nr. 6 zu „Der Staat“, Berlin 1983, S. 7 – 21. Zum Folgenden auch die kurze Darstellung in: Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Bern 2004, S. 28 ff. 2 Vgl. dazu weiterführend und differenzierend Emil Angehrn, Vom Sinn der Geschichte, in: Depkat et al., Wozu Geschichte(n)? (FN 1), S. 15 – 30, bes. 21 – 23. 3 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 17 f. Als umfassende Darstellung vgl. Karl-Otto Apel, Die Erklären : Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a. M. 1979, bes. S. 15 – 32. 4 Vgl. etwa die Nachweise bei Gunter Scholtz, Art. „Geschichte“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel-Stuttgart 1974, Sp. 344 – 398, hier Sp. 344.
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Bestehenden zu fragen und daraus Rückschlüsse auf das Kommende zu ziehen. Der Ausdruck „Geschichtsphilosophie“ ist dagegen erst von Voltaire (François-Marie Arouet, 1694 – 1778) eingeführt worden.5 Eine philosophische Darstellung der Geschichte sollte nach Voltaire dazu dienen, die Mär des göttlichen Eingreifens in die Geschichte zu eliminieren. Nach seiner aufklärerischen Intention lässt sich die geschichtliche Entwicklung vernünftig, unter Rückgriff auf natürliche Ursachen und Faktoren begreifen.6 Es geht Voltaires Geschichtsphilosophie also darum, der zeitgenössischen theologischen Universalgeschichte mit rationalen Mitteln zu begegnen (Säkularisierung der Geschichte). Und gleichzeitig wird damit die These vertreten, dass philosophische Vernunftwahrheiten und historische Erfahrungstatsachen einander nicht entgegengesetzt sind. Geschichte ist mit anderen Worten vernünftig.7 Diese These wird für den ersten Typus von Geschichtsphilosophie bestimmend. Sie wurde freilich nicht von allen Philosophen der Aufklärung geteilt. Immanuel Kant etwa trennte prononciert Vernunfterkenntnisse (cognitio ex principiis) von historischen Erkenntnissen (cognitio ex datis). Historische Erkenntnisse sind für ihn bloß ein „Gipsabdruck“ lebender Menschen.8 1. Geschichte als Entwicklung
Gemeinsamer Grundzug des ersten Typs von Geschichtsphilosophien ist die Überzeugung von geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten, welche den Lauf der Ereignisse bestimmen. Dabei können verschiedene Ausprägungen unterschieden werden, indem der Geschichtsverlauf [a)] linear oder [b)] zyklisch vorgestellt wird. a) Gemäß den verschiedenen Ansätzen einer linearen Geschichtsphilosophie verläuft die geschichtliche Entwicklung einsinnig in einer bestimmten Richtung auf ein Ziel zu. Am bekanntesten sind dabei die Fortschrittstheorien, nach denen die Welt im Lauf der Zeit immer „besser“ wird. Aus einfachen Ursprüngen heraus entwickelt sich eine immer vollkommenere Ordnung.9 Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Überzeugung ist Georg 5 Vgl. Ulrich Dierse, Gunter Scholtz, Art. „Geschichtsphilosophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (FN 4), Sp. 416 – 439, hier Sp. 416 f.; Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 24. 6 Vgl. Voltaire, Essais sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations (1756); ders., Philosophie de l’Histoire (1765). 7 Vgl. Dierse, Scholtz, Geschichtsphilosophie (FN 5), Sp. 417; Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 28. 8 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 864 / A 836. 9 Zum geschichtsphilosophischen Begriff des Fortschritts als Finalität, Notwendigkeit und Konstituierung der menschlichen Gattung als Kollektivsubjekt vgl. Mirko Wischke, Ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen?, in: Depkat et al., Wozu Geschichte(n)? (FN 1), S. 31 – 47, 32 f.
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Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831). Nach ihm verläuft die Weltgeschichte, vom allgemeinen bzw. Weltgeist (Vernunft) geleitet, in einem dialektischen Prozess zu immer höheren Stufen.10 „Die Weltgeschichte ist [ . . . ] nicht das blosse Gericht seiner [scil. des „allgemeinen Geistes“] Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern, weil er an und für sich Vernunft und ihr Für-sich-Sein im Geiste Wissen ist, ist sie die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewusstseins und seiner Freiheit, – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.“ (Rechtsphilosophie, § 342)
Die Macht des Weltgeists geht sogar so weit, dass er die unvernünftigen Leidenschaften der Menschen für seine Zwecke gebraucht („List der Vernunft“). Menschen und ihre partikularen (unvernünftigen) Zwecke bekämpfen einander, aber der allgemeine Zweck des Weltgeists bleibt davon unberührt bzw. wird gar gestärkt.11 „Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund und schickt das Besondere der Leidenschaft in den Kampf, sich abzureiben. Man kann es die List der Vernunft nennen, dass sie die Leidenschaften für sich wirken lässt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüsst und Schaden erleidet.“12
Ziel der geschichtlichen Entwicklung ist die Entstehung des Vernunftstaates, eines Gemeinwesens, das die Vernunft vollkommen ausdrückt und verkörpert.13 Hegels Anspruch, dass der preussische Staat die Verkörperung des Resultats der Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ sei, konnte natürlich bestritten werden. Karl Marx (1818 – 1883) jedenfalls sah dieses Resultat noch nicht verwirklicht. Vom dialektischen Denken Hegels angeregt, unterschied Marx die Stufen der Sklavenhalter-, der feudalistischen, der (aktuellen) kapitalistischen und der (kommenden) kommunistischen Gesellschaft. Die jeweils nächstfolgende Stufe entstehe aus dem Konflikt zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften der vorangehenden. „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsver-
10 Als ausführliche Darstellung vgl. Charles Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1983 (engl. Orig. Cambridge University Press 1975), S. 509 – 560. 11 Vgl. Taylor, Hegel (FN 10), S. 513. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von Johannes Hoffmeister (= Phil. Bibliothek Meiner Bd. 171a), 6. Aufl., Hamburg 1994, S. 105. 13 Vgl. Dierse, Scholtz, Geschichtsphilosophie (FN 5), Sp. 429; Taylor, Hegel (FN 10), S. 509.
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hältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. [ . . . ] Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein.“14
Bei Marx spricht man auch zuweilen von einer „Heilstheorie“, weil die Entwicklung nicht nur immer weiter voranschreitet, sondern am Ende in einem Zustand endet, bei dem jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann. Der finale Zustand des Heils unterscheidet diese Geschichtstheorie von bloßen Fortschrittstheorien, die auf eine fortwährende Steigerungsmöglichkeit vertrauen. Eine Abkehr von derart „metaphysischen“ Geschichtsphilosophien wollte Auguste Comte (1798 – 1857) vollziehen. Er entwickelte ein Drei-Stadien-Gesetz der Entwicklung des menschlichen Geistes, die zu einem gesellschaftlichen Endzustand führt: Auf das theologische Stadium, in dem der Mensch Naturereignisse nur als göttliche Eingriffe verstehen konnte, folgte das metaphysische Übergangsstadium, in dem abstrakte Begriffe wie Endursache, Substanz etc. die Bedingungen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bestimmten. Seine Gegenwart sah Comte an der Schwelle zum positiven Stadium: Die Menschen werden sich der Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit bewusst; absolute Erkenntnis ist nicht möglich, menschliches Wissen hängt von der Beschaffenheit der menschlichen Natur ab. Im Vordergrund steht die Erforschung von empirischen Zusammenhängen in Natur und Gesellschaft, ohne Rückgriff auf metaphysische Abstraktionen, und die systematische Ordnung dieses Erfahrungswissens („positive Methode“). Im Verlaufe der Entwicklung werde die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Menschen über die Natur abgelöst. Gleichzeitig entwickelte sich auch die menschliche Moralfähigkeit: Im End-Stadium der Geschichte sollten sich die menschlichen Begierden vom Egoismus zum Altruismus hin entwickeln. Die Verfestigung altruistischer Gewohnheiten übertrug Comte einer „Religion der Menschheit“, in der die Menschheit sich selbst als das „Große Wesen“ anbetet. Priester aus einer Kaste besonders ausgebildeter Wissenschaftler sollten als Inhaber der geistlichen Gewalt die weltlichen Machthaber anleiten.15 Innerhalb der linearen Geschichtsphilosophien sind neben den Fortschrittstheorien auch Verläufe in gegenteiliger Richtung, das heißt Verfalls14 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: Marx-EngelsWerke Bd. 13, Berlin (Ost) 1961 u. ö., S. 8 f. 15 Vgl. Auguste Comte, Discours sur l’esprit positif (1844), Édition Vrin 2002; dt. Rede über den Geist des Positivismus, hrsg. von Iring Fetscher, Philosophische Bibliothek Meiner Bd. 468, Hamburg 1994.
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theorien denkbar. Oft stellen diese den Versuch dar, die „gute alte Zeit“ wiederherzustellen. Von diesem Bestreben zeugen auch zahlreiche Geschichtsbegriffe wie Re-naissance, Re-formation, Re-stauration oder Re-volution. Restaurative oder reaktionäre politische Theoretiker wie Edmund Burke (1729 – 1797) oder Carl Ludwig von Haller (1768 – 1854)16 brachten aber keine Geschichtsphilosophie im Sinne eines geschlossenen Systems hervor. Gleiches ist von den verschiedenen gegenaufklärerischen Strömungen und Autoren zu sagen.17 b) Im Unterschied zu linearen nehmen zyklische Geschichtsphilosophien an, dass sich bestimmte Abläufe in der Geschichte wiederholen und dass deshalb künftige Entwicklungen als Repetitionen der Vergangenheit vorhergesagt werden können. Insofern ist auch keine Verschiedenartigkeit historischer Ereignisse festzustellen. Als vielleicht Erster hat der altgriechische Historiker Polybios (etwa 200 – 120 v. Chr.) die These vom Kreislauf der Verfassungen vertreten18, die dann etwa von Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) wieder aufgegriffen wurde: „Die Länder pflegen zumeist bei ihren Veränderungen von der Ordnung zur Unordnung zu kommen und dann von neuem von der Unordnung zur Ordnung überzugehen. Es ist von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, stille zu stehen. Wenn sie daher ihre höchste Vollkommenheit erreicht haben und nicht mehr steigen können, müssen sie sinken. Ebenso, wenn sie gesunken sind, durch die Unordnung zur tiefsten Niedrigkeit herabgekommen, und also nicht mehr sinken können, müssen sie notwendig steigen. So sinkt man stets vom Guten zum Übel und steigt vom Übel zum Guten.“19
Vergleichbare Überzeugungen vertraten Oswald Spengler (1880 – 1936) mit seiner These, dass sich die äusseren Formen der Kulturen, wenn auch nicht ihre individuelle Ausprägung, wiederholen,20 oder – in Anklängen wenigstens, aber deutlich weniger deterministisch und pessimistisch als Spengler – auch noch Arnold Joseph Toynbee (1889 – 1975).21
16
Vgl. Kley, Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 58, 149 f., 217. Vgl. Isaiah Berlin, Die Gegenaufklärung, in: ders., Wider das Geläufige, Frankfurt a. M. 1982, S. 63 – 92; ders., Joseph de Maistre und die Ursprünge des Faschismus, in: ders., Das krumme Holz der Humanität, Frankfurt a. M. 1992, S. 123 – 221. 18 Vgl. Polybius [sic!], Geschichte, hrsg. von Hans Drexler, Bd. 1, Zürich 1961, Buch VI. 19 Niccolò Machiavelli, Geschichte von Florenz, in: ders., Gesammelte Schriften in fünf Bänden, hrsg. von Hans Floerke, München 1925, Bd. 4, S. 268. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Herfried Münkler, Machiavelli, Frankfurt a. M. 1982, S. 338 – 351, sowie Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, 2. Aufl., München 1998, S. 52 – 61. 20 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1, Wien 1918; Bd. 2, München 1922; Neuausgabe München 1998. 17
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Andreas Kley und Christian Kissling 2. Historismus
Der Historismus stellt die typische Strömung der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar22 und charakterisiert sich durch die Ablehnung der Idee ewiger Werte und Vernunftprinzipien.23 Dabei war diese Stoßrichtung gegen die aufklärerisch-optimistische Vorstellung von der Geschichte als linearem Fortschrittsprozess (oben Abschnitt 1 Bst. a) durchaus auch methodologisch motiviert: Im Bestreben, den zeitgenössischen und erfolgreichen Naturwissenschaften nachzueifern, wurde in der Geschichtsschreibung das Ideal der empirischen Forschung in den Vordergrund gerückt und jegliche geschichtsphilosophische Spekulation abgelehnt.24 Allein, auch eine solche Ablehnung der Geschichtsphilosophie stellt einen geschichtsphilosophischen Standpunkt dar. Am deutlichsten wird das vielleicht bei Leopold von Ranke (1795 – 1886) in seinem Bestreben der Darstellung, „wie es eigentlich gewesen ist“. Ranke wollte möglichst große Objektivität in der Wiedergabe der Geschichte walten lassen. Dieses Ideal historiographischer Wissenschaftlichkeit führt dann aber notwendig zur These, dass jede Epoche ihren eigenen Wertmaßstab in sich trägt und keine generalisierende Beurteilung von außen duldet. Wenn nun ein solcher epochenübergreifender Wertmaßstab nicht gegeben ist, wird auch die Annahme eines geschichtlichen Fortschritts sinnlos. „Wollte man [ . . . ] annehmen, [ . . . ] [der] Fortschritt [der Menschheit] bestehe darin, dass in jeder Epoche die Menschheit sich höher potenziert, dass also jede Generation die vorgehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solch gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre [ . . . ]. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst [ . . . ]. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muss und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“25
21 Arnold J. Toynbee, A Study of History, vol. I–X, London 1934 – 1954; add. vol. XI and XII, London 1959 and 1961; gekürzte deutsche Ausgabe: ders., Der Gang der Weltgeschichte, 2 Bde., Zürich 1970. 22 Vgl. die Darstellung bei Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 49 – 87. 23 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 73. 24 Ebd., S. 74. 25 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, in: Gedächtnisausgabe (Reprographischer Nachdruck), Darmstadt 1980, S. 7.
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Der Preis für die möglichst objektive Darstellung der Geschichte liegt also im Verzicht auf ihre Bewertung, mithin in der Gefahr einer relativistischen Einebnung geschichtlicher Vorgänge.26 Neben Ranke sind als hauptsächliche Vertreter des Historismus vor allem Droysen und Dilthey zu nennen. Johann Gustav Droysen (1808 – 1884)27 kritisierte die naive Vorstellung, Geschichte werde von Individuen „gemacht“. Vielmehr rechnet er mit der Existenz und Wirkmächtigkeit kollektiver Subjekte, an denen Individuen lediglich partizipieren.28 In der Konsequenz muss das dazu führen, dass die individuelle Verantwortlichkeit für geschichtliche Ereignisse, auch wenn sie von Menschen bewirkt wurden, abzulehnen ist. Bei Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) tritt eine formale Geschichtsphilosophie im Sinne der Methodologie in den Vordergrund. Zentrales Anliegen Diltheys war der Nachweis einer methodologischen Sonderstellung der Geisteswissenschaften – und damit im Speziellen der Geschichtsschreibung – neben den Naturwissenschaften.29 Gegebene natürliche, von außen beobachtbare Ereignisse können mittels Gesetzeshypothesen naturwissenschaftlich erklärt werden. Symbolisch vermittelte Zusammenhänge, von Menschen hervorgebracht, können demgegenüber nur verstanden werden. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“30
3. Posthistorie
Wie dargestellt, zeichnet sich der Historismus durch die Ablehnung eines geschichtlichen Fortschritts- oder Entwicklungsgedankens aus. Posthistoristische Strömungen gehen nun insofern noch einen Schritt weiter, als sie auch die historistische Idee der Darstellung, „wie es eigentlich gewesen ist“, ablehnen. Aus ihrer Sicht muss vielmehr „Geschichte“ nach Maßgabe der Gegenwartsprobleme immer wieder neu konstruiert werden.31
26 Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland (FN 22), S. 51; Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 78. 27 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik (1868); Neuausgabe: ders., Historik, hrsg. von Rudolf Hübner, Darmstadt 1977. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland (FN 22), S. 71 – 74. 28 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 90. 29 Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland (FN 22), S. 74 – 77 und die ausführliche Darstellung von Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 178 – 233. 30 Wilhelm Dilthey, Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 5, S. 143, zitiert nach Habermas, Erkenntnis und Interesse (FN 29), S. 184. 31 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 119.
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Eine erste Stufe dazu wird durch die analytische Philosophie Ludwig Wittgensteins (1889 – 1951) gelegt. In ihrem Gefolge entstehen analytische Ansätze der Geschichtsphilosophie, die sich im Grunde genommen überhaupt nicht mit der Geschichte an sich beschäftigen, sondern den Wortgebrauch von „Geschichte“ in Alltag und Wissenschaft analysieren.32 So soll es möglich werden, auch geschichtsphilosophische Lehren von sprachlichen Unklarheiten zu befreien. In eine ähnliche Richtung zielt die Übertragung wissenssoziologischer Thesen auf die Geschichtsphilosophie. Für Peter L. Berger und Thomas Luckmann ist die Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert33 und Aufgabe der Wissenssoziologie ist es, diese gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren.34 Dabei sehen sich Berger und Luckmann durchaus in der Tradition des Historismus und Diltheys mit seinem „überwältigenden Gefühl für die Relativität aller Aspekte menschlichen Geschehens, das heißt also auch für die unausweichliche Geschichtlichkeit des Denkens.“35 Von der analytischen Philosophie leitet sich der linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts her. Für die Geschichtsphilosophie bedeutet dies, dass nun die Form der Darstellung, also die Erzählung, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.36 Die wissenssoziologische Grundthese aufnehmend, wird somit die Geschichte – für den Historismus noch ein objektiver Gegenstandsbereich – zur sprachlich und diskursiv verfassten Größe.37 Gemeinsames Merkmal posthistoristischer Strömungen ist die Überzeugung, dass es „Geschichte“ als solche gar nicht mehr gibt. Was uns als historischer Zusammenhang erscheint, löst sich auf in Fragmente und Sequenzen ohne kontinuierliche Verbindung dazwischen (Dekonstruktion).38 Literarisch findet dieser Gedanke verschiedene Ausdrücke. So spricht Jean-François Lyotard (1924 – 1998) vom „Ende der großen Erzählung“39: Es gibt kein Kollektivsubjekt (mehr), das die große Erzählung erzählen könnte, sondern nur mehr viele kleine Erzählungen – die Geschichte zerfällt in eine unübersehbare Pluralität.40 Bei Michel Foucault 32 Vgl. z. B. Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1980. 33 Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, (amer. Orig. 1966) Frankfurt a. M. 1969, S. 1. 34 Ebd., S. 3. 35 Ebd., S. 7 f. 36 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 103 f. 37 Ebd., S. 141. 38 Ebd., S. 118. 39 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, hrsg. von Peter Engelmann, Graz-Wien 1986. 40 Vgl. Rohbeck, Geschichtsphilosophie (FN 1), S. 147.
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(1926 – 1984) wandelt sich demgegenüber die Geschichtsphilosophie zu einer Analyse von Machtverhältnissen, und diese Analyse geht aus vom Generalverdacht, dass das Konstrukt „Geschichte“ nur dazu dient, bestehende Macht zu festigen.41
II. Philosophie der Verfassungsgeschichte? 1. Fragestellungen einer Verfassungsgeschichtsphilosophie
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass innerhalb der Geschichtsphilosophie zwei Typen von Fragestellungen zu unterscheiden sind: Eine materiale Geschichtsphilosophie befasst sich mit der Entwicklungslogik der Geschichte, während eine formale Geschichtsphilosophie danach fragt, wie geschichtliche Vorgänge objektiv verstehbar und darstellbar sind. In der obigen Darstellung von drei geschichtsphilosophischen Grundtypen stellen die „Entwicklungstheorien“ (Abschnitt I.1.) beinahe ausschließlich materiale Geschichtsphilosophien dar, während im Historismus (Abschnitt I.2.) das formale Element, bereits bei Ranke, bestimmend dann bei Dilthey, neben materiale Aspekte tritt. In den posthistoristischen Ansätzen (Abschnitt I.3.) schließlich wird die formale Dimension stärker als die materiale. Beide Fragebereiche sind nun auch für die Disziplin der Verfassungsgeschichte relevant. Zum einen hat es die Verfassungsgeschichte mit historischen Texten zu tun. Da stellen sich hermeneutische Fragen, etwa nach dem Vorverständnis des Verfassungshistorikers, nach der möglichen Objektivität der Darstellung oder nach dem Verstehen des Handelns historischer Akteure. Letztlich geht es aber immer auch um die Frage der Bewertung. Verfassungen und Gesetze sind normative Texte, und da fällt es schwer anzunehmen, sie könnten rein neutral, ohne jede Wertung dargestellt werden. Ebenso wichtig sind aber auch Fragen nach der geschichtlichen Entwicklung. Verfassungsgeschichtler in liberalen demokratischen Rechtsstaaten müssen sich unwillkürlich die Frage stellen, ob die historische Entwicklung, die zu diesem Ergebnis führte, entwicklungslogisch notwendig in diesem Sinne verlaufen ist und ob in Zukunft eine Fortsetzung dieser Bewegung zu erwarten ist. Die Verfassungsgeschichte der Neuzeit stellt namentlich die „Entdeckung“ und Entwicklung der Menschenrechte bis zu den Grundrechtskatalogen der westlichen Verfassungen als eine nicht mehr rückgängig zu machende Erfolgsgeschichte dar. So kann es zu einer brisan41 Vgl. etwa Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, hrsg. von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1987, S. 69 – 90; ders., Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1, hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M. 2004, S. 20 – 26, 77 – 79, 163 f. etc.; ders., Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a. M. 2002, S. 13.
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ten Angelegenheit werden, wenn die Menschenrechte nicht als der Olymp der geschichtlichen Entwicklung dargestellt werden. 2. Bestandsaufnahme
Ein Blick in die gängige verfassungsgeschichtliche Literatur zeigt freilich, dass geschichtsphilosophische Ausführungen kaum zu finden sind. Zumindest die Lehrbücher beschränken sich auf eine bloße Darstellung der historischen Entwicklung, ohne dass die Studierenden in irgendeiner Weise mit philosophischen Überlegungen behelligt würden. a) Dietmar Willoweit widmet sich einleitend zu seiner Verfassungsgeschichte einigen methodischen Überlegungen zum hermeneutischen Zirkel in der Verfassungsgeschichtsschreibung. Gerade der Verfassungshistoriker kann ja gar nicht anders als ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen und Fragen und in diesem Sinne voreingenommen an das historische Material herantreten.42 Vielleicht ist es die Einsicht in diese notwendige Bedingung, die dann zu seiner historistisch anmutenden Forderung nach „Distanz gegenüber allen Zeitaltern, auch dem gegenwärtigen“43 führt. Der hermeneutische Zirkel führt nach Willoweit auch dazu, dass die Verfassungsgeschichtsschreibung „nur relativ richtige Ergebnisse erbringen kann“44; der Anspruch, die Geschichte im Sinne Rankes objektiv richtig, das heißt so, wie sie wirklich gewesen ist, darzustellen, ist illusorisch.45 Neben dieser Besinnung auf methodische Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung46 sind materiale geschichtsphilosophische Überlegungen nicht zu sehen. Hans Boldt versteht Verfassungsgeschichte als politische Strukturgeschichte.47 In diesem Sinne rückt er die Verfassungsgeschichte in die Nähe zur Politikwissenschaft beziehungsweise zum politischen Systemvergleich48; Willoweit49 bezeichnet diesen Ansatz denn auch als historische Politologie. Keinerlei geschichtsphilosophische Überlegungen sind weiter bei Otto Kimminich auszumachen; Kimminich gibt lediglich seiner Hoffnung Aus42 Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. Aufl., München 2001, S. 5. 43 Ebd., S. 2. 44 Ebd., S. 8. 45 Ebd., S. 7. 46 Ebd., S. 10. 47 Vgl. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. 1, 2. Aufl., München 1990; Bd. II, München 1990, hier Bd. 1, S. 5 und 13. 48 Ebd., Bd. 1, S. 11. 49 Willoweit, Verfassungsgeschichte (FN 42), S. 2.
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druck, dass aus der Geschichte gelernt werde.50 Dasselbe gilt für die Darstellungen von Reinhold Zippelius51, Christian Friedrich Menger52, Klaus Kröger53, Dieter Grimm54 und Fritz Hartung.55 Hartung beschränkt sich – kurz nach der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland – auf die lapidare Bemerkung, dass Fragestellung und Interessenrichtung der verfassungsgeschichtlichen Forschung durch Zeitumstände und politische Strömungen mitbedingt seien.56 Erstaunlicherweise übt sich sogar das monumentale Werk von Ernst Rudolf Huber57 in konsequenter und erklärter geschichtsphilosophischer Abstinenz. Huber verzichtet gleich schon im Vorwort zum ersten Band darauf, seinen Begriff der Verfassungsgeschichte, die Methode, mit der sie behandelt wird, oder den Sinnzusammenhang, in den sie gestellt wird, zu erläutern. Er vertraut vielmehr darauf, dass diese Fragen von der Darstellung selbst beantwortet werden.58 b) Bei schweizerischen Verfassungshistorikern zeigt sich ein vergleichbares Bild. Jean-François Auberts geschichtliche Einführung in den maßgeblichen Kommentar zur Bundesverfassung von 187459 beschränkt sich auf eine bloße historische Darstellung. Dasselbe gilt auch für das reichhaltige Werk von Alfred Kölz60, auch wenn dort der Blick von der unmittelbaren Darstellung der historischen Ereignisse immer wieder auf größere Zusammenhänge und geschichtliche Hypothesen ausgeweitet wird.
50
Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1970, S. 5. Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., München 1999. 52 Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 3. Aufl., Heidelberg, Karlsruhe 1981. 53 Klaus Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, München 1988. 54 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, Frankfurt a. M. 1988. 55 Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1950. 56 Ebd., S. 10. 57 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957 – 1990. 58 Ebd., Bd. 1, S. 7. 59 Jean-François Aubert, Geschichtliche Einführung, in: ders. et al. (Hrsg.), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (Stand April 1986). 60 Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992; ders., Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern 2004; ders., Der Weg der Schweiz zum modernen Bundesstaat: 1789 – 1798 – 1848 – 1998. Historische Abhandlungen, Chur-Zürich 1998; ders., Geschichtliche Grundlagen, in: Daniel Thürer / Jean-François Aubert / Jörg-Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S. 111 – 127. 51
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III. Philosophische Verortung der Verfassungsgeschichte Ihre fehlende philosophische Verankerung erscheint als Mangel der heutigen Verfassungsgeschichtsschreibung. Die Verfassungsgeschichte erfüllt wichtige Funktionen im politischen Leben eines Staates und seiner Amtsträger, sie kann nämlich als ein Erfahrungsbericht im Umgang mit Macht begriffen werden: „Die Geschichte des Konstitutionalismus ist nichts anderes als die Suche des politischen Menschen nach der Begrenzung der von den Machtträgern ausgeübten absoluten Macht und das Bemühen, an die Stelle der blinden Unterwerfung unter die Faktizität der bestehenden Obrigkeit eine geistige, moralische oder ethische Rechtfertigung der Autorität zu setzen.“61
Angesichts der Entwicklung in Europa seit der bürgerlichen Revolution muss die Verfassungsgeschichte dem Fortschrittsgesetz verpflichtet erscheinen.62 Das gilt sowohl bezüglich der rechtsstaatlichen Einbindung staatlicher Macht, der Demokratisierung der Politik wie der Entdeckung der Menschenrechte und ihrer einzelstaatlichen Garantie als Grundrechte.63 Der Historismus mit seiner relativierenden Neutralität gegenüber geschichtlichen Vorgängen steht dazu in einem Spannungsverhältnis. Für die Verfassungsgeschichte als spezifisch juristische Disziplin ist die Bewertung geschichtlicher Vorgänge und Zustände unabdingbar. So geht es etwa nicht an, gegenüber dem Dritten Reich wertneutrale Distanz zu halten. Es ist die Eigenheit der Verfassungsgeschichte, dass sie eng mit politischen Werten und Ideologien verbunden ist. Auf der anderen Seite wird die Verfassungsgeschichte doch vom Historismus die methodologischen Standards der Quellenkritik und der Einsicht in den hermeneutischen Zirkel übernehmen müssen. Die juristische Verfassungsgeschichtsschreibung darf methodisch nicht unbedarfter verfahren als die allgemeine Historiographie. Eine Rezeption posthistoristischer Thesen durch die Verfassungsgeschichtsschreibung scheint hingegen kaum möglich. Die Annahme der posthistoristischen Grundthese, dass es eine „Geschichte“ als solche gar nicht gibt, würde zur Liquidation der Verfassungsgeschichte insgesamt führen. Denn Verfassungsgeschichte beruht notwendig darauf, dass ein Verfassungsdokument als Produkt eines geschichtlichen Zusammenhangs verstanden werden kann. Eine jede Relativierung der Menschenrechte ist kaum 61
Karl Löwenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 128. Anders dagegen Koselleck, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 1), S. 20, der die Wiederholungen in der Verfassungsgeschichte betont. 63 Vgl. für die Geschichte der Grundrechte typisch etwa Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3 / 1, § 59 f., S. 47 – 169. 62
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erträglich: die Idee der Menschenrechte heiligt sozusagen die Verfassungsentwicklungen seit der Aufklärung. Ähnliches ist zur posthistoristischen Verabschiedung des Kollektivsubjekts zu sagen. Jede Verfassung ist das Resultat konkreter politischer Auseinandersetzungen, und durch dieses Resultat wird der Staat als Kollektivsubjekt konstituiert. Dabei ist aber dieses Kollektivsubjekt des Staates gerade keine homogene und kompakte Größe – sonst wäre das ein totalitärer Staat. Einzig der ideologiekritische Impetus der Posthistorie kann und muss von der Verfassungsgeschichte als juristischer Disziplin übernommen werden. Geschichte und Geschichtsschreibung können dazu benutzt werden, bestehende Machtstrukturen zu zementieren. Diese Einsicht Foucaults kann man aber auch anderswoher beziehen. Es gilt jedenfalls, diese ideologiekritische Einsicht im Hinblick auf die Zukunftsgestaltung nutzbar zu machen, was im Posthistorismus gerade nicht angelegt ist. Letztlich nimmt die Verfassungsgeschichte als juristische Hilfsdisziplin notwendigerweise eine normative Perspektive ein, sowohl in der Darstellung der Vergangenheit, der Beurteilung der Gegenwart wie den Postulaten für die künftige Entwicklung. In materialer Hinsicht bleibt sie dem Fortschrittsparadigma verpflichtet. Sie schließt an das heute geltende Verfassungsrecht mit seinen Grundrechtskatalogen an und hat dadurch eine machtstützende und gleichzeitig menschenrechtsfördernde Funktion. Sie ist durchaus nicht ideologiekritisch, sondern notwendigerweise ideologisch. Freilich sind die Menschenrechte diese Ideologie – eine Ideologie besonderer Art also.
Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland Probleme und Perspektiven aus der Sicht des Historikers* Von Ewald Grothe, Wuppertal
Der Titel des Beitrags stammt, in leicht veränderter Form, von Otto Brunner. Der vor 1945 in Wien und seit 1954 in Hamburg lehrende Sozial- und Verfassungshistoriker hatte einen Sammelband mit eigenen Aufsätzen in der ersten Auflage von 1956 „Neue Wege der Sozialgeschichte“ getauft. 1968 publizierte er ihn in erweiterter Fassung unter dem Titel „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte“. Die selbstgewisse Benennung sollte deutlich den innovativen Charakter der Aufsätze und Vorträge herausstellen, die zwischen 1949 und 1966 entstanden waren. Brunner steckte damit nicht allein ein Forschungsfeld ab, sondern er konstruierte vielmehr eine enge Verknüpfung von zwei bis dahin zumeist separat betriebenen Arbeitsgebieten. Über die beiden Teildisziplinen Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte bemerkte er im Vorwort von 1968, dass sie seiner Ansicht nach inhaltlich ineinander griffen. Beide stellten das „innere Gefüge“ des Vergangenen dar, indem sie mal statische Zustände, mal dynamisches Geschehen behandelten. Beide Teilgebiete erhöben aber jeweils keinen „Monopolanspruch“ auf die Geschichte als Ganzes.1 * Hartwig Brandt danke ich herzlich für viele Lehrjahre in Verfassungsgeschichte und Verfassungsgeschichtsschreibung. Mit meinem Freund Ulrich Sieg, der das Manuskript um wertvolle Gedanken bereicherte, teile ich das Interesse an der Wissenschaftsgeschichte. Für Anregungen und Hinweise zur Präzisierung danke ich ferner Peter Brandt (Hagen), Hans-Werner Hahn (Jena), Barbara Stollberg-Rilinger (Münster) und Hans Vorländer (Dresden), an deren Lehrstühlen ich Teilaspekte des Themas präsentieren durfte. 1 Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen, Zürich 21968, 31980 [zuerst 1956 u.d.T.: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze], S. 7 (Vorwort). Der Band erschien 1968 in einer um acht auf insgesamt 17 Beiträge erweiterten Neuauflage, die statt 256 nunmehr 344 Seiten umfasste. Bei der Auflage von 1980 handelt es sich hingegen um einen unveränderten Nachdruck der Ausgabe von 1968. Diese zweite Auflage ist 1970 und im Jahre 2000 auf italienisch erschienen. Zu Brunner zuletzt statt weiterer Literatur: Reinhard Blänkner, Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer „europäischen Sozialgeschichte“, in: Manfred Hettling (Hrsg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 326 – 366; Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282
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Ewald Grothe
Brunners Sammelband erschien 1968 in einer Zeit politischer, sozialer, aber zugleich auch wissenschaftsgeschichtlicher Umbrüche in Deutschland. Gerade die Wissenschaftsgeschichte der Verfassungs- und Sozialgeschichte in den sechziger Jahre ist zuletzt genauer untersucht worden.2 Die Brunnersche Anthologie ist aber nicht nur signifikant für eine wissenschaftshistorische Analyse dieser Zeit. Ihr Titel eignet sich vielmehr auch zur Beschreibung der heutigen Situation der Verfassungsgeschichtsschreibung.3 Denn erneut befindet sich die Wissenschaft als Teil der modernen Wissensgesellschaft im Umbruch. Und wiederum partizipiert die Verfassungshistoriographie daran. Die derzeitige Lage und die neuen Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland sollen nachfolgend behandelt werden. Beabsichtigt ist eine wissenschaftliche und wissenschaftshistorische Standortbestimmung aus der Sicht eines Historikers. Dabei möchte ich nach Bemerkungen über Gegenstand und Methode aus heutiger Sicht (I.), gleichsam einer wissenschaftshistorischen Chronologie folgend, in drei weiteren Schritten vorgehen: Ich beginne mit der Herkunft des Fachs (II.), berichte sodann über die derzeitige Stellung (III.) und handele schließlich über die möglichen zukünftigen Perspektiven (IV.).
I. Die Verfassungsgeschichte ist in Deutschland eine Disziplin zwischen den Fächern. Sie ist im besten Sinne des Wortes inter- oder richtiger transdisziplinär. Denn sie befindet sich nicht ausschließlich zwischen den Disziplinen, sondern sie bewegt sich zugleich in ihnen und verbindet diese im optimalen Falle miteinander. Verfassungsgeschichtsschreibung ist ein gewichtiger Teil verschiedener Verfassungswissenschaften, Aspekt einer Verfassungslehre.
(2006), S. 585 – 617. Beim angeblichen Monopolanspruch einer „Totalgeschichte“ handelte es sich um eine Anspielung auf entsprechende Bemühungen einiger Sozialhistoriker. Siehe dazu: Dieter Groh, Strukturgeschichte als „totale“ Geschichte?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 58 (1971), S. 289 – 322. 2 Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (= Ordnungssysteme, 9), München 2001; Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970 (= Ordnungssysteme, 16), München 2005; Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1970 (= Formen der Erinnerung, 24), Göttingen 2005. 3 Nachfolgend werden – wie dies üblich ist – Verfassungsgeschichte und Verfassungsgeschichtsschreibung weitgehend bedeutungsgleich, nämlich im Sinne der Verfassungsgeschichtsschreibung verwendet.
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Verfassungsgeschichte wird heute von Historikern, Juristen und Politikwissenschaftlern betrieben und ist von allen als Teilgebiet mit größerem oder kleinerem Zuschnitt anerkannt.4 Am aktivsten sind die Verfassungshistoriker in der Rechts- und Geschichtswissenschaft, während nur ein recht kleiner Kreis von Politikwissenschaftlern über verfassungsgeschichtliche Themen arbeitet. Die unterschiedliche fachliche Zuordnung geht auf historische und systematisch-sachliche, nicht zuletzt aber auch auf arbeitspraktische Ursachen zurück. Aus der jeweiligen fachspezifischen Sicht auf die Verfassungsgeschichte leiten sich verschiedene Definitionsversuche ab. Dass Verfassungsgeschichte in erster Linie ein historisches Teilfach ist, liegt in der Natur der Sache.5 Denn es handelt sich um einen Ausschnitt vergangener Wirklichkeit, so wie andere historische Teilgebiete wie Politik-, Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte ihrerseits einen speziellen Aspekt der Vergangenheit genauer in den Blick nehmen. Doch ist Verfassungsgeschichte – genauer besehen – zugleich mehr: Es ist ein Sektor, aber auch eine Dimension der Geschichte. Das verbindet sie mit der Gesellschaftsoder der Alltagsgeschichte, die ihrerseits die allgemeine Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Einen anderen Stellenwert als in der Geschichtswissenschaft besitzt die Verfassungsgeschichte in den Nachbarfächern: Für die Juristen ist sie ein Teil des Öffentlichen Rechts beziehungsweise der Rechtsgeschichte.6 Je nachdem wird sie eher rechtshistorisch als Vorgeschichte der geltenden Verfassung im weitesten Sinne oder rechtssystematisch als Geschichte des Verfassungsrechts gelehrt. Verfassungs- und Rechtsgeschichte lassen sich inhaltlich nicht exakt voneinander trennen. Auch deshalb wird Verfassungsgeschichte sowohl von Staatsrechtlern als auch von Rechtshistorikern behandelt.7
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Näheres dazu bei Grothe, Geschichte (FN 2), S. 35 – 42. Deshalb findet sich die Verfassungsgeschichte auch in einschlägigen Einführungen der Geschichtswissenschaft. Joachim Eibach, Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte, in: ders. / Günther Lottes (Hrsg.), Kompaß der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 142 – 151; Michael Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 340 – 361. – Die Verortung der Verfassungsgeschichte als historisches Teilfach wird im übrigen – wie dies bei der Rechtsgeschichte ebenso der Fall ist – auch von den Juristen anerkannt. 6 Benito Alaez Corral, Die Verfassung: auf einem Mittelweg zwischen Geschichte und Rechtswissenschaft. Interview mit E.-W. Böckenförde von Joaquín Varela Suanzes-Carpegna, in: Historia Constitucional 5 (2004). Online unter: http: //hc.rediris.es/ 05/Numero05.html ?id=20 (15. 9. 2008). 7 Nicht selten wird die Verfassungsgeschichte auch als Teil der Rechtsgeschichte betrachtet. So zum Beispiel bei Karl Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 5
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In der Politikwissenschaft schließlich wird die Verfassungsgeschichte zumeist als eine historisch vergleichende Staats- und Regierungslehre betrieben.8 Eine Schwerpunktsetzung mit institutionen- beziehungsweise kulturgeschichtlichem Zugang ist derzeit vorherrschend.9 Verfassungen werden in historischer Perspektive entweder als Ordnungsrahmen gewürdigt oder als Teil der politischen Kultur untersucht. Eine nach außen überzeugende Etablierung als eigenständiges Teilfach in der Geschichts-, Rechts- oder Politikwissenschaft ist der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Vergangenheit nicht leicht gefallen – und das ist bis heute so geblieben. Es sind seit langem gestellte und nach wie vor weithin offene Fragen, in welchem Fach die Verfassungsgeschichte ihren eigentlichen Kern hat, wo sie methodisch und inhaltlich zu Hause ist. Dies berührt nicht zuletzt auch persönliche und fachspezifische Streitpunkte. So ist vor Jahren heftig dagegen protestiert worden, von juristischer oder historischer Verfassungsgeschichte zu sprechen, um die Autoren verfassungsgeschichtlicher Werke näher zu charakterisieren.10 Auch gilt es bisweilen als anstößig, den eher 30. / 31. März 1981 (= Der Staat, Beih. 6), Berlin 1984, S. 47 – 103 (mit Aussprache), hier S. 102; F.[riedrich] A.[ugust] Frhr. von der Heydte, Verfassungsgeschichte. Ihre Aufgaben und Grenzen im Rahmen der Rechtswissenschaft, in: Ernst von Caemmerer u. a. (Hrsg.), Xenion. Festschrift für Panagiotes J. Zepos, Bd. 1, Athen 1973, S. 143 – 150. Vgl. dagegen: Peter Häberle, Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 143 – 166. 8 Hans Boldt, Verfassungsgeschichte und vergleichende Regierungslehre. Zur Geschichte ihrer Beziehungen, in: Der Staat 24 (1985), S. 432 – 446. Zur Verfassungsgeschichte als „Teil“ einer „erneuerten Staatslehre“ und zur Stiftung einer „Einheit der Staatswissenschaften“ vgl. Roland Lhotta, Der Beitrag der Verfassungsgeschichte zur Einheit der Staatswissenschaften, in: ders. / Janbernd Oebbecke / Werner Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge. Symposium zum 65. Geburtstag von Hans Boldt (= Düsseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, 1), Baden-Baden 1997, S. 163 – 183. 9 Für eine „Berücksichtigung der ,kulturellen Grundierung‘“ tritt Hans Vorländer ein. Siehe den Tagungsbericht von Kristoffer Klammer, Arthur Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ in Europas Geschichte und Gegenwart. Online unter: http: //www. fernuni-hagen.de/IEV/Symposion27052005Bericht.htm (15. 9. 2008). Vorländer führt auch ein Teilprojekt des Dresdener Sonderforschungsbereichs unter dem Titel „Verfassung als institutionelle Ordnung des Politischen“ durch und hat ein Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung gegründet. Dietrich Herrmann, Daniel Schulz, Konstitutionalismus im Wandel, in: H-Soz-u-Kult, 16. 1. 2008. Online unter: http: //hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1843 (15. 9. 2008). Vgl. auch Roland Lhotta, Werner Reh, Hans Boldt: Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte als politische Wissenschaft, in: dies. / Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge. Symposium zum 65. Geburtstag von Hans Boldt (= Düsseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, 1), Baden-Baden 1997, S. 9 – 22. Ich danke Roland Lhotta dafür, dass er mir sein Vortragsmanuskript mit dem Titel „Verfassungsgeschichte und historischer Institutionalismus“ vom Februar 2006 zur Verfügung gestellt hat.
