Verbrechen - Strafe - Resozialisierung: Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag am 20. August 2010 9783899496079, 9783899496062

Heinz Schoech, who is celebrating his 70th birthday on 20 August 2010, is one of the most respected German criminal law

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German Pages 1106 [1107] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
I. Kriminologie
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft
Anmerkungen zu Hausers „Moral Minds“ aus kriminologischer Perspektive
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen
So genannte „Amokläufe“ aus kriminologischer Sicht
Gewalt durch Jungen und Mädchen
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr
Optimierungsbedarf und Optimierungsmöglichkeiten der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland
Die kriminelle Persönlichkeit
„Hunde, die bellen, beißen nicht“
II. Jugendstrafrecht
Jugendkriminalrecht - quo vadis?
Jenseits von Erziehung: Generalprävention als komplementärer Sanktionszweck des Jugendstrafrechts
§ 45 JGG - Quo vadis?
Überlegungen zur Einführung eines Warnschussarrests aus statistischer Sicht
Das Schülerverfahren als kriminalpräventives Angebot der Jugendhilfe
III. Strafvollzug
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug
Die lästigen Weihnachtspakete
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs
IV. Materielles Strafrecht
Zur Symbolik des Strafrechts
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im Strafgesetzbuch
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts und der „AE-Leben“
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking im Vergleich mit § 238 des deutschen Strafgesetzbuchs
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes
Neue Akzente für den Untreuetatbestand?
Sind die „Trunkenheitsdelikte“ reformbedürftig?
Der Arzt als Unterlassungstäter
Allgemein- und Sonderdelikte: Versuch einer Abgrenzung im Umweltstrafrecht
V. Strafrechtliche Sanktionen
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte?
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich bei Unmöglichkeit nachträglicher Gesamtstrafenbildung
Zur Auslegung der „rechtswidrigen Tat“" in der zweifachen Verwendung in § 63 StGB
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug
Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne Rücksicht auf kriminologische Erkenntnisse
Kriminalpolitische und kriminologische Probleme der Sicherungsverwahrung
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie
Die Errichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe – ein Artefakt der Forschung?
VI. Strafprozessrecht
Gefahren im strafprozessualen Denken
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess
Entwicklungen der Untersuchungshaft aus rechtstatsächlicher und rechtspolitischer Perspektive
Das europäische „ne bis in idem“ und die Aufwertung des Opportunitätsprinzips auf Unionsebene
Der Anklagesatz
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte nach Verfahrenstrennung - der Anfang vom Ende?
Wie viel Opferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess?
Das Opfer als Prozesspartei?
Schuldspruchersetzung – Berichtigung oder Benachteiligung?
VII. Forensische Psychiatrie und Rechtsmedizin
Freiraum für den menschlichen Willen
Schuldfähigkeit bei „Komorbidität“ durch mehrere psychische Störungen
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen?
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre und ihre Bedeutung bei der Strangulationsdiagnose
VIII. Juristenausbildung
Geschichte und Geschichten der juristischen Staatsprüfungen in Bayern
Backmatter
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Verbrechen - Strafe - Resozialisierung: Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag am 20. August 2010
 9783899496079, 9783899496062

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Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag

Verbrechen – Strafe – Resozialisierung Festschrift für

HEINZ SCHÖCH zum 70. Geburtstag am 20. August 2010

herausgegeben von

Dieter Dölling Bernd-Dieter Meier

Bert Götting Torsten Verrel

De Gruyter

ISBN 978-3-89949-606-2 e-ISBN 978-3-89949-607-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Heinz Schöch zum 20. August 2010

HANS-JÖRG ALBRECHT MICHAEL ALEX FRANK ARLOTH DIRKBAIER BRITTA BANNENBERG WERNER BEULKE AxEL BOETTICHER BERNHARD BÖHM REINHARD BÖTTCHER DIETER DÖLLING FRIEDER DüNKEL GUNNAR DUITGE RUDOLFEGG WOLFGANG EISENMENGER ALBIN ESER THOMAS FELTES KLAUS FOERSTER MAX FOERSTER EVGENIJ GAZOV MICHAEL GEBAUER BERT GÖTTING RITAHAVERKAMP WOLFGANG HEINZ DIETER HERMANN THOMAS HILLENKAMP T ATJANA HÖRNLE JÖRG-MARTIN JEHLE HEIKEJUNG JOHANNES KAspAR JÖRG KINZIG CHRISTOPH KNAUER PETERKÖNIG ARTHUR KREUZER

HANS-LUDWIG KRÖBER HANS KUDLICH KRISTIAN KÜHL KARL-LUDWIG KUNZ KLAUS KUTZER FRITZLoos MANFRED MAIWALD MANFRED MARKWARDT BERND-DIETER MEIER LUTZ MEYER-GOSSNER CARSTEN MOMSEN HEINZ MÜLLER-DIETZ NORBERT NEDOPIL V ASILEIOS PETROPOULOS CHRISTIAN PFEIFFER HENNING RADTKE RUDOLF RENGIER PETERRIESS DIETER RÖSSNER CLAUS ROXIN HELMUT SATZGER HERO SCHALL HANS JOACHIM SCHNEIDER HEINO SCHÖBEL FRANZ STRENG MONIKA TRAULSEN TORSTEN VERREL KLAUS VOLK MICHAEL WALTER THOMAS WEIGEND PETRA WIITIG ULRICH ZIEGERT

Inhalt VORWORT Heinz Schöch zum 70. Geburtstag

XV

I. Kriminologie MICHAEL W ALTER

Über Kriminologie als Kulturwissenschaft

3

PETRA WITTIG

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" aus kriminologischer Perspektive

19

HANS-JÖRG ALBRECHT

Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen

31

BRITTA BANNENBERG

So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht

49

CHRISTIAN PFEIFFER / DIRK BAIER

Gewalt durch Jungen und Mädchen

69

FRANZ STRENG

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule Ergebnisse einer Replikationsstudie

81

FRIEDER DüNKEL

Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr

101

WOLFGANGHEINZ

Optimierungsbedarfund Optimierungsmöglichkeiten der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland

119

VIII

Inhalt

HANS JOACHIM SCHNEIDER

Die kriminelle Persönlichkeit Eigenschafts- versus Prozess-Modell

145

BERND-DIETER MEIER

"Hunde, die bellen, beißen nicht" Einstellungen Studierender zu Kriminalität und Strafe

167

II. Jugendstrafrecht MICHAEL GEBAUER

Jugendkriminalrecht - quo vadis?

185

JOHANNES KAsp AR

Jenseits von Erziehung: Generalprävention als komplementärer Sanktionszweck des Jugendstrafrechts

209

TORSTEN VERREL

§ 45 JGG - Quo vadis? Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen der Evaluation nordrhein-westfälischer Diversionstage

227

BERT GÖTTING

Überlegungen zur Einführung eines Wamschussarrests aus statistischer Sicht

245

MONIKA TRAULSEN

Das Schülerverfahren als kriminalpräventives Angebot der Jugendhilfe Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl

267

111. Strafvollzug HEINZ MÜLLER-DIETZ

Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Straf\rollzug

285

HEIKEJUNG

Die lästigen Weihnachtspakete

303

Inhalt

IX

RUDOLFEGG

Sozialtherapie: gestern, heute und morgen

313

FRANK ARLOTH

Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs

337

IV. Materielles Strafrecht KARL-LUDWIG KUNZ

Zur Symbolik des Strafrechts

353

KLAUS VOLK

Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik

369

RITA HAVERKAMP

Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld Probleme strafrechtlicher Prävention bei mutmaßlichen terroristischen Einzeltätern

381

T ATJANA HÖRNLE Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht

401

KRISTIAN KÜHL

Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im Strafgesetzbuch

419

CHRISTOPH KNAUER

Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht - Aspekte der ärztlichen Schweigepflicht unter besonderer Berücksichtigung von Supervision, ärztlichem Konsil und Sachverständigentätigkeit -

439

ALBIN ESER

Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus

461

KLAUS KUTZER

Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes

481

x

Inhalt

ARTHUR KREUZER

Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts und der "AE-Leben"

495

THOMAS HILLENKAMP

Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch

511

MANFRED MAIWALD

Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking im Vergleich mit § 238 des deutschen Strafgesetzbuchs

53 1

RUDOLF RENGIER

Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes

549

CARSTEN MOMSEN

Neue Akzente fur den Untreuetatbestand? - Der Fall "Bremer Vulkan" im Lichte der Abwendung der neueren Rechtsprechung von der "Interessentheorie" -

567

PETERKöNIG

Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig?

587

GUNNAR DUTTGE

Der Arzt als Unterlassungstäter

599

HEROSCHALL

Allgemein- und Sonderdelikte: Versuch der Abgrenzung im Umweltstrafrecht

619

v. Strafrechtliche Sanktionen DIETER RÖSSNER

Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe

637

JÖRG KINZIG

Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte? Grenzen der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bei Bagatelltaten wiederholt straffälliger Personen

647

Inhalt

XI

HANS KUDLICH

Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich bei Unmöglichkeit nachträglicher Gesamtstrafenbildung

669

FRITZ Loos

Zur Auslegung der "rechtswidrigen Tat" in der zweifachen Verwendung in § 63 StGB

681

HENNING RADTKE

Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug

695

AXEL BOETTICHER

Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne Rücksicht auf kriminologische Erkenntnisse

715

THOMAS FELTES / MICHAEL ALEX

Kriminalpolitische und kriminologische Probleme der Sicherungsverwahrung

733

BERNHARD BÖHM

Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts

755

DIETER DÖLLING

Zum Verhältnis von Strafe und Therapie

771

MANFRED MARKWARDT

Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern

781

DIETER HERMANN

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafeein Artefakt der Forschung?

791

VI. Strafprozessrecht LUTZ MEYER-GOSSNER

Gefahren im strafprozessualen Denken

811

CLAUS ROXIN

Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess

823

XII

Inhalt

JÖRG-MARTIN JEHLE

Entwicklungen der Untersuchungshaft aus rechtstatsächlicher und rechtspolitischer Perspektive

839

V ASILEIOS PETROPOULOS Das europäische "ne bis in idem" und die Aufwertung des Opportunitätsprinzips auf Unionsebene

857

ULRICH ZIEGERT

Der Anklagesatz. Novellierung durch Rechtsprechung?

879

PETERRIESS

Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer Gedanken zu einer (fast) unendlichen Geschichte

895

HELMUT SATZGER

Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte nach Verfahrenstrennung - der Anfang vom Ende?

913

REINHARD BÖTTCHER

Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess?

929

THOMAS WEIGEND

Das Opfer als Prozesspartei? Bemerkungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz 2009

947

WERNER BEULKE

Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? Der Austausch der Straftatbestände im Urteilstenor durch das Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung des Strafausspruchs

963

VII. Forensische Psychiatrie und Rechtsmedizin NORBERT NEDOPIL

Freiraum fur den menschlichen Willen Gedanken zu einem überflüssigen und unlösbaren Disput

979

Inhalt

XIII

HANS-LUDWIG KRÖBER

Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" durch mehrere psychische Störungen

993

KLAUS FOERSTER / MAX FOERSTER

Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen?

1007

WOLFGANG EISENMENGER / EVGENIJ GAZOV

Die Feinpräparation von Kehle und Luftröhre und ihre Bedeutung bei der Strangulationsdiagnose

1027

VII. Juristenausbildung HEINO SCHÖBEL

Geschichte und Geschichten der juristischen Staatsprüfungen in Bayern

1039

Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

1055

Verzeichnis der von Heinz Schöch betreuten Habilitanden und Doktoranden

1075

Autorenverzeichnis

1085

Vorwort Am 20. August 2010 begeht Heinz Schöch seinen siebzigsten Geburtstag. Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Heinz Schöch die deutsche Kriminologie maßgeblich mit geprägt und außerdem wesentliche Beiträge zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht geleistet. Heinz Schöch wurde 1940 in Sarata/Bessarabien geboren. In Deutschland lebt er seit 1945. Im Jahr 1959 legte er das Abitur in Stuttgart-Bad Cannstatt ab. Es folgten ein Studium Generale am Leibniz-Kolleg in Tübingen und ein Jurastudium in Tübingen und Hamburg. 1965 absolvierte Heinz Schöch das Erste juristische Staatsexamen, 1969 das Zweite juristische Staatsexamen. Von 1965 bis 1974 war er am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent und Akademischer Rat tätig. 1972 erfolgte die Promotion mit einer grundlegenden Arbeit über "Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz". An die Tübinger Zeit schloss sich die Phase als Professor in Göttingen an. Heinz Schöch war von 1974 bis 1994 ordentlicher Professor für Strafrecht und Kriminologie an der GeorgAugust-Universität Göttingen. 1985/86 übte er das Amt des Dekans der Göttinger Juristischen Fakultät aus. Rufe an die Universitäten Bielefeld und Zürich lehnte er ab. In Göttingen war Heinz Schöch auch vorübergehend als Richter am Landgericht im zweiten Hauptamt tätig. 1994 trat Heinz Schöch die Nachfolge von Horst Schüler-Springorum auf dem Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug an der Ludwig-Maximilians-Universität München an. Er war von 1996 bis 1998 Prodekan der Juristischen Fakultät und Mitglied des Senats der Universität und von 2001 bis 2003 Dekan der Juristischen Fakultät sowie Geschäftsführender Direktor des neu errichteten Departements "Juristisches Seminar". Seit dem 1. Oktober 2008 ist Heinz Schöch emeritiert. Die Forschungstätigkeit von Heinz Schöch ist durch zahlreiche umfangreiche empirische Untersuchungen geprägt. Seine Dissertation über "Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz" enthält bereits eine eingehende empirische Untersuchung der Strafzumessungspraxis bei Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr und der spezial- und generalpräventiven Effektivität der strafrechtlichen Sanktionen. Außerdem hat Heinz Schöch gemeinsam mit dem Würzburger Psychologen Hans-Peter Krüger wichtige Untersuchungen zur Straßenverkehrsdelinquenz durchgeführt, die sich mit der Generalprävention und dem Fahren unter Alkohol sowie dem Fahren unter Drogeneinfluss befassen. In zahlreichen Aufsätzen hat sich Heinz Schöch

XVI

Vorwort

mit dem Fahren unter dem Einfluss von Alkohol, illegalen Drogen und Medikamenten sowie mit den Möglichkeiten der strafrechtlichen Kontrolle dieses Verhaltens auseinandergesetzt. Mit einer Untersuchung zur nicht registrierten Kriminalität bei Strafgefangenen und in der "Normalbevölkerung", die 1976 unter dem Titel "Ist Kriminalität normal?" veröffentlicht wurde, hat Heinz Schäch einen wichtigen Beitrag zur deutschen Dunkelfeldforschung geleistet. Außerdem hat Heinz Schäch die deutsche empirische Forschung über die generalpräventiven Wirkungen des Strafrechts mitbegründet. Er hat ab 1980 in Göttingen Befragungsstudien über Sanktionseinschätzungen und Delinquenz veranlasst, welche die empirische Generalpräventionsforschung erheblich vorangebracht haben. Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch ist die empirische Strafverfahrensforschung. Er hat ab 1975 in Niedersachsen Feldexperimente über neue GestaItungen der Hauptverhandlung - die Zweiteilung der Hauptverhandlung und die Hauptverhandlung am Runden Tisch - initiiert. Weitere Untersuchungen zur Rechtswirklichkeit des Strafverfahrens betrafen unter anderem die polizeiliche Ermittlungstätigkeit, die Einstellung von Strafverfahren nach dem Opportunitätsprinzip, die Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, die Stellung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung und die Kosten des Strafverfahrens. Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft war Gegenstand mehrerer Untersuchungen von Heinz Schäch, in der er unter anderem die Bedeutung herausgearbeitet hat, die der frühen Bestellung eines Verteidigers zukommt. Nachdrücklich hat sich Heinz Schäch für die Wahrung der Interessen des Opfers im Strafverfahren eingesetzt. In diesem Zusammenhang hat er empirische Untersuchungen zu Rechtswirklichkeit der Nebenklage, zur Zeugenbetreuung in der Justiz und zu Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz, insbesondere zum Einsatz der Videotechnik, veranlasst und wichtige Beiträge zur Auslegung einschlägiger Vorschriften der Strafprozessordnung geleistet. Ein besonderes Anliegen war Heinz Schäch die Einfügung der Wiedergutmachung für das Opfer in das Strafverfahren. Unter anderem hat er in München das Modellprojekt AUSGLEICH initiiert, in dem Schadenswiedergutmachung im Strafverfahren über eine anwaltliche Schlichtungsstelle geleistet wird. Er hat mehrere empirische Untersuchungen veranlasst, in denen die Implementierung dieses Modells und seine Wirkungen eingehend analysiert worden sind. Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch sind die strafrechtlichen Sanktionen. Er hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen unter anderem mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt, der Geldstrafe, dem Strafzumessungsrecht, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht, der Entziehungsanstalt und der Sicherungsverwahrung befasst. Ein besonderes

Vorwort

XVII

Anliegen war es ihm, die Möglichkeiten auszubauen, mit ambulanten Sanktionen auf Straftaten zu reagieren. Sein Gutachten fur den 59. Deutschen Juristentag 1992 über das Thema "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?" ist insoweit von grundlegender Bedeutung. Auch mit dem Jugendstrafrecht hat sich Heinz Schäch eingehend befasst. Er hat empirische Untersuchungen über die Behandlung von Heranwachsenden im Jugendstrafverfahren, die Jugendgerichtshilfe, die so genannten Schülergerichte in Bayern und die Prävention von Graffiti-Delikten junger Täter durch Wiedergutmachung veranlasst. Gemeinsam mit Bernd-Dieter Meier und Dieter Rässner hat er ein Lehrbuch zum Jugendstrafrecht verfasst, das 2007 in 2. Auflage erschienen ist. Ein wichtiges Arbeitsfeld von Heinz Schäch ist außerdem der Strafvollzug. In diesem Zusammenhang ist neben einschlägigen Aufsätzen vor allem das Lehrbuch "Strafvollzug" zu nennen, das Heinz Schäch gemeinsam mit Günther Kaiser und Hans-Jürgen Kerner verfasst hat. Das Buch ist 2002 in 5. Auflage als Lehr- und Handbuch und 2003 in einer kürzeren Version als Einführung in die Grundlagen des Strafvollzugs erschienen. Auch zur Kriminalprognose hat Heinz Schäch wichtige Beiträge geleistet. Zu nennen sind insbesondere seine Mitarbeit an den 2006 veröffentlichten Mindestanforderungen an Prognosegutachten und sein Artikel über die Kriminalprognose in dem 2007 erschienenen Ersten Band des Internationalen Handbuchs der Kriminologie. Ein Kennzeichen des Werks von Heinz Schäch ist seine enge Zusammenarbeit mit der Forensischen Psychiatrie. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die folgenden grundlegenden Veröffentlichungen zu nennen: seine 2007 und 2008 erschienenen Kommentierungen der die Schuldfähigkeit betreffenden §§ 19 - 21 StGB und der sich auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung beziehenden §§ 61 - 64 und 67 StGB in der 12. Auflage des Leipziger Kommentars zum StGB, der Artikel über die Schuldfähigkeit in dem 2007 erschienenen ersten Band des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie, der Artikel über den Maßregelvollzug in dem Handbuch der Psychiatrischen Begutachtung von Venzlaff/Foerster und die Mitwirkung bei der Erstellung der 2005 erschienenen Mindestanforderungen an die Schuldfähigkeitsbegutachtung. Außerdem hat Heinz Schäch empirische Untersuchungen über die Rechtswirklichkeit der Schuldfähigkeitsbegutachtung und ihre Auswirkungen auf die gerichtliche Entscheidung veranlasst und betreut. Weitere Veröffentlichungen von Heinz Schäch betreffen die Grundlagen der Kriminologie. Zu nennen sind hier unter anderem Beiträge über "Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung", das Verhältnis von Verstehen und

XVIII

Vorwort

Erklären, das Marburger ProgramlTI aus der Sicht der Kriminologie und über den Einfluss der Kriminologie auf das Menschenbild des Strafrechts. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich das Werk von Heinz Schäch nicht auf empirisch-kriminologische Untersuchungen beschränkt, sondern es ihm auch um eine sachgerechte Auslegung und kriminalpolitische Weiterentwicklung des Straf- und Strafprozessrechts geht. Ein Rechtsgebiet, mit dem sich Heinz Schöch intensiv auseinander gesetzt hat, ist das Medizinrecht. Die Veröffentlichungen betreffen unter anderem die Sterbehilfe und die Verantwortung von Ärzten und Klinikpersonal für Suizide, die ärztliche Aufklärungspflicht, die unterlassene Hilfeleistung und die Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. Auch mit datenschutzrechtlichen Problemen hat sich Heinz Schäch befasst. So hat er Veröffentlichungen über den Datenschutz in der Sozialarbeit mit Straffälligen, die Offenbarungspflichten von Therapeuten im Strafvollzug und im Maßregelvollzug und die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen der Akteneinsicht für kriminologische Forschungsvorhaben vorgelegt. Im Alternativkommentar zur Strafprozessordnung hat er die §§ 151 bis 160,238 - 245 und 403 406 h StPO kommentiert. Heinz Schöch hat sich in kriminalpolitischen Fragen nachdrücklich engagiert. So hat er an zahlreichen Alternativ-Entwürfen des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer mitgewirkt. Es handelt sich um die folgenden Alternativ-Entwürfe: AE Reform der Hauptverhandlung 1985, AE Sterbehilfe 1986, AE Wiedergutmachung 2002, AE Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit 1996, AE Reform des Ermittlungsverfahrens 2001, AE Strafjustiz und Medien 2005, AE Sterbebegleitung 2005 und AE Leben (Reform der Tötungsdelikte) 2008. Außerdem hat Heinz Schöch zu zahlreichen Gesetzentwürfen als Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages Stellung genommen. Er hat an Anhörungen des Rechtsausschusses zu folgenden Gesetzentwürfen teilgenommen: Opferschutzgesetz (1986), Verbrechensbekämpfungsgesetz, insbesondere zu § 46a StGB (1994, Rechts- und Innenausschuss), Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten (1997), 36. Strafrechtsänderungsgesetz - Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201a StGB (2003), Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (2007), Gesetzentwurf des Bundesrates zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts (2009), Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (2009) und 2. Opferrechtsreformgesetz (2009). Heinz Schöch hat auch für die kriminologische Ausbildung Hervorragendes geleistet. Bei ihm sind zahlreiche Dissertationen entstanden und er hat bisher fünf Wissenschaftler (Dieter Dölling, Bernd-Dieter Meier, Torsten

Vorwort

XIX

Verrel, Bert Götting und Vasileios Petropoulos) zur Habilitation geruhrt. Weitere Habilitanden befinden sich auf dem Weg. Für seine Schüler ist Heinz Schöch ein verständnisvoller Lehrer, der jederzeit ansprechbar ist und die Arbeiten seiner Schüler umsichtig und nachdrücklich fördert. Gemeinsam mit Günther Kaiser hat er den Juristischen Studienkurs Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug verfasst, der 2010 in 7. Auflage erschienen ist und für alle Studierende des kriminalwissenschaftlichen Schwerpunktbereichs eine wertvolle Hilfe darstellt. Über den Bereich der Universität hinaus hat sich Heinz Schöch in zahlreichen Organisationen engagiert. Er war von 2001 bis 2003 Präsident der Neuen Kriminologischen Gesellschaft. 2003 hat er die Münchner Tagung der Gesellschaft mit dem Thema "Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit" veranstaltet. Heinz Schöch gehört zu den Mitbegründern des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Er war von 1994 bis 2006 Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages. Auf dem 62.,64. und 66. Deutschen Juristentag hat er den Vorsitz der Strafrechtlichen Abteilung geruhrt. 2007 und 2010 war er Vorsitzender von Fachabteilungen des Deutschen Verkehrsgerichtstages in Goslar. Heinz Schöch ist seit 2008 Vorsitzender des Fachbeirats des Max-Planck-Instituts rur ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Er gehört dem Vorstand der Opferhilfevereinigung WEISSER RING e. V. an und ist Vorsitzender des Fachbeirats Strafrecht dieser Vereinigung. Seit 2007 war er beim Europäischen Gerichtshof fur Menschenrechte in Straßburg im Auftrag der Bundesregierung tätig. Er steht in enger Verbindung zur japanischen Kriminologie und Strafrechtswissenschaft. 1995 wurde er zum Ehrenmitglied der Japanischen Strafrechtsgesellschaft ernannt. 2008 wurde Heinz Schöch vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz Erster Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Heinz Schöch hat rur die Kriminalwissenschaften Hervorragendes geleistet. Wir danken ihm rur seine vielfachen Verdienste und wünschen ihm, dass ihm seine Schaffenskraft noch lange erhalten bleibt.

Im Juni 2010

Die Herausgeber

J. Kriminologie

Über Kriminologie als Kulturwissenschaft MICHAEL W ALTER *

Das Thema "liegt in der Luft", nachdem der kulturelle Bezug der Humanund Sozialwissenschaften wieder zunehmende Aufmerksamkeit findet. Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Kriminalität, Kriminalitätskontrolle und Kriminalitätsentwicklung als Kultur-geprägte Erscheinungen zu begreifen sind. Zur Klärung dessen erfolgt eine knappe kriminologischtheoretische Bestandsaufnahme. Daran anknüpfend wird erörtert, in welchen Hinsichten eine kulturwissenschaftliche Perspektive der Kriminologie neue und weiterführende Impulse zu geben vermag. Drei Gesichtspunkte können herausgearbeitet werden: Die Vielfalt kultureller Zeugnisse vermehrt die Quellen kriminologischer Forschung (1), Kriminalität liefert einen unverzichtbaren Stoff für die Lebensgestaltung (2) und Kriminalität wird auf verschiedenen gesellschaftlichen Bühnen inszeniert (3). Die folgenden Überlegungen sind Heinz Schöch in fachlicher und persönlicher Verbundenheit gewidmet. Sein Werk befasst sich mit Grundfragen der Kriminologie, I einer Wissenschaft, an deren Neubegründung in der Nachkriegszeit er maßgeblich Anteil hatte. Ein auf die konkrete Rechtswirklichkeit bezogenes, methodisch durchdachtes und transparentes empirisches Vorgehen ohne ideologische Scheuklappen kennzeichnen seine Arbeiten bis heute. 2 Zur Ehrung des Jubilars möchte ich deswegen einige Gedanken beisteuern, die einerseits die kriminologische Theorie reflektieren, andererseits auf die Breite und wachsende Komplexität der Praxis- und Forschungsfelder hinweisen sollen.

* Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts sowie für technische Hilfen danke ich Herrn wiss. Mitarb. Michael Stroh. I Einen gewissen Einblick vermitteln die Lösungshinweise in: Kaiser/Schäch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 6. Aufl. 2006, die eine Reihe von Schäch besonders intensiv bearbeiteter Themen betreffen (etwa Verbrechens- und Straftheorien, Täterpersönlichkeit und Schuld sowie kriminalrechtliehe Sanktionen, Strafzumessung und Kriminalprognose)~ exemplarisch seien ferner die zusammenfassende Studie zu "Empirischen Grundlagen der Generalprävention" in der Festschrift für Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1081-1105 genannt sowie - aus jüngerer Zeit - die Abhandlung zur Kriminalprognose in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 1,2007, S. 359 f. 2 Schäch/Traulsen GA 2009, 19 f.

4

Michael Walter

I. Entwicklung zum "cultural turn"

1. Der programmierte oder der freie Mensch? Die Wissenschaft vom "Crimen", dem Verbrechen, steht seit jeher in einem Spannungsverhältnis zwischen Annahmen eines "geborenen Verbrechers", einer biologisch vorgegebenen "Anlage" zum Verbrechen, als dem einen Pol und der Betonung menschlicher Handlungs- und Gestaltungsfreiheit als dem anderen. Die Unterstellung persönlicher Freiheit ist vor allem für die Legitimation jedes Strafrechts nötig, da Strafe Schuld und Schuld die freie Entscheidung fur das Unrecht voraussetzt. Soweit ein Mensch nicht anders handeln konnte, ist kein Schuldvorwurf möglich. 3 Im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung haben sich die Akzente deutlich in die Richtung der Freiheitsannahme verlagert. 4 Der andere denkbare Ausgangspunkt blieb aber nach wie vor in unterschiedlichen Formen präsent. Jüngst haben etwa wieder bestimmte Hirnforscher auf determinierende Momente verwiesen und das Strafrecht von dort aus in Frage gestellt. 5 Gleichwohl kann im Ergebnis kein Zweifel bestehen, dass jedes menschliche Zusammenleben auf die Annahme grundsätzlicher Verantwortlichkeit der Individuen angewiesen ist, um auf diesem Fundament bauen zu können. In der Kriminologie bestehen indessen trotz aller Kontroversen starke Tendenzen, die Vorstellung individueller Freiheit zu relativieren. Der einzelne "Täter" wird als zahlreichen Einflüssen ausgesetzt angesehen, als - auch - durch seine "Umwelt" geprägt, und zwar von Geburt an.

2. Kriminalität und Kultur: ein altes Thema Zur "Umwelt" gehört fraglos die Kultur, ohne dass fur diese Feststellung schon eine nähere Defmition des Kulturellen erforderlich wäre. Es genügt insoweit, die Kultur mit ihren Konkretisierungen und mannigfachen Erscheinungsformen zur vorfindlichen Außenwelt zu rechnen, der jeder Mensch begegnet, in der Erziehung, in den an ihn gestellten Erwartungen, in den beobachtbaren Verhaltensmustern und in den gesamten Bedingungen und Regeln des Zusammenlebens. Kriminalität wird seit langem in Abhängigkeit etwa von vernachlässigter Erziehung und (Aus-)B ildung gesehen. Sie hat in diesem Sinne kulturelle "Ursachen", ist aber deshalb noch nicht

3 Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 424 f.~ Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S,348 f. 4 Wenn auch das "kriminalbiologische Modell" nicht den Ausgangspunkt kriminalwissenschaftlichen Denkens bildete, s. Kaiser MschrKrim 2006, 314 f. 5 S. etwa Roth Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003, S. 553 f.~ treffend T Walter FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 131 f.

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selbst Teil der Kultur. Um diesen Schritt zu einer kulturellen Inkorporierung wird es vielmehr im Folgenden gehen. Immerhin kennen wir spätestens seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kriminogene Sub-Kulturen. 6 Entsprechende Forschungen gehören zur "Täter-Kriminologie", nehmen dem handelnden Subjekt indessen einen Teil seiner Autonomie. Als soziales Wesen wird der Mensch in der Lebensführung durch bestimmte Milieus beeinflusst, deren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in manchen Hinsichten von der Mehrheitskultur abweichen, selbst jedoch wiederum überindividuelle Strukturen und quasiverbindliche Normen ausprägen. Solche separaten Welten sind insbesondere für Gefängnisse und Drogenmilieus beschrieben worden. Bereits in historischen Untersuchungen hat man "Gegenkulturen" von "Gaunern" außerhalb der Städte 7 gefunden sowie Räuberbanden 8 nachgespürt. Jedes Mal ließen sich kriminelle Taten aus diesen jeweils typischen Lebensumständen erklären. Gefängnisse sind Stätten der Gewalt, 9 illegale Drogen kosten viel und lassen sich nur auf kriminellen Wegen beschaffen. Outlaws und Räuber können ihren Lebensunterhalt ebenfalls nur durch Straftaten bestreiten, da ihnen legale Möglichkeiten wegen ihres "Untertauchens" zumeist abgeschnitten sind. In der kriminologischen Forschung ist des Weiteren die kriminogene Tatoder Handlungssituation betont worden. Sie trägt ihrerseits in mehrfacher Hinsicht kulturelle Züge. Schon die Stichworte der "häuslichen Gewalt" verbunden mit der Schutzlosigkeit des Opfers - oder der "Gewalt in Stadien" - verbunden mit besonderen sozialpsychologischen Versuchungssituationen - markieren den Zusammenhang von Lebensform und Gefährdungslage. 10 Die Motorisierung unserer Gesellschaft gestaltete die gesalnte polizeiliche Kriminalstatistik um, es entstand nicht nur eine neue Verkehrskriminalität, auch die "klassische" Kriminalität, insbesondere der Diebstahl rund um das Auto, nahm neue Formen an. Entsprechendes gilt für die Einrichtung von Selbstbedienungsläden und - seit neuerern - für die elektroni6 Zusf v. Trotha in: Kaiser/Kemer/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 338 f ~ Bock Kritninologie, 3. Aufl. 2007, S. 51 f 7 Vgl. Eibach Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, 2002, S. 311 f 8 Dazu s. Radbruch in: Radbruch/Gwinner, Geschichte des Verbrechens, 1990, S. 347 f~ ferner Schubert Räuber, Henker, arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter, 2007, S. 245 f, der die feste Binnenstruktur der Banden (Schwurvereinigungen, Eidgenossenschaften) betont. 9 S. Neubacher Gewalt hinter Gittern, 2008~ s. a. M Walter Gewaltkriminalität, 2. Aufl. 2008, S. 75. 10 Zur Kriminalität auf Plätzen und Märkten in der frühen Neuzeit s. Schu'erhoff in: Blauert/Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur sozialen Kulturgeschichte der Vormoderne, 2000, S. 35 f

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sche Bezahlung durch Magnetkarten. Veränderte Tatgelegenheiten "schaffen Diebe", 11 können allerdings auch bisherige Vorgehensweisen unattraktiv machen. Während insoweit die Technik die Lebensweise gemäß einem Vorher-Nachher-Vergleich verändert hat, rührt bei Migrationsprozessen der horizontale Wechsel in andere Gesellschaften zu ungewohnten Lebenslagen. lnter- und lntra-Kulturkonflikte können die Folge sein. Straftaten im Zuwanderungsland erscheinen als möglich, deren Hintergrund auf die Kultur des Herkunftslandes verweist 12 (etwa "Ehrenrnorde")13, ferner Delikte, die aus einem inneren Konflikt entstehen, weil sich der Täter beispielsweise zu einem modemen Leben hingezogen ruhlt, aber gleichzeitig die hergebrachten patriarchalischen Normen des Vaters und dessen familiäre Vorstellungen von der Wahl des künftigen Ehepartners rur verpflichtend hält. Wird der innere Konflikt gewaltsam gelöst, können auch insoweit schwere Delikte die Folge sein. In all diesen Fällen bildet Kultur den externen - nicht aus der Täterpersönlichkeit herrührenden - Kontext rur Kriminalität,14 der sich dann auf den Täter oder die Täterin sowie vor allem sekundär auf das Opfer verhängnisvoll auswirkt.

3. Kriminalität und Kultur: neuere Aspekte Mit dem sogenannten Paradigmawechsel in der Kriminologie, durch den ab den späten 60er Jahren die selektive Strafverfolgung und die Tätigkeit der Kriminalitätskontrolleure in den Mittelpunkt kriminologischer Betrachtungen gerückt wurden, hat man schließlich auch die kulturellen Komponenten eben dieser Kontrollpolitik thematisiert. Am wohl bekanntesten ist nunmehr Garlands Buch "Culture of Control".15 Als überaus aufschlussreich erweist sich freilich nicht erst die Analyse der gegenwärtigen Kontrollkultur, sondern bereits ein Blick in die Geschichte. Die Hexenverfolgungen machen deutlich, dass man imstande war, Verbrechen aus dem Nichts zu kreieren. 16 Christie bezeichnet die "Handlungen, die die Möglichkeit in sich tragen, als Verbrechen betrachtet zu werden" als eine "unbe11 Zurückhaltend K.-L. Kun= in: H.-J. Albrecht/Kury (Hrsg.), Kriminalität, Strafrechtsreform und Strafvollzug in Zeiten des sozialen Umbruchs, 1999, S. 85 f., der die Bedeutung der polizeilichen Erfassungsmodi und Registrierungsweisen betont. 12 Zusf. Schwind Kriminologie, 19. Aufl. 2009, S. 139 f. 13 Instruktiv Wilms Ehre, Männlichkeit und Kriminalität, 2009, S. 71 f. 14 Vgl. Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 805 f. 15 Garland Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart, dt. 2008. 16 Eine Gebrauchsanweisung für die Inquisitoren, wie das zu nlachen sei, liefert u.a. Kramers Hexenhammer, hrsg. u. eingeleitet v. Jerouschek/Behringer, 3. Aufl. 2003, dort s. S. 627 f.~ zur "Konstruktion eines Superverbrechens" Rummel/Voltmer Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, 2008, S.18 f.

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grenzte natürliche Ressource". 17 Sie ist im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich genutzt worden. Um sich die Veränderungen vor Augen zu führen, denke man nur etwa an die Einschränkungen der Strafbarkeit bei der männlichen Homosexualität infolge einer kriminalrechtlichen Abkehr vom moralischen Konzept der "Unzucht". In die entgegengesetzte, straferweiternde Richtung weisen die Ausdehnungen des Gewaltbegriffs und entsprechender polizeilicher Registrierungen, insbesondere bei jungen Männern. 18 Im 18. und 19. Jahrhundert dürfte die Frauenkriminalität zurückgegangen sein, weil infolge eines neuen Familienverständnisses zunehmende patriarchalische Kontrollen erfolgten. 19 So entstehen fortlaufend Kriminalitätssteigerungen und -verringerungen, die wenig mit den Delinquenten und ihrem "Wesen" zu tun haben, vielmehr in erster Linie auf kulturelle Veränderungen bei der Verbrechenswahmehmung und -kontrolle rückführbar sind. Daneben spielen natürlich noch weitere Momente eine Rolle. Kulturell bedingt ist beispielsweise ebenfalls die zunehmende gesellschaftliche Mobilität, deren technische Seite wiederum - wie bereits erwähnt - die Tatgelegenheiten steuert. Analoges gilt fur die Rechtsfolgen. Die Strafen reflektieren keineswegs nur Gerechtigkeits- oder Vergeltungsvorstellungen obwohl auch die sich wandeln - ebenso spiegeln sie sozial-ökonomische Veränderungen auf der staatlichen Kontrollseite, den jeweiligen Bedarf an Arbeitskräften für die maschinelle Textilverarbeitung, den Galeerenbetrieb, den Bergbau, den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Kolonialisierung u.s.f. 20 Was nun ergeben Garlands Studien? Er analysiert die Entwicklung vom wohlfabrtsstaatlichen Strafen (penal welfarism) zu einem neuen ökonomisch geprägten Management-Denken. 21 Das konzentriert sich auf Risiken, die verringert oder beseitigt werden sollen. Sicherheitslücken werden aufgespürt und durch er\veiterte Eingriffstatbestände sowie vor allem durch Institutionen übergreifende Netzwerkarbeit behoben. Diese ersetzt nicht die bisherigen Kontrollstrukturen, ergänzt sie vielmehr. Auch Verbrechensfurcht ist Gegenstand gouvernementaler Maßnahlnen. Im Mittelpunkt stehen nicht so sehr Schuld und Vergeltung, obwohl die Eigenverantwortlichkeit der Straftäter betont wird, sondern neutrale Technologien. Bei denen interessiert zuförderst die präventive Wirksamkeit, weniger die ethische oder rechtliche Seite. Die öffentliche Bekanntmachung von Verurteilungen oder andere Formen der Stigmatisierung, etwa Mitteilungen des Wohnsitzes bestimmter Sexualdelinquenten, sind ebenso wenig ein Tabu wie eine maß-

Christie Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?, dt. 2005, S. 24. Naplava/M Walter MSchrKrim 2006, 338 f. 19 Feeley in: Criminal lustice Histary, Val. 15,1994, S. 235 f. 20 Vgl. Kaiser MSchrKrim 2004,300 f. 21 Garland (Fn. 15), S. 301 f. 17 18

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los lange Inhaftierung nach wiederholten Auffälligkeiten (Three-StrikesGesetze).22 Für Deutschland wäre u.a. die kontinuierliche Ausdehnung der Sicherungsverwahrung von der vorbehaltenen über die nachträgliche Sicherungsverwahrung (§§ 66a, 66b StGB) bis zur Sicherungsverwahrung im Jugendrecht (§§ 7 Abs. 2, 106 Abs. 3-7 JGG) zu nennen. Über die Kriminalpolitik wird zunehmend von Medien und Öffentlichkeit entschieden, die die "passenden" Delikte und Interpretationen liefern und zugleich einen populistischen Politikstil, ausgerichtet an aktuellen Meinungsumfragen, flankieren und fördern. Entscheidend an dieser Sicht ist die umfängliche kulturelle Rahmung der kriminalpolitischen Entwicklung. Die Kriminalpolitik steht weder isoliert da, folgt nicht etwa aus normlogischen Entwicklungen, noch ist sie lediglich die Funktion oder der Überbau ökonomischer Prozesse, wie ein marxistisches Verständnis unterstellen würde. Thematisiert wird im Gegensatz zu den älteren Untersuchungen nicht die sozialschädliche Kultur, deren Früchte Strafe hervorrufen. Es geht erklärtermaßen um die andere Seite derer, die der Kriminalität auf der Spur sind, gleichsam um die Verfolgerkultur. Eine zielgerichtete, engagiert-absichtsvolle Perspektive nimmt die Bewegung der "cultural criminology" ein. Auch sie rahmt das gesamte Kriminalitätsgeschehen kulturell, wobei sie an die soziologische Subkulturtheorie und die Chicagoer Schule anknüpft. 23 Kultur wird als ein Nährboden rur Ungleichheit, Ungerechtigkeit und menschliches Leid bis hin zur Folter angesehen. Der ungebremste Kapitalismus des globalen Zeitalters tritt als eine neue Form der Ausbeutung hervor, die nicht nur einfach materialistisch zu begreifen ist ("simple materialist framework"). Der praktizierte Kapitalismus fuße auf viel komplexeren und tieferen kulturellen Wurzeln, welche die geschaffenen Ungerechtigkeiten als ordnungsgemäß erscheinen ließen. Verschiedene Formen der Kriminalität werden solchermaßen mit einer Sympathie für Widerstand und Subversion begleitet. Graffitis könne man als Teil einer Widerstandskultur ansehen. Sie träten auf den Plan, wenn öffentliche Stadtgebiete zunehmend in privatisierte Konsumentenzonen umgewandelt würden. Während die "Schreiber" bewusst politisch handelten, würden sie von den Behörden aggressiv kriminalisiert. 24 Der Widerstand gelte einer gegenwärtigen Strategie der Dramatisierung von Kriminalität und entsprechenden medialen Aufbereitungen. Das Besondere dieses neuen Ansatzes besteht darin, dass seinem Verständnis zufolge ein sozialer Konflikt zwischen zwei ungleichen Parteien

Garland (Fn. 15), S. 339. Ferrel/HaywardlYoung Cultural Criminology. An Invitation, 2008, S. 5 f.~ ferner Ferrel/HaywardiMorrison/Presdee Cultural Critninology Unleashed, 2004 24 Ferrel/HaywardlYoung a.a.O., S. 17 f. 22 23

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mit letztlich kulturellen Mitteln ausgetragen wird. Kultur wird sowohl auf Seiten derer bemüht, die mit Graffitis Straftaten begehen, als auch auf Seiten derer, die solche Delikte als Verstoß gegen elementare Eigentumsrechte betrachten. Aus der Sicht der cultural criminology leisten subkulturelle Graffiti-Maler mit ihrer Kunst einen kulturell-politischen Beitrag zur Verbesserung des gesellschaftlichen Problembewusstseins, der sodann aber von den Herrschenden als krimineller Übergriff bezeichnet und bekämpft wird. Die Vertreter einer cultural criminology betrachten ihre Argumentation nicht als theoretische Neuheit, betonen vielmehr -- wie erwähnt - ihre Verbindungslinien zur Subkulturtheorie. Ferner verweisen sie auf den labeling approach, der bereits zuvor die Interpretations- und Deutungsmacht der Herrschenden herausgestellt hatte. Ergänzend könnte man auf Galtung verweisen. Er kennt eine "cultural violence",25 welche die vermeintliche Rechtfertigung für die Unterwerfung anderer Menschen und Völker schafft. Ein markantes Beispiel sind rechtsextreme Auffassungen vom "Herrenmenschen". Die sind der Ideologie zufolge zur Dominanz und konkret etwa zur Eroberung, Inbesitznahme und Ausbeutung von Kolonien "berufen". Im Gegenzuge bemüht die UNO eine Kultur des Friedens. Im Kleinen wünschen sich Lehrer in ihrer Schule eine Konfliktkultur, die bei Schwierigkeiten zu Problem lösenden Gesprächen anstelle körperlicher Auseinandersetzungen fuhrt.

II. Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in einem kulturtheoretischen Rahmen

1. Kriminologie und Kulturgeschichte Wir haben bisher eine Reihe kulturspezifischer Aspekte benannt, die sich Erkenntnis fördernd auf das Kriminalitätsgeschehen beziehen lassen. Der nächste Schritt müsste darin bestehen, eine klarere gedankliche Ordnung zu finden. Den Ausgangspunkt bildet die Einsicht, dass sowohl die inhaltliche Bestimmung des Kriminellen, die faktische Verfolgung der kriminellen Personen als auch deren Verhaltensmuster kulturell konstituiert sind. Kultur ist auf beiden Seiten zu finden: bei den Normbrechern wie bei den Normwächtern. Kriminalität als soziales Geschehen steht stets in einem kulturellen Kontext - und wandelt sich entsprechend. Vor diesem Hintergrund ist von einem dauerhaften Zusammenhang zwischen der Entwicklung der gesellschaftlich konstituierten Kriminalität und der Kulturgeschichte auszugehen. Es erstaunt, dass diese Verbindungslinie bislang wenig verfolgt wird. 25 Galtung Journal of Peace Research, 1990, 291 f.

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Dabei ist sie bereits von Radbruch deutlich vorgezeichnet worden. 26 In seinem rechtsphilosophischen Konzept nimmt der Kulturbegriff im Anschluss an den südwestdeutschen Neukantianismus eine zentrale Stellung ein, weil die Kultur als Brücke zwischen Sein und Sollen fungiert. Die ewigen rechtlichen Ideale der Gerechtigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit, die das Sollen beinhalten, finden in der empirisch fassbaren Kultur ihre zeit-örtliche Konkretisierung. 27 Wegen ihrer seinsmäßigen Gestalt sind Kulturphänomene einerseits empirisch messbar, andererseits dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Verstanden werden können Phänomene der Rechtskultur aber nur, soweit sie zu den genannten Rechtsideen in Beziehung gesetzt werden. Radbruch hat sein dementsprechendes Rechts- und Geschichtsverständnis an zahlreichen historischen Beispielen veranschaulicht, diese Darstellung indessen nicht mehr abschließen können. 28 Während Radbruchs Überlegungen insoweit - leider - keinen großen Widerhall erfahren haben, konnte sich inzwischen eine Kulturgeschichte etablieren, deren Themenfelder erhebliche "Anschlussstellen" für kriminologisches Denken und Forschen aufweisen. Zu nennen sind gemäß der komplexen Aufzählung von Tschopp/Weber 29 im Hinblick auf die dort aufgeführten Fragen der Identitätsbildung beispielsweise Prozesse der Ausgrenzung bestimmter Krimineller. Im Zuge der Terrorbekämpfung oder auch im Kampf gegen "Sexualmonster" stabilisiert sich eine Gesellschaft, die durch die Abwehr der "Feinde" zueinander findet. Bezüglich der weiter aufgelisteten Generationenforschung ergeben sich Fragen zur Veränderung kriminalpolitischer Strategien: von der "Behandlungseuphorie" der sozialpädagogisch ausgebildeten Nachkriegsgeneration bis hin zur Punitivität neoliberaler Wohlstandsbürger. Das von Tschopp/Weber nachfolgend bezeichnete Themenfeld "Rasse, Klasse und Nation" weist offensichtliche Bezüge zur "Ausländerkriminalität" oder "Migrantenkriminalität" auf, deren Erkundung die Aufmerksamkeit von scheinbar "biologischen" Bedingungen rasch zu kulturell konstituierten Merkmalen lenken. Das außerdem einschlägige kollektive gesellschaftliche Gedächtnis mitsamt konkurrierenden Erinnerungen und Wahrnehmungen spielt im kriminologischen Bereich, etwa bei der Verarbeitung medialer Berichte über "explodierende" Gewalt, die es "früher" nicht gegeben haben soll, eine zunehmende Rolle. So werden insbesondere totalitäre Regime (NS-Zeit, DDR-Zeit) nach wie vor weVgl. M Waller 1Z 2009, 429 f Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, Nachdruck hrsg. v. Dreier/Paulson, 2. Aufl. 2003, dort S. 11 f, 86 f~ s. ferner die Einführung der Hrsg., S. 240 f 28 RadbruchJGwinner Geschichte des Verbrechens, 1951, hrsg. v. Enzensberger in: Die Andere Bibliothek, 1990 29 Tschopp/Weber Grundfragen der Kulturgeschichte, 2007, S. 15 f 26

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gen ihrer angeblichen Sicherheit gepriesen. Parallel steigen die Anforderungen an die gegenwärtige Kriminalprävention immer weiter. Fragen des kulturellen oder zivilisatorischen Fortschritts, die ebenfalls zum Kanon kulturgeschichtlicher Themenfelder zählen, gehören seit jeher zu den Konstanten kriminologischer Bemühungen. Ideengeschichtliche 30 und divergierende soziologische Ansätze 31 stehen im Mittelpunkt. Und selbst die von Tschopp/Weber aufgeführte "Amerikanisierung"32 hat in der Kriminologie und Kriminalpolitik schon seit ihren wissenschaftlichen Ursprüngen im 19. Jahrhundert Tradition. Die dortigen Fragestellungen, Sichtweisen und Erfahrungen wurden einst durch Reiseberichte übermittelt und werden nunmehr - im Zeitalter der Informationstechnologie - auf noch schnelleren Wegen nach Mitteleuropa transferiert. 33 Die vielfältigen kulturellen Verknüpfungen stehen zwar in keinem direkten Widerspruch zu rational gestalteter Präventionspolitik. Dennoch sichern sie den Einfluss zeit-örtlich bedingter Verkürzungen, Vorlieben, Empfindlichkeiten und Gestimmtheiten. Daraus folgt die in wissenschaftlichen und politischen Verlautbarungen oft übersehene transrationale Komponente aller mit dem Präventionszweck begründeten Anstrengungen. Nicht allein aus einer vorgeblichen Ratio erklärliche Akte begegnen uns mithin wie auf der Täter- so auch auf der Kontrollseite. Es gibt den unvernünftigen Delinquenten ebenso wie die unvernünftige Strafverfolgung. 34 Emotional gesteigerte Verbrechensfurcht, Hass gegenüber "Mördermonstern", persönliches Profilierungsstreben und Perfektionismus sowie weitere "unsachliche" motivationale Hintergründe im Bereich der politischen Akteure stehen einer rational geleiteten Strafverfolgung entgegen. Will kriminologische Forschung die reale Kriminalpolitik wirklich verstehen, muss sie derartigen Erscheinungen nach- und auf den Grund gehen, was ohne kulturelle Rückkoppelung nicht gelingen kann.

2. Aktuell: Verständnis der kriminellen Gewalt Wie hilfreich ist nun das Konzept einer von Kultur geprägten Kriminalität und Kriminalitätskontrolle? Der Ertrag soll am Beispiel der Gewaltdelikte aufgezeigt werden, deren Entstehung und Entwicklung die Öffentlichkeit 30 Kritisch Schwerhoff in: Blauert/Schwerhoff (Fn. 10), S. 22 f. 31 Von Elias bis Foucault, s. zusf M Walter (Fn. 9), S. 32 f 32

Tschopp/Weber (Fn. 29), S. 20 f

33 Zum nordamerikanischen "Kriminologieimport" der Nachkriegszeit s. Kury u. H. 1. Schneider in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 1,2007, S. 77 f. u. 125 f sowie 863 f; ferner H 1. Schneider Kriminalpolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 1998, S. 7 f. 34 Unvergessen: Schüler-Springorum Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 175 f

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besonders stark interessiert. 35 Die erste Frage bezieht sich auf den Gewaltbegriff. Hier zeigt sich sogleich, dass es eine von unseren Vorstellungswelten unabhängige Gewalt nicht gibt. Maßgeblich ist die - kulturelle - Sensibilität für Gewalt. Gegenwärtig erleben wir in vielen Beziehungen eine Ausdehnung der Gewalt, sie wird "entdeckt".36 Bei der häuslichen Gewalt, bei der Gewalt am Arbeitsplatz (Mobbying), bei der Gewalt in der Schule (Bullying) bei der aufdringlichen bis bedrohlichen "Fan"-Gewalt und beim "Psycho-Terror" (Stalking; deutsch: Nachstellung, § 238 StGB). Zeitgleich wird die reaktive Gewalt in einem entgegengesetzten Sinne neu "entdeckt", nämlich ihrer negativen Rahmung entkleidet, indem die Gefangnishaft bis hin zur Sicherungsverwahrung erweiterte Anwendungsbereiche findet. Zugleich werden finale Todesschüsse oder gar Folter als "Rettung" diskutiert. 3? Der Prozess der Gewalt-"Entdeckung" ist ein gesellschaftlicher. Der Begriff wird auf neue Sachverhalte ausgedehnt, die man früher anders interpretiert hatte oder - bei der reaktiven staatlichen Gewalt - mit einem neuen Wertzeichen versehen, das es zuvor so nicht gab. Wie aber will man die tieferen Zusammenhänge erkennen, ohne die kulturellen Hintergründe in den Blick zu nehmen? In einem zweiten Schritt entstehen neue Vertypungen, die die Wirklichkeit umgestalten und umstrukturieren. Wir sehen die Realität jetzt anders. So kannte man vor der Diskussion um das Stalking in den Vereinigten Staaten und dann auch in Europa keinen derartigen Tatbestand. Doch jetzt "gibt" es neben dem Betrüger und dem Dieb den Stalker. Die hier gemeinte Existenz ist grundsätzlich unabhängig von den Phänomenen der Außenwelt, die sich nicht zu verändern brauchen. Freilich können sie sich verändern. Und in einem dritten Schritt erfolgen selbst derartige Verhaltensänderungen. Die Vertypungen liefern wiederum kulturelle - Vorlagen oder Muster, wie man vorgehen kann. Sie erweitern das Repertoire an verfügbaren Verhaltensmodellen. Eindrucksvoll sind im Gewaltbereich vor allem die Rituale, die bei sogenannten Amokläufen oder bei "school-shootings" Anwendung finden. Das Kult(!)-Modell scheinen insoweit die Täter des Massakers an der Columbine HighSChool entwickelt zu haben, deren Texte und verquere Sichtweisen inzwischen als literarisches Werk vorliegen. 38 Gegenwärtig etabliert sich - mit kräftiger medialer Unterstützung - ein neuer Deliktstyp des Amoklaufs, zu dem sogar bestimmte 35 S. Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht (gemeinsam hrsg. v. den Bundesministerien des Innern und der Justiz), 2006, S. 59 f. 36 Näher dazu M Waller (Fn. 9), S. 26 f. 3? Zusf. zur Diskussion um die "Rettungsfolter" Beulke Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, S. 84 f. mit erfreulich klarer - ablehnender - Stellungnahme. 38 Sogar in deutscher Sprache: Gaertner Ich bin voller Hass - und das liebe ich. Dokumentarischer Roman, 2009.