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systematischen Ansatz der Juristen von dem tendenziell entwicklungsgeschichtlichen Zugang der Historiker zu unterscheiden.11 Manche solcher Einordnungen geben zutreffende Charakterisierungen, bisweilen laufen sie aber auch auf bloße Etikettierungen hinaus. Letztlich gibt es Unterschiede, aber keine Gegensätze zwischen den verschiedenen Fachvertretern. In einem Heft des Jahrgangs 2005 der „Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte“ wurde über Selbstverständnis und Methode der Rechts- und Verfassungsgeschichte von Historikern und Juristen intensiv diskutiert.12 Und die Zeitschrift „Rechtsgeschichte“ des Frankfurter Max-Planck-Instituts hat der Debatte über das Selbstverständnis des Faches ,Rechtsgeschichte‘ gleichfalls einige Beiträge gewidmet.13 Fraglos berührt die Stellung der Rechtsgeschichte innerhalb der Jurisprudenz auch die Lage der Verfassungsgeschichte, geht es doch prinzipiell um die historische Verankerung der Rechtswissenschaft. Aber nach einer bisweilen notwendigen Selbstreflexion ist es angeraten, sich anschließend der Sache selbst wieder zuzuwenden. 10 Einer solchen Trennung widersprach – vermutlich auch wegen des eigenen Selbstverständnisses – in der Diskussion über ein Referat des Frühneuzeit-Historikers Georg Schmidt der Würzburger Rechts- und Verfassungshistoriker Dietmar Willoweit. Georg Schmidt, Der Westfälische Frieden – eine neue Ordnung für das Alte Reich?, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11.3.-13. 3. 1991, Berlin 1993, S. 45 – 83, hier S. 81 – 83. 11 Diese Fragestellung berührte bereits: Gerhard Seeliger, Juristische Konstruktion und Geschichtsforschung, in: Historische Vierteljahrsschrift 7 (1904), S. 161 – 191. 12 Christoph Dipper, Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 27 (2005), S. 272 – 286; Pio Caroni, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 287 – 295; Wolfgang Burgdorf, Cornel A. Zwierlein, Zwischen den Stühlen. Die Rechtsgeschichte aus der Sicht der allgemeinen Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 296 – 303; Susanne Lepsius, „Rechtsgeschichte und allgemeine Geschichtswissenschaft“. Zur Wahrnehmung einer Differenz bei den Historikern Burgdorf und Zwierlein, in: ebd., S. 304 – 310; Gerhard Deter, Auftrag oder Überhebung? Historische Rechtstatsachenforschung als Aufgabe der Rechtsgeschichtswissenschaft, in: ebd., S. 311 – 324; Christian Baldus, „Metasprache“ und unhistorische Interdisziplinarität, in: ebd., S. 325 – 328. Der Beitrag von Caroni erschien überarbeitet unter dem Titel „Blicke über den Gartenzaun. Von der Beziehung der Rechtsgeschichte zu ihren historischen Nachbarwissenschaften“, in: Louis Pahlow (Hrsg.), Die zeitliche Dimension des Rechts. Historische Rechtsforschung und geschichtliche Rechtswissenschaft (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 112), Paderborn usw. 2005, S. 27 – 55; weiterhin auch Louis Pahlow, Historische Rechtsforschung und geschichtliche Rechtswissenschaft. Zur Einführung, in: ebd., S. 9 – 24. 13 Siehe die Beiträge von Rainer Maria Kiesow, Kenichi Moriya, Joachim Rückert, in: Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 12 – 17, 49 – 65, sowie von Jörg Benedict, Hermann Klenner und Dag Michalsen, in: Rechtsgeschichte 4 (2004), S. 14 – 21, 57 – 60, 67 – 73. Dazu auch: Pio Caroni, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers. Notizen zu einem problematischen Lehrfach, Basel 2005.
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Die gegenwärtigen Selbstbeschreibungsversuche des Teilfachs fallen jedenfalls recht unterschiedlich aus. Schließlich ist in erster Linie auch vom Begriff der Verfassung abhängig, was man unter Verfassungsgeschichte und Verfassungsgeschichtsschreibung versteht. Einig sind sich die meisten Verfassungshistoriker, dass man tendenziell von einem weiten materiellen Begriff ausgehen muss, der neben der konstitutionellen Verfassungsgeschichte der Moderne auch die vorkonstitutionelle der Frühen Neuzeit und des Mittelalters umfasst. Doch jenseits einer solchen Aussage beginnen bereits die Schwierigkeiten und Uneinigkeiten. Nach Reinhart Kosellecks bis heute wichtiger Definition von 1983 zeichnet sich die Verfassungsgeschichte durch die Darstellung dessen aus, was kraft Rechtsregeln wiederholbar ist.14 Er plädierte, sich später ergänzend, für eine um soziale Strukturen erweiterte „integrale Rechtsgeschichte“, die sich von vorkonstitutionellen Zuständen bis zu konstitutionellen Verhältnissen erstrecken solle.15 Davon ausgehend wäre auch eine integrale Verfassungsgeschichte wünschenswert. Hartwig Brandt sah bereits 1976 ganz ähnlich den Kern der Verfassungsgeschichte in „politischem Handeln unter Regelbedingungen“, welches sich vor allem in Entscheidungsprozessen ausdrücke.16 Sowohl die Dynamik als auch die Regelhaftigkeit politischen Handelns zu betonen, weist auf eine Nähe zur Definition des Juristen und Politikwissenschaftlers Hans Boldt hin, die dieser zuerst 1984 entwarf. Er begreift die Verfassungsgeschichte als historisch vergleichende Regierungslehre. Damit ist sie weiter definiert als eine Verfassungsrechtsgeschichte und enger zugeschnitten als eine Verfassungssozialgeschichte; sie ist politische Strukturgeschichte.17 Deutlich eingegrenzter als bei den genannten Historikern und Politikwissenschaftlern sieht der Verfassungsbegriff des Rechtshistorikers Dietmar Willoweit aus. Ihm zufolge sind lediglich die „rechtlichen Regeln und
14 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31. März 1981 (= Der Staat, Beih. 6), Berlin 1984, S. 7 – 21. 15 Ders., Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000, S. 336 – 358 [zuerst 1986], hier S. 357. Rechtsgeschichte sei auf Wiederholbarkeit angelegt und untersuche die Geschichte der Gerechtigkeit. 16 Hartwig Brandt, Verfassungsgeschichte. Standort und Probleme einer historischen Disziplin, unveröff. Ms., Marburg 1976, S. 10. Ich danke Hartwig Brandt für die Überlassung einer Kopie seines Habilitationsvortrags. 17 Boldt, Verfassungsgeschichte (FN 8). Siehe auch: ders., Die Verfassungsgeschichte und ihre Methodik, in: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 9 – 117.
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Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“ der Untersuchungsgegenstand des Verfassungshistorikers.18 Sehr kurz ist schließlich eine jüngere Definition aus dem öffentlichen Recht: Verfassungsgeschichte sei, so ist es im Grundriss von Werner Frotscher und Bodo Pieroth nachzulesen, „das Verfassungsrecht von gestern“.19 Verfassungsgeschichte wäre damit nur eine konstitutionelle Vor- und Frühgeschichte; sie wäre normativ begrenzt auf das materielle Recht und vorwiegend gegenwartsorientiert zu verstehen. Eine der jüngsten Definitionen ist dem „Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“ zu entnehmen. Hier wird der Mittelweg zwischen dem weitem Begriffsspektrum von ,Verfassung‘ und der praktischen Verwendbarkeit eingeschlagen. Die Herausgeber haben sich für eine pragmatische Lösung entschieden, die einerseits die „hauptsächlichen Organisations- und Regelungsbereiche staats- und regierungspolitischen Handelns“ aufgreift, ohne andererseits eine bereits existierende Verfassungsnorm vorauszusetzen. Damit können die Verfassungsgeschichten „verfassungsloser“ Staaten einbezogen und zugleich die Ebene gesellschaftlicher Selbstorganisation ausgeklammert werden.20 Die Zahl unterschiedlicher Definitionen wäre mühelos zu erweitern.21 Gezeigt werden sollte lediglich, wie schwankend der ,definitorische Boden‘ ist, auf dem die heutige Verfassungsgeschichte steht. Kein Wunder, dass nicht wenige Verfassungshistoriker einer eigenen Definition ausweichen 18 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands (= Juristische Kurz-Lehrbücher), München 42001, S. 2. 19 Werner Frotscher, Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte (= Grundrisse des Rechts), München 1997, 42003, S. 1. 20 Peter Brandt, Martin Kirsch, Arthur Schlegelmilch, Werner Daum, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 7 – 118, hier auch bes. S. 10 f. 21 Siehe zum Beispiel in einigen einschlägigen Lexika: Hans Boldt, Verfassung / Verfassungstheorie, in: Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1: Politikwissenschaft. Theorien – Methoden – Begriffe, München, Zürich 1985, S. 1069 – 1073; Dieter Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, Freiburg, Basel, Wien 71989, Sp. 633 – 643; U.[lrich] K. Preuß, Verfassung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 11, Darmstadt 2001, Sp. 636 – 643; W.[alter] Pauly, Verfassung, in: HRG 5 (1998), Sp. 698 – 708; Dietmar Willoweit, Verfassungsgeschichte, in: Staatslexikon, Bd. 5 (1989), Sp. 648 – 652, sowie Demetrios L. Kyriazis-Gouvelis, Der moderne Verfassungsbegriff und seine historischen Wurzeln. Aristoteles – Montesquieu – Menschenrechte, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 39 (1990), S. 55 – 66; Peter Häberle, Verfassung als Kultur, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 49 (2001), S. 125 – 143.
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und andere die Frage erst gar nicht erörtern. Es ist durchaus keine Eigenart der Historiker unter den Verfassungsgeschichtlern, sich sofort der Sache selbst zuzuwenden, statt sich mit mühevollen theoretischen oder methodischen Fragen auseinander zu setzen.22 Neben einer solchen Theorieabstinenz wurde auch die Rückbesinnung auf die eigene Disziplingeschichte bisher eher vernachlässigt. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Studie über die Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert blieb lange Zeit singulär.23 Die kritischen Fragen an die eigene Disziplingeschichte, welche die Geschichtswissenschaft seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 bewegten24, schienen die Verfassungshistoriker weitgehend unberührt zu lassen. Umgekehrt spielten die Verfassungshistoriker in den Debatten über die Wissenschaft in der NS-Zeit so gut wie keine Rolle.25 Fritz Hartung galt beispielsweise immer als Vertreter der Politikgeschichte und nicht in erster Linie als Verfassungshistoriker. Die Wissenschaftsgeschichte der Verfassungsgeschichte im 20. Jahrhundert glich bis vor wenigen Jahren weitgehend einer Terra incognita.26 Deshalb sei an dieser Stelle ein kurzer wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick erlaubt.
II. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung steht in einer ganz eigenen wissenschaftsgeschichtlichen Tradition. Seit dem 17. Jahrhundert be22 Beispiele für den gänzlichen oder weitgehenden Verzicht auf rechtstheoretische oder definitorische Erwägungen sind: Hans Fenske, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Norddeutschen Bund bis heute (= Beiträge zur Zeitgeschichte, 6), Berlin 21984; Christian-Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Heidelberg 41984; Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart (= Beck’sche Reihe), München 1994, 72006. 23 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 1), Berlin 1961 / 21995. 24 Ich weise hier lediglich hin auf den aus der denkwürdigen Sektion hervorgegangenen Sammelband: Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (= Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt a. M. 1999. 25 Eine Ausnahme davon waren seit den 1980er Jahren die Forschungen über Otto Brunner. Pars pro toto sei genannt: Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71 (1984), S. 305 – 341. Generell zum Bild der Wissenschaft in der NS-Zeit: Ulrich Sieg, Strukturwandel der Wissenschaft im Nationalsozialismus, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001), S. 255 – 270. 26 Dazu: Grothe, Geschichte (FN 2). Zur Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts vgl. das eindrucksvolle Kompendium von Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 3 Bde., München 1988 – 1999.
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zeichnete man die Historiographie über den politischen und rechtlichen Zustand, über die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als „Reichs-Historie“.27 Diese Reichshistorie war ein Zweig des öffentlichen Rechts und, inhaltlich gesehen, der Vorläufer der späteren und heutigen Verfassungsgeschichte. Sie war Verfassungsgeschichtsschreibung avant la lettre. Mit der Reichshistorie beschäftigten sich im 17. und 18. Jahrhundert aber nicht etwa die zur Artistenfakultät zählenden damaligen Historiker. Deren Forschungsgebiet war die konfessionelle, teils universale, zumeist biographisch ausgerichtete „barocke Kaiser- und Kriegsgeschichte, die hagiographische Fürsten- und Hofhistorie“.28 Die sich davon bewusst absetzende Reichshistorie wurde vielmehr von Juristen betrieben, die sich mit dem öffentlichen Recht, dem Ius publicum, auseinander setzten. Für sie fungierte die Disziplin ,Verfassungsgeschichte‘ als Hilfswissenschaft des geltenden Rechts.29 Denn die Verfassung des Alten Reiches schien mit ihren historisch gewachsenen Institutionen und einem auf Fundamentalgesetzen ebenso wie auf Gewohnheitsrecht beruhenden Rechtskosmos allein auf historischer Grundlage interpretierbar. Die Lage der Verfassungsgeschichte änderte sich mit der Zäsur des Reichsuntergangs von 1806, denn die Reichshistorie als Auslegungswissenschaft des geltenden Rechts war nunmehr entbehrlich. Die verfassungsgeschichtliche Forschung entwickelte sich in engem Kontext mit den historischen Nachbardisziplinen. Staats-, Rechts- und Verfassungsgeschichte gingen im 19. Jahrhundert häufig ineinander über und waren in vielen Bereichen sogar kongruent.30 Eine selbstständige, von der Rechtsgeschichtsschreibung losgelöste Verfassungshistoriographie hat es in Deutschland lange Zeit nicht gegeben. Beide Begriffe, die Rechts- und die Verfassungs-
27 Dazu als Skizze: Ewald Grothe, Verfassungsgeschichte als Reichshistorie. Zur Vorgeschichte einer historischen und juristischen Teildisziplin im 18. Jahrhundert, in: Jörg Hentzschel-Fröhlings / Guido Hitze / Florian Speer (Hrsg.), Gesellschaft – Region – Politik. Festschrift für Hermann de Buhr, Heinrich Küppers und Volkmar Wittmütz, Norderstedt 2006, S. 295 – 303. Umfassend: Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, sowie zusammenfassend: ders., Reichshistorie, in: Hans Erich Bödeker u. a. (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 81), Göttingen 1986, S. 82 – 104. 28 Ebd., S. 84. 29 Josef Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ 189 (1959), S. 223 – 378, hier S. 266 – 276. 30 Dies zeigen allein die bei Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (FN 23), behandelten Autoren, die sich selbst als Rechts- und Verfassungshistoriker sahen.
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geschichte, wurden zwar nicht synonym, aber doch einander überschneidend verwendet. Bei der Mehrzahl der deutschen Verfassungshistoriker des 19. Jahrhunderts handelte es sich – in der Tradition der frühneuzeitlichen Reichshistorie als Teil der Jurisprudenz stehend – nicht um Historiker, sondern um Juristen. Sie erforschten das geltende Recht vergangener Zeiten, gingen dabei allerdings oft weniger historisch als vielmehr systematisch vor. Angesichts der noch vergleichsweise geringen Kodifizierung des Rechts diente die rechtshistorische Wissenschaft damit unmittelbar der Rechtspraxis. Verkürzt gesagt: Rechtsgeschichte war Teil der Rechtsanwendung. Neben den rechtsgeschichtlichen Verfassungshistorikern gab es allerdings auch eine andere, weit schwächer ausgeprägte Entwicklungslinie im 19. Jahrhundert: diejenige der Verfassungshistoriker, die als gelernte Historiker und Staatswissenschaftler zugleich als „politische Professoren“, „Politiklehrer“ und politische Publizisten agierten.31 Zu ihnen zählen so bekannte Namen wie Friedrich Christoph Dahlmann, Karl Heinrich Ludwig Pölitz und Georg Waitz. Ihre ideengeschichtlichen Wurzeln waren zum Teil recht unterschiedlich, denn sie lagen entweder im aufgeklärten Naturrecht oder in einer historisch vergleichenden Staatswissenschaft. Es verband sie aber die staats- und politikwissenschaftliche Verortung ihrer verfassungsgeschichtlichen Forschungen konstitutioneller Prägung. Sie betrieben eine Staatsgeschichte in politischer Absicht und mit politischer Attitüde.32 Die Zeitbedingtheit und teilweise Politiknähe der Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat Ernst-Wolfgang Böckenförde nachgewiesen.33 Innerhalb der Rechtwissenschaft gerieten die Rechts- und die Verfassungsgeschichte seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Jahrhundertwende in eine fachliche Defensive, wurden in einen propädeu31 Klassische Untersuchung: Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor“ (= Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen, 3), Karlsruhe 1964. Der Begriff des „Politiklehrers“ meint diejenigen Professoren, die im 19. Jahrhundert Vorlesungen zur „Politik“ abhielten. Dazu mehr bei Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 108 – 119. 32 Vgl. zu den einzelnen: Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann (1785 – 1860), in: Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus – Liberalismus – Sozialismus, Berlin 22002, S. 329 – 341; Reinhard Blänkner, Verfassungsgeschichte als aufgeklärte Kulturhistorie – K.H.L. Pölitz’ Programm einer konstitutionellen Verfassungsgeschichte der Neuzeit, in: Peter Brandt / Arthur Schlegelmilch / Reinhard Wendt (Hrsg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte (= Politikund Gesellschaftsgeschichte, 65), Bonn 2005, S. 298 – 330, bes. S. 311 – 330; Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (FN 23), S. 99 – 134. Moderne Biographien über Dahlmann, Pölitz und Waitz sind ein Desiderat. 33 Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (FN 23).
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tischen Bereich abgedrängt und marginalisiert. Die juristische Verfassungsgeschichte erlebte einen Historisierungsprozess. Auf lange Frist gesehen haben beide Teilgebiete unter diesem Bedeutungsverlust innerhalb der Jurisprudenz bis heute zu leiden. In der Geschichtswissenschaft verliehen die Forschungen zunächst von Gustav Schmoller, dann aber vor allem von Otto Hintze der Disziplin um 1900 neue Impulse. Hintze betrieb eine vergleichende und typologisierende Verfassungsgeschichtsschreibung. Doch konnten sich diese modernen methodischen Ansätze nicht durchsetzen, weil Hintze keine Schule im engeren Sinn besaß und sein Berliner Lehrstuhlnachfolger Fritz Hartung zu einer eher traditionellen Regierungs- und Verwaltungshistoriographie zurückkehrte.34 Eine Ausnahme von diesen schwierigen Rahmenbedingungen der verfassungshistorischen Forschung bildete dagegen die Zeit des Nationalsozialismus. Nach 1933 wurde das Teilfach systematisch gefördert, weil es eine historische Legitimationsgrundlage für das Regime bereitstellte. Die gegen Ende der 1930er Jahre führenden Verfassungshistoriker, die Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber und Ernst Forsthoff sowie der Rechtshistoriker Hans Erich Feine, stellten sich und ihr Werk in den Dienst der NS-Ideologie.35 Huber und Forsthoff, Doktorschüler des NS-Kronjuristen Carl Schmitt, interpretierten in ihren verfassungshistorischen Veröffentlichungen das ,Dritte Reich‘ als Zielpunkt der deutschen Geschichte.36 Der Niedergang Deutschlands, der im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre angelegt gewesen sei, nach dem Sturz Bismarcks begonnen und sich in der Weimarer Republik konsequent fortgesetzt habe, sei mit dem Jahr 1933 in sein Gegenteil verkehrt worden: in einen unaufhaltsamen Aufstieg Deutschlands zur Groß- und Weltmacht. Eine solche ideologisch aufgeladene und politisch dienende Verfassungsgeschichtsschreibung wurde in der NS-Zeit hofiert und honoriert; sie wurde personell und vor allem institutionell gefördert. Dies geschah durch die Einführung neuer Lehrbücher37, die Etablierung einer staatswissenschaft34 Zu Hintze zuletzt: Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze (1861 – 1940), in: Michael Fröhlich (Hrsg.), Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001, S. 286 – 298; Ewald Grothe, Von Preußen nach Japan und zurück. Otto Hintze, Fritz Hartung und die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Andrea Gawrich / Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Politik und Geschichte. „Gute Politik“ und ihre Zeit. Wilhelm Bleek zum 65. Geburtstag, Münster 2005, S. 76 – 93. 35 Grothe, Geschichte (FN 2), S. 215 – 309. 36 Zu nennen sind vor allem: Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit (= Rechtswissenschaftliche Grundrisse), Berlin 1940; Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Hamburg 1938, 21943. 37 So der Grundriss Forsthoffs, aber auch derjenige von Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit (= Grundrisse des Deutschen Rechts),
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lichen Zeitschrift unter der Mitherausgeberschaft Hubers38 und schließlich durch die bis heute nachwirkende Einfügung einer Veranstaltung zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ in die reichsweit geltende juristische Studienordnung von 1935.39 Die Blütephase dieser regimenahen Verfassungshistoriographie endete in den Trümmern des ,Dritten Reiches‘. Von dem Trauma der in der Diktatur geförderten und nach deren Untergang entsprechend verrufenen Spezialdisziplin hat sich die Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland bis in die 1970er Jahre nicht erholt. Zwar blieb die Vorlesung zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ in den meisten juristischen Lehrplänen formal erhalten, wurde aber von praxisnahen Teilgebieten zunehmend zur fachlichen Nebensache degradiert. Unter den Historikern galt die Verfassungsgeschichte nach 1945 lange als politisch kontaminiert und methodisch antiquiert. Erst seit den 1960er Jahren knüpfte man vor allem mit der Wiederentdeckung Otto Hintzes durch Gerhard Oestreich und Theodor Schieder an dessen methodische Neuerungen an.40 Auch die ältere Sozial- oder Strukturgeschichte, vertreten durch Otto Brunner und Werner Conze und hervorgegangen aus der NS-affinen Volksgeschichte41, betrieb nach 1945 eine strukturgeschichtlich ausgerichtete Variante der Verfassungsgeschichtsschreibung.42 Dass die Verfassungsgeschichte in Deutschland dennoch seitdem keinen nachhaltigen Erfolg erzielte, hatte vor allem mit dem Siegeszug der neueren Sozial- und der ihr folgenden Gesellschaftsgeschichte zu tun. Diese Forschungsrichtung dominierte neben der traditionellen Politikgeschichte die Tübingen 1937, 21940, 31943. Zu den Lehrbüchern: Grothe, Geschichte (FN 2), S. 205 – 209. 38 Die traditionsreiche „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ erhielt ab dem Band 95 (1935) mit Huber und den gleichfalls in Kiel tätigen Nationalökonomen Hermann Bente und Andreas Predöhl ein völlig neues Herausgeberteam. Siehe dazu Grothe, Geschichte (FN 2), S. 209 – 214. 39 Karl August Eckhardt, Das Studium der Rechtswissenschaft (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 11), Hamburg 1935, 21940. Dazu ausführlich Grothe, Geschichte (FN 2), S. 190 – 205. Vorausgegangen war die Einfügung einer solchen Veranstaltung in die preußische Studienordnung von 1931. Ebd., S. 164, 191. 40 Ebd., S. 385 – 406. 41 Zu ihren Wurzeln: Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918 – 1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 101), Göttingen 1993. Reinhard Blänkner, Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft (= ZhF, Beih. 23), Berlin 1999, S. 87 – 135. 42 Diese Beobachtung auch bei Eibach, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 146. Zu Conze siehe Etzemüller, Sozialgeschichte (FN 2).
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Lehrkanzeln seit Beginn der 1970er Jahre. Die Verfassungsgeschichte wurde von ihr als altmodisch gebrandmarkt und – stark vereinfacht – der überkommenen Politikgeschichte zugeschlagen.43 Zugleich wurde Hintze zum ,Säulenheiligen‘ der historischen Komparatistik erhoben und damit von seinem eigentlichen Forschungsgebiet der Verfassungsgeschichte ,entfremdet‘. Das Ergebnis war fatal: denn bis heute befindet sich die Verfassungsgeschichte am Rand der Geschichtswissenschaft und wird oft nur dann intensiver wahrgenommen, wenn sie in sozial- oder in kulturgeschichtlicher ,Verkleidung‘ auftritt.
III. Das aktuelle Bild der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Geschichtswissenschaft stellt sich zwiespältig dar. Bisweilen gilt sie nur als ,Subdisziplin‘ der politischen Geschichte, manchmal nicht einmal als eigenständiges (Teil-)Fach.44 Gleichwohl ist sie präsent und etabliert in Forschung und Lehre. Dies zeigen zahlreiche Qualifikationsarbeiten einerseits sowie die seit den 1980er Jahren erschienenen historischen Synthesen andererseits. Allein sechs übergreifende Darstellungen zur deutschen ,Verfassungsgeschichte der Neuzeit‘ sind in den letzten 15 Jahren von Historikern und Juristen publiziert oder neu aufgelegt worden.45 Gerade in jüngster 43 Diese ,Verdrängungs‘-These vertritt Brandt, Verfassungsgeschichte (FN 16), S. 2, 9. 44 So zuletzt bei Heinz Duchhardt, Politische Geschichte, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben Bänden. Bd. 3: Sektoren, Stuttgart 2004, S. 14 – 71, hier S. 20, 25 – 28. Siehe auch Christoph Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22000. Hier ist die Verfassungsgeschichte keines von 13 anderen in eigenen Beiträgen behandelten Teilgebieten und gerade einmal eine einzige bibliographische Anmerkung wert. Ebd., S. 111, Anm. 9. 45 Von Historikern: Fenske, Verfassungsgeschichte (FN 22), 1981, 41993; Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn usw. 2001. Von Juristen: Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel. 2 Bde., München 1984 – 1990, 31994-21993; Frotscher, Pieroth, Verfassungsgeschichte (FN 19); Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes (= Neue Historische Bibliothek), Frankfurt a. M. 1988; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 5: Geschichtliche Grundlagen, München 1999; Willoweit, Verfassungsgeschichte (FN 18); Zippelius, Verfassungsgeschichte (FN 22). Zu weiteren Darstellungen siehe auch Ewald Grothe, Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 79 – 95; Barbara Dölemeyer, Rechtsgeschichte, in: Dietmar Willoweit
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Zeit ist zudem eine Anzahl von Quelleneditionen zur Verfassungsgeschichte zu verzeichnen.46 Spezielle verfassungsgeschichtliche Publikationsreihen werden allerdings hauptsächlich von Juristen bestückt.47 Dennoch gilt der Überschneidungsbereich der Verfassungshistorie mit der (innen-)politischen Geschichte nach wie vor als so groß, dass sie oft eher in ihren Einzelbereichen, denn als einheitliches historisches Forschungsgebiet wahrgenommen wird. Parlaments- und Parteien-, Institutionen- oder Verwaltungsgeschichte werden zunehmend als Aufgabe von Spezialisten angesehen. Der Verfassungsgeschichtsschreibung wird zudem nach wie vor keine besondere innovative Kraft beigemessen. Der Sozial- und Verwaltungshistoriker Joachim Eibach stellte vor wenigen Jahren fest, dass die Verfassungsgeschichte „nicht ganz zu Unrecht [ . . . ] unter dem Verdikt [stehe], etatistisch und langweilig zu sein“.48 Inwieweit allerdings eine ,erneuerte‘ Verwaltungsgeschichte diesem angeblichen Missstand begegnen kann, sei dahingestellt.49 Was für die historische Forschung gilt, trifft noch in viel höherem Maße auf die Lehre zu. Die Verfassungsgeschichte fehlt in vielen Veranstaltungsverzeichnissen, Modulkatalogen, Studien- und Prüfungsordnungen als eigenständiges Teilgebiet. Und zahlreiche Studenten reagieren auf die Ankündigung einer verfassungshistorischen Lehrveranstaltung mit deutlicher Ablehnung. Ein Seitenblick auf die Jurisprudenz zeigt, dass trotz aller gegenteiligen Bemühungen die Verfassungsgeschichte inzwischen aus vielen Studienplänen und Prüfungsordnungen verschwunden ist.50 Verfassungshistorische (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen zur Entwicklung des Verlags C. H. Beck, München 2007, S. 1147 – 1163, bes. S. 1158 f.; Reinhard Steiger, Verfassungsgeschichte im Spiegel verfassungsgeschichtlicher Studienbücher und Überblicke, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 29 (2007), S. 287 – 299. 46 Statt der Nennung von Einzeltiteln sei hingewiesen auf die Sammelbesprechung: Ewald Grothe, Die große Lehre der Geschichte. Über neuere Editionen zur Verfassungsgeschichte, in: Rechtsgeschichte 9 (2006), S. 148 – 166. Seitdem ist erschienen: Dieter Gosewinkel, Johannes Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789 – 1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, München 2006. 47 Am bekanntesten und umfangreichsten sind die „Schriften zur Verfassungsgeschichte“ (Berlin, 1961 – 2008, bisher 80 Bände) und die „Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte“ (Berlin, 1990 – 2007, bisher 55 Bände). 48 Eibach, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 145. 49 Siehe dazu den instruktiven Forschungsbericht von Stefan Brakensiek, Neuere Forschungen zur Geschichte der Verwaltung und ihres Personals in den deutschen Staaten 1648 – 1848, in: Jahrbuch zur Europäischen Verwaltungsgeschichte 17 (2005), S. 297 – 326.
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Veranstaltungen gehören nirgendwo mehr zum Pflichtkanon, gelten vielmehr bei den Studenten als ,Luxus‘ und bei interessierten Hochschullehrern des Öffentlichen Rechts als ,Kür‘. Im Gegensatz zur Rechtsgeschichte gilt die Verfassungsgeschichte nicht einmal als Grundlagenfach, sondern fristet ein Schattendasein als eines von zahlreichen Wahlfächern.51 Dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird, steht nicht zu erwarten. Ganz im Gegenteil: eine zunehmend anwendungsbezogene universitäre Ausbildung wird eher neue juristische Spezialdisziplinen berücksichtigen als sich ausgerechnet der Historie zu verschreiben. Gleichwohl finden sich bis heute an den juristischen Fakultäten – in der Tradition des Studienplanes von 1935 – immer wieder Überblicksvorlesungen zur Verfassungsgeschichte (der Neuzeit). Und im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft gab es in der Rechtswissenschaft im Jahr 2006 14 Lehrstühle unter expliziter Nennung der Verfassungsgeschichte.52 Sie waren stets mit der Vertretung anderer Teilgebiete aus dem Öffentlichen Recht verknüpft. In „Kürschners Deutschem Gelehrten-Kalender“ bezeichneten sich im Jahre 2007 insgesamt 119 habilitierte Historiker und Juristen selbst als Rechts- und Verfassungshistoriker.53 Zur Erklärung dieses ambivalenten Bildes gibt es einige Ansatzpunkte. Zunächst scheint es ein Problem von Inhalt und Form zu sein. Keines der klassischen oder neuen verfassungshistorischen Arbeitsfelder kann ausschließlich oder auch nur primär von der Verfassungsgeschichtsschreibung beansprucht werden. Die meisten verfassungshistorischen Themen gehören der politischen Geschichte an. Andere Teildisziplinen, wie zum Beispiel die Wirtschaftsgeschichte, lassen sich demgegenüber erheblich leichter abgrenzen. Ähnliches gilt für die Methodik: Kategorienbildung, Strukturvergleich, Typologisierung oder Prozessanalyse werden selbstverständlich auch in anderen historischen Teilgebieten erfolgreich angewandt. Die Verfassungs50 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Waldhoff in diesem Band. Eine kritische Bilanz zog bereits Wilhelm Henke, Republikanische Verfassungsgeschichte mit Einschluß der Antike, in: Der Staat 23 (1984), S. 75 – 85, hier S. 75 f. 51 Eine exakte methodische Abgrenzung zwischen Rechts- und Verfassungsgeschichte wurde bisher nicht vorgenommen. 52 Nach einer Aufstellung von Diethelm Klippel mit Stand vom Mai 2006. Hinzu kommen insgesamt elf Emeritierte, außerplanmäßige Professoren und Privatdozenten mit entsprechender Venia legendi. In der Geschichtswissenschaft wurde der letzte Lehrstuhl für Verfassungsgeschichte von 1961 bis 1972 an der Freien Universität Berlin von Reinhard Elze besetzt. Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800 – 1970 (= Europäische Hochschulschriften, 3, 216), Frankfurt a. M. usw. 21987, S. 539. 53 Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 2007. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart, 3 Bde., München 212007, hier Bd. 3, S. 4389. Die überwiegende Zahl von ihnen waren Juristen.
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geschichte wird demzufolge oft nur als Summe von inhaltlichen Aussagen und methodischen Verfahren anderer Teilfächer wahrgenommen. Das spezifisch Verfassungshistorische an der Verfassungsgeschichte wird häufig zu wenig herausgestellt. Überhaupt ist die Außenwahrnehmung ein grundsätzliches Problem. Denn Verfassungsgeschichte gilt weithin als unattraktiv, weil man sie zu Unrecht viel zu eng mit juristischen Normen in Verbindung bringt oder sie gar auf deren Entstehung zu reduzieren sucht. Auch die vermeintliche Statik verfassungshistorischer Themen schreckt den studentischen wie den wissenschaftlichen Nachwuchs ab, weil dieser sich eher für die dynamischen Vorgänge in der Geschichte interessiert. Die Feststellung, es gehe in der Verfassungsgeschichte zwar wesentlich um kodifiziertes Recht, aber ebenso sehr um abweichendes Verhalten, wirkt meist wenig überzeugend. Dass Verfassungsgeschichte auch, wenn auch nicht ausschließlich Konfliktgeschichte, manchmal sogar Verfassungsverhinderungsgeschichte ist54, wird häufig nicht verstanden und noch seltener vermittelt. Ebenso wenig dringt durch, dass Verfassungsgeschichte grundsätzlich auch jenseits der Normen existiert und historische Strukturen und Prozesse gleichfalls behandelt werden. Die Verfassungshistoriker haben sowohl ein Wahrnehmungs- als auch ein Vermittlungsproblem. Neuansätze in der Verfassungsgeschichte scheinen zudem nur selten aus dem Fach selbst zu kommen. Sie werden oft von den Nachbardisziplinen herangetragen. Zumindest war dies bei der Anreicherung der bis dahin auf Politikgeschichte fixierten Verfassungsgeschichte durch die Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren der Fall. Die Verfassungshistoriker selbst ergriffen weder die Initiative noch wehrten sie sich dagegen, dass die Sozialgeschichte ihrerseits nicht nur verfassungshistorisches Terrain beanspruchte, sondern sogar den Verfassungshistoriker Otto Hintze zum entfernten Vorläufer der Sozialgeschichte ernannte. So okkupierte die Sozialgeschichte den aus ihrer Sicht ,fortschrittlichen‘ Bereich der Verfassungsgeschichte, während sie die vorgeblich reaktionären Teile verdammte. Etwas anders sah dies in den 1970er Jahren bei der ,Entdeckung‘ der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichs- und Landesgeschichte aus, die vor allem durch Forschungen von Peter Moraw und Volker Press vorangetrieben wurde. Auch bei der Verbindung von Verfassungsgeschichte und Kulturgeschichte55 seit den 1990er Jahren sind die Verfassungshistori54 Dieter Grimm, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31. März 1981 (= Der Staat, Beih. 6), Berlin 1984, S. 37. 55 Es ist dabei nicht an die Berücksichtigung der Kulturgeschichte älterer Lesart gedacht, die Phänomene der sogenannten Hochkultur erforschte und damit einen weiteren Gegenstandsbereich der Geschichte erschloss. Vielmehr geht es nun um eine kulturgeschichtliche Perspektive auf die Vergangenheit.
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ker selbst recht aktiv. Hier wurden und werden zukunftsweisende methodische Ansätze von den Verfassungshistorikern rezipiert und in ihre Disziplin integriert. Anknüpfend an die anglo-amerikanische Geschichtswissenschaft hat sich auch in der deutschen Historiographie eine kulturalistische Wende vollzogen. Eine Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte hatte 1999 mit einem gemischten Programm von alten und neuen kulturgeschichtlichen Ansätzen den Weg gewiesen.56 Wolfgang Reinhard schlug eine kulturgeschichtliche Erweiterung der Verfassungsgeschichte vor und exerziert sie zum Teil selbst vor.57 Er möchte die Verfassungsgeschichte nicht auf eine „Rechtsgeschichte von Verfassungsgesetzen“ reduzieren, sondern „das politische Leben“ umfassender untersuchen.58 Er plädiert dafür, die politische Kultur in die Verfassungsgeschichte einzubeziehen und eine „Historische Anthropologie europäischer Politik“ zu entwickeln.59 Es ist zugleich der Versuch, die verfassungsgeschichtlichen Forschungen auch in die (vorkonstitutionelle) Zeit der Vormoderne auszudehnen. Von juristischer Seite werden die kulturellen Aspekte des Rechts seit den 1980er Jahren von Peter Häberle betont, der für eine „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ eintritt und darin auch die Verfassungsgeschichte integriert.60 Reinhards und Häberles Ansätze hat ein in Hagen angesiedeltes Promotionskolleg aufgenommen, das die Verfassungskultur als Element der Verfassungsgeschichte für das 19. Jahrhundert in den Vordergrund rückt.61 Ver56 Hans-Jürgen Becker, Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22. 3. – 24. 3. 1999 (= Der Staat, Beih. 15), Berlin 2003. Indem die Themenfelder der bildenden Kunst, der Wissenschaft und Erziehung, der Literatur, der Architektur und der Musik berücksichtigt wurden, verwies der Band überwiegend auf die traditionelle Kulturgeschichte, integrierte aber auch einen Beitrag von Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: ebd., S. 7 – 37. 57 Wolfgang Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischer Kulturen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 115 – 131; ders., „Staat machen“. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, S. 99 – 118. 58 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (FN 45), S. 17 f. 59 Ebd., Klappentext. 60 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (= Schriften zum Öffentlichen Recht, 436), Berlin 21998 [zuerst 1982], bes. S. 164 f. 61 So auch Arthur Schlegelmilch, Verfassungskultur als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: ders. / Peter Brandt / Reinhard Wendt (Hrsg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 65), Bonn 2005, S. 9 – 14, hier S. 9, spricht gar von einem „kulturalistischen Verfassungsbegriff“. Zur weiteren Definition siehe auch Brandt, Kirsch, Schlegelmilch, Daum, Einleitung (FN 20), S. 88 – 94.