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"Trachten" und Erscheinungsformen hinzugehören. Das gesamte Denken, Fühlen (Hass) und Gebaren liegt als kulturelle Folie vor. Wie bereits erwähnt, sind solche neuen Delikte ohne die Massenmedien und die InternetKommunikation nicht vorstellbar. Wieder stehen wir vor Geschehnissen, deren Erhellung einen kulturellen Zugang erfordert.

111. Fortentwicklung der Kriminologie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Die exemplarischen Überlegungen zur Ge\valtkriminalität bergen verschiedene Ansatzpunkte fur eine ertragreiche Fortentwicklung der Kriminologie. Zumindest drei Aspekte treten hervor.

1. Vielfalt kultureller Zeugnisse als Quellen kriminologischer Forschung Sowohl die gesellschaftlichen Sensibilisierungsprozesse, die der kriminellen Gewalt erst ihre konkrete Gestalt verleihen, als auch die neuen Verhaltensmuster auf der Täter- wie auf der Kontrollseite sind nicht isoliert erfassbar. Sie beruhen auf komplexen Vorstellungen und sind mit allgemeineren Strömungen verbunden. Am Beispiel des Stalking werden etwa Fortentwicklungen des emanzipatorischen Kampfes gegen häusliche Unterdrückung - und ihre Fortsetzung nach der Trennung vom schlagenden Ehemann sichtbar. In den Inszenierungen von schulischen Amokläufen drücken sich extreme Inhalte aus, wie sie in bestimmten Kultfilmen oder Videos zu sehen sind. Von daher liegt es mehr als nahe, das Spektrum der Forschung zu erweitern, nicht mehr nur auf Interviews, Aktenanalysen oder Beobachtungen zu setzen. Bereits Radbruch war wesentlich offener und hat in seinen Studien weiter ausgeholt. Er befragte und analysierte Bilder, Plastiken und andere künstlerische Anordnungen bis hin zur Architektur. 39 Sie stellen sämtlich kulturelle Leistungen dar, die über die Sicht des Verbrechers und des Verbrechens Auskunft geben können. So entnahm er beispielsweise den Totentänzen des Mittelalters Aussagen zum gesellschaftlichen Bild des Bauernstandes, das wieder dazu beitrug, Aufruhr und Gesetzesverstöße, aber auch Konformität und materiellen Verzicht der Bauern zu begreifen. 40

39 S. die Beiträge in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 5, Literatur- und kunsthistorische Schriften, 1997. 40 Radbruch (Fn. 39), S. 35 f., 131 f.

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Wertvolle Schneisen sind schon geschlagen. Hingewiesen sei insbesondere auf Arbeiten, die künstlerische Literatur in kriminologische Betrachtungen einbeziehen 41 und dabei die Wahrnehmungen und Einschätzungen der Rechtswirklichkeit durch Schriftsteller als durchaus wissenschaftlich relevant erachten. In der Literatur werden wissenschaftliche Sichtweisen übernommen, teils aber geht die Dichtung der Forschung auch erheblich voraus. Vor allem die Theoriebildung, die wissenschaftstheoretisch nicht geregelt ist, verlangt nach Intuition und einem ausgeprägten Gespür für menschliche Verhaltensweisen, kann deshalb gut durch künstlerische Texte bereichert werden. Ein Beispiel liefert Max Frischs "andorranischer Jude", der keiner ist, jedoch schließlich diese Identität als die seinige übernimmt. Der in "Andorra" geschilderte Identitätswechsel antizipiert einen wesentlichen Teil der späteren Labeling-Theorie. 42

2. Kriminalität als unverzichtbarer Stofffür die Lebensgestaltung An den zuvor genannten Gewaltdelikten wird ebenfalls exemplarisch deutlich, wie sehr die betreffende Kriminalität für die Lebensgestaltung gebraucht wird. Man kann sogar noch darüber hinausgehen und feststellen, dass sich ohne den Mord die gesamte Weltliteratur auflösen würde. Ähnliches gilt für Krimis aller Art, aber auch für Bühnenstücke und Filme. Woraus folgt diese Fixierung auf das Gewaltverbrechen, die uns fortwährend gefangen nehmen? Elementare Gewaltdelikte stellen für jeden von uns eine Herausforderung dar, die glücklicherweise in der überwiegenden Zahl der Fälle nur intellektueller Natur ist. Doch schnell sind wir selbst betroffen, wenn beispielsweise aktive Sterbehilfe oder das Wegschauen in Notlagen anderer oder wenn die Mitverant\vortung fur zweifelhafte militärische Auseinandersetzungen in Rede stehen. Dennoch trösten wir uns meist mit dem Gedanken, "außen vor" zu bleiben. Die gedanklich-unkörperliche Befassung mit hypothetischer Gewalt, insbesondere Tötungen, steht im Vordergrund. Sie hat ihrerseits viele Facetten, verstandesbezogene und emotionale. Die Vorstellung, dass sich ein Mensch über einen anderen erhebt, um ihn zu vernichten, wühlt auf, führt zu extremen Empfindungen und Gefühlen. Die Befassung mit entsprechenden Handlungen lenkt auf Grenzsituationen, in denen das noch Hinnehmbare 41 Hervorzuheben sind insoweit Studien von lvfüller-Diet= Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein, 1999, u. von Lüderssen Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2. Aufl. 2002, sowie von Schmidhäuser Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatl, 2. Aufl. 1996. 42 Zur Bedeutung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" für die Neutralisationstheorie s. M ~flalter in: Walter/Kania/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Alltagsvorstellungen von Kriminalität, 2004, S. 33 f.

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von dem schon Unerträglichen zu sondern ist. Wie weit reichen Notwehr und Notstand? Es finden ständig Diskurse über derartige Grenzlinien statt, wobei die Antworten etwa zur Zulässigkeit des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeugs, das als Waffe eingesetzt werden soll, keineswegs einheitlich ausfallen 43 und dadurch wiederum neue Kontroversen, aber auch Konsensbemühungen auslösen. Kriminalität lässt sich auf konkrete und verständliche Phänomene eingrenzen. Mittel gegen sie kennt anscheinend jedermann. Damit können grundsätzlich alle mitreden. Anders als bei komplizie11en globalen Wirtschaftsproblemen gibt es Gute und Böse und scheinen einfache Rezepte möglich, den Verbrechern das Handwerk zu legen. Auf sie kann man die Aggressionen lenken, über keinen kann man sich mehr empören als über einen gewalttätigen Sexualtäter. Mit eigenen Vorschlägen zur Verbrechensbekämpfung bekennen Politiker "Farbe", gewinnen sie eine spezifische Identität. Das Thema eignet sich wie kaum ein anderes zur persönlichen und gesellschaftlichen Positionierung. Deswegen haben es Wahlkämpfer entdeckt, deren Eifer dann freilich mit dem Tag der Wahl rasch wieder abflaut. Diese wenigen Hinweise müssen genügen, die kontextuelle Verwobenheit und zentrale Stellung von Kriminalität zu kennzeichnen. Wir brauchen Kriminalität, gleichsam auf Schritt und Tritt. 44 Doch das wird in der kriminologischen Forschung bisher kaum berücksichtigt. Sie ist noch ganz vom Kampf gegen das Verbrechen erfüllt, den es natürlich auch geben muss, der aber nicht das gesamte gesellschaftliche Kriminalitätsgeschehen umschreibt und erklärt. Kriminalität ist kein grundsätzlich auslöschbares Randproblem der Gesellschaft, Kriminalität wirkt vielmehr wesentlich an der Konstitution unserer Gesellschaft mit.

3. Inszenierung der Kriminalität aufverschiedenen Bühnen Die behauptete zentrale Stellung der Kriminalität leuchtet nur ein, wenn wir uns zugleich vergegenwärtigen, dass Kriminalität auf verschiedenen gesellschaftlichen Bühnen "aufgeführt" und verarbeitet wird. Karl-Ludwig Kunz, der diesen Aspekt mit Recht hervorgehoben hat, spricht von einem "Nebeneinander unterschiedlicher, aber gleichrangiger Rahmungen von Kriminalität", wobei er ausdrücklich auf die kulturspezifischen Eigenheiten der jeweiligen Rahmen verweist. 45 So sehen sich die Menschen mit unterschiedlichen Erscheinungen und Eindrücken von Kriminalität konfrontiert.

43 S. etwa die umstr. Schrift von Depenheuer Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007. 44 Zu Recht fragt daher Christie Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? - s. Fn. 17. 45 Kun= Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität, 2008, S. 92 f.

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Die Genres wechseln, beispielsweise sind aus früheren Wiedergaben von Gerichtsverhandlungen zwischenzeitlich lockere Gerichtsshows geworden, in denen sich Angeklagte, Zeugen und Zuschauer angiften und der Richter eine Art Moderatorenrolle übernimmt, um am Schluss als Verkünder moralischer Grundsätze sowie praktischer Lebenshilfen aufzutreten. Innerhalb der höchst unterschiedlichen Informationen sind vor allem die Nachrichten und Aufbereitungen, die hauptsächlich von der Polizei herrühren, von den Darstellungen zu trennen, die in Massenmedien, Tageszeitungen, Fernsehsendungen oder Internet-Botschaften präsentiert werden. Ein Teil der Verwirrungen, die etwa hinsichtlich der Häufigkeit und Entwicklung von Delikten in der Bevölkerung bestehen, dürfte aus einer mangelnden Unterscheidung dieser beiden Sphären herrühren. Wenn - wie nachweisbar - die Entwicklung der amtlich wahrgenommenen Kriminalität teilweise krass überschätzt wird,46 kommen einerseits die entsprechenden polizeilichen Daten bei den "Verbrauchern" gänzlich verzerrt an. Kritisiert wird deswegen häufig eine verzerrende Berichterstattung. 47 Andererseits fragt sich jedoch, ob Untersuchungen, die das feststellen, nicht letztlich bei den Konsumenten etwas anderes als die polizeilich registrierte Kriminalität erheben, nämlich eine aus dem Inbegriff des Schauens und Lesens von TVSendungen und Boulevardblättern rekonstruierte Medienkriminalität. Die Problematik liegt darin, dass die Medien und ihre "Macher" zwar - wie versprochen - Realitäten abbilden, die auch in den polizeilichen Angaben enthalten sind, dass sie aber insoweit im wahrsten Sinne des Wortes sehr wählerisch verfahren, indem sie einzelne Punkte groß und reißerisch herausstellen, andere hingegen vernachlässigen. Auf diese Weise entsteht eine selektive Realität, die insbesondere in ihren Proportionen von den polizeilichen Datensammlungen deutlich abweicht, insbesondere Gewaltdelikte stark überbetont. 48 Doch darf dabei der gleichfalls selektive Charakter der Polizeiangaben nicht verschwiegen werden!49 Dieses "Hellfeld" ist kein objektiver Vergleichsmaßstab, wird vielmehr ebenso konstituiert, nur nach anderen Regeln. Hier spielt vorrangig die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung die entscheidende Rolle, während die Medienkriminalität des Verkaufs wegen auf emotional aufreizende und ungewöhnlich brutale Einzeltaten abhebt. Die künftige kriminologische Forschung muss alle Foren, auf denen Kriminalität "spielt", in die Betrachtungen einbeziehen. Erneut zeigt sich, wie 46 Windzio/Simonson/Pfeiffer/Kleiman Kriminalitätswahmehmung und Punitivität in der Bevölkerung - Welche Rolle spielen die Massenmedien?, 2007, S. 20. 47 Das Ideal wird in einer "ausgewogenen" Berichterstattung gesehen, s. etwa Scharf/Mühlenfeld/Stockmann Kriminalistik 1999, 87 f. 48 Scharf/Mühlenfeld/Stockmann a.a.O., 92. 49 Vgl. a. Kunz (Fn. 45), S. 98.

Über Kriminologie als Kulturwissenschaft

17

sehr die verschiedenen Erscheinungsformen der Kriminalität kulturell bedingt sind. Denn die betreffenden Kriterien, nach denen sich die Zusammensetzung und Gestalt des Kriminalitätsstoffes richten, hängen von vielen zeit-örtlichen Momenten der Lebensgestaltung ab. Individuelle Bedrohungsgefiihle und praktische Schutzbedürfnisse spielen eine Rolle, aber auch der Wunsch nach Unterhaltung, Spannung, Aufregung oder gar nach einer - temporären - Weltuntergangsstimlnung. Alles wird durch Kriminalität "bedient", freilich von verschiedenen Agenturen und nach unterschiedlichen Regeln. Die Kriminologie wird an diesen Zusammenhängen wenig ändern können, sie scheint aber durchaus in der Lage und darüber hinaus dazu aufgerufen, Aufklärung zu leisten. 50 Nach alledem könnte der "cultural turn~' durch geeignete Konkretisierungen der Kriminologie neue Perspektiven eröffnen und zu deren Weiterentwicklung in der gedanklichen Aufgeschlossenheit des Jubilars beitragen.

50 Dazu Näheres bei M Walter in: Bundesfl1inisterium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium, 2009, S. 239 f.

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" aus kriminologischer Perspektive PETRA WITTIG

I. Die evolutionspsychologische Perspektive Im Bild des Kriminellen spiegelt sich das Menschenbild der Gesellschaft wider. Noch viel weniger als die normativ geprägte Strafrechtswissenschaftl darf die Kriminologie, soweit sie kriminelles Verhalten zu beschreiben und erklären sucht, sich den Erkenntnissen der Sozial-, aber auch der Naturwissenschaften verweigern. Eine solche aktuelle Herausforderung stellt die evolutionäre Psychologie dar, welche Psyche und Verhalten des Menschen mit Erkenntnissen über die Evolution und ihre reproduktionsmaximierenden Mechanismen erklärt, hierbei aber auch neurobiologische Erkenntnisse integriert. 2 Für diese soll in unserem Kontext stellvertretend die Forschung des amerikanischen Psychologen, Evolutionsbiologen und Anthropologen Mare D. Hauser stehen, der sich intensiv mit den evolutionären Grundlagen der Moral beschäftigt hat. 3 Nach Hauser wird der Mensch mit einem moralischen Vermögen ("moral faculty"), moralischen Organ ("moral organ") oder moralischen Instinkt 1

In diesem Zusammenhang ist aus jüngster Zeit die durch die neuere Hirnforschung (z.B.

Singer, Prin=, Roth) neu entfachte Debatte in der Strafrechtswissenschaft um die Willensfrei-

heit und damit um den Schuldbegriff zu nennen. Hier gilt es, Stellung zu beziehen, sei es auch nur, indem neurobiologische Erkenntnisse für irrelevant für eine von normativen Konstruktionen lebende Strafrechtswissenschaft erklärt werden (siehe nur Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1,4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 39 ff. m.w.N.). 2 Siehe nur Badcock Evolutionary Psychology: A Critical Introduction, 2000~ Barkow/Tooby/Cosmides (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, 1992~ Dunbar/Barrett Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, 2007~ Pinker Wie das Denken im Kopf entsteht (Orig. How the Mind Works 1997), 2002. 3 Hauser Moral Minds: How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong, 2006~ hierzu z. B. Blech/v. Bredow Der Spiegel 31 (2007). Speziell zur evolutionären Entwicklung der Moral z. B. Alexander The Biology of the Moral System, 1987~ Joyce The Evolution of Morality, 2006~ Kat= Evolutionary Origins of Morality, 2002~ Ridley The Origins of Virtue. Human Instincts and the Evolution of Cooperation, 1997~ de Waal Primaten und Philosophen (Orig. Primates and Philosophers, 2006), 2008~ Wilson The Moral Sense, 1993~ Wright Diesseits von Gut und Böse (Orig. The Moral Animal 1994), 1996.

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Petra Wittig

("moral instinct") geboren. Ihm ist eine evolutionär entwickelte universelle moralische Tiefengrammatik ("universal moral grammar") angeboren, welche die Regeln der Moral vorgibt. Diese werden dann durch die Sozialisation (nur) ausgeformt. Damit wird im Grundsatz jeder Mensch rur befähigt erklärt zu beurteilen, was moralisch richtig und falsch ist. Was diese grundlegende Annahme über die Natur des Menschen für die Erklärung von Kriminalität bedeuten kann und was nicht, soll im Folgenden angedacht werden.

11. "Born to Be Good"? Der Sozialphilosoph Richard Rorty überschreibt seine (kritische) Rezension des Werkes von Hauser mit der prägnanten Formulierung "Born to Be Good"4. Würde diese Charakterisierung zutreffen, wäre damit impliziert, dass Hauser den Menschen bestimmte angeborene Moralvorstellungen zuschreibt, die entsprechendes Handeln leiten, z.B. andere nicht zu töten oder zu verletzen. Damit stellt sich rur Kriminologen die Frage, warum manche Menschen sich nicht "gut" verhalten, wie etwa jemanden anderen töten, um an sein Hab und Gut zu gelangen. Hauser distanziert sich zunächst ausdrücklich von einer "nativist position that puts precise moral rules or norms in the newborn' s head". 5 Andererseits aber lehnt er auch die Ansicht ab, "that our moral faculty lacks content but starts us off with a device that can acquire moral norms. ,,6 Seine Position beschreibt er als vermittelnd. Er ist der Meinung, "that we are born with abstract mIes or principles, with nurture entering the picture to set the parameters and guide us toward the acquisition of particular moral systems".7 Da dem Menschen also bestimmte - wenn auch abstrakte moralische Prinzipien angeboren sind, charakterisiert Hauser den Menschen als "hybrid species, the fertile offspring of Homo oeconomicus and Homo reciprocans"8. Diese Annahme, die nahe legt, dass Rorty mit seiner Charakterisierung ("born to be good") jedenfalls nicht ganz daneben liegt, soll im Folgenden näher erläutert werden.

4

Rorty The New York Times vom 27.8.2006.

5 Hauser (Fn. 3), S. 165.

Hauser (Fn. 3), S. 165. (Fn. 3), S. 165. 8 Hauser (Fn. 3), S. 289. Deutlicher werden andere Autoren: Nach de Waat (Fn. 3, S. 28) ist die menschliche Natur an sich sozial, Moral ist nicht - wie von der "Fassadentheorie der Moral" behauptet - lediglich "eine dünne Kruste, unter der antisoziale, amoralische und egoistische Leidenschaften brodeln". 6

7 Hauser

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"

21

111. Die moralphilosophischen Grundlagen Hauser holt zur Begründung seiner Theorie weit aus: Zu Beginn seines Werkes "Moral Minds" unterscheidet er angelehnt an drei große Philosophen im Hinblick auf moralisches Urteilen drei unterschiedliche Modelle des Menschen: 9

1.

2.

3.

"The Kantian creature": Nach Kant gründet die Moral in der Vernunft. 1O Für die Moralpsychologie bedeutet dies, dass Moral auf kognitiver Erkenntnis aufbaut. Beispielhaft ist hierfür nach Hauser die Stufentheorie des moralischen Urteils bei Kohlberg, 11 Für diesen ist moralisches Bewusstsein eine Funktion der durch Erfahrung sich entwickelnden kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Damit wird es im Laufe der Sozialisation erst erworben, das Neugeborene besitzt es noch nicht. "The Humean creature": Nach Hume ist dagegen das moralische Vermögen ein Faktum der menschlichen Natur, das nicht durch Vernunft, sondern durch Gefühle geprägt wird. 12 Damit sind moralische Urteile letztlich nichts anderes als Ausdruck unserer (emotionalen) Einstellungen. Für die Entwicklungspsychologie - hier nennt Hauser beispielhaft die Empathietheorie von Hoffman 13 - bedeutet dies, dass nicht die Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten, sondern die von Empathie, also das Sich-Einfühlen in Andere, unser moralisches Urteil formt. "The Rawlsian creature": Nach Rawls sind die Menschen mit einem moralischen Vermögen ausgestattet. Hier bezieht sich Hauser auf eine Analogie, die Rawls in "Theorie der Gerechtigkeit" 14 zwischen moralischem und sprachlichem Wissen in Erwägung gezogen hat: So wie Menschen von Natur aus eine universelle kognitive Tiefen-

Hauser (Fn. 3), S. 12 ff Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1984 (Orig. 1785). 11 Z. B. Kohlberg Die Psychologie der Moralentwicklung, 1996. 12 Hume Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, Buch III: Über Moral (Orig. A Treatise ofHuman Nature, 1748/1751), 1978. 13 Hoffman Empathy and Moral Development, 2000. 14 Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit (Orig. A Theory of lustice, 1971),2009, S. 66 f; hierzu z. B. Mikhail Rawls Linguistic Analogy. A Study of the 'Generative Grammar' Model of Moral Theory Described by lohn Rawls in a 'Theory of lustice' , 2000; Nachweise bei Mahlmann Rationalismus in der praktischen Theorie. Normentheorie und praktische Kompetenz, 2. Aufl. 2009, S. 24 f Später modifiziert Rawls den Gedanken des moralischen Vermögens in: Hinsch (Hrsg.), Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 80 ff, S. 93 ff 9

10

22

Petra Wittig

grammatik besitzen,15 die sie zum Erwerb der einzelnen Sprachen befähigt, verfugen sie danach auch über eine angeborene universelle moralische Tiefengrammatik, die ihnen den Erwerb von partikulären Regeln moralischen Urteilens ermöglicht. Mit deren Hilfe urteilen Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, vor jeder Vernunft und jeder Emotion, ob eine Handlung erlaubt, verpflichtend oder verboten ist. 16 Hauser geht davon aus, dass das Modell der "Rawlsian creature" zutrifft. Er legt damit das Bild eines Menschen zugrunde, der von Natur aus über das spezifische Vermögen verfügt, moralisch zu urteilen. Dies bedeutet zunächst nicht, dass den Menschen eine bestimmte Moral angeboren ist, sondern vielmehr, "dass es kognitive Strukturen gibt, die die Bedingungen der Möglichkeit eines differenzierten Moralsystems sind, so wie das menschliche Sprachvermögen die Bedingung der Möglichkeit von König Lear ist" .17 Bei dieser formalen Annahme bleibt Hauser jedoch nicht stehen: "Nature may, however, limit what is morally possible, and suggest ways in which humans, and possibly other animals, are motivated into action". 18 Anhand einer Vielzahl von Fallbeispielen und Experimenten versucht er, diese moralischen Vorgaben zu beschreiben. Dabei beansprucht er auch explizit, aus der Deskription unserer moralischen Natur präskriptive Vorgaben fur das Recht zu entwickeln. 19

IV. Moralisches Urteilen und Handeln Zentral für Hausers Argumentationsstruktur sind bestimmte moralische Dilemmasituationen, wie insbesondere die in der Moralphilosophie vielfach erörterten Trolley-Fälle. 20 In den in verschiedenen Varianten diskutierten 15 Grundlegend Chomsky Aspekte der Syntax-Theorie (Orig. Aspects of the Theory of Syntax, 1965), S. 13 ff., aus neuerer Zeit ders. Knowledge of Language: Its Nature, Origin and Use, 1986, S. 3. 16 Die Idee, dass das moralische Urteilsvermögen fundamental in der menschlichen Natur verankert ist, findet sich auch bei Chomsky Language and Problems of Knowledge, 1988, S. 152 f. 17 Mahlmann in: Gugerli u.a. (Hrsg.), Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch fur Wissenschaftsgeschichte, 2008, S. 107 ff. 18 Hauser (Fn. 3), S. 4. 19 Hauser (Fn. 3), S. 4. Zu einer "mentalistisch" begründeten Theorie von Moral und Recht siehe Mahlmann (Fn. 3). 20 Hauser (Fn. 3), S. 112 ff. Diese gehen wohl auf die Philosophin Philippa Foot zurück, die das Problem in ihrem Aufsatz "The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect",

Anmerkungen zu Hausers

~,Moral

Minds"

23

Trolley-Fällen rast ein führerloser Trolley (ein Schienenfahrzeug) auf eine Gruppe von fünf Wanderern zu, die er zu zermalmen droht. In einer Variation kann eine zufällig anwesende Person durch Umstellen einer Weiche den Trolley auf ein anderes Gleis umleiten, wo allerdings ein anderer Wanderer steht. Dadurch würden zwar die funf Wanderer gerettet, aber fur ihr Leben der einzelne Wanderer geopfert. In einer anderen Variante dagegen kann der Trolley nur dadurch gestoppt und die fünf Wanderer gerettet werden, dass ein dicker Mann von einer Brücke auf die Gleise gestoßen und damit getötet wird. In beiden Fällen können also fünf Personen auf Kosten einer Person, die dabei ums Leben kommt, gerettet werden. Die klassische moralphilosophische Fragestellung ist, ob diese Verhaltensweisen erlaubt sind. In unserem Fall geht es aber nicht um Moralphilosophie, sondern um Moralpsychologie, also darum, welches Verhalten Menschen warum für moralisch richtig halten. Um dies herauszufinden, führte Hauser u. a. Massenbefragungen im Internet durch. Während in der ersten Variante die Mehrheit der Probanden es für erlaubt hielt, die Weiche umzustellen, sah sie in der zweiten Variante das Stoßen des dicken Mannes für nicht erlaubt an. Für diese moralischen Urteile konnten die wenigstens Befragten ihre Beurteilungskriterien benennen, dennoch bestand im Ergebnis eine erhebliche Übereinstimmung zwischen den Befragten, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Nationalität. Daraus folgert Hauser, dass dem moralischen Urteil eine universelle moralische Tiefengrammatik zugrunde liegt. Emotionale Reaktion und rationale Rechtfertigung folgen dem auf ihrer Grundlage gebildeten moralischen Urteil erst nach. Hierin liegt nach Hauser eine Bestätigung seiner Grundannahme, wonach Menschen moralisch als "Rawlsian creatures" urteilen. Wichtig in unserem Kontext ist jedoch vor allem, dass Hauser unter Berufung auf Untersuchungen von Mikhai[21 aufgrund der Trolley-Fälle auch zwei inhaltliche Prinzipien formuliert, die dem moralischen Urteil universell zugrunde liegen sollen: 1.

"The principle of prohibition 01 intentional battery forbids unpermitted, unprivileged bodily contact that involves physical harm.

Oxford Review 5 (1967), 5 ff. erörtert hat. Hierzu u.a. Thomson The Monist 59 (1976), 204 ff. Zu Hauser, der Lehre von den moralischen Doppelwirkungen und den Trolley-Fällen (auch aus deutscher strafrechtlicher Sicht) Philipps FS Hassemer, 2010, S. 201 ff. 21 Mikhail (Fn. 13)~ Mikhail/Sorrentino/Spelke Aspects of the Theory of Moral Cognition: Investigating Intuitive Knowledge of the Prohibition of Intentional Battery, the Rescue Principle, the First Principle of Practical Reason, and the Principle of Double Effect, unveröffentlichtes Manuskript, 2002.

24

2.

Petra Wittig

The principle of double efJect is a traditional moral and legal principle ... according to which otherwise prohibited acts may be justified if the harm of the cause is not intentional and the act' s foreseeable and intended good effects outweigh its foreseeable bad effects."22

Damit wird immerhin ein Verbot beabsichtigter und ungerechtfertigter Tötungen und körperlicher Verletzungen anderer als Bestandteil des moralischen Vermögens des Menschen behauptet. Unsere biologische Ausstattung begrenzt somit die Optionen gewaltsamen Verhaltens, sie erlaubt nur einige, verbietet aber andere. 23 Bevor wir uns nun den möglichen Konsequenzen dieser Aussagen für die Kriminologie zuwenden, soll noch eine Klarstellung erfolgen. Selbstverständlich sind moralisches Urteilen und tatsächliches Verhalten (und darum geht es in der Kriminologie) zwei unterschiedliche Dinge. Aber schon Hausers Gewährsmann Rawls schreibt: "Ferner hat man ein gewisses Bedürfnis, gemäß diesen [moralischen] Urteilen zu handeln, und erwartet dies auch von anderen."24 Es ist danach offensichtlich gerade ein Bestandteil des moralischen Vermögens, es rur richtig zu halten, sich in seinem Handeln an seinen moralischen Urteilen zu orientieren. Menschen setzen somit in der Regel das in die Tat um, was sie rur moralisch richtig halten. Damit hält das moralische Vermögen auch die nach llauser in jedem Menschen vorhandenen Aggressionen gegenüber anderen 25 in Schach und ruhrt dazu, dass das bestehende Gewaltpotential nicht ausgelebt wird. Geschieht es aber dennoch, ist dies erklärungsbedüftig.

v. Die kriminologische Fragestellung Auf der Grundlage der traditionellen Sicht von Kriminalität als einer Eigenschaft des Kriminellen (und nicht als Zuschreibung durch die Gesellschaft) lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Entweder man erklärt konformes und kriminelles Verhalten als unterschiedliche Ausformungen eines bestimmten Verhaltenstyps. Ein Beispiel hierfür ist der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens: 26 Kriminelles Verhalten ist

Hauser (Fn. 3), S. 124. Hauser (Fn. 3), S. 132. 24 Rawls (Fn. 3), S. 66. 25 Hauser (Fn. 3), S. 233. 26 Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens (Orig. The Economic Approach to Human Behavior 1976), 1982, S. 39 ff.~ hierzu Willig Der rationale Verbrecher, 1993~ Kun= Kriminologie: Eine Grundlegung, 4. Autl. 2004, § 24 Rn. 17 ff. 22 23

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"

25

danach ebenso Ausdruck einer rationalen nutzenmaximierenden Entscheidung wie konformes Verhalten. Oder man sieht kriminelles Verhalten als defizitär gegenüber konformem Verhalten an. Damit wird jedoch erklärungsbedürftig, warum sich Kriminelle anders als Konforme verhalten. Beispiele hierfür sind insbesondere biologische und psychologische, aber auch die meisten sozialpsychologischen und soziologischen Kriminalitätstheorien. Unter der Annahme, dass Menschen ein moralisches Vermögen besitzen und in der Regel auch danach handeln, wird abweichendes Verhalten erklärungsbedürftig. Wenn die universelle moralische Tiefengrammatik absichtliches und ungerechtfertigtes Töten verbietet, stellt sich die Frage, warum bestimmte Menschen dieses Verbot verletzen. Hier sind verschiedene Erklärungsmuster denkbar. Möglich wäre, dass z. B. Mörder kein moralisches Vermögen, kein moralisches Organ bzw. keine moralische Tiefengrammatik besitzen. Eine denkbare Erklärung ist auch ein biologischer oder psychischer Defekt oder sozialisationsbedingte Faktoren, die das Verletzungsverbot außer Geltung setzen. Schließlich ist in Erwägung zu ziehen, dass entgegen dem moralischen Urteil gehandelt wird, was aber auch - wie gesehen - erklärungsbedürftig wäre. Im Folgenden werden die (sozialpsychologischen und biologischen) Ansätze dargestellt und analysiert, die Hauser zur Erklärung abweichenden bzw. kriminellen Verhaltens zur Verfügung stellt. Hierbei ist zu beachten, dass es sich um keine ausformulierten Kriminalitätstheorien handelt, sondern Hauser diese Befunde letztlich heranzieht, um seine grundlegende These von der universellen moralischen Tiefengrammatik zu belegen und zu konkretisieren.

VI. Der sozialpsychologische Ansatz Nach Hauser können partikuläre soziale Normen 27 dazu führen, dass dort, wo sie gelten, gewaltsame Verhaltensweisen, ja sogar Tötungen nicht nur als moralisch erlaubt, sondern sogar als geboten angesehen werden. Dies illustriert Hauser unter der prägnanten Überschrift "Slay the One You Love" vor allem am Phänomen der Ehrenmorde ("honor killings") und der Verbrechen aus Leidenschaft ("passion crimes").28 27 Soziale Nonnen bzw. Konventionen und moralische Regeln unterscheiden sich nach Hauser (Fn. 3), S. 291 ff. grundsätzlich wie folgt: Soziale Normen dienen der Koordination von Gruppen, sie sind nur auf diese anwendbar und können verletzt werden. Moralische Regeln dienen dem allgemeinen Wohlergehen ("welfare") und der Fairness, sie gelten universell und sind unverletzbar. 28 Hauser (Fn. 3), S. 142 ff.

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Petra Wittig

Soweit es um das Phänomen der Ehrenmorde geht, stellt sich die Frage nach den Ursachen aus kriminologischer Sicht selbstverständlich nur dann, wenn eine Rechtsordnung dieses Verhalten überhaupt als abweichend betrachtet, was jedoch inzwischen wohl für fast alle Länder der Welt zutrifft. 29 Eine Abweichung eines bestimmten kulturell gebilligten Verhaltens allein von den Prinzipien der universellen moralischen Tiefengrammatik mag für den Moralpsychologen, nicht aber für den Kriminologen von Interesse sein. Hauser erklärt das Phänomen der Ehrenmorde damit, dass in den betroffenen Kulturkreisen Frauen als Eigentum der Männer betrachtet werden, das von diesen nach Belieben auch zerstört werden darf. Die kulturelle Norm, die Ehrenrnorde erlaubt, unterdrücke damit bei den Männern jede Kontrolle ihres Tötungsimpulses, während sie gleichzeitig als Kontrollmechanismus gegenüber Frauen fungiere. 30 Eine partikuläre soziale Norm führt damit dazu, dass Ehrenrnorde als erlaubt angesehen werden. Die universelle moralische Tiefengrammatik verbietet jedoch nur unerlaubte ("unpermitted") Tötungen, so dass sie durch die soziale Norm konkretisiert wird. Ehrenmorde gelten aufgrund des "cultural climate"31 damit nicht mehr als moralisch verboten, sondern sogar als geboten. Jedoch sieht Hauser auch die Chance, diesen Zirkel der Gewalt zu durchbrechen, wobei er nicht nur kulturellen Gegenbewegungen, sondern auch dem Recht eine wichtige Rolle zubilligt.32 Verbrechen aus Leidenschaft beweisen nach Hauser ebenfalls "the power of social norms to both set the principles and the parameters of permissible killings, and to convert them from descriptive to prescriptive principles".33 Auch sie sind auf eine Geschlechterasymmetrie zurückzuführen. Damit wendet er sich gegen die Idee, solche Verbrechen gingen darauf zurück, dass Emotionen die Vernunft besiegen, was sie, wenn auch nicht rechtfertigt, so doch zumindest entschuldigt. Für die Kriminalitätsforschung lässt sich aus den dargestellten Befunden lediglich der Schluss ziehen, dass soziale Normen dazu führen können, dass Täter ihr kriminelles Verhalten als moralisch gerechtfertigt und damit als erlaubt ansehen. Ohne Umweg über die moralische Tiefengrammatik ließe sich die Aussage auch dahingehend vereinfachen, dass (partikuläre) soziale Normen dazu fuhren, dass ein an diesen orientiertes Verhalten gewählt 29 Hauser zitiert hier den ehemaligen pakistanischen Präsidenten Musharraf, der im Jahre 2000 Ehrenmorde als unislamisch und ungesetzlich verurteilte. Dennoch stieg die Zahl der Ehrenmorde nachfolgend an (Hauser [Fn. 3], S. 144). Auch verbreitet sich dieses Verhalten aufgrund der weltweiten Migrationsbewegungen. 30 Hauser (Fn. 3), S. 145. 31 Hauser (Fn. 3), S. 155. 32 Hauser (Fn. 3), S. 142. 33 Hauser (Fn. 3), S. 154.

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"

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wird, auch wenn es universellen Moralvorstellungen widerspricht. Gewisse Parallelen zur Subkulturtheorie 34 drängen sich zunächst auf, wenn es z.B. um Ehrenrnorde in europäischen Staaten geht. Der Vergleich hinkt aber dort, wo die Norm, die Ehrenrnorde erlaubt, in der jeweiligen Rechtsordnung dominant ist (so wohl noch in einigen islamischen Staaten).

VII. Der (neuro-) biologische Ansatz Eine weitere Erklärung für kriminelles Verhalten, die Hauser anbietet, greift auf neuere (neuro-) biologische Theorien abweichenden Verhaltens zurück. 35 Danach führen Hirnschädigungen etwa durch Unfall oder Krankheit dazu, dass moralische Regeln und soziale Konventionen ihre Verbindlichkeit verlieren. 36 Viel zitiertes Beispiel hierfür sind die schweren Schädigungen des vorderen zentralen Teils des linken Stirnhirnlappens, die der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage 1848 dadurch erlitt, dass sich eine schwere Eisenstange durch seinen Kopf bohrte. Gage überlebte, aber seine Persönlichkeit war verändert, er wurde launisch, respektlos und ungeduldig, er wandelte sich vom moralischen Vorbild zum moralischen Abweichler. 37 Experimente des Neurowissenschaftlers Damasio 38 sprechen dafür, dass derartige Himschädigungen nicht zu intellektuellen Defiziten führen. Außerdem scheinen sie zunächst zu belegen, dass das moralische Urteilsvermögen nicht beeinträchtigt ist, wohl aber aufgrund eines emotionalen Kontrollverlustes die Fähigkeit, sich in seinem Handeln von diesem moralischen Urteil leiten zu lassen. Für Hauser spricht dagegen viel dafür, dass darüber hinaus auch das moralische Urteilsvermögen beeinträchtigt ist, das letztlich auf spezialisierten Gehirnregionen beruht. Dies versucht er u.a. zusammen mit Damasio anhand der Trolley-Fälle und weiterer moralischer Dilemmasituationen experimentell zu belegen. 39 Anders als die meisten gesunden hielten es hirngeschädigte Probanden z. B. für moralisch richtig, Hierzu z. B. Kun= (Fn. 26), § 12 Rn. 26 ff. Hauser (Fn. 3), S. 225, unter Berufung insbesondere auf Damasio Descartes' Irrtum Fühlen, Denken und das menschliche Gehinl (Orig. Descartes' Error: Emotion, Reason and the Human Brain 1994), München 1994. Ein Überblick findet sich bei Lamnek Neue Theorien abweichenden Verhaltens 11: Moderne Ansätze, 2008, S. 189 ff. 36 Damasio (Fn. 35), S. 30. 37 Hauser (Fn. 3), S. 229. Welche Schädigungen Gage in welchen Teilen des Gehirns erlitten hatte, wurde mit Hilfe des Neuroimaging, also der Erforschung des Gehirns mit Hilfe bildgebender Verfahren, von Damasio (Fn. 35) rekonstruiert. Ein weiteres gut erforschtes Beispiel eines moralischen Abweichlers aufgrund einer Hirnschädigung (diesmal eines Tumors) ist ein Patient Damasios, den dieser Elliot nennt. 38 Damasio (Fn. 35). 39 Koenigs/Young/Adolphs/Tranel/Cushman/Hauer/Damasio Nature 446 (2007), 908 ff. 34

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den dicken Mann von der Brücke zu stoßen, um die fünf Wanderer zu retten, weil sie den Zweck eines Verhaltens, nicht aber das Verhalten selbst als ausschlaggebend ansahen. Für die Erklärung von Kriminalität bleibt als Fazit, dass bestimmte Hirnschädigungen zu abweichendem Verhalten fuhren können, sei es, dass das moralische Urteilsvermögen beeinträchtigt ist, sei es, dass das moralisch als richtig Erkannte nicht in die Tat umgesetzt werden kann. Damit könnte jedoch allenfalls ein kleiner Teil der Kriminalität erklärt werden, insbesondere, da nur manche Hirngeschädigte sich nicht nur sozial abweichend, sondern auch kriminell verhalten.

VIII. Der biologische persönlichkeitstheoretische Ansatz (insb. "psychopathy") Im unmittelbaren Anschluss an das Kapitel über die Effekte von Hirnschädigungen auf moralisches Urteilen und Handeln ("Brain-damaged Utilitarians") finden sich unter der Überschrift "Guilt-free Killing"40 Ausfiihrungen zur "psychopathy" und ihre Auswirkungen auf das Verhalten. 41 Nach Hauser verhalten sich Psychopathen oft gewalttätig und kriminell. Er beschreibt dann die Fälle zweier psychopathischer Serienmörder, stellt dem aber voraus, dass die meisten Psychopathen keine Kriminellen seien. Er thematisiert schwerpunktmäßig, ob die bei Psychopathen beobachteten Auffälligkeiten auf ein emotionales, moralisches oder kognitives Defizit zurückzuführen sind, ob also die Erscheinungsform der Psychopathie sein Menschenbild ("Rawlsian creature") stützt oder in Frage stellt. Nach überwiegender Ansicht ist Psychopathie nicht auf kognitive Defizite, sondern auf ein biologisch bedingtes Defizit der Emotionsverarbeitung im Gehirn zurückzuführen. 42 Dem zweiten Teil dieser Aussage stimmt Hauser nur bedingt zu, sie erklärt für ihn nicht, warum Psychopathen moralisch "schlecht" funktionieren. Hier bietet Hauser jedoch ebenfalls keine über-

40

Hauser (Fn. 3), S. 232 ff.

41 Zum amerikanischen (klinischen) Konzept der "psychopathy" grundlegend

Cleckley The Mask of Sanity: An Attempt to Clarify Some Issues about the so Called Psychopathic Personality, 5. Autl. 1976 (1. Autl. 1941)~ Weiterentwicklung durch Hare 1980, der das sog. PCL-R (Psychopathy Check List) zur Erfassung von "psychopaths" entwickelte (Hare The Hare Psychopathy Checklist-Revised [PCL-R], 1991), hierzu z. B. Göppinger Kriminologie, 6. Autl. 2008, § 14 Rn. 16 ff~ Nedopil Forensische Psychiatrie, 3. Autl. 2007, S. 182 ff. Zum von Hauser ebenfalls angesprochenen, aber nicht weiter thetnatisierten Konzept der "antisozialen" oder "dissozialen" Persönlichkeit vgl. Kun:= (Fn. 26), § 19 Rn. 16 ff. 42 Hauser (Fn. 3), S. 236 f. m.w.N.

Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"

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zeugende und klare Erklärung, er hält jedenfalls bei Psychopathen die moralische Kompetenz grundsätzlich fur gegeben. Für unsere Fragestellung ergibt sich aus den knappen Ausführungen Hausers, dass es offensichtlich Menschen gibt, die aufgrund einer Erkrankung, trotz vorhandener kognitiver Fähigkeiten und moralischer Urteilskompetenz, kriminell werden.

IX. Fazit Eine Theorie, die die evolutionäre und damit letztlich biologisch determinierte Verankerung moralischen Urteilens und entsprechenden HandeIns behauptet, kann von den Sozial- und Rechtswissenschaften nicht ignoriert werden. Der folgende dem Jubilar in Verbundenheit gewidmete Beitrag versuchte anhand der Untersuchung von Hausers "Moral Minds" zu thematisieren, inwieweit ein solcher Ansatz fur die Erklärung kriminellen Verhaltens von Bedeutung sein könnte. Es hat sich gezeigt, dass keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu erwarten sind: Die Ausführungen zur prägenden Kraft sozialer Normen beschränken sich auf die Themen Ehrenmorde und Verbrechen aus Leidenschaft. Entsprechend der (neuro-) biologischen Ausrichtung dieser aktuellen Forschungsrichtung und entsprechend der Annahme, dass das moralische Vermögen auf spezialisierten Gehimsystemen beruht, wird abweichendes und kriminelles Verhalten im Wesentlichen als Folge einer anormalen Veränderung bestimmter Gehimregionen angesehen. Diese biologischen Abweichungen führen dazu, dass entweder das im Gehirn verankerte angeborene moralische Vermögen (das moralische Organ) oder die Fähigkeit, nach dem moralisch als richtig Erkannten zu handeln, beeinträchtigt wird. Ob die evolutionäre Moralpsychologie hinsichtlich der Erklärung kriminellen Verhaltens letztlich über diesen Erkenntnisstand hinaus kommen wird, darf bezweifelt werden.

Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen

HANS-]ÖRG ALBRECHT

J. Einführung Gewalt tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf, betrifft alle Gesellschaften und wird seit langer Zeit in Statistiken zusammengefasst, die verschiedenen Zwecken dienen. 1 So zählt der (erste) Bericht der UNESCO über das weltweite Ausmaß und Strukturen der Gewalt für das Jahr 2000 etwa 1,6 Millionen durch Gewalt verursachte Todesfälle. Davon geht die Hälfte auf Suizid zurück, ein knappes Drittel betrifft Tötungsdelikte und etwa ein Fünftel resultiert aus bewaffneten Konflikten. 2 Die regionale Verteilung ist ebenso eindeutig wie die Verteilung der Gewalt entlang des Alters, nach dem Geschlecht und dem ökonomischen Entwicklungsstand. 3 Es sind vor allem die armen Länder, die unter der Gewalt leiden, 4 wobei als Ausnahme die USA hervorzuheben sind. Werden in Ländern mit hohem Einkommen etwa 14 Todesfälle durch Gewalt pro 100.000 gezählt, so sind es in armen Ländern 32. 5 Männer repräsentieren 80% der Opfer von vorsätzlichen Tötungsdelikten; ein besonders hohes Risiko tödlicher Gewalt wird für jüngere Altersgruppen vermerkt. 6 In entwickelten Regionen lassen sich vergleichbare Verteilungen, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau, entlang sozio-ökonomisch unterschiedlich ausgestatteten Stadtteilen nachweisen. 7

1 Von Trotha (Hrsg.) Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37/1997 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 2 KruglDahlberglMercy/ZwilLozano World report on violence and health, 2002, S. 10. 3 Ministry of Social Affairs and Health of Finland Fourth annual European meeting of violence and injury prevention national focal persons ofthe Ministries ofHealth, 2009, S. 5. 4 Allerdings überschneiden sich Armut und verschiedene Aspekte politischer Entwicklung und Verfassung, vgl. hierzu beispw. Lafree/Tseloni The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 2006, 605-625. 5 Krug u. a. (Fn. 2), S. 10. 6 Vgl. hierzu auch KershawlNicholaslWalker Crime in England and Wales 2007/08. Findings from the British Crime Survey and police recorded crime, 2008, S. 6. 7 NieuwbeertalMcCalllElfferslWittebrood Homicide Studies 12 (2008), 90-116.

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Aus einer historischen Perspektive wird dann deutlich, dass sich jedenfalls in den europäischen Ländern die tödliche Gewalt deutlich reduziert hat. 8 Der Rückgang liegt vor allem vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Seitdem sind die Tötungsdelikte relativ stabil. Das Ansteigen der Tötungsdelikte in europäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruht offensichtlich auf kurzfristigen und nicht leicht erklärbaren Entwicklungen. 9 In Deutschland - wie in anderen europäischen Ländern - sinkt die Rate vollendeter Tötungsdelikte seit Mitte der 1990er Jahre wieder, und zwar bis auf 0,9/100.000 im Jahr 2008 und damit auf den Stand der 1950er und 1960er Jahre. 10 Mit der langfristigen Abnahme ist in Europa vor allem eine Veränderung in der Struktur der Tötungsdelikte verbunden, die heute ganz überwiegend als soziale Nahraumsdelikte auftreten. Täter und Opfer kennen sich und sind häufig miteinander verwandt. Die Tötung zwischen Fremden wird dagegen zu einer Randerscheinung. 11

11. Phänomene und Folgen der Gewalt Gewalt tritt in vielen Formen auf. Sie reicht von den völkermörderischen Aktionen in Ruanda, denen 1994 in einem Zeitraum von etwa drei Monaten fast eine Million Menschen zum Opfer fiel, über den Selbstmordterror in der Londoner Untergrundgrundbahn, Massakern in Schulen und Fußballrandalen, der mit Drogenhandel und anderen illegalen Märkten verbundenen Gewalt bis hin zu der alltäglichen Gewalt im öffentlichen Raum und auf der Straße, der Hassgewalt gegen Minderheiten und Fremde sowie der Gewalt in der Familie oder im sozialen Nahraum. Manche Gewaltphänomene, vor allem die großflächige und kollektive Gewalt, sind in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verschwunden. Jedoch zeigen die Bürgerkriege an den Rändern der Europäischen Union, ob in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens der 1990er Jahre, in der Türkei oder Nordafrika, dass kollektive und organisierte Gewalt (und ihre Auswirkungen) näher rücken kann und dass ihre Auswirkungen in Form von Flüchtlingsströmen den Kern Europas erreichen. 8 9

Eisner British Journal ofCriminology 41 (2001),618-638. Eisner Das Ende der zivilisierten Stadt. Die Auswirkungen von Modernisierung und urba-

ner Krise auf Gewaltdelinquenz, 1997. 10 Bundeskriminalamt Polizeiliche Kriminalstatistik 2008, S. 57~ auch für England und Wales wird seit der Mitte der 1990er Jahre von einem starken Rückgang der Gewaltkriminalität, insbesondere der schwersten Gewalt, berichtet, vgl. hierzu Kershaw u. a. (Fn. 6), S. 5,25. 11 Vgl. beispw. Zoder/Maurer Tötungsdelikte. Fokus häusliche Gewalt. Polizeilich registrierte Fälle 2000-2004, 2006, S. 23 ff.