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fassungskultur wird dabei verstanden als „System der kulturellen Prägung politischer Gemeinwesen auf den Ebenen ihrer Institutionen sowie politischen und kulturellen Öffentlichkeiten“. Es geht um die Inszenierung von Ordnungssystemen, um kulturelle Praxis und Repräsentation sowie um Diskurse über Herrschaft und Verfassung.62 Stefan Brakensiek hat von drei Bestandteilen des neuen Forschungsfeldes gesprochen: Herrschaftsvermittlung, Herrschaftsverdichtung und Herrschaftspraxis.63 Schließlich setzen auch die Forschungen der Münsteraner FrühneuzeitHistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger genau an dem Punkt einer kulturellen Fokussierung der Verfassungsgeschichte an. Ihr geht es explizit um eine „Kulturgeschichte des Politischen“.64 Damit sollen – auf den Spuren Reinhards – sozialanthropologische Aspekte in die Politikgeschichte einbezogen werden. Die Untersuchungen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs thematisieren Fragen der klassischen Politik- und Verfassungsgeschichte aus dem Bereich der Frühen Neuzeit. Verfassungsgeschichte figuriert als Symbol- und Diskursgeschichte und nimmt damit insbesondere die kommunikative Seite ihres Gegenstandes in den Blick. Reinhards kulturanthropologischer als auch Stollberg-Rilingers kulturpolitischer Ansatz sind indes nicht widerspruchslos akzeptiert worden.65 Zudem stellt sich die Frage, ob die Verfassungsgeschichte nur ein Anhängsel der Kulturgeschichte ist und damit als relativ eigenständiges Forschungsfeld unterzugehen droht. Dies scheint nicht der Fall zu sein, zumal 62 So ein Zitat von der Startseite der Homepage. Online unter: http: //www.fernunihagen.de/HISTOR/KOLLEG/welcome.shtml (15. 9. 2008). 63 Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders. / Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln 2005, S. 1 – 22. Zudem ist auch von einer Verwaltungskultur die Rede. So Peter Becker, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311 – 336, sowie Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt a. M. 2005. 64 Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (= ZhF, Beih. 35), Berlin 2005. 65 Andreas Suter, Kulturgeschichte des Politischen – Chancen und Grenzen, in: ebd., S. 27 – 55, Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: AKG 85 (2003), S. 71 – 117, sowie sehr entschieden: Thomas Nicklas, Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: AKG 86 (2004), S. 1 – 25. Vor allem auch: ders., HansChristof Kraus (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (= HZ, Beih., NF 44), München 2007, dazu die in der Positionierung deutliche Rezension von Barbara Stollberg-Rilinger, in: H-Soz-u-Kult, 22. 11. 2007. Online unter: http: //hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007 – 4-150 (15. 9. 2008), sowie Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: HZ 283 (2006), S. 657 – 688, Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, bes. S. 104 – 110.
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die Protagonisten selbst Verfassungshistoriker sind und sich ihr eigenes Terrain nicht nehmen lassen. Grundsätzlich gilt, dass eine flexible und selbstbewusste Verfassungshistoriographie die neuen Fragen und ungewohnten Blickrichtungen berücksichtigen wird, ohne sich selbst vereinnahmen zu lassen. Zugleich wird sie auch ihren traditionellen Inhalten treu bleiben.66
IV. Bei der Frage nach den Perspektiven der Verfassungsgeschichte in Deutschland ist generell zu bemerken, dass sie als Teil der historischen Wissenschaft unter der Defensive zu leiden hat, in der sich die Geistes- und Kulturwissenschaften gegenwärtig befinden. Denn die Rahmenbedingungen, finanzielle Einschnitte bei den öffentlichen Kassen und Legitimationsprobleme in den Geisteswissenschaften, bedrohen bekanntermaßen die Teildisziplinen eher als die Hauptfächer. Ein anderes gleichermaßen wichtiges Thema ist der Umbau des Studiums an deutschen Universitäten im Rahmen des sogenannten Bologna-Prozesses. Auch hier ist die Verfassungsgeschichte als Teilfach gefährdet und deshalb gefordert. Unter dem Druck, sich auf vorgeblich wesentliche Studieninhalte bei einem Bachelor-Abschluss zu beschränken, drohen manche verfassungshistorische Themen als randständig eingestuft zu werden und auf der Strecke zu bleiben. Gefragt sind hier klassische oder allenfalls modische Themen, die zudem ,anschlussfähig‘ sein sollen. In den Modulkatalogen für Bachelor- und Masterstudiengänge müsste dafür Sorge getragen werden, dass die Verfassungsgeschichte nicht in Konkurrenz mit der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte erdrückt wird. Profilschärfung und disziplinäres Selbstbewusstsein können dabei helfen. Jenseits dieser äußeren Forschungs- und Studienbedingungen ist nach den inhaltlichen Perspektiven einer zukünftigen Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland zu fragen. Von der aktuellen Situation auszugehen, mag zwar eine sichere Option sein, aber zugleich auch rasche Veränderungen ausschließen. Zwar weiß man nicht, ob nach dem Sozialen, der Gesellschaft, der Mentalität, dem Geschlecht und der Kultur bald ein neues Paradigma, ein neuer Stern am historischen Firmament die Bahn der Verfassungsgeschichte kreuzt. Es ist aber vermutlich eher realistisch, dass es vorerst bei der derzeitigen Situation einer methodisch und paradigmatisch 66 Befürworter und Kritiker der Kulturgeschichte des Politischen argumentierten auch in der anschließenden Diskussion sehr kontrovers. Dabei erwies sich insbesondere die Relevanz der kulturgeschichtlichen Forschungserträge als umstritten. Siehe dazu auch den Tagungsbericht: Ewald Grothe, Verfassungsgeschichte in Europa, in: H-Soz-u-Kult, 26. 4. 2006. Online unter: http: //hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=1112 (15. 9. 2008).
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vielgestaltigen Forschungsszene bleibt. Und wichtig ist für die Disziplin Verfassungsgeschichte die weitere transdisziplinäre Zusammenarbeit aller bisher beteiligten Fächer. Deshalb ist anzunehmen, dass sich die Forschungsrichtung einer politischen Kulturgeschichte mehr als bisher verfassungsgeschichtlichen Themen widmen wird. Vor allem werden sich deren Fragestellungen zunehmend von der Frühen Neuzeit in das 19. und 20. Jahrhundert verlagern. Das in Hagen entstehende mehrbändige „Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“ und ein Sammelband zur Kulturgeschichte des Politischen zwischen den Weltkriegen sind dafür erste Beispiele.67 Dabei wird die herkömmliche, oft normativ ausgerichtete Interpretationsrichtung mehr in den Hintergrund treten. Sie wird nicht ersetzt, aber doch ergänzt durch die Rekonstruktion des Diskursiven, die Erforschung der tatsächlichen Praxis sowie die Deutung und Wirkung von Ereignissen. Auch andere aktuelle historiographische Tendenzen werden sich in der Verfassungsgeschichtsschreibung verstärkt niederschlagen. Parallel zu seinem gegenwärtigen Bedeutungsverlust im Zeichen der Globalisierung wird der Staat als Subjekt der Geschichte auch historiographisch weiter zurücktreten; er wird zunehmend ,entzaubert‘. Nach rund zweihundert Jahren vorwiegend etatistisch orientierter Verfassungshistorie eröffnet dies ohne Zweifel neue Perspektiven. Regionale und kommunale Studien zu den Grenzen des Staates und generell Konzepte einer „Staatsbildung von unten“ werden weiter im Trend liegen.68 Dennoch wird der Staat nicht verschwinden. Ein „Denken vom Staat her“69, ist auch weiterhin nicht obsolet, ebenso wie der längst totgesagte Nationalstaat keineswegs verschwinden wird. Auch die historische Komparatistik wird in der Verfassungsgeschichte weiter an Boden gewinnen. Damit verbunden wird eine Europäisierung der 67 Peter Brandt, Martin Kirsch, Arthur Schlegelmilch (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft, 21), Göttingen 2005. Zum Konzept: Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574 – 606. 68 Ein Beispiel: Markus Meumann, Ralf Pröve (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 2), Münster 2004. Siehe zudem den Tagungsbericht von Franz Mauelshagen, Statebuilding from below: Europe 1300 – 1900, in: H-Soz-u-Kult, 9. 3. 2006. Online unter: http: //hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=1072 (15. 9. 2008). 69 So der Titel der wichtigen Untersuchung von Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970 (= Ordnungssysteme, 15), München 2004.
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Verfassungsgeschichte unvermeidlich sein.70 Neben die diachronen Aspekte der Verfassungsgeschichte, wie sie die national orientierte Forschung bisher vorwiegend untersucht hat, werden die synchronen Perspektiven und der historische Vergleich treten.71 Komparative Analysen und Fragen von Rezeption und Transfer werden unweigerlich stärker in den Fokus der Verfassungsgeschichtsschreibung geraten und damit auch die transnationalen und globalen Perspektiven von Verfassungsgeschichte erschließen helfen. In einer modernen europäischen Verfassungsgeschichte ist es vordringlich, die europäischen Gemeinsamkeiten und Muster zu erforschen. Damit werden generell Konzeptionen für eine vergleichende europäische Verfassungsgeschichte diskutiert werden. Überlegungen und Entwürfe dazu haben der Berliner Historiker Otto Büsch und der Würzburger Rechtshistoriker Dietmar Willoweit seit Anfang der 1990er Jahre erarbeitet.72 In Hagen wurde 2006 der erste Band des „Handbuchs zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“ vorgelegt; der zweite befindet sich in Vorbereitung.73 Überhaupt ist das Interesse der deutschen Verfassungshistoriker an transnationalen Fragen im europäischen Vergleich recht ausgeprägt. Neue Perspektiven sind das eine – das Schließen von Forschungslücken ist das andere. Umfangreiche verfassungshistorische Felder harren noch der historiographischen Aufarbeitung. So sind zu nennen eine Geschichte des Reichshofrats, die Verfassungsgeschichte des Deutschen Bundes74, eine Darstellung des Reichstags des Kaiserreichs oder eine vergleichende Ge70
Zu solchen Tendenzen bereits früher: Grothe, Geschichtsschreibung (FN 45). In diesem Sinne auch Michael Stolleis, Concepts, models and traditions of a comparative European constitutional history, in: Themis 4 (2003), S. 155 – 163; Eibach, Verfassungsgeschichte (FN 5), S. 150 f.; Milos Vecˇ, Vergleichende Verfassungsgeschichte. Historiographische Perspektiven, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), S. 90 – 110; Grothe, Geschichtsschreibung (FN 45), S. 79 f., 94 f. 72 Otto Büsch, Gesellschaftlicher und politischer Ordnungswandel in europäischen Ländern im Zeitalter des Konstitutionalismus. Ansatz und Appell zu einer vergleichenden europäischen Geschichtsbetrachtung, in: ders. / Arthur Schlegelmilch (Hrsg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 1 – 20; Dietmar Willoweit, Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 3), Berlin 1991, S. 141 – 151; ders., Kapitel einer Europäischen Verfassungsgeschichte, in: Roland Lhotta / Janbernd Oebbecke / Werner Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge. Symposium zum 65. Geburtstag von Hans Boldt (= Düsseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, 1), Baden-Baden 1997, S. 185 – 191. 73 Brandt, Kirsch, Schlegelmilch, Handbuch (FN 67). 74 Als Überblick: Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815 – 1866 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 78), München 2006. 71
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schichte der Grundrechte im 19. und 20. Jahrhundert. Aber neben der Forschung durch Erschließung neuer Quellen werden vor allem neue methodische Zugänge auch zur Revision bisheriger verfassungshistorischer Ansichten über längst bearbeitete Themen führen. Es ist zu hoffen, dass zukünftige Darstellungen alte und neue Methoden fruchtbar miteinander verbinden werden. Und bei allen methodischen Neuerungen gilt es immer auch die Kernbereiche der Verfassungsgeschichte im Auge zu behalten. Keine Verfassungsgeschichte aus historischer Perspektive wird auch zukünftig ohne die Darstellung der Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit, keine ohne die Analyse langfristiger regelhafter Strukturen und kurzfristiger Entscheidungsprozesse auskommen können. Bliebe am Ende noch die Frage: Wozu (überhaupt) Verfassungsgeschichte? Die Frage rührt an die Grundfesten der Legitimation geisteswissenschaftlicher Fächer. Dennoch darf sie nicht vernachlässigt werden. In den Zeiten von Globalisierung und postmodernem Werteverfall erhöht sich umgekehrt der Bedarf an Sinn- und Identitätsstiftung einer Gesellschaft oder einer Nation. Der Bedarf an historischer Selbstvergewisserung wird in einem nach wie vor zusammenwachsenden Staat auch weiter bestehen.75 Es wäre schon eine seltsame Vorstellung, dass, während in der Europäischen Union um eine Verfassung gerungen wird, die Deutschen nicht mehr wüssten, wie ihre eigene Verfassungsgeschichte verlaufen ist. Eine immer wieder notwendige Verständigung über Verfassung ist nur über eine auch historisch verankerte Verfassungskenntnis und ein entsprechendes Verfassungsbewusstsein zu erzeugen.76 Die Verfassungshistoriker aller Fächer müssen sich mit vereinten Kräften dagegen wehren, dass im Zuge der Bologna-Reformen eines der wichtigen und geradezu unverzichtbaren Segmente der historischen Forschung und Lehre zurückgedrängt wird. Es geht dabei zudem um einen zentralen Bestandteil historisch-politischen Orientierungswissens. Wenn am Ende aller Bemühungen eine breitere wissenschaftliche und auch öffentliche Akzeptanz des Arbeitsfeldes ,Verfassungsgeschichte‘ stünde, wäre schon viel erreicht.
75 So auch Michael Stolleis, Neues zur Verfassungsgeschichte, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 23 (1991), S. 187 – 195, hier S. 187. 76 Siehe auch: Gerhard Göhler (Hrsg.), Verfassungspatriotismus und nationale Identität (= Publicationes Universitatis Miskolainensis, Section philosophica, 8,2), Berlin 2003.
Stand und Perspektiven der Verfassungsgeschichte in Deutschland aus Sicht der Rechtswissenschaft Von Christian Waldhoff, Bonn I. Einleitung Als ich meinem Fakultätskollegen Ulrich Huber von der Lektüre der Arbeit von Ewald Grothe1 und von meiner heutigen Vortragsverpflichtung erzählte, berichtete er, daß sein Vater Ernst Rudolf Huber seinerzeit zu Hause die These vertreten habe, der Unterschied zwischen Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte liege darin, daß die Verfassungsgeschichte für die Staatsrechtslehre notwendig sei, indem sie das Anschauungsmaterial für das geltende Recht zur Verfügung stelle, während die Zivilrechtslehre durchaus solchen historischen Anschauungsmaterials entbehren könne. Geradezu gegenteilig konstatierte Wilhelm Henke 1984: „Wenn Geschichte Erfahrung ist, so ist die Staatsrechtslehre eine Wissenschaft, die von der ihr zugänglichen Erfahrung wenig Gebrauch macht. Sie verwendet zwar die Ergebnisse der professionellen Geschichtswissenschaft der Neuzeit, aber sie versäumt es, die der Gegenwart und dem spezifischen Interesse an Staat und Verfassung angemessenen Fragen an die Geschichte zu stellen. [ . . . ] So ist das Staatsrecht in der Dimension der Zeit bis heute flach.“2 Unabhängig davon, ob die Differenz zwischen Verfassungs- und Rechtsgeschichte damit treffend umrissen und ob das Verhältnis zur gegenwartsbezogenen Teildisziplin richtig beschrieben ist, machen diese Bemerkungen deutlich, daß die Verfassungsgeschichte für die Juristen – jenseits von Erkenntnisgewinn als solchem und anthropologischer Interessen der Identitätsfindung und Selbstvergewisserung3 – stets auch von der besonderen Funktionalität des Faches geprägt war und ist.4 Zu dem jeder Wissenschaft 1 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen 1900 und 1970, München 2005. 2 Wilhelm Henke, Republikanische Verfassungsgeschichte mit Einschluß der Antike, in: Der Staat 23 (1984), S. 75 (77). 3 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Aufl., München 2005, S. 10. 4 Dezidiert etwa Werner Frotscher, Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., München 2005, § 1, Rdnr. 5 ff.; vgl. für die Rechtsgeschichte Otto Brunner, Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht, in: HZ 209 (1969), S. 1 (2);
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inhärenten Erkenntnisgewinn als solchem tritt das Nachdenken über die spezifische Funktion der methodisch notwendig anders orientierten Teilsdisziplin für das Gesamt- bzw. Kernfach hinzu. Diese Überlegung baut auf der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert erfolgenden Trennung zwischen historischen und systematischen Wissenschaften auf.5 Für Historiker mit ihrem von Zweckgedanken traditionell freien Forschungsanliegen resultiert aus der Tatsache, daß die Verfassungsgeschichte mit der Rechtswissenschaft eine in hohem Maße anwendungsorientierte Disziplin untersützt, die in ihrem Kern und nach ihrem ganz überwiegenden Selbstverständnis den durch die dazu berufenen Organe zu vollziehenden Rechtsanwendungsprozeß vorbereitet, begleitet und im Dialog unterstützt, womöglich schon ein Problem. Um diese Bezogenheit der Verfassungeschichte auf die dogmatisch arbeitende Rechtswissenschaft soll es im Folgenden gehen. Alle anderen Beobachtungen – über die Entwicklung der Verfassungsgeschichte, über die Veränderungen dieser Funktionalität, über den Stand und über die Perspektiven des Fachs – werden aus dieser Sichtweise anund abgeleitet sein. Ausgangsthese ist es, daß es bei allen Unterschieden im einzelnen, insbesondere in der Herangehensweise6, keine „juristische“ und keine „historische“ oder „sozialwissenschaftliche“ Verfassungsgeschichte geben sollte7, sondern daß lediglich die Funktion des Fachs in den unter-
Susanne Lepsius, „Rechtsgeschichte und allgemeine Geschichtswissenschaft“. Zur Wahrnehmung einer Differenz bei den Historikern Burgdorf und Zwierlein, in: ZNR 27 (2005), S. 304, 309. 5 Vgl. etwa Hans Boldt, Verfassungsgeschichte und Vergleichende Regierungslehre, in: Der Staat 24 (1985), S. 432 (436). 6 Treffend insofern das in einem spezifischen Zusammenhang geäußerte Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972, S. 146 (147 f.): „Vielleicht sind diese Fragen für den Historiker schon zu juristisch-abstrakt und gegenüber der Vielfalt und den fließenden Übergängen des wirklichen Lebens zu alternativ gestellt. Der Historiker sieht sich ja in der eigentümlichen Lage, eine Feststellung, die er im Hauptsatz macht, zugleich in zwei Nebensätzen wieder einschränken und abschwächen zu müssen, will er genau sagen, ,wie es eigentlich gewesen‘ ist. Diese Methode birgt freilich die Gefahr in sich, daß überhaupt keine eindeutigen und klar antwortenden Aussagen über geschichtliche Vorgänge und Zustände mehr zustande kommen.“; Christoph Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, BadenBaden 2004, S. 131 (152 ff.), beobachtet und kritisiert, daß das öffentliche Recht daher bevorzugt den Zugriff auf sozialwissenschaftlich aufgearbeitetes, damit zwangsläufig stärker kategorisiertes und insofern rechtswissenschaftlich einfacher handhabbares historisches Wissen wähle; ferner Friedrich August Freiherr von der Heydte, Verfassungsgeschichte. Ihre Aufgaben und Grenzen im Rahmen der Rechtswissenschaft, in: Xenion. Festschrift für Zepos zum 65. Geburtstag, Athen 1973, S. 143. 7 Deutlich Willoweit, Verfassungsgeschichte (FN 3), S. 11; ausführlich Hans Boldt, Verfassungsgeschichte – Bemerkungen zur Historie einer politik-wissenschaftlichen
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schiedlichen disziplinären und zeitlichen Kontexten variiert. Anders gewendet: Ich gehe von der historischen Methode8 des Fachs aus, die „Lösung“ historischer Rechtsfälle dürfte heute überwunden sein.9 Lediglich das Erkenntnisinteresse ist ein doppeltes; aus der Sicht des Öffentlichrechtlers interessiert mich hier der Bezug zum und die Funktion für das geltende Staats- und Verwaltungsrecht: Die Rechtswissenschaft muß „selbst für eigene Fragestellungen Sorge tragen“.10 Angesichts der wohlfeilen Rufe nach Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften11 erstaunt der Purismus mancher Rechts- und Verfassungshistoriker in Bezug auf eine Bi- oder Multifunktionalität ihrer Disziplin.12 Die Gefahr fehlverstandener Interdisziplinarität liegt – bei allen Wechselwirkungen zwischen Gegenstand und Methode13 – in der Methodenvermischung, nicht in den Überschneidungsbereichen im Erkenntnisinteresse. Daß dies in besonderem Maß für die Verfassungsgeschichte gilt, ist im Folgenden zu entfalten. Dazu soll zunächst der Versuch einer Abgrenzung von Rechtswissenschaft und Verfassungsgeschichte unternommen werden – einen kurzen Seitenblick auf die gegenwärtige institutionelle Verankerung eingeschlossen (unter II.). Anschließend soll die Variation des Verhältnisses der Disziplinen in der geschichtlichen Disziplin, in: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte, Düsseldorf 1984, S. 119 (164 ff.). 8 In Abgrenzung zur juristischen Methode; daß es auf beiden Seiten nicht „die“ einheitliche Methode gibt, sondern jeweils eine Methodenvielfalt, einen Methodenpluralismus, versteht sich von selbst. Vgl. zu neueren Tendenzen der Methode in der Geschichtswissenschaft nur den Überblick bei Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 139 ff. 9 Vgl. differenziert für die Rechtsgeschichte Diethelm Klippel, Rechtsgeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hrsg.), Kompaß der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 126 (131 ff.); wissenschaftsgeschichtlich Michael Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 340 (346 ff.); der Programmatik nach auch Ernst Rudolf Huber, Vom Sinn verfassungsgeschichtlicher Forschung und Lehre, in: ders., Bewahrung und Wandlung, Berlin 1975, S. 11 (12). 10 Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 142. 11 Vgl. nur Jürgen Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität, Frankfurt / Main 1987. 12 Vgl. auch Dieter Grimm, Rechtswissenschaft und Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 2, Frankfurt / Main 1976, S. 9 (10); Peter Landau, Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, in: ZNR (1980), S. 117 ff.; Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 136; überzeugend Reinhart Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten, Frankfurt / Main 2003, S. 336 (351): „Die von Betti und Wieacker formulierte Alternative, ob die Rechtsgeschichte mehr kontemplativ sei, zur Entdeckung der vergangenen und zu rekonstruierenden Gegenstandsbereiche, oder mehr applikativ betrieben werde – diese Alternative läßt sich deshalb nicht grundsätzlich festschreiben. Sie kann nur forschungspragmatisch so oder so verwendet werden.“ 13 Vgl. für unseren Kontext mit Nachweisen Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 132 ff.
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Entwicklung skizziert werden (unter III.), um schließlich zu den Perspektiven – wiederum ausgehend von der Funktion der Verfassungsgeschichte für die Rechtswissenschaft – zu gelangen (unter IV.). Dem Vortrag liegt also die Annahme zugrunde, daß das hier zu untersuchende Verhältnis von Rechtswissenschaft und Verfassungsgeschichte wandelbar ist.14 Wenn dieses Verhältnis untersucht werden soll, ist damit primär das dogmatisch arbeitende öffentliche Recht als Normwissenschaft gemeint.15 Auch hier versteht es sich, daß diese doppelte Unterscheidung – die Aussonderung des öffentlichen Rechts und die Grundannahme einer dogmatischnormativ arbeitenden Rechtswissenschaft – nur für die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit bestimmend sein kann.
II. Die disziplinäre Unterscheidung „An keinem anderen Punkt begegnen sich Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft so nahe wie in der Verfassungsgeschichte. Sie kann als eine beiden Wissenschaften gemeinsame Unterdisziplin angesehen werden.“16 Mein erster Punkt ist die genauere Abgrenzung zwischen Verfassungsgeschichte als Teildisziplin der Rechtswissenschaft und dem dogmatisch-normativ arbeitenden öffentlichen Recht.17 Verfassungsgeschichte wird an juristischen wie an philosophischen Fakultäten gelehrt, sowohl Juristen als auch Historiker forschen auf diesem Feld. Disziplinensystematisch könnte man hier argumentieren, die Verfassungsgeschichte gehöre (auch) zum öffentlichen Recht wie die Verfassungsrechtslehre, die allgemeine Staatslehre, die Verfassungstheorie oder die Staatsphilosophie. Die Gemeinsamkeit läge im Erkenntnisgegenstand, dem sogenannten Materialobjekt – den erkenntnistheoretischen Grundlagenstreit einmal vernachlässigt, ob nicht der Erkenntnisgegenstand durch die Erkenntnismethode mitkonstituiert
14 Vgl. grundsätzlich Michael Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 340 f. 15 Vgl. zum Unterschied etwa auch Brunner, Geschichte von Verfassung und Recht (FN 4), S. 7; jetzt eingehend Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . . , Tübingen 2006. 16 Hans-Christof Kraus, Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte. Otto Hintze und Fritz Hartung als Kritiker Carl Schmitts, in: Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 637; Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Verfassung: Auf einem Mittelweg zwischen Geschichte und Rechtswissenschaft“ Interview mit Benito Alaez Corral, Manuskript, S. 4 f. 17 Zum grundsätzlichen Bedürfnis der disziplinären Einordnung der Verfassungsgeschichte Rolf Sprandel, Perspektiven der Verfassungsgeschichtsschreibung aus der Sicht des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Beiheft 6 zu: Der Staat, Berlin 1983, S. 105.
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werde. Nach dieser Vorgehensweise gehörte die Verfassungsgeschichte allerdings genausogut auch zur Geschichtswissenschaft; denn diese nimmt prinzipiell keinen Gegenstand aus ihrem historischen Erkenntnisinteresse aus.18 Geht man demgegenüber von der Erkenntnismethode aus, ist zu berücksichtigen, daß die dogmatisch arbeitende Rechtswissenschaft als Normwissenschaft Sollenssätze mit dem Erkenntnisziel der Systematisierung und auch Anleitung der auf Anwendung ausgerichteten geltenden Rechtsordnung interpretiert. In jedem Fall sind Recht wie Rechtsdogmatik notwendigerweise anwendungsorientiert.19 Rechtsdogmatik unterscheidet sich insofern von anderen (Geistes-)Wissenschaften. Dieser Unterschied besteht auch zu solchen Wissenschaften, die wie entsprechende Zweige der Philosophie oder Theologie und neuerdings auch wie die Ökonomik als normativer Zweig der Wirtschaftswissenschaften im weiteren Sinne ebenfalls einer normativen Absicht und Methode folgen. Bei diesen gehört die soziale Wirksamkeit nicht in gleicher Weise wie beim Recht zu den Bedingungen ihrer Existenz.20 Rechtsdogmatik als der Kern jeder juristischen Methode zieht ihre Legitimation aus dem Ziel der Anwendbarmachung geltender Normen.21 Dies kann letztlich nur in Wechselwirkung mit der Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall erfolgen. Rechtsdogmatik ist so immer zugleich rechts- wie realitätsgeprägt, auch wenn sie nach richtiger Ansicht selbst kein Akt der Rechtsanwendung ist und nicht von vornherein eine Rechtsquelle darstellt, vielmehr durch die dazu berufenen Rechtsanwender rezipiert werden muß.22 18 Sie erweist sich dann als sog. Fachhistorie, vgl. näher Hans Boldt, Begriff und Gegenstand der Verfassungsgeschichte, in: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte, Düsseldorf 1984, S. 17 f. 19 Friedrich Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl., Berlin 1993, S. 126; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt / Main 1993, S. 19; Christian Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik, in: JZ (1972), S. 609; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien, New York 1978, S. 208, 212; Jan Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, Stuttgart 1986, S. 5, 232 ff. Nach der (auch) hier vertretenen Auffassung verfolgen die Rechtsgeschichte, die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie / Rechtstheorie somit keine spezifisch rechtswissenschaftliche Methode, es handelt sich genau genommen vielmehr um die Anwendung historischer, soziologischer oder philosophischer Fragestellungen und Methoden auf den Gegenstand „Recht“, um die Beobachtung des Rechts aus der Außenperspektive. Für sie gilt demgemäß die hier postulierte Anwendungsorientierung nicht oder nicht in demselben Maß; vgl. zu diesem Problem bereits Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl., Aalen 1923, S. 42. 20 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staatliches Recht und sittliche Ordnung, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 208 (215). 21 Niklas Luhmann sieht die Rechtsdogmatik in seiner Theorie als ein die Systemstruktur formendes Element, das die Stabilisierungsfunktion im Recht ausprägt, vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft (FN 19), S. 271 ff. 22 Christoph Gusy, „Wirklichkeit“ in der Rechtsdogmatik, in: JZ (1991), S. 213 (214); Matthias Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, Manu-
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Christian Waldhoff 1. Die Funktion der Verfassungsgeschichte für die Rechtsdogmatik
Aus der Sicht einer dogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaft unterscheidet sich die Verfassungsgeschichte von ihr durch ihre Methode. Ihre Herangehensweise ist nicht normativ-juristisch-dogmatisch, sondern entspricht den Methoden der Geschichtswissenschaft.23 Allerdings bezieht sich ihr richtig verstandener Erkenntnisgegenstand auf etwas Normatives, nämlich die als verbindlich anerkannten Regeln für Personen und Institutionen zur Konstitution, Organisation und Begrenzung des Gemeinwesens. In der Arbeitsdefinition von Dietmar Willoweit handelt es sich bei dem Erkenntnisgegenstand der Verfassungsgeschichte um „diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“.24 Auf der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte 1981 hatte Reinhard Koselleck vorgeschlagen, Verfassungsgeschichte solle die Bereiche erforschen, „die sich durch Wiederholbarkeit kraft Rechtsregeln auszeichnen“.25 Er begründete dies damit, den „Bruch zwischen den vormodernen Rechtsgeschichten und den neuzeitlichen Verfassungsgeschichten zu überbrücken“. Etwa müsse – im Anschluß an Otto Brunner – für die vorneuzeitliche Betrachtung die Strafrechtsgeschichte mit einbezogen werden, während dies für eine Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts nur bedingt der Fall sei. Um der Uferlosigkeit entgegenzusteuern, möchte ich an den beiden eingrenzenden Faktoren, der Beziehung auf Rechtlichkeit im weiteren Sinne und dem Aspekt der Ordnung des Gemeinwesens, festhalten.26 Die Kontroverse zeigt letztlich die Grenzen einer begrifflichen Vorabfestlegung des Gegenstands der Verfassungsgeschichte; solche sollen die Funktion eines Orientierungsrahmens bieten; sie können nicht die Erkenntnisgegenstände letztverbindlich für konkrete Forschungsvorhaben durch die Zeiten „festzurren“. Die Bedeutung für die dogmatisch arbeitende Rechtswissenschaft muß weiter differenziert werden: Auf der einen Seite geht es um die Methodik konkreter Rechtsanwendung. Angesprochen ist damit das Thema der historischen Auslegung, wiederum differenziert in die genetische (also entsteskript; ferner Hasso Hofmann, Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: Festschrift Roellecke, Stuttgart 1997, S. 117 ff. 23 Vgl. etwa auch Huber, Forschung und Lehre (FN 9), S. 13. 24 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 3), S. 2 ff. 25 Reinhard Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Beiheft 6 zu: Der Staat, Berlin 1983, S. 7 (11). 26 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 3), S. 3 f.; auch Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (FN 25), S. 8, fordert eine „rechtliche Bestimmung oder rechtliche Einbindung“. Zu eng aus heutiger Sicht demgegenüber Huber, Forschung und Lehre (FN 9), S. 14 f., der die „Frage nach der Verfassungsfähigkeit des Staats“ als zentralen Leitpunkt sieht.
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hungsgeschichtliche) und die allgemein-historische, also Vorgängerregelungen, historisches Umfeld usw. einbeziehende Betrachtung.27 Das wohl noch herrschende deutsche Dogma vom Vorrang der sogenannten objektiv-teleologischen Auslegung erscheint dabei wenig methodisch reflektiert und verliert insgesamt an Boden.28 Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden; es wäre ein eigenes Thema.29 In dieser konkreten Funktion erschöpft sich die historische Betrachtungsweise freilich nicht. Das Problem der Debatte um die Funktion von Rechts- und Verfassungsgeschichte leidet insoweit unter dem strikten „entweder-oder“. Neben die hier skizzierte rechtsdogmatische Funktion tritt stets der allgemeine historische Erkenntnisgewinn hinzu. Beide Ebenen sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die hier vorgetragenen Überlegungen gehen von der anwendungsorientierten Seite aus.
2. Variationen in anderen Rechtskreisen
Die Bedeutung der rechtswissenschaftlichen Methodik für das disziplinäre Verhältnis von Verfassungsgeschichte und Rechtswissenschaft impliziert, daß in Rechtskreisen mit grundlegend anderen methodischen Prämissen und Rechtstraditionen das Verhältnis ein anderes sein wird.30 Wie so oft würde sich der Vergleich mit der angelsächsischen, insbesondere mit der amerikanischen Tradition anbieten.31 Das kann hier aus unterschiedlichen Gründen nicht geleistet werden. Zu untersuchen wäre insofern, wie sich das fall- und damit sachverhaltsorientierte Rechtsanwendungsmodell im amerikanischen Verfassungsrecht32 bei weitgehend statischer, über 200 Jahre alter verfassungsgesetzlicher Grundlage auf das Verhältnis zwischen „Dogmatik“ (hier sicher ein schiefer Begriff) und Geschichtlichkeit auswirkt. Was wird historisiert? Was bedeutet das für das Selbstverständnis verfassungsgeschichtlicher Forschung?
27 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt / Main 1983, S. 291 ff.; Bodo Pieroth, Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 21. Aufl., Heidelberg 2005, Rdnr. 8. 28 Vgl. Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln 1994, S. 645 ff.; in traditionellen Bahnen verfangen Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin 1991, S. 316 ff. 29 Vgl. etwa Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 328 ff. 30 Vgl. Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 132, 146 f. 31 Vgl. für eine andere Fragestellung instruktiv Ulrich R. Haltern, Die Rule of Law zwischen Theorie und Praxis, in: Der Staat 40 (2001), S. 243 ff.; Oliver Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild? in: JZ (2005), S. 1 ff. 32 Vgl. insgesamt Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, Tübingen 1997; Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 147.
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Christian Waldhoff 3. Historisierung des geltenden Verfassungsrechts – das Problem des Endzeitpunkts von Verfassungsgeschichte
Die zeitliche Abfolge verfassungsrechtlicher Neukonstituierungen führt zu dem Problem des Endes der Verfassungsgeschichte: Ist insofern „geschichtlich“ alles vor der geltenden Verfassungsordnung? Was bedeutet „geltende Verfassungsordnung“? Kann dies auf das Inkrafttreten der Verfassungsurkunde reduziert werden? Die Beantwortung dieser Fragen hängt von der zeitlichen Abfolge verfassungsrechtlicher Neukonstituierungen und von der Quantität wie der Qualität von Verfassungsänderungen ab.33 Deutschland ist dabei von einer zunächst relativ raschen Abfolge grundstürzender staatsrechtlicher Veränderungen gekennzeichnet gewesen: Ende des Alten Reiches 1806; Gründung eines Staatenbundes 1815; Bundesstaatsgründung 1867 / 1871; Austausch der grundlegenden Legitimationsgrundlage 1918 / 19; Übergang zum totalitären Staat 1933 – 1945; demokratische Neukonstituierung 1948 / 49. Staaten wie die Schweiz und vor allem die Vereinigten Staaten zeichnen sich demgegenüber durch eine große Kontinuität der Verfassungszustände aus. Sie unterscheiden sich dabei allerdings wiederum in der Frequenz der Verfassungstextänderungen: Der praktisch statische Text-Zustand der Verfassungsurkunde in den USA steht den fast jährlichen Änderungen von Bundes- und Kantonalverfassungen in der Schweiz angesichts von Volksinitiativen gegenüber. Gleichwohl finden in den USA im Laufe der Entwicklung gravierende Änderungen durch ein sich wandelndes gesellschaftliches Umfeld statt, auf welche die Rechtsprechung zwangsläufig reagieren muß. Wie zumindest für die USA angedeutet, ist daher das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte – allerdings auch aufgrund der grundsätzlich anderen Rechtstradition – notwendig ein anderes als bei uns. Angesichts der inzwischen beachtlichen Geltungsdauer des Grundgesetzes und der durch dieses konstituierten Verfassungsordnung stellt sich auch in Deutschland die Frage nach einer Historisierung der staatsrechtlichen Ereignisse, letztlich auch der verfassungsgerichtlichen Judikatur der frühen Bundesrepublik.34 Nach einem Bonmot von Roman Herzog besteht das gel33 Zu den Wirkungen von verfassungsrechtlicher Neukonstituierung bzw. des Beginns der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Faktor der historischen Diskontinuität und als Katalysator für die Verdrängung historischer Bezüge im Verwaltungsrecht Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 147 f. 34 Insofern weitgehend ertraglos Thomas Würtenberger, Ansätze und Zielsetzungen einer Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 127; vgl. demgegenüber Klaus Kröger, Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Vorgeschichte, Grundstrukturen und Entwicklungslinien des Grundgesetzes, München 1993, S. VII: „Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur eine Vor- und eine Entstehungsgeschichte; es ist nach über vierzig Jahren seines Bestehens selbst Teil
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tende deutsche Verfassungsrecht aus 146 Grundgesetzartikeln und über 100 Bänden mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Aus dem amerikanischen Rechtskreis ist die Formulierung von Charles Evans Hughes überliefert: „The constitution is what the judges say it is.“ Es stellt ein ungelöstes verfassungsrechtsdogmatisches Problem dar, daß die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts von 1951 an, das heißt seit inzwischen über 55 Jahren – einem für die Epochenabfolge in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte relevantem Zeitraum – in der Anwendung des Grundgesetzes gleichrangig behandelt wird. Verfassungsrechtsprechung ist Verfassungskonkretisierung35 auf den Einzelfall bezogen, Rechtsanwendung für den Einzelfall. Wegen des spärlichen Verfassungstextes bleibt der Verfassungsgerichtsbarkeit hier eine große Freiheit, ein großer Spielraum.36 Die sogenannten maßstäblichen Ausführungen des jeweiligen Senats des Bundesverfassungsgerichts werden in der deutschen Verfassungsrechtspraxis dann allerdings weitgehend von dem zugrundeliegenden Fall abgelöst und – auch jenseits richter- oder gewohnheitsrechtlicher Verdichtungen – quasi-normativ auf andere Fälle angewendet.37 Ein solches Vorgehen gerät in Spannung zu Erkenntnissen Konrad Hesses, wenn dieser ausführt: „[ . . . ] Konkretisierung ist nur im Blick auf ein konkretes Problem möglich. [ . . . ] Es gibt keine von konkreten Problemen unabhängige Verfassungsinterpretation“.38 Der soziale und historische Wandel, die je konkrete Eigenart des zugrundeliegenden Sachverhalts bleiben so außen vor. Von den Verfassungsrechtlern wird es nicht als in irgendeiner Form historisch relevant erfaßt und gerade nicht der – wie auch immer aufgefaßten – historischen Auslegung zugerechnet, sich auch auf Entscheidungen aus dem ersten Band der Sammlung zu berufen – von den Ausnahmen einmal abgesehen, daß sich das zugrundeliegende Verfassungsrecht geändert hat. Auch das Gericht der Geschichte geworden.“; vgl. auch die entsprechenden Partien in Karl Kroeschell, Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Göttingen 1992; davon abzugrenzen sind wiederum die Untersuchungen zu den Bedingungen der Entstehung des Grundgesetzes, vgl. etwa Frank R. Pfetsch, Verfassungspolitik der Nachkriegszeit. Theorie und Praxis des bundesdeutschen Konstitutionalismus, Darmstadt 1985; Heinrich Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1999. Ein ähnliches Problem – wie im Haupttext dargelegt – stellte sich bereits im Alten Reich unter der Rechtsprechung von Reichskammergericht und Reichshofrat, die eine noch viel längere verfassungsgeschichtliche Periode mit ihren Judikaten abdeckten. 35 Näher Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Karlsruhe 1995, Rdnr. 60 ff. 36 Vgl. nur Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161 (165, 167 f.). 37 Vgl. zur grundsätzlich anderen amerikanischen Tradition nur Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 147, 162. 38 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts (FN 35), Rdnr. 64; vgl. auch Pieroth, Schlink, Grundrechte (FN 27), Rdnr. 8.
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selbst verfährt so. Explizite Rechtsprechungsänderungen werden vermieden, die maßstäblichen Ausführungen älterer Judikate mitgeschleppt und – kaum offengelegt – vorsichtig weiterentwickelt.39 Mit dem skizzierten Problem hängt zusammen, daß wir keine Theorie über die Auslegung von Verfassungsgerichtsentscheidungen besitzen. Es kommt der inzwischen vielfach beklagte „Verfassungsgerichtspositivismus“, die „Entthronung der Staatsrechtslehre durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“, die Wahrnehmung der Staatrechtslehre als „Bundesverfassungsgerichtsauslegungswissenschaft“ hinzu:40 Die Verfassungsrechtslehre ist immer weniger willens und in der Lage, dem Verfassungsgericht grundlegende Alternativentwürfe anzubieten, mit theoretischen Gegenentwürfen die Rechtsprechung zu relativieren.41 Auch dieses Problem hat sich nicht zuletzt wegen der „Anschlußfähigkeit“ der ja auch anwendungsorientierten Staatsrechtslehre im Lauf der Jahrzehnte eher verschärft.42 Das hiermit lediglich angerissene Problem wird sich bei einer zu erwartenden weiteren langen Stabilität des Grundgesetzes und der zunehmenden Produktivität des Bundesverfassungsgerichts weiter zuspitzen. War die Historisierung von Recht Ausgangspunkt der Ausbildung von Rechts- und Verfassungsgeschichte, stellt sich somit als Folgeproblem die Koordination dieses Konzepts mit grundlegenden Verfassungsumbrüchen. Solche stellen stets Zäsuren für eine Historisierung dar; angesichts der Dauer und der Wirkungsintensität des Grundgesetzes besteht in der Gegenwart das Bedürfnis einer „Zwischenhistorisierung“ als Anreicherung des verfassungsrechtlichen Methodenarsenals. Das hätte Rückwirkung auf Stellung und Funktion der Verfassungsgeschichte für die Rechtswissenschaft.
39 Peter Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. (2002), S. 649 (650). 40 Schlink, Entthronung der Staatsrechtswissenschaft (FN 36), S. 161; Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos, Berlin 2002, S. 183; Thomas Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, Tübingen 2001, S. 421; Lerche, Rechtswissenschaft (FN 39), S. 649. 41 Ebd., S. 649 f.; Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? Eine deutsche Perspektive: Von der Staatstheorie zur Theorie der Herrschaftsformen, in: EuGRZ (2004), S. 370 (381). 42 Plastisch insoweit die einleitenden Bemerkungen bei Lerche, Rechtswissenschaft (FN 39), S. 649.
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4. Derzeitige institutionelle Verankerung des Fachs „Verfassungsgeschichte im rechtswissenschaftlichen Bereich“
Zu unterscheiden ist die institutionelle Verankerung in Form von Lehrstühlen und Forschungseinrichtungen einerseits, die Funktion des Fachs im akademischen Unterricht andererseits. Dabei entspricht diese institutionelle Verankerung dem Stand des Fachs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht mehr der gegenwärtigen Forschungslage. Ich beginne mit dem zweiten Aspekt. Die Verfassungsgeschichte als sogenanntes Grundlagenfach wurde durch die Studienreform 1935 als Vorlesung an den juristischen Fakultäten in Deutschland unter der Bezeichnung „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ etabliert.43 Die Reform hat zugleich die Unterrichtsmaterialien in Form von Kurzlehr- und Anleitungsbüchern hervorgebracht, die erst in jüngerer Zeit durch Neuerscheinungen abgelöst wurden.44 Diese Funktion der als „Grundlagenfach“ umschriebenen juristischen Propädeutik hat sich bis heute erhalten45. Inwieweit tatsächlich regelmäßig verfassungsgeschichtliche Veranstaltungen als Grundlagenvorlesungen angeboten werden, hängt – wie stets – von der konkreten Situation des akademischen Lehrpersonals ab. Hier bestehen insbesondere für die kleineren juristischen Fakultäten Probleme, da dort erfahrungsgemäß die Grundlagenfächer nur exemplarisch angeboten werden können. Für die Verankerung im akademischen Lehrbetrieb ist dann entscheidend, inwieweit das Fach in die neuen, gerade anlaufenden Studienordnungen mit ihren sogenannten Schwerpunktbereichen integriert werden kann. Hier schälen sich zwei Modelle heraus: An einigen wenigen Fakultäten bestehen eigene grundlagenbezogene Schwerpunktbereiche; zumeist werden die Grundlagenfächer in Schwerpunktbereiche des geltenden Rechts zu integrieren versucht.46 Abschließende Aussagen über die weitere Entwicklung im akademischen Unterricht sind noch nicht möglich. 43
Siehe sogleich unter III. 3. Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 205 ff., 262 ff.; zur aktuellen Literaturlage instruktiv und kritisch ders., Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 79 ff. 45 Die nachfolgende Übersicht verdanke ich Herrn Kollegen Heiner Lück, Halle, und seiner Mitarbeiterin Martina Resch; sie beruht auf der Auswertung der Homepages der juristischen Fakultäten, kann insofern nur eine Momentaufnahme darstellen und erhebt keinerlei Anspruch auf Exaktheit im Sinne empirischer Sozialforschung; an folgenden Fakultäten wird eine Vorlesung „(deutsche) Verfassungsgeschichte“ oder „(deutsche) Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ im Grundlagenfachbereich angeboten: Bonn; Heidelberg; Köln; Konstanz; Mannheim; Marburg; München; Münster; Rostock; Trier; an folgenden Fakultäten wird eine kombinierte Lehrveranstaltung (zumeist: Rechts- und Verfassungsgeschichte) angeboten: Augsburg; Bayreuth; HU Berlin; Bielefeld; Frankfurt a.M.; Halle; Leipzig; Osnabrück; Passau; Saarbrükken; Tübingen; bereits im Grundlagenbereich wird eine Vorlesung „Europäische Verfassungsgeschichte“ in Dresden und Passau angeboten. 44
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Der fakultären Disziplingeschichte in Deutschland entspricht die Zuordnung der rechtsgeschichtlichen Lehrstühle zum Zivilrecht, der Verfassungsgeschichte zum öffentlichen Recht. In der Sache ist das nicht zwingend, dürfte aber nur schwer überwindbar sein. Im Unterschied zur Rechtsgeschichte gibt es kaum explizit als verfassungsgeschichtlich ausgewiesene Lehrstühle47; die grundlagenbezogen arbeitenden Öffentlichrechtler – mit oder ohne Venia – „decken“ das Fach nach Interesse „ab“. Nach meinen Beobachtungen nimmt die Häufigkeit der Erteilung einer verfassungsgeschichtlichen Venia Legendi in den letzten Jahren wieder deutlich zu. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, daß es sich dabei oftmals um ein zusätzlich „erschlagenes“ Lehrgebiet im Zeichen atomisierter Venien handelt, und daß sich diese Lehrbefugnis praktisch stets nur auf neuzeitliche Arbeiten bezieht. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Den institutionellen wie den inhaltlichen Bezug auf das geltende Recht sehe ich – von meinem Ausgangspunkt konsequent – nicht als Nachteil. Betrachtet man Quantität und Qualität der verfassungsgeschichtlichen Publikationen der letzten Jahre (unter Einschluß der Wissenschaftsgeschichte vom öffentlichen Recht) besteht zu übertriebenem Pessimismus kein Anlaß.48
III. Die historische Bedingtheit des Verhältnisses zwischen Verfassungsgeschichte und Rechtswissenschaft – vier Modelle Die oben für die Gegenwart vorgenommene Positionsbestimmung der Verfassungsgeschichte im Verhältnis zur Rechtswissenschaft kann nur eine aktuelle Bestandsaufnahme darstellen. Wie deutlich gemacht wurde, hängt das Verhältnis entscheidend von Inhalten, Methoden und Erkenntniszielen der beiden beteiligten Disziplinen ab. Beide variierten im Laufe der ge46 Nach der in FN 45 genannten Quelle bieten in einem grundlagenbezogenen Schwerpunktbereich folgende Fakultäten Verfassungsgeschichte bzw. Europäische Verfassungsgeschichte im Schwerpunktbereich an: Frankfurt a. M.; Frankfurt (Oder); Göttingen; Jena; Kiel; Leipzig; München; Passau und Trier; solche Vorlesungen werden in einem integrierten Schwerpunktbereich („Staat und Verfassung im Prozeß der Internationalisierung“) angeboten von der Fakultät Bonn. 47 Beispiele für Lehrstühle, die die Verfassungsgeschichte explizit in ihrer Ausrichtung aufführen: Markus Möstl, Bayreuth; Christoph Gusy, Bielefeld; Michael Stolleis, Frankfurt; Alexander von Brünneck, Frankfurt (Oder); Jörg-Detlef Kühne, Hannover; Gerhard Lingelbach, Jena; Walter Pauly, Jena; Helmut Goerlich, Leipzig; Carola Schulze, Potsdam; Wolfgang März, Rostock; Klaus Grupp, Saarbrücken; Gerhard Robbers, Trier. 48 Anders für die Rechtsgeschichte, die in den letzten Jahren gerne als Verfallsgeschichte dargestellt wird, Regina Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik (1945 – 1990), in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, Frankfurt / Main 1994, S. 12 ff.; differenziert Christof Dipper, Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte, in: ZNR 27 (2005), S. 272 (279 ff.), der zu Recht auf die Problematik der uniquitären Krisen-Rhetorik hinweist.
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schichtlichen Entwicklung erheblich.49 Bei der hier eingenommenen Perspektive aus Sicht der Rechtswissenschaft dient daher die Veränderung dieser Disziplin als Leitlinie. Vier historische Schlaglichter sollen auf dieses Verhältnis geworfen werden: Die wechselseitige Funktion zu Zeiten von Reichsstaatsrecht und Reichshistorie, also im Alten Reich (unter 1.); das Verhältnis zur Zeit der Einführung der normativen Methode im öffentlichen Recht, das heißt die Epoche des staatsrechtlichen Positivismus (unter 2.); die disziplinären Reformen unter dem Nationalsozialismus (unter 3.) und schließlich wieder die Gegenwart (unter 4.). Ich erlaube mir hier einen exemplarischen und in der Sache holzschnittartigen Zugriff.50
1. Altes Reich: Reichshistorie als Instrument der Reichspublizistik
Die Reichshistorie der Frühen Neuzeit – begriffsprägend war hier der Hallenser Johann Peter (von) Ludewig51 – kann als ein Vorläufer moderner Verfassungsgeschichtsschreibung gesehen werden: „Infolge der geringen Entwicklung der Reichsgesetzgebung, die auch in den letzten der großen Reichsgrundgesetze, in dem als solches in das Reichsrecht übernommenen Westfälischen Frieden und in dem darauf aufgebauten Jüngsten Reichsabschied von 1654, alle wesentlichen Fragen unbeantwortet gelassen hatte, war das geltende Staatsrecht des Deutschen Reichs nicht anders zu erfassen, als daß man von Präzedenzfällen ausging und aus ihnen zu ermitteln suchte, was für die Gegenwart Rechtens sei. Selbst in der klassischen Zeit des Vernunft- und Naturrechts war für das deutsche Staatsrecht kein anderer als der geschichtliche Weg gangbar.“52 Der „status imperii“ des Alten Reiches sollte so historisch ermittelt werden: „Indem auf diese Weise, das heißt letztlich aufgrund der spezifischen politischen Situation im reichsständisch-kaiserlichen Deutschland, die juristische Frage nach dem Verfassungszustand des Reichs einer historischen Lösung überantwortet wird, entsteht in der dafür bemühten Reichs-Historie so etwas wie eine frühe Form der Verfassungsgeschichte [ . . . ].“53 Diese Reichshistorie, die sich im
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Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte (FN 14), S. 340 f. Vgl. das oben bereits wiedergegebene Zitat von Böckenförde (FN 6), S. 147 f. 51 Entwurf der Reichs-Historie, 1707; dazu Notker Hammerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972, S. 169 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, S. 302 ff. 52 Fritz Hartung, Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, 1956, Nr. 3), Berlin 1956, S. 4; Hammerstein, Jus und Historie (FN 51), S. 27 ff. 53 Hans Boldt, Verfassungsgeschichte – Bemerkungen zur Historie einer politikwissenschaftlichen Disziplin, in: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte, 50
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18. Jahrhundert ausbildete und als Einleitung in die Darstellung des geltenden Staatsrechts diente, war von der Disziplin der zur philosophischen Fakultät gehörenden allgemeinen Geschichte getrennt. Fritz Hartung spricht von einem „unnatürlichen Graben, den der Universitätsbetrieb in Deutschland zwischen der allgemeinen und der Reichshistorie gezogen hatte“.54 Die Reichshistorie sammelte, ja: instrumentalisierte den historischen Stoff unter einer primär juristischen, seinerzeit gegenwartsbezogenen Fragestellung.55 Die Grenze zwischen der Interpretation geltenden Rechts und historischer Arbeit erscheint aufgehoben56, das Recht historisiert, insofern die Reichsgeschichte das theoretische Fundament des Reichsrechts bildete.57 Vor allem das juristisch relevante Problem, ob die kaiserliche oder die fürstliche Gewalt originär gewesen sei, d. h. letztlich der das Alte Reich prägende Dualismus zwischen Kaiser und Reichsständen, die „GretchenFrage nach dem Träger der Souveränität“58, konnte – wenn überhaupt – nur historisch entschieden werden.59 „Erst mit den eigenen Bearbeitungen der Reichshistorie [ . . . ] gelangten die deutschen Publizisten zu einem anerkannten, auf gesicherten Quellen beruhenden Gesamtbild von der deutschen Verfassungsgeschichte, das der großen Linie nach auch dem Test durch die neuere historische Forschung standhält, und damit ließen sich auch einzelne deutsche Verfassungsprobleme erst gründlicher monographisch behandeln. Je besser der Stoff der Publizisten von der historischen Seite her aufbereitet und erschlossen war, desto eher ließ er sich natürlich nach den Grundsätzen und Begriffen des modernen allgemeinen Staatsrechts organisieren.“60 Diese Funktionalität führte zu einer Abwendung von barocker Historiographie und zu einer Hinwendung zu institutionellen Aspekten – das Erkenntnisinteresse brachte die wissenschaftliche Behandlung voran. Hier wird vor allem Johann Stephan Pütter mit seiner explizit als Hilfswissenschaft für das deutsche Staatsrecht verstandenen Reichshistorie unter dem Titel „Teutsche Reichsgeschichte“ genannt.61 Es versteht sich von selbst, daß die zeitgenössischen Darstellungen des deutschen Staatsrechts reichlich mit historischer Betrachtung befrachtet waren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß der instrumentell-funktioMünchen 1984, S. 119 (127), der auf Vorläufer, „den öffentlichen Rechtszustand in Deutschland historisch festzustellen“ aus dem 17. Jh. hinweist. 54 Hartung, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 52), S. 6. 55 Ebd., S. 4 f. 56 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 44. 57 Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte (FN 14), S. 344. 58 Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 433. 59 Boldt, Bemerkungen zur Historie (FN 7), S. 128 f. 60 Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 89. 61 Ebd., S. 130; Stolleis, Geschichte (FN 51), S. 314 f.
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nale Charakter, der den disziplinären Ausgangspunkt der Verfassungsgeschichte kennzeichnet, wohl nie mehr erreicht werden sollte. Wissenschaftsgeschichtlich mündet die Reichshistorie in die Deutsche Rechtsgeschichte eines Karl Friedrich Eichhorn.62
2. Rechtswissenschaft unter normativer Methodik: Die antiquarische, auf das Mittelalter konzentrierte Verfassungsgeschichte
Die juristische Methode im Staatsrecht entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der sogenannte Gerber-Labandsche Positivismus63, der im Kaiserreich zu voller Blüte erwuchs, um in der Spätphase des Kaiserreichs erste Relativierungen zu erfahren64, wurde im Bereich des Verwaltungsrechts durch Otto Mayer und seine Zeitgenossen vorangetrieben. Dieser Prozeß erfolgte gleichzeitig mit der Loslösung der Rechtsgeschichte von der Verfassungsgeschichte, der Trennung von „innerer“ und „äußerer“ Rechtsgeschichte.65 Das in dieser Weise betriebene Staatsrecht löste sich von seinen historischen Wurzeln66, wurde sozusagen immanent zu interpretieren gesucht. Dies war zugleich Hauptangriffspunkt der zeitgenössischen wie der Kritik der Weimarer Zeit. Laband hat sich dagegen durch Hinweise auf seine frühen (zivil-)rechtsgeschichtlichen Arbeiten und seine Rolle als Politiker in den Reichslanden Elsaß-Lothringen verteidigt; ja, er hat 1907 einen Aufsatz im Jahrbuch des öffentlichen Rechts „Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung“ verfaßt.67 Im Kern ist es jedoch zutreffend, daß sowohl Carl Friedrich von Gerber als auch Paul Laband zunächst als Privatrechtler tätig waren und in dieser Zeit auch historisch gearbeitet hatten; auf dem neuerschlossenen Betätigungsfeld hörte diese Beschäftigung auf, verfassungsgeschichtliche Arbeiten sind nicht geläufig.68 Die Verfassungshistoriker beschäftigten sich in dieser Zeit 62 Hartung, Verfassungsgeschichte (FN 52), S. 8 ff.; Friedrich, Geschichte (FN 60), S. 89; insofern schief Anna Leisner-Egensperger, Historia Magistra des Staatsrechts, Berlin 2004, S. 19. 63 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 330 ff.; Peter von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt / Main 1974; Friedrich, Geschichte (FN 60), S. 222 ff., 235 ff. 64 Vgl. Stefan Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212; Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, Frankfurt / Main 1993. 65 Stolleis, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte (FN 14), S. 345; Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 49. 66 Vgl. – auch für die Verwaltungsrechtswissenschaft – nur Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 142. 67 JöR 1 (1907), S. 1. 68 Böckenförde, Interview (FN 16), S. 3 f.
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vorrangig mit dem Mittelalter.69 Fritz Hartung weist in seinem geschichtlichen Abriß über die Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland darauf hin, daß selbst Georg von Belows Arbeiten in ihrer Thematik kaum über das 16. Jahrhundert hinausreichen.70 Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die praktische Notwendigkeit der historischen Betrachtungsweise war durch ein romantisch-nationalhistorisches Interesse am Gegenstand71 abgelöst worden. Erst der Schweizer Andreas Heusler führte 1905 die Verfassungsgeschichte bis in die Neuzeit, genauer bis zum Ende des Alten Reichs fort.72 Der eigentliche Anstoß ging in dieser Zeit – übrigens gleich unter Einschluß der Verwaltungsgeschichte – von der historisch arbeitenden Staatswissenschaft aus. Über Gustav Schmoller führte dieser Weg zu Otto Hintze.73 Das Parallelphänomen für Privatrecht und Rechtsgeschichte, die Irritation der historischen Teildisziplin durch die Enthistorisierung des geltenden Rechts, stellt für die Zivilrechtsgeschichte das Inkrafttreten des BGB und die dadurch erfolgende Entthronung der historischen Rechtsschule dar.74 Regina Ogorek spricht von der „Historisierung der Rechtsgeschichte“, die letztlich auch „für Glanz und Elend des heutigen Erscheinungsbildes verantwortlich“ sei.75 Hier stellt sich inzwischen jedoch die Frage, ob sich angesichts der Europäisierung des Zivilrechts nicht der Trend umgekehrt habe.76 Für die Weimarer Zeit ist festgestellt worden, daß viele Verfassungshistoriker ihre historiographische Fähigkeit im Sinne einer Problemlösungskompetenz angesichts des aus ihrer Sicht desolaten Zustands des deutschen Staats- und Gemeinwesens einzusetzen suchten.77 Dabei konnte die neuzeitliche Verfassungsentwicklung – nach zeitgenössischem Verständnis als Verfallsgeschichte deutscher Herrschaft seit dem Hochmittelalter gesehen – allenfalls erst wieder mit Bismarck und seiner Reichsgründung positiv her69 Hartung, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 52), S. 19; Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 49. 70 Hartung, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 52), S. 19. 71 Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 433. 72 Aber auch hier lag der Schwerpunkt eindeutig im Mittelalter, vgl. die Bemerkung bei Hartung, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 52), S. 19. 73 Ebd., S. 20 ff.; Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 51 ff. 74 Vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 458 ff.; Klippel, Rechtsgeschichte (FN 9), S. 127 ff.; Dipper, Geschichtswissenschaft (FN 48), S. 280; differenziert Ogorek, Rechtsgeschichte (FN 48), S. 16. 75 Ebd., S. 20. 76 Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 145 f. 77 Anna Lübbe, Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Michael Stolleis / Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 63 (65).
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angezogen werden.78 Die historische Betrachtungsweise wurde von den „Antipositivisten“, die regelmäßig Laband anzugreifen pflegten, reintegriert.79
3. Die Studienreform von 1935: Verfassungsgeschichte als Teil einer „ganzheitlich“ verstandenen Rechtswissenschaft unter ideologischen Vorzeichen
Das jahrzehntelang vergleichsweise unangefochtene juristische Teilfach – oder genauer: die Vorlesung – „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ ist Ergebnis der nationalsozialistischen Studienreform von 1935.80 Nach Erlaß der Reichsjustizausbildungsordnung vom 22. Juli 193481 wurde in den „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft (Studienordnung)“ vom 18. Januar 193582 ein neuer, verbindlicher Studienplan festgelegt. Die Studienreform war zugleich ein entscheidender Schritt zur Institutionalisierung des Fachs Verfassungsgeschichte in der Rechtswissenschaft.83 Es hat den Anschein, daß mit und seit dieser Zeit die Beschäftigung mit dem Fach in der Forschung stärker als zuvor von öffentlichrechtlich ausgerichteten Juristen betrieben wurde: „Die Verfassungsgeschichte, die zuvor im Schatten der Rechtsgeschichte gestanden hatte, etablierte sich Mitte der dreißiger Jahre als juristisches Lehr- und Forschungsgebiet, das dem Öffentlichen Recht zugeordnet wurde.“84
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Ebd., S. 67 ff. Diese Entwicklung kann für die Verwaltungsrechtswissenschaft in Weimar gerade nicht beobachtet werden, vgl. Möllers, Historisches Wissen (FN 6), S. 143. 80 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 215 mit dem Hinweis auf die in diesem Zusammenhang erschienenen und bis in die jüngere Zeit fortgeführten einschlägigen Lehrbücher; zu deren Ideologisierung und späteren Entideologisierung ebd., S. 262 ff.; Kritik bei Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 433: „Seitdem dann 1935 ein ministerieller Ukas erklärt hatte, daß fortan die Verfassungsgeschichte der Neuzeit an den juristischen Fakultäten zu lesen sei, damit den Adepten der Rechtswissenschaft das Geschick des deutschen Volkes näher gebracht würde, gibt es auch viele ,Verfassungsgeschichten der Neuzeit‘ von juristischen Kollegen, die ihre Vorlesungen gern publizieren.“ 81 RGBl. I S. 727; vgl. näher Ina Ebert, Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849 – 1934), Berlin 1995, S. 405 ff. 82 Deutsche Wissenschaft. Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltung der Länder 1935, S. 48. 83 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 167 ff. 84 Ebd., S. 215; vgl. auch Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 433: „Vordem waren es vor allem Historiker und Staatswissenschaftler, die sich der Verfassungsgeschichte angenommen hatten; denn ihr Gegenstand war ursprünglich weniger ein rechtlicher als ein politischer [ . . . ].“ 79
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In Anknüpfung an die „Evaluation“ der vorausgegangenen preußischen Reform von 193185 mit ihrem Ansatz einer breiten Ausbildung konnten neue weltanschauliche Postulate verbunden werden.86 Vorlesungen zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ wurden seit 1931 zumindest an den preußischen Universitäten angeboten. Unter Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust und dem Rechtshistoriker Karl August Eckardt87 wurde im Nationalsozialismus das rechtswissenschaftliche Studium erneut stärker historisch ausgerichtet und zugleich ideologisiert.88 In den Worten Reinhard Höhns: „Bewußt wird in diesen Richtlinien [der Fachgruppe Hochschullehrer des Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen] die Universität als ,Kampfplatz im Ringen um neue Werte‘ bezeichnet. Von diesem Gesichtspunkt allein geht auch die Neuregelung der Studienordnung auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft aus. Sie ist ein Vorläufer für die Erneuerung auf den anderen Studiengebieten. Der Rechtsstudent soll nicht zum Kommentator herangezogen werden, er soll nicht bloßer Handlanger sein, der das technische Werkzeug beherrscht, sondern die Studienordnung will 85 Es verwundert allenfalls auf den ersten Blick, daß die Klagen um 1933 wie auch unter dem NS über die historische Unbildung der Studierenden ubiquitär und austauschbar sind; wüßte man nichts über den zeitlichen Horizont, wären sie ohne weiteres auch heute glaubwürdig; vgl. die bei Grothe wiedergegebenen Klagen: Eckardt, Das Studium der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. Hamburg 1935, S. 39 f.: „Gerade auf historischem Gebiet ist das Unwissen der Studenten am katastrophalsten. Viele wissen z. B. nicht, was der Deutsche Bund ist. Ich habe die tollsten Dinge auf diesem Gebiete erlebt und jeder von Ihnen kann mir diese Wahrnehmung bestätigen.“ Für die Zeit vor 1933 zitiert Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 191, aus einschlägigen Quellen: „In Umfragen über die Erfahrungen mit der Neuregelung zeigten sich erschreckende Ergebnisse im Hinblick auf die Schulbildung der Jurastudenten. Gerade wenn man, wie in der preußischen Studienreform von 1931, auf eine breite Ausbildung Wert legte und ausdrücklich die historischen Kenntnisse der angehenden Juristen fördern wollte, konnte man mit den schulischen Voraussetzungen nicht zufrieden sein. Der Königsberger Dekan Fritz von Hippel wertete die Allgemeinbildung als ,Katastrophe‘ und sprach von einem ,unter jedem geistigen Existenzminimum liegenden Bildungsgrad‘. Sein Münsteraner Kollege Erwin Jacobi konstatierte einen ,Tiefstand der allgemeinen Bildung‘, zumal in der Geschichte [ . . . ].“ 86 Die Kontinuität der Bemühungen um Reformen der Juristenausbildung vor und nach 1933 und im Grunde bis heute betont Ralf Frassek, Steter Tropfen höhlt den Stein – Juristenausbildung im Nationalsozialismus und danach, in: ZRG GA 117 (2000), S. 294 ff. 87 Zu ihm Hermann Nehlsen, In memoriam Karl August Eckardt, in: ZRG GA 104 (1987), S. 497; Martin Niemann, Karl August Eckardt, in: Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich“, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 160. 88 Vgl. insgesamt – ohne näheres Eingehen auf die Stellung der Verfassungsgeschichte – Ralf Frassek, Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren, in: ZRG GA 111 (1994), S. 564; ders., Steter Tropfen (FN 86), S. 294; ders., Juristenausbildung im Nationalsozialismus, in: KJ 2004, S. 85.
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ihm die Möglichkeit geben, ,bei der Erneuerung des Rechts‘ mitzukämpfen.“89 Die neue Funktionalität des Fachs ist eng vor allem mit einer Person verknüpft: Ernst Rudolf Huber.90 Das gilt nicht nur institutionell, sondern auch programmatisch. Huber intervenierte bei Karl August Eckhardt, die Verfassungsgeschichte in die neue Studienordnung aufzunehmen. In der von ihm mitherausgegebenen „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ wird das dahinterstehende Programm deutlich. Unter dem Titel „Die deutsche Staatswissenschaft“91 wird der ganzheitliche Ansatz des Unterfangens erklärt: Die „politische Totalität“ des Staates solle durch die neue „politische Wirklichkeitswissenschaft“ auf der Basis des Volksbegriffs untersucht werden, wozu „als erstes Stück“ die Verfassungsgeschichte gehöre. Die Erforschung der Kräfte und Formen des „vergangenen Seins“ seien auch „für eine gegenwartsnahe Staatswissenschaft unentbehrlich“. Reinhard Höhn sieht die Funktionalität der aufgewerteten historischen Fächer einschließlich der Verfassungsgeschichte darin, den Studenten „in die völkischen Grundlagen der Wissenschaft“ einzuführen.92 Carl Schmitt sekundierte im Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 1936: „Das neue Fach ist nicht als eine aus Teilstücken, zum Beispiel aus der früheren Rechtsgeschichte, der politischen Geschichte, allgemeinen Staatslehre usw. zusammengesetzte, bloße Materienkombination, sondern als eine wissenschaftliche Einheit gedacht. Die Überwindungen der Trennungen und Spezialisierungen, die den rechtswissenschaftlichen Betrieb der letzten Generation kennzeichneten, aber auch die Überwindung der Trennung einer ,rein juristischen‘ von einer ,rein geschichtlichen‘ Betrachtungsweise wird durch diese neue Vorlesung zu einer wichtigen und schwierigen Aufgabe des deutschen Rechtslehrers.“93 Dem liegt der erweiterte in Abgrenzung zu 89 Die neue Studienordnung für Rechtswissenschaft im Rahmen der Universitätsreform, in: Deutsches Recht 5 (1935), S. 51. 90 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 172 ff.; vgl. zuvor bereits ders., Eine „lautlose“ Angelegenheit? Zur Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, in: ZfG 47 (1999), S. 980; dens., Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: ZfG 53 (2005), S. 216. 91 Karl August Eckhardt, Die deutsche Staatswissenschaft, in: ZgStW 95 (1935), S. 1 ff.; zu Hubers Herausgeberschaft näher Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 205 ff.; zur Programmatik in Bezug auf die Verfassungsgeschichte Hartwig Brandt, Ernst Rudolf Hubers „Deutsche Verfassungsgeschichte“. Eine methodologische Betrachtung, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 74 (1987), S. 229 (231 f.). 92 Wie FN 89, S. 51. 93 Carl Schmitt, Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte, in: Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht 3 (1936), S. 10; hier zitiert nach Carl Schmitt,
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dem von Schmitt so genannten „konstitutionalistischen“ Verfassungsbegriff zugrunde, der sich nicht auf Verfassungsurkunden beschränkt, sondern die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht überwindet, die Eigentumsordnung und wichtige zivilrechtliche Institute mit berücksichtigt, das Strafrecht sowie die zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen einbezieht. Angesichts eines sich auflösenden juristischen Verfassungsbegriffs und der Zuwendung zum „Volk“ als Zentralgröße im „Dritten Reich“ fand diese Umorientierung notwendigerweise statt.94 Die skizzierten Postulate waren nur in ihrer nationalsozialistischen Aufladung neu, sie radikalisierten Ansätze aus der Weimarer Zeit. Durch die Etablierung des Fachs im öffentlichen Recht und durch Protagonisten dieser Teildisziplin mußte die Verfassungsgeschichte zwangsläufig in den „Methoden- und Richtungsstreit“ der Staatsrechtslehre geraten, unter dem Nationalsozialismus sich in die inzwischen dominierende „neue“ Richtung einordnen.95 Dieser Methodenwandel und seine Folgen sind eindrücklich von Oliver Lepsius für die Weimarer Staatsrechtslehre dargelegt worden.96 Die konkrete Entstehung des institutionalisierten Faches in diesem Kontext mit der inhaltlichen Konzentration auf den Verfall des Alten Reiches und der Vorgeschichte und Gründung des Bismarck-Reiches ist Hypothek bis heute. Wilhelm Henke bringt dies auf den Punkt: „Das Fach blieb ohne personellen Anschluß an die Geschichtswissenschaft und war von vornherein beschränkt auf die Geschichte des ,modernen Staates‘ vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Lehrbücher wurden nun von Juristen geschrieben, die nicht wie die Vertreter der deutschen und römischen Rechtsgeschichte zugleich Fachhistoriker waren und nicht einmal wie die der alten Reichspublizistik und der späteren Staatswissenschaften vom Gegenstand her auf die Geschichte und auf historisches Denken verwiesen wurden, sondern nur sozusagen mit der linken Hand der Lehre vom positiven Staatsrecht einen historischen Vorspann oder Anhang lose anfügten.“97
Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923 – 1939, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 261. 94 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 216. Klarsichtige Kritik bereits bei Hartung, Verfassungsgeschichtsschreibung (FN 52), S. 41 ff. 95 Grothe, Geschichte und Recht (FN 1), S. 215 f. 96 Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994; eine insofern sehr anschauliche Fallstudie zu dem Verhältnis von Staatsrecht und Verfassungsgeschichte bei einem sich wandelnden Verfassungsbegriff der Staatsrechtslehre bietet Kraus, Verfassungslehre (FN 16). 97 Henke, Republikanische Verfassungsgeschichte (FN 2), S. 76 f.
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4. Die Gegenwart: Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht zwischen der „Einheit der Staatswissenschaften“ und methodologischer Differenz
Befreit man die Motivation der Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte unter dem Nationalsozialismus von ihrem ideologischen Ballast und ersetzt einige Begrifflichkeiten durch modernere Ausdrücke – etwa „lebendige Gestalt des Volkes“ durch „Struktur“, „Gefüge“, „Gruppe“ usw.98 – so scheinen viele der verfolgten Anliegen bis in die Gegenwart virulent zu sein: Vergleichende Perspektiven99, Herausstellen des Modellhaften, Einbeziehung des Realbereichs, Überwindung eines zu eng juristischen Verfassungsbegriffs und einer verengenden disziplinären Betrachtungsweise (heute modern als „Interdisziplinarität“ verkauft), Betonung von dynamischen Entwicklungslinien jenseits statischer Dogmengeschichte – auch das generelle Anliegen, die juristische Ausbildung auf eine breitere, der Gegenwart adäquatere Grundlage zu stellen. Der heutige Versuch einer „Renaissance der Staatswissenschaft“100 verfolgt insofern durchaus wichtige Anliegen101; ihre Ideologieanfälligkeit und ihre methodischen Schwachstellen sollten jedoch stets präsent bleiben. Um auf meinen Ausgangspunkt zurückzukommen: Das Problem stellt nicht die Bespiegelung eines Phänomens durch verschiedene Wissenschaften mit verschiedenen Methoden dar, sondern ein unkontrollierter und vielleicht auch unbewußter Methodensynkretismus. Die wissenschaftliche Spezialisierung ist selbst das Ergebnis eines Differenzierungsprozesses, „der nicht einfach vorher zusammengefügtes willkürlich getrennt hat, sondern in dem neue Fragestellungen und Interessen zu neuen Wissenschaften führten, die nie wirklich jemals integriert gewesen sind. Aus diesem Grunde erscheint auch die mit dieser Klage gelegentlich verbundene Aufforderung zu einer Rückkehr zu den alten Zuständen, sozusagen zu einer ,heilen Welt‘ wissenschaftlicher Einheit und Überschaubarkeit, als problematisch. Hier läßt leicht der Glaube an die frühere Existenz des nie Gewesenen die Schwierigkeiten einer Integration des nicht von ungefähr Disparaten übersehen.“102 Es liegt die Vermutung nahe, daß hier ein 98 Beispiele nach der Untersuchung von Brandt, Methodologische Betrachtung (FN 91), S. 237 f. 99 Immerhin erschien 1936 (!) von Dieter Cunz eine „Europäische Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ als Anleitungsbuch für den akademischen Unterricht. Dieter Cunz, Europäische Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Leipzig 1936. 100 Statt aller nur Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003; in historischer Perspektive Helge Peukert, Das tradierte Konzept der Staatswissenschaft, Berlin 2005. 101 Vgl. in hiesigem Zusammenhang etwa Roland Lhotta, Der Beitrag der Verfassungsgeschichte zur Einheit der Staatswissenschaften, in: ders. u. a. (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, Baden-Baden 1997, S. 163. 102 Boldt, Bemerkungen zur Historie (FN 7), S. 148.
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arbeitsteiliges Zusammenwirken einem integrativen Verständnis überlegen ist.103
IV. Perspektiven Aus dem bisher Ausgeführten folgen Leitlinien für die gegenwärtige Verfassungsgeschichte aus Sicht der Rechtswissenschaft und damit aus den eingangs skizzierten Wechselbezüglichkeiten. Hier müßte im Grunde genauer zwischen Forschungsausrichtungen und der Funktion im akademischen Unterricht unterschieden werden. Dies gilt zumindest für die einführenden Vorlesungen für viele bzw. „alle“ Studierenden einerseits, für aufbauende Lehrveranstaltungen wie Seminare und für Forschungsprogramme andererseits. Es sei gleich eingangs betont, daß die meisten Forderungen weder überraschend noch neu sind, vielfach historische Vorbilder besitzen, was zugleich darauf hindeutet, daß die Verwirklichung im einzelnen, die Umsetzung in die akademische Praxis das eigentliche Problem darstellt.104
1. Der vergleichende Ansatz
Verfassungsgeschichte kann in Forschung wie Lehre nicht mehr vor dem Hintergrund nationalstaatlicher Zentriertheit betrieben werden.105 Die Generalisierung der Verfassungsgeschichte stellt heute eine Selbstverständlichkeit dar und wird in unterschiedlichem Ausmaß auch beachtet106. Miloš 103 Kategorienbildung solcher interdisziplinärer Grundverständnisse nach Oliver Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild? in: JZ 2005, S. 1 (3 f.). 104 Vgl. für den vergleichenden Ansatz etwa Jürgen Kocka, Historische Komparatistik in Deutschland, in: Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka (Hrsg.), Geschichte und Vergleich, Frankfurt / Main 1996, S. 47 ff.; Miloš Vec, Vergleichende Verfassungsgeschichte. Historiographische Perspektiven, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), S. 90 ff. 105 Vgl. nur Dietmar Willoweit, Kapitel einer Europäischen Verfassungsgeschichte, in: Roland Lhotta / Janbernd Oebbecke / Werner Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, BadenBaden 1997, S. 185; explizit noch anders etwa Robert Scheyhing, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Köln, Berlin, Bonn, München 1968, § 5, Rdnr. 19; zur früher einsetzenden Paralleldiskussion in der Rechtsgeschichte Ogorek, Rechtsgeschichte (FN 48), S. 45 ff. 106 An größeren deutschen Darstellungen sind zu erwähnen die posthume Herausgabe des unvollendeten Hauptwerks von Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente (= Palomar Athenaeum 17), hg. von Giuseppe Di Costanzo, Michael Erbe, Wolfgang Neugebauer, Palomar, Calvizzano (NA) 1998, Bd. 1, 1998 (dazu Hans-Christof Kraus, FAZ Nr. 93 vom 22. April 1999, S. 55); Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999;
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Vec hat die „Konjunktur“ der vergleichenden Verfassungsgeschichte mit dem Zusammentreffen von Historiographie, Globalisierung und Nationalstaat erklärt107. Ahnherr des historiographischen Vergleichs ist kein geringerer als Otto Hintze108, für viele der bedeutendste deutsche Verfassungshistoriker.109 Hintze – historisch, aber auch nationalökonomisch und juristische vorgebildet – löste die Spannung zwischen isolierend-historiographischer und systematischer Herangehensweise in seinem Lebensprojekt einer „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten“ wie in seinen heute dominierenden Einzelstudien durch ein typologisches Verfahren.110 Typen bilden Abstraktionen des jeweils Charakteristischen, der Typenbegriff des „modernen Staates“ ist das anschauliche Beispiel. Die Typen werden durch Vergleichung gefunden: „Man kann vergleichen, um ein Allgemeines zu finden, das dem Verglichenen zugrunde liegt; und man kann vergleichen, um den einen der verglichenen Gegenstände in seiner Individualität schärfer zu erfassen und von dem andern abzuheben. Das erstere tut der Soziologe, das zweite der Historiker.“111 Vergleichender Ansatz meint hier nicht lediglich die Voranstellung des wohlfeilen112 Adjektivs „europäische“, sondern einen im Kern vergleichenHans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2000; Vec, Verfassungsgeschichte (FN 104), S. 90 ff.; für eine Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik bzw. des Grundgesetzes Würtenberger, Ansätze (FN 34), S. 129. Zu den historiographischen Problemen allgemein Heinz-Jürgen Haupt, Jürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich, Frankfurt / Main 1996, S. 9. 107 Vec, Verfassungsgeschichte (FN 104), S. 91. 108 Hinweise auf frühere Formen der vergleichenden Historiographie bei Willoweit, Kapitel einer Europäischen Verfassungsgeschichte (FN 105), S. 186; ders., Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Berlin 1991, S. 141 ff. Zu Hintzes vergleichendem Ansatz Gerhard Oestreich, Otto Hintze und die Verwaltungsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Otto Hintze, Regierung und Verwaltung, Gesammelte Abhandlungen zu Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, Bd. 3, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 7* ff.; Richard van Dülmen, Soziologie und vergleichende Verfassungsgeschichte. Zu den gesammelten Abhandlungen Otto Hintzes, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 31 (1968), S. 685 ff.; Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 435; Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten“, in: ZhF 20 (1993), S. 65; Kocka, Historische Komparatistik (FN 104), S. 47. 109 Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 435. 110 Näher Neugebauer, Otto Hinze (FN 108), S. 75 ff.; zu den Grenzen Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (FN 106), S. 19. 111 Otto Hinze, Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie, in: Gerhard Oestreich (Hrsg.), Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, 3. Aufl., Göttingen 1982, S. 239 (251).