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Das Interesse an der Erforschung von Gewalt hat sich in Deutschland (und in den europäischen Nachbarländern) in den letzten Jahrzehnten auf unterschiedliche Formen individueller Gewalt konzentriert. Dies zeigt auch, dass die Bedeutung von Gewalt über die Zeit Veränderungen ausgesetzt ist. 12 Die Gewalt gegen Frauen oder Kinder hat noch in jüngerer Zeit keine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das im Jahr 2000 eingeführte Gewaltverbot in der Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB), das Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 2001 und weitere staatlich und privat organisierte Anstrengungen zur Gewaltprävention haben dann einen Wandel vollzogen, der einem langfristig wirksamen Rechtfertigungssystem der Gewalt ein Ende setzte. 13 Mit Gewalt eng verbunden ist die Drohung mit Gewalt. 14 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Unsicherheitsgefühle und Angst sowie darauf, dass sehr viel mehr Menschen unter der Angst vor Gewalt leiden als von der Gewalt direkt betroffen sind. Die Angst vor Gewalt geht letztlich darauf zurück, dass Menschen über ihre Verletzungsoffenheit wissen. Sie wissen auch, dass es gegen Gewalt keinen sicheren Schutz gibt. So vielfältig die Formen der Gewalt sind, so vielfältig sind auch ihre (Aus-)Wirkungen. Die Wirkungen lassen sich in Kreisläufen der Gewalt, die ausgelöst werden von vergeltender Gewalt, ebenso beobachten wie in der Traumatisierung der Opfer, in dauerhafter Angst, Unsicherheitsgefühlen und dem Verlust an Vertrauen. I5 Gewalt hat in Gesellschaften allerdings noch andere Wirkungen. Sie löst neben Angst weitere Emotionen und Gefühle aus. Anstatt die andere Backe hinzuhalten, so wie es das Neue Testament rät, wollen Opfer von Gewalt Vergeltung. Vergeltung wird gewollt, auch wenn dies mit erheblichen Kosten und Nachteilen verbunden ist. Die Frage, warum Menschen so viel an Vergeltung liegt, ist seit einiger Zeit Gegenstand intensiver ökonomischer, psychologischer und neurologischer Forschung. 16 Zurückgeführt wird das Interesse an Vergeltung auf eine langfristig wirksame Entwicklung eines Gefühls für Ungerechtigkeit, das in der Wahrnehmung einer unfairen Unter\verfung unter eine Macht besteht, gegen die man sich nicht wehren konnte. 17 Ungerechtigkeit erzeugt dann ein Gefühl des Ungleichgewichts, das nach einem wirksamen Ausgleich drängt. Der Wunsch nach Vergeltung ermutigt, zurück zu blicken, an vergangenes FerrelllHayward/Young Cultural Criminology, 2008, S. 8. BussmannlErthallSchroth RdJ 56 (2008), 404-422. 14 Naylor Crime, Law & Social Change 52 (2009), 231-242. 15 Garcia/TaylorlLawton lustice Quarterly 24 (2007), 679-704. 16 JaffelYinon European Journal 01' Social Psychology 9 (1979), 177-186~ Orth Aggressive Behavior 30 (2004), 62-70~ Dugan/Apel Criminology 43 (2005), 697-730~ Sigmund TRENDS in Ecology and Evolution 22 (2007), 593-600. 17 JacobslWright Street Justice. Retaliation in the Criminal Underworld, 2006, S. 1. 12

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Unrecht zu erinnern und die Zukunft selbst zurückzustellen zu Gunsten des Ausgleichs rur erlittenes Unrecht. Gewalt, so kann fortgesetzt werden, gräbt sich in das Gedächtnis ein; erlittene Gewalt wird über Generationen erinnert und weitergegeben, sie wird dokumentiert und bleibt sowohl als Erinnerung wie auch als Handlungsrechtfertigung verrugbar. 18 In vorstaatlichen Gestalten wird die vergeltende Gewalt zu einer durch soziale Normen ausgeformten Pflicht. 19 Der Wunsch nach sofortiger und gewalttätiger Vergeltung wird dort, wo eine unangefochtene, legitime und akzeptierte Zentralgewalt existiert, wirksam kontrolliert (sodass es jedenfalls nicht in großem Ausmaß zu privater vergeltender Gewalt kommt). Die Geruhle werden kanalisiert und mit der polizeilichen und justiziellen Antwort auf ein Gewaltverbrechen, jedenfalls zeitweise, zufrieden gestellt. Die Opfer, ihre Angehörigen und die Zuschauer werden distanziert und finden sich in den Rollen des Strafverfahrensrechts und in den Berichten der Meinungsbefragungsunternehmen wieder. Schwere Gewalt ist ein Ereignis, anlässlich dessen sofort die kleinen und großen Missstände in Gesellschaften diskutiert werden und die Frage aufgeworfen wird, wie Besserung und Beseitigung der Missstände erreicht werden können. Gewalt schafft, wirksamer als andere Formen der Kriminalität, offensichtlich eine Kommunikationsplattform, auf der große Fragen aufgeworfen und wenn nicht beantwortet, so doch diskutiert werden können. Fälle wie der Angriff auf einen alten Mann in der Münchner U-Bahn im Dezember 2007, der Tod des kleinen Kevin in Bremen oder der Amoklauf von Winnenden enden nicht mit der Feststellung der unmittelbar Verantwortlichen und Schuldigen. Sie ruhren dazu, dass weitere Fragen gestellt werden. Dazu gehören insbesondere die Fragen: Hätte dies verhindert werden können? Und: Wer hätte dies verhindern müssen? Daran schließt sich die Frage an: Was muss getan werden, dass dies in der Zukunft verhindert werden kann?20 In einer Zeit digitaler Medien ist es verständlich, dass die Gewalt und ihre Folgen immer stärker über Bilder vermittelt werden. Die Misshandlungen von Abu Ghraib, der Einschlag der Flugzeuge in die Türme in New York zirkulieren ebenso als Bilder in digitalen Netzen wie die kleinen Videofetzen, auf denen die Gewalt der Strasse dargestellt ist. Bumfight-Videos sind nicht erst seit gestern im Angebot der Märkte. Dass Gewalt heute auch durch Videofunktionen von Mobiltelefonen (oder digitale Kameras) fest-

Booth Social research 75 (2008), 237-262. Von Trotha Koloniale Herrschaft, 1994, S. 38. 20 Neben übergreifenden Gewalt-Komtnissionsberichten finden sich immer häufiger fallbezogene Untersuchungsberichte, vgl. beispw. Creut=feld. u. a. Bericht der Kommission Gutenberg-Gymnasium, 2004. 18

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gehalten wird (und zunehmend festgehalten wird) und über verschiedene Internet-Adressen jedermann zugänglich ist, kann selbstverständlich skandalisiert werden. Skandalisierung führt allerdings zu nicht mehr als einer Thematisierung von Gefühlen, Gefühlen des Ekels, des Mitleids und der Wut, die viele Betrachter angesichts solcher Bilder erfasst. Für manchen ist es freilich auch Faszination, die sich bemerkbar macht. Mitunter machen sich Gesetzgeber, ermutigt durch Gefühle, daran, strafrechtliche Verbote einzusetzen. 21 Was sagt aber die zunehmende Dokumentation der Gewalt aus, die offensichtliche Bereitschaft und auch Lust an der Dokumentation der selbst ausgeübten Gewalt? Über die Einsicht hinaus, dass für solche Bilder der Gewalt ein Markt und Nachfrage vorhanden sind, eröffnen die Bilder den Blick darauf, dass Gewalt sowohl physische und psychische als auch symbolische Konsequenzen hat. Denn die Gewalt, die in Bildern eingefroren ist, verlängert die Degradierung und die Machtlosigkeit der Opfer; sie macht die Unterlegenheit und die Hilflosigkeit der Opfer weithin und dauerhaft sichtbar und kommuniziert gewollt oder ungewollt (wenn es sich um Bilder von Überwachungskameras handelt), dass mit Gewalt Macht über andere Menschen verbunden ist. Die in der Gewalt sich äußernde Aktionsmacht, also die in der Gewalthandlung liegende Macht, die eigentlich nur im Augenblick der Gewalt vorhanden war, wird durch die Bilder und durch die Augen der Betrachter verlängert und verstärkt. Hierin liegt sicher ein wesentlicher Grund dafür, dass Täter die Gewalt durch Videokameras dokumentieren und offensichtlich wenig Gedanken daran verschwenden, dass Videoaufnahmen und Bilder als Beweismittel Verwendung finden können.

111. Wie kommt Wissen über Gewalt zustande und was wissen wir über Entwicklung und Struktur der Gewalt? Die Gewaltforschung zeigt zwei Linien auf. Forschungen über Gewalt, die an dichten Beschreibungen und dem Verstehen von Gewaltphänomenen selbst interessiert sind,22 entwickeln sich neben auf quantitative Ausprägungen ausgerichteten Untersuchungen, die sich - bei einer besonderen Fokussierung auf die Schule - seit etwa 20 Jahren auf junge Menschen konzentrieren. Die kriminologische Forschung hat sich allerdings in der Untersuchung individualisierter Gewalt fast ausschließlich auf quantitative Methoden gestützt. 21 Vgl. dazu Art. 222 - 33-3 des französischen Strafgesetzbuchs, wo für Aufnahmen von Gewaltdelikten und ihre Verbreitung Kriminalstrafe angedroht wird. 22 Sofsky Traktat über die Gewalt, 2005 ~ zusammenfassend v. Trotha (Fn. 1).

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Zur Beobachtung der Entwicklung und der Struktur von Gewalt stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung. Neben den Kriminal- und Gesundheitsstatistiken geben seit etwa 50 Jahren so genannte Selbstberichtsund Opferuntersuchungen Auskunft über individuelle Gewaltkriminalität. Sowohl die Polizeilichen Kriminalstatistiken als auch Gesundheitsstatistiken, die über Todesursachen Auskunft geben, zeigen, dass die schwerste Gewalt, insbesondere Tötungsdelikte langfristig zurückgeht und jedenfalls in den letzten Jahrzehnten stabil bleibt. Im Kern handelt es sich dabei in europäischen Ländern um Gewalt, die im sozialen Nahraum auftritt. Tötungen zwischen Fremden werden zu einem Randphänomen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik bietet in Deutschland (sowie in anderen Ländern) die einzige Datenquelle, an Hand derer die Entwicklungen bestimmter Gewaltdelikte langfristig beobachtet werden können. Dabei stehen zwei Delikte im Mittelpunkt, die in der jährlichen Präsentation der Polizeistatistiken und in der öffentlichen Diskussion besondere Aufmerksamkeit finden. Eine starke Zunahme zeigen Körperverletzungsdelikte und der Raub. Bei beiden Gewaltdelikten sind es Taten im öffentlichen Raum und auf der Straße, die zunehmend registriert werden. Keine signifikanten Veränderungen ergeben sich für sexuelle Gewaltdelikte. Der Sexualrnord nimmt im Übrigen zwischen 1987 und 2008 deutlich ab. Raubdelikte steigen langfristig bis Ende der 1990er Jahre. Ein besonders starkes Ansteigen ist dann in den 1990er Jahren festzustellen. Dies geht teilweise auf jugendliche Straftäter zurück, die gerade im Zusammenhang mit Straßenraub häufig auffallen. Schwere Formen des Raubs (z. B. Bankraub) verändern sich dagegen kaum. Der Zuwachs an polizeilich registrierten Raubdelikten wird wohl zum größeren Teil mit der Zunahme des Straßenraubs und der Zunahme von Raubstraftaten mit relativ geringen Schäden erklärt werden können. 23 Eine langfristige und deutliche Zunahme ist auch bei Körperverletzungsdelikten zu erkennen. Körperverletzungsdelikte gehen, anders als dies bei Raub der Fall ist, seit Anfang des neuen Jahrtausends nicht zurück, sondern steigen weiter an. Auch hier ist es die Gewalt im öffentlichen Raum, auf der Straße, die besonders stark zunimmt. Die starke Zunahme von Raub- und Körperverletzungsdelikten hat eine Diskussion über deren Ursachen ausgelöst. Die Diskussion geht zurück auf ein bekanntes Problem der Polizeilichen Kriminalstatistik und eine damit zusammenhängende Unsicherheit in der Bewertung von Veränderungen in der Zahl erfasster Straftaten. 24 Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert angezeigte Straftaten. Sie ist also abhängig von der Anzeigebereitschaft der 23 24

PfeifferlWetzels The structure and development ofjuvenile violence in Germany, 1999. Robert/Zauberman/Nevanen/Didier Deviance et Societe 32 (2008), 435-472.

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Opfer. Eine Zunahme von polizeilich registrierten Straftaten kann demnach zwei Erklärungen haben. Die Zunahme kann eine Zunahme der Gewalt widerspiegeln; die Zunahme kann allerdings auch durch eine größere Anzeigebereitschaft bedingt sein. In Deutschland wurden bis heute - im Gegensatz zu Ländern wie den USA, Niederlanden oder England - keine national repräsentativen Opferbefragungen durchgeführt und in Abständen wiederholt, die Aufschluss über die Frage geben könnten, ob die Anzeigebereitschaft zunimmt oder die Gewalt selbst. Zwar kommt es seit den 1980er Jahren immer wieder (und immer häufiger) zu Befragungen, die sich auf erlebte Opfersituationen oder selbst begangene Gewalt (und andere Straftaten) beziehen. Doch bleiben diese Untersuchungen (zum Dunkelfeld) regional beschränkt oder auf bestimmte Gruppen wie Jugendliche begrenzt. 25 Aus den Befragungen können verschiedene Schlussfolgerungen gezogen werden, die zunächst davon ausgehen lassen, dass die Anzeigeneigung vor allem bei Körperverletzungen in den letzten 10 bis zwanzig Jahren auch bei jungen Menschen zunimmt. 26 Da die Anzeigeneigung deutlich größer ist, wenn Täter und Opfer unterschiedlichen Ethnien angehören,27 kann dann begründet angenommen werden, dass eine zunehmende ethnische Heterogenität in Gesellschaften mit entsprechend zunehmenden Anzeigeraten bei Gewaltdelikten verbunden ist. Gleichwohl wird ein erheblicher Teil (mehr als die Hälfte) der von Jugendlichen mitgeteilten Gewalt nicht angezeigt, die Gewaltkriminalität bleibt zu erheblichen Teilen im Dunkelfeld. 28 Der Anstieg der Körperverletzungen ist in Dunkelfeldbefragungen, soweit diese über längere Zeiträume in den letzten zwanzig Jahren wiederholt durchgeruhrt worden sind, weitaus schwächer als aus den Polizeilichen Kriminalstatistiken ersichtlich. 29 Neuere Schülerbefragungen belegen rur die Zeiträume Ende der 1990er Jahre und 2007/2008 einen teilweise deutlichen Rückgang der erlebten und in Befragungen mitgeteilten Gewalt. 30

Albrecht H.-J MschKrim 81 (1998),381-398. Baier, D. u. a. Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, 2009, S. 98 f. 27 Köllisch MschKrim 92 (2009), 28-53, 45; der allgemeine Rückgang von Gewaltkriminali-

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tät in den letzten 15 Jahren wird vor allem durch den British Crime Survey belegt, vgl. hierzu Kershaw u. a. (Fn. 6), S. 5,25. 28 Baier u. a. (Fn. 26). 29 OberwittlerlKöllisch Neue Kriminalpolitik 16 (2004), 81-120. 30 Baier u. a. (Fn. 26).

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IV. Ursachen der Gewalt In der auf quantitativen Zugängen beruhenden Erklärung von Gewalt werden verschiedene Ansätze verfolgt, die selbstverständlich auch Auswirkungen haben auf die Frage, welche präventiven Ansätze zur Reduzierung von Gewalt empfohlen werden. 31 In der Einleitung wurde auf Gewaltereignisse als Kommunikationsplattform verwiesen, die solche sozialen Sachverhalte problematisieren lässt, die als korrekturbedürftig empfunden werden. Nach spektakulären Gewaltdelikten kommt es zu Debatten darüber, was die Gewalt ausgelöst hat und was getan werden muss, um solche Gewalt zu verhindern. Nach dem Schulmassaker von Winnenden hat sich die Wochenzeitschrift "Die Zeit" an dieser Debatte beteiligt; in einem Artikel mit dem Titel "Was geht in den Köpfen von Amokläufern vor" wurde Folgendes ausgeruhrt: "Nicht nur Computerspiele stehen im Dienst des Amoks, auch die richterstattung tut es. Die globale Informationsmaschinerie dürfte Grund sein, warum der Amoklauf an Schulen erst 1974 aufkam und Littleton 1999 grassiert. Die wachsende Zahl der Medien verbreiten Übel wie die Pest. "32

Beder seit das

Der Text lässt nicht erkennen, ob auch "Die Zeit" als Teil der Seuche betrachtet wird, verweist aber auf das Unbehagen an Medien und Video-/Computerspielen, die als Auslöser oder jedenfalls als mitverantwortlich für extreme Gewalttätigkeit empfunden werden. Die Thematisierung einer Mitverantwortung der Medien fällt vor allem dort leicht, wo, wie bei terroristischer Gewalt, die Propaganda durch die Tat im Vordergrund steht und Propagandavehikel benötigt werden. 33 Hervorzuheben ist allerdings, dass Gewalt als ansteckend gesehen wird und dass Ansteckungswege durch (laufende) Bilder sowie Ansteckungsrisiken für besonders gefährdete Gruppen (Junge und Dumme) vermutet werden, wie schon ein Aufsatz aus der Zeitschrift The Scientific Monthly und dem Jahr 1921 belegt. 34 Es gibt sodann eine ganze Reihe weiterer Kandidaten in der öffentlichen Debatte über Ursachen der Gewalt, zu denen neben dem Alkohol und anderen Drogen, Zugang zu Waffen, die Verrohung durch Krieg, Traumatisierung durch Armut, Bildungsferne, zur Erziehung unfähige Familien, verloren gegangene Grundwerte und schließlich die Gewalt selbst zählen.

31 Hardiman u. a. Youth and exclusion in disadvantaged urban areas: addressing the causes of violence, 2004. 32 DIE ZEIT, 19.03.2009, Nr. 13. 33 Albrecht, H.-i. Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie 1 (2002),5-17. 34 Poffenberger The Scientific Monthly 12 (1921), 336-339.

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Geht man diese Kandidaten der Reihe nach durch, wird man durchaus empirische Belege für Zusammenhänge mit Gewaltkriminalität finden. Es ist bekannt, dass ein großer Anteil von Gewalttätern bei der Tatbegehung alkoholisiert war. Dasselbe gilt allerdings für die Opfer von schwerer Gewalt. 35 Wir wissen auch, dass ein erheblicher Teil vor allem jugendlicher Gewalttäter häufig mit gewalttätigen Computerspielen und dem Betrachten von Gewaltfilmen beschäftigt ist. Nach einer intensiven Berichterstattung über spektakuläre Gewalt nehmen teils entsprechende Gewalttaten zu, wie nach den fremdenfeindlichen Anschlägen von Lichtenhagen zu beobachten war,36 teils werden vermehrt Drohungen registriert, wie regelmäßig bei Amokläufen festzustellen ist. Vermutet werden in diesem Zusammenhang Nachahmungs- und Mobilisierungseffekte, die wohl darauf zurückzuführen sind, dass eine bereits vorhandene Bereitschaft zur Gewalt gestützt und ermutigt wird. 37 Im Übrigen ergeben sich Hinweise für andere Formen der "Ansteckung" durch Gewalt. Forschungen zu erlebter Gewalt im Stadtteil (die unabhängig ist von der Gewalt in intimen Beziehungen) belegen, dass junge Menschen, die schwere Gewalt auf der Strasse erleben, mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst Gewaltstraftaten begehen werden. 38 Mit der Feststellung eines (empirischen) Zusammenhangs ist allerdings noch nichts über einen Ursachenzusammenhang ausgesagt. Denn die Aussagen können auch umgekehrt werden in der Feststellung, dass die meisten Uungen) Menschen, die häufig Gewaltcomputerspiele spielen oder Gewaltfilme betrachten, nicht gewalttätig werden. 39 Zwar belegen neuere MetaAnalysen Zusammenhänge zwischen Aggression/Gewalt und Betrachten (bzw. "Konsum") von Gewaltfilmen 40 sowie dem Engagement in Videospielen. 41 Auch sind die möglichen theoretischen Erklärungen für kurz- und langfristige Folgen gewalttätiger Medien ausgearbeitet. 42 Doch bleibt es im Wesentlichen bei Laborexperimenten sowie Untersuchungsansätzen, in denen die angenommenen theoretischen Hypothesen nicht getestet werden und der Feststellung von Korrelationen, die bislang jedenfalls nicht dazu ausgereicht haben, amerikanische Richter von der Rechtfertigung eines Eingriffs in den Zusatzartikel zur Verfassung durch Zugangsbeschränkun35 Vgl. beispw. Kerner in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 11-26. 36 Lüdemann Soziale Probleme 3 (1992), 137-153. 37 Vgl. hierzu auch Surette Crime & Delinquency 48 (2002), 46-68. 38 BingenheimerlBrennan/Earls Science 308 (2005), 1323-1326. 39 Olson Academic Psychiatry 28 (2004), 144-150. 40 Paik/Comstock Commun Res 21 (1994), 516-546. 41 AndersonlBushman Psychological Science 12 (2001), 353-359~ AndersonlBushman Science 295 (2002), 2377-2379. 42 Huesmann The Journal of Adolescent Health 41 (2007),6-13.

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gen und -verbote bei gewaltgesättigten Videospielen zu überzeugen. 43 Das Überwiegen von Korrelationsforschung gilt ebenso für den Alkohol- oder Drogenkonsum, die in der Kindheit erlebte Gewalt oder schulischen Misserfolg. Es handelt sich um Wahrscheinlichkeitszusammenhänge, die zu einern größeren Teil wenig spezifisch für Gewalt sind (weil sie auch anderes wie allgemeine Kriminalität und Devianz oder psychiatrische Auffälligkeiten erklären). Zum Ausdruck kommt hier die von Popitz betonte Einsicht, dass Menschen nie gewaltsam handeln müssen, aber immer gewaltsam handeln können. 44 Die Korrelationen, die empirisch festgestellt werden können und die sofort plausibel erscheinen, sagen noch nichts darüber aus, ob das Eine die Ursache des Anderen ist. Die Plausibilität der Annahmen wird zunächst vor allem dadurch gestützt, dass tendenziell davon ausgegangen wird, dass "Böses auch Böses zeugt".45 Eine solche Forschungsperspektive kann auch als "Defizitvorstellung" von Gewalt bezeichnet werden: soziale Pathologien verursachen Gewalt.46 Die in empirischen Untersuchungen festgestellten Zusammenhänge sind dann mehr oder weniger stark ausgeprägt und können ferner auch dadurch erklärt werden, dass andere Merkmale der Situation oder aus der Vorgeschichte beides erklären, den schulischen Misserfolg und die Gewalttätigkeit, exzessiven Alkoholkonsum und Gewalt. 47 Frühe Verhaltensauffälligkeiten von Kindern sagen beides voraus: ein höheres Risiko von Gewalttätigkeit und ein höheres Risiko von schulischem Versagen und Alkoholund Drogenkonsum. Bekannt ist beispielsweise, dass die Auswirkungen des Alkohols sehr stark durch die jeweilige Umgebung, in der Alkohol getrunken wird, moderiert sind. Kulturell angepasste und stark kontrollierte Trinksituationen sind mit einern sehr viel geringeren Risiko von Gewalt auch dann verbunden, wenn erhebliche Mengen Alkohol konsumiert werden. Die Ursachen von Gewalt werden in Besonderheiten des Täters und seiner Entwicklung, in sozialen Strukturen, in seiner Umwelt und den hier wirkenden Kräften sowie in der Situation selbst vermutet. Allerdings zeigt die bereits vorgestellte Bandbreite der Gewaltphänomene, dass sich einheitliche Erklärungen nur schwer vorstellen lassen. 43 Lesenswert die Entscheidung United States Court 0/ Appeals/or the Seventh Circuit, No. 00-3643, American Amusement Machine Association et al. v. Teri Kendrick et al., in der die Handschrift William Posners zu erkennen ist. 44 Popit= Phänomene der Macht, 1992, S. 50. 45 1mbusch Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 7 (2005), 99-122. 46 Von Trotha (Fn. 1), S. 9-58,18. 47 SweetenlBushwaylPaternoster Criminology 47 (2009),47-92. Der starke Zusammenhang zwischen Schulabbruch und Kriminalität \vird fast ausschließlich durch früher liegende Probleme (frühe Verhaltensauffälligkeiten, lang andauernde Schulprobleme, polizeilich registriertes kriminelles Verhalten) erklärt (S. 77).

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Es gilt als ausgemacht, dass aus Gewalt Gewalt folgt. Volksweisheiten überliefern nachdrücklich diese Überzeugung und nicht umsonst ist im Gewaltmonopol des modemen Staates vor allem das Verbot der vergeltenden Gewalt angelegt und nicht von ungefähr generieren alle Kulturen Mechanismen, mit denen die in der Gewalt liegenden Potentiale der (eskalierenden) Vergeltung eingefangen werden sollen. Insoweit überrascht die Vermutung nicht, die an Kindern verübte Gewalt lasse die Opfer später selbst zu Gewalttätern werden. Eine überwältigende Mehrheit der europäischen Bevölkerung nimmt jedenfalls an, dass die als Kind erfahrene Gewalt Ursache späterer Gewalttätigkeit sei. 48 Im Jahre 1989 hat Cathy Spatz Widom in der Zeitschrift Science einen Text veröffentlicht, dem sie den Titel "Der Kreislauf der Gewalt" (The Cycle of Violence) gegeben hat. 49 Sie hat in diesem Text das Problem der Übertragung von Gewalt entlang der Generationen aufgegriffen und damit auch eine Fragestellung aufgeworfen, die wenig später im gewalttätigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und im Genozid in Ruanda aus einer etwas anderen Perspektive Bedeutung bekommen sollte. Denn die Organisatoren der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda haben sich in Anstiftung und Durchführung des Massenmords nicht zuletzt auf eine geteilte Leidens- und Opfergeschichte berufen und damit einen wirksamen Mechanismus zur Auslösung kollektiver Gewalt betätigt. 50 In einer der ersten großen Längsschnittstudien zu den Auswirkungen von · Kindesmisshandlung wurden misshandelte Kinder mit einer Gruppe nicht misshandelter Geschwister verglichen. Während Jugendkriminalität in der misshandelten Gruppe bei 160/0 auftrat, betrug diese Rate in der Gruppe der nicht misshandelten Geschwister etwa 80/0. 51 Die eingangs erwähnte Cathy Spatz Widom hat die bis heute wohl am breitesten angelegte und einflussreichste Längsschnittstudie zur Überprüfung von Zusammenhängen zwischen familiärer Gewalt und späterer Kriminalität der kindlichen Opfer durchgeführt. Einbezogen wurden in diese Studie jugendamtlich registrierte und eindeutig diagnostizierte Fälle von Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexuellem Missbrauch aus den Jahren 1967 - 1971, wenn die Opfer 11 Jahre oder jünger waren. 52 Eine Kontrollgruppe enthielt solche 48 Eurobarometer 51.0: Europeans and Violence Against Children. Report by INRA (Europe), 4. Juni 1999, S. 57: etwa drei Viertel der Befragten gehen davon aus, dass in der als Kind erfahrenen Gewalt eine Ursache der Gewalt liege. 49 Spatz Widom Science 244 (1989), 160-166. 50 Weher Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 2005; Blass Holocaust and Genocide Studies 7 (1993), 30-50. 51 BoltonlReichlGutierres Victimology 2 (1977), 349-357. 52 Spatz WidomlMaxfield An Update on the "Cycle of Violence". Results of a longitudinal study, 2001.

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Fälle ohne festgestellte Misshandlung, die entlang Alter, Geschlecht, Ethnie und sozio-ökonomischem Status parallelisiert waren. Für beide Gruppen wurden über knapp 30 Jahre hinweg relevante Daten aus amtlichen Statistiken erhoben. Die Resultate sind nicht spektakulär; die Korrelation zwischen Misshandlung und späteren Belastungen ist eher schwach, sie entspricht aber den Vermutungen. Misshandelte oder vernachlässigte Kinder werden als Jugendliche und als Erwachsene häufiger straffällig als die Angehörigen der Kontrollgruppe. Sie werden früher auffällig als Nichtmisshandelte und begehen mehr und auch schwerere Straftaten; insbesondere ist die Quote der chronischen Straftäter und der Gewaltstraftäter erhöht. 53 Diese Zusammenhänge reihen sich ein in eine Kette anderer Risikofaktoren aus den frühen Lebensjahren, die jeweils eine geringe Erklärungskraft für späteres Verhalten haben. 54 Der Befund eines nur schwachen Zusammenhangs deckt sich mit den Ergebnissen einer neueren Metaanalyse, in der die Brauchbarkeit verschiedener im Kindheitsalter gemessener Variablen für die Vorhersage von schwerer Jugendkriminalität und Jugendgewalt untersucht wurde. Die Effektstärke von Kindesmisshandlung ist danach eher gering; sie fällt in dieser Metaanalyse hinter diejenige anderer Variablen zurück. 55 Alle Studien, die den Gewaltkreislauf (oder Problemkreislaut) beschreiben und Zusammenhänge belegen, verweisen zudem darauf, dass die meisten misshandelten, vernachlässigten oder missbrauchten Kinder später nicht wegen schwerer Straftaten, insbesondere wegen Gewaltkriminalität, auffallen. Lange Zeit herrschten in der Erklärung von Gewalt psychiatrische und psychologische Ansätze vor, teilweise wurden genetische Defekte oder Störungen von Gehirnfunktionen vermutet, die dem Film "Clockwork Orange" zur Vorlage dienten. Vorstellungen darüber, dass bestimmte Formen der Geisteskrankheit oder genetischer Abweichungen mit einer erhöhten Auffälligkeit mit Gewalt oder sexueller Gewalt zusammenhängen, haben sich als nicht zutreffend erwiesen. 56 Andererseits lassen sich Zusammenhänge zwischen genetischen Ausprägungen und Gewalt beobachten, ferner Interaktionen zwischen Kontrollvariablen und genetischen Bedingungen, die allerdings bislang theoretisch nicht erklärt werden können. 57 Spat= WidomiMaxfield (Fn. 52), S. 3. Farrington Predictors, Causes, and Correlates of Male Youth Violence. Crime and Justice. An Annual Review of Research. Bd. 24, 1998, S. 440~ Fergusson/Boden Child Abuse & Neglect 30 (2006), 89-1 08~ Eisner/RibeaudlJünger/Meidert Frühprävention von Gewalt. Ergebnisse des Zürcher Interventions- und Präventionsprojektes an Schulen, 2008, S. 33. 55 Lipsey/Derzon in: Loeber/Farrington (Hrsg.), Serious and Violent Juvenile Offenders. Risk Factors and Successful Interventions, 1998, S. 86-105. 56 Elbogen/Johnson Archives of General Psychiatry 66 (2009), 152-161. 57 Guo/Roeuger/Cai The American Sociological Review 73 (2008), 543-568. 53

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Die Gehirnforschung gibt ferner Hinweise dafür, dass bestimmte neuronale Systeme für das Auftreten von Gewalt wirksam werden, vermag aber nicht zu sagen, wie genau und warum sich Veränderungen in solchen Systemen auf Gewalt auswirken. 58 Sieht man davon ab, dass frühe Verhaltensauffalligkeiten bei Kindern einen relativ guten Prädiktor für Gewalt (allerdings auch für anderes Problemverhalten) darstellen,59 dann bleibt im Wesentlichen die Gewissheit, dass die Situation und der soziale Kontext eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle für die Erklärung von Gewalt spielen wie individuelle Besonderheiten. Dies wird nicht zuletzt durch das MilgramExperiment demonstriert, das vor einiger Zeit mit denselben Ergebnissen wie in den 1960er Jahren wiederholt worden ist. 60 Die Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Suche nach Gewaltursachen vor allem auf soziale Strukturen und grundlegende gesellschaftliche Veränderungen konzentriert. So wird nachlassender gesellschaftlicher Integration in der Erklärung von Gewalt große Aufmerksamkeit gewidmet. Europäische Gesellschaften werden heterogener, wozu eine zunehmende Immigration beiträgt. Dies geht Hand in Hand mit einem Prozess, der als Individualisierung bezeichnet wird, und einer Veränderung der Ökonomie und der Arbeitsmärkte. Individualisierung meint, dass die Bindungskraft gesellschaftlicher Institutionen schwindet, dass die Zugehörigkeit zu fest etablierten sozialen Gruppen und Organisationen (Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen etc.) nicht mehr selbstverständlich ist und dass die Orientierung an Normen schwächer wird. 61 Damit erhöht sich offensichtlich für bestimmte Gruppen das Problem, soziale Anerkennung zu finden, sozial aufzusteigen und an gesellschaftlichen Entwicklungen erfolgreich teilzuhaben. 62 Das Verschwinden einfacher Arbeit trägt zur Verstärkung der Probleme bei. Mit einer geringeren Orientierung an Normen gewinnt das Kosten-Nutzen-Kalkül an Bedeutung. 63 In solche Prozesse der Desintegration lässt sich die Gewalt, auch und vor allem, wenn sie kollektiv auftritt, einordnen. 64 Jedoch werden mit der Stellung in der Sozialstruktur und individuellen Belastungen Risikokonstellationen sichtbar, die durch den

King u. a. NeuroImage 30 (2006), 1069-1076. White/Mojfitt/Earls/Robins/Silva Criminology 28 (1990), 507-533. 60 Mi/gram Journal of Abnormal and Social Psychology 67 (1963), 371-378~ Burger American Psychologist 64 (2009), 1-11. 61 Blinkert Soziale Welt 39 (1988), 397-412. 62 Heitmeyer/Anhut in: Heitmeyer/Legge (Hrsg.), Youth, Violence, and Social Disintegration. New Directions for Youth Development, 2008, S. 25-37~ vgl. auch die Entwicklungen in Ländern, die durch plötzlichen und schnellen sozialen Wandel erfasst waren, Pridemore/Chamlin/Cochran Justice Quarterly 24 (2007), 271-290. 63 Blinkert (Fn. 61). 64 Waddington/King The Howard Journal 48 (2009), 245-256. 58

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jeweiligen sozialen Kontext wiederum moderiert werden. Offensichtlich folgt daraus, dass sozialstrukturell benachteiligte und individuell belastete Personen sich in bestimmten Räumen konzentrieren und dass durch eine solche Konzentration erst Bedingungen geschaffen werden, die zu einem höheren Ausmaß an Gewalt führen. Dies zeigt sich daran, dass junge Menschen mit wenigen Risikofaktoren dann höher mit Gewalt belastet sind, wenn die soziale Umgebung durch erhebliche Risiken gekennzeichnet ist. Andererseits wirkt sich ein Gewalt entmutigender Kontext (starke informelle Kontrolle, hohe Konzentration von Personen mit wenig Risikofaktoren) offensichtlich so aus, dass auch hoch belastete Personen wenig Gewaltdelikte begehen. 65 Eine eng verwandte Fragestellung ergibt sich auf kollektiver Ebene und mit Bezug auf die Ausübung wirksamer (informeller) sozialer Kontrolle. 66 Die Bedeutung von Gangs und anderen Gruppen für das Ausmaß an Gewalt wird in europäischen Ländern (eingeschlossen Deutschland) erst in neuerer Zeit thematisiert. Mitglieder von Straßengangs sind, erwartungsgemäß, höher mit Gewalt belastet als junge Menschen, die keiner Gang angehören. 67 Gewalt, die aus Gruppenzusammenhängen oder Kollektiven heraus erfolgt, sollte auch aus der Perspektive von Neutralisierung und Rechtfertigung betrachtet werden. 68 Gewalt wird begleitet von Rechtfertigungen, die dem Täter die Verantwortung nehmen und Handlungen begründen lassen. Gerade bei jungen Männern spielen dabei männliche Ehre, Ehrverletzungen und die Solidarität mit den peers eine erhebliche Rolle. 69 Denn die Gewalt junger Männer ist wesentlich bestimmt durch die Motive "männliche Ehre", Solidarität mit Freunden und "Lust auf Gewalt". 70 Eingebettet sind diese Motive in Gruppenloyalität und Statussuche und -erhalt. Ob sich insoweit aber eine besondere ethnisch geformte Kultur der Ehre, Achtung und des Ansehens 71 abbilden lässt, die zudem Mehrwert im Hinblick auf die Erklärung der Gewalt junger Männer mit sich bringt, mag bezweifelt werden. Jedenfalls existieren bislang keine Hinweise darauf, dass sich junge männliche Immigranten von sozial ähnlich platzierten autochthonen Gruppen im 65

Nunner-WinklerlNikelelWohlrab Journal für Kontlikt- und Gewaltforschung 7 (2005),

123-146.

SampsonlRaudenbush/Earls Science 277 (1997), 918-924. KleinlWeermanlThornberry European Journal of Criminology 3 (2006), 425 f. 68 SykeslMatza American Sociological Review 22 (1957), 664-670. 69 Miller in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie. 3. unveränd. Aufl. 1979, S. 339-359~ GrahamlWells British Journal of Criminology 43 (2003), 546-566~ Wilms Ehre, Männlichkeit 66

67

und Kriminalität, 2009. 70 Graham/Wells (Fn. 69), 560~ TrevorlBrookman International Review of Law, Computers & Technology 22 (2008), 171-180. 71 Gesemann Junge Zuwanderer und Kriminalität in Berlin. Bestandsaufnahme - Ursachenanalyse - Präventionsmaßnahmen, 2004, S. 67.

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Hinblick auf diese Handlungsmotive (und Auslöser von Gewalt) unterscheiden. Dafür sprechen auch Untersuchungen zu Männlichkeitsnormen und Gewaltkriminalität, die davon ausgehen, dass es sich bei gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen "weniger um einen ethnisch spezifischen kulturellen Faktor handelt", sondern um normative Orientierungen, die in Situationen sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung entstehen72 und auch auf kollektive Reaktionsbildung und politische Akteure verweisen. 73 Die Erklärung von Gewalt tendiert dazu, außer Acht zu lassen, dass viele Gewalttäter auch Opfer von Gewalt sind. 74 Täter- und Opferrollen überlappen sich, wobei das Ausmaß der Überlappung nach den Befunden der Forschung beträchtlich ist, jedoch Gruppen nicht ausschließt, in denen jeweils Täterschaft oder Viktimisierung überwiegen. 75 Die strikte Trennung zwischen Gewalttäter und Gewaltopfer wird auch sichtbar in Präventions- und Unterstützungsprogrammen, die sich entweder auf Opfer oder auf Täter konzentrieren und davon ausgehen, dass Täter und Opfer jeweils distinkte Gruppen bilden. 76 Werden Gewalttäter Opfer von Gewalt, dann handelt es sich häufig um vergeltende Gewalt oder Rache. Die Bedeutung von vergeltender Gewalt wurde bislang kaum aufgegriffen,77 obwohl bekannt ist, dass diese vor allem dort, wo Opfer nicht anzeigen können, die einzige Möglichkeit ist, auf Übergriffe wie Raub oder Diebstahl zu reagieren. In Subkulturen wird zudem von der Anzeige und der Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden auch deshalb kein Gebrauch gemacht, weil generell wenig Vertrauen in staatliche Institutionen vorhanden ist. 78 Erst in jüngerer Zeit wird die Straßengewalt auch unter der Perspektive vergeltender Gewalt untersucht. Dabei wurde deutlich, dass vordergründig nichtige Anlässe den Ausgangspunkt für schwere (vergeltende) Gewalt darstellen können. Denn mit vergeltender Gewalt wird nicht nur ein Ausgleich für wahrgenommene Verletzungen verbunden. Vielmehr soll die Gewalt auch dafür sorgen, dass Angriffe in der Zukunft unterbleiben. Damit ist eine prekäre Situation eröffnet. Vergeltende Gewalt wird von dem Opfer in aller Regel als exzessiv betrachtet79 und trägt deshalb ein besonderes Risiko von Gewaltspiralen in

72 En=mann/Brettfeld/Wet=els in: Oberwittler/Karstedt (Hrsg.), Soziologie der Kriminalität, 2004, S. 264-287. 73 Jobard The Howard Journal 48 (2009), 235-244. 74 Killias/Rabasa British Journal of Criminology 37 (1997), 446-457; Schreck/Stewart/Osgood Criminology 46 (2008),871-905; für Deutschland vgl. Baier u. a. (Fn. 26), S. 47. 75 Schreck u. a. (Fn. 74), 894. 76 Hierzu Stevens u. a. European Journal of Criminology 4 (2007), 385-408. 77 Felson/Steadman Criminology 21 (1983),59-74. 78 Misse Deviance et Societe 32 (2008), 495-506. 79 Sukhwinder/Bays/Frith/Wolpert Science 301 (2003), 187.

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sich. Aus Schülerbefragungen (in denen allerdings auf diese Fragestellung bislang nicht vertiefend eingegangen wurde) ist bekannt, dass Selbstjustiz und Vergeltung (anstelle einer informellen Einigung oder Anzeige) eine eher untergeordnete Rolle spielen. Jedoch ist die Selbstjustiz bei heteroethnischen Täter-Opfer-Beziehungen und bei der Zugehörigkeit des Opfers zu einer delinquenten Clique deutlicher ausgeprägt. Im Übrigen steigt der Anteil mit dem Alter des Opfers; die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen sind beträchtlich. 80 Als besonders gewaltgeneigt gelten illegale Märkte, in denen der Zugang zu staatlicher Streitentscheidung verschlossen ist. 81 So werden extreme Entwicklungen in der Tötungskriminalität in den USA der 1980er Jahre teilweise darauf zurückgeführt, dass sich illegale Drogenmärkte ausweiten, in denen Konkurrenzkämpfe um Marktanteile gewalttätig ausgetragen werden. Der Handel mit Crackkokain steht dabei im Mittelpunkt. 82 Der extreme Anstieg der Tötungskriminalität in den letzten Jahren in Mexiko wird dem Drogenmarkt und dort ausgetragenen Konkurrenzkämpfen zugerechnet. 83 Femer haben Gewaltmärkte und Konfliktressourcen seit den 1990er Jahren im Zusammenhang mit Bürgerkriegen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 84 Allerdings ist zur Rolle der Gewalt in illegalen Märkten über allgemeine und plausible Annahmen hinaus immer noch wenig bekannt. Querschnitts- und Längsschnittanalysen verweisen darauf, dass sich Drogenmärkte und andere illegale Märkte im Auftreten von Gewalt erheblich unterscheiden können. Dies wird einerseits mit Eigenheiten von illegalen Märkten zusammenhängen, wenn es um die Konsolidierung und Neuordnung von Märkten nach erfolgreichen Eingriffen der Strafverfolgungsbehörden geht. 85 Andererseits wird bereits seit langer Zeit darauf hingewiesen, dass Cannabismärkte im Vergleich zu Märkten harter Drogen vergleichsweise friedlich sind. Teilweise dürften Entwicklungen eine Rolle spielen, die das Ausmaß der Beteiligung von Polizisten oder Militärs an illegalen Transaktionen, das Aufgreifen einer politischen Agenda durch kriminelle Organisationen (wie für die durch das Medellin Kartell in den 1980er Jah80

81 82

Köllisch (Fn. 27), 44 f. Snyder/Duran-Martine= Crime, Law & Social Change 52 (2009),253-273. Bowling British Journal of Criminology 39 (1999), 531-554~ Ousey/Lee Justice Quarterly

24 (2007), 48-79. 83 Reuter Crime, Law & Social Change 52 (2009), 275-284. 84 Elwert u. a. (Hrsg.) Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts, 1999~ Cilliers/Dietrich (Hrsg.) Angola's War Economy. The role of oil and diamonds, 2000~ vgl. auch Resolution 1625/2005 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, in der die Bedeutung von natürlichen Ressourcen für die Entstehung und die Fortführung "neuer" Kriege und hiermit zusanlmenhängender Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wird. 85 Friman Crime, Law & Social Change 52 (2009), 285-295.

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ren in Kolumbien ausgelöste Gewaltwelle angenommen) oder umgekehrt den Einstieg politischer Gewaltakteure in illegale Märkte betreffen. 86 Auch für Zusammenhänge zwischen illegalen Märkten und Gewalt dürfte schließlich eine Rolle spielen, dass sie sich als soziale Kommunikationsplattform für weitergehende politische Agenden eignen und deshalb immer kritisch hinterfragt werden sollten. 87

v. Zusammenfassung Das Aufgreifen von Gewalt durch die Kriminologie ist selektiv und wohl sehr stark bedingt durch eine soziale Sensibilisierung fur Gewalt, die trotz einer langfristigen Abnahme von Gewalt vor allem auf die individuelle Gewalt junger Menschen ausgerichtet ist. Sichere Gewaltursachen, die über Wahrscheinlichkeitszusammenhänge hinausgehen, lassen sich nicht identifizieren; dies ist angesichts der Vielfältigkeit von Gewaltphänomenen erwartungsgemäß. Gewalt konzentriert sich in bestimmten Gruppen (und Regionen), sie ist sehr stark von sozialen Kontexten und Situationen abhängig, zu denen auch das Strafrecht gehört. Phänomene vergeltender Gewalt, von Gewaltmärkten und instrumenteller Gewalt verweisen auf die Bedeutung der Akteure, die bislang in den quantitativen Analysen der Gewalt nur ganz undeutlich zu erkennen sind. Gewalt ist schließlich immer mit (Aktions-)macht verbunden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Rechtfertigungssysterne der Gewalt. Gewalt wird vor allem dort zu einem besonderen Problem, wo schützende Faktoren in der Umgebung und in der Person fehlen.

86 Silke Studies in Conflict & Terrorism 21 (1998), 331-361 ~ Schbley Studies in Conflict & Terrorism 23 (2000), 175-196~ Friman (Fn. 85), 207. 87 Naylor (Fn. 14),238 ff.

So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht BRITTA BANNENBERG

I. Einleitung Die empirische Erforschung von Tötungsdelikten, die Amokläufe genannt werden, ist mit methodischen Schwierigkeiten verbunden. Der Begriff "Amok" ist unpassend, womit sich die Frage stellt, welche Phänomene zu untersuchen sind. Die auf malaiische Ursprünge zurückgeführte Definition einer Tat mit tödlichen Folgen, die unvermutet, spontan, nicht geplant und willkürlich geschieht, gefolgt von Amnesie, Erschöpfung oder Suizid, ist nur historisch interessant. L2 Diese Merkmale treffen auf die hier interessierenden (versuchten und vollendeten) Tötungsdelikte nicht zu. Weder handelt es sich um spontane, unvermutete Taten, noch ist nach der Tat eine Amnesie festzustellen. Fälle, die das Etikett "Amok" (meistens durch die Medien) angehängt bekommen, sind im schulischen Bereich lange geplante Gewalttaten mit übersteigerten Hass- und Rachephantasien, die meistens im ebenfalls geplanten Suizid enden. Das Motiv erschließt sich nicht (in manchen Fällen nie), und gerade deshalb geschehen diese Taten für Außenstehende völlig unerwartet. Im Falle der Schulen werden Tötungsdelikte an als sicher geglaubten Orten begangen und tragen damit zu einer erheblichen gesellschaftlichen Verunsicherung bei. Und es gibt Nachahmungseffekte, die die Besonderheit dieser Tötungsdelikte kennzeichnen. Täter kalkulieren bewusst die Wirkung ihrer Tat in den Medien, auch wenn sie den Suizid mitplanen und durchführen. Sie weichen in ihrem Risikoprofil deutlich von Intensivgewalttätem ab und zeigen deshalb im Vorfeld keine oder nur geringfügige aggressive Verhaltensauffalligkeiten. In der Analyse fiel das I Für die historische und kulturelle Betrachtung sind die Beiträge von Knecht Kriminalistik 1998, 681-684~ Weilbach Kriminalistik 2007, 119-127~ Adler Amok. Eine Studie, 2000 und Adler in: Wolfersdorf/Wedler (Hrsg.), Terroristen - Suizide und Amok. 2002, S. 60-72 jeweils m. w. N. interessant. 2 Dilling/Freyberger Taschenführer zur ICD-l 0 Klassifikation psychischer Störungen 2008, Stichwort Amok; der Begriff wird in Lexika skizziert, entspricht aber keinem Merkmal in psychiatrischen Diagnosesystemen.

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bruchstückhafte Wissen Einzelner von bedrohlichen Anzeichen auf, die aber nirgends zu einem Gesamtbild zusammen gefugt wurden. Die diskutierte Begrenzung des Phänomens auf "school shootings"3 scheint nicht sinnvoll, da es Fälle gibt, in denen Lehrer/innen erstochen, Tatplanungen mit Schusswaffen mangels Verfiigbarkeit aufgegeben und die Taten mit Messern und Sprengmirteln verübt wurden. In einem Fall wurde eine "Ersatzhandlung" der Tötung mit Messern an einem Ehepaar verübt, obwohl zu einem früheren Zeitpunkt Überfälle der Schule mit Schusswaffen geplant waren. Die Konstellationen scheinen klar vergleichbar. In einigen Fällen hängt es von der Verfiigbarkeit von Schusswaffen ab, ob und in welcher Weise eine Tat ausgeführt wird. Teilweise werden bei der Analyse von "school shootings" Fälle ausgenommen, in denen (nur) einzelne Personen (häufig Lehrer) getötet werden, scheinbar gezielt in einer Art Racheakt. 4 Auch hier ist die Ausnahme fraglich, weil das Motiv der Rache an Einzelnen zu hinterfragen ist und es teilweise vom Zufall des Geschehens abhängt, ob es zu weiteren Attacken kommt. Die Erforschung der Einzelfälle ist mühsam und gleicht einem Puzzlespiel, das am Ende ein erstaunliches Bild eines Täters ergibt, der große Probleme hatte, die aber von der Umwelt nicht bemerkt wurden. Auch stoßen empirische Recherchen an Grenzen. Die meisten Täter sind tot und wurden deshalb nicht tatzeitnah begutachtet. Die Tätereltern schweigen in der Regel und entbinden frühere Therapeuten nicht von der Schweigepflicht. Zusammenfassend zeigt sich ein sehr komplexes Zusammenspiel von Ursachen mit der problematischen Persönlichkeitsentwicklung von Jungen mit Rückzugsverhalten und Selbstwertproblemen.

11. Methoden und Untersuchungsgegenstand Untersucht wurden Strafakten von 15 vollendeten und versuchten Mordfällen aus den Jahren 1994 bis 2009 (ein Fall stammt aus 1978) mit Mehrfachtötungen aus unklarem Motiv. In der Regel handelten die männlichen Täter im Alter von 14 bis 24 Jahren allein und begingen anschließend Suizid. Es gab auch Fälle, in denen zwei und drei Täter handelten. Neben der Strafaktenanalyse wurden Gespräche mit Hinterbliebenen, Opfer- und Täterfamilien, Zeugen sowie noch lebenden (im Strafvollzug befindlichen) 3 Robert::: School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche, 2004, S. 19 f. unter Berufung auf amerikanische Studien. Der präferierte Begriff wird inhaltlich nicht näher erläutert und soll zudem - widersprüchlich "Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden", umfassen, a.a.O. S. 21. 4 Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth Rampage. The Social Roots of Schoal Shoatings, 2004.

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Tätern geführt. Die Taten fanden an Schulen und Ausbildungsstätten statt, zum Teil aber auch an anderen Orten, wobei sich mindestens eine frühere Tatplanung auf die Schule bezog. Da die jungen Täter gegenüber erwachsenen Tötungsdelinquenten Besonderheiten aufweisen, sind sie gesondert zu betrachten. 5 Auch von Erwachsenen werden Tötungen verübt, die als Amoktaten bezeichnet werden: Tötungen durch Männer im familiären Kontext ("Familienauslöschungen") mit sich anschließendem Bilanzsuizid. Die Täter entsprechen nicht dem Bild typischer Gewalttäter mit sozialen Risikofaktoren, sie sind unauffälliger und im Vorfeld der Tat nicht durch Gewalt gegen ihre Partnerin und die Kinder polizeibekannt geworden. Sie begehen ihre Taten für Außenstehende oft überraschend und öfter mit verfügbaren Schusswaffen. 6 Auch Tötungsdelikte durch Männer, die eher wahllos auf andere Menschen losgehen und versuchen, diese mit Schuss- oder Hieb- und Stichwaffen zu töten, nennt man zuweilen Amok. Häufig liegt ein psychotischer Hintergrund vor, d.h. diese Täter sind psychisch krank, fühlen sich verfolgt, wollen einem vermeintlichen Angriff durch Tötung zuvorkommen oder sich an der Gesellschaft rächen. Man kann alle diese Taten besser als versuchte oder vollendete Mehrfachtötungen mit (zunächst) unklarem Motiv bezeichnen. Ein Motiv gibt es immer, manchmal ist es aber nur dem Täter einsichtig. Die "klassischen" Tatmotive für ein derart schweres Verbrechen (etwa Eifersucht, Raub und Habgier) drängen sich in diesen Fällen jedoch nicht auf, vielmehr erscheinen die Taten zunächst motivlos und schwer erklärbar. Die Forschung hat dabei einige spezifische Probleme zu bewältigen. Diese Tötungsdelikte sind äußerst selten. Es kann daher aus wissenschaftlicher Sicht nur eine Annäherung an diese Art Tötungsdelikte geben, wenn Einzelfälle von vollendeten und verhinderten Taten sowie ernsthaften Drohungen analysiert werden. 7 Der Versuch der posthumen Persönlichkeitsbeurteilung ist als "psychologische Autopsie" bekannt, 8 stößt hier aber auch wegen des äußerst schwierigen Zugangs zu den Familien der Täter an Grenzen, wobei 5 Ausführlich Bannenberg Amok. Ursachen erkennen, Warnsignale verstehen, Katastrophen verhindern, 2010. 6 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht European HomicideSuicide Study (noch laufend), (http://ehss.mpicc.dc)~ Killias Crimiscope 33 (2006). 7 MoorelPetrielBraga/McLaughlin Deadly Lessons. Understanding LethaI School Violence. Case Studies of School Violence Committee. National Research Council and Institute of Medicine (Hrsg.), 2003, ausführlich zur Methode~ Newman et al. (Fn. 4), die eine hervorragende und intensive Analyse über drei junge Täter vorgenommen haben~ Bannenberg (Fn. 5)~ dies. forum kriminalprävention 2/2009, 2 f. 8 Vgl. etwa den Überblicksartikel von PouliotlDe Leo Suicide and Life-Threatening Behavior 36 (2006), 491-510 m. w. N. sowie SniderlHanelBerman Suicide and Life-Threatening Behavior 36 (2006), 511-519.

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Schuldgefühle, Abschottung der Familiengeschichte und Verdrängung sicher eine große Rolle spielen. Gespräche und Testverfahren mit der Person selbst entfallen zwangsläufig. Die weiteren Informationen des sozialen Umfelds, Akteninformationen, Berichte von Menschen, die den Täter erlebt haben (beispielsweise Lehrer und Mitschüler) und insbesondere Aufzeichnungen des Täters selbst sind geeignet, sich ein Bild über die Person zu machen. Die Akteninhalte in den länger zurückliegenden Fällen sind weniger ausführlich und lassen viele Fragen offen. Zuweilen gelingen aber doch ausführliche Gespräche mit Eltern, Geschwistern, Zeugen oder den überlebenden Tätern selbst. Besonders informativ sind vorhandene psychiatrische Begutachtungen oder Analysen der Aussagen überlebender Täter. Die EItern-Kind-Beziehung ist wichtig. Eltern können Auskunft über das Verhalten und die Beziehung zu ihrem Kind geben. Aus kriminologischer Sicht sind alle Informationen untereinander und mit internationalen Forschungsergebnissen zu vergleichen. Mittlerweile liegen neben Originaldokumenten einige ausführliche Studien vor, wenn auch der Forschungsbedarf noch erheblich ist. 9 Danach lassen die Einzelfallanalysen bisheriger vollendeter Tötungsdelikte sowie vieler Drohungsfälle wichtige Parallelen erkennen, die für die Prävention im weiteren Sinne nutzbar gemacht werden können.

111. Ergebnisse

1. Charakteristika und Auffälligkeiten der Täter sowie typische Konstellationen Anders als der Begriff Amok mit malaiischem Ursprung vermuten lässt, sind die in Frage stehenden Mehrfachtötungen weder spontan und unvorhersehbar noch in "Raserei" begangen worden, auch lag bei noch lebenden Tätern keine Amnesie vor. Die Taten waren in der Regel lange geplant. Aus der Einzelfallanalyse bisheriger Taten 10 fallen Parallelen bei den jungen 9 Gaertner Ich bin voller Hass - und das liebe ich. Dokumentarischer Roman. Aus den Original-Dokumenten zum Attentat an der Columbine Highschool, 2009. Die Original Columbine-Dokumente mit 10.937 Seiten aus den polizeilichen Ermittlungsakten des Jefferson County Sheriffs Office sowie 946 Originalseiten aus den Hinterlassenschaften der Täter wurden im Internet veröffentlicht. Zum Fall an der Virginia High Tech im April 2007 haben die Familien der Opfer eine große Zahl der 14.000 Seiten Originaldokumente auf der Seite "Collegiate Times" veröffentlicht. Langman Amok im Kopf. Warum Schüler töten, 2009, der über Begutachtungen potenzieller Amokläufer berichtet. Ein eher auf Prävention gerichteter Praxisbericht eines Pädagogen zum Fall Woodham (Mississippi 1997) und den Folgen wurde 2009 publiziert: Dodson If Only I Had Known, 2009. 10 Ausführlich Bannenberg (Fn. 5).

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hier ausschließlich männlichen - Tätern, ihren Persönlichkeitsstörungen, Familien und verstärkenden Risikofaktoren auf: Es geht um ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen, bei dem sich als hervorstechende Besonderheit die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit Selbst- und Fremdaggression herauskristallisiert. Problematisch für die exakte Beurteilung ist die weitgehend fehlende oder fragwürdige psychiatrische Diagnostik. Die meisten Täter sind bei der Tat durch einen Suizid ums Leben gekommen, weshalb eine tatzeitnahe Begutachtung unterblieb. Im engeren Zusammenhang mit der sich anbahnenden Tat sind nur selten psychiatrische Einschätzungen vorhanden, etwa wenn der Täter selbst Hilfe gesucht hat oder eine zeitlang untergebracht war. Verfügbare Begutachtungen und psychiatrische Einschätzungen sind zudem unter dem Aspekt des jungen Lebensalters und der sich möglicherweise erst im Anfangsstadium befindlichen Persönlichkeitsstörungen zu sehen. Die Täter, die einen Suizid nicht planten oder das Vorhaben aufgaben, führten die Tat häufiger mit Messern, nicht mit Schusswaffen aus. Die späteren Amokläufer zeigten nicht die typische Anhäufung von Risikomerkmalen, wie sie bei gewaltauffälligen, aggressiven Jungen vorhanden sind,11 d.h. sie waren in der Schule und unter Gleichaltrigen nicht mit Störungen des Sozialverhaltens, Gewalt oder Aggressionen auffällig. Sie galten vielmehr als still, scheu, ängstlich und zogen sich zurück. Soziale Kontakte fielen ihnen schwer. In der Schule bemerkten Lehrer diesen Rückzug selten, die Leistungsdefizite und "stillen" Verhaltensauffälligkeiten wurden viele Jahre übersehen. Sie galten in der Schule als unauffällig, womit auch geradezu unzugänglich und verschlossen gemeint war. In der Pubertät verstärkte sich dieser Rückzug. Problematisches Sozialverhalten ist auch künftig nicht leicht von sonstigen pubertären Phasen der Suche nach Eigenständigkeit zu unterscheiden. Rückzug von Erwachsenen, eine eigene und eigenwillige Musikvorliebe, provokante Verhaltensweisen und Äußerungen, exzentrische Kleidungsstile und "Moden" aller Art kennzeichnen die schwierige Zeit des Übergangs zum Erwachsenwerden ohnehin. Trotzdem fielen bei genauerer Betrachtung ein stark ausgeprägter Rückzug und das übermäßige Interesse an Attentaten, Amokläufen und Massentötungen auf. Depressionen sowie Andeutungen über Suizid und/oder Amok wurden gegenüber Mitschülern und Geschwistern deutlich, auch die Eltern bemerkten, dass mit "dem Jungen etwas nicht stimmt". Daneben fanden sich Äußerungen von überschießenden Rachebedürfnissen und Hass z.B. in Tagebüchern und 11 Lösel/Runkel in: Schneider/Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Bd. 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter, 2009, S. 453-480; Bannenberg in: Landeskommission Berlin gegen Gewalt (Hrsg.), Berliner Forum Gewaltprävention: Kinder- und Jugenddelinquenz, Nr. 36, 2009, S. 22-46.

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Aufzeichnungen, die gänzlich überzogen und nicht nachvollziehbar erschienen. Die ausgeprägte Affinität zu Waffen und militärischen Symbolen fiel deutlich auf und schlug sich teilweise auch im Kleidungsstil nieder. Die späteren Täter fiihlten sich unverstanden, gedemütigt und gemobbt, was einer realistischen Betrachtung nicht standhielt. Man gewinnt eher den Eindruck, die Täter zogen sich selbst von anderen zurück, werteten diese ab, wiesen Kontaktangebote zurück, waren unfreundlich und unzugänglich und ohne jede Empathie fur andere. Als verstärkende Risikofaktoren für die spätere Tatausfiihrung zeigten sich gedankliche Einengungen auf Hass und Rache sowie die langfristige Planung der konkreten Tatausfiihrung. Die Verfügbarkeit von Schusswaffen und intensive Befassung mit gewalthaitigen, regelmäßig erst ab 18 Jahren freigegebenen Filmen und Computerspielen sowie entsprechender Musik und Musikvideos als virtuelle Gewaltverstärker stellen Risikofaktoren dar. Die Ausstattung der Zimmer mit Postern, Vorlieben fiir militärische Symbole, Waffennachbildungen, Rächerfiguren und schwarze Symbolik zeigte die Dominanz von Hass und Gewalt in der Gedankenwelt der Täter deutlich an. Die Schule wurde zum Ort der Ablehnung und zum Symbol des Hasses; die Schulleistungen waren schwach, Äußerungen von Mitschülern und Lehrern wurden als extrem demütigend begriffen und mündeten in Hassphantasien.

2. Familie und Elternhaus Die Elternhäuser der Täter wiesen keine Risikofaktoren wie bei typischen Gewaltentwicklungen auf. Für Außenstehende waren diese Familien normal, unauffällig, es gab keine Gewalt, keine Vernachlässigung, keine Alkohol- und Drogenprobleme. In keiner Weise handelte es sich um "broken homes", sondern um kleinbürgerliche Elternhäuser oder Mittelschichtfamilien, in denen ein gemeinsames Familienleben mit geregelten Mahlzeiten und Sorge um das Wohlergehen der Kinder festzustellen war. Dieses Bild zeigte Risse, wenn man den viel "normaleren" Umgang mit den Geschwistern betrachtete. Hier wurde altersgerecht erzogen, gestritten, aber auch viel gemeinsam unternommen. Zum späteren Täter konnte die übrige Familie oft wenig Auskünfte geben: Er sei still gewesen, zurückgezogen, habe nicht viel geredet, sei oft auf sein Zimmer gegangen, vor allem wenn Besuch kam, habe viel mit dem Computer gespielt, sei oft zu Hause gewesen, habe keine oder wenige Freunde und wenig Freizeitinteressen gehabt, sei schulisch meistens wenig erfolgreich und etwas faul gewesen und habe keine Freundin gehabt. Dabei schien er zufrieden. Eine enge emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind lag nicht vor. Eher entstand der Eindruck der Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Jungen, den man gewähren ließ (im Gegensatz zu den Geschwistern), es wurden keine Konflikte über das

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als problematisch erkannte Verhalten ausgetragen, man lebte nebeneinander her und hoffte, es werde sich alles von selbst regeln. Die Beziehung der Väter zu ihren Söhnen schien vorrangig durch den Umgang mit den Schusswaffen bestimmt.

3. Leistungsprobleme und/ehlende soziale Anerkennung in der Schule Die Amoktäter waren fast alle leistungsschwache Schüler, die ungern zur Schule gingen. Das Scheitern offenbarte sich deutlich etwa nach der 7. oder 8. Klasse. Fast immer wurde eine Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und Leistungen beschrieben, man traute ihnen seit der Grundschulzeit mehr zu, als sie leisteten. Lehrer ermöglichten die Versetzung, weil die Jungen so ruhig und nett waren und nicht gestört haben. Mitschüler beschrieben das Verhalten im Unterricht als völlig abwesend, in sich versunken, unbeeindruckt von Fragen, Ermahnungen der Lehrer und Äußerungen anderer Schüler. Dies deutet auf sehr frühe Auffälligkeiten hin, die heute im Kontext der Aufmerksamkeitsdefizitstörungen gesehen werden können. Nicht hyperaktiv, laut und störend, sondern unkonzentriert, in sich selbst zurückgezogen, träumten oder starrten sie vor sich hin, wurden nahezu unsichtbar. In einigen Fällen gab es pädagogisch problematische Durchsetzungen von Nichtversetzungen und Schulverweisen. Die Schüler wurden mit der Nachricht vom Schulausschluss schlicht nach Hause geschickt. Die Täter fiihlten sich oft gemobbt und von Mitschülern und Lehrern gedemütigt. Einer objektiveren Nachprüfung hielt diese Sicht nicht Stand. Unter Mobbing oder Bullying versteht man die vorsätzliche und wiederholte Schädigung unterlegener Schüler durch körperliche und/oder psychische Gewalt, bei der sich nicht nur aggressive Haupttäter hervortun, sondern der Rest der Klasse meist als Mitläufer auf der Seite des Täters steht und das Opfer nicht unterstützt. 12 Lehrer und Mitschüler greifen in der Regel nicht ein, um die Gewalt zu unterbinden und Geschädigte zu stärken. Wird ein Schüler nicht tatsächlich attackiert, fühlt sich aber ständig angegriffen, zeigt dieses Empfinden die überzogene Kränkbarkeit und Ichbezogenheit deutlich an. Es fehlte an Konfliktfahigkeit und der Fähigkeit zu adäquater Kommunikation. Eine vereinfachte Schuld- und Ursachenzuschreibung nach dem Motto: "Das Opfer wurde zum Täter" wäre verfehlt.

12 Olweus in: Holtappels/Heitmeyer/Melzer/Tillmann (Hrsg.), Forschung über Gewalt an Schulen. Erscheinungsformen und Ursachen, Konzepte und Prävention, 4. Aufl. 2006, S. 281297; Spröber/Schlottke/Haut=inger Bullying in der Schule. Das Präventions- und Interventionsprogranlm ProACT+E, 2008; Bannenberg/Rössner Erfolgreich gegen Gewalt in Kindergärten und Schulen, 2006.

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Für das Verständnis der problematischen Persönlichkeitsentwicklung ist diese Beobachtung relevant. Grundsätzlich sollte auf ein positives Schulklima geachtet werden und jede Form von Mobbing unterbunden werden. Um negative Entwicklungen zu vermeiden, ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern wichtig, weil Schüler ihren Lehrern auch nur dann von besorgniserregendem Verhalten von Mitschülern berichten werden. Die Täter waren in der Regel Einzelgänger und Außenseiter. Die Gleichaltrigen akzeptierten den Jungen nicht. An gemeinsamen Aktivitäten, die Jugendliche interessant finden, hatte dieser Junge kein Interesse. Diese Distanz musste nicht drastische Ablehnung und Beleidigung bedeuten, eher ein Nebeneinander, man hatte sich nichts zu sagen. Selbst bei den bei männlichen Jugendlichen durchaus beliebten Computer- und Softair-Spielen fiel die Andersartigkeit unangenehm auf: Der spätere Täter war nicht nur ein überaus versierter Spieler, er wollte auch unbedingt der beste sein und die meisten Kopfschüsse erzielen oder weidete sich an bestimmten Gewaltszenarien. Das Verhältnis zu Mädchen war problematisch. Die Täter waren interessiert, aber zu schüchtern und trauten sich nicht, Mädchen anzusprechen. Sie nahmen gut aussehenden und sportlichen Jungen in ihrer Klasse ihren "Erfolg" bei den Mädchen sehr übel und schrieben hasserfüllte Bemerkungen auf. Für die Mädchen kam der Täter regelmäßig nicht als möglicher Freund in Frage.

4. Affinität zu Waffen und militärischen Symbolen Durchgängig fand sich eine enorme Faszination rur Waffen aller Art. Die späteren Täter kannten sich mit Schusswaffen, Kalibern und Hieb- und Stichwaffen bestens aus. Der Umgang mit den Waffen war den Jungen vertraut. Trotz Verschärfungen des Waffenrechts und der Pflicht rur Waffenbesitzer, ihre Schusswaffen und getrennt davon die Munition im Privathaushalt sicher verschlossen zu verwahren, waren die Jungen in den Besitz von Schusswaffen und Munition gelangt und benutzten sie bei der Tatausruhrung. Auch die Treffsicherheit war verblüffend, durften doch nicht alle offiziell im Schützenverein schießen oder hätten angeblich noch nie geschossen. Hier ließ sich nicht in jedem Fall die Wahrheit ermitteln, wenn sich Väter wegen fahrlässiger Tötung und ungeeigneter Aufbewahrung der Waffen rechtlich zu verantworten hatten. Die Söhne schossen häufig mit Luftgewehren oder Airsoftwaffen. Die Treffsicherheit oder die bevorzugten Zielregionen (Kopf, Oberkörper) dürfte sich bei einigen durch intensives Spielen mit Ego-Shootern erhöht haben.

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Das negative Vorbild der Tat an der Columbine High School am 20.4.1999 13 bezieht sich auch auf die Schusswaffen. Das Bild des "school shootings", die tödliche Macht der Schusswaffe, hat sich eingeprägt und wurde zum Bestandteil der Tatplanung. Regelmäßig wurde eine Attacke mit Schusswaffen geplant, bei der zynischerweise die Zahl der Opfer möglichst noch gesteigert werden sollte. Die jungen Täter zeigten auch eine ausgeprägte Affinität zu militärischen Themen und Uniformen, im Zimmer vorhandene Bücher enthalten Kriegsberichte sowie Waffen- und Panzerdarstellungen. Andere Tatmittel (Sprengmittel, Rauchbomben, Macheten, Samurai-Schwerter, Messer etc.) und Anleitungen zum Bombenbau waren von hoher Faszination. Hier zeigte sich eine interessante Ambivalenz: Berufswunsch war nicht selten Soldat oder Polizist, viele nahmen von diesen Gedanken im Hinblick auf Nachtmärsche und körperliche Auseinandersetzungen aber wieder Abstand.

5. Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen In fast allen Lebensgeschichten der Täter fiel die Angst vor Gleichaltrigen, insbesondere Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen, auf. Die Eltern berichten, ihr Kind sei schon immer ängstlich gewesen, habe nicht in den Kindergarten, in die Grundschule gehen wollen und habe Angst vor anderen Kindern gehabt. Scheu, schüchtern, sensibel, zurückhaltend - so lassen sich die Beschreibungen der Kinder zusammenfassen. In Aufzeichnungen der späteren Täter finden sich breit Schilderungen von Situationen, in denen sie Angst vor Gleichaltrigen, Mitschülern, Jungengruppen auf der Straße, auf dem Nachhauseweg hatten. Bei älteren Jugendlichen kommt auch die Angst vor Versagen allgemein hinzu. Angst, sich zu blamieren, weil in der Schule die Antwort nicht gewusst wurde, oder Angst, ein Mädchen anzusprechen und abzublitzen. In einem engen Zusammenhang mit dieser Angst stehen die immer wieder geschilderten Empfindungen, gemobbt und geschnitten zu werden.

6. Die Farbe schwarz Die Täter trugen zur Tatzeit meistens schwarze Kleidung oder Uniformen. Manche bevorzugten generell seit langem schwarze Kleidung. Besonders auffällig war ein Täter, der über zwei Jahre neben ausschließlich schwarzer Kleidung einen schwarzen Mantel und schwarze Handschuhe ohne Finger trug (Kopie Columbine). Bevorzugt wurden auch schwarze Zimmerwände oder düstere Poster. Die Farbe schwarz symbolisiert nicht 13

Columbine Documents, Jefferson County Sheriff's Office (Fn. 9).

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zufällig den Tod. Die Jungen befassten sich lange Zeit Init den Themen Tod, auch Suizid, hatten depressive Gedanken, aber auch Gewalt- und Rachephantasien. Immer wieder ging es um Rächerfiguren (Neo aus Matrix, The Crow, Final Fantasy, auch Jason und andere Figuren). Die in den Filmen auffälligen schwarzen Mäntel deuten auf Aspekte der Nachahmung von oder Identifikation mit fiktiven Helden und Rächern, aber auch auf andere Amokläufe (Trenchcoat-Mafia, Columbine) hin, insbesondere die Inszenierung der Täter in selbst gedrehten Videos und mit Bildern im Internet mit schwarzem martialischen Outfit und Waffen weist auf den Wunsch nach Darstellung der eigenen Macht und Großartigkeit hin. Schließlich ist der von Zimbardo 14 deutlich gemachte Aspekt der Maskierung zu beachten: Unter der Maske des Helden und in der vermeintlichen Anonymität steigert sich die Aggression und können Tötungsdelikte leichter begangen werden. Das Thema "schwarz" spiegelt hier also die Beschäftigung der Jungen mit Gewalt und Tod wider und zeigt die Vermischung virtueller Welten, Tötungsphantasien und fortgeschrittene Phasen der Tatplanung an. Es handelt sich nicht um Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer Subkultur (etwa Gothic, Blackmetal, Satanisten) verdeutlicht. Die späteren Täter waren Einzelgänger, die gerade keiner Jugendgruppe oder Subkultur zugeneigt waren, sondern sich im Gegenteil einzigartig und großartig fühlten.

7. Nachahmung und Bezugnahme aufAmoktaten Es fielen häufig Andeutungen über Amoktaten (auch als "Leaking" bezeichnet), diese wurden aber nicht ernst genommen. Meistens wussten die späteren Täter erstaunlich gut über Amokläufe, Massenmörder oder Serienmörder Bescheid. Scheinbar beiläufig fielen Bemerkungen gegenüber Gleichaltrigen, zuweilen wurden auch in Suizidforen oder Chats im Internet vorsichtig die Reaktionen auf eine Andeutung von "Amok" getestet oder es kam zu Äußerungen wie: (Nach einer Tat) "Da hatte endlich mal einer den Mut, es allen an dieser Sch ... schule zu zeigen. Das wäre hier auch mal nötig!". Oder es wird am Jahrestag der Tat von Columbine (20.4.1999) eine Andeutung in Richtung des Gutheißens der Tat getätigt: "HaITis und Klebold (die Täter, meistens werden Abkürzungen benutzt, die den Insider auszeichnen sollen) haben es damals genau richtig gemacht. Man müsste es allen hier mal so richtig zeigen". Problematisch sind zahlreiche Internetseiten, auf die Tatgeneigte stoßen. Unter dem Deckmantel der Anonymität werden hier recht unverhohlen Geburtstage der Täter gefeiert, Amokgedanken insbesondere im Zusammenhang mit Schulen positiv dargestellt und die Täter als eine Art Held 14

Zimbardo in: Miller (Hrsg.), The SociaI Psychology ofGood and EviI, 2004, 21-50.

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verehrt. In den zugehörigen Foren werden absurde Vorstellungen zu geplanten Taten ausgetauscht und Rechtfertigungsstrategien eingeübt. Die kruden Gedanken früherer Täter werden hier als gerechtfertigte Gegengewalt diskutiert. Wie auch in Suizidforen die Wahl des besten Mittels wird hier über Vorgehensweisen und Waffen, Zugang zu Waffen und konkreten Suchen nach Mittätern debattiert. Für Tatgeneigte ist der Austausch ein Schritt in Richtung Tatausführung.

8. Hass und Gewalt in Computerspielen, Videos und Medien, Rolle des Internet Zu beobachten war eine fatale Dynamik: Verletztes Selbstwertgefühl, fehlende Akzeptanz, unterdrückte Wut und Hass und selektive Befassung mit Gewalt. Typisch war die intensive Beschäftigung mit gewalthaltigen Medien und Computerspielen. Dabei waren Ego-Shooter, Kriegsszenarien, ScienceFiction und Horror besonders beliebt. Alle spielten Spiele und sahen Filme, die erst ab 18 Jahren zugelassen waren, bereits im Alter von 13, 14 Jahren. Dies ist nicht nur für spätere Täter typisch. Unter Kindern und Jugendlichen gilt natürlich das Verbotene als besonders interessant. Hinzu kommt eine gravierende Unkenntnis der Erwachsenen von den Inhalten dieser Medien. Sie kennen zum Teil Bezeichnungen von Spielen, Titel von Filmen, haben aber keine Ahnung, was sich tatsächlich dahinter verbirgt und gehen von geringem Schädigungspotential aus. Bei den späteren Tätern griffen die Eltern kaum ein. Wenn sie den Medienkonsum als störend wahrnahmen, dann häufig im Alter von 16 bis 18 Jahren, wenn das stundenlange Gedröhne des Spiels aus dem Zimmer drang und die Reduktion des sozialen Umgangs, der sowieso schon spärlich war, auf ein absolutes Minimum sank. In diesen späten Phasen hatten die Eltern bereits jeden Zugang zu ihrem Sohn verloren und konnten das Spielen nicht unterbinden. Sie berichteten auch von besonders ruppigem und unfreundlichem Verhalten des kritisierten Sohnes. Gewalt in den Medien ruft nicht monokausal Gewalt hervor. Es handelt sich um einen Risikofaktor, der als Verstärker wirkt. Neben den nicht altersgerechten Inhalten haben diese Jungen kein adäquates Sozialleben und keine Bindungen an Gleichaltrige. Sie verbringen über Jahre viele Stunden täglich vor Fernseher, Video-IDVD-Rekorder und Computer. In ihrem Selbstwert schwache, sich von der Umwelt gedemütigt fühlende und nicht anerkannte Individuen mit Misserfolgs- und Frustrationserlebnissen (etwa schlechten Schulnoten, ständigen Versetzungsängsten, Versagensängsten in der Schule und fehlender Anerkennung bei Gleichaltrigen) sind die Risikogruppe, die eine Menge unterdrückter Wut ansammelt, aber nicht zeigt.

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Diese Personen greifen gezielt zu Gewaltfilmen, Ego-Shootem und Waffen bzw. echt aussehenden Softairwaffen, um ihr SelbstwertgefUhl zu stärken. Bei entsprechend intensiver Beschäftigung ist eine deutliche Einengung auf die Themen Gewalt und Tod festzustellen. In der Phantasie wird der schwache Junge ohne soziale Anerkennung zum starken männlichen Helden, vor dem andere Angst bekommen. I5 Die Identifikation, meistens auch nur mit einschlägigen Teilen von Filmen, einzelnen Spielen und dem Vorbild früherer Täter, ist die eigentliche Risikokonstellation, die zur Tat fUhrt.

9. Suizid und Fremdaggression Die Täter merken, dass etwas nicht stimmt Die meisten Täter töteten sich am Ende selbst oder planten dieses. Für die Risikobeurteilung ist dies relevant. Bei dem Verdacht, ein Täter plane eine Amoktat, muss von einer hohen Entschlossenheit und einer Zuspitzung des Denkens und HandeIns auf das Töten ausgegangen werden. Der zu allem entschlossene Täter, der aus seiner Sicht mit Beginn der Tatausfuhrung das Ende seines Lebens vor Augen hat, lässt sich in der Regel nicht aufhalten. Mitleid, Empathie, Erschrecken über das eigene Handeln sind nicht vorhanden. Verhandeln, wie etwa mit einem Forderungen stellenden Geiselnehmer, der Gewalt als Mittel zum Ziel einsetzt, gibt es nicht. Wie Selbstmordattentäter wollen Amokläufer nur noch eine möglichst grandiose Tat mit vielen Opfern produzieren, und dieses soll der Welt über die Medien bekannt gegeben werden. 16 Suizid wird typischerweise mit Depression, nicht aber mit Aggression gegen andere Menschen assoziiert. I7 Für die Erklärung von Amokläufen eignet sich am besten die Beschreibung der jungen Täter als narzisstisch gestört, mit einem starken GefUhl fur Kränkungen und Verletzungen, die sich objektiv betrachtet als relativ geringfUgige Verletzungen und Beeinträchtigungen darstellen, vom Täter aber als tief kränkend und demütigend empfunden werden. Narzissmus paart sich mit einem Perfektionismus und der Unfähigkeit, mit Versagen und Fehlern umzugehen. Aus dieser Kränkung entwickeln sich Wut und Hass. In den depressiven Phasen wird dem späteren Amokläufer wohl sein Unvermögen deutlich, sein Leben in den Griff zu

15 Lempp Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst, 2009, zur Bedeutung der Gewaltphantasien ängstlicher Individuen. 16 Vgl. zu Selbstmordattentätern Stern Terror in the Name ofGod, 2004. 17 Allgemein SchallerlSchmidtke in: Röhrle/Caspar/Schlottke (Hrsg.), Lehrbuch der klinisch-psychologischen Diagnostik, 2008, S. 495-512.

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bekommen. Die Entwicklung der malignen narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist eine offene Forschungsfrage. 18 Auffällig ist das Interesse der Täter für psychiatrische Literatur, weil sie etwas "Gestörtes", etwas "Anderes" an sich wahrnehmen. Nicht nur einer recherchierte im Internet, welches psychiatrische Störungsbild möglicherweise auf ihn zutreffen könnte. Sie erkannten an sich Zwangsstörungen, hielten sich für manisch-depressiv, nahmen ein Faltblatt der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit, ließen sich von der Mutter Termine bei einem Psychotherapeuten oder in der Psychiatrie vereinbaren. Im Internet wurden Suizidforen besucht und zuweilen auch gerade hier Andeutungen über einen Amoklauf oder entsprechende Sympathien geäußert. Zu bestimmten Zeitpunkten schienen die späteren Täter bereit, sich selbst in Behandlung zu begeben, zu anderen Zeitpunkten lehnten sie dies ab.

10. Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsstörungen / Psychopathologie Die Täter waren keine typischen Gewalttäter mit einem Syndrom sozialer Bindungslosigkeit, sondern schüchterne, stille Einzelgänger mit hoher Kränkbarkeit. Dies deutet nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf das Störungsbild der narzisstischen Persönlichkeitsstörung hin. Die geplante Tat ist in den der Tat unmittelbar vorausgehenden Ankündigungen dann "Massaker" und "Rache an allen, die mich ständig gedemütigt haben". Nur in einzelnen Episoden zeigten die Täter bereits eine gewisse Gewaltbereitschaft, Dominanz und Überheblichkeit, die im Zusammenhang mit dieser narzisstischen Problematik stehen dürfte. Zum Beispiel hielt sich ein späterer Täter am Abend im Dunkeln auf einem Spielplatz auf und erschreckte Liebespaare mit seinem Outfit im schwarzen Mantel und merkwürdigen Äußerungen. Ein anderer bedrohte Kinder mit einer Gaspistole. Einer bemühte sich um die Durchführung der Schulaufsicht und prompt kam es zu Beschwerden junger Schüler über unfreundliche Behandlung. Es fanden sich häufiger für andere unverständliche und unangenehme Verhaltensweisen wie überhebliche und abwertende Sprüche ohne jeden Grund und teilweise (ein so wahrgenommenes) überlegenes Grinsen in völlig unpassenden Situationen. Bei einigen wurden Tierquälereien, Verstümmelungen und Tötungen von Tieren bekannt, ein Anzeichen für deviante Entwicklungen und Gewaltphantasien.

18 Vgl. eine Fallschilderung bei Saimeh in: dies. (Hrsg.), Zukunftswerkstatt Maßregelvollzug. 23. Eickelborner Fachtagung, 2008, S. 299-313.

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Gewaltphantasien sexueller Art weisen auf Kontaktprobleme mit Mädchen, unerfullte sexuelle Wünsche und große Schüchternheit hin, über die sich die Jungen ungeheuer ärgern. Die sich entwickelnde sexuelle Devianz scheint fur den Entschluss zur TatausfUhrung eine Rolle zu spielen, einige meinten, das Leben habe keinen Sinn, wenn sie nie eine Frau fanden. Neben gewalttätigen Fesselungsbildern und ambivalenten Äußerungen über Mädchen in Tagebüchern fanden sich in einem Fall tagebuchartige Aufzeichnungen mit Zeichnungen gefesselter Mädchen, mit denen sich der Täter Sex vorstellte. Er hatte wegen seiner Schüchternheit, aber auch wegen bei sich selbst wahrgenommenen GefUhlsproblemen bei den wenigen zarten Annäherungen (Angst, Wut über sich selbst und Kälte - ein Kuss war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, löste in ihm keine GefUhle aus) große Probleme im Umgang mit Mädchen. Ein von ihm verehrtes Mädchen erfuhr dies nie. In den Aufzeichnungen über einen Zeitraum von etwa zweieinhalb Jahren waren zunächst "normale" pubertäre Wünsche und positive sexualisierte Bezeichnungen aufgeschrieben worden. Mit der Zeit kam es aber zu ambivalenten Schilderungen, massiven verbalen Abwertungen der Mädchen und zu Vergewaltigungs- und Fesselungsphantasien. Dann vertraute er seinem Tagebuch an, er habe schon seinen Rucksack mit Messer, Kabelbinder und Klebeband bestückt gehabt und sei am Gartentor des Mädchens gewesen. In letzter Minute habe er kehrt gemacht und seine Wünsche durch Masturbation befriedigt. Weiter waren Vergewaltigungsphantasien im Zusammenhang mit einem geplanten Überfall auf die Klasse aufgeschrieben worden. Die Fesselungsphantasien drückten die Objektwünsche aus. Das Mädchen sollte keine eigenständigen Vorstellungen haben, sondern ganz denen des Täters gehorchen. Schließlich fanden sich Zerstückelungsphantasien, bei denen das Mädchen gezwungen wurde, der Tötung zuzusehen und Teile der Leiche zu essen. Bei der Tat wurde eine weibliche Geisel gezwungen, die Tötung teilweise anzuschauen. Das Problem der sexuell devianten Phantasien besteht in der Verborgenheit. Regelmäßig werden diese Gedanken anderen nicht im Ansatz bekannt. "Eine Persönlichkeitsstörung liegt gemäß der psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-IO und DSM-IV vor, wenn Persönlichkeitszüge starr und wenig angepasst sind und zu persönlichem Leiden und/oder gestörter sozialer Funktionsfahigkeit fUhren. Die Persönlichkeitsstörung beginnt in der Kindheit und Jugend, zeigt eine hohe zeitliche Stabilität und ist situationsübergreifend. Sie manifestiert sich in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu anderen. Das Zustandsbild einer Persönlichkeitsstörung darf weder auf andere psychiatrische Störungen zurückzuführen noch Folge einer organischen Schädigung sein. Menschen, fUr die der Begriff "Persönlichkeitsstörung" zutrifft, sind im eigentlichen Sinne nicht psychiatrisch

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krank, vielmehr sind für sie Normvarianten einzelner Persönlichkeitsmerkmale in einem extremen Ausprägungsgrad kennzeichnend."19

11. Narzisstische Persönlichkeitsstörung Narzisstische Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich mit einer entsprechenden Disposition im Zusammenspiel mit der sozialen Umwelt. 20 Über die Entstehungsbedingungen ist noch zu wenig bekannt. Als ein Faktor bei der Entstehung dieses Störungsbildes gilt eine problematische Eltern-KindBeziehung, die einerseits idealisierend und verwöhnend ist, andererseits aber hohe Ansprüche stellt oder das Kind emotional vernachlässigt, wenn es den Verhaltenserwartungen nicht entspricht. Von den diagnostischen Kriterien nach DSM-IV müssen mindestens fünf Symptome zur DiagnosesteIlung vorliegen: 1. Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (übertreibt die eigenen Leistungen und Talente, erwartet, als überlegen anerkannt zu werden), 2. ist stark eingenommen von Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe, 3. glaubt von sich, besonders und einzigartig zu sein und nur von solchen anderen besonderen Personen verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu können, 4. verlangt nach übermäßiger Bewunderung, 5. legt ein besonderes Anspruchsdenken an den Tag, d.h. übertriebene Erwartungen an besonders bevorzugte Behandlung, automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen, 6. in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch, 7. Mangel an Empathie, erkennt Bedürfnisse und Gefühle anderer nicht an, 8. ist häufig neidisch oder glaubt, dass andere auf ihn neidisch seien, 9. zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen. In der ICD-1 0 wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung unter "sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen" mit ähnlichen Kriterien nach F. 60.8 klassifiziert. 21 Narzisstisch gestörte Personen haben ein erhöhtes Geltungsbedürfnis und erheben Anspruch auf bedingungslose Bestätigung, ohne imstande zu sein, dafür eine entsprechende Sonderleistung liefern zu können, schreibt Sai-

19 Herpert=/Herpert=-Dahlmann in: Retllschmidt (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine praktische Einführung, 5. Aufl. 2008, S. 287. 20 Fiedler Persönlichkeitsstörungen, 5. Aufl. 2001, S. 281 ff. 21 Einzelheiten: www.leitlinien.net.

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meh. 22 Dieses Muster fand sich bei den Tätern recht deutlich. Sie verachteten die Mitschüler, Lehrer, schließlich die Gesellschaft in arroganter, gänzlich überzogener Weise. Einige betonten ihre eigene Intelligenz, die es ermögliche, ohne Mühen die Versetzungen zu erreichen. Lehrer wurden zu Feindbildern, da sie nicht in der Lage seien, diese Intelligenz und Besonderheit des Schülers zu erkennen, sondern grundsätzlich bei schlechter Benotung blieben. Vor Gericht waren es die Richter und Gutachter, die es nicht wert seien, eine Aussage über die wahren Befindlichkeiten und Einzelheiten des Tatablaufs zu hören, weil für sie das Urteil und die Höhe der Strafe doch von vornherein festgestanden habe. "Was geht die das dann überhaupt an, wie ich denke?" Im Vollzug werden die Psychotherapeuten und Psychologen als die letzten betrachtet, denen eigene Gedanken offenbart würden. Sei seien ohnehin nicht in der Lage zu verstehen. Es ginge nur darum, schnell wieder entlassen zu werden, da reiche oberflächliche Anpassung aus. Die Lebensvorstellungen, soweit sie sich rekonstruieren lassen, gehen mit der Verweigerung des normalen Lebens einher, der Abwertung von Lebensentwürfen der Eltern und anderer "normaler" Menschen. Die Schule zu bewältigen, zu arbeiten und einen strukturierten Tagesablauf zu haben, dabei auch anerkennen zu müssen, dass andere Macht ausüben, ist geradezu unerträglich und wird abgelehnt. 23 Statt eines spießigen Lebens nach dem Motto "SAART" (Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod) wurde in kruder Weise auf völlige Freiheit ohne gesellschaftliche Zwänge gepocht. 24 Diese Freiheit ist allerdings vollkommen unrealistisch (was wohl auch in Ansätzen gesehen wird) und dabei werden Verletzung und Tötung anderer nicht nur hingenommen, sondern zum eigentlichen Zweck, es der verhassten Gesellschaft zu zeigen. Selbstbilder als "Natural Selector"25, Bewunderungen der menschenfeindlichen Aussagen der Columbine-Attentäter und Äußerungen wie die folgende zeigen die destruktive Variante dieses Störungsbildes sehr deutlich (wörtlich): " ... Und ferner projiziere ich meinen Hass auf die Regierung, und zu guter Letzt selbst auf die gesamte Menschheit. Konsumgeile Mitläufer, die sich durchs Leben kaufen und nur in der Menge stark fühlen .... ICH HASSE DIE MENSCHEN - DIE MENSCHEN SOLLEN STERBEN!"

Saimeh (Fn. 18), S. 309 Siehe ähnlich Saimeh, die diese Vorstellungen unter Berufung auf 1. Fest als Verweigerung eines "Lebens in geordneter Freiheit" beschreibt (Fn. 18), S. 309. 24 Diese Formel tauchte bei einem Täter in seinem Abschiedsvideo, das er selbst im Internet verbreitete, auf und wurde bei späteren Taten aufgegriffen. Es existieren Internetseiten mit befürwortender Bezugnahme auf entsprechende Tötungsdelikte. 25 Ministry of Justice, Finland, 2009, Jokela. 22

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Cannabiskonsum spielte in manchen Fällen eine Rolle, allerdings blieben die Zusammenhänge ungeklärt. Es ist bekannt, dass Cannabis insbesondere Psychosen auslösen, aber auch enthemmend bei der Tatausführung wirken kann. Andere Drogen und Alkohol waren bei der Tatausführung nicht von Bedeutung. Jüngst geschehene Fälle müssen zur Vorsicht mahnen. Es gab teilweise psychiatrische Begutachtungen. Die Diagnosen wiesen eher auf Ratlosigkeit. Eine sichere Einschätzung des Gefahrdungspotentials gelang trotz dramatischer Anzeichen nicht immer. In einigen Bedrohungsfallen ergab sich umgekehrt eine Beruhigung der Situation durch mehrmonatige psychiatrische Behandlungen, Begutachtungen im Rahmen von Strafverfahren und auch strafrechtlich veranlasste Unterbringungen gemäß § 63 StGB. Es muss in einigen Fällen auch nach Jahren der psychiatrischen Behandlung und zwischenzeitlicher Entlassung mit einer Tatausführung gerechnet werden.

12. Rache- und Hassphantasien und Tatplanung Meistens wurden die ausgeprägten Hassphantasien erst nach der Tat bekannt, wenn Aufzeichnungen der Täter im Zimmer gefunden werden. Im Falle der Drohungen sind aber gleichartige Schriftstücke gefunden worden. Angesichts des stillen und schüchternen Eindrucks, den die Jungen vermitteln, überraschen die Rache- und Hassphantasien in ihrer drastischen Form. Mehrfach wurden Aufsätze verfasst, deren Inhalt für Lehrer verstörend und unheimlich war. Darauf angesprochen, wurde geantwortet, es sei doch nur Phantasie, eine erfundene Geschichte. Regelmäßig lag eine lange zurückreichende Tatplanung vor, die Phasen durchlief. Aus Phantasien der Wut und Rache wurden Äußerungen, die Gedanken kreisten immer öfter um gewalthaltige Themen. Mit einer gezielten Suche nach Medien begann die virtuelle Beschäftigung mit Gewalt und Tod. Andere Themen verloren zunehmend an Bedeutung. In Tagebüchern und privaten Aufzeichnungen klangen diese destruktiven Phantasien schon sehr drastisch, die Beschäftigung mit Taten mündet in die eigene Tatplanung. Je näher die Verwirklichung rückte, umso mehr wurde die Umwelt getäuscht. Geplant wurde auch nicht selten die Verbreitung kruder Abschlussvideos und Briefe direkt vor der Ausführung der Tat (wörtlich): "Wenn du diesen Brief liest, habe ich mich wahrscheinlich schon erschossen. Doch sei sicher, vor mir sind Feinde gestorben! Der Suizid als ewiger Friede, die toten Menschen als Zeichen meiner unermesslichen Wut! ... Wo ich grad beim Thema bin, schalt den Fernseher an, kommt bestimmt was über meinen Krieg!" Im Nachhinein lassen sich Phasen erkennen, in denen sich die Tat anbahnte. Es ist aber von außen schwierig zu erkennen, in welcher Phase sich

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ein Täter befindet, der durch sonderbares Verhalten oder Andeutungen auffällt. Selbst Drohungen geben keine klare Orientierung, weil zunächst geklärt werden muss, ob diese Drohung einen realen Hintergrund hat. Die mögliche Gefährdung ergibt sich erst aus einer Zusammenschau vieler Faktoren, bei der über Probleme, Wut und Ärger beim Täter der Plan gereift ist, "Rache" zu üben, die Gewalt zu rechtfertigen, sich gedanklich intensiv mit diesem Vorhaben zu befassen, sich vorzubereiten und sich der Tatausführung zu nähern. Nicht immer dringen genügend Anzeichen nach außen und können zusammenfassend bewertet werden. Bei dem Versuch, sich ein Bild zu machen, wenn Verhalten oder Äußerungen Anlass zur Sorge geben, sollten deshalb so viele Bereiche wie möglich überprüft werden. Mit bloßen Äußerungen sollte man sich nicht zufrieden geben.

IV. Forschungsbedarf und präventive Ansätze Empirische Erkenntnisse über Amokläufe sind rar. Methodisch bleibt zur Ursachenerklärung nur die Einzelfallanalyse mit der Problematik eingeschränkter Verallgemeinerbarkeit. 26 Qualitative Methoden des Verstehens der destruktiven Dynamik der Tatplanung und Persönlichkeitsentwicklung sowie der interdisziplinäre Austausch über die Fallgestaltungen sind ein sinnvoller Weg, diese Taten einordnen und möglicherweise verhindern zu können. 27 Die bisherige Unklarheit bezüglich der psychischen Auffälligkeiten zeigt weiteren Forschungsbedarf an. Langman28 berichtet über verschiedene psychiatrische Störungsbilder: Psychopathy, psychotische (schizotype und schizophrene) und traumatisierte Täter. Er untersuchte potentielle Täter und es mag sein, dass in den zahlreicheren amerikanischen Fällen eine größere Vielfalt an Störungsbildern aufgetaucht ist. Bei den in Deutschland bisher bekannt gewordenen Taten trifft das so nicht zu (oder lässt sich nicht nachweisen). Es mag auch eine Frage sein, welche Fälle man einbezieht. Würde die Palette der deutschen jungen Tötungsdelinquenten komplett untersucht, würden also junge Männer einbezogen, die ihre Eltern, andere Erwachsene und in anderen Kontexten töten, erweiterte sich das psychiatrische Spektrum sofort. Unsere ersten Ergebnisse aus einem laufenden Projekt der Analyse von Amokdrohungen lässt ebenfalls ein breiteres Spektrum an psychischen Störungen, darunter Psychosen und multiple Störungsbilder wie dissoziale Entwicklungen mit Zwangsstörungen und Suchtproblemen Moore et al. (Fn. 7). (Fn. 5)~ Newman et al. (Fn. 4)~ Langman (Fn. 9)~ Dodson (Fn. 9)~ Robert=IWickenhäuser Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule, 2007. 28 S. Fn. 9. 26

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erkennen. Deshalb ist der Wissensstand in Bezug auf die Störungsbilder nach wie vor gering. Problematisch ist auch die Erkennbarkeit von sich entwickelnden Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zudem könnte eine Entwicklung eintreten, bei der eher dissoziale Jugendliche - angeregt durch die mediale Aufmerksamkeit - den Gedanken an einen Amoklauf aufnehmen. Die Forschung muss sich insbesondere auf die Beurteilung der Drohungen mit einem Amoklauf bzw. des bedrohlichen Verhaltens vor Attentaten richten, um ernsthafte Gefahren besser identifizieren zu können. Hierzu liegen bereits praktikable Kriterien vor, die aber immer die Schwierigkeit einer Einzelfallbeurteilung in sich tragen und deshalb Aufmerksamkeit für Verhaltensauffälligkeiten der sozial zurückgezogenen Kinder und Jugendlichen verlangen. 29 Eine "Checklist", die bei Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Indizien sicher die Vorhersage einer Tat ermöglicht, wird es nie geben. Seit dem Amoklauf in Winnenden vom 11. März 2009 ist die Zahl der Drohungen an Schulen in Deutschland rapide angestiegen, andere Länder dürften ebenso betroffen sein, wie auch ein aktueller Bericht aus der Schweiz nahe legt30 . Aufmerksamkeit ist auch den Folgen zu widmen: Weder können alle Gefahrenbeurteilungen allein der Polizei überlassen werden, noch sind die pädagogischen Konsequenzen klar. Eine zero-toleranceStrategie im Sinne von harscher Reaktion wie Schulverweisen nach jeder Art von Drohung (oder üblem Scherz) hat sich in den USA bereits als kontraproduktiv erwiesen und spiegelt nur den Wunsch nach einfachen Lösungen wider. Präventionskonzepte müssen entwickelt werden, können aber nicht nur auf das akute Bedrohungsmanagement31 beschränkt werden. Auch wenn nicht von Amokprävention gesprochen werden kann, wenn auf Verhaltensauffal1igkeiten von Kindern reagiert werden soll, so deutet sich be29 Fein/Vossekuil/Pollack/Borum/Mod=eleski/Reddy Bedrohungsanalyse an Schulen: Ein Handbuch zum Management von Bedrohungssituationen sowie zur Schaffung eines sicheren Schulklimas. United States Secret Service und United States Department of Education (Hrsg.) 2002~ Vossekuil/Fein/Reddy/Borum/Mod=eleski Abschlussbericht und Ergebnisse der Initiative für Sicherheit an Schulen (Safe School Initiative): Auswirkungen auf die Prävention von Gewalttaten an Schulen in den USA, 2002; Weisbrot 1. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry 47 (2008), 847-852 (wwwJAACP.com); Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Expertenkreis Amok: Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009. Gemeinsam handeln, Risiken erkennen und minimieren. Prävention, Intervention, Rehabilitation, Medienberichte, 2009. Internetquelle: www.schule-bw.de/unterricht/paedagogik/ge\valtpraeventi on/kbuerolamok/index_html. 30 NZZ Magazin 3/2010, 22-30. 31 Dazu auch ausführlich Bannenberg (Fn. 5), S. 163 ff.; Cornell Guidelines for Responding to Student Threats of Violence. Abstract Persistently Safe Schools 2005: The National Conference of the Hamilton Fish Institute on School and Community Violence, S. 15-27~ Cornell in: Gerler (Hrsg.), Handbook of School Violence, 2004, S. 115-135.

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reits an, dass Frühprävention bei aufmerksamkeitsgestörten und sozial zurückgezogenen Kindern und Jugendlichen positive Nebeneffekte haben könnte. 32 Das Ziel wird nicht primär darin liegen, künftige Amoktaten und Tötungsdelikte sowie Suizide zu verhindern, sondern eher darin, Kinder zu sozialen Kontakten und angemessener Kommunikation zu befähigen, UlTI eine ungestörte Entwicklung zu ermöglichen. Dem in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht problematischen Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen müssen Erziehungsanstrengungen entgegen gesetzt werden. 33 Eine vertrauensvolles Schulklima und eine Unterbindung jeder Art von Bullying,34 eine Schulung von Lehrern zur Amokproblematik und eine bessere Vernetzung zwischen Schulen, Schulpsychologen, Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendpsychiatrie scheinen sinnvoll. 35 Eltern sollten frühzeitig professionelle Unterstützung durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie suchen und Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder nicht verdrängen. Speziell im Feld der Kinder- und Jugendpsychiatrie verspricht der interdisziplinäre Austausch über diese gefährlichen Persönlichkeitsentwicklungen guten Erfolg insbesondere bei Gefährlichkeitsbegutachtungen und Forensik.

SchlottkelStrehllLauth in: Schneider/Margraf (Fn. 11), S. 411-428. KoglinlWitthöftlPetermann Psychologische Rundschau 60 (2009), 163-172~ FrölichlLehmkuhllDöpjner Zeitschrift für Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 37 (2009), 393404; Messner in: Schneider/Margraf (Fn. 11), S. 95-110; GrossmanlDeGaetano Stop Teaching 32 33

our Kids to Kill. A Call to Action against TV, Movie & Video Game Violence, 1999. 34 Spröber u.a. ~ BannenberglRössner~ Olweus (alle Fn. 12)~ EisnerlRibeaud/Locher Prävention von Jugendgewalt. Expertenbericht zuhanden des Bundesamtes für Sozialversicherung, 2008; GottfredsonlWilsonlNajaka in: Sherman/Farrington/WelshlLayton McKenzie (Hrsg.), Evidence-Based Crime Prevention, 2002, S. 56-164. 35 Umfassend Expertenkommission Amok Baden-Württemberg (Fn. 20).

Gewalt durch Jungen und Mädchen CHRISTIAN PFEIFFER / DIRK BAIER

I. Ausgangsüberlegungen Der Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass jugendliche Mädchen deutlich seltener zu körperlicher Gewalt greifen als Jungen. So wurden im Jahr 2008 in Deutschland 7.328 Mädchen als Tatverdächtige der Gewaltkriminalität registriert gegenüber 36.246 Jungen. Pressemeldungen erwecken allerdings den Eindruck, als ob die Gewalt unter Mädchen deutlich zugenommen hat und dass es zu einer Angleichung männlicher und weiblicher Verhaltensmuster gekommen ist. "Mädchen schlagen zu" titelte der Tagesspiegel am 7.2.2007. "Schülerinnen verabreden Schlägerei" war im Hamburger Abendblatt vom 29.1.2009 zu lesen. Die Autoren dieser und anderer Artikel waren sich in einem Punkt einig: Die Mädchengewalt wird offenbar immer bedrohlicher. Wissenschaftliche Studien vermitteln zu dieser Frage allerdings kein einheitliches Bild. So konstatieren Bruns und Wittmann 1, dass es zwar einen Anstieg weiblicher Gewaltdelinquenz gibt; ob dies aber auch zu einer Verringerung der Geschlechtsunterschiede im Gewaltverhalten führt, sei fraglich: "Neben Hinweisen auf stabile oder sinkende Tendenzen gibt es auch Anzeichen für zunehmende Unterschiede" (S. 51). Für die USA berichten Steffensmeier et al. 2 anhand von Hell- und Dunkelfelddaten, dass es weder einen Anstieg der Mädchengewalt gegeben hat, noch dass es zu einer Annäherung zwischen Jungen und Mädchen im Gewaltverhalten gekommen ist. Stattdessen konstatieren sie, dass Mädchengewalt häufiger durch Polizei und Gerichte kriminalisiert wird und dass insgesamt die Toleranz gegenüber der Mädchengewalt gesunken ist. Diese Entwicklungen haben zur Folge, dass mehr Mädchengewalt ins polizeiliche Hellfeld gelangt und dass sich damit der Geschlechterunterschied nur in den Hellfeldstatistiken verringert. Wir möchten nachfolgend überprüfen, welche Entwicklung sich für Deutschland zeigt, wenn entsprechende Analysen durchgeführt werden. 1 BruhnslWittmann in: Raithel/Mansel (Hrsg.), Kriminalität und Gewalt im Jugendalter, 2003, S. 41-63. 2 StejfensmeierlSchwart=IZhonglAckerman Criminology 43 (2005), 355-406.

70

Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Zunächst soll deshalb untersucht werden, was sich zur Gewaltkriminalität von Jungen und Mädchen ergibt, wenn man Hellfelddaten (Kriminalstatistik, Strafverfolgungsstatistik) zugrunde legt. In einem zweiten Schritt ziehen wir dann Dunkelfelddaten aus verschiedenen Schülerbefragungen heran, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) seit dem Jahr 1998 durchgeruhrt hat.

11. Entwicklung der Jungen- und Mädchengewalt im polizeilichen Hellfeld Ausgangspunkt der Hellfeldanalyse ist das Jahr 2008. In der nachfolgenden Abbildung 1 wird auf der linken Seite im Hinblick auf verschiedene Gewaltdelikte einschließlich der einfachen Körperverletzung dargestellt, in welchem Ausmaß die Tatverdächtigenbelastungszahl (Tatverdächtige pro 100.000 der Altersgruppe, TVBZ) der Jungen die der Mädchen übersteigt. Abbildung 1: Verhältnis Tatverdächtigenbelastungszahl Jungen zu Tatverdächtigenbelastungszahl Mädchen für ausgewählte Delikte in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2008

12,0 10,0

9,6

9,4

8,0 6,0

4,0 2,0

0,0

Gewaltdelikte

Eigentumsdelikte

Auf der rechten Seite der Abbildung 1 ist dieselbe Information rur Eigentumsdelikte aufgeführt. Bei beiden Delikttypen ergibt sich eine zentrale Folgerung: Je schwerer eine Straftat ist, umso deutlicher dominieren die Jungen die Tatverdächtigenbelastungszahlen. Bei Mord übersteigt die TVBZ der Jungen die der Mädchen um das 9,4fache, zum Raub zeigt sich

71

Gewalt durch Jungen und Mädchen

eine 8,2fache Dominanz. Beim Totschlag liegt die TVBZ der Jungen um das 7,1 fache über der TVBZ der Mädchen. Bei der gefährlichen/schweren und bei der einfachen Körperverletzung reduziert sie sich die Jungendominanz auf das 4,3- bzw. 3,1 fache. Im Hinblick auf die Eigentumsdelikte fällt die Diskrepanz zwischen schweren und leichten Delikten noch stärker aus. Einer im Vergleich zu den Mädchen 9,6-fachen TVBZ der Jungen beim schweren Diebstahl steht beim Ladendiebstahl ein Gleichstand der Geschlechter gegenüber. Zu ausgewählten Delikten soll anhand der Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik ferner in der nachfolgenden Tabelle 1 eine Längsschnittanalyse präsentiert werden, bei der wir uns aus Platzgründen auf die Jahre 1993, 2000 und 2008 beschränken. Tabelle 1: Tatverdächtige und Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) für ausgewählte Delikte nach Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland 1993, 2000 und 2008

1993 2000 2008 1993 2000 2008 1993 2000 ............................. . 2008 1993 .............................. 2000 2008 1993 2000 2008 ..................•

•••

• ••••

75 84 69 18105 33359 36246 12470 22747 28296 37550 32278 25758 47476 46691 30913 u

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ,

."