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den Ansatz dahingehend, „daß zwei oder mehrere historische Phänomene systematisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden“ untersucht werden, „um auf dieser Grundlage zu ihrer möglichst zuverlässigen Beschreibung und Erklärung wie zu weiterreichenden Aussagen über geschichtliche Handlungen, Erfahrungen, Prozesse und Strukturen zu gelangen“.113 Die Geschichtswissenschaft hat die Vorteile dieser Methode inzwischen herausgestellt – die Verfassungsgeschichte könnte auch aus Stand und Methodendiskussion der Rechtsvergleichung lernen.114 In heuristischer Hinsicht erlaubt der vergleichende Ansatz Fragen zu stellen, die ohne ihn verschüttet blieben; der Vergleich fördert in analytischer Hinsicht die Erklärung des Geschehens; in deskriptiver Hinsicht wird der Erkenntnisgegenstand schärfer faßbar und insgesamt wird die Selbstverständlichkeit des untersuchten Phänomens in eine neues Licht gestellt.115 Der vergleichende Ansatz muß nicht zwangsläufig „gleichberechtigt“ vorgehen; auch ein asymmetrischer Vergleich – wie ihn etwa in ganz anderem Zusammenhang Max Weber pflegte – das heißt die Heranziehung von Außenphänomenen zum besseren Verständnis der eigenen Lage erscheint legitim.116 Vor allem Hans Boldt hat in seinem Ansatz von Verfassungsgeschichte wiederholt darauf hingewiesen, daß in der älteren Politikwissenschaft Ende des 18. Jahrhunderts bereits Verfassungsgeschichte als vergleichende Regierungslehre betrieben wurde.117 Es spielte zu dieser Zeit noch keine Rolle, nur das synchrone zu
112 Deutlich wiederum Vec, Verfassungsgeschichte (FN 104), S. 108: „Umgekehrt zeigt sich, daß vergleichende Verfassungsgeschichte als Disziplin wenig Reiz bietet, wenn sie solche Perspektivenerweiterungen nicht unternimmt und auch transdisziplinäre Arbeit nicht versucht. Der Titel ,vergleichende Verfassungsgeschichte‘ ist dann bloß Teil einer Werbestrategie und signalisiert nicht die erhoffte Verschiebung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.“ 113 Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich, Frankfurt / Main 1996, S. 9; dort auch zu den Abgrenzungen zu transnational, aber nicht vergleichend angelegten Arbeiten sowie zu en passant vorgenommenen Vergleichen. 114 Vgl. etwa mit Bezug auf das öffentliche Recht Rudolf Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: ZaöRV 24 (1964), S. 431; Helmut Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, in: ebd., S. 405; Joseph H. Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, in: ebd., S: 391; Herbert Krüger, Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute, in: Verfassung und Recht in Übersee (1972), S. 5; Ulrich Häfelin, Das soziologische Moment in der rechtsvergleichenden Methode, insbesondere im vergleichenden Verfassungsrecht, in: Recueil des travaux suisses présentés au VIIIe Congrès international de droit comparé, Basel 1970, S. 87; Christian Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, München 1997, S. 12 ff.; Christoph Möllers, Gewaltengliederung (= Jus Publicum, Bd. 141), Tübingen 2005, S. 7 ff. 115 Haupt, Kocka, Historischer Vergleich (FN 106), S. 12 ff. 116 Ebd., S. 15 f.; zur asymmetrischen Rechtsvergleichung siehe Möllers, Gewaltengliederung (FN 114), S. 10.
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vergleichen, durchaus beherzt wurden Verfassungen und Regierungssysteme unterschiedlichster Epochen einander gegenübergestellt.118 Michael Stolleis hat in seinem Referat vor der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur die rechtsvergleichende Orientierung auch und vor allem der Staatsrechtslehre bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigt.119 Von geschichtswissenschaftlicher Seite wurden auch die Folgerungen oder Gefahren des vergleichenden Ansatzes beschrieben: Die Quellennähe muß fast zwangsläufig leiden; die Vergleichsgegenstände müssen isoliert, bis zu einem gewissen Grad aus ihrem Entwicklungszusammenhang gerissen und damit abstrahiert werden: „Wer vergleicht, faßt seine Untersuchungsgegenstände zumindest nicht ausschließlich als Individualitäten, sondern eben als exemplarische Fälle eines Allgemeinen, die sich in gewissen Hinsichten ähneln oder gleichen und in anderen unterscheiden. Der Vergleich bricht Kontinuitäten und unterbricht den Fluß der Erzählung.“120 Die vergleichende Arbeit hängt stärker an theoretischen, systematisch-analytischen Vorannahmen und methodischen Prämissen121 – das muß kein Nachteil sein. Speziell in der vergleichenden Verfassungsgeschichte sollten Untersuchungen zu Rezeptionsvorgängen in Bezug auf Verfassungen erfolgen.
2. Herrschaftsmodelle als Erkenntnisgegenstand
Die zuletzt getroffenen Aussagen lassen sich weiter dahingehend verdichten, daß eine modern betriebene Verfassungsgeschichte als Erkenntnisgegenstand Herrschaftsmodelle haben sollte. Das Abstellen auf den „Staat“ eignet sich nur für einen begrenzten Zeitraum der Verfassungsgeschichte, geht mehr oder weniger implizit von einer Deckung zwischen Staat und Souveränität aus, verhindert die Einbeziehung vor- und nachstaatlicher Phänomene.122 Der alte Streit über den der Verfassungsgeschichte zugrun117 Vgl. nur: Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. München 1990, S. 10 ff. 118 Zum Problem des „zeitversetzten“ Vergleichs heute Haupt, Kocka, Historischer Vergleich (FN 106), S. 25. 119 Michael Stolleis, Nationalität und Internationalität: Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; vgl. allgemeiner auch Dipper, Geschichtswissenschaft (FN 48), S. 283: „Wir Historiker hätten dann vielleicht an erster Stelle zur Kenntnis zu nehmen, daß in der Rechtswissenschaft der internationale Vergleich bereits im 19. Jahrhundert disziplinären Status erhalten hat. Für diese Epoche sprechen die Juristen sogar vom ,Zeitalter der Vergleichung‘.“ 120 Haupt, Kocka, Historischer Vergleich (FN 106), S. 22 f. 121 Kocka, Historische Komparatistik (FN 104), S. 49; Vec, Verfassungsgeschichte (FN 104), S. 95. 122 Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (FN 25), S. 12; ausdrücklich zum Begriff der „Herrschaft“ ebd., S. 15, 19 f.; für die mittelalterliche Geschichte entspre-
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deliegenden Verfassungsbegriff ist damit zumindest teilweise aufgehoben.123 Das dürfte in etwa dem oben bereits wiedergegebenen Verfassungsbegriff entsprechen, den Willoweit seinem Lehrbuch zugrundelegt124 und entspricht auch Kosellecks Anliegen.125 Die Recht, Staat und Verfassung behandelnden Wissenschaften befassen sich mit der Konstitution, Legitimation und Begrenzung von Herrschaft von Menschen über Menschen mittels Rechtsnormen. Diese drei Modi sind aufeinander bezogen. Die aus dem 19. Jh. überkommene, an die deutschen Konstitutionalisierungsprozesse anknüpfende Vorstellung von dem primär begrenzenden Charakter von Verfassungen, eignet sich – wie etwa Dieter Grimm gezeigt hat126 – aus grundsätzlichen Überlegungen nicht als Ausgangspunkt für eine übergreifende Verfassungsgeschichtsschreibung.127 In den Worten Hans Boldts: Die Verfassungsgeschichte beschäftigt sich „mit der Frage nach den Institutionen politischer Steuerung der Gesellschaft, deren Herkunft und Wirkungsweisen“.128 Wolfgang Reinhard bevorzugt demgegenüber den deutschen Begriff der „Gewalt“ (im Titel seines Werkes zu „Staatsgewalt“ ausgebaut) im Sinne von potestas, das heißt von Anwendung von Macht; dieser Begriff eigne sich in seiner sprachlichen Unschärfe deshalb besonders als Leitbegriff einer vergleichenden und übergreifenden Verfassungsgeschichtsschreibung, da er sowohl hoheitliche wie private, institutionalisierte wie offene, chend Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik, Darmstadt 1999, S. 65 ff.; insgesamt umfassend die Analyse bei Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2000. 123 Vgl. statt aller nur die Darstellung und die Nachweise bei Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 3), S. 5 ff. 124 Ebd., S. 2; vgl. implizit auch von der Heydte (FN 6), S. 144 f.: Frage danach, „in welcher Form jeweils Herrschafts- und Gehorsamsverhältnisse begründet wurden“ sowie „welche Leitmotive die Menschen jeweils in dieses – und in kein anderes – Herrschafts- und Gehorsamsverhältnis führten“; von der Heydte fällt dann aber wieder unvermittelt in Staatskategorien zurück. 125 Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (FN 25), S. 11 f., mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, so auch „nachstaatliche“, „überstaatliche“ und „zwischenstaatliche“ Phänomene einbeziehen zu können. 126 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, Frankfurt / Main 1988, S. 12 und durchgehend; ders., Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: AöR 97 (1972), S. 489, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt / Main 1991, S. 313 (319 f.). 127 Für die Staatstheorie ebenso Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? in: EuGRZ (2004), S. 370 (376): „Ich schlage eine Theorie der Herrschaftsformen und ihrer Legitimationsbedürftigkeit vor. Der Gegenstand der Theorie muß auf alle Formen hoheitlichen Handelns erweitert werden, also die Ausübung öffentlicher Gewalt zum Gegenstand haben. An einer Differenzierung der Herrschaftsformen muß die Theorie ausgerichtet sein, nicht an einer Staatsvorstellung, die, wie alle Erfahrung gezeigt hat und die Theorieprobleme des Staatsbegriffs auch für die Zukunft erwarten lassen, auf eine Einheitsvorstellung gerichtet ist.“ 128 Boldt, Vergleichende Regierungslehre (FN 5), S. 443.
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zivile wie kriegerische Handlungsformen umfasse.129 Herrschaft ist nach Max Weber institutionalisierte beziehungsweise politische Macht.130 Insofern geht es hier – wie häufig bei terminologischen Festlegungen – um Zweckmäßigkeitsfragen. Gleichwohl disziplinär von Verfassungsgeschichte zu sprechen legitimiert sich aus dem Bedürfnis nach einem kontrollierten historischen Anachronismus131 wie auch zur Abwehr einer puristischen Übertreibung des Konzepts quellennaher Begrifflichkeit im Sinne Brunners.132 Die synchrone und diachrone Analyse von Herrschaftsmodellen erweist sich so als die zeitlose Formulierung von Verfassungsgeschichte unter weitreichender Hintanstellung zeitgebundener Begrifflichkeiten wie Staat und Verfassung.133 Was in dem Postulat quellennaher Begrifflichkeit aufscheint wird so zum Programm erhoben und jenseits des nur Begrifflichen umzusetzen versucht. Der Vorbildcharakter der römischen Rechtskirche für „staatliche Strukturen“ im Mittelalter134 können so ebenso eingefangen werden wie einschneidende Veränderungen in der Gegenwart, wirkliche oder vermeintliche Auflösung staatlicher Strukturen angesichts von Globalisierung und Supranationalisierung:135 Das Herrschaftsproblem ist zeitlich wie geographisch ubiquitär soweit es um die Ordnung des Zusammenlebens von Menschen geht, es bildet die Folie für das Regelungsprogramm des öffentlichen Rechts bzw. seiner Äquivalente, es ist an Vergemeinschaftungsformen unterhalb (Dorfgemeinschaften; die kommunale Ebene im weiteren Sinn; die administrative Durchdringung des platten Landes, das heißt der Fläche) und oberhalb traditioneller Staatlichkeit (supranationale Verbünde; internationale Kooperationsformen) anschlußfähig. „Herrschaft“ impliziert zudem die Herrschaftspraxis, die sog. Verfassungswirklichkeit.136 „Herrschaft“ als Bezugspunkt vermeidet vorschnelle 129
Reinhardt, Geschichte der Staatsgewalt (FN 106), S. 16 f. Vgl. etwa auch Brunner, Geschichte von Verfassung und Recht (FN 4), S. 3 f. 131 Auf die notwendige Zeitbedingtheit jeglicher Fragestellung weist auch Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 3), S. 8, in seinen methodischen Vorüberlegungen hin; vgl. auch Wolfgang Reinhard, „Staat machen“. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (1998), S. 99 (100 f.); Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (FN 25), S. 13, für seinen begriffsgeschichtlichen Ansatz. 132 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (FN 106), S. 18. 133 Vgl. in etwas anderem Zusammenhang auch Hasso Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung, in: JZ (1999), S. 1065. 134 Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: JZ (2002), S. 1; Wolfgang Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischer Kulturen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 115 (118 ff.). 135 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (FN 106), S. 509 ff. 136 Goetz, Mediävistik (FN 122), S. 65 f.; Lepsius, Rechtsgeschichte (FN 4), S. 307, weißt darauf hin, daß die Rechtshistoriker wegen des ihnen von vornherein bewußten Spannungsverhältnisses zwischen Theorie und Praxis, zwischen Sein und Sollen 130
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begriffliche Dichotomien und Ausgrenzungen, geht eher inklusiv vor.137 Die ohnehin erst neuzeitliche und nicht allen Rechtskreisen in gleicher Weise inhärente Dichotomie von öffentlichem Recht und Privatrecht und damit private wie hoheitliche Herrschaftsformen und -mittel können damit ebenso durch die Epochen hindurch eingefangen werden wie Staatengrenzen überschreitende Interaktionen. Ein Vorteil ist darüber hinaus, daß auch die ohnehin künstliche und wiederum zeitabhängige Grenze zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aufgehoben wäre.
3. Relativierung überkommener Epochengrenzen, Vermeidung einer Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
Die Forderung nach einer Ausweitung über den mit der Studienreform von 1935 angepeilten Zeithorizont, der entweder im 16. Jahrhundert mit der Ausbildung des „modernen Staates“ einsetzt oder gar erst mit den Jahren 1789 / 1806 / 1815, dient nicht nur der Überwindung „problematischer Zäsurjahre“138, sondern soll in der Sache das seit Otto Brunner obsolete Trennungsdenken der Isolierung von Wirtschafts-, Sozial-, Strafrechts-, Zivilrechts-, Kirchen-, Mentalitäts- und Institutionengeschichte überwinden.139 „Die Verfassungsgeschichte ,seit den Anfängen‘ gewinnt an Boden zurück (Boldt, Willoweit).“140 Das Herausstellen des Vergleichs von Herrschaftsmodellen verbietet von vornherein feste zeitliche Zäsuren; solche wären dann mehr durch Aspekte der Praktikabilität geprägt. Die Renaissance der Würdigung der Architektur des Alten Reichs angesichts der mit „modernen“ staatsrechtlichen Kategorien kaum mehr faßbaren Europäischen Integration ist infoern nur ein prominentes Beispiel.141 Inwieweit allerdings die klassische Antike einzubeziehen ist – wie dies etwa 1984 Henke forderte142 – steht noch auf einem anderen Blatt.
dazu prädestiniert sind, Vollzugsdefizite und Durchsetzungsprobleme zu erkennen und zu analysieren. 137 Lepsius, Theorie des Staates? (FN 127), S. 376 f. 138 Würtenberger, Ansätze (FN 34), S. 128; Ogorek, Rechtsgeschichte (FN 48), S. 72, spricht in Bezug auf die Reform von 1935 von einer „ahistorischen Persiodisierung“. 139 Vgl. etwa Heinz Duchardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495 – 1806, Stuttgart 1991, S. 7. 140 Ogorek, Rechtsgeschichte (FN 48), S. 72 f. 141 Vec, Verfassungsgeschichte (FN 104), S. 98 f.; insgesamt Michael Stolleis, Vom Nutzen der Historie vor 1806, in: JuS (1989), S. 871. 142 Henke, Verfassungsgeschichte (FN 2), S. 81.
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4. Verhältnis zur Verwaltungsgeschichte und zur allgemeinen Rechtsgeschichte
„Verwaltung“ ist die Durchsetzung von Herrschaft nach innen und nach unten, die Umsetzung der – in der Moderne – in Rechtsnormen gegossenen politischen Leitentscheidungen auf den Einzelfall, dem einzelnen Untertan oder Bürger gegenüber. Erst in der Durchdringung des Gemeinwesens durch Verwaltung bewährt sich die Herrschaft. Insofern enthält die Verfassungsgeschichte „immer auch ein Stück Verwaltungsgeschichte“:143 „Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte“.144 Schon Otto Hintze hatte eine einseitige Perspektive aus Sicht der Regierenden verworfen: „Wer das Preußen des 18. Jahrhunderts und seine Verwaltung verstehen will, darf sich nicht damit begnügen, seine Stellung im Zentrum zu nehmen; er muß zugleich auch dem provinzialen Standpunkt sein Recht widerfahren lassen.“145 Der äußeren wird die innere „Staatsbildung“ gleichwertig zur Seite gestellt. Geschult nicht zuletzt durch Gustav Schmoller ist der entwicklungsgeschichtliche, sozial- und institutionengeschichtliche Aspekte umfassende Zugriff der Schlüssel der gleichberechtigten Einbeziehung von verwaltungsgeschichtlichen Fragestellungen.146 Der Europäisierung der Verfassungs- müßte konsequenterweise die Europäisierung der Verwaltungsgeschichte folgen.147 Das Verhältnis zur Rechtsgeschichte ist institutionell und inhaltlich zu bestimmen. Durch den auch hier vertretenen weiten Gegenstand der Verfassungsgeschichte werden die Grenzen zur traditionellen Rechtsgeschichte zwangsläufig fließend: „Die Aussonderung des Strafrechts aus der Verfassungsgeschichte ist selber ein Produkt der neuzeitlichen Staatsverfassung, die die Gerichtshoheit in sich aufhebt, um das Strafrecht instanzmäßig, bei relativ unabhängiger Justiz, zu verselbständigen. Die Gewaltenteilung im Zuge der Transformation der absoluten Monarchien und der ihr innewohnenden ständischen Gesellschaft in den modernen Verfassungsstaat läßt sich nur thematisieren, wenn auch das ,Strafrecht‘ als Element einer Verfas143 Frotscher, Pieroth, Verfassungsgeschichte (FN 4), § 1, Rdnr. 4; dem Anspruch nach auch Huber, Forschung und Lehre (FN 9), S. 12. 144 So der programmatische Titel bei Joachim Eibach, in: ders. / Günther Lottes (Hrsg.), Kompaß der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 142. 145 Zitat nach Oestreich, Otto Hinze (FN 108), S. 10*. 146 Eibach, Verfassungsgeschichte (FN 144), S. 144; vgl. auch Roland Lhotta, Der Beitrag der Verfassungsgeschichte zur Einheit der Staatswissenschaften, in: ders. / Janbernd Oebbecke / Werner Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, Baden-Baden 1997, S. 163 (176); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft, in: Werner Conze (Hrsg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 38 (39). 147 Vgl. Gerhard Robbers, Europäische Verwaltungsgeschichte, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Berlin 1991, S. 153 ff.
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sungsgeschichte definitorisch einbezogen werden kann.“148 Diese Feststellungen Kosellecks zur Aussonderung besonderer Rechtsgebiete könnte auf andere Bereiche übertragen werden, wie etwa das Handelsrecht. Das bedeutet: Die Abgrenzung bzw. die Einbeziehung zur historischen Analyse anderer Rechtsbereiche ist wiederum zeit- und epochenabhängig. Aufgabe der Verfassungsgeschichte ist es insoweit, nicht vorschnell durch Ausgrenzung die Entwicklungslinien aus der eigenen Betrachtung auszuscheiden.149
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Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (FN 25), S. 9. Vgl. auch Böckenförde, Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft (FN 146), S. 38 ff. 149
Forschungsaufgaben, Probleme und Methoden einer europäischen Verfassungsgeschichte1 Von Ulrike Müßig, Passau I. Forschungsaufgaben 1. Kulturalistischer Verfassungsbegriff
Der Humanist Elio Antonio de Nebrija2 rühmt in der Widmung seiner Gramática de la lengua castellana (1492) an Königin Isabella I. „die Sprache [als] . . . ein Instrument der Herrschaft.“3 Gut einhundert Jahre davor liegt das Beispiel Englands im hundertjährigen Krieg gegen Frankreich: Die englischen Bogenschützen waren die Speerspitze gegen die französische Ritterschaft, so daß Englisch auch die Sprache der Offiziere wurde. Auch das Parlament wird erstmals 1363 in englischer Sprache eröffnet. Gut einhundert Jahre danach liegt die Gründung der Académie française 1635 durch Richelieu, der durch eine sprachliche Homogenität der französischen Eliten auch die innere Einheit des französischen Staates fördern will. Zahlreiche andere Beispiele ließen sich noch dafür anführen, daß Rechtsgeschichte ein Teil der Kulturgeschichte ist.4 Übertragen auf die Verfassungsgeschichte als rechtshistorische Teildisziplin, ergibt sich daraus folgende (kulturalistische) Präzisierung des For1 Überarbeiteter Vortrag vor der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 29. März 2006. Ausdrücklich hingewiesen wird auf den ähnlichen Titel „Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte“ meines akademischen Lehrers Dietmar Willoweit in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsund Verfassungsgeschichte, Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, S. 141 – 151. Publiziert habe ich bis 2005 unter dem Mädchennamen Seif, ab 2006 unter dem Ehenamen Müßig. 2 Antonio Martínez de Cala, 1441 – 1522; teilweise findet sich auch die Schreibweise Antonio de Lebrija. 3 Hrsg. von Ignacio González-Llubera, Madrid 1926, S. 3 ff., zit. nach Horst Rabe, Die iberischen Staaten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 1979, S. 587. 4 Helmut Coing, Vorbemerkungen zum Europäischen Privatrecht, München 1985, S. 1; ders., Das Recht als Element der europäischen Kultur, in: HZ 238 (1983), S. 1, 4; vgl. auch den von Karl Kroeschell und Albrecht Cordes herausgegebenen Band Funktion und Form, Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Berlin 1996.
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schungsgegenstandes: Es geht um die verfassungsbildenden Ordnungsprozesse Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung, nicht um Verfassungstexte im Unterschied zur Verfassungswirklichkeit.5 Verfassung ist damit ein im Ringen um Ordnungsideen zustande kommender Ausdruck politischer Kultur6: „Konflikt bringt Verfassung hervor.“7 Politische Kultur ist dabei die Gesamtheit der für die Zeitgenossen selbstverständlich maßgebenden politischen Denk-, Rede- und Verhaltensmuster. Als prozessuales Ergebnis dieser Muster ist politische Kultur flexibel und wandelbar. Daraus ergibt sich mit Dieter Grimm ein prononciert evolutionäres Verfassungsverständnis als „Ergebnis des Zusammenspiels von Verfassungstext, gesellschaftlichem Kontext, politischer Praxis und Verfassungsinterpretation“.8 Nicht nur die Verfassung, sondern auch die von ihr konstituierte Staatsgewalt im Sinne von Herrschaft9 und deren rechtlicher Verfaßtheit ist ein
5 Vgl. ähnlich schon Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 119 ff., 124, mit dem Appell zur methodischen Erarbeitung der materialen – soziologischen und teleologischen – Gehalte, die Voraussetzung und Gegenstand juristischer Normen sind. 6 Vgl. auch Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen (1862), Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2: Die Verfassungsreden. Das Arbeiterprogramm und die anschließenden Verteidigungsreden, Berlin 1919, ND 1967, S. 57 f.: „Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht.“ Max Weber rezipiert Lassalles Verfassungsverständnis (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, Erster Teil, Kapitel 1, § 13, S. 27) und formuliert als soziologischen Verfassungsbegriff die „Art der faktischen, die Möglichkeit, das Gemeinschaftshandeln durch Anordnungen zu beeinflussen, bestimmenden Machtverteilung in einem Gemeinwesen.“ (Zweiter Teil, Kapitel I § 3, S. 194). 7 Ulrike Müßig, Konflikt und Verfassung, in: dies. (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, Tübingen 2006, S. 1 ff. 8 Dieter Grimm, Gewaltengefüge, Konfliktpotential und Reichsgericht in der Paulskirchenverfassung unter besonderer Berücksichtigung des Reichsgerichts, in: Müßig, Konflikt (FN 7), S. 257 ff. 9 Anders als Wolfgang Reinhard (Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl., München 2002, S. 17) impliziert, sind die Begriffe Macht und Herrschaft nicht deckungsgleich. Dank der Anregungen in der Diskussion in Hofgeismar können die meinem Beitrag zugrundeliegenden terminologischen Unterschiede klargestellt werden: Nach der klassischen Definition von Max Weber ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“, Herrschaft dagegen „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“, vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 6), Erster Teil, Kapitel I § 16, S. 28. Auch die etymologischen Grundlagen lassen den Unterschied zwischen beiden Begriffen erkennen: „Macht“ bedeutet „Kraft“ und hängt mit „Können, Vermögen“ zusammen (Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin 2002, S. 587), beschreibt also die rein tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit von Personen
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Konstrukt der politischen Kultur. Auch die Staatsgewalt ist abhängig von Denkweisen und Anschauungen im Burkhardtschen Sinn: Herrschaft funktioniert nur bei Zustimmung der Beherrschten. Schon der von Polybios vorgedachte Verfassungskreislauf geht davon aus, daß die „Verfaßtheiten“ (politeiai) der Monarchie, Aristokratie und Demokratie entarten, wo die Akzeptanz von Herrschaft fehlt oder verspielt wird.10 Auch Humes Variationen der Idee eines Machtgleichgewichts in den Essays and Treatises on Several Subjects (1758) sehen die Staatsgewalt in Abhängigkeit vom Glauben der Untertanen und den politischen Eliten an ihre Nützlichkeit und Legitimität. In Luhmanns Systemstheorie ist Staatsgewalt ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“.11 Für das kulturalistische Herrschaftsverständnis bietet sich die Gesetzgebung12 als Illustrationsbeispiel an: Unabhängig von den Norminhalten und Kräften. „Herrschaft“ hingegen entstammt dem althochdeutschen „hêrscaft“ und geht auf das Adjektiv „hêr“ mit der Bedeutung „hehr, erhaben, durch Alter ehrwürdig, grau“ zurück, bezeichnet also ursprünglich auf der Würde des Alters beruhende Vornehmheit. Eine Beziehung zu „Herr“ wurde erst in späterer Zeit hergestellt, vgl. Karl Kroeschell, Art. Herrschaft, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 105 f. Mit dieser sprachlichen Differenzierung stimmt es überein, Macht als ein gesellschaftliches Phänomen zu betrachten, das rein tatsächlich auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens zu beobachten ist. Macht hat man nur in bezug auf andere. Da Macht eine zentrale Form der Vergesellschaftung darstellt, erscheint sie zugleich als ubiquitäres Phänomen von Gesellschaften (Peter Imbusch, Macht und Herrschaft in der Diskussion, in: ders., Macht und Herrschaft, Opladen 1998, S. 9, 13). Durch die Institutionalisierung von Macht gelangt man zu Herrschaft (Heinrich Popitz, Prozesse der Machtbildung, 3. Aufl., Tübingen 1976, S. 232 ff. unterscheidet fünf Stufen dieser Entwicklung). Herrschaft ist demnach die institutionalisierte Machtausübung in Form sozialer Über- und Unterordnung. Während Macht zunächst wertneutral ist, bedarf Herrschaft, da auf Vornehmheit zurückgehend, stets einer Legitimation, vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 6), Erster Teil, Kapitel III § 1. Herrschaft stellt sich demnach als institutionalisierte Durchsetzbarkeit des eigenen Willens innerhalb eines sozialen Über- / Unterordnungsgefüges dar. Ausgangspunkt jeder Herrschaft ist das Anwachsen der Macht einer Person oder eines abgrenzbaren Personenkreises („Machtkonzentration“). Wird diese Macht nun kanalisiert und in staatlichen Herrschaftsstrukturen gebündelt, so kommt es zu Staatsbildungsprozessen, die mit der zunehmenden „Entpersonalisierung“ der Machtverhältnisse einhergehen. An die Stelle des ad-hoc-Befehles treten Normen und Gesetze. Die Eigenart staatlicher Herrschaft liegt nicht zuletzt in der erfolgreichen Durchsetzung von Monopolisierungsansprüchen, die sich auf die drei klassischen Normfunktionen erstrecken: Normsetzung, Rechtsprechung und Normdurchsetzung. Voraussetzung dafür ist die Ausschaltung („Entmachtung“) konkurrierender Mächte, seien sie regionaler oder sektoraler Art (Popitz [wie oben], S. 255 ff.). 10 Zit. nach Kurt von Fritz, The Theory of Mixed Constitution in Antiquity: A Critical Analysis of Polybios’ Political Ideas, New York 1954, S. 10 f. 11 Niklas Luhmann, Macht, 3. Aufl., Stuttgart 2003, S. 4 ff. 12 Vgl. dazu Lothar Schilling, Gesetzgebung als Kommunikation, in: FS Johannes Kunisch: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas, hrsg. von Helmut Neuhaus / Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2002, S. 133, 134 ff.
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waren der Erlaß und die Verkündung von Gesetzen die geeigneten Momente, Herrschaft sichtbar und erfahrbar zu machen. Neben der Demonstration seiner Ordnung stiftenden und bewahrenden Obrigkeit war die Rechtssetzung für den Monarchen „repraesentatio maiestatis“.13 Gerade auch die Forschung14 zu den französischen ordonnances de réformation (Orléans 156015; Roussillon 156316; Moulins 156617; Blois 157918) betont den Aspekt der Kommunikation von Herrschaft: Durch die Umsetzung der in den cahiers des doléances vorgetragenen Bitten der Untertanen stellt der Monarch die Integrationskraft des Gemeinwesens unter Beweis (familiarité des Königs)19 und kommuniziert seine Autorität: „communiquer son autorité à ses subjects“.20 Dieses kulturalistische Verfassungs- und Herrschaftsverständnis ist für den deutschen Verfassungshistoriker noch neu. Angelsächsischem oder französischem Staatsdenken ist die Abhängigkeit des Staates von der politischen Kultur eher vertraut, da dort der Staat im Kontext des Parlamentarismus gewöhnlich als Produkt von Gesellschaft und ihren Gruppen angesehen wird. Dies zeigt auch schon die sprachliche Synonymität von Staat (state, l’état) und „république“, „nation / nation“, „country“. Im deutschen Diskurs dagegen scheint immer noch die hegelianische Staatsapotheose 13 Vgl. die ersten Worte des Prooemiums der Institutionen: „Imperatoriam maiestatem non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet armatam“, zit. nach CIC, hrsg. von Okko Behrends / Rolf Knütel / Berthold Kupisch / Hans Hermann Seiler, Bd. 1: Institutionen, Heidelberg 1997, S. XIII. Vgl. auch Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa: 1100 – 1500; zur Entstehung der Territorialstaaten, 2. Aufl., München 1996, S. 3. 14 Statt vieler François Seignalet-Mauhourat, La valeur juridique des préambules des ordonnances royales, RHD 84 (2006), S. 229 ff. 15 Ordonnance générale rendue sur les plaintes, doléances et remontrances des états assemblés à Orléans, Januar 1560, zit. in: Alfred Jourdan / Décrusy / FrançoisAndré Isambert, Recueil Général des Anciennes Lois Françaises depuis l’an 420 jusqu’à la révolution de 1789, T. XIV, Paris 1829, ND 1964, S. 63 ff. 16 Ordonnance sur la justice et la police du royaume, additionelle à cette d’Orléans, appelé de Roussillon, Januar 1563, zit. in: Jourdan / Décrusy / Isambert, Recueil Général (FN 15), S. 160 ff. 17 Ordonnance sur la réforme de la justice, Ordonnance de Moulins, Februar 1566, zit. in: Jourdan / Décrusy / Isambert, Recueil Général (FN 15), S. 207. 18 Ordonnance rendue sur les plaintes et doléances des états-généraux assemblés à Blois en novembre 1576, relativement à la police générale du royaume, dite de Blois, Mai 1579, zit. in: Jourdan / Décrusy / Isambert, Recueil Général (FN 15), S. 380 ff. 19 Michel de L’Hospital, Discours pour la majorité de Charles IX et trois autres discours, hrsg. von Robert Descimon, Genf 1993, S. 69 ff., 74 (Rede vom 13. Dezember 1560). 20 Charlemagne Lalourcé / Duval, Recueil de pièces originales et authentiques concernant la tenue des États généraux, 9 Bde., Paris 1789, Bd. 1, Nr. 12, S. 76 ff., 78 (Rede des Erzbischofs von Vienne, Charles de Marillac, gehalten vor der Notablenversammlung in Fontainebleau am 23. August 1560).
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auf21, die den (Obrigkeits-)Staat als ein von den gesellschaftlichen Kräften unabhängiges Konkret-Allgemeines versteht (Ernst Forsthoff22): Die Rede ist vom „Vater Staat“23, vom „Staat als Individuum“.24
2. Verfassungsgeschichte als Bewegungsgeschichte
Versteht man Verfassung auch als Produkt der politischen Kultur, verschiebt sich aufgrund der Prozeßhaftigkeit von Kultur auch die Perspektive der Verfassungsgeschichte: Verfassungsgeschichte wird zur Bewegungsgeschichte.25 Dies gilt besonders für die Verfassungsbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts, auch wenn die Forschung noch gewohnt ist, den normativen Verfassungsbegriff als revolutionäre Errungenschaft zu denken. Dies liegt auch nahe, da die revolutionären Umbrüche in Amerika und Frankreich es erst ermöglicht haben, politische Herrschaft in einem allen anderen Rechtsnormen übergeordneten Gesetz umfassend und einheitlich zu regeln. Die besseren Gründe sprechen jedoch für ein Umdenken in evolutionären Entwicklungen statt revolutionären Zäsuren. Zum ersten sind hier die Kontinuitäten der Verfassungsformulierungen mit vorrevolutionären Forderungen zu nennen. Einzeluntersuchungen zu Entwicklungslinien zwischen den cahiers des doléances und den französischen Verfassungen liefern für Teilbereiche schon die Quellenbasis.26 Kontinuität in der Terminologie zeigt beispielweise auch das natürliche Staatsrecht.27 Denn als politische Spra21 Georg Iggers, Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft: Ein internationaler Vergleich, München 1978, S. 17. 22 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. 23 Vgl. Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 460 f. 24 Leopold von Ranke, Politisches Gespräch, in: Sämtliche Werke Bd. 49 / 50, hrsg. von Alfred Dove, Leipzig 1887, S. 44 = unveränd. ND der Ausgabe Berlin 1924, mit einer Einführung von Friedrich Meinecke, Berlin 2005, S. 328. 25 Rainer Wahl, Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte, in: Müßig, Konflikt (FN 7), S. 197 ff. 26 Ulrike Seif, Recht und Justizhoheit, Berlin 2003, S. 133 ff.; vgl. dazu auch Filippo Ranieri, ZRG GA 122 (2005), 815 – 821; Stanislaw Salmonowicz, RHD 81 (2003), 380 f. Vgl. auch Ulrike Müßig, Recht und Justizhoheit, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 133 ff. 27 Z. B. Christoph Friedrich Cotta, Einleitung in das natürliche Staatsrecht, mit Anwendung auf das Reich und teutsche Staten, [Diss. iur. Tübingen] 1786; [Georg Wilhelm von Eggers], Versuch eines systematischen Lehrbuchs des natürlichen Staatsrechts, Altona 1790; Karl Heinrich Heydenreich, Grundsätze des natürlichen Staatsrechts und seiner Anwendung [ . . . ], 2 Tle., Leipzig 1795; Johann Philipp Achilles Leisler, Natürliches Staatsrecht, Frankfurt a. M. 1806; Theodor Anton Heinrich von Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, Königsberg 1794. Das natürliche Staatsrecht ist der Teil des Naturrechts des 18. Jahrhunderts, der sich auf die Staatsverfassung bezieht (Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, S. 268 ff.).
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che und Verständigungsmedium der juristischen Elite Deutschlands im 18. Jahrhundert hatte es die spezifisch politische Funktion, ständische Verfassungsstrukturen naturrechtlich umzudeuten, indem es für die Brauchbarkeit und Güte des vorhandenen Rechts Maßstab war.28 Zum zweiten spricht für ein evolutionäres Verständnis selbst der Verfassungen im modernen Sinn die für 1787 und 1791 grundlegende Verbindung juristischer und politischer Argumentation. Als rechtliche Fixierung der politischen Ordnung konstituiert die Verfassung die gesellschaftliche Kopplung von Recht und Politik: „Der theoretische Grund für die evolutionäre Errungenschaft ,Verfassung‘“ – so vernehmen wir Niklas Luhmann29 – „liegt in der Notwendigkeit einer strukturellen Kopplung von Recht und Politik und in der Benutzung des Kopplungsmechanismus zur Enttautologisierung der Selbstreferenz der beiden Systeme.“ Beispielhaft für das evolutionäre Verständnis der Verbindung zwischen juristischer und politischer Argumentation ist die Durchsetzung der englischen Parlamentssouveränität 1689.30 Ihr Ausgangspunkt liegt im Selbstverständnis des Parlaments als Schiedsrichter zwischen den Rechten der Untertanen und der königlichen Prärogative. Die Schlichtungsfunktion politischer Gewalt (adjustment) ist der Kern der dem englischen Staatsverständnis immanenten Idee des common law31 und der grundsätzlichen Rechtsbindung königlicher Gewalt.32 28 „Probirstein jedes positiven Staatsrechts“, so Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 211; weitere Nachweise bei: Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 191. Das natürliche Staatsrecht liefert Hinweise für die recht- und zweckmäßige Einrichtung des Staates, insbesondere für eine sinnvolle Gesetzgebung (dazu Diethelm Klippel, Die Philosophie der Gesetzgebung. Naturrecht und Rechtsphilosophie als Gesetzgebungswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Barbara Dölemeyer / ders. [Hrsg.], Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 225 – 247), und dementsprechend lag es nahe, Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht als subsidiär geltende Rechtsquelle „in Praxi forensi“ zu verstehen, wenn „die Gesetze schweigen, oder nach der Billigkeit zu temperiren seyn“ (Adam Friedrich Glafey, Recht der Vernunfft, so wohl unter einzelnen Menschen als ganzen Völkern, 2. Aufl., Frankfurt und Leipzig 1732, S. 5 (Randglosse): „. . . in Praxi forensi . . . Weil es [d. h. das Naturrecht] in Subsidium in foro civili gelten muß. Das ist: Wann die Gesetze schweigen, oder nach der Billigkeit zu temperiren seyn.“ Ebd., S. 6: ein Jurist müsse daher „diejenigen Dinge, welche aus dem vernünfftigem Rechte in die Civil-Gesetze unvollkommen, oder allzu general eingeflossen, aus dem Jure naturae ergäntzen und restringiren“). 29 Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176 ff., 210; vgl. auch ebd., S. 202: „Die Neuheit des Verfassungskonzeptes des 18. Jahrhunderts liegt darin, daß die Verfassung eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechtssystems ermöglicht.“ 30 Ulrike Müßig, Englische Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts, in: Müßig, Konflikt (FN 7), S. 37 ff. 31 Vgl. zur common law-Konzeption des Primats des Rechts (supremacy of law): Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 174 ff.