...................... u.~...

adendiebstahl



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4,4 4,5 3,8 1061,9 1780,9 2013,7

·• •••••• •

·

...............................................................................u

schwerer Diebstahl

8 10 7 2429 5191 7328 2310 5230 8557 2415 2948 2554 24662 37008 29553 u •••••• ••••••

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0,5 0,6 0,4 151,2 292,7 428,5

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4,1 1214,4 294,9 . 1572,0 500,4 3,1 2202,3 150,3 14,7 . 1723,2 166,2 10,4 1431,0 149,4 9,6 2784,5 1534,9 1,8".. ..............................,. ·..n.·· . 2492,6 2086,5 1,2 .................................................................................................................., 1717,4 1728,2 1,0 ~



" ••• u

u

.,•••••••••••••

~

Auch im Hinblick auf die Längsschnittdaten zeichnet sich ein klarer Befund ab. Beim schwersten Delikt, dem Mord, ist die Dominanz der Jungen gegenüber den Mädchen im Vergleich von 1993 und 2008 geringfügig angestiegen (von einer 8,8fachen auf eine 9,4fache TVBZ). Bei der insgesamt registrierten Gewaltkriminalität ist sie im Verlauf der 15 Jahre um etwa ein Drittel gesunken (von einer 7,Ofachen auf eine 4,7fache TVBZ). Ein entsprechendes Bild zeigt sich zum schweren Diebstahl. Die 14,7fache

72

Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Dominanz der Jungen aus dem Jahr 1993 reduziert sich auf das 9,6fache im Jahr 2008. Bei der einfachen Körperverletzung ist der Annäherungsprozess der Geschlechter noch ausgeprägter (vorn 5,1 fachen auf das 3, 1fache). Zum Ladendiebstahl zeigt sich schließlich der relativ betrachtet stärkste Angleichungsprozess der Mädchendelinquenz zu der der Jungen. Der 1,8fachen TVBZ des Jahres 1993 steht 2008 gegenüber, dass die Mädchen erstmals geringfügig dominieren (TVBZ: 1728,2 zu 1717,4).3 Ingesamt betrachtet zeigt sich damit, dass es im Verlauf der letzten 15 Jahre bei der registrierten Jugendgewalt durchaus einen Annäherungsprozess der Tatverdächtigenbelastungsziffem gegeben hat. Entsprechendes wird auch zu den Diebstahlsdelikten erkennbar. Diese Angleichung fällt allerdings bei den leichten Delikten jeweils erheblich stärker aus als bei den schweren Delikten und ist beim Mord im Vergleich von 1993 zu 2008 nicht eingetreten. Zur insgesamt registrierten Gewaltdelinquenz von Jungen und Mädchen soll diese Längsschnittentwicklung in der nachfolgenden Abbildung 2 für den gesamten Zeitraum von 1993 bis 2008 dargestellt werden. Die Verlaufsformen für die beiden Geschlechter demonstrieren, dass es sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen zu einem deutlichen Anstieg der TVBZ gekommen ist. Er fällt bei den Mädchen mit einer Zunahme um das 2,8fache allerdings höher aus als bei den Jungen (Zunahme um das 1,9fache). Auf der anderen Seite zeigt sich, dass im Verhältnis von Jungen und Mädchen der Abstand der Gewaltbelastung im Laufe der 15 Jahre größer geworden ist: 1993 überstieg die TVBZ der Jungen die der Mädchen um 911, im Jahr 2008 dagegen um 1585. Der in der Abbildung relativ starke Anstieg der polizeilich registrierten Mädchengewalt beruht also auch auf dem sehr niedrigen Ausgangsniveau, das sich für die weiblichen Jugendlichen im Jahr 1993 ergeben hat.

3 Besondere Beachtung verdient bei dieser Längsschnittbetrachtung, dass sich im Hinblick auf den schweren Diebstahl und den Ladendiebstahl unterschiedliche Längsschnitttrends zu Jungen und Mädchen ergeben. Während sich zu den Jungen im Verlauf der 15 Jahre ein klares Sinken der polizeilich registrierten Diebstahlskriminalität abzeichnet (schwerer Diebstahl minus 35 %, Ladendiebstahl minus 38,3 0/0) bleibt die TVBZ der Mädchen beim schweren Diebstahl im Vergleich von 1993 und 2008 auf demselben Niveau und erreicht beim Ladendiebstahl sogar ein leichtes Plus von 12,6 0/0.

Gewalt durch Jungen und Mädchen

73

Abbildung 2: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Gewaltkriminalität nach Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland seit 1993

Die bisherige Analyse der Hellfelddaten stützt die Annahme, dass die Gewaltdelinquenz von Jungen insgesamt betrachtet eine größere Tatschwere aufweist als die der Mädchen. Davon ausgehend leitet sich die Annahme ab, dass sich zu männlichen Tatverdächtigen der Gewaltdelikte eine höhere Anklage- und Verurteiltenquote ergeben müsste als zu weiblichen. Wir haben daher zusätzlich eine Auswertung der Strafverfolgungsstatistik durchgeführt. In Abbildung 3 ist dargestellt, wie die Verurteiltenzahl der Jungen die der Mädchen im Bereich der Raubtaten bzw. Erpressungen sowie der gefahrlichen Körperverletzungen in den Jahren 2000 bis 2008 übersteigt. Die Verurteiltenzahl gibt an, wie viel Personen pro 100.000 der AItersgruppe wegen eines bestimmten Delikts verurteilt worden sind. In Abbildung 3 ist erstens erkennbar, dass im Vergleich zum Verhältnis der Tatverdächtigenbelastungszahlen die Verhältnisse bei den Verurteiltenzahlen noch einmal stärker zuungunsten der Jungen ausfallen: Überstieg die TVBZ der Jungen bei der gefahrlichen/schweren Körperverletzung im Jahr 2008 die der Mädchen um das 4,3 fache, findet sich bei der Verurteiltenzahl, dass die der Jungen die der Mädchen um das 5,8fache übersteigt; gleiches gilt für den Raub/die Erpressung. 4 Zweitens sind auch in der Strafverfol4 Zu beachten ist, dass die Kategorien der Kriminalstatistik und die Kategorien der Strafverfolgungsstatistik nicht deckungsgleich sind. Der PKS-Schlüssel für die gefährlichen/schweren Körperverletzung ist 222000 und für Raub 21 OOOO~ aus der Strafverfolgungsstatistik wurden die nach § 224 Abs. 1 (gefährliche Körperverletzung) und nach § 249-256 sowie § 316a (Raub/Erpressung) verurteilten Jugendlichen für die Auswertungen herangezogen.

74

Christian Pfeiffer I Dirk Baier

gungsstatistik bei schweren Taten (Raub/Erpressung) Jungen noch stärker überrepräsentiert als bei weniger schweren Taten (gefährliche Körperverletzung). Drittens nähern sich die Mädchen über die Jahre hinweg weniger den Jungen an, als es bei den Auswertungen der Kriminalstatistik der Fall ist. Bei gefährlichen Körperverletzungen ist das Verhältnis von verurteilten Jungen zu verurteilten Mädchen vom 7,2fachen auf das 5,8fache gesunken; allerdings hat sich die Veränderung im Wesentlichen bis 2003 zugetragen, danach ist das Verhältnis weitestgehend konstant. Bei Raublbei der Erpressung findet sich ebenfalls eine Annäherung zwischen 2002 und 2006, danach gehen die Zahlen aber wieder auseinander, d.h. Jungen werden im Vergleich zu Mädchen noch einmal häufiger verurteilt als die Jahre davor. Ein möglicher Schluss aus diesen Auswertungen ist, dass die Justiz eine korrektive Funktion übernimmt: Es werden zwar mehr Mädchen als früher polizeilich wegen eines Gewaltdelikts registriert. Dabei handelt es sich aber um weniger schwere Taten, die nicht notwendigerweise auch zu einer entsprechenden Verurteilung führen. Abbildung 3: Entwicklung des Verhältnisses der Verurteiltenzahl Jungen zur Verurteiltenzahl Mädchen für ausgewählte Delikte seit 2000 (bis einschließlich 2006: altes Bundesgebiet inkl. Berlin; seit 2007: gesamte Bundesrepublik Deutschland, gekennzeichnet durch *)

14,0 12,1

12,0

12,0

10,0

8,0

7,2

6,0

4,0

2,0 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007*

2008*

Die Strafverfolgungsstatistik ermöglicht darüber hinaus einen Vergleich dazu, zu welchem Anteil es sich bei den wegen dieser Gewaltdelikte angeklagten 14- bis unter 18-Jährigen um Personen handelt, die bereits frühere Verurteilungen aufweisen. Bei den Jungen liegt diese Quote jeweils deutlich

Gewalt durch Jungen und Mädchen

75

höher als bei den Mädchen: Bei Raubdelikten hatten 35,2 % der Jungen, aber nur 22,3 % der Mädchen bereits eine Verurteilung erlebt, bei den gefährlichen Körperverletzungen betragen die Quoten 24,2 und 13,4 %.5 Die Jungen dominieren bei der Gruppe derjenigen, die drei und mehr frühere Verurteilungen aufweisen, die also in kriminelle Karrieren hineingewachsen sind (Raubdelikte 9,7 zu 5,3 %, gefährliche Körperverletzungen 5,3 zu 2,0 %). Bei den Mädchen wirkt sich offenkundig die Erfahrung, wegen einer Gewalttat angeklagt und verurteilt zu werden, stärker als bei den Jungen als eine Art "Stopp-Signal" aus. Es mangelt allerdings an wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, worin ihre geringere Rückfalltendenz begründet ist. Die Auswertungen der Hellfelddaten belegen zusammengefasst erstens, dass es in den letzten Jahren zu einer Angleichung der Belastungszahlen von Jungen und Mädchen in verschiedenen Deliktsbereichen, d.h. auch im Bereich der Gewaltdelikte, gekommen ist. Bei schweren Straftaten, insbesondere beim Mord ist eine solche Entwicklung allerdings nicht sichtbar; zudem hat die Entwicklung auch nur in einem Deliktsbereich, dem Ladendiebstahl, dazu geführt, dass Jungen und Mädchen mittlerweile gleich häufig als Täter polizeilich registriert werden. Bei den anderen betrachteten Straftaten dominieren weiterhin, z. T. sehr deutlich, die männlichen Täter. Zweitens wird die Angleichung der Tatverdächtigenbelastungszahlen nicht im selben Ausmaß in den Verurteiltenzahlen sichtbar. Eine mögliche Erklärung für die Diskrepanz könnte sein, dass heute häufiger minderschwere Mädchengewalt zur Anzeige gelangt, die keine Verurteilung zur Folge hat.

111. Befunde zur Entwicklung des Dunkelfelds der Jungen- und Mädchengewalt aus repräsentativen Schülerbefragungen Im Jahr 1998 wurden durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen erstmalig in verschiedenen Städten repräsentative Befragungen von Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe durchgefuhrt. 6 In den Jahren 2005 bis 2008 erfolgten in einigen Städten Wiederholungsbefragungen, die es ermöglichen, Erkenntnisse zur Entwicklung der Jugendgewalt im Dunkelfeld zu erarbeiten. 7 Teilweise konnten die Befragungen

5 Diese Auswertungen erfolgten anhand der Einzeldatensätze der Strafverfolgungsstatistik der alten Bundesländer (inkl. Berlin) für die Jahre 2004 bis 2006. 6 Vgl. Wetzels/Enzmann/Mecklenburg/Pjeifjer Jugend und Gewalt. Eine repräsentative Dunkeifeldanalyse in München und acht anderen deutschen Städten, 2001. 7 Vgl. Baier Entwicklung der Jugenddelinquenz und ausgewählter Bedingungsfaktoren seit 1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch GmÜnd. KFN-For-

76

Christian Pfeiffer / Dirk Baier

allerdings nur anhand reduzierter Stichproben bzw. mittels veränderter Messinstrumente realisiert werden, weshalb darauf aufbauende Analysen mit Unsicherheiten behaftet sind. Bei den nachfolgenden Auswertungen konzentrieren wir uns deshalb auf vier Städte, für die diese Einschränkungen nicht gelten. Hierbei handelt es sich um Hannover (Wiederholungsbefragung 2006), München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd (Wiederholungsbefragung jeweils 2005). Für diese vier Städte kann festgestellt werden, dass der Anteil an Gewalttätern über die Jahre hinweg zurückgegangen ist (Abbildung 4). Während im Jahr 1998 noch 20,1 % der Befragten angaben, mindestens eine Gewalttat 8 begangen zu haben, waren es sieben bzw. acht Jahre später nur noch 17,2 %. In den einzelnen Städten fällt der Rückgang der Gewalttäterrate dabei durchaus unterschiedlich stark aus, einen signifikanten Anstieg hat es aber in keiner Stadt gegeben. Abbildung 4: Anteil befragter Jugendlicher, die Gewalttat begangen haben, nach Geschlecht im Zeitvergleich (in %; gewichtete Daten; Befragung München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd)

40,0

3,6



2,8

2,8

• • • • 2,8

2,7

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.. .. 3,3

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C'l

30,0

20,0

10,0

0,0

Raub , _ _ Gesarnt

Körperverletzung

',::,,::1

Jungen ~f4_i-_._J,jI_M_ä_dc_he_n

mind. eine Gewaltat

mind. funf Gewalttaten

. _._ _ Ve_rh_äl_tn_is_Ju_ng~enl_M __ äd_ch_en---,1

Über alle Städte hinweg ergibt sich auch fur einzelne Gewaltformen ein Rückgang: Der Anteil an Raubtätern ist ebenso gesunken wir der Anteil an Schülern, die Körperverletzungen begangen haben. Mehrfachgewalttäter, schungsbericht Nr. 104, 2008; BaierlPfeifferlSimonsonlRabold Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. KFN-Forschungsbericht Nr. 107,2009. 8 Als Gewalttaten wurden der Raub, die Körperverletzung, die Erpressung und die Bedrohung mit Waffen erfragt.

Gewalt durch Jungen und Mädchen

77

d.h. Schüler, die fünf und mehr Gewalttaten begangen haben, gibt es heute ebenfalls weniger als noch 1998 (5,9 zu 4,5 %). Damit widersprechen die Befunde der Dunkelfeldforschung zum einen den Entwicklungen, die auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistiken berichtet wurden, die zumindest im Bereich der Körperverletzungen einen deutlichen Anstieg der Gewaltbereitschaft ausweisen. Zum anderen zeigt Abbildung 4 auch im Hinblick auf die Gewaltraten von Jungen und Mädchen einen anderen Trend als er sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt: Im Dunkelfeld ist eine Angleichung der Gewaltbereitschaft der Geschlechter nicht feststellbar. Das "Gender Gap" ist 2005/06 etwa genauso groß wie 1998. Im Bereich der Raubtaten und der Mehrfachtäter nimmt der Geschlechterunterschied sogar weiter zu, d.h. der Rückgang der Gewaltbereitschaft fällt bei den Mädchen noch stärker aus als bei den Jungen. Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten Jugendgewalt finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren und im Sinken gewaltfördernder Lebensbedingungen der Jugendlichen. Für drei Faktoren ergeben sich nachweislich positive Trends - für Jungen ebenso wie für Mädchen: 9 Erstens ist der Anteil an Jugendlichen gesunken, die Gewaltopfererfahrungen machen mussten; der Kreislauf der Gewalt wird also häufiger durchbrochen. Parallel dazu steigt zweitens der Anteil an Jugendlichen, die innerhalb der letzten zwölf Monate in der Familie völlig gewaltfrei erzogen worden sind, d.h. die auch keine leichte Gewalt in Form von bspw. Ohrfeigen oder Stößen erleben mussten. Drittens geht der Anteil an Schülern zurück, die eine Hauptschule besuchen und damit eine Schulform, die sich aufgrund der dort hohen Konzentration von familiär und sozial stark belasteten Jugendlichen bei multivariaten Analysen zur Erklärung von Mehrfachgewalttäterschaft als Risikofaktor erwiesen hat. 10 Eine Erklärung dafür, warum sich Hellfeld- und Dunkelfeldstatistiken in unterschiedlicher Weise entwickeln, kann gefunden werden, wenn wir die Veränderungen in der Anzeigequote betrachten. In Abbildung 5 ist am Beispiel der Anzeigequote bei Körperverletzungen aufgeführt, wie sich diese über die Jahre hinweg verändert hat. ll Demnach wurden im Jahr 1998 nur 16,1 % der Körperverletzungen zur Anzeige gebracht, 2005/2006 hingegen bereits 20,2 %, also ein Viertel mehr. Aus einem gleichbleibenden bzw. rückläufigen Dunkelfeld gelangen also überproportional mehr Taten zur Anzeige; im Hellfeld nimmt in der Konsequenz die Jugendkriminalität zu. Dabei sind männliche wie weibliche Opfer heute häufiger bereit, die erlebte Körperverletzung zur Anzeige zu bringen. Bei weiblichen Opfern steigt die 9

Vgl. für eine ausführlichere Darstellung BaierlPfeifferlRabold Kriminalistik 2009, 323-

333. Vgl. BaierlPfeiffer Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, 17-26. Grundlage der Berechnung der Anzeigequote sind die Angaben der Opfer von Körperverletzungen mit und ohne Waffen zur zuletzt erlebten Tat. 10

11

78

Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Anzeigquote von 17,9 auf 21,8 %, bei männlichen Opfern von 15,3 auf 19,3 %. Abbildung 5: Anzeigequote für Körperverletzungen nach Geschlecht des Opfers und Geschlecht des Täters im Zeitvergleich (in %; gewichtete Daten; Befragung München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd; n.a. = nicht abgebildet, da N < 20)

30,0 25,0 20,0 ]5,0 10,0

5,0 0,0

1998

2005/06

Anzeige:

Betrachten wir die Entwicklung der Anzeigequote getrennt nach dem Geschlecht des Angreifers, so erhalten wir zusätzlich eine Begründung dafür, dass trotz weitgehender Konstanz des Geschlechterverhältnisses im Dunkelfeld, im Hellfeld eine Annäherung der Geschlechter zu beobachten ist: Das Risiko, nach einer Tat bei der Polizei angezeigt zu werden, ist für weibliche Täter weit stärker angestiegen als fur männliche Täter. Vor allem dann, wenn weibliche Opfer von weiblichen Tätern angegriffen werden, ist die Anzeigebereitschaft mittlerweile besonders hoch. Dies spricht dafür, dass sich die Sensibilität gegenüber der Mädchengewalt überproportional erhöht hat, die Toleranz gegenüber der Mädchengewalt ist gesunken. Die Dunkelfelddaten relativieren damit den in der Polizeilichen Kriminalstatistik aufscheinenden Trend der Angleichung des Gewaltverhaltens von Jungen und Mädchen. Gewaltbereite Mädchen werden nicht häufiger, sondern sichtbarer. Es bleibt abzuwarten, ob sich möglicherweise in den nächsten Jahren das "Gender Gap" im Hellfeld wieder vergrößern wird. Wie Abbildung 5 zeigt, haben männliche Gewalttäter zumindest in den vier untersuchten Städten ein deutlich geringeres Risiko, angezeigt zu werden. Auch in unserer deutschlandweiten Schülerbefragung 2007/2008 konnten wir zumindest bei leichten Körperverletzungen zeigen, dass weibliche Täter

Gewalt durch Jungen und Mädchen

79

häufiger als männliche Täter angezeigt werden. 12 Wenn nun eine Entwicklung einsetzt, die männliche Gewalttäter vergleichbar häufig wie weibliche Gewalttäter ins Hellfeld bringt, dann würde dies zur Folge haben, dass die Belastungszahlen der Jungen und der Mädchen nicht weiter konvergieren, sondern auseinander gehen.

IV. Schluss Mittels der vorgestellten Auswertungen sollte der Frage nachgegangen werden, ob sich die Gewaltbereitschaft jugendlicher Mädchen anders bzw. in stärkerem Maße verändert hat als die jugendlicher Jungen. Unseres Erachtens gibt es hierrur keine belastbaren empirischen Belege. Stattdessen ist, wie dies Steffensmeier et al. rur die USA konstatieren, auch in Deutschland davon auszugehen, dass Mädchen nicht reihenweise gewalttätiger werden, sondern dass sie etwas seltener als früher als Gewalttäter in Erscheinung treten. Dieser Rückgang wird aber überkompensiert durch einen deutlichen Anstieg des Registrierungsrisikos weiblicher Gewalttäter. Freilich ist damit nicht ausgeschlossen, dass es Städte in Deutschland gibt, in denen ein realer Anstieg der Gewaltbereitschaft von Mädchen existiert. Die vorhandenen Schülerbefragungsdaten decken nur vier Städte ab; eine deutschlandweite Repräsentativbefragung rur Jugendliche wurde erstmals 2007/2008 durchgeruhrt, eine Wiederholung steht bislang noch aus. Zudem gelten für die vorhandenen Befragungsdaten die bekannten Einschränkungen: Über Heranwachsende, ebenfalls eine Personengruppe mit überdurchschnittlicher Gewaltbereitschaft, lassen sich bislang keine Aussagen treffen ebenso wenig wie für hochbelastete Personengruppen, die über Schülerbefragungen nicht erreicht werden können (z.B. Schulabbrecher, Intensivschwänzer). Die vorliegende, deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung 2007/2008 haben wir aber bereits dazu genutzt, die Frage zu untersuchen, ob es rür Mädchen und Jungen verschiedene Ursachenfaktoren des Gewaltverhaltens gibt. 13 Zu dieser Frage liegen weit mehr Studien vor als zur Frage der Entwicklung der Gewaltbereitschaft. Der Großteil der Studien kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die gleichen Erklärungsfaktoren rür Jungen wie Mädchen gelten. 14 Dieses Ergebnis konnten wir mit unserer Stichprobe bestätigen, wobei wir 14 Faktoren in die Analyse einbezogen haben. Der Kontakt mit gewalttätigen Freunden, eigene Gewaltopfererfahrungen, geVgl. Baier u. a. (Fn. 7), S. 46 f. Baier u. a. (Fn. 9), 328 ff. 14 Vgl. u.a. Johansson/Kempf-Leonard Crime and Delinquency 55 (2009),216-240; JungerTas/Ribeaud/CruyffEuropean Journal of Criminology 3 (2004), 333-375. 12

13

80

Christian Pfeiffer I Dirk Baier

ringe Selbstkontrollfähigkeiten und bestimmte Verhaltensauffälligkeiten wie das Schulschwänzen oder ein häufiger Alkoholkonsum erweisen sich bei Jungen wie bei Mädchen als wichtige Prädiktoren der Gewalttäterschaft. Generell gilt also: Wenn ein Faktor geeignet ist, bei Jungen die Gewaltentstehung vorherzusagen, dann wirkt er bei Mädchen in die gleiche Richtung. Gegenläufige Effekte derart, dass ein Faktor bei Mädchen das Risiko der Gewalttäterschaft erhöht, bei Jungen hingegen senkt (oder vice versa), sind nicht zu beobachten. Insofern sind die Wege in die Gewalt bei beiden Geschlechtern sehr ähnlich. Zwei Befunde dieser Analyse verdienen aber besondere Beachtung: Erstens hat sich gezeigt, dass einige Faktoren für die Gewaltbereitschaft von Mädchen wichtiger sind als für die Gewaltbereitschaft von Jungen. So steigern der Kontakt mit Gewaltmedien, das Erleben elterlicher Gewalt, die geringe Selbstkontrolle und der Besuch einer Hauptschule das Gewaltrisiko bei Mädchen in stärkerem Maße als bei Jungen; bei Jungen hingegen wirkt sich das Schulschwänzen stärker auf das Gewaltverhalten aus. Hieraus kann abgeleitet werden, dass Präventionsmaßnahmen zumindest teilweise geschlechtsspezifisch auszugestalten sind. Ein zweiter Befund ist, dass trotz Berücksichtigung von 14 Erklärungsfaktoren Jungen noch immer ein doppelt so hohes Gewaltrisiko aufweisen als Mädchen; d.h. die häufigere Bekanntschaft mit delinquenten Freunden, der häufigere Alkoholkonsum usw. der Jungen erklärt ihre häufigere Gewaltanwendung nicht vollständig. Insofern erscheinen weitere Studien notwendig, die die Ursachen der Gewaltbereitschaft von Jungen und Mädchen ebenso untersuchen wie die Entwicklung der Gewaltbereitschaft der beiden Geschlechter über die Zeit hinweg.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule Ergebnisse einer Replikationsstudie FRANZ STRENG

I. Einleitung Parallel zu einer zunehmenden Besorgnis über Jugendkriminalität hat auch die Beschäftigung mit Gewalt in der Schule an Interesse gewonnen. Dies zunächst schon deshalb, weil aggressives Schulverhalten auch als Prädiktor für weitere Kriminalität gelten kann. 1 Eine stärkere Konzentration auf das Phänomen der Schulgewalt als solche und auf den pädagogischen Umgang damit ist vor allem mit dem Namen Dan Olweus und der Begriffsbildung des "Bullying" verbunden. 2 Freilich soll im vorliegenden Beitrag nicht versucht werden, diese Entwicklung und die entsprechenden Studien akribisch nachzuzeichnen. Das Anliegen ist ein bescheideneres. Ausgehend von einer im Jahre 1995 durchgeführten Befragung an Schulen einer bayerischen Mittelstadt soll anhand der Daten einer 2008 durchgeführten Replikationsstudie untersucht werden, inwieweit sich in den einbezogenen Schulen Änderungen der Aggressionsbelastung ergeben haben. Dabei geht es nicht nur um zahlenmäßige Veränderungen, sondern auch darum, inwieweit sich in den Bedingungsfaktoren von aggressivem Schülerverhalten Veränderungen nachweisen lassen. Nachgegangen werden soll auch der Frage nach der Bedeutung des Merkmals "Migranten(kind)" für die fraglichen schulischen 1 Dazu Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983, S. 63 ff; Schöch Stichwort "Schule" in: Kaiser/KernerlSacklSchellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 457 ff; Farrington in: Hawkins (Hrsg.), Delinquency and Crime - Current Theories, 1996, S. 68,98 ff; GöppingerlBock Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 18 f, § 22 Rn. 8 ff (sozioscolares Syndrom); ferner SampsonlLaub Crime in the Making - Pathways and Turning Points Through Life, 1993, S. 128 f; FarringtonlCoidlWest MschrKrim 92 (2009), 160,166 ff. 2 Vgl. Olweus Aggression in the Schools - Bullies and Whipping Boys, 1978; ders. Bullying at School, 1993; ders. Gewalt in der Schule - Was Lehrer und Eltern wissen sollten - und tun können, 2. Aufl. 1996; dazu etwa LösellBliesener Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen - Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen, 2003, S. 25 ff; BannenberglRössnerlKempjer ZJJ 2004, 159 ff

82

Franz Streng

Verhaltensauffalligkeiten. Zudem ermöglicht die nun größere Anzahl Befragter eine statistisch besser absicherbare Untersuchung der Frage nach den Hintergründen fremden feindlicher Haltungen.

11. Die Datenbasis

1. Erste Befragung Die erste Befragung erfolgte - wie auch die zweite - im Rahmen eines vom Verfasser betreuten kriminologischen Dissertationsvorhabens. Der genutzte standardisierte Fragebogen sollte alle möglichen Erscheinungsformen der Gewalt an Schulen abfragen, wobei die Schüler als Täter, als Opfer und als Informanten über beobachtete Gewaltakte anzusprechen waren. Zudem sollten alle denkbaren - nämlich die nach den bisherigen Forschungsergebnissen relevanten und die nach Alltagstheorien naheliegenden - gewaltrelevanten Fakten erhoben werden. Hierfür herangezogen wurden im Sinne eines explorativen Vorgehens Faktoren aus dem engeren und weiteren familiären Bereich, aus dem sonstigen sozialen und sozioökonomischen Umfeld der Befragten, aus dem schulischen Umfeld sowie Persönlichkeitsdimensionen, die sich in Form von Einstellungen (Attitüden) erfragen ließen. Der Fragebogen für Schüler der Klassen 7 bis einschließlich 11 umfasste derart 96 Fragen, wobei für die Antworten multiple choice-Vorgaben oder rating-Skalen enthalten waren. Die Befragung fand im Juli 1995 in einem Schulzentrum statt, in welchem Hauptschule, Realschule und Gymnasium angesiedelt sind. Es wurden in diesen Schultypen 376 Schüler der Klassenstufen 7, 9 und (im Gymnasium) 11 befragt. Die Befragungssituation war soweit irgend möglich standardisiert, so dass fragebogenfremde Einflussfaktoren, die zu einer methodenbedingten Varianz in den Antworten hätten führen können, weitestgehend ausgeschlossen waren. Die Präsentation des Befragungsprojekts erfolgte im Rahmen der zu nutzenden Unterrichtsstunde stets durch dieselbe Person, die sich in der immer gleichen Art und Weise den Schülern vorstellte und die Durchführung der Befragung erläuterte. Großer Wert wurde hierbei auf die Versicherung einer völligen Anonymität der Befragung gelegt. Im Anschluss an die Vorstellung erhielten die Schüler die Fragebögen ausgeteilt und hatten für die Bearbeitung 45 Minuten Zeit. Nach dem Zeitablauf sammelte der Befragungsleiter die einzelnen Fragebögen ein. Hierbei war gewährleistet, dass für die anwesenden Lehrer keinerlei Möglichkeit des Einblicks in die ausgefüllten Bögen bestand.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

83

Die Rücklaufquote ausgefüllter Fragebögen betrug 100 0/0. Jedoch mussten 2 der 376 Fragebögen wegen offensichtlicher Falschbeantwortungen aussortiert werden, so dass aus dem Schulzentrum 374 Fragebögen für die Auswertung zur Verfügung standen. Dies entspricht einer Rücklaufquote von netto 99,5 %. Im November 1995 wurden in einer weiteren Schule derselben Stadt mittels des gleichen Fragebogens und in gleicher Weise Befragungen durchgeführt. Dort waren weitere 81 Schüler der 7. und 9. Klassenstufe der Hauptschule beteiligt; die Rücklaufquote betrug netto 100 0/0. Insgesamt wurden so 455 Schüler durch die Befragung erfasst, nämlich 180 Hauptschüler, 119 Realschüler und 156 Gymnasiasten. 3

2. Zweite Befragung Der Fragebogen für die Zweitbefragung war in Anlehnung an den in der Erststudie genutzten erstellt worden, wobei auf die weitgehend wörtliche Übernahme speziell der Fragen zur Erhebung des Themas "Gewalt" und der hierfür als relevant hervorgetretenen Erklärungsfaktoren Wert gelegt wurde, um Veränderungen in der Gewaltbelastung und in deren Hintergründen messen zu können. Daneben ist das Thema "Gewalt auf dem Schulweg" neu in die Befragung aufgenommen worden und es brachte der Untersuchungsleiter zusätzliche Forschungsfragen ein. 4 So umfasste das Befragungsinstrument 107 Items. Im März bzw. Juli (Gymnasium) 2008 wurden insgesamt 351 Schüler der 7., 9. und 11. Klassenstufe im schon für die Erstbefragung genutzten Schulzentrum mittels des beschriebenen Befragungsinstruments interviewt. Es entfielen dabei 87 Befragte auf die Hauptschule, 114 auf die Realschule und 150 auf das Gymnasium. Weitere 76 Hauptschüler wurden in der auch in der Erstbefragung schon erfassten weiteren Hauptschule interviewt, was eine Untersuchungspopulation von insgesamt 427 Schülern ergab. Eine inhaltlich parallel dazu bereits im Jahre 2007 durchgeführte Befragung von 177 Schülern einer Gesamtschule in Thüringen bleibt für die vorliegende Auswertung unberücksichtigt. Die Befragungen erfolgten schriftlich per weitestgehend standardisiertem Fragebogen als Einzelbefragung im Klassenverband. Ebenso wie in der Erststudie wurden die Befragungen alle vom Untersuchungsleiter persönlich und in der entsprechenden Art durchgeführt.

3 Ausführlich Pöll Gewalt in der Schule - Ergebnisse einer Befragung von Schülern und Lehrern, Jur. Diss. Erlangen, 1998, S. 35 ff. 4 Ausführlich Hacker Gewalt in der Schule - Analyse einer Schülerbefragung, 2010, S. 28 ff.

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Franz Streng

Hinsichtlich der Verteilung von Alter, Geschlecht und Schulzugehörigkeit der Befragten gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen der zweiten und der ersten Befragung. Erheblich größer als 1995 aber war 2008 der Anteil der befragten Schüler mit Migrationshintergrund, nämlich 20,6 % gegenüber noch 11,4 % in der Erstbefragung. 5 Größere Probleme als bei der Erststudie hatten sich bei der Einholung der rur die Durchruhrung der Befragung erforderlichen Genehmigung des Bayerischen Staatsministeriums rur Unterricht und Kultus ergeben. Die vom Ministerium nun geforderten schriftlichen Zustimmungserklärungen der Eltern, auf der Basis einer vorherigen Zusendung des Fragebogens, stießen beim Verfasser auf größte Bedenken. Im Wege eines Kompromisses wurde dieses formelle Zustimmungsverfahren daher nur bzw. immerhin testweise in einer Hauptschulklasse durchgeftihrt. Dies ftihrte letztlich zu einem Totalausfall dieser Klasse: Lediglich eine Schülerin hatte die schriftliche Erlaubnis der zuständigen Erziehungsperson erhalten. In den anderen Klassen waren in beiden Studien die Eltern vor der Befragung über den Inhalt des Fragebogens in einem Schreiben überschlägig informiert worden. Es war ihnen freigestellt, bei etwaigen Bedenken ihren Kindern die Teilnahme an der Befragung zu verbieten. Dieses Verfahren führte zu keinen Ausfällen.

111. Ergebnisse

1. Die Entwicklung aggressiven Schülerverhaltens Ausgehend vom Zeitpunkt der Erstbefragung, nämlich 1995, weist die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes eine stetig angestiegene Zahl speziell leichter Körperverletzungsdelikte aus. Anhand der Häufigkeitsziffer (HZ) der qualifizierten Körperverletzungsdelikte lässt sich für Bayern ein Anstieg von HZ 93 im Jahr 1995 auf HZ 136 im Jahr 2008 (HZ 140 im Jahr 2007) nachweisen und rur die vorsätzliche leichte Körperverletzung ein Anstieg von HZ 259 auf HZ 420. 6 Auch eine Sonderauszählung für junge Menschen durch das Bayerische Landeskriminalamt belegt den erheblichen Anstieg der Auffälligkeit im Körperverletzungsbereich bei den 14- bis 17jährigen (hier nur Deutsche). So stieg die Belastung dieser Altersgruppe mit qualifizierten Körperverletzungstaten von TVBZ 404 im Jahr 1998 auf 551 im Jahr 2008; bei leichten Körperverletzungen stieg die TVBZ von 472 so5 Jahr (1995/2008) x Migrant (nein/ja). r = .13, P = .000. - Zur Definition des MigrantenStatus vgl. unten in III.3. 6 Vgl. BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2000 - Bundesrepublik Deutschland, S. 154 ff.; BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kritninalstatistik 2008 - Bundesrepublik Deutschland, S. 148 ff.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

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gar auf 759 an. 7 Speziell am Schulstandort hat sich in der Tendenz ähnlich, wenngleich mit größeren Schwankungen, ein Anstieg bei den vorsätzlichen Körperverletzungsdelikten ergeben, wobei auch die Anzahl der kindlichen und jugendlichen Tatverdächtigen zunahm (Schaubild 1).8 Ganz entsprechend provoziert die Medienbeachtung, die die Schulgewalt gerade in den letzten Jahren gefunden hat, die Erwartung eines hier generell angestiegenen Problempotentials. Man denke nur an die aufsehenerregende Berichterstattung über die Berliner Rütli-Schule. Schaubild 1 Körperverletzungskriminalität in der Gemeinde Fälle insgesamt I kindl. u. jugendliche Tatverdächtige Gefährliche KörpeMrietzung Einfache KörpeMrietzung

80

u. Jugendliche CI)

...

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20

1995

1998 2001

2003

2005 2007

2008

Jahr

Die Befunde aus den beiden hier herangezogenen Schülerbefragungen stützen die Wahrnehmung aus den Polizeistatistiken freilich nicht. Es ergibt sich vielmehr das Bild einer gänzlich undramatischen Entwicklung an den untersuchten Schulen. Anhand der Fragen zu Beteiligung an ernsthafter 7 Vgl. Bayerisches LKA (Hrsg.), Junge Menschen als Tatverdächtige und Opfer von Straftaten - Berichtsjahr 2008, S. 23. 8 Der Leitung der örtlichen Polizeiinspektion danke ich für die freundliche Kooperation und das Zur-Verfügung-Stellen der fraglichen Daten.

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Franz Streng

Rauferei (schon oft, gelegentlich, selten, ganz selten, nie), zu ernsthaftem Schlagen eines Mitschülers (Antwortalternativen wie vorstehend) und zu körperlichem Angriff auf einen Lehrer (mehr als einmal, einmal, noch nie) lässt sich feststellen, dass auch bei einem Signifikanzniveau von lediglich p :::; .05 sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen Befragungsjahr und Gewalthäufigkeit ergibt; es ist noch nicht einmal eine Tendenz im Sinne zunehmender Gewaltbereitschaft zu erkennen. Dies gilt auch für eine Zusammenfassung der drei Gewaltvariablen in einem Gewaltindex. 9 Im Jahre 1995 gaben 47,6 % der Befragten an, keinen einzigen der drei angesprochenen aggressiven Akte jemals begangen zu haben, im Jahre 2008 waren es sogar 51,9 %. Auch eine nach Schularten getrennte Auswertung erbrachte einen ganz entsprechenden Befund für alle drei Schularten. Für keine der Schularten ergab sich eine signifikante Veränderung bezüglich Gewalthandlungen in den Angaben der Schüler. 10 Bestätigt werden diese Befunde durch die Befragung zu Viktimisierungserlebnissen. Etwa im Jahre 1995 hatten 74,2 % der Befragten angegeben, in der Schule noch nie ernsthaft geschlagen worden zu sein, im Jahre 2008 waren es gleich viele, nämlich 74,3 %. Auch in einem umfassenderen Opferindex ergaben sich keine signifikanten Veränderungen in der Häufigkeit berichteter Viktimisierungen, wobei in dem Index neben Geschlagenwerden auch Bestohlenwerden und Mobbingerlebnisse erfasst sind. II Diese Negativbefunde zu Veränderungen auf der Ebene von Viktimisierungen gelten für alle drei Schularten gleichermaßen, d.h. mit statistisch irrelevanten Unterschieden. Für die Interpretation dieser durchaus entdramatisierenden Befunde ist allerdings zu berücksichtigen, dass Einzelstudien dieser Art immer nur für die jeweils untersuchten Schulen gelten können. Erst eine Zusammenschau einer Mehrzahl solcher Befragungen kann ein verallgemeinerbares Bild ergeben. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in Münster und Duisburg in den Jahren 2000 bis 2003 und 2002 bis 2005 durchgeführte Schülerbefragungen rur diese - gegenüber der hier vorliegenden Studie kürzeren - Zeiträume gleichermaßen keinen Delinquenzanstieg verzeichneten. I2 Entsprechendes ergibt die wohl bislang größte Schülerbefragung, die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in acht Städten in den Jahren 1998/99 und 2005 bis 2008 durchgeruhrt wurde; 13 die in dieser

Befragung (1995/2008) x Gewaltindex (niedrig ... hoch): Pearson's r = -.01, P = .69. Die Korrelationskoeffizienten liegen zwischen r = .00 und r = -.06. 11 Befragung (1995/2008) x Opferindex (niedrig ... hoch): r = -.03, p = .39. 12 Vgl. Boers/Walburg/Reinecke MschrKrim 89 (2006), 63, 70 ff. 13 Vgl. Baier/Pfeiffer forum kriminalprävention 2/2009, 5, 11 ~ für vier Städte im Detail nachgewiesen bei Baier Entwicklung der Jugenddelinquenz und ausgewählter Bedingungsfak9

10

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

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Studie auch speziell für Gewalt in der Schule erhobenen Daten belegen, dass kein Anstieg zu verzeichnen iSt. 14 Gleichartige Ergebnisse zur Schulgewalt erzielte eine 1994, 1999 und 2004 in Bayern durchgeführte Befragung einer schülerrepräsentativen Stichprobe. 15 Bestätigt werden diese Befunde schließlich durch die rückläufige Entwicklung bezüglich der den Unfallversicherern aus den Schulen gemeldeten Raufunfalle. 16 Da die neueren Schülerbefragungen die in der Polizeilichen Kriminalstatistik dargestellte ständig steigende Gewaltdelinquenz nicht reproduzieren, ergibt sich naheliegender Weise die Frage nach den Ursachen dieser Diskrepanz. Für die Entwicklung in der Polizeilichen Kriminalstatistik diskutiert man den Einfluss veränderten Anzeigeverhaltens, etwa infolge größerer Sensibilität gegenüber Gewalt. Und tatsächlich haben Dunkelfeldstudien für die letzten Jahre eine angestiegene Anzeigebereitschaft und insgesamt eine Zurückdrängung des Dunkelfelds bei Gewaltdelikten aufgezeigt. 17 Da in Täter- und Opferbefragungen dieser potentielle Verzerrungseffekt sich nicht oder kaum auswirkt, kann man die derart zur Prävalenzentwicklung gewonnenen Daten mit guten Gründen für aussagekräftiger halten als die in der Polizeilichen Kriminalstatistik sich abzeichnende Verlaufskurve.

2. Veränderungen bei den Gewaltursachen a. Ergebnisse aus der Befragung 1995 Auf der Basis der Daten der Erstbefragung war mittels schrittweiser multipler Regressionsanalyse ein optimales Erklärungsmodell für einen "Gewaltindex" bezüglich selbst begangener Gewaltakte als abhängige Variable errechnet worden. Die hierin eingegangenen drei Fragen erfassten: - Beteiligung an ernsthaften Raufereien ("Rauferei ... keine Rangelei aus Spaß"); eigene körperliche Attacken gegen Mitschüler ("ernsthaft geschlagen"); körperliche Angriffe gegen Lehrer ("angegriffen oder geschlagen"). Eine

toren seit 1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd, 2008 (KFN-Forschungsbericht Nr. 104), S. 25 ff. 14 Vgl. Baier (Fn. 13), S. 29 ff.~ vgl. ferner BM!, BM} (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 391 ff. - Für eine noch andersartige Tendenz in einer Studie zur Entwicklung von 1973 bis 1995 vgl. LösellBliesenerlAverbeck DVJJ-Journal 1998, 115, 118 ff. 15 Vgl. FuchslLamneklLuedtkelBaur Gewalt an Schulen. 1994 - 1999 - 2004,2. Aufl. 2009, S. 89 ff. 16 Vgl. bei Baier (Fn. 13), S. 12. 17 Vgl. Schwind/FetchenhauerlAhlbornlWei}3 Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer Großstadt - Bochum 1975 - 1986 - 1998, 2001, S. 140 ff.~ OberwittlerlKöllisch Neue Kriminalpolitik 2004, 144, 146~ NaplavalM Walter MschrKrim 89 (2006), 338, 341 ff.~ Hein= Kriminalistik 2007, 301, 306 f.~ Baier (Fn. 13), S. 20~ Neubacher ZRP 2008, 192, 193 f.~ BaierlPfeiffer (Fn. 13),5, 11.

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oder mehrere Raufereien haben angegeben 44,8 % der Befragten, ein- oder mehrmaliges ernsthaftes Schlagen 31,6 %, einen körperlichen Angriff gegen Lehrer jedoch nur 2,4 %.18 Übergreifend berechnet haben 51,9 % der Befragten mindestens einen dieser aggressiven Akte eingeräumt. 19 Tabelle 1 Gewalthandlungen in der Schule Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele) ß-Wert

Signifikanz

Unabhängige Variablen:

Gewaltbeobachtungen in der Schule (wenige ... viele) Geschlecht (weiblich/männlich) Viktimisierungen (keine .... mehrere) Waffen mitgebracht (nein/ja) Macho-Haltung (niedrig ... hoch) Verhältnis zu Lehrern (gut ... schlecht) Gewalt als Konfliktlöser (nein ... ja) Hauptschüler (nein/ja) Gewalteindruck von der Schule (niedrig ... hoch)

.27

.000

.19 .16 .16 .15

.000 .000 .001 .001

.13 .13 .13

.002 .003 .01

.12

.02

ModellSignifikanz

Erklärungskraft (Korrig. R2x IOO)

.000

51,0%

Das erklärungskräftigste Modell findet sich in Tabelle 1 wiedergegeben; es besagt, dass mit Gewaltakten besonders belastet ist: - wer angibt, in der Schule viele Gewaltakte beobachtet zu haben; - die männlichen Jugendlichen; - wer in der Schule Gewaltopfer geworden ist; - wer gelegentlich Waffen mit in die Schule bringt; - die Befragten mit ausgeprägter MachoHaltung (sich von anderen nichts sagen lassen wollen; sich nichts gefallen lassen; nicht nachgeben bei Konflikten); - die Befragten mit einem schlechten Verhältnis zu ihren Lehrern; - wer Konfliktlösung durch Gewalt bejaht; - die Hauptschüler; - wer das Schulklima als durch Gewalt geprägt sieht.

b. Ergebnisse aus der Befragung 2008 Auch für die Zweitbefragung des Jahres 2008 wurde ein optimales Erklärungsmodell mittels multipler Regressionsanalyse errechnet. Die in den Ausführliche Darstellung der Daten bei Päll (Fn. 3), S. 146 ff. Vgl. auch Streng/Päll in: Gruter/Rehbinder (Hrsg.), Gewalt in der Kleingruppe und das Recht, 1997, S. 133, 140 ff. 18

19

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Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

"Gewaltindex" bezüglich selbst begangener Gewaltakte eingegangenen drei Variablen weisen folgende Datenstruktur auf: Eine oder mehrere Raufereien haben angegeben 39,8 % der Befragten, ein- oder mehrmaliges ernsthaftes Schlagen 30,3 0A>, einen körperlichen Angriff gegen Lehrer jedoch lediglich 2,1 0/0. 20 Übergreifend berechnet haben 48,1 % der Befragten mindestens einen dieser aggressiven Akte eingeräumt.

Tabelle 2 Gewalthandlungen in der Schule Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele) ß-Wert

Signifikanz

Unabhängige Variablen:

Gewaltbeobachtungen in der Schule (wenige ... viele) Viktimisierungen (keine .... mehrere) Konsum von Amateur-Gewaltvideos (nie ... oft) Unterricht-Schwänzen (nie ... oft) Selbstkritik (niedrig ... stark) Geschlecht (weiblich/männlich) Sportaktivitäten (keine ... viele) Macho-Haltung (niedrig ... hoch) Hauptschüler (nein/ja) Gewalteindruck von der Schule (friedlich ... unfriedlich)

.22

.000

.20

.000

.19

.000

.17 -.17 .16 .11 .11 .10

.000 .000 .000 .01 .01 .04

.10

.05

ModellSignifikanz .000

Erklärungskraft (Korrig. R2x l00) 54,6%

Das in Tabelle 2 wiedergegebene optimale Erklärungsmodell für den Gewaltindex besagt, dass mit Gewaltakten besonders belastet ist: - wer angibt, in der Schule viele Gewaltakte beobachtet zu haben; - wer in der Schule Gewaltopfer geworden ist; - wer Amateur-Gewaltvideos von tatsächlich begangenen Gewalthandlungen (öfter) angesehen hat (z.B. "happy slapping"); - wer (öfter) die Schule schwänzt; - wer seinen Handlungen wenig selbstkritisch gegenüber steht; - die männlichen Befragten; - die sportlich Aktiven;21 - die Befragten mit ausgeprägter Macho-Haltung (sich von anderen nichts sagen lassen wollen; sich nichts gefallen lassen; nicht nachgeben bei Kon20 Ausführliche Darstellung der Daten aller Befragungen (einschl. Thüringen) bei Hacker (Fn. 4) im Tabellenanhang. 21 Anderes Ergebnis bei Lösel/Bliesener (Fn. 2), S. 74. Auch in der hier referierten Studie ist der Zusammenhang bei bivariater Berechnung nur schwach ausgeprägt: Sportaktivitäten (keine ... viele) x Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele): r = .08, p = .10.

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flikten); - die Hauptschüler; - wer das Schulklima als durch Gewalt geprägt sieht. 22

c. Vergleich der Befunde Für die Interpretation der Unterschiede in den beiden Erklärungsmodellen ist im Auge zu behalten, dass trotz aller auf Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zielender Signifikanzberechnungen bei derartigen Berechnungen Überanpassungen an die jeweilige Stichprobe auftreten. So mag es sein, dass in der einen Befragung noch ein signifikanter Zusammenhang für einen potentiellen Erklärungsfaktor erkennbar ist, in der anderen Befragung aber kein Signifikanzniveau erreicht wird. Deshalb ist von vorneherein nur bezüglich statistisch starker, d.h. besonders gut gegen Zufallseinflüsse abgesicherter Zusammenhänge ein mit einer Berechnung anhand einer anderen Stichprobe übereinstimmendes Erklärungsmodell erwartbar. Trotz der also einzukalkulierenden Unterschiede fallen zunächst die Übereinstimmungen in den Erklärungsmodellen in Tabelle 1 und Tabelle 2 besonders auf. Es erweist sich auch in dem auf der Basis der neuen Daten erstellten Erklärungsmodell die Gewaltwahrnehmung im schulischen Umfeld (Gewaltbeobachtungen; Gewalteindruck) als besonders wichtiger Erklärungsfaktor für das Schülerverhalten. Zudem weisen die erlittenen Gewaltviktimisierungen,23 das Geschlecht der Befragten,24 eine Macho-Einstellung der Befragten und die jeweilige Schulart ähnliche Effekte auf wie in der Erstbefragung. Neu hinzugekommen sind die Faktoren Unterricht-Schwänzen,25 geringe Selbstkritik, sportliche Aktivität sowie das Interesse an realen Gewaltdarstellungen. Letzterer Befund wurde durch den um diese Fragestellung erweiterten Fragebogen möglich gemacht. Der hervorstechende Befund zu den Gewaltbeobachtungen und zum Gewalteindruck ist nicht leicht zu interpretieren. Denn die Schüler der einzelnen Schularten sind ja in dieselbe Schule mit dem dort für alle Schüler grundsätzlich gleichen Gewaltniveau gegangen - was unterschiedliche Wahrnehmungen zunächst auszuschließen scheint. Anders ist das nur bei den zwei in mancherlei Hinsicht unterschiedlichen Hauptschulen, zwischen denen sich jedoch kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Gewalt-

22 Nicht als unabhängige Variable (Erklärungsvariable) berücksichtigt wurde deliktisches Verhalten im Eigentums- und Vermögensbereich. Denn derart würde ein abweichendes Verhalten durch ein anderes abweichendes Verhalten erklärt, was in gewisser Weise zirkelschlüssig anmutet. Anders hier Hacker (Fn. 4), S. 120 (Abb. 73). 23 Dazu näher FuchslLamnekiLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 114 ff. 24 Zu einer insoweit beobachtbaren Angleichungstendenz vgl. Baier (Fn. 13), S. 69 f. 25 Dazu näher FuchslLamnekiLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 307 ff.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

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wahrnehmung abzeichnet. 26 Wenn also neben der Variable Schulform die Gewaltwahrnehmung eigene Effekte erzielt, scheint eine versubjektivierende Interpretation der Angaben als eine Art Projektion eigener Interessen nahezuliegen. 27 Freilich ist im Auge zu behalten, dass auch in verschiedenen Klassenverbänden derselben Schule ein unterschiedliches Gewaltklima herrschen kann, was dafür spricht, den Angaben zur Gewaltwahrnehmung einen Bezug zur Schulrealität nicht einfach abzusprechen. Hervorhebenswert ist schließlich ein Negativergebnis: In beiden Erklärungsmodellen ist die Mediennutzung nicht als relevanter Erklärungsfaktor vertreten, obwohl jeweils akribisch erhoben. Zwar ließen sich auf bivariater Ebene deutliche Zusammenhänge zwischen auffallender Mediennutzung und Verhaltensauffälligkeiten errechnen. Jedoch treten diese Zusammenhänge bei Einstellen der Medienvariablen in eine multiple Regressionsanalyse in Konkurrenz zu anderen Erklärungsfaktoren von Jugendgewalt nahezu ganz zurück. 28 Es spricht folglich viel dafür, dass auffällige Mediennutzung im Regelfall eher ein Symptom für Probleme als eine eigenständige Gewaltursache darstellt.