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Das Parlament ist keine Institution zur Ausschaltung der königlichen Prärogative, sondern ein Forum des politischen Ausgleichs zwischen monarchischer Prärogative und den im common law gesicherten Rechten der Untertanen.33 Das Gesetz (statute) dient dem Wohl des Königs, des Untertans und des ganzen Commonwealth.34 Ausgehend von diesem Balance-Gedanken hat das englische Parlament im Verfassungsstreit mit den Stuarts ab 1642 niemals in Anspruch genommen, das königliche Veto im Gesetzgebungsverfahren zu überstimmen und damit eine der Rousseauschen volonté générale entsprechende Volkssouveränität einzuführen. Auch die Verpflichtung des Königs im Krönungseid, den vom Volk vorgeschlagenen Gesetzen („leges quas vulgus elegerit“) zuzustimmen35, geht vom königlichen Veto im Gesetzgebungsverfahren aus. Das Parlament hat vielmehr für sich beansprucht, oberstes common law-Gericht zu sein.36 Die Gerichtsfunktion ist maßgeblich für den Souveränitätsanspruch des Parlaments ab dem 17. Jahrhundert, da der Monarch gegen Gesetzesbeschlüsse, nicht aber gegen Urteile sein Veto einlegen konnte.37 32
Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 181 ff. Zum common law als Sicherung der Rechte der Untertanen vgl. Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 181 ff. 34 Margaret Atwood Judson, The Crisis of the Constitution, An Essay in constitutional and political thought in England 1603 – 1645, New Brunswick (N. J.) 1949, S. 77. 35 Edward Husbands (Hrsg.), An exact collection of all remonstrances, declarations, votes, orders, ordinances, proclamations, petitions, messages, answers and other remarkable passages between the King’s most excellent majesty and his high court of parliament, London 1643, S. 269. 36 „The High Court of Parliament is . . . a court of judicature, enabled by the laws to adjudge and determine the rights and liberties of the kingdom, against such patents and grants of His Majesty as are prejudicial thereunto, although strengthened both by his personal command and by his Proclamation under the Great Seal.“ (Declaration of the Houses in Defence of the Militia Ordinance vom 6. Juni 1642, zit. in: Samuel Rawson Gardiner [Hrsg.], The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625 – 1660, 3. Aufl., Oxford 1906, Nr. 54, S. 254, 255 f.). Vgl. auch The Votes of the Houses for Raising an Army vom 12. Juli 1642, zit. ebd., Nr. 56, S. 261. 37 „ . . . for that, by the constitution and policy of this kingdom, the King by his Proclamation cannot declare the law contrary to the judgement and resolution of any of the inferior courts of justice, much les against the High Court of Parliament.“ (Declaration of the Houses in Defence of the Militia Ordinance vom 6. Juni 1642, zit. in: Gardiner, Constitutional Documents (FN 36), Nr. 54, S. 254, 255 f.). Vgl. auch The Votes of the Houses for Raising an Army vom 12. Juli 1642, zit. in: Gardiner, Constitutional Documents (FN 36), Nr. 56, S. 261. Auch diese politische Position des Parlaments 1642 wurde vom Parlamentarier Charles Herle (1598 – 1659) mit dem Status des Parlaments als oberstes (Berufungs-)Gericht begründet: „his Majesty often professeth himself no lawyer, therfore in law he judgeth not, but by his courts, in the meanest of which the sentence passed stands good in law, though the king by proclamation or in person should oppose it: whereas there is nothing more frequent or proper to parliaments, than to reverse any of [the courts’] judgements.“ (Charles Herle, A 33
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Schließlich (zum dritten) zeigt sich der evolutionäre Charakter der Verfassungsgeschichte besonders auch in den Verfassungskonflikten des 19. Jahrhunderts, die Gegenstand meiner 2006 herausgegebenen Forschungen zu Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt sind:38 Auch Monarch und Volksvertretung sind bloße begriffliche Konstruktionen im Ringen um Ordnungsideen, weniger beeinflußt von einer zweipoligen Verfassungskonstellation als vielmehr von der Konfliktmentalität der Kontrahenten.39
3. Erfordernis verfassungsgeschichtlicher Komparatistik
Der genannte Perspektivenwechsel von der Verfassungsgeschichte als statischer Institutionengeschichte zur prozeßgeprägten Bewegungsgeschichte erfordert eine vergleichende Verfassungsgeschichte. Fundierte wissenschaftliche Aussagen über die Entstehung der Staatsgewalt und über die Prozeßhaftigkeit der Ordnungsprozesse lassen sich nur durch ein vom nationalen Inhalt abstrahiertes vergleichendes Arbeiten gewinnen40: Erforderlich ist also zum einen eine vergleichende Untersuchung möglichst vieler Staaten und zum anderen ein Übersetzen der Vergleichsergebnisse in Allgemeinbegriffe41, in „europäische Grundmuster“.42 Die „neue Vernunft des fuller answer to a treatise written by Doktor Ferne, London 1642, S. 15); vgl. auch Husbands, Collection (FN 35), S. 206 f.: „denial that we go about to introduce a new law.“ 38 Dazu ausführlich Müßig, Konflikt (FN 7), S. 9 ff. 39 Vgl. schon die knappen Hinweise bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1987, S. 349, 350 ff. Sinnfällig und anschaulich faßt Thomas Nipperdey (S. 757 f.) die Relevanz der Person des Monarchen in der preußischen Krise des Jahres 1862 zusammen: „Die individuelle Konstellation eines alten Königs, im überlieferten Heereskönigtum starr gefangen, eines liberaleren, aber familienloyalen Sohnes, und des „starken Mannes“, Bismarck, hat die geschichtliche Entscheidung bestimmt, hat zwischen zwei strukturellen Möglichkeiten Preußens den Ausschlag gegeben“. Ausführlich und allgemein zur Mentalitätsgeschichte jetzt Martin Kirsch / Pierangelo Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999. 40 Vgl. für den Konstitutionalismus vor allem Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999. Ebenso die Tagungsbände von Kirsch / Schiera, Denken (FN 39) und Martin Kirsch / Anne Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002. Zudem schon Hasso Hofmann, Repräsentation, Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1998, S. 27 ff.; Johannes Kunisch, Absolutismus: europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime, Göttingen 1986, S. 11 ff.; Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 31 ff.; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., München 2005, § 29 IV 1, S. 285. 41 Willoweit, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 141, 150.
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Vergleichens“43 interessiert sich für die europäischen Gemeinsamkeiten, nicht für die Singularitäten der nationalen Einzelfälle. Überdies ist die Mythenbildung um nationale Sonderwege44 kein Argument gegen einen vergleichenden verfassungsgeschichtlichen Ansatz, da das Urteil über Besonderheiten erst Ergebnis des Vergleichs und nicht schon Prämisse sein kann. Vielmehr sprechen die Stilisierungen nationaler Verfassungsgeschichten für den hier vertretenen kulturalistischen Ansatz. Sind damit die Forschungsaufgaben skizziert – kulturalistischer Verfassungsbegriff, Verfassungsgeschichte als evolutionäre Bewegungsgeschichte und die Notwendigkeit vergleichenden Arbeitens – können wir uns den Problemen einer europäischen Verfassungsgeschichte zuwenden: der Unsicherheit über den Europabegriff (geographisch oder normativ) und über den Geschichtsbegriff, da die nationalen Disziplinen nicht einfach europäisiert werden können.
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Kirsch, Monarch und Parlament (FN 40), S. 24 ff. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, Kap. 1. Vgl. schon die wegweisenden Arbeiten Otto Hintzes (z. B. Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, Eine vergleichende Studie, in: Historische Aufsätze, Festschrift für Karl Zeumer, Weimar 1910, S. 493 ff., auch in: Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte, 3. unveränderte Aufl., Göttingen 1982, hrsg. von Gerd Oestreich / Fritz Hartung, S. 242 ff.) und Heinrich Mitteis’ (Der Staat des hohen Mittelalters: Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 11. unveränderte Aufl., Köln [u. a.] 1986, S. 7 ff.). Weder Hintze noch Mitteis fanden Nachahmung. 44 Vgl. den Überblick bei Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich, Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999, S. 182 ff. Zur „singularité française“ vgl. Jean-Claude Caron, La nation, l’État et la démocratie en France de 1789 à 1914, Paris 1995, S. 205 ff.; Gabriel de Broglie, Le XIXe siècle: l’éclat et déclin de la France, Paris 1995, S. 194 ff. Zum englischen Sonderweg vgl. Bernd Weisbrod, Der englische „Sonderweg“ in der neueren Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), 234, 249 ff. Zu „spanischen Besonderheiten“ vgl. Boris Mirkine-Guetzévitch, L’histoire constitutionnelle comparée, Annales de l’Institut de Droit comparé de l’Université de Paris 2 (1936), 88 ff.; zur „anomalia italiana“ vgl. Massimo Luigi Salvadori, Storia d’Italia e crisi di regime. Alle radici della politica italiana, Bologna 1994, S. 21 f.; Lucy Riall, The Italian Risorgimento. Stare, society, and national unification, London [u. a.] 1994, S. 75 ff. Hubers Monumentalwerk (Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bde. 1 – 8, teilweise 2. und 3. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 1978 – 1990) konzentriert sich auf die Einmaligkeit der deutschen Geschichte zwischen Französischer Revolution und 1933. Siehe dazu die Rezension des Gesamtwerks durch Hans Boldt, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), 263 ff.; Theodor Schieder (Theodor Schieder, Staatensystem als Vormacht der Welt 1848 – 1918, Frankfurt / Berlin 1977, S. 148 f.) stellte aufgrund eines europäischen Vergleichs gegenüber Huber fest, die deutsche Besonderheit bestehe im Nebeneinander von Demokratisierung von unten mittels allgemeinem Wahlrecht und einer den Parlamentarismus von oben bekämpfenden Regierungspraxis und Staatstheorie. 43
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II. Probleme einer europäischen Verfassungsgeschichte 1. Europabegriff
Gibt es einen geographischen Raum Europa oder ist Europa – wie schon Verfassung und Staat – ein Konstrukt gemeinsamer politischer Kultur (Wolfgang Reinhard), ein „Abrufbegriff“, eine „Solidar-, Erfahrungs-, Werte,– Wirtschafts-, oder Konfliktgemeinschaft“ (Heinz Duchardt)?45
a) Geographische Undefinierbarkeit Eine befriedigende geographische Bestimmung Europas ist nicht möglich, so das Ergebnis einer in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom Europarat abgehaltenen Geographen-Tagung zur Formulierung einer verbindlichen Schulbuchdefinition.46 Europa ist der westliche Teil der eurasischen Landmasse, also im Grunde genommen eine Halbinsel Asiens.47 Für die östliche Grenze gibt es jedoch keine einheitliche Festlegung.48 Oft genannt wird der Ural, doch das ist eher eine Konvention als ein 45 Heinz Duchhardt / Andreas Kunz: „Europäische Geschichte“ als historiographisches Problem, Mainz 1997, S. 3. 46 Europa könne nur dann als eigener Erdteil angesehen werden, wenn „der Mensch und sein Wirken in Siedlung, Wirtschaft, Kultur, Geschichte und Politik in die Betrachtung einbezogen [wird]“ (Mitteleuropa im Geographieunterricht: Die erste Konferenz zur Revision der Erdkundelehrbücher, hrsg. vom Europarat, Braunschweig 1964, S. 165, zitiert nach Hagen Schulze / Ina Ulrike Paul, Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 9, 20). 47 Europa ist eine Halbinsel Asiens: „ . . . une sorte de cap du vieux continent, un appendice occidental de l’Asie“ (Paul Valéry, La crise de l’esprit, in: ders., Œuvres, Bd. 1, Paris 1962, S. 1004, zitiert nach Theodor Schieder, Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 1, S. 1, 19). 48 Insbesondere im Bereich zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer bleibt die Abgrenzung unscharf. So wird – soweit ersichtlich – erstmals 1730 die etwa 300 km nördlich des Kaukasusgebirges gelegene Manytschniederung als Grenze zwischen den Erdteilen betrachtet (Philip Johan von Strahlenberg, Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, ND Szeged 1975, S. 17). Andere sehen den Grenzverlauf im Kaukasus selbst, speziell in der Wasserscheide zwischen der Nord- und Südseite des Gebirges. Auch der Ural wird in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Ostgrenze verworfen, da man die geographische Einheit eines Gebirges nicht durch eine Erdteilgrenze zerschneiden könne. Deshalb verlegten Carl Ritter (Carl Ritter, Vorlesungen über Europa, hrsg. von H. Daniel, Halle 1863, S. 23 ff., zit. nach Herbert Louis, Über den geographischen Europabegriff, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München 39 (1954), 73, 75) und in der Folge Elisée Reclus (Elisée Reclus: La terre, Bd. 1, Paris 1967, zitiert nach Herbert Louis, wie oben) sowie Emil Wisotzki (Emil Wisotzki, Zeitströmungen in der Geographie, Leipzig 1897, zitiert nach Herbert Louis, wie oben.) die Ostgrenze Europas an die Tiefenlinie von der Manytschniederung zur Kaspisenke weiter über die Turgayniederung zum Tobol, Irtysch und Ob (Herbert Louis, wie oben). Louis selbst postulierte unter Verwendung
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erdteilendes Datum. Ebenfalls eine Konvention, die die östliche Grenze Europas festzulegen sucht, ist die Grenzziehung zwischen Finnland, PolenLitauen, Ungarn, Kroatien einerseits, Rußland, dem Osmanischen Reich, Serbien andererseits, das heißt zwischen der lateinischen und der griechisch-slawischen Kultur, der römischen Kirche mit ihren nachreformatorischen Nachfolgerinnen und der orthodoxen Kirche. Diese Konvention mag angreifbar sein – seit dem 18. Jahrhundert ist Rußland mehr und mehr zu einem Teil Europas geworden49 –, sie belegt jedoch eindrucksvoll Europa als Konstrukt einer gemeinsamen politischen Kultur, nämlich der von der römischen Kirche vermittelten lateinischen Kultur.50
b) Europa als Kulturbegriff Europa51 als Kulturbegriff, als Produkt der Selbstidentifikationen derjenigen, die sich Europäer nennen, findet man schon bei Herodot (vor 480 bis ca. 425 v. Chr.). Europa und Asien sind zwei kulturell getrennte Welten: Asien ist für Herodot das Perserreich, gigantisch in seiner Ausdehnung, in den menschlichen und technischen Ressourcen.52 Trotz dieser Übermacht jedoch nennen die Griechen die Perser „Barbaren, weil sie nicht frei sind.“ Die vorderasiatischen Sprachen haben kein Äquivalent für das griechische Wort Eleutheria = die Freiheit. Damit sind die Perser nicht Bürger (Politai), sondern Untertanen. Selbstidentifikation erfordert also den Prozeß der Abgrenzung gegenüber Andersartigem, wie es auch schon die konventionelle Grenze zwischen laeines anthropogeographischen Europabegriffes die Grenze am Jenissei, siehe oben, S. 73, 80 ff. 49 Vgl. dazu ausführlich Norman Davies, Europe. A History, Oxford 1996, S. 675 ff. 50 Statt vieler Reiner Schulze, Vom Ius commune bis zum Gemeinschaftsrecht – das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Rechts- und Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 3, 30: „Der bislang vorherrschende Europa-Begriff der rechtshistorischen Forschung hat sich grundsätzlich auf den lateinischen Bereich beschränkt und den griechisch-byzantinischen Osten ausgeschlossen.“ 51 Die Entstehung des Wortes Europa liegt im Dunkeln. Wenn der Begriff Europa aus dem Semitischen stammt, bedeutet es ursprünglich Westen oder Abendland. Andere Deutungen gehen auf den Namen der Göttin Europa zurück; diejenige, die auf dem Rücken des in einen Stier verwandelten Zeus entführt wurde. Jedenfalls stammt das Wort Europa aus dem Osten des mediterranen Raumes. Hekataios von Milet (6. Jhdt. v. Chr.) kennt in seiner Erdbeschreibung nur zwei Erdteile, nämlich Europa und Asien. Die Grenzen zwischen beiden bilden das Ägäische Meer, das Marmarameer, das Schwarze Meer und der Don. 52 Vgl. Historien, Buch VII, 33 ff. (Tusculum-Ausgabe, hrsg. von Josef Feix): Der persische Großkönig Xerxes I. (um 519 – 465 v. Chr.) baut eine aus 360 Schiffen bestehende Schiffsbrücke über den Hellespont, und läßt eine Menschenkette bis nach Susa auf Rufweite aufstellen, um sich die ersehnten Siege melden zu lassen.
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teinischem und slawischem Kulturraum illustriert hat: „Europa wird zur politischen Identifikation genutzt, wenn es um die Unterscheidung von einem existenziellen Feind geht, dessen Kultur als grundlegend verschieden von der eigenen verstanden wird; . . . und der Begriff verschwindet wieder, sobald die Bedrohung verschwunden ist.“53 Auch Goethe beschreibt Europa in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ als „unschätzbare Kultur seit mehreren tausend Jahren“54 in Abgrenzung gegenüber der damals entstehenden amerikanischen Kultur.55
c) Prozeßhaftigkeit des Europabegriffes Als Kulturbegriff, Produkt gemeinsamer politischer Kultur, ist der Europabegriff nicht statisch, sondern unterliegt vielfachen Prozessen. Trotz der Unsicherheiten über den geographischen Raum scheint die Identifikationskraft des Kulturbegriffes davon abhängig zu sein, daß dem kulturell-politischen Kontext ein geographisches Moment ungefähr entspricht. Weder im Reich Alexanders des Großen noch im Römischen Imperium konnte Europa als Selbstverständnis dienen. Vielmehr taucht der Identifikationsbegriff Europa erst nach dem Ende des Weströmischen Reiches auf. In der Abwehr der Araber bei Tours und Poitiers 732 nennen sich Karl Martells Männer „Europäer“. Und Karl der Große wird Pater Europae genannt. Mit seiner Kaiserkrönung (am 25. Dezember 800) setzt er sich selbst in die Tradition des Imperium Romanum. Von translatio oder renovatio imperii ist die Rede. Der Gegenpol Europas in dieser Zeit heißt Ostrom, Byzanz – allerdings nicht als große Gefahr oder Erbfeind, sondern vielmehr als Konkurrent: Der abendländische Kaiser erhebt den Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit dem oströmischen, und der Papst erhebt sogar den Anspruch, den Vorrang vor dem Patriarchen Ostroms zu besitzen. Im Jahre 772 verwendet zum letzten Mal eine Papsturkunde die Datierung nach Regierungsjahren des oströmischen Kaisers. Im Laufe des Mittelalters verliert das Wort Europa wieder seine Identifikationsfunktion. Das romanische, germanische, westslawische und ungarische Europa nennt sich vielmehr Corpus Christianum, die Christenheit. 53 Schulze / Paul, Europäische Geschichte (FN 46), S. 10 und S. 23 mit Hinweis auf Geoffrey Barraclough, European Unity in Thought and Action, Oxford 1963, S. 50. 54 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Erstes Buch, Siebentes Kapitel (dtv-Ausgabe, München 1982). 55 Sein Protagonist wolle „lieber in der großen geregelt tätigen Masse mitwirkend sich . . . verlieren, als drüben über dem Meere um Jahrhunderte verspätet den Orpheus und Lykurg zu spielen„ (Goethe, Wanderjahre [FN 54]). Hierbei macht die Verwendung von „Orpheus und Lykurg“ als Allegorie der Kunst und des weisen Gesetzgebers Goethes kulturhistorisches Bild von Europa im Vergleich zum jungen Amerika als kulturelles Gefälle deutlich.
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Erst in der Aufklärung wird Europa wieder Identifikationsbegriff – diesmal als Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins:56 Die in dem Wort Aufklärung steckende Lichtmetapher steht nicht so sehr der Finsternis anderer Erdteile gegenüber, sondern der Finsternis des mittelalterlichen Aberglaubens sowie der Abgründe der verheerenden Konfessionskriege. Das Europa der Vernunft erfährt sich als mündig geworden oder lateinisch emanzipiert. Es blickt sich um und sieht, so Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung, in den Völkerschaften anderer Kontinente die Stadien der eigenen Kindheit, die es selbst hinter sich gelassen hat.57 Ein ganz anderes Europabewusstsein entwickelt die deutsche Romantik: Friedrich Novalis beschwört in „Die Christenheit oder Europa“ (Jena 1799) eine christliche Erneuerung Europas, bricht mit dem aufklärerischen Vorurteil, das Mittelalter sei vor allem die finstere Zeit gewesen, und brandmarkt die Moderne als Verfallsgeschichte.58 Der Topos des christlichen Abendlandes ist geboren und wird gerade mit den Schriften von Friedrich Schlegel59 zum Schlagwort der politischen Romantik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Im Zuge des gegenwärtigen europäischen Einigungsprozesses ist Europa noch einmal ein Kulturbegriff, allerdings mit dem Unterschied, daß mit der Schaffung der Europäischen Union jetzt ein supranationaler Bezugspunkt für die europäische Selbstidentifikation besteht. Was verbindet die Europäer in der Europäischen Union, die in Wahrheit bis 1989 West- und Osteuropäer waren? Bei den einen spielt das Herodotmotiv, die Gefahr aus dem Osten, eine wichtige Rolle, bei den anderen wohl eher die romantische Vorstellung eines christlichen Abendlandes.
56 Vgl. z. B. Volker Steinkamp (Hrsg.), L’Europe éclairée, Das Europa-Bild der französischen Aufklärung, Frankfurt a. M. 2003 (Analecta Romanica, Heft 67). 57 „Was heißt und zu welchem Ende Studiert man Universalgeschichte?“, in: Oh du mein Jena! Illustrierte Festschrift zum 350jährigen Jubiläum der Universität Jena, hrsg. von Otto Bretschneider, Leipzig 1908, Anhang. 58 „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes Frieden stiftendes Amt installieren“, Friedrich Novalis, Die Christenheit oder Europa, Jena 1799, ND München (Die kleine Jedermannsbücherei) 1921, S. 17. 59 Vgl. das in den Zeiten der Demagogenverfolgungen erschienene Programm „Signatur des Zeitalters“ (Concordia, Heft VI [Wien 1823], 343 ff., ND München 1967 = in: Friedrich Schlegel, Studien zur Geschichte und Politik, Kritische Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. 7, München 1966, S. 483 ff.). Vgl. dazu Stolleis, Geschichte (FN 27), Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, München 1992, S. 143.
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d) Umfang der Textedition „Europäische Verfassungsgeschichte“ von Willoweit / Seif Nicht nur der Verfassungs- und Herrschaftsbegriff, sondern auch der Europabegriff sind damit kulturalistisch zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wird der vereinzelt scharf kritisierte Umfang bzw. die thematische Ordnung unserer Textedition (Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte)60 verständlich: Niemals ging es um eine vollständige Sammlung aller europäischer Verfassungstexte.61 Maßstab für unsere Textedition war der hier dargelegte prozeßhafte Verfassungs- und Europabegriff. Daher werden zum Beispiel auch Texte verschiedener Perioden einheitlichen Kategorien zugeordnet: Die Dokumente monarchischer Verfassungsstaaten umfassen die charte constitutionnelle 1814 ebenso wie den Parliament Act 1911. Und die Dokumente der Diktaturen des 20. Jahrhunderts stellen den Verfassungsgesetzen des europäischen Faschismus bewußt die sozialistischen Räteverfassungen gegenüber, um die totalitäre Gemeinsamkeit62 hinter den unterschiedlichen Strukturen zu verdeutlichen. 2. Geschichtsbegriff
Dietmar Willoweit hat in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1991 die Varianten zwischen neoaristotelischem Verfassungsvergleich und historistischem Interesse an den nationalen Sonderwegen skizziert. Darauf kann man aufbauen und sich auf die Frage nach dem Erkenntnisinteresse konzentrieren: Geht es um die beste Verfassung (innerhalb Europas), um das Verstehen der eigenen Verfassung oder um die Ausarbeitung gemeinsamer europäischer Verfassungstraditionen, auf die sich die Gemeinschaftsverträge an einzelnen Stellen berufen (Art. 6 Abs. 2 EUV)?63 60 München 2003. Vgl. Wilhelm Brauneder, ZRG GA 122 (2005), S. 446 mit Replik Dieter Willoweit / Ulrike Seif, ebd., S. 1105. 61 Die Leistungen von Dieter Gosewinkel / Johannes Masing, Die Verfassungen in Europa 1789 – 1949, München 2006, und von Horst Dippel, Verfassungen der Welt, 1850 bis zur Gegenwart, München 2004 (Saur-Microfiche-Edition) kann man hier nur bewundern. 62 Alle berücksichtigten Diktaturen gingen aus einem Krieg hervor: Deutschland und Italien aus dem ersten Weltkrieg, Rußland und Spanien aus Bürgerkriegen. Die Volksordnung beruhte auf der behaupteten Einheit des Willens, sei es als moralische, politische und wirtschaftliche Einheit im korporativen Staat des italienischen Faschismus, des Austrofaschismus und des Francoregimes, sei es als biologisch-rassistische Einheit im deutschen Führerstaat oder als klassenbewußte Einheit des sozialistischen Rätestaates. Die Identität von Partei und Staat beruht auf dem Bewußtsein der Art- bzw. Klassengleichheit: Totaler Staat als totaler Krieg brauchte den totalen Feind, vgl. Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 468 f. 63 Willoweit, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 141 ff. In Art. F Abs. 2 EUV in der Fassung des Maastricht-Vertrages vom 7. Februar 1992 (Art. 6 Abs. 2
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a) Neoaristotelischer Verfassungsvergleich Der neoaristotelische Verfassungsvergleich64 war Gegenstand der empirischen Staatenkunde des 17. Jahrhundert, die in der vorkantianischen Einheit von Empirie und Normativität den Staatszweck des gemeinen Wohles rational zu ergründen und zu realisieren suchte.65 Die gegenstandsdeskriptive politischen Empirie eines Hermann Conring diente dazu, den in den deutschen Partikularstaaten tätigen consiliarii die für ihre Tätigkeit notwendigen und ausreichenden Kenntnisse über diejenigen Staaten zu EUV in der Fassung des Amsterdamer Vertrages vom 3. Dezember1997) sind die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EG-Mitgliedstaaten erstmals im Text der Gründungsverträge verankert, vgl. Abs. III Präambel der EEA: „. . . gemeinsam für die Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit stützen“; Abs. III Präambel EUV (Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit). Textliche Vorlagen für Art. F Abs. 2 EUV in der Fassung des Maastricht-Vertrages vom 7. Februar 1992 waren die gemeinsame Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rats vom 5. April 1977; ABl. 1977 Nr. C 103 / 1: Die Erklärung vom 5. April 1977 bezieht sowohl die EMRK als auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten mit ein [vgl. hierzu Meinhard Hilf, EuGRZ 1977, S. 158 ff.]) und Art. 4 des sog. Spinelli-Entwurfs des Europäischen Parlaments für einen Vertrag zur Gründung der Europäischen Union 1989 (Beschluß des EP vom 12. April 1989, ABl. 1989 Nr. C 120 / 52; EuGRZ 1989, S. 204 ff. 64 Dies betont Aristoteles zu Beginn des zweiten Buches der Politika (dt. Ausgabe hrsg. von Ursula Wolf, Tübingen 1994): „Da wir uns vorgenommen haben, zu untersuchen, welches von allen die beste staatliche Gemeinschaft ist ( . . . ) so müssen wir auch die sonstigen Staatsverfassungen beachten, teils jene, die in einigen Staaten, die als gut eingerichtet gelten, im Gebrauche sind, teils solche, die von Theoretikern beschrieben werden“ (1260b26 – 33). So vergleicht er z. B. die spartanische (1269a29 ff.) mit der kretischen Verfassung (1271b20 ff.) oder er kritisiert die karthagische (Politika 1272b25 ff.) und die zu Beginn des 6. Jhdts. v.Chr. von Solon umgestaltete athenische Verfassung (1274a35 ff.). Außerdem setzt er sich mit den Verfassungsentwürfen bei Sokrates (1266a1 ff.) und Platon (1265a15 ff.), aber auch mit denen anderer – Laien, Philosophen oder Politiker (1266a30 ff.) – auseinander. Erst dann (1278b6 ff.) beschäftigt sich Aristoteles mit den unterschiedlichen Typen der Verfassung, wobei er zwischen sechs Verfassungsformen – davon drei seiner Ansicht nach gut (Königtum, Aristokratie, Politie, vgl. 1279a33 ff.), und drei entartet (Tyrannis, Oligarchie, Demokratie, vgl. 1279b4 – 10) – unterscheidet. Vgl. dazu schon Willoweit, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 141. 65 Arno Seifert, Staatenkunde – eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: Mohamed Rassem / Justin Stagl (Hrsg.): Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert, Paderborn 1980, S. 217 ff.; ders., Conring und die Begründung der Staatenkunde, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606 – 1681). Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983, S. 201 ff.; Dieter Willoweit, Hermann Conring, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1995, 129 ff.; ders., Europäische Verfassungsgeschichte (FN 1), S. 141 ff., 142.
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vermitteln, mit denen ihr eigener Landesherr Beziehungen unterhielt.66 Im 18. Jahrhundert verblasst das wissenschaftliche Interesse an der vergleichenden Staatenkunde zwar, aber auch Montesquieu arbeitet in seinem Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois, 1748) komparatistisch. Für die Untersuchung der Beziehungen des menschlichen positiven Rechts zur Natur (Buch II: Natur der Verfassung) und zum Prinzip der Regierungsform (Bücher III–VIII: Prinzip der Verfassung), die Beziehungen zur defensiven und aggressiven Kriegsführung (Bücher IX, X), zur politischen Freiheit im öffentlichen und privaten Bereich (Bücher XI, XII), zum Steuerwesen (Buch XIII), zum Klima (Bücher XIV–XVII), zum Boden (Buch XVIII), zu den Sitten und Lebensweisen (Bücher XIX–XXIII) und zur Religion (Bücher XXIV–XXV) stellt er Gesetze verschiedener Epochen und Regionen gegenüber.67 Praktisches Interesse findet der Verfassungsvergleich nochmals im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. Stellvertretend beginnt Karl Heinrich Ludwig Pölitz seine Edition europäischer Verfassungen seit dem Jahre 1789: „ . . . wenn für die Staaten kein wichtigeres Experiment gedacht werden kann, als eine neue, oder doch eine, nach den Verhältnissen der Zeit und nach den individuellen Bedürfnissen und Kulturgraden der einzelnen Völker um- und fortgebildete Constitution, so verlangt ein solches Experiment nicht allein die genaueste Kenntniß und Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des einzelnen Volkes, dem eine Constitution gegeben, oder dessen Constitution umgebildet werden soll; es darf auch die große Lehre der Geschichte in Hinsicht der versuchten, der bereits wieder erloschenen, und der noch bestehenden Constitutionen in andern europäischen Reichen bei jenen Bestrebungen durchaus nicht für die Staats- und Geschäftsmänner verloren gehen, welche mit der größten und folgenreichsten Angelegenheit der Staaten, mit einer neuen Verfassung, sich beschäftigen.“68 Auch das vergleichende Arbeiten der Paulskirche ist in diesem Zusammenhang zu nennen.69 Eine Wiederbelebung des neoaristotelischen Ansatzes scheidet im Rahmen einer europäischen Verfassungsgeschichte allerdings aus, da Verfassungsgeschichte keine Geschichte der Regierungssysteme nach Art einer historischen Politologie sein kann.70 Zudem impliziert die Frage nach der besten Verfassung verschiedene Verfassungen als unwandelbare Vergleichsgegenstände, die sie jedoch als prozeßhafte Produkte der politischen Kultur nicht sind. 66
Seifert, Staatenkunde (FN 65) S. 202, 205. Vgl. dazu ausführlich Ulrike Seif, Der mißverstandene Montesquieu: Gewaltenbalance, nicht Gewaltentrennung, in: ZNR 22 (2002), S. 149, 150. 68 Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig 1832, Vorrede, S. XII. 69 Vgl. dazu Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 300 ff.; Grimm, Gewaltengefüge (FN 8), S. 257 ff., 262 ff. 70 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 40), S. 2. 67
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b) Verfassungshistorismus In Deutschland, England oder Frankreich ist die an Kultur interessierte Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (Voltaire und Gibbon) zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem auf das Nationale beschränkten, politisch bestimmten Interesse für die Vergangenheit gewichen.71 Für die historische Rechtsschule sind Staat und Recht Emanationen der (nationalen) Volkspersönlichkeit. Ein historistischer Ansatz, der sich auf das Verstehen der eigenen nationalstaatlichen geschichtlichen Vergangenheit konzentriert, hilft nicht weiter: Die seit Leopold von Ranke stereotype Prämisse der Unübertragbarkeit politischer Einrichtungen72 kann nicht Ausgangspunkt einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte sein. Doch was ist das Europäische an einer europäischen Verfassungsgeschichte? Mit dem hier vertretenen kulturalistischen Forschungsansatz für den Verfassungsbegriff und den Europabegriff, richtet sich das Erkenntnisinteresse auf gemeineuropäische Muster staatsformender Ordnungsprozesse. Dies erfordert eine bestimmte Methode, da die Vergleichsgegenstände für die europäische Verfassungsgeschichte unabhängig von der nationalen Geschichtsschreibung und von der Rechtsordnung herausgearbeitet werden müssen.
III. Methoden 1. Methodische Anforderungen: Doppelter hermeneutischer Zirkel
Die vergleichend-historische Fragestellung ist nämlich mit einem doppelten hermeneutischen Zirkel belastet: Zum einen steht die Auswertung früherer Formulierungen in historischen Zeugnissen unter dem Vorbehalt einer vom geltenden Verfassungsrecht abweichenden Bedeutung.73 Geschichtli71 Iggers, Historismus (FN 21), S. 13 f.; vgl. auch Carlo Antoni, Lo Storicismo, Turin 1957, S. 20. 72 Ranke, Politisches Gespräch (FN 24), S. 328, 340. 73 Die Begriffsveränderungen im Laufe der Zeit hat Heinrich Scholler (Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 183 ff.) für die Gewissensfreiheit überzeugend dargelegt. Vgl. auch Karl Siegfried Bader, Aufgaben und Methoden des Rechtshistorikers, Tübingen 1951, S. 5 f.; Otto Brunner, Land und Herrschaft, 1990 Unveränderter Neudruck der 5. Aufl., Wien, Wiesbaden 1965, S. 106 ff., 111 ff.; Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Diss. iur. Uppsala, Stockholm 1960, S. 55; Michael Stolleis, Was Moorleichen erzählen. Rechtsgeschichte und ihre Traditionen an den Universitäten der europäischen Länder, FAZ vom 15.August 1990, S. N3 / N4; Franz Wieacker, Ausgewählte Schriften, Band 1: Methodik der Rechtsgeschichte, hrsg. von Dieter Simon, Frankfurt a. M. 1983, S. 99 ff.; die von Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 3. Aufl., München, Berlin 1947, S. 346 und Theo Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, JZ 1971, S. 1 ff. konzi-
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ches Verstehen der Quellenbelege erfordert die Rekonstruktion der Bedeutung ihrer Begriffe. Die vergangene Begriffs- und Bedeutungswelt kann nur in der gegenwärtigen rekonstruiert werden,74 wodurch allerdings Zusammenhänge sichtbar werden, die die Vergangenheit kennzeichnen und erklären, ohne in ihr selbst erkannt und formuliert worden zu sein.75 Zum ande-
pierte dogmatisch geleitete Rechtsgeschichte unter Annahme einer Wiederkehr von Rechtsfiguren ist daher problematisch. Zur Methodendiskussion in der Rechtsgeschichte vgl. Emilio Betti, Moderne dogmatische Begriffsbildung in der Rechts- und Kulturgeschichte. Ist die Benützung moderner Rechtsdogmatik bei der rechtshistorischen Auslegung berechtigt?, in: Studium Generale 12 (1959), S. 87 ff.; Ralf Dreier, Rechtstheorie und Rechtgeschichte, in: Okko Behrends / Malte Dießelhorst / Ralf Dreier (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft: Symposium zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, Göttingen 1990, S. 17 ff.; Peter Landau, Rechtsgeschichte und Soziologie, in: VSWG 61 (1974), S. 145 ff.; ders., Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, in: ZNR 2 (1980), S. 117 ff.; Manfred Rehbinder, Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtgeschichte, in: Martin Kilias / Manfred Rehbinder (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie. Zum Verhältnis von Recht, Kriminalität und Gesellschaft in historischer Perspektive, Berlin 1985, S. 133 ff.; Johannes Michael Scholz, Historische Rechtshistorie. Reflexionen anhand französischer Historik, in: ders. (Hrsg.), Vorstudien zur Rechtshistorik, S. 1 ff.; Marcel Senn, Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel, Diss. iur. Zürich 1980, S. 180 ff.; Uwe Wesel, Zur Methode der Rechtsgeschichte, in: KJ 1974, 337 ff., und dazu Joachim Rückert, Zur Erkenntnisproblematik materialistischer Positionen in der rechtshistorischen Methodendiskussion, in: ZHF Bd. 5 (1978), 257 ff. Die Präsenz aller Verwendungskontexte ist für den Forscher nicht erreichbar, so daß durchaus mehrere Gebrauchsregeltheorien erfolgreich konkurrieren können. Daher liegt der falsifikationistische Ansatz für die rechtsgeschichtliche Methodologie nahe (Helmut Coing, Aufgaben des Rechtshistorikers, Wiesbaden 1976, S. 153 f.; Wieacker, Schriften (wie oben), S. 28 f., 48 u. 54 f.; ders., Art. Methode der Rechtsgeschichte, in: HRG III, Sp. 520 ff.). 74 Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XX ff. Die methodologische Diskussion in der heutigen Geschichtswissenschaft kann nur noch in intimer Kenntnis sprachwissenschaftlicher Theorien verstanden werden. Einen Überblick über den Diskussionsstand geben die Sammelbände von Karl Acham / Winfried Schulze (Hrsg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990; Hans Michael Baumgartner / Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1982; Thomas Haussmann, Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum Deutschen Kaiserreich von 1871 – 1918, Frankfurt a. M. 1991; Christian Meier / Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Methode, München 1988; Pietro Rossi (Hrsg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987. 75 „Daß das nachkommende Verstehen der ursprünglichen Produktion eine prinzipielle Überlegenheit besitzt und deshalb als ein Besserverstehen formuliert werden kann, . . . beschreibt . . . eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber, die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeineutik, 3. Aufl., Tübingen 1972, S. 280. Zum Erkennen einer Wirklichkeit, die ihren Bil-
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ren sind die Quellenbegriffe in die Verfassungsentwicklung der verschiedenen Rechtsordnungen eingebunden. So sind beispielsweise die Rechtsbegriffe „Monarch“ oder „Gesetz“ in französischen, englischen oder deutschen Quellen nicht austauschbar und damit nicht an sich vergleichbar. Ihre besondere, der nationalen Rechtsentwicklung eigene Bedeutung muß durch Auslegung ermittelt werden, gerade jedoch im Kontext desjenigen Rechtssystems76, das erst durch das Verständnis der Rechtsbegriffe entfaltet werden soll.
2. Methodischer Zugriff: Verwendungs- und Funktionskontexte als Vergleichsgegenstände
Nimmt man den hier vorgeschlagenen kulturalistischen Ansatz ernst, sind die zu untersuchenden Verfassungsstrukturen keine abstrakten Größen einer Institutionen- oder Ideengeschichte, sondern konkrete Produkte politischer Kultur. Verfassungsgarantien entstehen also z. B. als konkreter Protest in einer Konfliktsituation (Verwendungskontext)77, oder Verfassungsorgane können in einer Konkurrenzsituation eine bestimmte Funktion behaupten (Funktionskontext). Eine solche Kategorisierung nach Verwendungskontexten oder Funktionskontexten würde auch der von Kirsch geforderten mittleren Abstraktionshöhe der Vergleichsbegriffe genügen.78 dungsprozeß vollendet hat, vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse mit Hegels eigenhändigen Notizen und mündlichen Zusätzen, Werkausgabe hrsg. von Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Werkausgabe Bd. 7, S. 28: „Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ 76 Diese Auslegung muß jedoch den Eigenarten des französischen, des englischen oder des deutschen Rechtssystems folgen, da juristische Begriffsbildungen nicht beliebig sind, sondern im Rahmen einer bestimmten Rechts-, Staats- und Verfassungskultur erfolgen. Vgl. dazu Rolf Wank, Die juristische Begriffsbildung, München 1985, S. 151 ff. Zu einer linguistischen Theorie der Referenzfixierung vgl. Bernd Jeand’Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, Berlin 1989, S. 139 ff. So richtet sich beispielsweise der Stellenwert der Wortlautinterpretation oder der systematischen Auslegung maßgeblich nach dem Grad der Kodifikation in der jeweiligen Rechtsordnung. Zur Verknüpfung von Regelwiederholung und Regeländerung in der Sprachpraxis vgl. Dietrich Busse, Semantische Regeln und Rechtsnormen – Ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Hinsicht, in: Rudolf Mellinghoff / Hans-Heinrich Trute, Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht, Heidelberg 1988, S. 23 ff., 29 ff. 77 Diese Vergleichsmethode liegt meiner Habilitationsschrift (Seif, Justizhoheit [FN 26], S. 36 ff.) zugrunde.
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Zudem ist das Verständnis im Verwendungskontext oder im Funktionskontext nichts anderes als die von Wolfgang Reinhard postulierte Beachtung der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für verfassungsformende Ordnungsprozesse.79 Dies entspricht genau dem Konzept der politischen Kultur, das die Interaktion zwischen dem Handeln einzelner Personen oder Gruppen einerseits (individuelle Ebene, Mikro-Ebene) und dem Funktionieren des politischen Systems (Ebene der Strukturen, MesoEbene) und der Gesellschaft als Ganzes (Makro-Ebene) in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rückt. Wenn das Wachstum der Staatsgewalt auch auf der individuellen Ebene einzelner Herrscher begann, laufen die entscheidenden Ordnungsprozesse auf der höheren Ebene des politischen Systems ab und werden durch gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen mitbestimmt.
3. Ausführung: Vergleichsskizze
Versucht man die politischen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für verfassungsformende Ordnungsprozesse zu erfassen, lassen sich für das Mittelalter vier Kategorien bilden: Herrschaftsbegründung zwischen Universalanspruch und Partikularismus: Christentum und Römerreich; Rechtsbindung von Herrschaft: Königsamt statt Autokratie; Unterscheidung von Staat und Kirche und Dualismus zwischen Herrscher und Adel. Für die Neuzeit bieten sich folgende Überlegungen an: Herrschaftsbegründung an sich; Christentum und Staatsräson; Rechts- und Verfassungsstaat. Aus Platzgründen werden hier nur einzelne Kategorien des Mittelalters beispielhaft ausgeführt.
IV. Gemeineuropäische Rahmenbedingungen verfassungsformender Ordnungsprozesse im Mittelalter 1. Herrschaftsbegründung zwischen Universalanspruch und Partikularismus: Christentum und Römerreich
a) Die einigende Kraft der Kirche und die Erinnerung an die römische Reichsidee sind kulturelle Identitäten der karolingischen Renovatio Imperii Romani, wie die Umschrift in Karls des Großen Siegel programmatisch lautet. Das fränkische Königtum macht sich Elemente spätrömischer Rechts- und Herrschaftstraditionen zu eigen, wie sie die kirchliche Bürokratie überliefert: Der autoritative Erlaß von Rechtsnormen unter römischen Gesetzesbegriffen wie „decretum“ und „edictum“ offenbart den Wil78 79
Kirsch, Monarch (FN 40), S. 35. Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 23 ff.
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len der Franken zur Kommunikation ihrer Herrschaft in den Formen spätantiker Staatlichkeit. Ihr Kanzleiwesen imitiert römische Verwaltungspraxis, indem sogenannte Referendare und Notare weltlichen Standes Urkunden ausstellen und königliche Befehle ausfertigen. Die damit verbundene Kontinuität der Schriftlichkeit begünstigt die karolingische Renaissance des kulturellen römischen Erbes: Boëthius und Cicero gehören zur Pflichtlektüre in den Klöstern. Latein ist die lingua franca der Politik und des Glaubens. b) Vorbild für die fränkische Reichsbildung ist die Universalmonarchie des „römischen“ Kaisers. Auch nach Zerfall des Karolingerreiches bleibt der römische Reichsmythos Maßstab: Sowohl das ostfränkische Reich mit dem Erbe der Kaiserkrone als auch der westfränkische Vorläufer Frankreichs oder das angelsächsisch-normannische England, die christlichen Königreiche der iberischen Halbinsel, Mittel- und Nordeuropas orientieren sich an der grandiosen Kuppel des römischen Universalstaates, so wie sich die Kaiserpfalzen in Aachen, Nijmegen und Ingelheim nach dem Vorbild römischer Kaiserpaläste und die Pfalzkapelle in Aachen nach dem Vorbild von San Vitale in Ravenna gerichtet haben. Inhalt des fränkischen Universalanspruchs ist die Weltherrschaft, allerdings mit Beschränkung beider Wortkomponenten: „Welt“ ist nur die abendländische, lateinische Christenheit80 und „Herrschaft“ bedeutet nicht homogene Staatlichkeit. Nach christlicher Endzeiterwartung ist das fränkische Reich eine Erscheinungsform der Kirche (ecclesia), um den Heilsauftrag auf Erden (regnum dei) zu verwirklichen.81 Kaiser und Papst sind nicht Repräsentanten verschiedener Ordnungen, einer geistlichen und einer weltlichen, sondern Inhaber verschiedener Ämter innerhalb der einen Kirche: der Kaiser als Vogt und Schirmherr der Christenheit, der Papst als geweihter Stellvertreter Christi: beide verkörpern die res publica christiana als religiös-politische Einheit.82 Die frühmittelalterlichen verkehrstechnischen und ökonomischen Rahmenbedingungen machen die Schaffung eines europäischen Einheitsreiches unmöglich. Direkte politische Beziehungen zu Untertanen sind den fränkischen Königen schon tatsächlich nicht möglich. Bezugspersonen des gemei80 Heinz Schilling, Europa zwischen Krieg und Frieden in: Marie-Louise Gräfin von Plessen (Hrsg.), Idee Europa – Entwürfe zum ewigen Frieden. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, Berlin 2003, S. 23 – 32. 81 Vgl. zum Reich als Kat-echon: Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 29 f. 82 Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im frühen Mittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hrsg. von Theodor Mayer, Konstanz, Lindau 1954, S. 71 ff.; Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, Bd. 1, Würzburg 1942, S. 105 ff., 109 ff.
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nen Mannes sind der Gutsherr, der Abt, und vielleicht noch der Graf, nicht aber der Kaiser, dessen Brief von Aachen nach Rom zwei Monate dauerte. Die partikularen Kräfte sind es, die aus dem gescheiterten Versuch gestärkt hervorgehen, die Einheit des römischen Imperiums entgegen der verkehrstechnischen und ökonomischen Möglichkeiten zu erneuern. Am Ende dieser Entwicklung wird die Identifikation mit den Vaterländern (pl. patriae), mit dem Landesherrn oder mit der städtischen Obrigkeit die Reichszugehörigkeit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dominieren. c) Die Stärke der partikularen Herrschaften entsteht mit dem Personenverband der Lehensbeziehungen. Mittelalterliche Königsherrschaft ist keine homogene Staatlichkeit, da der König zu den wenigsten Untertanen direkte politische Beziehungen hat. Herrschaft verlange, so Regino von Prüm (um 840 – 915), Adel (nobilitas), Tapferkeit (fortitudo) und Weisheit (sapientia); vor allem müsse der Herrscher selbst die anderen an edler Abkunft (generositas), Würde (dignitas) und Macht (potentia) übertreffen, damit die Eintracht gewahrt blieb und die übrigen sich seiner Herrschaft (eius dominio) unterwerfen würden.83 aa) Königliche Machtbasis war der Grundbesitz seiner Familie. In politischer Beziehung stand der mittelalterliche König zu anderen Grundbesitzern, von deren Anerkennung seine Herrschaft abhing. Diese Beziehungen wurden vertraglich gefaßt: Mit dem Lehnseid schwor der Lehnsherr seinem Lehnsmann (Vasallen) Schutz, während dieser dem Lehnsherrn Rat und militärische Hilfe versprach. Unterhalt für Waffendienst wird seit dem 8. Jahrhundert nicht mehr aus dem Haushalt des Herrn, sondern durch Verleihung von Land als Lehen (beneficium oder feudum) gewährt. Auch Ämter wurden durch Lehen vergeben. Die Lehensbeziehungen waren vielfältig, da der Vasall selbst wieder als Lehnsherr die ihm anvertrauten Lehen als Unterlehen ausgeben konnte oder auch Lehen von mehreren Lehnsherren erhalten konnte. Selbst Könige konnte Vasallen sein: der englische Monarch war Vasall der französischen Krone, bis 1202 der englische König John Lackland (1199 – 1216) wegen Nichterfüllung seiner Lehenspflichten die meisten seiner französischen Lehen verlor; und nach päpstlichem Verständnis sind die weltlichen Monarchien von St. Peter vergebene Lehen. bb) Das Lehensverhältnis, das sich hauptsächlich im karolingischen Reich herausgebildet hat, war ursprünglich auf Zeit abgeschlossen, bis zum Tod des Lehnsherrn oder Vasallen. Reichsbildungsprozesse setzen voraus, daß der Herrschaftsanspruch nicht durch ein Menschenleben beschränkt ist. Hier nun kommt das kirchliche Amtsverständnis ins Spiel: „Das Amt stirbt nicht“ (dignitas non moritur)84, die Person des Herrschers und das 83 Chronicon a. 888; vgl. Ulrich Hoffmann, König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jahrhunderts, Diss. phil. Freiburg 1968, S. 25 ff.
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Königsamt treten auseinander. „Der König ist tot! Es lebe der König!“, lautet später das Trauerritual der französischen Krone. „The king is said never to die“, formuliert die englische Staatsrechtslehre nach Blackstone’s Commentaries.85 Der sterbliche König bekleidet das unsterbliche Königsamt. cc) Dieses dem kirchlichen Amtsbegriff entlehnte Verständnis ließ sich mit dem Königsheil der fränkischen Königssippen leicht verbinden. Der König ist nicht nur die oberste Krone der Lehenspyramide, sondern auch heilig: In seinem Amt vereinigen sich Züge des biblischen Priesterkönigtums mit der vorchristlichen, germanischen Heilsidee. Auch wenn die neuere Forschung die Bedeutung der Sippen für das germanische Rechtsverständnis stark relativiert86, ist Wolfgang Reinhards Hinweis auf die Vorbildfunktion des israelitischen gottgewollten Königtums für die Karolinger bestechend: Die fehlende Geblütsheiligkeit und die gewaltsame Entsetzung der Merowinger konnten die Karolinger legitimieren mit Hinweis auf David und Salomo.87 Damit ist die Salbung Pippins, des Vaters Karls des Großen, durch Bonifatius als päpstlichen Legaten zum fränkischen König mit heiligem Öl bedeutsam. d) Ausdruck partikularer Vielfalt ist der Nationenbegriff. Nation ist ein alter Begriff aus der römischen Antike: für Cicero bilden die Aristokraten eine Nation, für Plinius die Philosophen. Natio ist Gegenbegriff zur civitas und umfaßt damit auch unzivilisierte Völkerschaften ohne gemeinsame politische Institutionen (vgl. natives (engl.); natives (frz.) im Sinne von Eingeborenen): So heißen die Heiden der Vulgata, die Barbaren des Isidor von Sevilla und die mohammedanischen Horden des Bernhard von Clairvaux nationes. Für die Germanenstämme des Frühmittelalters, die Franken, Langobarden oder Burgunder, ist diese Bezeichnung ebenfalls tradiert: auch ohne innere politische Einheit waren diese Stämme von einer Herkunft. aa) Der heutige Nationenbegriff ist wie der hier zugrundegelegte Verfassungs- und Europabegriff ein Produkt politischer Kultur, „ein geistiges Prinzip“ aufgrund des Erkennens einer gemeinsamen Geschichte und der Zusammengehörigkeit als Solidargemeinschaft.88 Wann er entsteht, läßt 84 Glossa ordinaria (1245 Bernardus Parmensis) zu X 1. 29. 14 s. v. substitutum „quia dignitas non moritur“. 85 Vgl. William Blackstone, Commentaries, Book I, chap. 3 no. 4 (Ausgabe Chicago Press S. 189). Dazu ausführlich Ulrike Seif, Art. Blackstone, William, in: HRG I, 2. Aufl., Berlin 2004, 3. Lieferung (Bayern – Burchard von Worms), Sp. 614 ff. 86 Vgl. statt vieler Karl Kroeschell, Art. Sippen, in: Lexikon des Mittelalters, hrsg. von Charlotte Bretscher-Gisiger, Bd. 7, Stuttgart 1995; ders., Die Sippe im germanischen Recht, in: ZRG GA 77 (1960), S. 1 ff. 87 Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 38. 88 Vgl. dazu Ernest Renan, Was ist eine Nation?, in: Michel Jeismann / Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus, Leipzig 1993, S. 290 ff., S. 308. Vgl. auch die Unterscheidung in Eigengruppe (Ingroup) und Fremd-
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sich nicht leicht klären. So nennt Papst Gregor VII. im Jahre 1076 – auf der Höhe des Investiturstreites – seinen weltlichen Gegenspieler Heinrich IV. Rex Teutonicorum, um die Anwartschaft auf das römische Kaisertum herabzustufen auf die Ebene eines gewöhnlichen christlichen Königs und um ihr jeden heilsgeschichtlichen Rang abzusprechen. Der für das 11. und 12. Jahrhundert belegte Sprachgebrauch thiutisk bzw. teutonicus kommt mit der Ausbildung des ostfränkischen lehnsrechtlichen Personenverbandes in Gebrauch (regnum teutonicum). In seiner Eigenschaft als ostfränkischer König brauchte der römische Kaiser schlicht einen Namen. Die Bezeichnung Franken war für die westfränkischen Nachbarn vergeben, gegen die man sich ebenso wie gegen Italien und die römische Kurie abgrenzen wollte. Nationenbildende Identifikation war mit der Namensgebung für das ostfränkische Reich jedenfalls nicht verbunden. Anders die westfränkischen Könige mit ihrem Alleinanspruch auf die Nachfolgerschaft Karls des Großen: Ihr Name lautet Könige der Franken (Reges Francorum), wobei Franken (franci) nicht nur die Bewohner des früheren Galliens bezeichnet, sondern alle, die dem König Heerfolge leisten. Die Franken sind also die Königstreuen. In königlichen Diensten kann auch ein Bretone oder Aquitanier Franke werden. Bezugspunkt ist die Krone und ihr besonderer sakraler Rang.89 Nation bezeichnet im westfränkischen Reich damit eine Gruppe von Individuen, die Beziehungen zur Krone hatten.90 Auf diesen status politicus rekuriert noch Montesquieu im 18. Jahrhundert: „la nation, c’est-à dire les seigneurs et les évêques.“91 Die Fokussierung des Nationenbegriffs auf die herrschende politisch repräsentierte Schicht findet sich auch in weiteren historischen Quellen.92 bb) Als Bezeichnung einer Sprachgruppe dient der Nationenbegriff an den mittelalterlichen Universitäten. 1249 sind an der Universität von Paris Studenten der gallischen Nation eingeschrieben, zu der auch Italiener, Spanier und Griechen zählen, Studenten der normannischen bzw. englischen gruppe (Outgroup) in der Gruppensoziologie, beispielsweise bei: William Graham Sumner, On Liberty, Society and Politics. The Essential Essays of William Graham Sumner, hrsg. von Robert C. Bannister, Indianapolis 1992, S. 10 ff. 89 Bernard Guenée, Etat et nation en France au Moyen Age, in: Rev. Hist. 237 (1967), S. 17 – 30, 27. 90 Vgl. auch Guenée, Etat et nation (FN 89), S. 27. 91 Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu, De l’Esprit des Lois. XXVIII, 9 = Œuvres complètes (Pléiade-Edition, hrsg. von Roger Caillois), Bd. 2, Paris 1994, S. 803. 92 Im Friedensvertrag von Szátmar 1711 zwischen dem Reich und Ungarn wird die „ungarische Nation“ gleichgesetzt mit den Baronen, Prälaten und Adeligen Ungarns (MolBudapest, Archivum familiae Eszterházy P 108 Rep. 98 Fasz. K Nr. 283). Die Sigle Mol bezieht sich auf das ungarische Staatsarchiv (Magyar Orszagos Leveltar). Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist ebenfalls ein Original der Ausfertigung des Friedens vorhanden (Allgemeine Urkundenreihe 1711 IV 29).
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Nation einschließlich der Deutschen, Polen und Skandinavier und der picardischen Nation. Die Unsicherheit über Sprachgrenzen weicht dem Prinzip der Entfernung der Sprachregion vom Studienort. cc) Noch im 15. Jahrhundert ist der Nationenbegriff nicht geklärt. Beim Konzil von Konstanz (1414 / 1417) war nach Nationen abzustimmen, ohne daß Klarheit über die Nationenzugehörigkeit bestand. Die Vertreter der geistlichen Stände des Heiligen Römischen Reiches traten als Natio Germanica auf, soweit sie deutschsprachig waren, wobei hier auch die Geistlichkeit Englands, Ungarns, Polens und der skandinavischen Länder zugerechnet wurde. Die Prälaten aus Savoyen, Provence und Lothringen wurden ihrer Sprache wegen der französischen Nation zugeschlagen, obwohl sie politisch dem Reich zugehörten. Die italienische Nation, die politisch nicht existent war, umfasste zusätzlich zu den italienisch Sprechenden auch Konzilsteilnehmer aus Griechenland, Slawonien und Zypern. Universität und Konzil sind Einheiten, deren Nationenvielfalt stellvertretend ist für die concordia discordantium Gratians bis zur discordia concors des Jakob Burckhardt als durchgängiges Thema der europäischen Verfassungsgeschichte. Europa ist derart durch den seit dem Spätmittelalter ausgeprägten Staatenpluralismus charakterisiert93, daß es berechtigt ist, mit dem englischen Historiker Peter Burke zu fragen, ob Europa vor 1700 überhaupt existiert.94
2. Rechtsbindung von Herrschaft durch Differenzierung von (Königs-)Amt und Person
a) Auch wenn die Forschung heute nicht mehr über die Abwesenheit transpersonaler Staatsideen in der fränkischen Zeit streitet, wird seit Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen abstrakt vom Amt (ministerium, officium) des Kaisers und Königs gesprochen. Dieser im Kirchenrecht (Gregor der Große, Isidor von Sevilla) tradierte römische Amtsgedanke wird selbst durch die in spät- und nachkarolingischer Zeit eintretende Feudalisierung hoher Ämter niemals vollständig verdrängt. Grundlegend für die europäische Herrschaftskultur ist der im Amtsbegriff, im uneigennützigen Dienst an der Sache, angelegte Abstraktionspro-
93 Rolf Hellmut Foerster (Hrsg.), Die Idee Europa 1300 – 1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, München 1963, S. 11 ff.; Christoph Kampmann, Universalismus und Staatenvielfalt zur europäischen Identität in der frühen Neuzeit, in: Jörg A. Schlumberger / Peter Segl (Hrsg.), Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht, Köln 1994, S. 45 – 76, 45 ff.; Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001, S. 41 ff. 94 Peter Burke, Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas, 1,1, Oxford 1980, S. 21 – 29.
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zeß von Person und Amt des Königs bzw. Kaisers. Dokumentiert wird diese beginnende Differenzierung zwischen Herrscher und Amt in bildlichen Darstellungen95 und literarischen Beschreibungen96, die typisierte Idealgestalten zum Gegenstand haben97 und keine Individuen abbilden. aa) Das römische Recht überliefert in der justinianischen Kompilation eine Unterscheidung von ius publicum und ius privatum, bezogen auf das Gemeinwohl (status) der respublica und den Nutzen (utilitas) der Einzelpersonen (Dig. 1.1.2; Inst. 1.1.4). Noch lange nicht wird die Monarchie als Staatsamt gedacht. Selbst bei Bodin und Hobbes gibt es nur den souveränen Monarchen und seine Herrschaft. Erst der naturrechtliche Herrschaftsvertrag nach Locke und Montesquieu macht die Monarchie zu einer Teilfunktion im neuzeitlichen Anstaltstaat und damit zu einer von der Herrscherperson unabhängigen Institution, die sich durch die Funktionalität für das Gemeinwesen legitimiert.98 bb) Entscheidende Gemeinsamkeit europäischer Herrschaftsbildungsprozesse ist die mit dem kirchlichen Amtsverständnis geprägte normative Königsethik, für die das Bild des guten christlichen Herrschers bei Augustinus (De civitate Dei 5,24) beispielhaft ist. Früh- und hochmittelalterliche Fürstenspiegel verbreiten die Herrschertugenden: sich selbst zu beherrschen, die Guten zu leiten, die Bösen zu bessern.99 In seinem politischen Testament beim Aufbruch zum Kreuzzug 1190 spricht der französische König Philippe Auguste nicht von sich, sondern vom Königsamt (officium regis): „Gegenstand des Königsamtes ist es, auf alle Weise für das Wohlergehen der Untertanen zu sorgen und das Gemeinwohl dem privaten Nutzen voranzustellen.“100 95 Percy Ernst Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit 751 – 1190, Neuaufl. hrsg. von Florentine Mütherich, München 1983, Frank Kämpfer, Der mittelalterliche Herrscher zwischen Christus und Untertan, in: Hans Hecker (Hrsg.), Der Herrscher. Leitbild und Abbild in Mittelalter und Renaissance (= Studia Humaniora 13), Düsseldorf 1990, S. 203 – 223. 96 Vgl. Franz Bittner, Studien zum Herrscherlob in der mittellateinischen Dichtung, Diss. phil. Würzburg 1962; Dagmar Neuendorff, Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9. – 12. Jahrhunderts, Stockholm 1982. 97 Vgl. Josef Semmler, Der vorbildliche Herrscher in seinem Jahrhundert: Karl der Große, in: Hans Hecker (Hrsg.), Herrscher (FN 95), Düsseldorf 1990, S. 43 – 58; Peter Wunderli, Zwischen Ideal und Anti-Ideal. Variationen des Karlsbildes in der altfranzösischen Epik, in: ebd., S. 59 – 79. 98 Vgl. beispielhaft Johann Heinrich Gottlob von Justi (Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze, Berlin, Stettin, Leipzig 1760, S. 47), für den die absolute Monarch eine sehr einfache Maschine ist, mit der die Staatszwecke am wirksamsten erreicht werden konnten. 99 Hinkmar von Reims: se regere – bonos dirigere – malos corrigere, zit. in: Hans Hubert Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonn 1968, S. 404.
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b) Hiervon ist der Schritt nicht weit zur Rechtsbindung als grundsätzliche gemeineuropäische Herrschaftsbegrenzung nach der isidorischen etymologischen Definition: „Rex a recte dicitur“. Ähnlich klingt Bractons Ableitung des Titels Rex vom guten Regieren; für ihn ist keine Macht größer als die rechtsgebundene, da das Recht den König macht.101 Bereits das angevinische Königreich Heinrichs II. wird von Sir John Fortescue als politisches Königtum (political kingdom) gelobt, das die Herrschaft des Rechts respektiert, zu dessen Schutz der Monarch eingesetzt: „The king can do no wrong“.102 Fehlverhalten betrifft nur den König als Privatperson, als Amtsperson hört er auf König zu sein.103 Bractons Argumentation übernahm der Verfasser der Petition of Right und Wortführer der common law-Opposition gegen den Stuart-Absolutismus, Sir Edward Coke, und formulierte den Vorrang des Rechts vor der monarchischen Prärogative, den Primat des Rechts.104 c) Die Differenzierung des Königsamtes von der Person des Herrschers darf nicht mißverstanden werden als Abstraktion der Herrschaft: Bartolus de Saxoferrato und Baldus de Ubaldis entwickeln zwar den römischen universitas-Begriff im Sinne einer Korporationstheorie fort, die bis zur Idee einer vom Mitgliederwechsel unabhängigen Rechtspersönlichkeit (persona ficta) der Körperschaft reift und damit Ansätze eines transpersonalen Denkens enthält. Herrschaft wird jedoch nicht abstrakt verstanden, sondern nur in Gestalt konkreter Herrschaftsrechte. Der mittelalterlichen Korporationstheorie ist jede Vorstellung vom Staat als einer abstrakten Einheit oder Wesenheit fremd. Der moderne (abstrakte) Herrschaftsbegriff ist ein Konstrukt der Forschung.105 Beherrscht zu werden, war für den mittelalterlichen Menschen ebenso selbstverständlich wie die biblische Unterscheidung von „Herren“ (domini) und „Knechten“ (servi). Die Engelshierarchien rangieren unter Bezeichnungen wie „Herrschaften“, „Mächte“, „Gewalten“, „Fürstentümer“ und „Throne“.106 Der aus dem englischen Bauernaufstand von 1381 hervorge100 Ordonnance ou Téstament du Roi à son départ pour la Terre sainte 1190, zit. in: Jourdan / Décrusy / Isambert, Recueil Général (FN 15), T. I, S. 177. 101 De Legibus et Consuetudinibus Angliae, Bd. II: Ad quid creatus sit rex, et ordinaria iurisdictione, hrsg. von George E. Woodbine / Henry Bracton. On the laws and customs of England, translated, with revisions and notes, by Samuel Edward Thorne, Bd. 2, Cambridge (Mass.) 1968, S. 305. 102 In Praise of the Laws of England (1470), Kapitel XIII. 103 Dies war auch die Argumentation bei den Absetzungen der englischen Könige zwischen 1327 – 1485. 104 Prohibitions del Roy (1607), 77 ER 1342. 105 Peter Moraw, ,Herrschaft‘ im Mittelalter, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 8.
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gangene Kampfruf „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ (John Bales) richtete sich nicht auf eine Abschaffung von Herrschaft, sondern auf eine Wiederherstellung alter Gewohnheiten. Auch der erste ewige Bund der drei Waldstätte 1291 bestätigt die Existenz von Herrschaft: „Jedoch soll ein jeder nach seinem Stand seinem Herrn nach Gebühr untertan sein und ihm dienen.“107 Zeitgenössisch leitet sich „Herr“ (herro) von herhiro (Komparativ von her = hoch, erhaben, würdig) ab und entspricht dem lateinischen senior. Herscap als Kennzeichen von Würde, Vornehmheit, Macht und Gewalt ist erst seit dem 13. Jahrhundert in den Quellen nachweisbar.108 Begriffsgeschichtlich gibt es in der Quellensprache kein exaktes Aquivalent des modernen Herrschaftsbegriffs. Das lateinische Wort „status“ (dt. stand / stat / staat, frz. estat / estament / état, it. stato, span. estado, engl. state) bezeichnet kein Gemeinwesen oder beherrschtes Territorium, sondern beschreibt in der Begrifflichkeit des gelehrten Rechts (status publicus, status rei Romanae) Zustand, Wohlfahrt oder Existenz und Bestandskräftigkeit des Gemeinwesens. Für Herrschaftsverbände finden sich die Quellenbegriffe respublica und civitas, auch communitas und universitas, ebenso wie die spezifischen Reichsbegriffen „imperium (Romanum)“ und „regnum“, „potestas“ oder Herrschaftsgebiete „dominium“, „dominatio“, „principatus“, „ducatus“, „comitatus“ oder „civitas“ im Sinne von Stadt. Darüber hinaus findet sich die ethnisch fundierte Bezeichnung „natio“ (lingua, Zunge) und der Ausdruck „Land“ (terra, territorium, provincia). Die mittelund oberitalienischen Städte verwenden für ihr Herrschaftsgebiet den kirchenrechtlichen Begriff der Diözese und formulieren damit erstmals den Gedanken der Gebietszugehörigkeit. d) Die Rechtsbindung des Königsamtes kann nur dann ein gemeineuropäisches Muster der Herrschaftsbegrenzung sein, wenn übereinstimmend geklärt ist, was Recht ist. Die Beantwortung dieser zentralen Frage ist jedoch nahezu unmöglich. Nach dem hier favorisierten kulturalistischen Blickwinkel bietet sich als Ausgangspunkt die These an, daß Recht eine spezifisch europäische Kultur manifestiert.109 106 Vgl. Peter Dinzelbacher, Reflexionen irdischer Sozialstrukturen in mittelalterlichen Jenseitsschilderungen, in: AKG 61 (1979), S. 16 – 34. 107 Günther Franz, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bauernstandes im Mittelalter (= Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 31), 2. Aufl., Darmstadt 1974, S. 150; Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 193 ff. 108 Hans-Werner Goetz, Art. Herrschaft (Mittelalter), in: Europäische Mentalitätsgeschichte, hrsg. von Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 467, verweist auf Beispiele in der Sächsischen Weltchronik. 109 Vgl. bereits Josef Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung: Einleitung in die vergleichende Rechtswissenschaft, Würzburg 1885; Koschaker, Europa (FN 73);
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aa) Der (politische) Leib des Königs110 ist Zentrum der Ordnung des Zusammenlebens der verschiedenen Stämme, Sippen oder Familien, die er durch Fahrten und Umritte immer wieder physisch erfahrbar macht. In der archaischen Einheit von Recht und Ordnung, das heißt ohne Differenzierung von Recht, Religion und Moral, fallen Recht und Kraft zusammen: Im gerichtlichen Zweikampf bekommt der Kräftige Recht. Vor den Augen der rechtserheblichen Öffentlichkeit aller waffenfähigen Männer ist die Rechtsstellung des Siegers behauptet und sein Rechtsverhältnis zum Verlierer leiblich beweisen. Auch der Eid und die Unterstützung durch Eideshelfer machen Rechtsbehauptungen sinnlich offenbar.111 Auch der Königshof war ein leiblicher Ausdruck der (Rechts-) Ordnung: Anwesenheit und Zustimmung der Adeligen machen die Rechtmäßigkeit königlicher Beschlüsse physisch erfahrbar. bb) Die archaische Einheit von Recht und Ordnung gilt auch für das Christentum: Recht ist Gott lieb, weil er selbst das Recht ist (Sachsenspiegel, Lehnrecht, 78, 3). Unter dem Einfluß der Kirche wird die Ordnung zu einer von Gott geschaffenen Ordnung.112 Eine solche Schöpfungsordnung kann nicht mehr durch Kräftemessen erfahrbar sein, sondern durch Erfragen der ihr durch den Schöpfungsakt immanenten normativen Kriterien bei den Urteilern. Durch den Gesamtbezug des Einzelfalls zur Schöpfungsordnung muß die Fallösung eine (unveränderbare) Norm sein, die für alle gleichgerichteten Fälle Geltung beanspruchen kann. Richterliche Aufgabe ist es, diese dem Fall zugrundeliegende Norm zu erfragen. Der König ist vicarius Dei, sein Bezug auf Christus, den Weltenrichter am jüngsten Tag, ersetzt die Heilskraft der Königssippe. Daher ist die Gerichtsbarkeit primäre Herrschaftsfunktion. Nicht nur der Herrschaftsaufbau des mittelalterlichen Papsttums geschieht in großem Umfang durch Rechtsprechung113, auch die Coing, Vorbemerkungen (FN 4), S. 1; ders., Das Recht als Element der europäischen Kultur, in: HZ 238 (1984), S. 1 – 16, bes. S. 4; vgl. auch den von Karl Kroeschell / Albrecht Cordes herausgegebenen Band Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Berlin 1996, sowie jüngst Reinhard Zimmermann, Römisches Recht und europäische Kultur, in: JZ 2007, S. 1 – 12. 110 Ernst Hartwig Kantorowicz, The king’s two bodies. A study in mediaeval political theology, Princeton 1957. 111 Hans Fehr, Kraft und Recht, in: Festschrift für Justus Wilhelm Hedemann, Jena 1938, S. 3 ff.; ders., Der Zweikampf, Berlin 1908; Gösta Åqvist, Frieden und Eidschwur, Stockholm 1968; Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 2, Aalen 1964, S. 9 ff.; Eberhard Freiherr von Künßberg, Schwurgebärde und Schwurfingerdeutung, Freiburg i. Br. 1941; Rudolf Ruth, Zeugen und Eideshelfer in den deutschen Rechtsquellen des Mittelalters, Breslau 1922. 112 Der Gerichtsstab zeigt nach oben zu Gott, dessen Rechtlichkeit und Wahrheit offenbar werden soll; vgl. dazu Wolfgang Schild, Der griesgrimmige Löwe als VorBild des Richters, in: Medium Aevum Quotidianum 27 (1992), S. 11 ff. 113 Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 44 ff.
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Gerichtssitzungen von Ludwig IX. in den Bois des Vincennes prägen die Sakralität der französischen Krone. cc) Die Unveränderbarkeit des Rechts als Bestandteil der Schöpfungsordnung ist Grundlage für die vorrangige Herrschaftsfunktion der Gerichtsbarkeit. Die Rechtsfindung in Konflikten obliegt rechtserfahrenen Urteilern als Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft unter dem Schutz des verfahrensleitenden Gerichtsherrn.114 Recht ist Rechtsgebrauch in den ständischen Sozialkreisen, auf deren Geschlossenheit der Konsens über die Streitentscheidung in der Rechtsgemeinschaft beruht.115 Recht entsteht durch Rechtsfindung, durch Fortschreiben vorhandenen Rechts und durch Bestätigung im Bestreitensfall. Als Annex der Gerichtsbarkeit116 orientiert sich Gesetzgebung weitgehend an den Grundsätzen des Prozeßverfahrens.117 dd) Diese statische Rechtskultur hat ihre Wurzeln auch im antiken Rechtsverständnis, das in seiner Vermittlung durch die Stoa in der christlichen Patristik (vor allem Augustinus) rezipiert wird. Christus als logos im Prolog des Johannesevangeliums (Joh. 1,1) wird mit dem stoischen Weltgesetz gleichgesetzt.118 Die antike Gleichsetzung von Recht und Gerechtigkeit verbindet sich mit der frühmittelalterlichen archaischen Einheit von Recht, Moral und Religion. Weder bei Platon noch bei Aristoteles findet man eine abstrakte Begriffsbestimmung des Rechts, sondern nur die Frage nach der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist die in den Bereich des Naturrechts (to physei dikaion) gehörende innere Richtigkeit des Rechts. In der Nikomachischen Ethik des Aristoteles wird die allgemeine Gerechtigkeit als die vollkommenste der Tugenden bezeichnet: Sie ist austeilend, indem sie Wohlstand und Ehre verleiht, ausgleichend, indem sie durch das Recht jedem das Seine zukommen läßt.119 Platons Nomoi sind Ausdruck unabänderlicher 114 Statt vieler: Dieter Willoweit, Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte I, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1983, S. 69, 119 f. 115 Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: ders. (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, Berlin 1992, S. 21, 23 ff.; Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 18 f.; ders., Über die mittelalterliche Anschauung vom Recht, in: HZ 115 (1916), S. 496, 500 f.; ders., Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Darmstadt 1973, S. 5. 116 Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 3. Aufl., Göttingen 1988, S. 23 f. 117 Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune IV (1972), S. 188, 190. Vgl. auch schon Otto Franklin, Rechtssprüche des Reichshofes im Mittelalter, Hannover 1870, S. IX n. 4. 118 Clemens von Alexandria, Stromata 7, 3, 16, zit. nach Fenton John Anthony Hort (Hrsg.), Miscellanies Books VII. The Greek text with indroduction, translastion, notes, dissertations and indices, London 1902.
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Grundprinzipien des Rechts, Ausdruck einer allgemeinen Weltordnung. Die Bindung des einzelnen an diese Ordnung steht außer Diskussion:120 Der Mensch ist ein von Natur aus auf die Grundordnung (der polis) bezogenes Wesen (zoon politikon), verwirft Aristoteles den von den Sophisten deklarierten Gegensatz zwischen Natur und Recht. Die Aristotelesrezeption des Thomas von Aquin setzt den teleologischen Naturbegriff des Aristoteles mit der Schöpfungsordnung Gottes (lex aeterna) gleich, an der sich die Gerechtigkeit des menschlichen Gesetzes (lex humana) durch die Vermittlung der des Naturrechts (lex naturalis) mißt. Auch das antike römische Rechtsdenken, seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. maßgeblich unter dem Einfluß der stoischen Philosophie (vor allem Cicero), setzt Recht und Gerechtigkeit gleich: Recht wird nach der Gerechtigkeit benannt: [ius] autem ab iustitia appellatum, beginnen die Digesten (Ulp. D. 1.1.1 pr.). Recht ist die Kunst, das Gute und Gleiche zu vermitteln: ius est ars boni et aequi (Ulp. D. 1.1.1 pr.). Gerechtigkeit wird dadurch zum unerschütterlichen und stets gleichbleibende Bestreben, einem jeden das ihm zustehende Recht zukommen zu lassen: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi (Ulp. D. 1. 1. 10). Damit beschreibt Ulpian das Wesen der Gerechtigkeit: Unabänderlichkeit und Vorhersehbarkeit. Beeinflußt vom christlichen Neuplatonismus121, der stoischen Philosophie und der thomasischen Aristotelesrezeption ist die Gerechtigkeit für die mittelalterliche Jurisprudenz ein nach der Methode der Vera Philosophia erkennbares übergeordnetes System, aus dem sich das jeweilige konkrete Recht (ius suum) herleiten läßt. Nach Maßgabe dieses Systems bestimmt sich der Platz des einzelnen, also etwa als Soldat oder Steuerzahler, als Kläger oder Beklagter, als Missetäter oder Unschuldiger oder auch als Herrscher und Beherrschter. Die Sozialordnung ist aber nichts anderes als der möglichst vollkommene Ausdruck der Gerechtigkeit. ee) In der frühmittelalterlichen res publica christiana als heilige Ordnung, die noch ungeschieden nach „geistlich“ und „weltlich“ alle Lebensbereiche umfaßt, sind der König und sein Amt Ausdruck der religiös-politi119 Nikomachische Ethik 5, 14 (Benutzte Standardausgabe: Werke, hrsg. von Ernst Grumach, Bd. 6, Darmstadt 1979). 120 Die Notwendigkeit der Ordnung ist bereits in den homerischen Epen zum Ausdruck gebracht, wenn in der Odyssee (9.112 – 115) die Gesellschaft der Zyklopen als solche ohne Bindung als negatives Beispiel angeführt erscheint. Hinlänglich bekannt ist schließlich der Tod des Sokrates, dem in der Fiktion des platonischen Dialogs Kriton im Kerker die Gesetze selbst erschienen, um auf ihre Einhaltung zu pochen (Platon, Kriton, 50 ff.). 121 Augustinus (De diversis quaestionibus octoginta tribus, qu. 46) versteht unter dem Einfluß des platonischen Höhlengleichnisses die Ideen als Gesetze der göttlichen Weltregierung und siedelt sie im Geist Gottes an (Benutzte Standardausgabe: Dreiundachtzig verschiedene Fragen, Zum erstenmal in deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Paderborn 1972).
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schen Einheit. Die Rechtsbindung des Königsamtes als Bestandteil einer unveränderlichen Schöpfungsordnung erscheint damit als europäische Gemeinsamkeit herrschaftsbegründender Prozesse, unabhängig davon, ob man fides und fidelitas als („verfassungsrechtliches“) Konzept einer universitas fidelium akzeptiert oder ob man mit der pragmatischen Germanistik die Entstehung von Recht, Gericht und Gerichtsverfahren als archaische Überlebensmechanismen versteht, die nichts mit Religion zu tun haben.122 Die Forschungen zu den Ursprüngen des Gesellschaftsvertrages123 führen die Ausprägungen von Versprechen, Eid und Vertrag in der prämodernen europäischen Kultur zurück auf das fides-Konzept mit seiner Doppelbedeutung als Glaube im theologischen Sinn und als Loyalität im sozialen Sinn: „Scias itaque quod per fidem fit hominum congregatio, civitatum inhabitatio, virorum communio, regis dominatio; per fidem castra tenentur, civitates servantur, reges dominantur.“124 ff) Staaten sind nach Augustinus große Räuberbanden (De civitate Dei 4,4) und doch gut, soweit sie nach Frieden und Gerechtigkeit streben (De civitate Dei 15,4). Noch die Präambel zur Goldenen Bulle von 1356 erinnert an Satans und Luzifers Fall.125 Auch wenn die augustinische Tradition mit der irdischen Sündhaftigkeit gegenüber den göttlichen Geboten in Herrschaftsverbänden rechnet126, sind diese von Gott eingesetzt und notwendig, um die weltliche und göttliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Daher ist das Gehorsamsgebot gegenüber dem Herrscher für die mittelalterliche politische Theorie selbstverständlich. Widerstand gegen den König kam einem Aufstand gegen Gott gleich.
122 Stellvertretend sind hier die Forschungen von Wilhelm Ebel, Götz Landwehr, Elmar Wadle und Jürgen Weitzel zu nennen. 123 Antony Black, Der verborgene Ursprung der Theorie des Gesellschaftsvertrages. Die in der Entwicklung befindliche Sprache des Contractus und der Societas, in: Paolo Prodi (Hrsg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1993, S. 33. 124 Secreta secretorum [13. Jh., fälschlicherweise Aristoteles zugeschrieben], hrsg. von Robert Steele, Oxford 1920, S. 57. Diese Ausgabe enthält Anmerkungen von Roger Bacon. Bekannt sind die Secreta secretorum auch unter dem Titel Epistola ad Alexandrum de conservatione oder sanitate oder regimine principum. Zahlreiche lateinische Ausgaben finden sich in der Münchener Staatsbibliothek und der Oxforder Bodleian Library. 125 Proömium Goldene Bulle, zit. nach: Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. 1356. Quellen zur neueren Geschichte, hrsg. von Ernst Walder, 3. Aufl., bearb. von Konrad Müller, Bern 1970, S. 15. Vgl. dazu auch Peter Moraw, Verfassungskonflikte vor einer Verfassung und vor einer Verfassungsöffentlichkeit, in: Müßig, Konflikt (FN 7), S. 31 ff. 126 Dazu ausführlich Wolfgang Stürner, Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987.