3. Die Gewaltbelastung von Migranten(kindern) Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahrzehnten die Frage der Delinquenzbelastung von Ausländern bzw. Migranten gefunden. Der Ausländerbegriff ist in diesem Zusammenhang schon deshalb inzwischen problematisch geworden, weil ein erheblicher Anteil der in Deutschland lebenden ausländisch-stämmigen Wohnbevölkerung die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. In der Zweitbefragung, in welcher der Migrantenstatus differenziert abgefragt wurde, zeigten sich bezüglich der Familienherkunft immer wieder Unsicherheiten. Letztlich wurde für die weiteren Berechnungen als Migrant(enkind) berücksichtigt, wer sich nach dem im Fragebogen hervorgehobenen Hinweis "Nur ausländische Schüler" zum 26 Hauptschule (112) x konreter Gewalteindruck (friedlich ... unfriedlich): r = .09, P = .12. Bemerkenswert ist freilich, dass sich seit der Erstbefragung unter den beiden Hauptschulen jeweils eine konträre Entwicklung in der Gewaltbelastung und entsprechend der Gewaltwahrnehmung unter den Schülern ergeben hat. Die 1995 eher unbelastete Schule wird nun ihrem schon damals bestehenden Ruf "Brennpunktschule" zu sein, eher gerecht als damals. 27 Für Erklärungsmodelle zu unterschiedlicher Gewaltwahrnehmung vgl. StrenglPöll (Fn. 19), S. 147 ff~ Hacker (Fn. 4), S. 139 f 28 Vgl. auch MößlelKleimannlRehbeinlPfeiffer ZJJ 2006, 295, 304 ff; Streng ZJJ 2007, 198, 199 f (das dort anhand der auch hier genutzten Befragungsdaten errechnete Erklärungsmodell lässt die 11. Klassenstufe unberücksichtigt und ist daher mit dem obigen Ergebnis in Tabelle 1 nicht identisch); FuchslLamneklLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 206 f; Hacker (Fn. 4), S. 143 ff; in der multivariaten Analyse stärkere Zusammenhänge zeigen sich bei LösellBliesener (Fn. 2), S. 75 f, 80 ff

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eigenen Verhältnis zu den "deutschen Schülern" geäußert hatte; dieses Vorgehen gewährleistet auch eine Vergleichbarkeit der Befunde von Erstbefragung und Zweitbefragung. Eine Reihe von Studien belegt auf der Basis von Hellfeldzahlen eine höhere Delinquenzanfalligkeit der männlichen Migranten. Dabei sind insbesondere Gewalt- und Sexualdelikte zu nennen. 29 Freilich ist dieser Befund nicht unumstritten. In einer in Münster und Duisburg durchgeführten Schülerbefragung etwa zeigte sich für den Bereich genuiner Gewaltkriminalität keine deliktische Höherbelastungen der Migrantengruppe. 3o In der hier referierten Befragung von 1995 ergibt sich auf der deskriptiven Ebene ein Bild, das eher der konventionellen kriminologischen Betrachtung entspricht. Während 56,8 % der Nicht-Migranten (Nmax = 404) angaben, in der Schule noch nie ernsthaft gerauft zu haben und 70,3 % angaben, noch nie einen Mitschüler ernsthaft geschlagen zu haben, liegt die Gewaltfreiheitsrate bei den Migranten(kindern) mit 40,4 % und 53,8 % (Nmax = 52) deutlich niedriger, mithin die Gewaltrate höher. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bezüglich der fraglichen aggressiven Verhaltensweisen sind (teils) signifikant. 31 In der Befragung von 2008 ergibt sich teils noch stärker ein Bild, das der konventionellen kriminologischen Betrachtung entspricht. Während 65,2 % der Nicht-Migranten (Nmax = 339) angaben, in der Schule noch nie ernsthaft gerauft zu haben und 72,8 % antworteten, noch nie einen Mitschüler ernsthaft geschlagen zu haben, liegen die Angaben der Migranten(kinder) mit 40,2 % und 57,1 % (Nmax = 88) deutlich niedriger, mithin die Gewaltrate höher. Die Unterschiede bezüglich der beiden aggressiven Verhaltensweisen sind jeweils hochsignifikant. 32 Allerdings bedarf dieser Befund der näheren Betrachtung, welche hier für die Befragung von 2008 geleistet werden soll, obwohl für die ältere Befragung ganz Ähnliches gilt. Setzt man den Migrantenstatus in das oben in Ta29 Vgl. KargerlSutterer MschrKrim 73 (1990), 369, 373 f.~ SchöchlGebauer Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 51 ff.~ BaierlPfeiffer (Fn. 13), 5, 7 f.~ speziell zur Schulgewalt FuchslLamneklLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 213 ff.~ vgl. ferner LösellBliesener (Fn. 2), S. 59, 91 ~ BKA 2008 (Fn. 6), S. 108. 30 Vgl. BoerslWalburglReinecke MschrKrim 89 (2006), 63, 79 ff. - Vgl. zur widersprüchlichen Forschungslage auch LösellBliesener (Fn. 2), S. 58 ff.~ BMJ, BMJ (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 372 f. 31 Rauferei (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .08, p = .08~ Schlagen (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .13, P = .005. - Bei Dichotomisierung der Variable zur Beteiligung an einer Rauferei ist der Zusammenhang mit der Migrationsvariable signifikant (r = .11, p = .0 16)~ dieser Unterschied zur Nutzung der Ursprungsvariable beruht darauf, dass unter der Gruppe der Befragten mit irgend einer Rauferfahrung die Migranten nur wenig stärker mit Mehrfachtäterschaft belastet sind. 32 Rauferei (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .21, P = .OOO~ Schlagen (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .20, p = .000.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

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belle 2 dargestellte beste Erklärungsmodell für Gewaltneigung (= Gewaltindex) als zusätzliche unabhängige Variable - d.h. als Erklärungsfaktor - ein, dann trägt diese Variable nicht zu einer relevanten Steigerung des Erklärungsgehalts des Modells bei; es zeigt sich ein nicht einmal annähernd signifikanter Zusammenhang. 33 Und dies gilt auch dann, wenn man nach Geschlecht differenziert und allein die Daten der befragten männlichen Schüler zugrunde legt. Die Unterschiede im Gewalthandeln zwischen Einheimischen und Migranten werden mithin besser durch sonstige Merkmale als durch den Migrantenstatus als solchen erklärt. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass im Rahmen einer multiplen Regressionsanalyse unter Einbeziehung allein schon der sozio-demographischen Variablen Geschlechtszugehörigkeit und Schulart die Migrationsvariable so sehr an Erklärungskraft verliert, dass sie nur noch einen schwachen, hier schon nicht mehr signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweist. 34 Dies ist in Tabelle 3 nachgewiesen. Tabelle 3 Gewalthandlungen in der Schule Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele) ß-Wert

Signifikanz

.000

Unabhängige Variablen: Geschlecht (weiblich/männlich) Hauptschüler (nein/ja) Migration (nein/ja)

ModellSignifikanz

.28 .26 .10

Erklärungskraft (Korrig. R2 x l00) 18,4 0/0

.000 .000 .06

Dieser Befund bringt freilich nicht schon eine Entdramatisierung der Unterschiede in der Gewaltneigung zwischen Einheimischen und Migranten mit sich. Da überproportional viele Migranten(kinder) die Hauptschule besuchen und nicht auf weiterführende Schulen überwechseln,35 stellt sich die - jedenfalls anband der vorliegenden Daten - nicht beantwortbare Frage, ob dieses Bildungsdefizit (auch) Folge der in dieser Gruppe bereits von vorneherein häufiger vorhandenen Verhaltensauffalligkeiten ist oder ob umgekehrt erst die Entmutigung durch geringe gesellschaftliche Aufstiegschan33 In der Befragung 2008 weist im Erklärungsmodell (Tabelle 2) die Variable "Migrant" einen Pfadkoeffizienten von nahe Null auf (ß = .01, P = .89). 34 Bei der Berechnung anhand beider Befragungen ist der Erklärungsgehalt der Migrationsvariable (mit ß = .08) noch schwächer, wenngleich der Zusammenhang mit der GewaltindexVariable hier infolge größerer Stichprobe signifikant (p = .01) ausfällt. - Vgl. auch BaierlPfeifferlSimonsonlRabold ZJJ 2008, 112, 116. 35 Vgl. BaierlPfeifferlSimonsonlRabold a.a.O., 112, 116 f.

94

Franz Streng

cen die Gewaltbereitschaft fördert 36 gleichzeitig realistisch sind.

-

oder ob beide Erklärungsansätze

4. Befunde zu den Hintergründen fremdenfeindlicher Einstellungen Die Daten der Erstbefragung hatten die Möglichkeit eröffnet, einen zentralen Erklärungsansatz zu den Hintergründen von Fremdenfeindlichkeit37 zu untersuchen, nämlich die "Projektionstheorie". Dieser an die psychoanalytische "Sündenbocktheorie" anknüpfende Ansatz besagt, dass Unterprivilegierte, Randständige oder sonst Problembehaftete dazu neigen, ihre Probleme Fremden anzulasten. Nicht eingestandene eigene Unzulänglichkeit und sonstige nicht eindeutig zuordenbare Ursachen von Verunsicherung werden auf andere, insbesondere Fremde, projiziert; an diesen wird erlittene Frustration abreagiert und scheinbar das Übel bekämpft. 38 Diese Theorie enthält zwei zentrale Hypothesen. Zum einen wird davon ausgegangen, dass individuelle Fremdenfeindlichkeit auf objektiver Randständigkeit oder subjektiven Defizitempfindungen beruht. Zum anderen postuliert sie die Nutzung des Projektionsmechanismus, was eine individuelle Bereitschaft zu entsprechender Bearbeitung der angesprochenen Problemempfmdungen voraussetzt. Bemerkenswert erscheint, dass sich nur für die erste Hypothese Belegmaterial anfuhren lässt, nämlich insoweit, als überproportional häufig Unterprivilegierte, Ausgegrenzte oder sozial Verunsicherte mit fremdenfeindlichen Haltungen und Aktionen auffallen. 39 Hingegen erscheint die empirische Stützung der psychologisch ansetzenden zweiten Hypothese, nämlich von einem Wirksamwerden des Projektionsmechanismus, bislang defizitär. Die Daten der Erstbefragung haben den Zusammenhang von Randständigkeit (im Sinne von Ausgrenzungs- oder Deklassierungserfahrungen) und Ablehnung von Ausländern bzw. Migranten belegen können. Angesichts des - eigentlich erfreulich - kleinen Anteils expliziter Fremdenfeindlichkeit in der nicht sehr großen Stichprobe blieb die statistische Absicherung aber Vgl. zu Letzterem etwa SchöchlGebauer (Fn. 29), S. 57; Streng JZ 1993,109, 117 f Vgl. auf der Basis anderer Ansätze dazu DeckerlBrähler Vom Rand zur Mitte - Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, 2006. 38 Vgl. statt Vieler A. Mitscherlich Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, 1963, S. 144 f; Memmi Rassismus, 1992, S. 67 ff, 205 f; Streng Jura 1995, 182, 190; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487 ff. 39 Vgl. dazu etwa Kalinowsky Rechtsextremismus und Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1990 (hrsg. vom BMJ), S. 106, 202 f; HeitmeyerlMüller Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen, 1995 (hrsg. vom BMJ), S. 43 ff, 127 ff.; Kunkat in: Dünkel/Geng (Hrsg.), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien, 1999, S.209, 224 ff.; MarneroslSteillGalvao MschrKrim 86 (2003), 364, 367 f; DeckerlBrähler (Fn. 37), S. 88 ff.; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487,488. 36 37

95

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

4o auf eher niedrigem Niveau. Die Vergrößerung des Datenpools durch die Zweitbefragung von 2008 lässt es erfolgversprechend erscheinen, der Forschungsfrage noch einmal nachzugehen. In Tabelle 4 ist die Verteilung der Antworten in der abhängigen Variable "Einstellung zu Migranten" für beide Befragungen zusammengefasst41 nachgewiesen. Tabelle 4 Mit ausländischen Schülern komme ich genauso zurecht, wie mit deutschen, rur mich ist da kein Unterschied

580

83,5 %

Ich toleriere die ausländischen Schüler hier, pflege aber kaum Kontakt mit ihnen

78

11,2 %

Ich sähe es gerne, wenn an der Schule keine ausländischen Schüler wären, aber ich lasse sie in Ruhe

21

3,0%

Ich möchte die ausländischen Schüler hier weghaben und ich wehre mich gegen sie

16

2,3 %

N=

695

100%

Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass zwischen dem Erleben von Druck durch Drohungen oder Gewaltandrohungen seitens von Mitschülern (gegenwärtig, früher, nie) und der geäußerten Fremdenfeindlichkeit (s. Tabelle 4) ein hochsignifikanter Zusammenhang in der Richtung ,Je mehr Druck um so fremdenfeindlicher" nachweisbar ist. 42 Dieser Zusammenhang ist am stärksten bei Realschülem,43 schwächer bei Hauptschülem 44 und nicht signifikant bei Gymnasiasten45 ausgeprägt. 46 Bezüglich der zweiten Komponente der "Projektionstheorie" zur Ausländerfeindlichkeit bedarf es des Messens der Projektionsneigung. Dies geschah in den Befragungen mittels der Stellungnahme der Befragten zu dem Statement "Wenn etwas schief geht, haben meist die anderen Schuld" 40

Vgl. dazu Streng FS Rolinski, 2002, S. 487,490 ff.

41 Die Unterschiede zwischen den Befragungen sind nicht signifikant: r = .06, P = .10. 42 Druckerlebnis (derzeit/früher/nie) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.20, P = .000.

43 r = -.36, P = .000. 44

r = - .13, P = .04.

45 r = -.07, P = .23. 46 Wegen schiefer Verteilung der Daten in der abhängigen Variable "Fremdenfeindlichkeit" sind Ungenauigkeiten in den Korrelations- und Signifikanzberechnungen auch Streng FS Rolinski, 2002, S. 487, 491 f.

einzukalkulieren~

vgl.

96

Franz Streng

(stimmt genau, stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Bei bivariater Berechnung des Zusammenhangs mit Fremdenfeindlichkeit ergibt sich ein schwacher, wenngleich sehr signifikanter Zusammenhang der erwarteten Richtung, dass nämlich Projektionsbereite tendenziell stärker fremdenfeindlichen Haltungen zuneigen. 47 Dieser Zusammenhang ist bei Haupt- und Realschülern deutlich,48 bei Gymnasiasten hingegen nicht gegeben. 49 Untersucht man den Zusammenhang zwischen Projektionsneigung und Fremdenfeindlichkeit getrennt danach, ob und in welcher Form die Befragten Druck durch Mitschüler erlebten, ergeben sich besonders aussagekräftige Befunde: Die nie unter Druck gesetzte Gruppe weist keinen Zusammenhang zwischen Projektionsneigung und Fremdenfeindlichkeit auf. 50 Bei den früher bereits einmal unter Druck Gewesenen ist der fragliche Zusammenhang eindeutig nachweisbar 51 und bei den aktuell unter Druck Befindlichen weist der Zusammenhang eine beachtliche Stärke auf. 52 Deutlich wird der mit Ausgrenzungserlebnissen verzahnte Effekt der Projektionsneigung auch dann, wenn man Befragte mit starker und Befragte mit geringer oder keiner Projektionsbereitschaft insofern vergleicht, wie sie auf Druck durch Mitschüler reagieren. Bei den gar nicht oder wenig Projektionsgeneigten ist ein Druckerlebnis der benannten Art nur relativ schwach mit Fremdenfeindlichkeit korreliert. 53 Hingegen liegt bei den eindeutig Projektionsgeneigten der Zusammenhang zwischen Druckerlebnissen und Fremdenfeindlichkeit schon im Bereich mittlerer Stärke.54 Speziell für die Gruppe der Haupt- und Realschüler zeigt eine multiple Regressionsberechnung, dass die Projektionsbereitschaft und das Druckerleben auch nebeneinander Auswirkungen auf eine fremdenfeindliche Haltung aufweisen. Die entsprechende multiple Regressionsanalyse ist in Tabelle 5 nachgewiesen.

47 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.10, p = .01. 48 Haupt- und Realschüler zusammen: r = -.15, p = .004. 49 r = -.01, P = .85. 50 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.01, P = .84. 51 r = -.27, p = .002. 52 r = -.51, p = .016. 53 Druck (gegenwärtig ... nie) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.14, p = .000. 54 r = -.43, p = .000.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

97

Tabelle 5 Fremdenfeindlichkeit (Haupt- und Realschüler) Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark) ß-Wert

Signifikanz

-.22 -.12

.000 .023

Unabhängige Variablen:

Druckerlebnis (jetzt ... nie) Projektionsneigung (stark ... ohne)

ModellSignifikanz .000

Erklärungskraft (Korrig. R2x100) 6,5 0/0

Speziell und nur fur die Gruppe der Hauptschüler tritt gegenüber dem Erlebnis des Unterdrücktseins durch Mitschüler eine andersartige Deklassierungswahrnehmung in den Vordergrund, nämlich das Nichterreichen von familiären Erfolgsstandards. Wer aus einer Oberschichts- bzw. oberen Mittelschichtsfamilie stammend 55 sich in der Hauptschule wiederfindet, tendiert überdurchschnittlich oft zu Fremdenfeindlichkeit, 56 während die Befragten aus den beiden anderen Schulformen keinerlei derartigen Zusammenhang zwischen Bildungsschicht und Fremdenfeindlichkeit erkennen lassen. 57 Setzt man fur die Hauptschülergruppe neben der elterlichen Bildungsschicht als weiteren Erklärungsfaktor die Projektionsneigung in eine multiple Regressionsanalyse ein (Tabelle 6), dann zeigen sich insgesamt signifikante Zusammenhänge im Sinne der Projektionstheorie zur Ausländerfeindlichkeit. Die anhand der zusammengefassten Daten der Befragungen 1995 und 2008 errechneten, in Tabelle 6 wiedergegebenen Befunde erweisen sich bei einer nach Befragungsjahr getrennten Auswertung jedoch als zeitgebunden. Während die Projektionsneigung ihre Bedeutung immer in vergleichbarer Deutlichkeit behält, erweist sich die elterliche Bildungsschicht bei den 2008 befragten Hauptschülern als nicht aussagekräftig für Fremdenfeindlichkeit. 58

Der Schichtindex wurde aus den Angaben zum schulischen Ausbildungsstatus der Eltern infolge fehlender Angaben ergab sich dabei ein Schwund von 11 % der Fälle. Wenn man etwa den väterlichen Beruf als weiteren Schichtindikator hinzunimmt, ergeben sich Ausfälle von sogar rund 30 %. Daher wurde hier auf die direkte Berücksichtigung des Berufsstatus der Eltern verzichtet. 56 Nur Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = .14, P = .08~ vgl. schon Streng FS Rolinski, 2002, S. 487, 492 f., 494. 57 Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.03, p = 55

errechnet~

.51. 58 Bei bivariater Berechnung anhand der befragten Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.04, P = .73.

98

Franz Streng

Tabelle 6 Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler) Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark) ß-Wert

Signifikanz

ModellSignifikanz

Unabhängige Variablen:

Projektionsneigung (stark/wenig-ohne) Bildungsschicht (niedrig ... hoch)

.000 -.25

.002

.17

.033

Erklärungskraft (Korrig. R2 X 100) 6,8 0/0

Die hingegen in der Befragung 1995 in beachtlicher Stärke relevant aufgetretenen Zusammenhänge sind in Tabelle 7 nachgewiesen. 59 Die Frage, ob der Unterschied zwischen den Befragungen tatsächlich durch eine Entspannung im Sinne nachlassender Deklassierungserfahrungen bei Hauptschülern aus Familien des gehobenen Bildungsspektrums zu erklären ist oder etwa zu wesentlichen Teilen einem Stichprobeneffekt zu verdanken ist, lässt sich anband der vorliegenden Daten nicht klären.

Tabelle 7 Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler 1995) Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark) ß-Wert

Signifikanz

.000

Unabhängige Variablen:

Projektionsneigung (stark/wenig-ohne) Bildungsschicht I (niedrig ... hoch)

ModellSignifikanz

-.28

.005

.32

.002

Erklärungskraft (Korrig. R2 X 100) 15,3 %

IV. Resümee Die in vergleichbarer Weise und in denselben Schulen einer bayerischen mittelgroßen Stadt nach 13 Jahren erneut durchgeführte Schülerbefragung zeigt eine ganz undramatische Entwicklung auf. Es ließ sich nicht nur kein

59 Die geringfügigen Unterschiede zu den in einer früheren Publikation (Streng, FS Rolinski, 2002, S. 487, 492 f., 497) vorgestellten Berechnungen auf der Basis derselben Daten ergeben sich aus der Nutzung hier der Variable "Bildungsschicht" (vgl. auch oben Fn. 55) sowie einer Recodierung der Projektionsneigungs-Variable.

Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule

99

signifikanter Anstieg der Schulgewalt feststellen, sondern sogar eine ganz leicht sinkende Tendenz. Dies steht zur in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesenen Entwicklung bei den Körperverletzungsdelikten in deutlichem Gegensatz. Freilich bestätigen andere deutsche Schülerbefragungen und zusätzlich die Entwicklung bei schulischen Versicherungsfällen den hier vorgestellten Befund. Eine Gegenüberstellung der mittels multipler Regressionsanalyse errechneten optimalen Erklärungsmodelle für Gewaltneigung ergab erwartungsgemäß im Detail Unterschiede. Allerdings blieben die schon anhand der Erstbefragung nachgewiesenen Erklärungsfaktoren der Gewaltwahmehmung in der Schule, das Ausmaß an selbst erlittenen Viktimisierungen, die Geschlechtsvariable, die Macho-Haltung des Befragten sowie die Schulart auch in der Zweitbefragung statistisch gesichert. Bezüglich der Gewalthandlungen durch Migranten(kinder) ließ sich bereits in der Erstbefragung eine Höherbelastung festhalten. In der Zweitbefragung hat sich das bestätigt. Freilich tritt in Konkurrenz zu anderen aussagekräftigen Erklärungsvariablen der Faktor Migration zurück. Allein schon das Einführen der Variablen Geschlecht und Hauptschule (nein/ja) als intervenierende Variablen führt zu drastischer Reduzierung der Erklärungspotentiale des Migrationsstatus für aggressives Schülerverhalten - ohne dass damit bereits eine schlüssige Erklärung dieses Effekts geliefert wäre. Die abschließende Untersuchung zu Hintergründen fremdenfeindlicher Haltung diente der Überprüfung der Projektionstheorie. Tatsächlich ergab sich hierbei ein der Theorie entsprechender Befund: Wer dazu neigt, für eigene Probleme die Verantwortung anderen zuzuweisen, tendiert zu Fremdenfeindlichkeit. In bemerkenswert deutlicher Form tritt dieser Zusammenhang bei erlittenen Ausgrenzungs- oder Deklassierungserfahrungen auf.

Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr FRIEDER DüNKEL

I. Einleitung Einer der zahlreichen Forschungsschwerpunkte des Jubilars betrifft die Problematik des Alkohols im Straßenverkehr. 1 Er gehörte neben Günther Kaiser 2 zu den wenigen juristischen Kriminologen, die sich intensiv mit der Problematik der Generalprävention wie überhaupt einem vernünftigen kriminalpolitischen Umgang in diesem Delinquenzbereich auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage auseinandersetzten. Seit 1997 ergeben sich damit parallele Forschungsinteressen mit der interdisziplinären Greifswalder Forschergruppe, über deren Ergebnisse nachfolgend berichtet werden soll. Die Greifswalder Forschergruppe entstand aus einer fakultätsübergreifenden Kooperation im Rahmen des von Medizinern geführten Forschungsverbunds "Community Medicine", der seinerzeit größten bundesdeutschen epidemiologischen Gesundheitsstudie. Aus kriminologischer Perspektive wurde das Teilprojekt "Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz" entwickelt, eine Kooperation der Lehrstühle für Kriminologie, für Sozialpsychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie (Prof. Dr. Manfred Bornewasser) und dem Institut fur Rechtsmedizin (Prof. Dr. Eberhard Liegnitz, Dr. Klaus Philipp). Bei der Einrichtung dieses interdisziplinären Forschungsschwerpunkts im Jahr 1997 ging es zunächst um umfassende epidemiologische, medizinische und sozialökologische Fragestellungen zum

I Vgl. z.B. Schäch NStZ 1991, 11 ff.~ ders. Generalprävention und Fahren unter Alkohol, in: Krüger (Hrsg.), Fahren unter Alkohol in Deutschland, 1998, S. 161 ff.~ ders. Spezial- und generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr, in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 111 ff~ ders. Neue Kriminalpolitik 112001, 30 ff. 2 Vgl. Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970.

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Frieder Dünkel

Alkoholkonsum in der Region Vorpommem (aus kriminologischer Sicht u. a. das Trink- und Fahrverhalten, s. u. 11.).3

11. Ausgangslage der Greifswalder Forschungen zu Alkohol im Straßenverkehr Das erste teilweise grundlagen-, teilweise praxisorientierte Teilprojekt im Forschungsschwerpunkt "Community Medicine" der Universität Greifswald betraf die Problematik von Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz in der Region Vorpommem. Ausgangspunkt unserer Studie war die Beobachtung, dass Mecklenburg-Vorpommem seit Anfang der 1990er Jahre den höchsten Anteil von Alkoholunfällen im Straßenverkehr im Vergleich aller alten und neuen Bundesländer aufwies. Der Anteil von Alkoholunfällen an allen Verkehrsunfällen mit Personenschaden lag 1993 mit 20°A> mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern (9%) und auch deutlich über dem ostdeutschen Durchschnitt von 16%.4 Hinzu kam, dass der Anteil der dabei Getöteten mit 25-30% extrem hoch war. Die Zahl der Verletzten im Straßenverkehr hat sich unmittelbar nach der Wiedervereinigung in Mecklenburg-Vorpommem nahezu verdreifacht, die Zahl der Getöteten mehr als verdoppelt. Mit der verbesserten Motorisierung (sicherere Autos etc.) ist die Zahl von Unfalltoten seit 1993 zwar entsprechend dem bundesweiten Trend rückläufig, jedoch wies und weist das Bundesland Mecklenburg-Vorpommem nach wie vor die höchsten Belastungszahlen alkoholbedingter Verkehrsdelinquenz auf. Dies war Anlass genug, um das o. g. Forschungsprojekt zu initiieren. In einem ersten Schritt wurden 214 im Zeitraum Oktober 1998 bis Mai 1999 polizeilich auffällig gewordenen Verkehrsdelinquenten, bei denen eine Blutalkoholkontrolle angeordnet worden war, mit einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (nur Autofahrer) der epidemiologischen Untersuchungsgruppe der sog. regionalen Basisstudie verglichen. Wie zu erwarten stellte die Gruppe der alkoholauffälligen Autofahrer eine in mehrfacher Hinsicht spezifische Population dar (untere soziale Milieus, Dominanz männlicher Fahrer, vermehrt risikoorientierte Einstellungen und Verhaltensdispositionen etc.). 5 Erwartbar unterschiedlich war der durchschnittliche Alkoholkonsum: Die Verkehrsauffälligen gaben 59g/Tag an, in der Ver-

3 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel in: Egg/Geisler (Fn. 1), S. 127 ff; Dünkel u. a. Neue Kriminalpalitik 2001, Heft 1,32 ff.; Dünkel in: Radi (Hrsg.), Recht und Wirkung. Greifswalder Beiträge zur Rechtswirkungsfarschung, 2002, S. 109 ff., 136 ff. 4 Schöch (Fn. 1) 2001, S. 29; Dünkel u. a. (Fn. 3),32 f. 5 Dünkel u. a. (Fn. 3), 32 f.

Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr

103

gleichsgruppe waren es "nur" 32g/Tag. Dies entspricht einem lahreskonsum von knapp 27 Litern reinen Alkohols vs. knapp 15 Litern in der Vergleichsgruppe. 6 Damit stellte die Gruppe der alkoholauffälligen Verkehrsteilnehmer eine Extremgruppe selbst im Hinblick auf den in Ostdeutschland generell erhöhten Alkoholkonsum dar. Auf der Ebene von Persönlichkeitsmerkmalen zeigten sich ebenfalls deutliche Unterschiede, die man mit dem Konzept der "Low-self-control"-Persönlichkeit (i. S. von Gottfredson und Hirschi) beschreiben kann. 7 Die Unterschiede betrafen vor allem eine niedrigere Verhaltenskontrolle und Normbindung, während die Furcht vor Strafe nicht unterschiedlich ausgeprägt war. 8 Der auch von Schöch berichtete Befund, dass die Verwerflichkeit alkoholisierten Fahrens in Ostdeutschland sogar tendenziell ausgeprägter war als in den alten Bundesländern (hier: Unterfranken im Vergleich zu Thüringen, 1992-94) entspricht unseren Ergebnissen einer erhöhten Diskrepanz von Einstellung und Verhalten in den ostdeutschen Bundesländern, was z. T. mit der seinerzeit geringeren Kontrolldichte, aber auch der spezifischen Problemgruppe sog. fahrender Trinker bzw. unter 24-jähriger junger Männer mit ausgeprägtem Trink- und Risikoverhalten zusammenhing. 9 In der Greifswalder Studie konnten anhand biologischer Blutmarkeranalysen sowie Alkoholscreening-Tests unterschiedliche Alkoholfahrergruppen identifiziert werden. Ca. 40% waren der Gruppe der harten (organisch geschädigten) Trinker ("fahrende Trinker") zuzuordnen und weitere 30% der Gruppe der "Alkoholmissbräuchler" oder robusten Trinker. Nur 30% der polizeilich registrierten Trunkenheitsfahrer wiesen keine akuten Besonderheiten bei den alkoholbezogenen Messungen auf. Zusätzlich zu dem schädlichen Umgang mit Alkohol wiesen die Trunkenheitsfahrer eine deutlich

6 Kraus/Bauernfeind Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychotroper Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland, 1997, ermittelten für diesen Zeitraum für die alten Bundesländer einen Durchschnitt von ca. 9 Litern, für die neuen Bundesländer von ca. 16 Litern reinen Alkohols. 7 Gottfredson/Hirschi A general theory of crime, 1990; zu den persönlichkeitsbezogenen Ausprägungen in der Greifswalder Studie vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3), 33 f; mit Blick auf die Gesamtgruppe von 276 alkoholauffälligen Fahrern vs. 330 Teilnehmern der epidemiologischen Basisstudie vgl. Glitsch Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz, 2003, S. 111 ff 8 Vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3), 34; letzteres Ergebnis mag datnit zu erklären sein, dass die Norm, nicht alkoholisiert zu fahren, allgemein sehr hohe Akzeptanz erfährt, vgl. hierzu bereits Karstedt Normbindung und Sanktionsandrohung. Eine Untersuchung zur Wirksamkeit von Gesetzen am Beispiel der Alkoholdelinquenz im Verkehr, 1993; ferner zusammenfassend Schäch 1998 (Fn. 1), S. 179; ders. 2000 (Fn. 1), S. 117 f, 124, und die "abschreckende" Wirkung vor allem vom Führerscheinentzug ausgeht, während der regelmäßig verhängten Geldstrafe kein zusätzliches Abschreckungspotential zukommt, vgl. hierzu auch Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 148 ff, 158~ Schäch 2000 (Fn. 1), S. 113 ff 9 Vgl Schäch 2000 (Fn. 1), S. 117 ff.; Dünkel u. a. (Fn. 3),32 m.w.N.

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Frieder Dünkel

erhöhte Belastung durch aktuelle kritische Lebensereignisse (Tod einer Bezugsperson, anderweitiger Partnerverlust, Krankheiten u. ä.) auf.

111. Motivationslagen und Entscheidungsprozesse bzgl. Alkoholfahrten im Straßenverkehr Die Frage, wie man Alkoholfahrten verhindern kann, lässt sich beantworten, wenn man die Motivationslagen kennt, die in einer konkreten Entscheidungssituation relevant sind. Bereits unsere ersten Erhebungen hatten gezeigt, dass Alkoholfahrer sich von den untersuchten Vergleichsgruppen deutlich unterscheiden (s. o. 11.). U. a. wurden in von uns simulierten Entscheidungssituationen deutlich weniger alternative, d. h. normkonforme Handlungsmöglichkeiten kognitiv repräsentiert. 10 Auf der Grundlage der kriminologisch relevanten Theorie des geplanten Verhaltens (TOPB) von Ajzen und Fishbein ll wurde die Tunkenheitsfahrt als intendierter Akt verstanden, der durch Überzeugungen und Annahmen ("beliefs") hinsichtlich der Wichtigkeit und des erwarteten positiven oder negativen Ausgangs der Handlung (z.B. "Auf dem kurzen Weg passiert schon nichts"), durch soziale Normen (z.B. "Ich bekomme Ärger mit meiner Familie, wenn ich erwischt werde!") und durch situative Bedingungen (z.B. "Ich habe meiner Freundin versprochen, dass ich fahre") determiniert wird. Darüber hinaus sind die Lernerfahrungen bzgl. vorangegangener Trunkenheitsfahrten (z.B. "Hier auf dem Land gibt es nie Kontrollen") und eine fundamentale Bereitschaft, ein solches Delikt überhaupt zu begehen (Grad der Normbindung), von Einfluss auf die Entscheidung in einer konkreten Situation. Die herausragende Bedeutung der Normbindung einerseits und der Existenz strafrechtlicher Konsequenzen wurde bestätigt. Ebenso wie in anderen (oben erwähnten) Studien zeigte sich, dass die nicht belastete Vergleichsgruppe keinerlei und selbst unter Notlagensituationen (Fahrt einer schwerkranken Person ins Krankenhaus) kaum Neigungen zu Alkoholfahrten zeigt, während die AIkoholmissbräuchler je nach Situation und eingeschätztem Entdeckungsrisiko "verftihrbar" bzw. "abschreckbar" sind. Dabei spielt hinsichtlich der 10 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 143~ vgl. auch Stephan in: Egg/Geissler (Fn. 1), S. 161 ff., der auf die weitgehenden Fehlvorstellungen in der Bevölkerung hinsichtlich konsumierter Alkoholmengen und den damit erreichten BAK-Werten verweist. Alkoholmissbräuchler unterschätzen, normkonforme Normalbürger überschätzen in Trinksituationen die Trinkmengen, was im einen Fall bahnend, im anderen hemmend auf die Entscheidung zur Trunkenheitsfahrt wirkt. 11 Vgl. Aijzen in: Kuhl/Beckmann (Hrsg.), Action-coi1trol: from cognition to behavior, 1985, S. 61 ff.~ Ajzen/Fishbein Psychological Bulletin 1977, 888 ff.~ dies. European Review ofSocial Psychology 2000, 1 ff.

Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr

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strafrechtlichen Sanktionen der erwartete Führerscheinentzug die herausragende Rolle, während die Geldstrafe an sich von untergeordneter Bedeutung ist. 12 Man könnte kriminalpolitisch gedacht sogar auf die Geldstrafe verzichten, ohne dass es zu einer Einbuße an generalpräventiver Effizienz kommen dürfte, zumal die finanziellen Belastungen bzgl. Nachschulungen und der Wiedererlangung des Führerscheins häufig weit über derjenigen durch die Geldstrafe liegen. In diesem Forschungskontext ist die Dissertation von Glitsch, der eine empirische Überprüfung der Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen/Fishbein, s.o.) vornahm, entstanden. 13 Im Vergleich von rechtsmedizinisch auffälligen Alkoholfahrern mit der repräsentativen Bevölkerungsgruppe aus der Gesundheitsstudie in Mecklenburg-Vorpommern konnte Glitsch die Theorie gut bestätigen: Grundlegende Unterschiede werden in den "beliefs", d. h. grundlegenden Einstellungen zur Trunkenheitsfahrt ("Normbindung~') einerseits sowie der Verarbeitung von situativen Faktoren und Anreizbedingungen in der konkreten Entscheidungssituation, moderiert durch den vorgestellten Intoxikationsgrad und das eingeschätzte Entdeckungsrisiko, deutlich. In der Tat gelang es Glitsch, mit der Analyse handlungsleitender Kognitionen die Häufigkeit von Alkoholfahrten vorherzusagen. "Bequemlichkeit und Schwierigkeiten der Situation, als potentiell bahnende Motive und Zurückhaltung/Selbstkontrolle und Angst vor" (sozialen ebenso wie strafrechtlichen) "Konsequenzen als potentiell hemmende Motive sind bedeutsame Prädiktoren", wenngleich die Einbeziehung weiterer Persönlichkeitsvariablen und Ausprägungen sozialer Milieus mit den entsprechenden Lebensstilen und Einstellungen das Vorhersagemodell noch weiter optimieren könnte. 14 Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass die von den Befragten mitgeteilten "Einschätzungen im Entscheidungsprozess retrospektive Zuschreibungen im Sinne der Attribuierungstheorie" sind. "Ob der Prozess des Abwägens und der Entscheidungsfindung tatsächlich vor einer Trunkenheitsfahrt stattfindet, muss offen bleiben." 15 Man wird annehmen dürfen, dass mit zunehmendem Alkoholisierungsgrad die Entscheidungsprozesse reduziert und von Gewohnheiten sowie mangelnden normkonformen Alternativen dominiert werden. Jedoch stellt dies die Bedeutung der gewonnenen Ergebnisse keineswegs in Frage. Im Gegenteil folgt aus der im nüchternen Zustand der Befragungssituation ermittelten differenzierten Abwägung, dass solche Prozesse trainiert und damit auch in Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 155 f. Vgl. Glitsch Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz. Eine Anwendung der Theorie des geplanten Verhaltens auf das Problem des Fahrens unter Alkohol unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses von verminderter Selbstkontrolle, 2003. 14 Vgl. Glitsch (Fn. 13), S. 156. 15 Vgl. Glitsch (Fn. 13), S. 157. 12 13

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Frieder Dünkel

kritischen Situationen repräsentierbar gemacht werden können. Darauf bauen zahlreiche kognitiv-behaviourale Behandlungsprogramme für Straftäter auf. 16

IV. Der Greifswalder Interventionsansatz frühzeitiger Beratung und "Coaching gegen Prämie" In der Folge wurden auf der Basis des ermittelten außerordentlich problematischen Trink- und Fahrverhaltens in Mecklenburg-Vorpommem spezifische Interventionsstrategien entwickelt und durch die Forschung begleitet, die einerseits das problematische Trinkverhalten zu reduzieren und andererseits eine frühzeitige Rehabilitation und Wiedererlangung der Fahreignung zu ermöglichen anstrebten. Sanktionspolitisch handelt es sich um das Ausloten von Gestaltungsmöglichkeiten der Sanktionierung im Kontext von positivem Nachtatverhalten (u. a. Nachschulungskurse; Abkürzung der Sperrfrist i. S. v. § 69 Abs. 7 StGB). Forschungsleitender Ausgangspunkt war dabei die Beobachtung, dass nach einer Trunkenheitsfahrt bis zur Verurteilung (motivationspsychologisch) wertvolle Zeit vergeht, ohne dass sich der Trunkenheitstäter mit rehabilitativen Maßnahmen auseinandersetzt. Die Mehrzahl von Trunkenheitsfahrern findet (wenn überhaupt) erst nach einer strafrechtlichen Sanktionierung zu Rehabilitationsmaßnahmen. Das in Greifswald entwickelte Interventionsmodell strebte daher die unmittelbare Kontaktnahme mit den auffalligen Trunkenheitsfahrern an, um sie im Rahmen eines von einem Mitarbeiter angebotenen "Coaching" frühzeitig der geeigneten Maßnahme zuzuführen. 17 Rechtzeitige Rehabilitationsmaßnahmen (z. B. Nachschulungskurse) sollten im Idealfall schon bei der Strafzumessung, zumindest aber im Hinblick auf eine Sperrfristverkürzung nutzbar gemacht werden. Verstärkt wurde der frühzeitige Interventionsansatz durch eine Prämie für straffreies Verhalten, indem die Coaching-Gebühren nach dreijährigem straffreien Verhalten zurückerstattet werden. 18 Damit sollte ein spezifischer Anreiz zu normtreuem Verhalten gesetzt werden, indem der Betroffene die gesamte sog. Coaching-Prämie wieder zurückerhält. Das Projekt wurde im Zeitraum November 2002 bis Mai 2005 von der DFG unter dem Titel "Aktives Gesundheitsmanagement im Kontext von 16 Aus dem Bereich des Jugendstrafrechts beispielsweise das Projekt "Denkzeit" für mehrfachauffällige (Gewalt-)Täter, vgl. hierzu Körner/Friedmann Denkzeit für delinquente Jugendliche, 2005. Zur Evaluation bestehender Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen für auffällige Kraftfahrer im internationalen Vergleich siehe Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel in: Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und Sicherheit, Heft M 196, S. 77 ff. 17 Vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3),35 f.; Dünkel (Fn. 3), S. 140 ff. 18 Vgl. i. e. Dünkel (Fn. 3), S. 136 ff.

Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr

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Straftaten unter Alkoholeinfluss am Beispiel Trunkenheit im Straßenverkehr" gefördert. 19 Das Forschungsdesign sah ein ausgeklügeltes und differenziertes System der Motivierung von alkoholauffalligen Verkehrsteilnehmern vor. Bei der Erprobung des Greifswalder Modells erwies sich eine pro-aktive Informationsstrategie als wirksam zur signifikanten Erhöhung der Teilnehmerzahlen. 20 Das pro-aktive Vorgehen wurde auf drei Ebenen gewählt und hat sich empirisch als effektiv erwiesen:

1. Treatment "ln/oblau" Die frühzeitige Information der Trunkenheitsfahrer führte zu einer signifikanten Erhöhung der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen [Che(l, N=434) = 10,05; p Startseite -> Presse -> Juli -> 25.07.2006 (letzter Zugriff am 3.3.2010).

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2. Verfassungswidrigkeit von § 45 JGG Weisen schon die unterschiedlichen Diversionstagsmodelle auf die Existenz regional sehr unterschiedlicher Einstellungspraktiken hin, hat die eigentlich nur ergänzend untersuchte Häufigkeit, mit der an den einzelnen Standorten insgesamt von den einzelnen Absätzen des § 45 JGG Gebrauch gemacht wurde, eine schlichtweg nicht mehr hinnehmbare Anwendungsdivergenz offenbart. Sie besteht darin, dass mancherorts § 45 Abs. 1 JGG, andernorts dagegen Abs. 2 der Regeleinstellungsfall ist, was sogar so weit geht, dass an zwei Standorten mit exakt der gleichen Quote von 83,5 % jeweils folgenlos bzw. mit erzieherischen Maßnahmen eingestellt wurde. Derartige Diskrepanzen wird man nicht ernsthaft mit einem entsprechend abweichenden Delikts- und Täterspektrum erklären können,30 zumal die untersuchten Diversionstagsfalle keine Anhaltspunkte für derart gravierende Strukturunterschiede zwischen den Stando11en ergeben haben. Daher drängt sich die Erklärung auf, dass die Unterschiede durch individuelle Sanktionspräferenzen 31 zustande kommen, aber auch mit dem jeweiligen Fallaufkommen 32 zusammenhängen. In einer Großstadt mit einer Vielzahl von Fällen mag ein größerer Druck zur Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG bestehen als in weniger belasteten Regionen, in denen der Wunsch und die Kapazitäten vorhanden sind, auch auf geringfügigere Jugenddelinquenz "spürbarer" zu reagieren. Indes kann dies kein rechtlich zulässiges Differenzierungskriterium sein 33 und muss es schlichtweg als eine Umgehung des § 45 JGG zugrunde liegenden Subsidiaritätsprinzips angesehen werden, wenn an einern Standort in drei Jahren nur knapp 9 % der Diversionsfälle nach Abs. 1 eingestellt wurden. Nun ist zwar schon seit längerem bekannt, dass die Raten von § 45 JGG sowohl insgesamt als auch im Hinblick auf die Verteilung der Einstellungsvarianten nicht nur im Ländervergleich,34 sondern auch und in besonderer Weise zwischen LG-Bezirken, ja sogar innerhalb derselben Staatsanwaltschaft differieren. 35 In der hier ermittelten Größenordnung ist die Rechtszersplitterung 36 jedoch extrem und bekommt vor dem Hintergrund des unter30

Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn. 7a~ Hein:: DVJJ-J 1998, 245, 253.

31 Hein:: a.a.O., 255. 32 Vgl. Grote Diversion im Jugendstrafrecht, 2006, S. 63. 33 Vgl. Diemer/Schoreit/Sonnen Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 45 Rn 31. 34 Ausweislich der Staatsanwaltsstatistik 2008, Tabelle 2.2.1, schwankt der Anteil der Einstellungen nach Abs. 1 an allen Einstellungen nach § 45 JGG derzeit zwischen 19,5 % in Bayern und 71,9 % in Berlin bzw. der von Abs. 2 zwischen 22,0 % (Bremen) und 63,4 % (Rheinland-Pfalz). 35 Nachweise bei Hein:: (Fn. 30), 253 ff. und ZJJ 2005, 166, 174~ vgl. ferner Grote (Fn. 32), S. 62 ff., 339 f. 36 OstendorfFS Böhm, 1999, S. 642.

§ 45 JGG -- Qua vadis?

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suchten Diversionsmodells zusätzliches Gewicht. Stellt doch die prozedurale Aufladung der Diversionstage, die auf ähnliche Wirkungen abzielt wie das jugendrichterliche Verfahren nach § 45 Abs. 3 JGG und damit zwischen Abs. 2 und 3 steht, zweifellos eine erhebliche Steigerung der Eingriffsintensität dar, die an einem Standort schon den Ersttäter eines geringfügigen Ladendiebstahls trifft, gegen den andernorts nach Abs. 1 verfahren wird. Da sich die festgestellte eklatante regionale Rechtsungleichheit in die Befunde früherer Studien zu lokalen Diversionspraktiken einreiht und insbesondere Erkenntnisse über die uneinheitliche Rechtsanwendung in Nordrhein-Westfalen 37 bestätigt, wird man nicht länger davon sprechen können, dass sich die seit vielen Jahren diskrepanten Diversionsraten der Bundesländer "noch im Rahmen der bei Ermessensentscheidungen erreichbaren Gleichbehandlung halten".38 Es handelt sich vielmehr um eine nicht mehr akzeptable Ausprägung einzelner "Land- und Stadtrechte", die den Vorgaben, die das BVerfG in seinem Cannabis-Beschluss gemacht hat, nicht entsprechen. Dies führt zu dem Schluss, dass § 45 JGG aufgrund seiner Unbestimmtheit,39 die durch die Diversionsrichtlinien der Länder offensichtlich nicht kompensiert wurde, keine ausreichende Steuerungswirkung entfaltet hat und daher nicht (mehr) verfassungskonform ist. Das BVerfG hatte die Länder seinerzeit mit Blick auf § 31a BtMG in die Pflicht genommen, durch Verwaltungsvorschriften für "eine im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen", dem Gesetzgeber aber zugestanden, dass er zunächst abwarten darf, ob sich eine einheitliche Rechtsanwendung einstellt oder "ob weitere gesetzliche Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen erforderlich sind. "40 Diese Wartezeit dürfte jetzt, nämlich 16 Jahre nach Erlass des CannabisBeschlusses, mehr als abgelaufen sein. Zwar gibt es in fast allen Bundesländern zusätzlich zu den vereinbarten bundeseinheitlichen Richtlinien zu § 45 JGG Diversionsrichtlinien, doch haben diese weder bundes- noch landesweit zu der vom BVerfG geforderten Einheitlichkeit geführt, was auch nicht verwunderlich ist, da zwischen den Richtlinien ganz erhebliche Unterschiede sowohl im Hinblick auf die Regelungs~iefe als auch die konkreten Regelungsinhalte bestehen. 41 Man kann also vermuten, dass es nicht etwa 37 Ludwig-Mayerhofer und Libuda-Köster, beide in: Albrecht (Hrsg.), Inforrnalisierung des Rechts, 1990, S. 213 bzw. 308. 38 Schöch (Fn. 11), S. 130. 39 Ostendorf(Fn. 36), S. 642~ vgl. auch Nix-Rzepka, Kurzkornlnentar zum JGG, 1994, § 45 Rn. 32. 40 BVerfGE 90, 145, 191. 41 Eine aktuelle Analyse der Divergenzen liefert Linke NStZ 2010 (voraussichtlich Heft 8)~ zuvor bereits Heinz DVJJ-J 1999,261 ff. So werden beispielsweise in Rheinland-Pfalz contra legern nur Vergehen für grundsätzlich einstellungsfahig gehalten, in Baden- Württemberg,

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trotz, sondern gerade wegen der Diversionsrichtlinien der Länder zu einer abweichenden Einstellungspraxis gekommen ist, die divergierenden Einstellungsraten also die Folge divergierender Richtlinien sind. 42 Diese Erklärung bietet sich insbesondere für die in der vorliegenden Untersuchung aufgedeckten regionalen Schwankungen bei der Anwendung der ersten beiden Einstellungsvarianten von § 45 JGG an, gehört Nordrhein-Westfalen doch zu den Bundesländern, deren Richtlinien im Unterschied zu anderen Ländern keinerlei Vorgaben für die Abgrenzung zwischen Abs. 1 und 2 machen43 und somit Raum für die Entstehung lokaler Diversionskulturen geben. Die uneinheitliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht liegt auch nicht etwa auf einer anderen Ebene als die vom BVerfG seinerzeit beanstandeten Unterschiede bei der betäubungsnlirtelrechtlichen Einstellung. Zwar ging es in dem Cannabis-Beschluss primär um die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit des Erwerbs und Besitzes kleiner Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch44 und um den Spielraum des Gesetzgebers, zwischen einer materiellen und prozessualen Lösung 45 wählen zu dürfen. Doch abgesehen davon, dass auch die Strafwürdigkeit etwa eines ersten Ladendiebstahls oder einer Schwarzfahrt keineswegs auf der Hand liegt, gelten die Ausführungen des BVerfG zur gleichmäßigen Rechtsanwendung für jede Form der staatsanwaltlichen Diversion. 46 So nimmt das BVerfG nicht nur auf die § 45 JGG strukturell verwandten §§ 153 ff. StPO Bezug,47 sondern begründet die Vereinheitlichungspflicht ganz allgemein mit der Eingriffsqualität strafrechtlicher Maßnahmen. Es handele sich bei Einstellungsentscheidungen "um das den Einzelnen besonders belastende Gebiet der Strafverfolgung".48 Insoweit ist zu bedenken, dass ja nicht nur die Opportunitätsentscheidung als solche unterschiedlich tief in die Rechtssphäre des Beschuldigten ein-

Hamburg und Thüringen vorsätzliche Körperverletzungsdelikte generell ausgeschlossen, was ebenso eine unzulässige untergesetzliche Reichweitenbeschränkung des § 45 JGG darstellt. Die Wertgrenzen für die Diversionseignung von Diebstahlstaten schwanken zwischen 25 und 150 €, wobei nur teilweise eine weitere Abschichtung nach den einzelnen Varianten von § 45 JGG erfolgt. Abweichungen zeigen sich außerdem bei der Behandlung von Wiederholungstätern. 42 Beck/Spieß MschKrim 1994, 91 kamen für Baden- Württemberg sogar zu dem Ergebnis, dass sich die Spannweite der Diversionsraten nach der Einführung von Diversionsrichtlinien noch vergrößert hat. 43 Näher dazu Linke (Fn. 41). 44 BVerfGE 90, 145, 187 f. 45 BVerfGE 90, 191~ zum breiten Spektrum der Entkriminalisierungstechniken Schöch FS Schüler-Springorum, S. 247 ff. 46 Ebenso Grate (Fn. 32), S. 64~ Hein::: (Fn. 30),245. 47 BVerfGE 90,190. 48 BVerfGE 90, 191.

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dringt, sondern der Unterschied zwischen folgenloser und Einstellung mit erzieherischen Maßnahmen auch präjudizielle Wirkungen fiir das künftige Entscheidungsverhalten der Staatsanwaltschaft hat. Die Sanktionsspirale dreht sich mit anderer Geschwindigkeit, je nachdem, ob schon einmal nach § 45 Abs. 1 oder 2 JGG eingestellt wurde.

3. Reformperspektiven: Stärkung, Begrenzung und Vereinheitlichung staatsanwaltlicher Diversionsmacht a) Verantwortung des Gesetzgebers Da nicht damit gerechnet werden kann, dass sich die Bundesländer mit ihren seit Jahren gepflegten Diversionsphilosophien demnächst auf gleichermaßen einheitliche wie differenzierte Richtlinien verständigen werden,49 ist der vom BVerfG angedeutete Bedarf fur "gesetzliche Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen" unabweisbar. Die Sch\vierigkeit einer solchen Neuregelung 50 besteht nun augenscheinlich darin, der Praxis einen Diversionsrahmen zu geben, der einerseits genügend flexibel ist, um auf Besonderheiten des Einzelfalls, das Kriminalitätsaufkommen und das jeweilige Angebot an erzieherischen Maßnahmen Rücksicht nehmen zu können, und der auch fur die Erprobung neuer Diversionsprojekte offen bleibt, aber andererseits für eine gleichmäßigere Rechtsanwendung sorgt und die faktische staatsanwaltliche Sanktionsmacht insgesamt auf ein solideres gesetzliches Fundament stellt. Hier kann daher kein ins Einzelne gehender Reformvorschlag unterbreitet werden, der u.a. eine gründliche vergleichende Auswertung der Länderrichtlinien und ihrer tatsächlichen Steuerungseffekte für die Einstellungspraxis sowie der Forschungslage zu bisherigen Diversionsprojekten voraussetzen würde. 51 Vielmehr sollen nur erste Überlegungen zu den möglichen Grundzügen einer Reform des § 45 JGG angestellt werden, die auf den bei der Erforschung der Diversionstage gewonnenen Praxiseinsichten fußen.

b) Akzeptanz staatsanwaltlicher Diversionskompetenz Anders als es die bisher eher kritische Bestandsaufnahme dieses Diversionsmodells vermuten lässt, bestehen die Reformüberlegungen nicht darin, ein Weniger, sondern ein kontrolliertes Mehr an staatsanwaltlicher Ent49 Dies fordert Feigen ZJJ 2008, 349, 355. 50 Diesen Schritt überspringt Hein:: (Fn. 41), 265, der im Fall des Scheiterns einer Richtlinienvereinheitlichung die Ersetzung der verfahrensrechtlichen Entkriminalisierung durch eine materiellrechtliche Lösung für zwingend hält. 51 Vgl. Dölling in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 247.

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scheidungskompetenz vorzusehen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Staatsanwaltschaft zu der dominierenden Erledigungsinstanz für weite Teile der Jugendkriminalität geworden ist und ihre Sanktionskompetenz zu Lasten der Diversion unter Beteiligung des Jugendrichters ausgebaut hat. 52 Selbst wenn man es wollte, könnte man diese Entwicklung solange nicht rückgängig machen, wie einerseits der Trend zur Ausweitung der formellen Verbrechenskontrolle anhält und es andererseits bei der bisherigen Personalausstattung der Justiz bleibt. Ungeachtet dieser faktischen Zwänge muss es aber auch nicht per se Argwohn und Misstrauen hervorrufen, wenn Staatsanwälte eine besondere Kompetenz im Umgang mit Jugendkriminalität reklamieren. Vielerorts ist es - auch ohne Diversionstag - zu einer beachtlichen Vernetzung und kommunalen Einbindung der in das Ermittlungsverfahren involvierten Behörden und freien Träger gekommen. Es besteht daher eine Reaktions infrastruktur, die im gerichtlichen Verfahren nicht (mehr) in gleicher Weise dienstbar gemacht werden kann. Die in § 45 Abs. 3 JGG geregelte qualifizierte Diversion durch jugendrichterliche Beteiligung findet in der Praxis offensichtlich nur wenig Anklang, ja ist mancherorts 53 geradezu totes Recht. Dafür dürften nicht nur der Abstimmungsaufwand und die mit der Richterbeteiligung verbundene (erhebliche) Verzögerung der Verfahrenserledigung verantwortlich sein. Vielmehr darf bezweifelt werden, dass der "Auftritt" eines Richters im Ermittlungsverfahren tatsächlich einen besonderen erzieherischen Effekt hat, den die anderen Träger der sozialen Kontrolle in diesem Verfahrensabschnitt nicht erzielen können. Hinzu kommt, dass die von der Staatsanwaltschaft angeregten Maßnahmen ohnehin fast immer von den Jugendrichtern übernommen werden. 54 Von daher ist zu fragen, ob überhaupt noch ein Bedürfnis dafür besteht, den Jugendrichter in die staatsanwaltliche Diversion einzubinden oder die Diversion im Ermittlungsverfahren nicht ausschließlich dem Staatsanwalt überlassen werden sollte. Vermutlich wird auch schon jetzt Anklage erhoben, wenn der Staatsanwalt bei einem ansonsten diversionsgeeigneten Fall ausnahmsweise den Einsatz richterlicher Autorität für erforderlich hält, zumal es in erster Linie die Förmlichkeiten der Hauptverhandlung sein dürften, die bei Jugendlichen Eindruck machen. Es bleibt freilich das berechtigte Anliegen, besonders eingriffsintensive Erziehungsrnaßnahmen dem Richter vorzubehalten sowie grundsätzlich das Problem einer "strafenden" Staatsanwaltschaft. 52

Heinz (Fn. 30), 250.

So gut wie keine Bedeutung hat § 45 Abs. 3 u.a. in Berlin (0,1 % aller Einstellungen nach § 45 JGG, berechnet nach Tab. 2.2.1 der Staatsanwaltsstatistik 2008), Rheinland-Pfalz (0,2 0/0), Sachsen (0,4 %), Sachsen-Anhalt und Niedersachsen Ue 0,9 %) sowie in Thüringen (l %)~ 53

Höchstwerte werden dagegen in Bayern (21,5 %) und Schleswig-Holstein (16, 6 %) erreicht. 54 Schäch (Fn. 8), Rn. 68.

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c) Konkretisierung der erzieherischen Maßnahmen und Belehrungspflichten Der folglich notwendige Kompromiss könnte so aussehen, dass der Staatsanwaltschaft einerseits im Gesetz ausdrücklich das Recht zugestanden wird, erzieherische Maßnahmen unter Einschluss der in § 45 Abs. 3 lGG genannten Interventionen selbst anzuregen. Dies entspricht ohnehin der gängigen Praxis und der wohl herrschenden Literaturansicht. 55 Es ist weder praktikabep6 noch trägt es dem § 45 lGG zugrunde liegenden Subsidiaritätsgrundsatz Rechnung, wenn der Staatsanwalt beispielsweise nicht die Möglichkeit hätte, die Erbringung von Arbeitsleistungen oder die Teilnahme an einem Verkehrsunterricht vorzuschlagen. Dies gilt erst recht, wenn man - wie hier angedacht - das formlose jugendrichterliche Erziehungsverfahren abschaffen würde. Die andererseits erforderliche Beschränkung staatsanwaltlicher Diversionsmacht könnte zum einen dadurch erfolgen, dass für besonders eingriffsintensive Erziehungsrnaßnahmen wie etwa Arbeitsleistungen oder Geldzahlungen (enge) Obergrenzen festgelegt werden. 57 Da die Einführung solcher Obergrenzen auch sonst geboten ist, ergäbe sich die Möglichkeit, staatsanwaltliche Erziehungsrnaßnahmen, richterliche Diversion nach § 47 lGG und förmliche richterliche Weisungen nach § 10 Abs. 1 lGG durch gestaffelte Obergrenzen voneinander abzuschichten. Eine weitere Abstufung zwischen den intervenierenden Maßnahmen wäre dadurch möglich, dass zwischen der Einstellungsvoraussetzung "Geständnis" und der in Nr.3 der Richtlinie zu § 45 lGG verwendeten Formulierung "nicht ernsthaft bestreitet" differenziert wird. 58 Auch wenn dies am Entscheidungsdilemma des Beschuldigten nichts ändert und ohnehin gute Praxis sein sollte, empfiehlt sich zum anderen eine explizite Pflicht zur Belehrung über die Freiwilligkeit der angeregten Leistungen und darüber, dass das Gericht im Falle einer Anklage nicht nur über den Tatvorwurf, sondern ggf. auch über die Sanktionierung ohne Bindung an die im Ermittlungsverfahren vorgeschlagenen erzieherischen Maßnahmen entscheidet. 59 Dass eine solche Belehrung ohne jegliche Suggestion zu erfolgen hat, sollte ebenso selbstverständlich wie in allen anderen Belehrungsfallen sein. Schließlich sollte auch auf das Recht der Erziehungsberechtigten hingewiesen werden, die vorgeschlagenen Maßnahmen bzw. (Fn. 7), Rn. 26~ Streng (Fn. 2), Rn. 180~ a.A. Schöch (Fn. 8), Rn. 67. (Fn. 51), S. 250. 57 Vgl. Grote (Fn. 32), S. 71 für Arbeitsstunden und Heinz (Fn. 41), 265. 58 Vgl. zum Streit über das Geständniserfordernis bei § 45 Abs. 2 JGG Schöch (Fn. 8), Rn. 72. 59 Ähnlich Döl!ing (Fn. 51), S. 253. 55 Brunner/Dölling 56 Dölling

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deren (weitere) Erfüllung abzulehnen, aber freilich auch darauf, welche Konsequenzen sich daraus ergeben können. Eine ausdrückliche Zustimmung erscheint dagegen nicht erforderlich. 60 Da sich der Beschuldigte und die Erziehungsberechtigten jederzeit der intervenierenden staatsanwaltlichen Diversion entziehen können, besteht außerdem kein Bedürfnis für ein besonders Rechtsbehelfsverfahren 61 wie auch die obligatorische Hinzuziehung eines Verteidigers 62 letztlich zu einer problematischen Verfahrensreformalisierung 63 fuhren würde. Selbstverständlich darf aber die Einschaltung eines Verteidigers durch den Beschuldigten kein Grund sein, ihm den Zugang zu Diversionsprojekten zu versagen.

d) Verdeutlichung des Stufenverhältnisses der Einstellungsvarianten Um den regionalen Unterschieden bei der Anwendung von § 45 Abs. 1 und 2 JGG, aber auch der bei den Diversionstagen sichtbar gewordenen Gefahr eines qualitativen Net-widening bei neuartigen Diversionsverfahren 64 entgegenzuwirken, muss der Vorrang der folgenlosen Einstellung im Gesetz deutlicher als bisher zum Ausdruck kommen und müssen wenigstens die schon bisher in der Richtlinie Nr. 2 zu § 45 JGG genannten Kriterien gesetzlich verankert werden. 65 Man wird vermutlich gar nicht darum herum kommen, einen neuen § 45 JGG mit mehr oder weniger detaillierten Täterund Tatkatalogen 66 zu versehen und dabei klarzustellen, dass die jugendstrafrechtliche Diversion im Unterschied zu § 153a StPO nicht auf Vergehen beschränkt ist. Die mit einer solchen Konkretisierung der Einstellungsvoraussetzungen verbundene Einschränkung staatsanwaltschaftlicher Einzelfallbeurteilung67 ist der unvermeidbare Preis fur die Erzielung von mehr Rechtsgleichheit und dürfte angesichts dessen, dass die Praxis schon jetzt nach bestimmten - freilich individuell abweichenden - Rastern verfährt,68 nicht allzu hoch sein. Die nötige Flexibilität kann im Übrigen durch Öffnungsklauseln hergestellt werden,69 deren Anwendung allerdings entsprechende Begründungspflichten auslösen muss. 60

Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn 25; Ostendolj(Fn. 36), S. 644.

61 Dafür u.a. van den Woldenberg Diversion im Spannungsfeld zwischen "Betreuungsjustiz" und Rechtsstaatlichkeit, 1993, S. 175 ff.; Breymann DRiZ 1997, 83. 62 Van den Woldenberg a.a.O.; s. auch Viehmann in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung 10 Strafsachen, 1987, S. 108, 110. 63 Vgl. dazu Ostendorf(Fn. 36), 640, 645. 64 Zu dieser Problematik Sabaß (Fn. 10), S. 117. 65 Ähnlich der Vorschlag von Ostendorf(Fn. 36), S. 643. 66 Vgl. Ostendorf(Fn. 6), § 45 Rn. 10, anders aber noch Ostendorf(Fn. 36), S. 643. 67 Breymann ZJJ 2003, 289. 68 Darauf weist zu Recht Linke (Fn. 41) hin. 69 Im Ergebnis ebenso Ostendorf(Fn. 36), S. 643.

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Empfehlen könnte sich außerdem der ausdrückliche Hinweis, dass die Erprobung neuer Diversionsmodelle und erzieherischer Maßnahmen den Vorrang der folgenlosen Einstellung nicht unterlaufen darf und daher für diese Projekte transparente und überprütbare Auswahlkriterien benannt werden müssen. In engem Zusammenhang damit steht die Forderung, dass die Fallauswahl insbesondere bei von der Staatsanwaltschaft angeregten erzieherischen Maßnahmen keinesfalls der Polizei überlassen werden darf, sondern in den Händen der Staatsanwaltschaft liegen muss. Dies bedeutet nicht, dass die Polizei, die ja zunächst den unmittelbarsten Einblick in das Tatgeschehen und die Person des Tatverdächtigen hat, nicht mehr am Auswahlprozess beteiligt sein soll und vor allem bei neuen Diversionsprojekten keine Vorauswahl treffen darf. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Verfahrensherrschaft nicht nur formal ausübt und lediglich "absegnet", was seitens der Polizei vorgeschlagen wurde, sondern die Falleignung jeweils eigenständig überprüft. 70

VI. Schluss Die angedachten Änderungen von § 45 JGG sind weder sonderlich originell noch systemverändernd. Sie laufen im Wesentlichen auf die gesetzliche Absicherung und Einhegung einer schon jetzt üblichen "aktiven'; staatsanwaltlichen Einstellungspraxis und die Normierung dessen hinaus, was man bisher in Richtlinien zu regeln glaubte oder ohnehin "good practice" einer rechtsstaatlichen Strafverfolgung sein sollte. Der begrenzte Spielraum für Modifizierungen des Diversionsrechts ergibt sich daraus, dass sich das Spannungsverhältnis zwischen den unbestrittenen Vorteilen einer informellen Verfahrenserledigung und den gerade aus der Vorverlagerung von Sanktionskompetenzen in das Ermittlungsverfahren resultierenden Gefahren für ein justizförmiges Strafverfahren nicht auflösen, sondern nur abmildern lässt. 71 Erträglich sind diese Spannungen freilich nur dann, wenn sich Staatsanwälte und Staatsanwältinnen stets der besonderen Verantwortung bewusst sind,72 die ihnen mit der Zubilligung von Sanktionskompetenzen übertragen wurde. Trotz aller Unzulänglichkeiten der derzeitigen Praxis, deren Überprüfung nicht nur fortwährende Aufgabe der Forschung, sondern auch des zur Beobachtung der Einstellungspraxis verpflichteten Gesetzgebers ist, "bleibt - aufs Ganze gesehen - die Empfehlung richtig, in konse70 Wie ein solches Verfahren praktisch aussehen kann, beschreiben Sabaß (Fn. 10), S. 91 und HöjJler (Fn. 10), 92 f. 71 Vgl. Streng (Fn. 2), Rn. 179. 72 Zur notwendigen Überzeugungsbildung Hein= (Fn. 41), 266.

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quenter Anwendung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die Straftat eines Jugendlichen im Zweifel eher mit informellen Erledigungsarten zu reagieren. "73

73

Schöch (Fn. 8), Rn. 75.

Überlegungen zur Einführung eines Warnschussarrests aus statistischer Sicht BERT GÖTTING*

I. Einleitung Heinz Schäch hat sich seit vielen Jahren der Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems gewidmet. Vom Gutachten C zum 59. Deutschen Juristentag 1992 in Hannover l bis hin zu seinem Beitrag zu dem vom Bundesministerium der Justiz veranstalteten Jenaer Symposium zum Jugendkriminalrecht 2 ging es ihm stets um eine Fortentwicklung mit Augenmaß und kriminalpolitischem Verantwortungsbewusstsein, gegründet auf stabile wissenschaftliche Erkenntnisse. Ihm ist dieser Beitrag über empirische Erkenntnisse zum Jugendarrest gewidmet. Der Jugendarrest ist im Sanktionensystem des Jugendstrafrechts eine feste Größe. Als Zuchtmittel für diejenigen Jugendlichen gedacht, die zwar eines "scharfen Ordnungsrufes" bedürfen, bei denen aber eine länger dauernde Gesamterziehung und damit die Verhängung einer Jugendstrafe nicht erforderlich ist. Insoweit - dies machen die Normierung der Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe gern. § 27 JGG und das Mindestmaß der Jugendstrafe von sechs Monaten deutlich - ist der Arrest klar von der Jugendstrafe abgegrenzt. Es handelt sich nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht um eine quasi kurze Jugendstrafe. Auch deshalb lässt es das Gesetz nicht zu, diese beiden freiheitsentziehenden Sanktionen miteinander zu kombinieren. Dieser Umstand wird in der politischen Diskussion immer wieder als Manko empfunden. Viele Jugendliche empfanden eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe nicht als Strafe, sondern als Schwäche des Staates. Sie würden diese Sanktion nicht als angemessene Reaktion auf ihre * Der Verfasser ist Regierungsdirektor im Bundesamt für Justiz. Der Beitrag gibt ausschließlich seine eigene Meinung wieder. 1 Titel: "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?" 2 Neue Punitivität in der Kriminalpolitik? in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?, 2009, S. 13 ff.

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Straftat und als "Einladung" zu weiteren Delikten empfinden, "da ja eh nichts passiert". Zudem würden Jugendliche es auch als ungerecht empfinden, wenn beispielsweise von zwei Mittätern einer einen Jugendarrest bekäme und damit seine Strafe absitzen müsste, während der andere mit einer Jugendstrafe zur Bewährung "frei davonkomme". Um all diesen Schwächen des Gesetzes wirksam zu begegnen, sei es erforderlich, dass neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe auch ein Arrest als sogenannter Warnschussarrest verhängt werden könne. Dadurch werde den Jugendlichen nachdrücklich das begangene Unrecht vor Augen geführt und er sehe, was künftig noch auf ihn zukomme, wenn er erneut Straftaten begeht. Mit dieser Argumentation haben verschiedene Antragsteller seit der 14. Legislaturperiode immer wieder entsprechende Gesetzentwürfe zur Reformierung des Jugendstrafrechts eingebracht. 3 Die Diskussion dieses Themas ist ebenso alt, wie sie aktuell ist. Nachdem damit die wesentlichen kriminologischen und kriminalpolitischen Argumente weitgehend bekannt sind, soll in diesem Beitrag auf eine Wiederholung verzichtet werden. 4 Vielmehr wird an dieser Stelle untersucht, in welchem Umfang eine solche gesetzliche Regelung überhaupt rein faktisch die ihr zugedachte Wirkung eines Warnschusses entfalten kann und ob sich neben den bekannten kriminologischen und kriminalpolitischen Argumenten nicht bereits aus der aktuellen Praxis statistische Anhaltspunkte für oder gegen die Annahme der Warnschusswirkung finden lassen. Dazu werden zum einen die Ergebnisse einer vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Zusatzaufbereitung der Strafverfolgungsstatistik ausgewertet, die für die Jahre 2005 und 2006 für alle nach Jugendstrafrecht verurteilten Personen aufschlüsselt, welche Sanktion als schwerste Vorverurteilung eingetragen ist, differenziert nach der (schwersten) aktuellen Sanktionierung. Da lediglich die schwerste Sanktionierung eingetragen ist, erlaubt diese Auswertung bei einer wiederholten Vorverurteilung keine vollständigen Angaben darüber, welche Sanktionen früher bereits verhängt worden sind. Daten zur Anzahl früherer Sanktionierungen liegen ebenfalls nicht vor. Sofern eine Jugend- oder Freiheitsstrafe als schwerste Vorverurteilung eingetragen ist, kann deshalb auch bereits einmal ein Jugendarrest verhängt worden sein. So weisen immerhin 4,3 % aller 2005 und 2006 zu Jugendarrest verurteilten Personen eine Jugend- oder Freiheitsstrafe als schwerste Vorverurteilung auf. Für den umgekehrten Regelfall, dass ein 3 BT-Drs. 14/3189, S. 4, 6~ 15/1472, S. 5, 7 f.~ 15/3422, S. 7, 13~ 16/1027, S. 5, 7. Auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP zur 17. Legislaturperiode greift auf Seite 72 dieses Vorhaben wieder auf. 4 Vgl. Schöch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 5. Auf!. 2001, S. 203 ff.~ ders. in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Auf!. 2007, S. 216 f.~ Brunner/Dölling Jugendgerichtsgesetz (Kommentar), 11. Auf!. 2002, § 27 Rn. 13 ff.

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

247

Jugendarrest im Vorfeld einer Jugend-/Freiheitsstrafe verhängt wird, liegt der Prozentsatz allerdings erwartungsgemäß deutlich höher. Zum anderen werden die Erkenntnisse der im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durchgeführten Legalbewährungsstudie ausgewertet. Dieser Studie liegt ein Beobachtungszeitraum von vier Jahren zugrunde. Die Legalbewährung wurde für alle Personen untersucht, die im Jahr 1994 entweder zu einer nicht freiheitsentziehenden Sanktion verurteilt wurden oder die in diesem Jahr aus dem Vollzug einer Jugend- oder Freiheitsstrafe entlassen wurden.

11. Ergebnisse einer Zusatzaufbereitung der Strafverfolgungsstatistik Im Hinblick auf die Argumentation, dass Jugendliche, die zu einer ausgesetzten Jugendstrafe verurteilt werden, eines "short sharp shock" bedürften, damit sie diese Sanktion nicht als Freispruch interpretierten und damit sie sehen, was sie bei weiteren Straftaten erwartet, stellt sich die Frage, wie viele dieser Jugendlichen möglicherweise bereits über Hafterfahrung verfügen. In diesen Fällen könnte nicht nur die Wirkung eines "Warnschusses" nicht mehr erzielt werden, es hätte sich vielmehr sogar bestätigt, dass der Warnschuss nicht gewirkt hat. Die notwendigen Basisdaten hierfür liefert die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Strafverfolgungsstatistik durch eine Sonderauswertung für die Jahre 2005 und 2006. Einerseits bedeutet dies, dass sich die Daten lediglich auf das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik einschließlich Gesamt-Berlin beziehen, andererseits zeigt die Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2007, in dem sie Deutschland erstmals flächendeckend erfasst hat, nicht den zu erwartenden Anstieg der Zahlen auf; dieser findet sich erst 2008. Eine Erklärung hierfür gibt es nicht, insbesondere sind keine Erfassungsfehler bekannt. Gleichwohl wäre den aktuellen Daten mit einer gewissen Skepsis zu begegnen, so dass der Verzicht auf maximale Aktualität sinnvoll war. Die Ergebnisse für eine aktuelle Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung, sind in der folgenden Tabelle 1 dargestellt. Danach weisen 24,9 % (2005) bzw. 24,4 % (2006) einen Jugendarrest als Vorverurteilung auf. Weitere 10,3 % (2005) bzw. 9,1 % (2006) verfügen sogar bereits über weitergehende Hafterfahrung durch eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Jugend- oder Freiheitsstrafe. Noch einmal 14,1 % (2005) bzw. 14,4 % (2006) sind bereits früher einmal zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung verurteilt worden. In wie vielen dieser Fälle durch einen Widerruf der Bewährung oder durch einen vorangegange-

248

Bert Götting

nen Jugendarrest ebenfalls Hafterfahrung vorliegt, lässt sich nicht ermitteln. Insgesamt weisen damit fast die Hälfte der Verurteilten (49,3 % im Jahr 2005 bzw. 47,9 % in 2006) Vorverurteilung(en) auf, die einen Jugendarrest einschließen oder einschließen können, darunter mit 35,2 % (2005) bzw. 33,6 % (2006) mehr als ein Drittel, die nachweislich über Hafterfahrung verfügen. 25,4 % (2005) bzw. 25,8 % (2006) der zu einer ausgesetzten Jugendstrafe verurteilten Personen weisen keine Vorverurteilung auf, das heißt keine frühere formelle Sanktionierung. Verfahren, die durch Diversionsmaßnahmen gemäß §§ 45, 47 JGG beendet worden sind, werden durch die Strafverfolgungsstatistik nicht erfasst. Tabelle 1: Vorverurteilungen bei Jugendstrafe mit Bewährung 5 2005

2006

absolut I 0/0

absolut I 0/0

Jugendstrafe mit Bewährung

8.919

- darunter ohne Vorverurteilung

2.267 25,4

2.390 25,8

- darunter mit Vorverurteilung - Freiheitsstrafe - Jugendstrafe ohne Strafaussetzung - Jugendstrafe mit Strafaussetzung - Jugendarrest - sonstige Vorverurteilung 6

6.652 47 889 1.238 2.219 2.259

6.878 29 833 1.320 2.258 2.438

100 74,6 0,5 10,0 13,9 24,9 25,3

9.268

100 74,2 0,3 9,0 14,2 24,4 26,3

Gesamt absolut I 0/0 18.187

100

4.657 25,6 13.530 76 1.722 2.558 4.477 4.697

74,4 0,4 9,5 14,1 24,6 25,8

Betrachtet man die Vorverurteilungen bei einer aktuellen Verurteilung zu einem Jugendarrest in der nachfolgenden Tabelle 2, dann zeigt sich, dass bereits gegen 15,3 % (2005) bzw. sogar 16,0 % (2006) früher einmal ein Jugendarrest verhängt worden ist, während mit 43,5 % (2005) bzw. 42,6 % (2006) der größte Anteil auf diejenigen Verurteilten entfällt, die vorher noch nicht formell sanktioniert wurden. Der Anteil früherer Verurteilungen zu Jugend- oder Freiheitsstrafe lag in beiden Jahren unter 5 0/0. Grafisch werden die Vorverurteilungen durch das nachfolgende Diagramm 1 veranschaulicht, in dem durch Pfeile der Anteil derj enigen Vorstrafen markiert ist, die (möglicherweise) mit Hafterfahrung verbunden sind.

5 Erfasst sind die Verurteilten in dieser und den folgenden Tabellen nur insoweit, wie Angaben zu Vorstrafen ermittelt wurden. 2005 wurde insgesamt in 1.763 Fällen (6,7 %) und 2006 in 1.615 Fällen (6,0 %) eine mögliche Vorstrafe nicht ermittelt. 6 Strafarrest, Geldstrafe, Erziehungsmaßregeln, Auflagen, Verwarnung.

249

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

Tabelle 2: Vorverurteilungen bei Jugendarrest

Jugendarrest

2005

2006

absolut I 0/0

absolut I 0/0

19.129

19.707

100

38.836

100

8.317 43,5

8.405 42,6

16.722 43,1

10.812 56,5 23 0,1 498 2,6 401 2,1 2.923 15,3 6.967 36,4

11.302 57,4 14 0,1 440 2,2 393 2,0 3.159 16,0 7.296 37,0

22.114 56,9 37 0,1 938 2,4 794 2,0 6.082 15,7 14.263 36,7

- darunter ohne Vorverurteilung - darunter mit Vorverurteilung - Freiheitsstrafe - Jugendstrafe ohne Strafaussetzung - Jugendstrafe mit Strafaussetzung - Jugendarrest - sonstige Vorverurteilung

100

Gesamt absolut I 0/0

Diagramm 1: Vorverurteilungen bei Jugendstrafe und Jugendarrest Jugendstrafe mit Bewährung

Jugendarrest

80% 60% 40% 20%

f111F1111=l

I

I I

I

0%

2005

2006

2005

2006

Die in Tabelle 3 und Diagramm 2 dargestellten Vorverurteilungsquoten bei den 2005 und 2006 verhängten jugendstrafrechtlichen Sanktionen machen - wenig überraschend - entsprechend den Angaben der Tabellen 1 und 2 auch fiir die sonstigen Zuchtmittel und die Erziehungsmaßregeln deutlich, dass schwerere Sanktionen in der Regel erst verhängt werden, wenn weniger eingriffsintensive Maßnahmen keinen Erfolg gezeigt haben.

250

Bert Götting

Tabelle 3: Vorverurteilungsquoten 2005 und 2006 2005

Aktuelle Verurteilung

absolut

Erziehun~smaßre~eln

ohne Vorverurteilung mit Vorverurteilung Zuchtmittel (ohne Ju~endarrest) ohne Vorverurteilung mit Vorverurteilung Jugendarrest ohne Vorverurteilung mit Vorverurteilung Ju~endstrafe mit Bewährun2 ohne Vorverurteilung mit Vorverurteilung J u~endstrafe ohne Bewährun~ ohne Vorverurteilung mit Vorverurteilung

23.458 13.696 9.762 122.212 79.216 42.996 19.129 8.317 10.812 8.919 2.267 6.652 6.791 920 5.871

2006

I 0/0

58,4 41,6 64,8 35,2 43,5 56,5 25,4 74,6 13,5 86,5

absolut

24.125 13.915 10.210 125.228 80.966 44.262 19.707 8.405 11.302 9.268 2.390 6.878 6.898 864 6.034

I 0/0

Gesamt absolut I 0/0

57,7 42,3 64,7 35,3 42,6 57,4 25,8 74,2 12,5 87,5

47.583 27.611 19.972 247.440 160.182 87.258 38.836 16.722 22.114 18.187 4.657 13.530 13.689 1.784 11.905

58,0 42,0 64,7 35,3 43,1 56,9 25,6 74,4 13,0 87,0

Diagramm 2: Vorverurteilungsquote nach aktueller Verurteilung 2005/2006

°

100,

90,0

I'_~·'_"~"ffl'~u__m".._,,_,,_.,

••,n~__,,_,_n_ _nn~,,_ _,_,,

",n",_n'n,#~._n_ _'n_n#_,n_n_n'_·'''#_·''__#",,_,__mn'n_n.,_n

,_#••nnn,_nn~

' " ' " f - ' - - . - - - - - - - - - . - - - - - - - - - - - - - - - - - . - - -...- - - - - - - j

80,0 -;----------..- --.--------------.----.-----.----.---1 70,0

- t - - -......- - - - - . - -..---..- -....- - - - - . - - - -..- - - - - I

60,0

-;----------.-.--------.---.----------1

50,

+---.------.---.---------.---.--

°

40,0 30,0 20,0 10,0 0,0

-t------L-,...--.-~.:..:..:...L___,.---J:.&.&oIIIL.oI~_..,_---J.ii.ii.ii.ii.iii~:::.cL-__.__-J----J-___...q

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

251

Damit zeigt sich nicht nur, dass bei mehr als einem Viertel bis zur Hälfte der potenziellen Adressaten eines Wamschussarrestes dieser Schuss bereits ungehört verhallt ist. Sondern es wird auch noch deutlich, dass bei der Verhängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen insgesamt betrachtet der gesetzgeberische Wille abgestufter Sanktionsintensität Widerhall findet. Mit der Intensität der verhängten Sanktion steigt sowohl der Anteil vorverurteilter Personen als auch die Sanktionshärte früherer Verurteilungen und somit der Prozentsatz vorangegangener freiheitsentziehender Sanktionen. Interessant in diesem Zusammenhang ist schließlich auch die umgekehrte Betrachtungsweise nach der Art der erneuten Sanktionierung in Abhängigkeit von der schwersten Vorverurteilung, die sich für den Jugendarrest und die Jugendstrafe aus den unten stehenden Tabellen 5 bis 7 ergibt. Dies ermöglicht zwar keine Aussage über die Legalbewährung oder die Rückfallquote nach einer Sanktionierung, lässt aber zumindest gewisse Rückschlüsse darauf zu, wie gravierend ein Rückfall durch das erkennende Gericht eingeschätzt wurde. Wenngleich, wie erwähnt, die Daten nicht im Sinne einer Rückfallstudie verstanden werden können, fällt doch auf, dass in Relation zu den in den Jahren 2005 und 2006 verhängten Sanktionen der Jugendarrest mehr als drei mal häufiger als die Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung als Vorverurteilung registriert ist. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung in Tabelle 4, die auch zeigt, dass dieser Unterschied auch dann bestehen bleibt, wenn man in Rechnung stellt, dass der Jugendarrest aktuell doppelt so häufig verhängt wurde wie eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. Eine Erklärung hierfür ist sicherlich in dem Umstand zu sehen, dass Jugendstrafen in der Regel später verhängt werden und ein gewisser Anteil der so Verurteilten deshalb erst mit einer Freiheits- oder Geldstrafe nach allgemeinem Strafrecht wieder registriert wird, die im Rahmen dieser Sonderauswertung als aktuelle Verurteilung nicht erfasst ist. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass dies die erhebliche Differenz in vollem Umfang zu erklären vermag. In jedem Fall zeigt jedoch bereits diese Gegenüberstellung, dass der Jugendarrest - jedenfalls bei der Verhinderung von Rückfällen - nicht überlegen scheint.

252

Bert Götting

Tabelle 4: Verurteilte und Vorverurteilte nach Sanktion Aktuelle Verurteilung 2005 I 2006 Erziehungsmaßregeln Zuchtmittel (ohne J u~endarrest) Jugendarrest Jugendstrafe mit Bew. J u~endstrafe ohne Bew. Gesamt

23.458

24.125

Gesamt (2005 + 2006) I Vorstr.

... als Vorverurteilung 2005 I 2006

17.959

vu

19.261

47.583

37.220

122.212 125.228 27.655 28.389 247.440 56.044 19.129 19.707 16.906 17.543 38.836 34.449 4.811 9.129 8.919 9.268 4.318 18.187 5.994 5.554 13.689 11.548 6.791 6.898 180.509 185.226 72.832 75.558 365.735 148.390

Eine genauere Aufschlüsselung der Folgesanktionen nach den eingetragenen Vorsanktionen wird in den folgenden Tabellen 5 bis 7 dargestellt, die allerdings lediglich diejenigen Personen erfasst, bei denen die Legalbewährung gescheitert ist. Für den Jugendarrest (Tabelle 5) lässt sich feststellen, dass mit insgesamt 49,9 % (2005; 48,4 % in 2006) der größte Teil der Verurteilungen auf Sanktionen unterhalb des Jugendarrestes entfällt (Weisungen, Auflagen, Verwarnungen). Allerdings liegt der Anteil einer erneuten Sanktionierung mit einer freiheitsentziehenden Maßnahme (Freiheitsstrafen nach allgemeinem Strafrecht wurden in der Sonderauswertung dabei nicht abgefragt) mit 36,1 % (2005; 36,5 % in 2006) auch deutlich über einem Drittel der erneuten Verurteilungen.

Tabelle 5: Vorverurteilung Jugendarrest und Folgesanktionen 2005 absolut

Jugendarrest als Vorstrafe Aktuelle Sanktion Weisungen JugendalTest Auflagen Verwarnung Jugendstrafe mit Bewährung Jugendstrafe ohne Bewährung mit Freiheitsentzug insgesamt ohne Freiheitsentzug insgesamt ohne Jugendarrest oder -strafe

%

2006 absolut

%

Gesamt absolut %

16.906

100

17.543

100

34.449

100

2.189 2.923 4.290 1.963 2.219 959

12,9 17,3 25,4 11,6 13,1 5,7

2.243 3.159 4.435 1.813 2.258 989

12,8 18,0 25,3 10,3 12,9 5,6

4.432 6.082 8.725 3.776 4.477 1.948

12,9 17,7 25,3 11,0 13,0 5,7

3.882 23,0 13.024 77,0 10.805 63,9

4.148 23,6 13.395 76,4 11.137 63,5

8.030 23,3 26.419 76,7 21.942 63,7

253

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

Für diejenigen Verurteilten, bei denen eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe als schwerste Vorverurteilung eingetragen ist, zeigt Tabelle 6, dass der Anteil der Weisungen, Auflagen und Verwarnungen an den aktuellen Sanktionen mit 21,5 % (2005; 21,7 % in 2006) deutlich geringer ausfällt. Die erneute Verhängung von Jugendstrafen mit und ohne Strafaussetzung bildet mit 62,9 % (2005 und 2006) den absoluten Schwerpunkt. Tabelle 6: Vorverurteilung Jugendstrafe mit Bewährung und Folgesanktionen 2005 absolut

2006 0/0

100

absolut

4.811

0/0

Gesamt absolut 0/0

Jugendstrafe mit Bew. als Vorstrafe

4.318

Aktuelle Sanktion Weisungen Jugendarrest Auflagen Verwarnung Jugendstrafe mit Bewährung Jugendstrafe ohne Bewährung

264 6,1 401 9,3 467 10,8 199 4,6 1.238 28,7 1.480 34,3

308 6,4 393 8,2 539 11,2 195 4,1 1.320 27,4 1.707 35,5

572 6,3 794 8,7 1.006 11,0 394 4,3 2.558 28,0 3.187 34,9

mit Freiheitsentzug insgesamt ohne Freiheitsentzug insgesamt ohne Jugendarrest oder -strafe

1.881 43,6 2.437 56,4 1.199 27,8

2.100 43,6 2.711 56,4 1.391 28,9

3.981 43,6 5.148 56,4 2.590 28,4

100

9.129

100

Bei den Verurteilten, für die eine vollstreckte Jugendstrafe als schwerste Vorsanktion eingetragen ist (Tabelle 7), ist der Anteil erneut verhängter Jugendstrafen mit 55,6 % (2005) bzw. 58,0 % (2006) zwar deutlich geringer, jedoch liegt der Anteil erneuter zu vollstreckender Jugendstrafen mit mehr als 40 % ebenso deutlich höher. Der Anteil der Auflagen, Weisungen und Verwarnungen beträgt mehr als ein Viertel der erneuten Sanktionen (2005: 27,8 %; 2006: 26,1 0/0). Erkennbar wird an diesen Daten einmal mehr, dass die Gerichte offensichtlich die vom Gesetzgeber gewollte Differenzierung zwischen dem Jugendarrest und der Jugendstrafe nachzeichnen oder zumindest die Annahme der Notwendigkeit einer länger dauernden Gesamterziehung jedenfalls eine gewisse Konsistenz aufweist.

254

Bert Götting

Tabelle 7: Vorverurteilung Jugendstrafe ohne Bewährung und Folgesanktionen 2005 absolut

2006 0/0

100

absolut

5.554

0/0

Gesamt absolut 0/0

100

11.548

100

Jugendstrafe ohne Bew. als Vorstr.

5.994

Aktuelle Sanktion Weisungen Jugendarrest Auflagen Verwarnung Jugendstrafe mit Bewährung Jugendstrafe ohne Bewährung

381 6,4 498 8,3 886 14,8 397 6,6 889 14,8 2.442 40,7

341 6,1 440 7,9 774 13,9 337 6,1 833 15,0 2.387 43,0

722 6,3 938 8,1 1.660 14,4 734 6,4 1.722 14,9 4.829 41,8

mit Freiheitsentzu2 ins2esamt ohne Freiheitsentzu2 ins2esamt ohne J ueendarrest oder -strafe

2.940 49,0 3.054 51,0 2.165 36,1

2.827 50,9 2.727 49,1 1.894 34,1

5.767 49,9 5.781 50,1 4.059 35,1

Aus dem geringeren Anteil freiheitsentziehender Sanktionen nach einem Jugendarrest lässt sich daher nicht notwendig ableiten, dass hier eine Warnschusswirkung der Begehung weiterer gravierender Straftaten entgegengewirkt habe; so wie sich aus dem höheren Anteil freiheitsentziehender Sanktionen bei ausgesetzten Jugendstrafen nicht das Fehlen einer short-sharpshock-Wirkung als Ursache folgern lässt. Zumindest ebenso plausibel ist die Annahme, dass die Gerichte bei der Auswahl der Sanktionen eben die schwereren Sanktionen auch für die "schwereren Fälle" verhängt haben.

111. Ergebnisse der Legalbewährungsstudie Genauere Angaben zur Rückfalligkeit nach einer Uugend-)strafrechtlichen Sanktionierung sind mittels der Daten der eingangs genannten, vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen Legalbewährungsstudie möglich. In einem ersten Überblick lassen sich die in Tabelle 8 wiedergegebenen folgende Daten festhalten, die Tabelle 4.3 der Studie zu entnehmen sind. Danach liegt die Rückfallquote nach einem verbüßten Jugendarrest mit 70,0 % gegenüber 59,6 % nach einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe deutlich höher. Hinzu kommt, dass nach einem Jugendarrest auch der Anteil der Verurteilungen zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe mit 38,5 0/0 signifikant größer ist als nach einer ausgesetzten Jugendstrafe (33,8 0/0). Selbst der Anteil des Jugendarrestes als erneute Sanktion liegt nach voran-

255

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

gegangenem Arrest bei 7,1 % gegenüber 2,3 % nach einer ausgesetzten Jugendstrafe. Tabelle 8: Rückfallquoten und Sanktionen nach Bezugsentscheidung

Sanktionierung des Rückfalls

Fälle insgesamt Keine Folgeentscheidung Mit Foleeentscheidung Art der Folgeentscheidung Freiheitsstrafe insgesamt

- ohne Bewährung - mit Bewährun~ Jugendstrafe insgesamt

- ohne BewährunK - mit BewährunK Geldstrafe Jugendarrest Sonstige Entscheidungen n. JGG MaßregelnINebenstrafen n. StGB Jueend-lFreiheitsstrafe inseesamt

- darunter ohne BewährunK Freiheitsentziehende Sanktionen (Jugendarrest und Jugend-/ Freiheitsstrafe ohne Bewährung)

Jugendstrafe ohne mit Bewährung Bewährung absolut I 0/0 absolut I 0/0 3.265 724 22,2 2.541 77,8 1.879 1.350 529 169 121 48 460 13 17 506 2.048 1.471

57,5 41,4 16,2 5,2 3,7 1,5 14,1 0,40 0,52 15,5 62,7 45,1

1.484 45,5

8.675 3.502 40,4 5.173 59,6 2.548 1.362 1.186 335 141 194 1.726 202 355 1.014 2.883 1.503

29,4 15,7 13,7 3,9 1,6 2,2 19,9 2,3 4,1 11,7 33,2 17,3

1.705 19,7

Jugendarrest absolut

I 0/0

9.608 2.883 30,0 6.725 70,0 1.561 664 897 2.135 1.032 1.103 1.226 682 1.118 1.067 3.696 1.696

16,3 6,9 9,3 22,2 10,7 11,5 12,8 7,1 11,6 11,2 38,5 17,7

2.378 24,8

Insgesamt wurden nach einem Jugendarrest 24,8 % und nach einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe 19,7 % zu einer unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktion (Jugendarrest oder Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung) verurteilt. Darüber hinausgehend wurden aus den Daten der Legalbewährungsstudie die statistischen Zusammenhänge zwischen der Bezugsentscheidung, eingetragenen Vorsanktionen und Folgeentscheidungen ermittelt. Das bedeutet, dass ausgewiesen wird, wie viele Personen~ die im Jahr 1994 verurteilt oder aus einem Freiheitsentzug entlassen und rückfallig geworden sind und mit welcher Sanktion dieser Rückfall belegt worden ist. Diese Rückfallquoten wiederum werden danach aufgeschlüsselt, ob vor der "aktuellen" Verurteilung eine frühere Sanktionierung eingetragen ist und welche das war. Durchgefuhrt wurde diese Sonderauswertung vom Institut für Kriminalwissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen im Auftrag des Bun-

256

Bert Götting

desamtes für Justiz. Sie erlaubt eine wesentliche differenziertere Betrachtung als die Daten der Strafverfolgungsstatistik. Mit Blick auf den Warnschussarrest stellt sich auch hier die Frage, in wie vielen Fällen einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung bereits ein vollstreckter Jugendarrest vorausging? Da allerdings eine mögliche Warnschusswirkung davon abhängt, dass Arresterfahrung vorliegt, ist darauf zu achten, dass nur solche Vorsanktionierungen mit Jugendarrest berücksichtigt werden, bei denen der Arrest auch tatsächlich vollstreckt worden ist. Dies kann nicht angenommen werden, wenn der Jugendarrest in eine spätere Entscheidung mit einbezogen wurde. Aus diesem Grunde wurden sämtliche einbezogenen Vorsanktionierungen in den entsprechenden Tabellen im Folgenden nicht berücksichtigt. Dabei ist zu beachten, dass auf die schwerste eingetragene Vorsanktion abgestellt wird, so dass bei einer ausgesetzten Jugendstrafe als Vorverurteilung (Tabelle 15) auch hier die Möglichkeit besteht, dass im Falle weiterer Vorsanktionen auch ein Jugendarrest darunter ist. Tabelle 9: Verteilung der Vorsanktionierungen Jugendstrafe ohne

Bewährun2 Fälle insgesamt (absolute Zahlen) Art der Vorsanktionierung (%) - Keine Vorsanktion - Einstellung nach JGG - Zuchtmittel/Maßregel (ohne Jugendarrest) - Jugendarrest - Geldstrafe - Jugendstrafe mit Strafaussetzung - Jugendstrafe ohne Strafaussetzung

2.967

I

mit

Jugendarrest

Bewährun2 8.089

9.545

17,5 14,4

33,3 19,0

40,8 21,7

18,2

19,0

22,8

35,2 3,3 4,0 7,4

17,5 5,8 2,9 2,5

10,9 1,2 2,1 0,5

Wie Tabelle 9 zeigt, ist bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung in 33,3 % der Fälle noch keine Sanktion eingetragen, was allerdings auch auf entsprechende Tilgungsfristen bzw. -modalitäten (z. B. im Fall des § 27 JGG) zurückzuführen sein kann. Demgegenüber verfügen 20,0 % bereits über Hafterfahrung, in 17,5 % der Fälle durch einen Jugendarrest und in weiteren 2,5 % durch eine Jugendstrafe ohne Bewährung. Bei Verhängung eines Jugendarrestes weisen sogar 40,8 % der Jugendlichen keine Vorsanktionierung auf, während 11,4 % schon über eine Hafter-

257

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

fahrung verfügen, 10,9 % durch einen Jugendarrest und weitere 0,5 % durch eine zu vollstreckende Jugendstrafe. Insgesamt zeigt Tabelle 9, dass die Belastung mit Vorsanktionen und das Gewicht dieser Sanktionierungen bei Verhängung von Jugendarrest geringer sind als bei einer Jugendstrafe mit und ohne Strafaussetzung zur Bewährung. Dieses erwartete Ergebnis verdeutlicht auch Diagramm 3 und es bestätigt die Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik. Für den möglichen Anwendungsbereich eines Warnschussarrests neben einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung ergibt sich aus Tabelle 9 damit, dass bei 20,0 % der Jugendlichen, die zu einer Jugendstrafe mit Bewährung verurteilt werden, bereits eindeutig Hafterfahrung vorliegt. Bei weiteren 8,7 0;0 ist dies nicht auszuschließen, da die schwerste eingetragene Vorsanktion über dem Jugendarrest liegt (2,9 % Jugendstrafe mit Bewährung und 5,8 % Geldstrafe). Eine mögliche Warnschussfunktion ließe sich damit nach den Daten der Legalbewährungsstudie noch bei mindestens 71,3 % und höchstens bei 80,0 % erreichen. Diagramm 3: Verteilung der Vorsanktionierungen 100%

600/0 400/0 20% 0%

-+---I.o-

..&...-..,.---I.o-

Jugendstrafe mit Bewährung

o Keine Vorsanktion (] Zuchtmittel/Maßregel sonst Im Geldstrafe

..a--...,

..&...-..,.---I.o-

Jugendstrafe ohne Bewährung

Jugendarrest

o Einstellung nach JGG ca Jugendarrest • Jugendstrafe gesamt

An dieses Ergebnis, das für einen möglichen Warnschuss noch einen deutlich breiteren Raum erwarten lässt als die Ergebnisse aus der Strafver-

258

Bert Götting

folgungsstatistik, schließt sich eine weitere und ebenso bedeutsame Frage an, die ausschließlich aus den Ergebnissen der Legalbewährungsuntersuchung beantwortet werden kann. Stellt sich die Verhängung eines Jugendarrests gegenüber einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung im Hinblick auf die Legalbewährung als überlegen dar? Wirkt der Jugendarrest vielleicht besonders rückfallverhindemd oder verhindert er zumindest künftige Jugendstrafen? Als erstes auffälliges Ergebnis, das auch bereits weiter oben genannt wurde, zeigt sich jedoch (Tabelle 18), dass die Rückfallquote nach einem Jugendarrest mit 69,9 % insgesamt deutlich über der nach einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe (59,4 %) liegt, obwohl die Verurteilten ausweislich Tabelle 9 geringer vorbelastet sind. Die Differenzen zu den Ergebnissen der Tabelle 8 erklären sich daraus, dass - aus den genannten Gründen - einbezogene Vorverurteilungen herausgerechnet worden sind. Vergleicht man die Rückfallquoten unter Berücksichtigung der eingetragenen Vorsanktionen, die einen gewichtigen Strafzumessungsfaktor bilden können, bestätigt sich dieses Bild (Tabellen 10 bis 16). Die Rückfallquote liegt für den Jugendarrest auch bei Berücksichtigung der eingetragenen schwersten Vorsanktion durchgängig deutlich über der rur die ausgesetzte Jugendstrafe. Erst rur den Fall, dass eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe als Vorverurteilung eingetragen ist, liegt die Rückfallquote bei der Jugendstrafe mit Strafaussetzung ähnlich der beim Jugendarrest über 80%. Tabelle 10: Rückfall bei Verurteilten nach Schwere der Vorsanktionierung Rückfallquote (und absolute Zahl der Verurteilten) bei Verurteilten ...

- Ohne Vorsanktionierung - Einstellung nach JGG - Zuchtmittel / Erziehungsmaßregel (ohne Jugendarrest) - Jugendarrest - Geldstrafe - Jugendstrafe mit Strafaussetzung - Jugendstrafe ohne Strafaussetzung

Jugendstrafe mit Bewährung Bewährung

I

ohne

Jugendarrest

67,4 76,3

519 426

43,0 58,6

2.697 1.537

56,6 75,1

3.896 2.069

80,9

540

70,7

1.535

79,4

2.180

82,5 67,7 80,5 82,4

1.044 99 118 221

72,1 66,3 69,4 81,1

1.415 472 232 201

84,3 80,9 86,4 84,4

1.041 115 199 45

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

259

Betrachtet man zusätzlich die Schwere der verhängten Sanktionen im Falle eines Rückfalls (Tabellen 11 bis 17 und Diagramm 4 am Ende), gilt Folgendes: Im Falle eines Rückfalls werden nach einem Jugendarrest auch schwerere Sanktionen verhängt, solange als Vorsanktion nicht bereits eine Jugendstrafe mit oder ohne Bewährung eingetragen ist (Tabellen 11 bis 15). Lag bereits eine Jugendstrafe als Vorsanktion vor (Tabellen 16 und 17), dann wird nach einer ausgesetzten Jugendstrafe bei einem Rückfall häufiger eine weitere Jugendstrafe verhängt als nach einem Jugendarrest. Dieses Ergebnis ist allerdings auch nicht erwartungs\vidrig, da zwei verhängte Jugendstrafen als Vorsanktionen deutlich schwerer wiegen als eine Jugendstrafe und ein Jugendarrest. Erstaunlich ist eher, dass in diesem Fall die Differenz nicht deutlicher ausfällt. Zu beachten ist dabei, dass die Tabellen 11 bis 18 den prozentualen Anteil der Folgesanktionen in zweifacher Hinsicht ausweisen. Zum einen in Relation zu allen erfassten Personen (Zeile und Spalte (1)) und zum anderen nur relativ zu denjenigen Personen mit einer Folgesanktionierung (Zeile und Spalte (2)). Die erste Angabe macht Differenzen dadurch deutlicher, dass sich eine höhere Rückfallquote entsprechend verstärkend auswirkt. Es zeigt sich, dass von den Jugendlichen, die eine ausgesetzte Jugendstrafe als Vorsanktion hatten und die erneut zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung verurteilt wurden, insgesamt 43,1 % infolge eines Rückfalls erneut mit einer Jugend-IFreiheitsstrafe sanktioniert wurden (26,3 % ohne Bewährung). Bei denj enigen, die mit einem Jugendarrest sanktioniert wurden, lag der Anteil der später zu einer Jugend-IFreiheitsstrafe verurteilten Jugendlichen bei 51,8 % (22,1 % ohne Bewährung). Dies wird auch deutlich erkennbar in Diagramm 4. Eine insgesamt schwerere Folgesanktionierung nach einer ausgesetzten Jugendstrafe ergibt sich damit nur noch für die Fälle, in denen als Vorsanktionierung eine vollstreckte Jugendstrafe vorlag. Durchgängig über alle Voreintragungen wird allerdings nach einem Jugendarrest mehr als doppelt so häufig (erneut) ein Jugendarrest verhängt. Insgesamt werden deshalb nach einem Jugendarrest häufiger erneut freiheitsentziehende Sanktionen verhängt als nach einer ausgesetzten Jugendstrafe (Tabelle 18). Betrachtet man die Ergebnisse der Legalbewährungsstudie und der Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik in einer Zusammenschau, dann ergibt sich daraus zum einen, dass mehr als ein Viertel der zu einer Jugendstrafe mit Bewährung verurteilten Personen nachweisbar über Hafterfahrung durch Arrest oder Jugend-IFreiheitsstrafe verfügt und bei weiteren mehr als 10 % dieses nicht ausgeschlossen werden kann. Zum anderen zeigt sich, dass nach einem Jugendarrest oder einer Jugendstrafe ohne Aussetzung zur Bewährung nicht nur die Rückfallquote höher

260

Bert Götting

liegt, sondern auch mehr freiheitsentziehende Sanktionen verhängt werden als nach einer ausgesetzten Jugendstrafe. Das ist umso auffälliger, als der Anteil erstmals Verurteilter bei der Verhängung von Jugendarrest nach der Zusatzautbereitung der Strafverfolgungsstatistik deutlich höher ist.

IV. Ergebnis Betrachtet man die Ergebnisse dieser Sonderauswertungen der Strafverfolgungsstatistik und der Legalbewährungsstudie, zeigt sich deutlich, dass die Warnschusswirkung eines Jugendarrestes und die präventive Wirksamkeit einer solchen Sanktionsmöglichkeit mit den vorliegenden statistischen Daten jedenfalls nicht zu begründen ist. Vielmehr liegen nach einer Sanktionierung mit Jugendarrest die Rückfallquoten und die Sanktionsschwere fur diese Rückfälle - insbesondere der Anteil erneuten Freiheitsentzuges - deutlich über den ausgesetzten Freiheitsstrafen. Selbst wenn der Sanktionierung eine entsprechende Selektion durch das Gericht zugrunde liegt, wird diese durch die dargestellten Zahlen jedenfalls insgesamt in der Weise bestätigt, dass die Verhängung einer ausgesetzten Jugendstrafe bei den Jugendlichen, gegen die sie verhängt wird, zu keinem höheren Rückfallrisiko fuhrt als die Verhängung eines Jugendarrests. Dass sich durch einen Warnschussarrest die Rückfallquote nach Jugendstrafen mit Strafaussetzung zur Bewährung senken lassen könnte, ist schon aufgrund der höheren Rückfallquote nach Arrestverhängung nicht plausibel. Das gilt umso mehr, weil die höhere Rückfallquote auch bei vergleichbarer Vorsanktion und sogar bei Personen ohne eingetragene Vorsanktion gegeben ist. Die gleichzeitige Verhängung eines Jugendarrestes neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe dürfte nach den vorliegenden Erkenntnissen damit im Ergebnis die Rückfallquote der ausgesetzten Jugendstrafe nicht verbessern können; eher ist mit einem Anstieg zu rechnen. Diese Ergebnisse sprechen demnach unter spezial- und auch generalpräventiven Erwägungen deutlich gegen die Verhängung eines Warnschussarrestes.