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(1) Nur der ungerechte Herrscher wurde zum Tyrannen, gegen den zuweilen sogar zum Widerstand aufgerufen wurde.127 Nach dem Policraticus (1156 – 1159) des John of Salisbury (1115 / 1120 – 1180 Sekretär von Thomas Becket) haben die Untertanen einem durch Wahl und Weihe legitimierten Monarchen zu gehorchen, bei Zerstörung der Religion jedoch ist Absetzung, sogar Tyrannenmord erlaubt.128 (2) Wilhelm von Ockham (1285 / 90 – 1347 / 48) gründet seine Lehre vom Widerstandsrecht auf die Theorie, daß alle Herrschaft auf menschlicher Vereinbarung beruht. Der Herrscher darf die ihm durch die Vereinbarung übertragene Herrschaft nur in licitis ausüben, das heißt in den Grenzen, die in der Natur des Menschen und in seiner Sittlichkeit liegen. Dem subjektiven Recht des Herrschers an der Herrschaft entsprechen objektiven Pflichten der Bindung an das Natur- und Sittengesetz. Im casu necessitatis129, das heißt wenn der Herrscher den Zweck der Herrschaftsvereinbarung verfehlt, fällt die Herrschaft wieder an das Volk zurück, das den Herrscher dann absetzen kann: Rex enim superior est regulariter tot regno suo, et tamen in casu est inferior regno, quia regnum in casu necessitatis potest regem suum deponere et in custodia detinere. Hoc enim habet ex iure naturali.130 Unter der Voraussetzung der Funktionalität von Herrschaft für das Gemeinwohl entwickelt Ockham Kriterien für einen legitimen Widerstand gegen ungerechtfertigte Herrschaft. Der besondere Akzent seiner Begründung eines Widerstandsrechts besteht darin, daß das Recht auf Gehorsamsverweigerung nicht nur als Notrecht gegenüber tyrannischer Herrschaft bestimmt wird, sondern als Recht auf fundamentale Kritik an jeder Regierung, die sich nicht am Ziel des Gemeinwohls orientiert. (3) Herrschaftsverträge und Freiheitsbriefe dokumentieren das Widerstandsrecht als ein konstitutives Rechtsprinzip mittelalterlicher Herrschaftsauffassung. Aus der Überzeugung, daß Herrscher und Volk gleicher127 Vgl. Kern, Recht und Verfassung (FN 115). Vgl. auch Klaus Schreiner, Correctio principis. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik, in: Frantisek Graus (Hrsg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 203 – 256. 128 Ausgangspunkt des Policraticus ist der 1141 vom Bischof von Winchester für den Klerus erhobene Anspruch, den König zu wählen und zu krönen. Dazu ausführlich Charles Petit-Dutaillis, The feudal monarchy in France and England: from the 10th to the 13th century, London 1936, ND New York 1983, S. 111. Vgl. auch Ulrike Seif, Methodenunterschiede in der europäischen Rechtsgemeinschaft oder Mittlerfunktion der Präjudizien, in: Gunnar Duttge (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit, Baden-Baden 1998, S. 133, 145 f. 129 Auffallend ist die Terminologie, die an den Grundsatz necessitas non habet legem erinnert. 130 Ausführlich: Jürgen Miethke, Ockhams Theorie des politischen Handelns, in: Erhard Mock / Georg Wieland (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1990, S. 103, 107 f.
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maßen an eine geheiligte Rechtsordnung gebunden sind, leitete sich die Verpflichtung des Regenten her, den Rat der Magnaten einzuholen: „gemäß dem Rat . . . der edlen Herren . . . und anderer Unserer Getreuen“ lautet das Prooemium der Magna Carta Libertatum 1215.131 „So soll das geschehen mit rat und wissen gemeiner landschaft“ regelt der Tübinger Vertrag 1514.132 Rat bedeutete im Mittelalter nicht eine unverbindliche Empfehlung, sondern gerade die verbindliche Aussage über die Rechtmäßigkeit eines Tuns. Rat galt auch als Zustimmung, so daß sich häufig die Verbindung von Rat (consilium) und Zustimmung (consensus, assensus) findet: „ . . . auf Anraten und mit Zustimmung der geliebten geistlichen und weltlichen Fürsten“, formulieren Einleitung und Schlußformel des Mainzer Reichslandfrieden von 1235.133 Aus diesem Konsensprinzip ergab sich die höhere Bestandskraft der Staatsgrundgesetze. Bei Zuwiderhandeln gegen den Rat beging der Herrscher Rechtsbruch, gegen den Widerstand derjenigen geboten war, die aus der Verpflichtung zu Rat ein Recht auf Teilhabe an der Herrschaft ableiteten: „Wir bestimmen auch, daß, wenn wir oder einer unserer Nachfolger jemals dieser Anordnung zuwiderhandeln wollte, sowohl die Bischöfe, wie die andern Barone und Adligen unseres Königreichs, gemeinsam und einzeln, die jetzigen und die späteren Geschlechter, ohne den Makel irgendwelcher Untreue, für immer das freie Recht besitzen sollen, uns und unseren Nachfolgern zu widerstehen und zu widersprechen“, regelt die goldene Bulle Andreas’ II. von Ungarn 1222.134
V. Partikularität und Relativität mittelalterlicher Souveränität: Adelsherrschaft kraft eigenen Rechts 1. Adelsherrschaft als Grundherrschaft
Aus der Materialisierung der Lehen zu territorialen Besitztiteln entsteht adelige Grundherrschaft kraft eigenen Rechts. Nach der von den Glossatoren (Johannes Bassianus) und Kommentatoren (Bartolus) entwickelten Lehre vom geteilten Eigentum (dominum directum des Lehnsherrn und dominum utile des Lehnsmannen) besteht adeliges Obereigentum (dominum directum) aus dem Anspruch auf Abgaben und auf den an dem Land hängenden Titel, zusammen mit dem Recht, das Land unter bestimmten Bedingungen neu zu vergeben. Dieses Grundmuster adeliger Gutsherrschaft findet sich in der deutschen Grund- und Gutsherrschaft, der französischen Seigneurie, der italienischen Signoria territoriale, der spanischen
131 132 133 134
Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 3 ff. Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 34 ff. Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 49 ff., 50. Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 26 ff., 33.
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Señorío, der portugiesischen Senhoria und im englischen manor.135 Die Verbindung von Landeigentum und Adel zeigt sich daran, daß teilweise nur Adelige Land erwerben durften (Polen, Ungarn), teilweise ihnen die als ausdrücklich adelig registrierten Güter (Landtafelgüter, Rittergüter) vorbehalten waren oder, wenn der Erwerb der Grundherrschaft anderen offenstand, damit Adelsqualität verbunden war, etwa die Mitgliedschaft im adeligen Teil der Ständeversammlung. Grundherrschaft blieb die wichtigsten Voraussetzung zur Nobilitierung (engl. Gentry; frz. vivre noblement; preußischer Junker als Rittergutsbesitzer).
2. Herrschaftsrechte kraft eigenen Rechts
Der Kalif von Córdoba soll 956 eine Gesandtschaft Ottos des Großen mit der Feststellung empfangen haben, die christlichen Herrscher seien offenkundig schwach und hilflos, denn selbst der Kaiser dulde fürstliche und adelige Herrschaft kraft eigenen Rechts.136 Diese Kritik des wohlinformierten Kalifen trifft eine Gemeinsamkeit aller europäischer Staatsbildungsprozesse: Überall stieß die direkte monarchische Herrschaft über Land und Leute an die Macht des grundbesitzenden Hochadels und dessen eigene Rechts- und Verwaltungskompetenzen. Monarchische Gewalt blieb trotz monarchischer Konzentrationsversuche nur eine intermediäre, oft nur indirekte Gewalt, deren Aufgabe es war, als Schiedsrichter und Richter zwischen den weitgehend autonomen Regionen des Landes, den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und dem staatlichen Gemeinwohl zu vermitteln und Gegensätze auszugleichen. Der europäische Adel unterschied sich von demjenigen anderer Kulturen dadurch, daß lokale Herrschaft über Land und Leute nicht nur die Grundlage seiner Existenz bildete, sondern überwiegend auch durch Residenz auf dem Land verwirklicht wurde. Die die Kulturlandschaft prägenden Burgen und Schlösser sind Sinnbild dafür, daß die Landbewohner großteils Untertanen des Adels waren und zur werdenden monarchischen Staatsgewalt in einem Mediatverhältnis standen. 3. Partikularität des mittelalterlichen Souveränitätsbegriffs
Die im Lehenswesen begründete Pluralität mittelalterlicher Herrschaft schlägt sich in einem partikularen und relativen137 Souveränitätsdenken nieder: Der König ist zwar Inhaber des höchsten Ranges in der lehnsrechtli135
Vgl. zu allen genannten Kategorien Reinhard, Geschichte (FN 9), S. 212 ff. Zit. nach Hans K. Schulze, Hegemoniales Kaisertum. Ottonen und Salier, Berlin 1991, S. 92. 137 Helmut G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, München 1976, S. 26. 136
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chen Hierarchie („souvrains par dessus tous“), souverän sind aber auch Grafen, Herzöge und sogar Barone als Grundherren, soweit sich ihre Sachbereiche erstrecken (Philipp de Beaumanoir138). Entsprechend dem oben erwähnten konkreten Herrschaftsverständnis im Sinne einzelner Rechte bezeichnet Beaumanoirs Souveränitätsbegriff oft auch nur eine einzelne Sachzuständigkeit, nicht eine abstrakte, umfassende Königsgewalt. Noch das 1549 in Paris erschienene Dictionnaire François-Latin enthält für das Substantiv souveraineté keinen Eintrag. Das Adjektiv „souverain“ dagegen wird erklärt, und zwar als letztinstanzliche Entscheidungsgewalt einer cour de parlement.139 Die isolierte abstrakte Konnotation durch Bodin macht noch keinen politischen Sinn.
4. Zustimmung der Beherrschten als Element europäischer Herrschaftskultur
a) Herrschen und Beherrschtwerden (archein – archesthai) sind universale Kategorien menschlichen Zusammenlebens, die sich schon für Aristoteles aus der Komplexität der menschlichen Gesellschaft ergeben und deshalb von Natur aus existieren.140 Im aristotelischen Denkhorizont gibt es Griechen und Nichtgriechen (barbaroi), den Stadtstaat und die Bürger. Herrschaftssysteme unterscheiden sich nach den Adressaten von Herrschaft (freie Bürger, Nichtbürger, Barbaren) und nach ihren Strukturen, den „Verfaßtheiten“ (politeiai) Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Das in diesem Zusammenhang von Polybios (VI 3 – 9) vorgedachte Modell des Verfassungskreislaufes141 interessiert für eine kulturalistische Verfassungsgeschichte nicht wegen der Abfolge der Herrschaftssysteme und ihrer Ent138 Philippe de Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis (1280 / 83), hrsg. von Amédée Salmon, Bd. 2, Paris 1900, ND Paris 1970, S. 23 f., Nr. 1043; vgl. auch Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1965, S. 164, Anm. S. 513. 139 „Les cours souveraines: Curiae jurisdictionis ultimae, jurisdictiones summae – jugement souverain, comme par arest d’une Cour de parlement: res primum et ultimum iudicata – par main souveraine: pro iure maioris imperii.“, zit. nach Diethelm Klippel, Staat und Souveränität VI – VIII, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 6, Stuttgart 1990, S. 103, Fn. 34. Dazu ausführlich Ulrike Müßig, Höchstgerichte im frühneuzeitlichen Frankreich und England – Höchstgerichtsbarkeit als Motor des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, in: Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertag in Halle 2006, hrsg. von Rolf Lieberwirth / Heiner Lück, Baden-Baden 2008, S. 544 – 577. Das im Mittelalter bevorzugte Attribut königlicher Hoheitsgewalt ist die letztinstanzliche Rechtsprechungsgewalt (Serge Dauchy, Introduction Historique, in: Les Arrêts et Jugés du Parlement de Paris sur Appels Flamands, T. III, Bruxelles 2002, S. 135). 140 Politika 1252b 30 ff.; 1254a 21 ff. (benutzte Standardausgabe: Politik, Staat der Athener, übersetzt von Olof Gigon, Düsseldorf 2006). 141 Vgl. dazu Seif, Montesquieu (FN 67), 149 ff.
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artungen, sondern wegen der grundlegenden Aussage, daß Verfassungen an die Zustimmung der Beherrschten, an die Akzeptanz von Herrschaft gebunden sind142; wo sie fehlt oder verspielt wird, entarten die Strukturen. b) Nirgendwo in West- und Mitteleuropa kam es zur Aufhebung der aus der Verdinglichung der Lehen zu adeligem Grundbesitz hervorgegangenen Zwischengewalten, die sich in mehr oder weniger feste Organisationsformen der Stände zusammenschlossen. Bei fortschreitendem „Staatsbildungsprozeß“ (im untechnischen Wortsinn) nahmen Verwaltungsaufwand und Heeresunterhalt zu. Die Einkünfte aus der Krondomäne reichten zur Finanzierung nicht mehr aus. Die Steuererhebung mußten die Grundbesitzer als zahlungskräftigste Gruppe bewilligen. Daher berief der König die Stände zu Landtagen zusammen: Die erst am Ende des 18. Jahrhunderts artikulierte Forderung „no taxation without representation“ erscheint von Anfang an als Grundlage des die europäischen Staatsbildungsprozesse bestimmenden Dualismus Krone-Adel. Zustimmung ist von alters her eine Konstante europäischen Herrschaftsverständnisses: Mittelalterliche Herrschaft war folglich ein Wechselspiel zwischen Herrschenden und Beherrschten und stets abhängig von der Anerkennung der letzteren. Im hohen Mittelalter kam es – in England in Form der Magna Carta Libertatum von 1215, im Reich im Statutum in favorem principum von 1232 – zu Versuchen einer verfassungsrechtlichen Abgrenzung der Herrschaftsrechte. c) Ausdruck der Konsensabhängigkeit von Herrschaft ist die kanonistische Neuinterpretation (VI 5. 12. 29) der römischen Rechtsregel aus dem Vormundschaftsrecht „Was alle angeht, muss von allen bewilligt werden“ (Codex 5.59.5.2: Quod omnes tangit ab omnibus comprobetur). Die Reformkonzilien des Spätmittelalters bestätigten dieses Prinzip. Teilweise werden sie in der Forschung als Modelle für weltliche Ständeversammlungen angesehen.143 Hasso Hofmann beschreibt eindrucksvoll den Wandel des Repräsentationsbegriffes der ursprünglich nicht Vertretung, sondern reale oder symbolische Verkörperung war.144 Auf diese Weise repräsentiert der Fürst das Land, er ist das Land. Erst mit dem Auftreten der Vertreter von Korpo-
142 Hans Kloft, Liberalitas Principis. Studien zur Prinzipatsideologie, Köln, Wien 1970, S. 24 f.; Fritz, Theory (FN 10); Gerhard J. D. Aalders, Die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum, Amsterdam 1968. 143 Antony Black, Council and Commune – The conciliar movement and the fifteenth-century heritage, London 1979; Francis Oakley, On the Road from Constance to 1688, in: Journal of British Studies 1962 (= Natural Law, Conciliarism and Consent in the Late Middle Ages, London 1984, no. IX), S. 1 – 31; Brian Tierney, Medieval Canon Law and Western Constitutionalism, in: The Catholic Historical Review LII (1966), S. 1, 13 ff.; ders., Religion, law, and the growth of constitutional thought 1150 – 1650, Cambridge 1982; ders., Foundations of Conciliar Theory, Leiden [u. a.] 1998. 144 Vgl. oben zur Leiblichkeit des Rechts bei II. 4. a).
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rationen neben den geborenen Mitgliedern kommt der moderne Repräsentationsbegriff in den Ständeversammlungen zum Tragen. Dennoch ist die Kontinuität der alten Repräsentationsvorstellung (Stände sind die Landeseinheit, auch gegen den Fürsten) erkennbar. Die mittelalterlichen Herrschaftsverträge, besonders auch die Wahlkapitulationen unterstreichen die Zustimmungsabhängigkeit von Herrschaft, die in den Finanzbedürfnissen der europäischen Monarchien ihren Ursprung hat. Steuererhebung war nur mit Zustimmung der Betroffenen rechtens und mangels eines zentralen Erhebungsapparates auch nur im Einvernehmen mit den lokalen Machthabern durchführbar. Das Aufkommen des steuerbewilligenden Ständewesens setzt die Geldwirtschaft voraus. Dieses erklärt die zeitliche Verzögerung Mittel-, Nord- und Osteuropas, wo Ständeversammlungen selten vor dem 15. Jahrhundert auftreten, gegenüber West- und Südeuropa, wo diese schon seit dem 13. / 14. Jahrhundert belegt sind, während in Lyon bereits 1188 erstmals Städtevertreter herangezogen werden. Auch in einem Brief des Papstes Clemens IV. 1267 an Karl von Anjou, den König von Neapel, heißt es, daß für die Erhebung von Steuern und für Verteidigungsmaßnahmen der Konsens der Stände zwingend erforderlich sei.145 Ähnlich wird im Patriarchat von Aquileia 1282 die Beteiligung der Stände für die Schaffung neuer Statuten als Gewohnheit bezeichnet.146 aa) Durch diese Steuerbewilligungsfunktion für die Krone waren die Ständeversammlungen grundsätzlich vom Finanzbedarf der Fürsten und damit von deren Initiative abhängig. Ein Versammlungsrecht war die Ausnahme und Selbstversammlung konnte zur Revolution führen (Niederlande und Böhmen). Grundsätzlich hatte der Adel das Recht zur persönlichen Anwesenheit. Der Adelige handelte viritim. Kirchliche und weltliche Institutionen ließen sich durch ihre Häupter, den Bischof, die Bürgermeister vertreten oder bestellten Bevollmächtigte. Ebenso lokale Adelskorporationen für übergeordnete Versammlungen, wie beispielsweise die Landbotenstube des polnischen Reichstages oder die untere Tafel des ungarischen Reichstages. bb) Für Beschlüsse in den Ständeversammlungen hatten die einzelnen Teilgremien nur eine Stimme, die zunächst mit dem Einstimmigkeits-, später mit dem Mehrheitsprinzip zustande kam. Nicht selten entschieden Teilgremien nach Stimmenmehrheit, während für den Gesamtbeschluss die Einstimmigkeit nötig war. Wenn niemand Widerspruch erhob, das sogenannte Verschweigen der Stände, konnten die Fürsten eine bewilligte Steuer weiter erheben und auf diese Weise Gewohnheitsrecht schaffen. So
145 Pier-Silverio Leicht, La posizione giuridica dei parlamenti medievali italieni, in: Émile Lousse (Hrsg.), L’organisation corporative du Moyen Age à la fin de l’Ancien Régime, Louvain 1937, S. 93, 98 f. 146 Leicht, La posizione (FN 145), S. 99.
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soll im 15. Jahrhundert das Steuererhebungsrecht der französischen Krone ohne Zustimmung der Generalstände zustande gekommen sein. Deutsche Landstände suchten sich dagegen durch Schadlosbriefe oder Reverse der Landesherren zu schützen mit der Bestätigung, daß die Steuerbewilligung unbeschadet ihrer Rechte und freiwillig erfolgt sei. Teilweise geschah die Steuererhebung unter Berufung auf Bedürfnisse des Gemeinwohles (necessitas) kraft der Notstandsgewalt der Fürsten. In England entstanden daraus die Verfassungskonflikte des 17. Jahrhunderts.147 Soweit die Lokalverwaltung nicht zentralisiert war, oblag den Ständen auch die Steuererhebung. cc) Im Gegenzug zur Steuerbewilligung pflegten die Stände Beschwerden, sogenannte Gravamina, vorzutragen, aus denen heraus Gesetzgebung entstehen konnte. Entweder unter Mitwirkung der Stände, wie in Aragon, England, Schottland, Schweden, Polen und Ungarn, oder hinterher durch die Krone, wie in Frankreich noch im 16. Jahrhundert. So ging die europäische Polizeigesetzgebung nicht selten auf ständische Initiative zurück. Ständische Staatsbildung, wie in Böhmen, England, Schweden und den Niederlanden scheiterte oft, da das Ständewesen auf Partikularinteressen beruhte (die Einzelinteressen im Rousseauschen Sinn volonté de tous, statt der Gesamtinteressen des Volkes, der volonté générale). dd) Die Zweiteilung nach Otto Hintze148 in die beiden Typen Zweikammersystem und Dreikuriensystem als Alternativen, entweder vom Sippenstaat über den Ständestaat des Zweikammertyps zur parlamentarischer Monarchie englischer Art oder vom Sippenstaat über den Feudalstaat und den Ständestaat des Dreikurientyps zur absoluten Monarchie läßt sich nach den Quellenbefunden nicht halten. Günter Barudio hat dem dualistischen Schema König / Stände das in Skandinaven besonders ausgeprägte Dreiermodell König / Reichsrat / Reichstag gegenübergestellt.149 Dies erfasst zum einen die Ausweitung der Curia regis vom Rat zur Ständeversammlung als einheitliches Grundmuster. Alle europäischen Ständevertretungen und auch der zeitgenössische Diskurs gehen aus von der idealen Mischverfassung aus monarchischer majestas (Majestät), aristokratischer auctoritas (Autorität) und demokratischer libertas (Freiheit). Dabei war das Verständnis adelsdominierter Reichstage als demokratische Vertretungen unproblematisch, da nicht nur im Extremfall Polen das politische Volk grundsätzlich nur aus dem Adel bestand.
147 Ulrike Müßig, Die englischen Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts, in: dies., Konflikt (FN 7), S. 37 ff. 148 Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes (1930), in: ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechtsund Sozialgeschichte Preußens, Bd. 1, Göttingen 1967, S. 120 – 39. 149 Günter Barudio, Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1981, S. 14 ff.
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Auch in der englischen Theorie gab es keinen Dualismus König / Parlament, sondern nur die Dreiheit des King in Parlament, aus König, Lords und Commons, wobei das House of Lords dem älteren hochadeligen Reichsrat entspricht. Auch die deutschen Kurfürsten verstanden sich als ein Reichsrat, nicht nur in sondern auch neben dem Reichstag.
5. England als Beispiel staatsbildender Machtbalance zwischen Krone und Ständen
Prominentestes Beispiel staatsbildender Machtbalance zwischen Krone und Ständen ist England. Die Stärke der königlichen Macht unter Heinrich II. (1133 – 1189) reichte soweit, daß keine Burg ohne königliche Erlaubnis gebaut werden konnte. Die Grafschaften wurden von königlichen Beamten (sheriffs) verwaltet. Aufgrund der häufigen auswärtigen Aufenthalte des Königs auf seinem aquitanischen Kontinentalbesitz war die Ausbildung einer Zentralverwaltung notwendig, die nicht mit dem Hof herumreiste, sondern in den Hauptstädten Westminster und Winchester residierte. Die königlichen common law-Gerichte verdrängten die feudale Gerichtsbarkeit, und der königliche Schatzkanzler (Lord of exchequer) war ständig auf der Suche nach Finanzquellen. Besonders die Vasallen des Königs, Barone und Ritter, wurden zur Kasse gebeten: sie hatten Grundsteuer zu zahlen (domesday book), eine Summe für die Wiederbelehnung der Erben nach Tod des Lehnsmannes und das Schildgeld (scutagium) als Ablöse für die Pflicht zur Heerfolge. Aber für ein Regiment ohne Rücksicht auf die Interessen des Adels reichte die Stärke der englischen Krone nicht. Als Johann Ohneland (1167 – 1216) 1213 gegen Frankreich in den Krieg ziehen wollte, fühlten sich die Barone für die monarchischen Kontinentalinteressen ausgebeutet und verweigerten die Heerfolge. Dafür verlangte der König Schildgeld, trotz seiner angeschlagenen Position nach der Niederlage bei Bouvines 1214. Damit hatte er die königliche Position überspannt. Gegen die geschlossene Opposition des hohen Adels, des Klerus und der Stadt London mußte er nachgeben und am 15. Juni 1215 auf der Wiese von Runnymede bei Windsor den Ständen Zugeständnisse machen: Wiederherstellung der herkömmlichen Rechte der unmittelbaren Thronvasallen, Verzicht der Krone auf Willkürmaßnahmen, Verbesserungen im Rechtswesen für alle freien Bürger, Freiheit der Kirche. Magna Carta Libertatum war der seit 1217 gebräuchliche Name, wobei sich die Größe zunächst nur auf das Urkundenformat bezog. Kerninhalt war die Wiederherstellung des guten alten Rechts. Revolutionär war allerdings die Einrichtung eines Ausschusses von 25 Baronen in Art. 61150: Damit hatten sich die englischen Barone ein eigenes politisches 150
Willoweit / Seif, Europäische Verfassungsgeschichte (FN 60), S. 21 ff.
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Organ geschaffen, das zwar in dieser Form nicht lange Bestand hatte, sich aber unter Eduard I. (1239 – 1307) in Gestalt des Parlaments auf Dauer etablierte. Vor der Magna Carta wurde fast jährlich ein großer Hoftag einberufen, eine Versammlung des hohen Adels, für die sich in Quellen ab 1250 die Bezeichnung parlamentum findet. Nach der Magna Carta mußte diese Versammlung den Abgaben der Barone an die Krone zustimmen. Durch seinen chronischen Finanzbedarf kam Eduard I. darauf, auch die Vertreter des kleinen Landadels, der Städte und der Universitäten als sogenannte Commons ins Parlament zu laden. Seit 1297 war das Recht des Parlaments von der Krone anerkannt, über die Bewilligung aller Geldforderungen zu entscheiden, die über die rechtmäßigen Einkünfte der Krone hinausgingen; andererseits wurden Beschwerden und Petitionen an die Krone im Parlament verhandelt. Im englischen Parlament wurden der Hochadel und die Bischöfe persönlich zum Oberhaus geladen und für das Unterhaus galt in den Grafschaften ein einheitliches Wahlrecht unter den Grundbesitzern mit 40 Schilling Mindestjahreseinkommen. Daneben ein Wahlrecht der privilegierten Gemeinden, der sogenannten Borrows. Das House of Commons ist nicht die Versammlung des gemeinen Mannes, sondern die Vertretung der Gemeinden und Korporationen, also auch der Universitäten des Landes, damit die communitates totius regni.
6. Varianten der Machtbalance zwischen Krone und Ständen
Die Machtbalance zwischen Krone und Ständen kannte je nach Land verschiedenste Varianten. So bedurfte auch die französische Krone der Zustimmung der Stände für Steuererhebung. Durch die Abhaltung regional begrenzter Ständeberatungen (von Languedoc in Toulouse, von Langue d’oeil in Paris / Poitiers) suchte die Krone die Einberufung der überregionalen Generalstände zu vermeiden. Diese Tatsache spricht eher für den Rechtspartikularismus im französischen Königreich und gegen eine mit England vergleichbare Homogenität der Stände als für die Stärke der Krone. Die Ausschaltung der Generalstände durch Richelieu darf entgegen einer weitverbreiteten Forschungsmeinung nicht überbewertet werden, da die Generalstände ohnehin nie eine feste Einrichtung waren und von der Krone nur unter außergewöhnlichen Umständen einberufen wurden. Im Heiligen Römischen Reich hat sich seit dem 12. Jahrhundert der Grundsatz durchgesetzt, daß der Kaiser in allen wichtigen Reichsangelegenheiten der Zustimmung der Reichsstände bedurfte. Die Reichsstände umfassen die geistlichen und weltlichen Reichsfürsten, unter denen seit dem 13. Jahrhundert die Kurfürsten als alleinige Königswähler eine besondere Stellung einnahmen, sowie die reichsunmittelbaren Städte, Grafen und Ritter. Aus den Hoftagen entstand der Reichstag, der sich ab 1495 zu einer festen Institution entwickelte. Vielleicht hat gerade die Schwäche des
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Kaisers als Wahlmonarch das Reich zusammengehalten: Jede Königswahl war ein erneutes Votum für das Reich, und deswegen waren gerade die Königswähler Garanten für dessen Zusammenhalt und Fortbestand.151 Auf territorialer Ebene standen den Fürsten Ständeversammlungen in Form von Landtagen gegenüber, die vor dem Hintergrund kriegsbedingter oder dynastisch zufälliger Veränderungen der Landkarte die Einheit des Territoriums repräsentierten. Die Forschung betont zurecht den Beitrag der ständischen Gewalten, der Parlamente, der Stände und Landtage als pouvoirs intermédiaires für die einzelnen Staatsbildungsprozesse in Europa.
VI. Schluß Bestätigung findet der hier vorgeschlagene kulturalistische Forschungsansatz in den europäischen Verträgen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Fast alle berufen sich auf die europäische Identität, die mit der Anerkennung einer gemeinsamen Kultur und Geschichte gleichgesetzt wird. So geschah die Gründung des Europarates nach der Präambel der Satzung „in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht.“152 Das „gemeinsame Erbe“ definiert die Präambel der EMRK (4. November 1950) in der seit 1. November 1998 gültigen Fassung des 11. Zusatzprotokolls153 als „geistige Güter, politische Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes.“154 Das Kopenhagener „Dokument über die europäische Identität“ 1973155 betont die „Vielfalt der Kulturen im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Zivilisation“ und bestimmt in seinem Teil 1 Art. 1 als „Grundelemente der europäischen Identität“ „die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit [ . . . ] sowie der Achtung der Menschenwürde.“ 151 Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2. Aufl., München 2004, S. 42. 152 Satzungstext, in: Sartorius II, Internationale Verträge, Europarecht, Textsammlung (Stand: Mai 2005), Nr. 110. 153 Protokoll Nr. 11 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das die darin vorgesehenen Kontrollmechanismen umgestaltet werden, vom 11. Mai 1994, Europarat, SEV Nr. 155. 154 Vgl. schon Seif, Justizhoheit (FN 26), S. 32. Dazu auch Wolfgang Schmale, Einleitung, in: Wolfgang Schmale / Rolf Felbinger / Günter Kastner / Josef Köstlbauer, Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert (= Herausforderungen. Historisch-politische Analysen, Bd. 15), Bochum 2004, S. 7 – 20. 155 Dokument über die europäische Identität, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 165 (18. Dezember 1973).
Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.
§ 2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.
§ 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie münd-
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liche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.
§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.
§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.
§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.
§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.
§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege
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schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.
§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand 30. Juni 2009) Vorstand 1. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 2. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, 06108 Halle (Saale) 3. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen
Beirat 1. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Ltd. Archivdirektor, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt 2. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-Behagel-Straße, 35394 Gießen 3. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau 4. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und vergleichende Staatslehre, 95440 Bayreuth 5. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 6. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg
Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, 8010 Graz, Österreich 2. Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 3. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, 79085 Freiburg 4. Asche, Dr. Matthias, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 5. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, 82431 Kochel
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6. Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 7. Battenberg, Dr. J. Friedrich, Professor, Ltd. Archivdirektor, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt 8. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 9. Becht, Dr. Hans-Peter, Stadtarchiv Pforzheim, Kronprinzenstraße 28, 75177 Pforzheim 10. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg 11. Birke, Dr. Adolf M., Professor, Universität München, Institut für Neuere Geschichte, Schellingstraße 12, 80799 München 12. Birtsch, Dr. Günter, Professor, Universität Trier, FB III Geschichte, 54286 Trier 13. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, 2300 Leiden, Niederlande 14. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 79280 Au bei Freiburg 15. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, 79379 Müllheim 16. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Direktor des Landeshauptarchivs Koblenz a. D., Obere Meerbach 6a, 56179 Vallendar 17. Bosbach, Dr. Franz, Professor, Prorektor der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Universitätsstraße 2, 45141 Essen 18. Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, 40822 Mettmann 19. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 20. Brandt, Dr. Hartwig, Professor, Wilhelmstraße 19, 35037 Marburg 21. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 -16, 1010 Wien, Österreich 22. Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 23. Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, 86135 Augsburg 24. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Universität Salzburg, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg, Österreich 25. Butzer, Dr. Hermann, Professor, Orffstraße 3, 30989 Gehrden 26. Cancik, Dr. Pascale, Professorin, Universität Osnabrück, Professur für Öffentliches Recht, Martinistraße 8, 49078 Osnabrück 27. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße, 35394 Gießen 28. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle 7, 20122 Milano, Italien
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29. Cordes, Dr. Albrecht, Professor, Universität Frankfurt am Main, Institut für Rechtsgeschichte, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt am Main 30. Dallmeier, Dr. Martin, Fürstlicher Archivdirektor, Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv, Postfach 110246, 93015 Regensburg 31. Dann, Dr. Otto, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, 50923 Köln 32. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 61462 Königstein/Taunus 33. Dippel, Dr. Horst, Professor, Universität Kassel, Fachbereich 8, Georg-ForsterStraße 3, 34127 Kassel 34. Dölemeyer, Dr. Barbara, Professorin, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 35. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 58097 Hagen 36. Endres, Dr. Rudolf, Professor, An den Hornwiesen 10, 91054 Buckenhof 37. Fenske, Dr. Hans, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, 79085 Freiburg 38. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität des Saarlandes, Campus, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 39. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Università degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9, 50129 Firenze, Italien 40. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, 35037 Marburg 41. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt am Main, Historisches Seminar, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt am Main 42. Gergen, Dr. Dr. Thomas, Privatdozent, Universität des Saarlandes, Rechtsund Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 66123 Saarbrücken 43. Gosewinkel, Dr. Dieter, Privatdozent, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin 44. Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen 45. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum 46. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 11, 10117 Berlin 47. Grothe, Dr. Ewald, Privatdozent, Bergische Universität Wuppertal, Historisches Seminar, FB A, Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal 48. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 49. Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, 26111 Oldenburg 50. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena
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51. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1 – 3, 1364 Budapest, Ungarn 52. Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 53. Hartlieb von Wallthor, Dr. Alfred, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 54. Hartmann, Dr. Peter Claus, Professor, Universität Mainz, FB Geschichtswissenschaft, Saarstraße 21, 55099 Mainz 55. Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professor, Universität Graz, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, 8010 Graz, Österreich 56. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Fasanenweg 28, 56179 Vallendar 57. Heckel, Dr. Martin, Professor, Lieschingstraße 3, 72076 Tübingen 58. Herborn, Dr. Wolfgang, Waldstraße 53 b, 53902 Bad Münstereifel 59. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Goßlerstraße 11, 37073 Göttingen 60. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, 17489 Greifswald 61. Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 62. Höbelt, Dr. Lothar, Ass.-Professor Univ.-Dozent, Porzellangasse 19 / 4, 1090 Wien, Österreich 63. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, 10099 Berlin 64. Hoke, Dr. Dr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 65. Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Universität Heidelberg, Institut für Finanz- und Steuerrecht, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, 69117 Heidelberg 66. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 67. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Osaka International University, Department of Economy and Policy, Hirakat-shi, Sugi 3 – 50 – 1, Osaka Fu, Japan 68. Jahns, Dr. Sigrid, Professorin, Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München 69. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kalkstraße 14, 40489 Düsseldorf 70. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 71. Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Bergstraße 5, 79294 Sölden 72. Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, 35032 Marburg/Lahn 73. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Freiburg, Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung, Platz der Alten Synagoge, 79085 Freiburg
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Verzeichnis der Mitglieder
74. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristische Fakultät, Burgstraße 27, 04109 Leipzig 75. Kersten, Dr. Jens, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth 76. Kirsch, Dr. Martin, Professor, Universität Koblenz-Landau, Historisches Seminar, Fortstraße 7, 76829 Landau 77. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Juristische Fakultät, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 78. Kley, Dr. Andreas, Professor, Hubelmattstraße 58, 3007 Bern, Schweiz 79. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, 95440 Bayreuth 80. Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 81. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 82. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld 83. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau 84. Krieger, Dr. Karl-Friedrich, Professor, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Schloß M 404, 68161 Mannheim 85. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, 79102 Freiburg 86. Krüger, Dr. Peter, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35039 Marburg 87. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, 30167 Hannover 88. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 89. Landau, Dr. Dr. Peter, Professor, Universität München, Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München 90. Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Konviktstraße 11, 53113 Bonn 91. Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, 79085 Freiburg 92. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth 93. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, 06114 Halle (Saale) 94. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, 07743 Jena 95. Link, Dr. Dr. Christoph, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut, Hindenburgstraße 34, 91054 Erlangen 96. Löffler, Dr. Bernhard, Privatdozent, Auhölzlweg 34, 93053 Regensburg
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97. Lottes, Dr. Günther, Professor, Forschungszentrum Europäische Aufklärung e.V., Am Neuen Markt 9 D, 14467 Potsdam 98. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, 06108 Halle (Saale) 99. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, 34519 Diemelsee 100. Mager, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 101. Majer, Dr. Diemut, Professorin, Universität Karlsruhe, Karlstraße 62, 76133 Karlsruhe 102. Maleczek, Dr. Werner, Professor, Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 103. Malettke, Dr. Dr. Klaus, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35032 Marburg 104. Manca, Dr. Anna Gianna, Professorin, Università degli Studi di Trento, Via Santa Croce 65, 38100 Trento, Italien 105. Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Universität Nacional, Altos de Sotileza, Bogotá, Columbia 106. Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg im Breisgau 107. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Via Orazio 31, 80122 Napoli, Italien 108. Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, 35037 Marburg 109. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, 22105 Lund 1, Schweden 110. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 Frankfurt am Main 111. Möllers, Dr. Christoph, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen 112. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, 6500 KK Nijmegen, Niederlande 113. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße 10, Postfach 111440, 35394 Gießen 114. Murakami, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7 – 3-1, Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 115. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6 -10, 69117 Heidelberg 116. Müßig, Dr. Ulrike, Professorin, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Innstraße 39, 94032 Passau 117. Neitmann, Dr. Klaus, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Postfach 600449, 14404 Potsdam
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Verzeichnis der Mitglieder
118. Neschwara, Dr. Christian, Professor, Universität Wien, Institut für Rechtsund Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 119. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 120. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen 121. Nicklas, Dr. Thomas, Professor, Université de Reims, Départment d’allemand, 57 rue Pierre Taittinger, 51096 Reims Cedex, Frankreich 122. Nilsén, Dr. Per, Professor, Syddansk Univesitet, Juridisk Institut, Campusvej 55, 5230 Odense M, Dänemark 123. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Wettbewerbsrecht, Schloss Westflügel (W 137), 68131 Mannheim 124. Pape, Dr. Matthias, Privatdozent, Lindenstraße 1, 57462 Olpe 125. Pauly, Dr. Walter, Professor, Universität Jena, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, 07737 Jena 126. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Hochschuldozent, Universität Mainz, Fachbereich 7, Historisches Seminar I, Jakob-Welder-Weg, 55099 Mainz 127. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, 10691 Stockholm, Schweden 128. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Wilmergasse 28, 48143 Münster 129. Pietschmann, Dr. Horst, Professor, Mommsenstraße 27, 50935 Köln 130. Polley, Dr. Rainer, Professor, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, 35037 Marburg 131. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via Santa Croce 77, 38100 Trento, Italien 132. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaft, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, 67324 Speyer 133. Ranieri, Dr. Filippo, Professor, Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Europäisches Privatrecht, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 134. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professorin, Universität Wien, Institut für Rechtsund Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 135. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V: Rechtswissenschaften, Postfach 38 25, 54286 Trier 136. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte und Zivilrecht, Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt am Main 137. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig 138. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, 67354 Römerberg
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139. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26 / 28, 00 927 Warszawa, Polen 140. Scheel, Dr. Günter, Professor, Am Okerufer 23, 38302 Wolfenbüttel 141. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Via Zara 1, 38100 Trento, Italien 142. Schilling, Dr. Dr. Heinz, Professor, Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Unter den Linden 6, 10117 Berlin 143. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 144. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 145. Schmidt, Dr. Peer, Professor, Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Nordhäuser Straße 63, 99089 Erfurt 146. Schmidt-de Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, 06099 Halle (Saale) 147. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 148. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 69117 Heidelberg 149. Schneider, Dr. Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Deutsches Institut für Föderalismusforschung, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover 150. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Straße 26, 04197 Berlin 151. Schönberger, Dr. Christoph, Professor, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 10 / Fach D-110, 78457 Konstanz 152. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, 24118 Kiel 153. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, 48143 Münster 154. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burgberg 24, 52080 Aachen 155. Schwab, Dr. Dr. Dieter, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, 93040 Regensburg 156. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 157. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Am Höchberg 40, 97234 Reichenberg 158. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, 9020 Klagenfurt, Österreich 159. Steiger, Dr. Heinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76, 35394 Gießen 160. Stickler, Dr. Matthias, Privatdozent, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 161. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professorin, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 162. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach, 60457 Frankfurt am Main
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Verzeichnis der Mitglieder
163. Takii, Kazuhiro, Professor, LL. D. Dr., International Research Center for Japanese Studies, 3 – 2 Oeyama-cho, Goryo, Nishikyo-ku, Kyoto 610 – 1192, Japan, Email: [email protected] 164. Thier, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Forschungsstelle für Rechtsgeschichte, Rämistrasse 74, 8001 Zürich, Schweiz 165. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 166. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Steenkamp 2, 24226 Heikendorf bei Kiel 167. Vormbaum, Dr. Dr. Thomas, Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Fernuniversität Hagen, 58097 Hagen 168. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 66123 Saarbrücken 169. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Hagenmattenstraße 6, 79117 Freiburg 170. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Kirchenrechtliches Institut, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 171. de Wall, Dr. Heinrich, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, 91054 Erlangen 172. Walther, Dr. Helmut G., Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 173. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ammerseestraße 102, 82131 Gauting 174. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Universität Bayreuth, Professur für Bayerische Landesgeschichte, 95440 Bayreuth 175. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 176. Westphal, Dr. Sigrid, Professorin, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Neuer Graben 19 / 21, 49069 Osnabrück 177. Wienfort, Dr. Monika, Professorin, Technische Universität Berlin, Institut für Geschichte, Franklinstraße 28 / 29, 10587 Berlin 178. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Rechtsgeschichte, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 179. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Neue Universität, Südflügel, 69120 Heidelberg 180. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht, Postfach, 79085 Freiburg 181. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Mommsenstraße 13, 01062 Dresden 182. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Donati u. 35 – 45, 1525 Budapest, Ungarn