261

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

Tabelle 11: Rückfall bei Verurteilten ohne Vorsanktionierung Jugendstrafe Sanktionierung des Rückfalls

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (Absolut u. Anteil in 0/0) (2) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - Jugend-/Freiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - Jugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

I

mit Bewährung

Jugendarrest

519

2.697

3.896

350 (67,4)

1.161 (43,0)

2.207 (56,6)

ohne Bewährung

von (1) 50,5 32,6 0,4

von (2) 74,9 48,3 0,6

von (1) 18,7 8,1 2,3

von (2) 43,4 18,8 5,4

von (1) 25,6 11,7 7,3

von (2) 45,2 20,7 12,9

32,9

48,9

10,4

24,2

19,0

33,6

Tabelle 12: Rückfall bei Verurteilten mit Einstellung nach JGG als schwerster Vorsanktionierung

Sanktionierung des Rückfalls

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (2) (Absolut u. Anteil in %) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - Jugend-/Freiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - Jugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

Jugendstrafe Jugendarrest mit Bewährun2

ohne Bewährun2

I

426

1.537

2.069

325 (76,3)

900 (58,6)

1.554 (75,1)

von (1) 60,1 43,4 0,7

von (2) 78,8 56,9 0,9

von (1) 29,7 13,7 2,9

von (2) 50,8 23,3 5,0

von (1) 38,4 17,5 8,1

von (2) 51,1 23,4 10,8

44,1

57,8

16,6

28,3

25,7

34,2

262

Bert Götting

Tabelle 13: Rückfall bei Verurteilten mit Zuchtmittel/Erziehungsmaßregel (ohne Jugendarrest) als schwerster Vorsanktionierung Jugendstrafe Sanktionierung des Rückfalls

ohne Bewährung

Fälle insgesamt (1) (absolute Zahlen) - davon mit Rückfall (2) (Absolut u. Anteil in %) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - Jugend-/Freiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - Jugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

I

Jugendarrest

mit Bewährung

540

1.535

2.180

437 (80,9)

1.085 (70,7)

1.732 (79,4)

von (1) 60,7 41,9 0,4

von (2) 75,1 51,7 0,5

von (1) 40,2 19,1 2,9

von (2) 56,9 27,0 4,1

von (1) 47,5 19,9 7,5

von (2) 59,8 25,1 9,4

42,2

52~2

22,0

31,2

27,4

34,5

Tabelle 14: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendarrest als schwerster Vorsanktionierung Jugendstrafe Sanktionierung des Rückfalls

ohne Bewährun2

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (2) (Absolut u. Anteil in %) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - Jugend-/Freiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - Jugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

I

Jugendarrest

mit Bewähru n2

1.044

1.415

1.041

861 (82,5)

1.020 (72,1)

878 (84,3)

von (1) 67,4 49,3 0,6

von (2) 81,8 59,8 0,7

von (1) 44,0 25,2 2,5

von (2) 61,1 34,9 3,4

von (1) 60,1 30,7 5,0

von (2) 71,3 36,4 5,9

49,9

60,5

27,6

38,3

35,7

42,4

263

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

Tabelle 15: Rückfall bei Verurteilten mit Geldstrafe als schwerster Vorsanktionierung

Sanktionierung des Rückfalls

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (Absolut u. Anteil in %) (2) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - lugend-IFreiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - 1ugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

Jugendstrafe Jugendarrest mit Bewährun~ Bewährun2 ohne

I

99

472

115

67 (67,7)

313 (66,3)

93 (80,9)

von (1) 56,6 37,4 0,0

von (2) 83,6 55,2 0,0

von (1) 40,5 23,1 0,4

von (2) 61,0 34,8 0,6

von (1) 61,7 31,3 0,9

von (2) 76,3 38,7 1, 1

37,4

55,2

23,5

35,5

32,2

39,8

Tabelle 16: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung als schwerster Vorsanktionierung

Sanktionierung des Rückfalls

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (2) (Absolut u. Anteil in 0/0) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - lugend-/Freiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - 1ugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

Jugendstrafe Jugendarrest mit Bewährun~ Bewährun2 ohne

I

118

232

199

95 (80,5)

161 (69,4)

172 (86,4)

von (1) 71,2 55,9 0,0

von (2) 88,4 69,5 0,0

von (1) 43,1 26,3 2,6

von (2) 62,1 37,9 3,7

von (1) 51,8 22,1 5,5

von (2) 59,9 25,6 6,4

55,9

69,5

28,9

41,6

27,6

32,0

264

Bert Götting

Tabelle 17: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung als schwerster Vorsanktionierung Jugendstrafe Sanktionierung des Rückfalls

ohne Bewährun2

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) (1) - davon mit Rückfall (Absolut u. Anteil in %) (2) Sanktionen im Falle eines Rückfalls (%-Anteil) - 1ugend-IFreiheitsstrafe - darunter ohne Bewährung - 1ugendarrest Anteil aller unmittelbar freiheitsentziehenden Sanktionen an den Folgeentscheidungen

I

Jugendarrest

mit Bewährun2

221

201

45

182 (82,4)

163 (81,1)

38 (84,4)

von (1) 74,7 57,5 0,0

von (2) 90,7 69,8 0,0

von (1) 67,2 46,8 2,5

von (2) 82,8 57,7 3,1

von (1) 60,0 44,4 4,4

von (2) 71,1 52,6 5,3

57,5

69,8

49,3

60,7

48,9

57,9

Tabelle 18: Rückfall bei allen Verurteilten unabhängig von einer Vorsanktionierung (Tabellen 11 bis 17) Jugendstrafe Sanktionierung des Rückfalls

ohne Bewährun2

(1) Fälle insgesamt (absolut) 2.967 - davon mit Rückfall 2.317 (78,1) (2) (Absolut u. Anteil in %) von von Sanktionen im Falle eines Rück(2) (1) falls (%-Anteil) 62,5 80,1 - lugend-IFreiheitsstrafe 44,7 - darunter ohne Bewährung 57,2 0,4 - 1ugendarrest 0,6 Anteil unmittelbar freiheitsentzie45,1 57,7 hender Sanktionen an Folgeentsch.

I

Jugendarrest

mit Bewährun2

8.089

9.545

4.803 (59,4)

6.674 (69,9)

von (1) 32,5 16,6 2,5

von (2) 54,7 27,9 4,2

von (1) 38,3 17,5 7,1

von (2) 54,8 25,1 10,2

19,1

32,1

24,7

35,3

Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht

Diagramm 4: Aufschlüsselung der Rückfallentscheidungen Schwere der Vor- und Rückfallsanktion 7

265 nach

100,0 90,0 80,0

+----------+---~---------+----~--+_---___t

70,0

-+-----------}-----I-

60,0

-1------------------+--------1-

50,0

40,0 30,0

20,0 10,0 0,0

JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA

7

• Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bew .

D Jugend-/Freiheitsstrafe mit Bew .

~

[J

Jugendarrest

VS - Vorsanktion JA - Jugendarrest

Sonstige Entscheidungen

ErzM Erziehungsmaßregel Bew. - Bewährung JmB - Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung

Das Schülerverfahren als kriminalpräventives Angebot der Jugendhilfe Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl MONIKA TRAULSEN

I. Einleitung 1. Schülerverfahren in der Jugendstrafrechtspflege Auf der Strafrechtslehrertagung 1979 in Bonn wies Heinz Schöch auf die Bedeutung der Ethik für die Strafrechtspflege hin. Als Grundlage der strafrechtlichen Ethik bezeichnete er "die Hoffnung auf die Entfaltung sozialer Verantwortung bei jedem Menschen".l Diese Hoffnung besteht besonders für junge Menschen, die noch dabei sind, in die soziale Verantwortung hineinzuwachsen, auf diesem Weg aber mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. In seinem vielfältigen Bemühen, der Strafrechtspflege neue Impulse zu geben, entwickelte Heinz Schöch fiir diese Tätergruppe zusammen mit Reinhard Böttcher und der Strafrechtsabteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz die Idee, das in den USA praktizierte Modell der Teen Courts auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. In dem von ihm "Kriminalpädagogisches Schülerprojekt" genannten Verfahren soll dem jungen Täter die Gelegenheit gegeben werden, mit einem dafür ausgebildeten Gremium ungefähr gleichaltriger Schüler ein ausführliches Gespräch über seine Tat und ihre Hintergründe zu führen. In der Regel soll auch eine Maßnahme vereinbart werden, die möglichst einen Bezug zur Tat hat. 2 Schon vor über 20 Jahren bezeichnete Heinz Schöch "eine positive soziale Leistung des Täters mit dem Ziel des Ausgleichs der durch die Tat gestörten Rechtsordnung" als strafrechtliche Wiedergutmachung. Als Beispiele nannte er eine Entschuldigung, gemeinnützige Leistungen oder Geschenke an den Verletzten, 3 wie sie nun in den Schülerverfahren vereinbart werden.

1 Schäch

ZStW 1980, 143, 184. Schäch/Traulsen FS Böttcher, 2007, S. 379-382. 3 Schäch Strafrecht zwischen Freien und Gleichen im demokratischen Rechtsstaat, FS Maihafer, 1988, S. 461, 468 f. 2

268

Monika Traulsen

Im Jahr 2000 wurde das erste Schülerverfahren bei der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg eingerichtet. Es wurde ebenso wie die in Ingolstadt, Ansbach, Memmingen und Augsburg nachfolgenden Projekte unter der Leitung von Heinz Schöch wissenschaftlich begleitet und evaluiert. 4 Zwei Legalbewährungsstudien ergaben, dass die ehemaligen Teilnehmer sich im Durchschnitt günstiger als vergleichbare jugendliche Täter entwickelt haben. Dabei weist insbesondere die Tatsache, dass sie seltener mit einem gleichartigen Delikt rückfällig wurden, auf einen präventiven Einfluss des Schülerverfahrens hin. 5 Andere Bundesländer haben diese neue Form der Diversion übernommen. 6 In der Literatur findet eine lebhafte Diskussion über ihre Bedeutung statt. Je nach Sichtweise, Kenntnis der einschlägigen Publikationen und Sachlichkeit der Kritik fallen die Stellungnahmen sehr unterschiedlich aus. 7

2. Das Kehler Schülerprojekt Inzwischen wurde der Ansatz, Gesetzesverstöße von Minderjährigen durch ein Schülergremium aufarbeiten zu lassen, auch in der badenwürttembergischen Stadt Kehl verwirklicht. Ende 2005 richtete der DRKKreisverband ein Schülerverfahren im Rahmen der kommunalen Kriminalprävention ein. Das Projekt wurde zunächst unter dem Namen "Kehrtwende" auf drei Jahre durch Drittmittel finanziert. Anschließend wurde es als "Rückenwind" mit geringfügigen Änderungen um weitere drei Jahre verlängert. Zielgruppe sind strafunmündige Kinder, die eine Straftat begangen haben, straffällige Jugendliche, deren Verfahren eingestellt wurde und Kinder und Jugendliche mit sonstigem abweichendem Verhalten. Ein Schülergremium soll sie mit ihrem Fehlverhalten konfrontieren, über die möglichen Folgen aufklären, gemeinsam mit ihnen nach Lösungen und einer Möglichkeit der Wiedergutmachung suchen und ihnen helfen, weiteres Fehlverhalten zu vermeiden. 8 Somit verfolgt dieses Projekt die gleichen Ziele wie die kriminalpädagogischen Schülerprojekte in der Jugendstrafrechtspflege. 4 Schöch/Traulsen DVJJ-Journal 2002, 54-60~ dies. (Fn. 2)~ Sabaß Schülergremien in der Jugendstrafrechtsptlege - Ein neuer Diversionsansatz. Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 2, 2004~ Englmann Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern - Rechtliche Probleme und spezialpräventive Wirksamkeit eines neuen Diversionsansatzes im Jugendstrafverfahren, 2009. Zum Schülerprojekt in Ingolstadt siehe auch Löffelmann ZJJ 2004, 171-177. 5 Schöch/Traulsen Legalbewährung nach Schülerverfahren. Die strafrechtliche Entwicklung von Jugendlichen, die am "Kriminalpädagogischen Schülerprojekt Aschaffenburg" teilgenommen haben, GA 2009, S. 19-44~ Englmann (Fn. 4)~ ders. ZJJ 2009, 216-226. 6 Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt~ Englmann (Fn. 5), S. 217. 7 Siehe z.B. Block/Kolberg ZJJ 2007, 8-18~ Breymann ZJJ 2007, 4-8~ Plewig ZJJ 2008, 237245. Eingehend und m.w.N. Englmann (Fn. 4), S. 218-222. 8 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de.

Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe

269

Obwohl es diesen auch nach dem Verfahrensablauf weitgehend gleicht, ist es rechtlich gesehen nicht wie diese ein Diversionsverfahren. Es handelt sich vielmehr um einen aus einem sozialpädagogischen Bedürfnis heraus entstandenen neuen Weg der Jugendhilfe. 9 Heinz Schöch billigt die lTbertragung seines Modells in die Jugendhilfe mit den Worten, er halte es "rur gut vertretbar, das Schülerverfahren im Einvernehmen mit den Erziehungsberechtigten als kriminalpädagogisches Angebot im Gesamtspektrum der Jugendhilfe anzuerkennen, durchaus auch unter dem Aspekt der kommunalen Kriminalprävention".IO Trotz mancher Unterschiede stimmen Jugendstrafrechtspflege und Jugendhilfe in dem Erziehungsziel überein, junge Menschen von - ggf. weiteren - Straftaten abzuhalten. 11 Die Entscheidung des DRK Kehl, dafür ein Schülerverfahren einzurichten, ist durch den Spielraum, den das SGB VIII den freien Trägem der Jugendhilfe rur die Gestaltung ihrer Maßnahmen gibt,12 gedeckt.

3. Fragestellung Zunächst soll geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen die Jugendhilfe Maßnahmen rur delinquente Minderjährige durchfuhren kann und welche Konsequenzen dies für ein Schülerverfahren in diesem Bereich hat. Es folgt eine Analyse der bisher in Kehl durchgeführten Verfahren.

11. Kriminalpräventive Reaktionen auf Straftaten Minderjähriger 1. JugendstrafVerfahren Wegen Gesetzesverstößen werden Jugendliche ab 14 Jahren nach dem JGG zur Verantwortung gezogen. Kinder unter 14 Jahren sind strafunmündig und erfahren daher keine Reaktion nach dem JGG. Auch für Jugendliche sieht das JGG regelmäßig dann keine erzieherischen Maßnahmen vor, wenn sie lediglich ein geringfügiges Vergehen begangen haben. In solchen Fällen kann die Staatsanwaltschaft nach § 45 I unter gewissen Vorausset-

9 Laut Breymann (Fn. 7), 4, 8 gibt es weder dieses Bedürfnis noch ein Projekt, das von der Jugendhilfe eingerichtet wurde. lü UnverötIentlichte Stellungnahme vom 1.6.2006. 11 Goerdeler ZJJ 2006, 4, 5; ders. ZJJ 2008, 137, 140. Siehe auch Schäch Neue Punitivität in der Jugendkriminalpolitik? In: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? 2009, S. 13,27. 12 Goerdeler 2006 (Fn. 11), 7~ Wiesner SGB VIII ,Kinder- und Jugendhilfe~ 3. Autl. 2006, § 27 Rn. 29.

270

Monika Traulsen

zungen von der Strafverfolgung absehen. Laut einer Umfrage unter Staatsanwälten geschieht dies in Baden-Württemberg z.B. bei Ladendiebstählen von Ersttätern, wenn der Sachwert weniger als ungefähr 30 Euro beträgt. 13

2.

~Jugendhilfe

Das Kehler Schülerverfahren wurde in der Annahme konzipiert, dass straffällige Kinder und Jugendliche ohne Jugendstrafverfahren keine zur Vermeidung weiterer Straftaten notwendige Konsequenz auf ihr Fehlverhalten erfahren. Daher soll besonders diesen Minderjährigen ein präventives Angebot der Jugendhilfe gemacht werden. 14 Ein derartiges Angebot richtet sich nach dem Jugendhilferecht. 15 Dieses sieht kriminalpräventive Maßnahmen der Jugendhilfe nur für solche Minderjährige vor, deren soziale Entwicklung gefährdet erscheint (§ 1 Abs. 3 Ziffer 1 SGB VIII). Nach kriminologischer Erkenntnis ist das Risiko, dass ein Täter weitere Straftaten begehen wird, bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit, insbesondere bei Gewaltdelikten, oder bei zusätzlichen Auffälligkeiten im Sozialverhalten erhöht. 16 Die Polizeiliche Dienstvorschrift 382, die sich mit der Bearbeitung von Jugendsachen befasst,17 trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem sie eine Unterrichtung des Jugendamts nur bei einer Gefährdung des Minderjährigen vorsieht. 18 Eine Gefährdung hält sie dann für gegeben, wenn er verdächtig ist, wiederholt oder in Gruppen Straftaten begangen zu haben, wenn er streunt oder wiederholt die Schule schwänzt oder wenn sein Wohl durch soziale Auffälligkeiten der Erziehungsberechtigten beeinträchtigt ist. 19 Nach allgemeiner Ansicht kann allein aus dem Begehen einer Straftat, zumindest eines Bagatelldelikts, weder auf Defizite in der Erziehung noch auf eine gestörte oder gefährdete Entwicklung des jungen Menschen geschlossen werden. 20 13 Dieser Wert wurde auch im Bundesdurchschnitt ermittelt. Feigen ZJJ 2008, 349, 353, 355. Zu den Unterschieden zwischen den Bundesländern siehe Tabellen 2 und 3, S. 355. 14 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de. 15 Walter ZJJ 2008, 224, 227. 16 Dölling in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, 1992, S. 38, 55 f.~ Dölling/Hartmann/Traulsen MschrKrim 2002, 185, 190~ Hein= in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 3, 51. 17 Abgedruckt in DVJJ-JoumaI1997, 5-24. 18 Allgemeine Verfahrensgrundsätze 3.2.7. 19 Im Einzelnen 2.2 Gefährdung Minderjähriger. 20 Albrecht in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, 2. Aufl. 1995, S. 254, 255~ Bindel-Kögel u.a. Kinderdelinquenz zwischen Polizei und Jugendamt, 2004, S. 31 ~ Philipp ZJJ 2009, 141 ~ Sonnen ZJJ 2009, 4, 6~

Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe

271

Für den Begriff der Bagatelldelinquenz gibt es keine einheitliche Definition. Vielmehr hängt es von der individuell aufgewendeten Energie und dem angerichteten Schaden ab, ob es sich um eine Bagatelltat handelt. 21 Eine Tat, die sich gegen ein persönliches Opfer richtet, wiegt schwerer als ein Diebstahl in einem anonymen Kaufhaus. Ein Beutezug durch mehrere Kaufhäuser oder der Diebstahl hochwertiger Gegenstände sind anders zu beurteilen als das Einstecken einer geringwertigen Sache, zumal wenn dies aus einer günstigen Gelegenheit heraus oder lediglich als Mutprobe geschieht. In der Regel können Taten, die von der Staatsanwaltschaft nach § 45 Abs. 1 JGG folgenlos eingestellt werden, als Bagatellen betrachtet werden.

3. Sonstige Reaktionen Die Entscheidung des Gesetzgebers, für Strafunmündige und im BagateIlbereich auch für Jugendliche kein Jugendstrafverfahren durchzuführen, bedeutet andererseits nicht, wie das DRK Kehl befürchtet, dass die Taten in kriminalpräventiver Hinsicht ganz folgenlos bleiben. Junge Straftäter berichten, dass die Erfahrung erwischt zu werden - bei Ladendiebstählen folgt dem Zugriff des Ladendetektivs im Allgemeinen auch noch ein Hausverbot .- und die Vernehmung auf der Polizeidienststelle einen starken Eindruck bei ihnen hinterlassen haben, mindestens ebenso wie die Bestrafung durch die Eltern, z.B. mit Hausarrest und Taschengeldentzug, und die Enttäuschung, die sie ihren Eltern bereitet haben. 22 Dies kommt im Besinnungsaufsatz einer Aschaffenburger Projektteilnehmerin deutlich. zum Ausdruck. Sie schrieb: "Ich möchte nie mehr zur Polizei und mich durchsuchen lassen, mir Fragen stellen lassen! Nie mehr soll meine Mutter mich mit weinenden Augen von der Polizei abholen! Auch kein Hausarrest möchte ich mehr bekommen wegen klauen!" Unter solchen Umständen werden darüber hinausgehende Maßnahmen der Jugendhilfe als überzogen, unverhältnismäßig und pädagogisch nicht vertretbar abgelehnt. 23

Stephan Justitia in Jugendhand? Beispiele von Schülergerichten - eine kritische Betrachtung aus sozialpädagogischer Sicht, 2009, S. 39 f. m.w.N.~ Streng ZJJ 2008, 148, 150 m.w.N.~ Walter in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 191,193. 21 Rössner in: Kleines Kriminologisches \Värterbuch (Fn. 20), S. 48, 49. 22 Bindel-I 1 sind die Odds der ersten Gruppe größer, bei Werten 0,05) Signifikant und theorieinkonsistent 1,96< t < 2,58 (0,01< a< 0,05) Hoch signifikant und theorieinkonsistent t> 2,58 (a< 0,05)

Prozentualer Anteil Alle Effektschätzungen 17,5

Prozentualer Anteil Effektschätzungen zu Tötungsdelikten 17,3

9,1

9,7

65,6

66,7

1,1

0,6

6,7

6,0

N=534, gewichtet

v. Der Einfluss methodisch-statistischer Kriterien der Untersuchungen auf das Untersuchungsergebnis Die Ergebnisse der Effektschätzungen wurden als t-Werte mit den oben beschriebenen Kategorien operationalisiert. Dieses Merkmal ist die abhängige Variable, die mit Hilfe multipler Regressionen erklärt werden soll. Es ist anzunehmen, dass sich die Art und Weise der Variablenoperationalisierung auf das Ergebnis auswirkt. Diese kann sich sowohl auf die unabhängige Variable beziehen, mit der der Grad der Abschreckung gemessen

21

Dölling u. a. 2006; Dölling u. a. 2007; Dölling u. a. 2009 (alle Fn. 7).

800

Dieter Hermann

wurde, als auch auf die abhängige Variable, die delinquentes Handeln erfasst. Hier wurden folgende Variablen in die Analyse einbezogen: -

Gesetzliche Androhung der Todesstrafe (nein / ja) Anzahl der Verurteilungen zur Todesstrafe (nein / ja) Anteil der Verurteilungen zur Todesstrafen an allen Verurteilungen (nein / ja) Anzahl der Vollstreckungen von Todesstrafen und Exekutionsrate (nein/ ja) Anzahl polizeilich registrierter Taten Anzahl polizeilich registrierter Tatverdächtiger Anzahl Verurteilte Anzahl Inhaftierte Kriminalitätsbelastungsziffer

Eine weitere Größe, die das Ergebnis einer Untersuchung beeinflussen könnte, ist die Konstruktion des statistischen Modells, das den Effektschätzungen zu Grunde liegt. Nahezu alle statistischen Analysen wurden multivariat durchgeführt, so dass die Auswahl der berücksichtigten Drittvariablen ein wichtiger Aspekt der Modellspezifikation ist. Für die Erklärung der Höhe der Effektschätzung wurde bedacht, welche Drittvariablen bei einer Effektschätzung berücksichtigt wurden: -

Alter (nicht berücksichtigt / berücksichtigt) Geschlecht (s.o.) Familienstand (s.o.) Nationalität (s.o.) Schulbildung (s.o.) Einkommen (s.o.) Arbeitslosigkeit (s.o.) Religion (s.o.) Jugendliche (s.o.) Hautfarbe (s.o.) Einkommensdivergenz (s.o.) Armut, Wohlfahrt (s.o.) Urbanität (s.o.) BIP, GDP (s.o.) Bevölkerungswachstum (s.o.) Erwerbspersonen (s.o.).

Zudem kann die Modellspezifikation eine Rolle spielen. Die einbezogenen Variablen sind: -

Anzahl der berücksichtigten Kontrollvariablen

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe

-

801

Logarithmische Transformation der abhängigen Variable (nein / ja) Abhängige Variable mit Differenzenoperator (nein / ja) Wurden andere Formen der Transformation verwendet (nein / ja) Fixed Effects Model/Querschnitt (nein / ja) Fixed Effects Model/Time (nein / ja) Modellkonstruktion linear (nein / ja) Modellkonstruktion additiv (nein / ja) Modell mit Fehlerkorrektur (nein / ja) Gewichtende Methode (nein / ja) Quer- oder Längsschnittstudie (Querschnitt / Längsschnitt)

Eine weitere unabhängige Variable ist die berufliche Verortung der Studienautoren. Dabei wird lediglich unterschieden, ob sie die Publikation als Mitglied einer wirtschaftswissenschaftlichen Einrichtung verfasst haben oder ob sie einer kriminologischen, soziologischen oder juristischen Organisation angehörten. Als weiteres Merkmal, das den Forschungskontext charakterisiert, wurde das Publikationsorgan berücksichtigt, wobei nur unterschieden wurde, ob der Beitrag in einer wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschrift oder in einem kriminologischen, soziologischen bzw. juristischen Medium veröffentlicht wurde. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der Analysen dargestellt. Der t-Wert wird schrittweise durch verschiedene Gruppen von unabhängigen Variablen erklärt. Spalte 1 der Tabelle enthält die standardisierten partiellen Regressionskoeffizienten ftir den Einfluss der Operationalisierungsvariablen auf die t-Werte. In Spalte 2 wurden zusätzlich zu den Operationalisierungsvariablen Kontrollvariablen berücksichtigt und in Spalte 3 Merkmale der Modellcharakterisierung. In der Tabelle sind ausschließlich signifikante Einflussfaktoren aufgeftihrt. Es zeigt sich, dass methodenspezifische Unterschiede in den Untersuchungen einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis haben. Vergleichsweise hohe t-Werte und damit Ablehnungen der Abschreckungshypothese erzielten Untersuchungen, in denen die unabhängige Variable als Anteil der Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen erfasst wurde, als Kontrollvariablen das Bruttoinlandsprodukt, der Urbanisierungsgrad oder die Einkommensdivergenz berücksichtigt wurden, die Anzahl der Kontrollvariablen groß war oder die spezifizierten Modelle lineare oder additive Verknüpfungen unterstellten. Vergleichsweise niedrige t-Werte und damit Bestätigungen der Abschreckungshypothese erzielten Untersuchungen, in denen die abhängige Variable als Kriminalitätsbelastungsziffer operationalisiert wurde, als Kontrollvariablen die Arbeitslosigkeit, das Armutsniveau oder der Anteil der Erwerbsbevölkerung berücksichtigt wurden, die Modellberechnungen mit Längsschnittdaten erfolgten oder Regressionskoeffi-

802

Dieter Hermann

zienten mit der gewichteten Methode der kleinsten Quadrate geschätzt wurden. Die erklärte Varianz liegt bei 24 Prozent. Tabelle 2: Erklärung des Untersuchungsergebnisses (Effektschätzungen) durch methodenspezifische Merkmale Unabhängige Variablen Operationalisierungen

Gesetzliche Androhung der Todesstrafe Anteil der Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen Kriminalitätsbelastungsziffer

Berücksichtigte Kontrollvariablen

(1)

(2)

(3)

0,17

--

--

0,09

0,11

0,10

-0,15

Arbeitslosigkeit Einkommensdivergenz Armut, Wohlfahrt

R2

-0,08 -0,17

0,11

0,09

-0,19

-0,21

Urbanität

0,19

0,14

BIP, GDP

0,14

0,12

-0,16

-0,17

Anteil der Erwerbsbevölkerung Modellspezifi kation

-0,11 -0,19

Anzahl Kontrollvariablen

0,13

Modellkonstruktion linear

0,11

Modellkonstruktion additiv

0,15

Gewichtende Methode

-0,15

Längsschnittstudie

-0,15 0,05

0,16

0,24

-- nicht signifikant

Der Anteil der Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen scheint nach dem Ergebnis in Tabelle 2 kein guter Abschreckungsindikator zu sein, während die Kriminalitätsbelastungsziffer besser in der Lage ist als andere Delinquenzvariablen, die Wirkungen der Todesstrafe zu erfassen. Von den Kontrollvariablen haben insbesondere Merkmale zur Charakterisierung von Armut und Reichtum einer Region bzw. Gesellschaft sowie Kennzeichen des Arbeitsmarkts einen Einfluss auf Schätzwerte, die den Einfluss der Todesstrafe auf Delinquenz beschreiben. Aus anomietheoretischer Sicht müsste Delinquenz durch die ökonomische Situation und durch Arbeitsmarktmerkmale erklärt werden: Ökonomische Deprivation und Ungleichheit sowie eine hohe Arbeitslosigkeit müssten zu einer hohen

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe

803

Delinquenzrate führen. Aus der Sicht dieser Theorie wäre ein Modell zur Erklärung von Delinquenz falsch spezifiziert, wenn diese Merkmale fehlen würden. Eine solche Fehlspezifikation müsste die Schätzungen zum Einfluss der Todesstrafe auf Delinquenz tangieren. In bivariaten Analysen zeigt sich besonders deutlich, wie die Berücksichtigung von nur einer der beiden Kontrollvariablen das Ergebnis tangiert. Der Anteil theoriekonsistenter und signifikanter Effektschätzungen liegt bei 34%, wenn die Arbeitslosigkeit als Kontrollvariable berücksichtigt wird; bei einer Berücksichtigung des Bruttoinlandsprodukts liegt dieser Anteil bei 80/0. Nach der Anomietheorie müssten beide Variablen relevant sein und die Berücksichtigung lediglich einer Variable müsste zu verzerrten Schätzungen führen. Allerdings gibt es von allen Effektschätzungen dieser Metaanalyse keine einzige, die beide Merkmale als Kontrollvariablen berücksichtigt hat, so dass alle Effektschätzungen verzerrt sein dürften. Nach Tabelle 2 hat auch die Modellspezifikation einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis. Dies stimmt mit dem Ergebnis der Metaanalyse von Yang und Lester überein. 22

VI. Der Einfluss forschungs- und publikationsspezifischer Kriterien auf das Untersuchungsergebnis Es wird postuliert, dass neben methodenspezifischen Besonderheiten von Effektschätzungen der Forschungs- und Publikationskontext einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis hat. Bereits Max Seheler und Karl Mannheim haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die sozialen Prozesse bei der Generierung von Wissen hingewiesen. Seheler redete in diesem Zusammenhang von der sozialen Natur des Wissens und Mannheim von der Seinsverbundenheit des Wissens. 23 Abschreckungsstudien werden in unterschiedlichen Fachrichtungen durchgeführt, die sich in präferierten Handlungstheorien und Menschenbildern unterscheiden. Solche Vorstellungen können die Ergebnisse publizierter Forschungsergebnisse beeinflussen, sei es durch Versuchsleitereffekte bei Experimenten, durch selektive Wahrnehmung und Interpretation von Ergebnissen, durch die Wahl von Methoden und Daten und durch die Präferenz theoriekonsistenter Ergebnisse bei Publikationen. 24 Somit könnte ver-

(Fn. 14). Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926~ l'vfannheim Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, 2. Aufl., hrsg. von Kurt H. Wolff, 1970. 24 Kriz Methodenkritik empirischer Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis, 1981. 22 Yang/Lester 23 Sehe/er

804

Dieter Hermann

mutet werden, dass die fachspezifisch dominierende Theorie über Abschreckung zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Dabei kann grob zwischen kriminologisch-soziologisch-juristisch und ökonomisch ausgerichteten Studien unterschieden werden. Effektschätzungen aus Untersuchungen psychologischer Institute wurden auf Grund der geringen Fallzahl ausgeschlossen. Der Grund fur die Differenzierung in diese beiden Gruppen liegt in den Diskrepanzen der jeweils präferierten Handlungstheorien und Menschenbilder. Während insbesondere in älteren ökonomischen Texten das Bild des homo oeconomicus dominiert, wird in der Kriminologie, Soziologie und Rechtswissenschaft die Vorstellung vom rein zweckrational handelnden Menschen mit skeptischer Zurückhaltung gesehen. 25 Demnach müssten empirische Falsifikationen der Abschreckungsstudien zur Todesstrafe in der Ökonomie dem wissenschaftlichen Mainstream stärker widersprechen als in Kriminologie, Soziologie und Rechtswissenschaft. Es wird postuliert, dass Effektschätzungen von Kriminologen, Soziologen und Juristen die Hypothese von der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe häufiger falsifizieren als Ökonomen. Das Ergebnis der Hypothesenprüfung ist in Tabelle 3 beschrieben. Es handelt sich wie in Tabelle 2 um multiple Regressionen, wobei der t-Wert durch verschiedene Gruppen von unabhängigen Variablen erklärt wird. Die Zahlenwerte sind standardisierte partielle Regressionskoeffizienten. In Spalte 1 wird, wie in Spalte 3 aus Tabelle 2, der Einfluss von Operationalisierungen, Kontrollvariablen und Merkmalen der Modellcharakterisierung als unabhängige Variablen dargestellt. In Spalte 2 wird zusätzlich der Einfluss der Institutsangehörigkeit der Forscher berücksichtigt, wobei lediglich unterschieden wird, ob er einem kriminologischen, soziologischen oder rechtswissenschaftlichen Institut angehört (Code 1) oder einem wirtschaftswissenschaftlichen (Code 2). In Spalte 3 wird diese Analyse wiederholt, wobei lediglich solche Effektschätzungen berücksichtigt wurden, die auf den Daten der Uniform Crime Reports basieren.

25 Manstetten Das Menschenbild in der Ökonomie - Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, 2002~ Diet:= Der hon1o oeconomicus, 2005~ Dahrendorf Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 16. Aufl. 2006~ Weber, M. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl. 1980 (Studienausgabe), hrsg. von 1. Winckelmann~ Auer Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2005~ Böckenförde Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001~ Dölling Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 2007,59-62.

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe

805

Tabelle 3: Erklärung des Untersuchungsergebnisses (Effektschätzungen) durch methodenspezifische Merkmale und durch den Forschungskontext Datenbasis der Effektschätzungen Unabhängige Variablen

Operationalisierungen

Berücksichtigte Kontrollvariablen

(2)

(3)

--

--

--

Anteil der Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen

0,10

0,08

--

Kriminalitätsbelastungsziffer

-0,08

--

--

Arbeitslosigkeit

-0,17

-0,17

--

0,09

--

--

-0,21

-0,11

Urbanität

0,14

--

---

BIP, GDP

0)2

0,18

--

-0,17

--

--

Anzahl Kontrollvariablen

0,13

0,19

--

Modellkonstruktion linear

0,11

--

--

Modellkonstruktion additiv

0,15

0,15

0,17

Gewichtende Methode

-0,15

--

--

Längsschnittstudie

-0,15

-0,16

--

-0,45

-0,35

0,31

0,17

Gesetzliche Androhung der Todesstrafe

Einkommensdivergenz

Erwerbspersonen

Forschungskontext R2 Fallzahl

Nur UCRDaten

(1)

Armut, Wohlfahrt

Modellspezi fi kation

Verschiedene Datenquellen

Institutsangehörigkeit Forscher 0,24 535

285

Nach den Ergebnissen in Tabelle 3 ist die Wahrscheinlichkeit einer Falsifikation von abschreckenden Effekten durch die Todesstrafe maßgeblich von der Fachrichtung des Forschers abhängig. Der standardisierte Regressionskoeffizient für dieses Merkmal ist erheblich größer als alle anderen des

806

Dieter Hermann

Modells. Auch wenn die Analyse auf solche Effektschätzungen beschränkt wird, die auf Daten der Uniform Crime Reports basieren, ist die Institutsangehörigkeit des Forschers die zentrale Variable, um Unterschiede in den Ergebnissen zu erklären. Neben dem Forschungskontext könnte auch die Fachrichtung des Publikationsmediums einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis haben. Allerdings veröffentlichen Kriminologen, Soziologen und RechtswissenschaftIer ihre empirischen Studien zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe in der Regel in kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschriften. Von den hier berücksichtigten Studien wurden 97 % fachintern veröffentlicht, lediglich 30/0 der einschlägigen Arbeiten von Kriminologen, Soziologen und Rechtswissenschaftlern wurden in ökonomischen Zeitschriften publiziert. Die Publikationspraxis von Ökonomen hingegen weist interdisziplinäre Aspekte auf: 800/0 der Arbeiten erschienen in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften und 20% wurden in kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Medien veröffentlicht. Die Beziehung zwischen der Fachrichtung des Publikationsorgans und dem Ergebnis einer Studie kann somit in erster Linie fur Veröffentlichungen aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich überprüft werden. Das Resultat der entsprechenden Analyse ist in Schaubild 2 grafisch dargestellt. Publizieren Ökonomen ihre Ergebnisse zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe in ökonomischen Fachzeitschriften, sind 49% der Effektschätzungen theoriekonsistent und signifikant; erfolgt die Veröffentlichung in kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Medien, trifft dies lediglich für 28% zu. Bei den Effektschätzungen von Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern sind lediglich 9% theoriekonsistent und signifikant. Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn anstatt der Effektschätzungen die Beurteilungen der Forscher über das Gesamtergebnis der Studie betrachtet werden. Dieses Gesamturteil wurde auf einer Skala von -2 (volle Zustimmung zur Abschreckungshypothese) bis +2 (volle Ablehnung der Abschreckungshypothese) erfasst. Der Grad der Zustimmung ist unter Ökonomen deutlich größer als unter Kriminologen, Soziologen und Rechtswissenschaftlern. Beschränkt man die Analyse auf Studien, die auf den Daten der Uniform Crime Reports basieren, erhält man folgende Ergebnisse: 15 Studien stammen von Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern. Der Durchschnittswert fur das Gesamturteil dieser Untersuchungen liegt bei + 1,2; dies entspricht einer teilweisen Ablehnung der Abschreckungshypothese. 16 Studien stammen von Ökonomen; davon wurden 14 in ökonomischen Zeitschriften publiziert. Der Durchschnittswert für diese Untersuchungen liegt bei -1,4; dies entspricht einer teilweisen Zustimmung zur

Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe

807

Abschreckungshypothese. Zwei Studien von Ökonomen wurden in kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschriften veröffentlicht - der Durchschnittswert rür diese Untersuchungen beträgt -0,5. Infolgedessen beeinflusst die Fachrichtung der Zeitschrift das Untersuchungsergebnis. Entsprechende Resultate zeigen sich auch bei Studien, die nicht auf Daten der Uniform Crime Reports basieren. Schaubild 2: Beziehung zwischen der Institutsangehörigkeit des Forschers, dem Publikationsorgan und dem Anteil theoriekonsistenter und signifikanter Effektschätzungen

Somit bilden die Institutszugehörigkeit des Forschers und die Fachrichtung der Publikation einen ergebnisrelevanten Forschungskontext. Dies kann einerseits durch das theoretische Vorverständnis der Forscher und andererseits durch Selektionsprozesse bei Veröffentlichungen erklärt werden.

VII. Fazit Insgesamt gesehen sprechen die Ergebnisse der Metaanalyse mit Studien zur Todesstrafe für eine erhebliche Verzerrung der Forschungsergebnisse.

808

Dieter Hermann

Den größten Einfluss auf die Ergebnisse hat der Forschungskontext; die Fachrichtung der Forscher und des Publikationsorgans bestimmen die (publizierten) Resultate. Auf Grund der empirischen Untersuchungen von Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern müsste man die Hypothese von der Abschreckungswirkung der Todesstrafe ablehnen, während die Untersuchungsergebnisse von Wirtschaftswissenschaftlern den umgekehrten Schluss nahelegen, wenn die Veröffentlichung in einer wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschrift erfolgte. Durch diese Mechanismen der Wissenschaftsproduktion und -publikation sind fachspezifisch unterschiedliche Wissenswelten entstanden: Während im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext durch die Bestätigung der Abschreckungshypothese das Bild vom homo oeconomicus gefestigt wird, unterstützen die Untersuchungen von Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern die in diesen Fachrichtungen gebräuchlichen nicht-utilitaristischen Handlungstheorien. Die durchgeführte Metaanalyse kann die Frage, welche Untersuchungsergebnisse zuverlässiger sind, nicht beantworten. Allerdings legen die Analysen der hier vorgestellten Studie eine Hypothese nahe, die den Einfluss des Forschungskontextes auf das Untersuchungsergebnis erklären kann. Sind Abschreckungseffekte der Todesstrafe nur gering oder gar nicht vorhanden, so können in Untersuchungen zufällig signifikante Ergebnisse erzielt werden. Bei einem Signifikanzniveau von 5% sind 50/0 der Effektschätzungen aus Zufallsstichproben signifikant, auch wenn in der Grundgesamtheit kein Zusammenhang besteht. Bei den Untersuchungen zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe werden zwar keine Zufallsstichproben verwendet, aber die vorgestellten inferenzstatistischen Überlegungen können auch auf andere Stichprobenarten übertragen werden das Auswahlverfahren für die Untersuchungsobjekte beeinflusst das Untersuchungsergebnis. Zudem führen Modifikationen der Modellspezifikation, des Analyseverfahrens und der Operationalisierungen zu einem veränderten Anteil signifikanter Effektschätzungen. Das theoretische Vorverständnis des Forschers und Selektionen durch den Publication Bias haben eine Filterwirkung, so dass die veröffentlichten Ergebnisse durch fachspezifische Wissenschaftsproduktionsund Publikationsprozesse verzerrt sind. Nach dieser Hypothese könnte nicht von einer Abschreckungswirkungswirkung der Todesstrafe ausgegangen werden. Auf jeden Fall können die Publikationen zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe nicht zur Legitimation dieser Sanktion herangezogen werden, denn das Ergebnis von Studien ist in erster Linie vom Forschungskontext abhängig. Somit fehlt der Todesstrafe die generalpräventive Rechtfertigung.

VI. Strafprozessrecht

Gefahren im strafprozessualen Denken

LUTZ MEYER-GOSSNER

I. Im materiellen Strafrecht besteht bei der Auslegung des Gesetzes weniger eine substantielle, als mehr eine individuell-konkrete Gefahrenlage: Es geht stets um die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt unter eine Norm des StGB oder eines strafrechtlichen Nebengesetzes (BtMG, WaffG usw.) zu subsumieren ist; ist dies möglich, kommt es zur Verurteilung, scheidet dies aus, muss freigesprochen werden. Natürlich sind hierbei die bei der Gesetzesanwendung gebotenen Auslegungsmöglichkeiten zu beachten, nämlich die grammatische, die systematische und die teleologische Auslegung, zu der noch die verfassungskonforme Auslegung und die Beachtung des objektivierten Willens des Gesetzgebers hinzutritt. l Aber dass unter Anwendung dieser Auslegungsmethoden ein Ergebnis gefunden werden muss, ist unstreitig. Es gibt im materiellen Recht nicht irgendwelche weiteren Prinzipien, die etwa die Aufgabe der Gesetzessubsumtion zur Findung des Ergebnisses (Strafbarkeit oder nicht?) ablösen könnten. Anders sieht es im Prozessrecht aus. Hier stehen zwar die Normen der StPO und der sonstigen prozessualen Gesetze (insbesondere GVG und OWiG) zur Verfügung; aber immer dann, wenn ein Verfahren nicht strikt nach diesen vorgegebenen Normen abgelaufen ist, stellt sich die Frage, was die Folge eines Regelverstoßes ist oder sein soll. Hier ist die Phantasie des Gesetzesanwenders gefragt; dabei droht eine große Gefahr: Der Gesetzesanwender kann Folgerungen "erfinden", um zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen. Die prozessuale "Stimmigkeit" der Entscheidung kann dadurch beseitigt und ein den Rechtsanwender zwar zufrieden stellendes, der Prozessordnung aber widersprechendes - eben ein nicht "richtiges" - Ergebnis erzielt werden. Diese zunächst vielleicht etwas theoretisch anmutenden Erwägungen sollen im Folgenden an einigen Beispielen aus der Rechtsprechung erläutert 1 Vgl.

Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 190 ff.

812

Lutz Meyer-Goßner

werden. Es kann hier selbstverständlich nicht eine ins Einzelne gehende systematische Untersuchung vorgelegt werden;2 vielmehr handelt es sich mehr um "Momentaufnahmen", also um die Betrachtung von Entscheidungen, bei denen der kundige Leser - bildlich gesprochen - "zusammenzuckt". Insgesamt werden darur sechs Entscheidungen beleuchtet werden. Es wird darin - plakativ gesprochen - um folgende Fragen gehen: Was Was Was Was Was Was

ist ein "gutes" Ergebnis? ist ein "gerechtes" Ergebnis? ist ein "passendes" Ergebnis? ist ein für das Verfahren "nützliches" Ergebnis? ist ein das Verfahren "vereinfachendes" Ergebnis? wäre ein für das Verfahren "zu schlimmes" Ergebnis?

Nach Betrachtung dieser Einzelfälle wird sich ein gewisses Resümee über gefahrvolle Gesetzesauslegung im Strafprozessrecht ziehen lassen.

11. 1. Im ersten Fall geht es um das Problem, eine rur den Beschuldigten "gute", ihn also nicht benachteiligende - oder sogar ihm einen Vorteil verschaffende - Entscheidung zu finden. Hierzu soll eine Entscheidung des OLG München 3 dienen, die sich ihrerseits allerdings an früherer Rechtsprechung des BGH4 orientiert hat. Der Sachverhalt: Das Amtsgericht hatte die Angeklagte durch einen Strafbefehl wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu 60 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt. Die Angeklagte legte hiergegen verspätet Einspruch ein. Das Amtsgericht übersah die Verspätung und verurteilte die Angeklagte nach durchgeführter Hauptverhandlung zu 40 Tagessätzen zu je 15 Euro. Auf die (Sprung-)Revision der Angeklagten hob das OLG das Urteil auf und verwarf den Einspruch als unzulässig, allerdings mit der Maßgabe, dass es bei der durch das Urteil verhängten (herabgesetzten) Geldstrafe verbleibe. Zur Begründung führt der Senat aus,5 er müsse das in §§ 331, 358 Abs. 2 StPO verankerte Verbot der Schlechterstellung beachten, denn die Revision hätte sonst "tatsächlich dazu geführt, dass sie zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt wäre, während 2 Dazu etwa LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. M. Rn. 1a ff; Jahn in: Jahn/Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft - getrennte Welten? 2008, S.7. 3 NJW 2008, 1331 mit Anm. Meyer-Goßner. 4 BGHSt 18, 127. 5 Fn. 3, 1332.

Gefahren im strafprozessualen Denken

813

es bei der durch das Urteil verhängten Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15 Euro verblieben wäre, wenn sie von der Revision Abstand genommen hätte". Das ist richtig, aber nur eine Sachverhaltsschilderung und keine Begründung dafür, warum dieses Ergebnis nicht eintreten dürfe. Die "Begründung" liefert dann allein der anschließende Satz: "Diese Folge darf das allein von der Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Revision nicht haben." Wieso denn nicht? Wenn doch der Einspruch gegen den Strafbefehl verspätet, der Strafbefehl somit rechtskräftig war? Wenn - wie das OLG zutreffend feststellt - das Amtsgericht wegen Rechtskraft des Strafbefehls nicht über die Sache verhandeln und damit auch keine andere Strafe als im Strafbefehl aussprechen durfte, wieso darf das OLG dann diese unrechtmäßig verhängte Strafe aufrechterhalten? Mit anderen Worten: Wenn die Rechtskraft hinsichtlich der amtsgerichtlichen im Strafbefehl erfolgten Verurteilung zu beachten war, wieso dann nicht für das OLG? Darf sich ein OLG über die Rechtskraft hinwegsetzen? Nein, das darf das OLG ebenso wenig wie der BGH. Das hat der BGH inzwischen auch erkannt: Er hat in einer Sache, in der er auf die Revision des Angeklagten die vom Landgericht festgesetzte Strafe herabgesetzt hatte, ihm aber erst danach bekannt wurde, dass der Angeklagte seine Revision zurückgenommen hatte, judiziert, dass seine Entscheidung wegen der Revisionsrücknahme gegenstandslos sei, es also bei der vom Landgericht festgesetzten (höheren) Strafe verbleibe. 6 Der BGH hat sich damit - ohne dies allerdings in der Entscheidung zu sagen - von seiner früheren Rechtsprechung 7 zu Recht distanziert: Es ist eben verfehlt, rechtskräftige und nicht-rechtskräftige Entscheidungen (wie dort geschehen und vom OLG München übernommen) gleichzusetzen. Was hier die juristische Deduktion einfach ins Hintertreffen geraten ließ, war offensichtlich der Gedanke: Die "arme" Angeklagte darf doch nicht einen Nachteil durch einen Fehler des Gerichts erleiden. Aber einem Angeklagten helfen zu wollen, obwohl das Gesetz etwas anderes sagt, ist keine juristische Argumentation, sondern eine Gnadenentscheidung. Das Gesetz lässt Durchbrechungen der Rechtskraft nur in den ausdrücklich von ihm geregelten Fällen zu. Wenn sie sonst zu Nachteilen fuhrt, so kann nicht deswegen, weil das Ergebnis fur den Angeklagten hart und nicht gut erscheint, die gesetzliche Regelung einfach über Bord geworfen werden. Das kann nur der Gesetzgeber, aber nicht die Rechtsprechung ändern. Es bleibt dann in der Tat nur der Hinweis auf den Gnadenweg.

6

7

BGH bei Becker NStZ-RR 2006, 5 = StraFo 2005, 71. Fn. 4.

814

Lutz Meyer-Goßner

So hat denn der BGH sich auch bemüßigt gefühlt, in der neueren Entscheidung 8 am Ende darauf hinzuweisen, "es werde auf der Hand liegen, dem Angeklagten im Gnadenwege die gleiche Strafreduzierung zu gewähren, die in dem gegenstandslosen Senatsbeschluss ausgesprochen worden ist". Aber liegt das wirklich "auf der Hand"? Der Angeklagte hatte sich doch durch die Revisionsrücknahme mit dem Urteil des Landgerichts einverstanden erklärt. Wieso soll er jetzt einen Vorteil daraus ziehen dürfen, dass der BGH trotz Rechtskraft der landgerichtlichen Entscheidung die Strafe herabgesetzt hatte? In allen anderen Fällen, in denen eine rechtsfehlerhafte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, muss der Angeklagte dies doch auch hinnehmen. Nur wenn die Entscheidung derart fehlerhaft ist, dass ihre Aufrechterhaltung unerträglich wäre, greift die Gnadenbehörde ein. Davon konnte hier aber keine Rede sein. Noch deutlicher wird dies im Ausgangsfall. Warum soll die Angeklagte hier einen Vorteil erhalten, der ihr - weil sie die Einspruchsfrist versäumt hatte - doch gar nicht zustand? Eh. Schmidt hat hier sehr hübsch von einer "ergatterten Vergünstigung" gesprochen. 9 Wenn es also bei der im Strafbefehl rechtskräftig verhängten Strafe bleibt, so wird der Angeklagten nur die "ergatterte Vergünstigung" genommen, aber nicht ein Nachteil zugefügt. 10 Der menschlich verständliche Gedanke, dem Angeklagten keinen Nachteil zufügen zu wollen, wird hier somit dahin verkehrt, ihm ungerechtfertigte Vorteile zu sichern. Der Wunsch, ein "gutes" Ergebnis herbeizuführen, hat das strafprozessual richtige Denken blockiert! 2. Kürzlich ist im Anschluss an eine BGH-Entscheidung auch ein heftiger Streit darüber entbrannt, ob man sich denn mit einem "ungerechten" Ergebnis abfinden dürfe. Worum geht es? In einem Strafverfahren waren eine Heranwachsende und ein Erwachsener gemeinsam angeklagt und vom Amtsgericht des gemeinschaftlichen Raubes schuldig gesprochen worden. Beide legten gegen ihre Verurteilung Berufung ein, die das Landgericht als unbegründet verwarf. Der erwachsene Angeklagte legte sodann gegen das Berufungsurteil Revision ein. Das OLG Karlsruhe ll hielt die Revision für begründet; es war der Ansicht, möglicherweise liege (wegen fehlender finaler Verknüpfung) nur Diebstahl und Nötigung vor. Es wollte das Urteil daher aufheben und die Aufhebung gemäß § 357 StPO auf die Heranwachsende erstrecken. An dieser Entscheidung sah es sich aber durch ein Urteil des OLG Oldenburg 12 gehindert, das

Fn. 6. Lehrkommentar zur StPO und zum OVG, Nachtragsband 1, 1967, § 411 StPO Rn. 15. 10 V gl. dazu weiter Meyer-Goßner N1W 2008, 3132. 11 Z11 2006, 74. 12 N1W 1957, 1450.

8 9

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§ 357 StPO wegen § 55 Abs. 2 JGG (Revision nach durchgeführter Berufung nicht mehr statthaft) für unanwendbar gehalten hatte. Das OLG Karlsruhe legte die Frage daher dem BGH vor, hatte hier aber keinen Erfolg: Der BGH entschied 13 wie das OLG Oldenburg. Diese Entscheidung des BGH provozierte eine stattliche Reihe von - ablehnenden - Anmerkungen mit unterschiedlichen Begründungen. 14 In einem Punkt aber waren sich alle Anmerkungsverfasser einig: Es sei doch höchst ungerecht, dass unter Erwachsenen eine Revisionserstreckung nach § 357 StPO stattfinde, hinsichtlich eines Jugendlichen oder Heranwachsenden im Fall des § 55 Abs. 2 JGG aber nicht; die materielle Gerechtigkeit verlange hier eine Erstreckung der Entscheidung auf den Nichtrevidenten. Wenn auch natürlich alle Anmerkungsverfasser sich nicht nur auf das Gerechtigkeitsargument beschränken,15 so nimmt dieses doch jeweils breiten Raum ein und wird zur Begründung zumindest mit verwendet. Aber weil ein Ergebnis ungerecht erscheinen mag, muss es noch nicht falsch sein: Es kann ja durchaus sein, dass der Gesetzgeber eine Regelung getroffen hat, die zu ungerecht anmutenden Ergebnissen führt. Aber dann muss dieser das Gesetz ändern; der Richter darf ihm nicht einfach die Gefolgschaft verweigern, weil er damit gegen Art. 97 Abs. 1 GG ("Gesetzesunterworfenheit der Richter") verstoßen würde. Wie gefahriich dieses Gerechtigkeitsargument ist, zeigt sich auch daran, dass unter den Rechtsanwendern durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen können, was "gerecht" ist: Während die Anmerkungsverfasser die Entscheidung des BGH unisono für ungerecht hielten, war der BGH offenbar durchaus nicht dieser Ansicht, indem er darauf hinwies, einem Jugendlichen bleibe dadurch das Risiko erspart, "aus dem als besonders behandlungs- und erziehungsorientiert geltenden Jugendstrafvollzug gerissen [zu werden], um später nach erneuter - gegebenenfalls langwieriger - Hauptverhandlung die Jugendstrafe wieder anzutreten".16 Weil "Gerechtigkeit" auch eng mit dem "Gerechtigkeitsgefühl" zusammenhängt, begibt man sich mit Gerechtigkeitsargumentationen auf dünnes Eis. Wer also meint, wenn er eine Entscheidung als "ungerecht" erkannt habe, hätte er bereits die Lösung eines Falles in der Hand, verlässt ebenso wie derjenige, der ein "gutes" Ergebnis erzielen möchte, den festen Boden strafprozessualer Argumentation.

BGHSt 51, 54 = NJW 2006, 2275 = NStZ 2006, 518. Altenhain NStZ 2007, 283~ Mohr JR 2006, 499: Prittwitz StV 2007, 52~ Satzger FS Böttcher, 2007, S. 175~ Sowada HRRS 2006, 376. 15 Dazu im Einzelnen Meyer-Goßner FS Eisenberg, 2009, S. 399. 16 NStZ 2007, 283~ zur Kritik an dieser Argumentation Meyer-Goßner a.a.O., S. 401. 13

14

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3. Noch viel bedenklicher ist es aber, wenn die Rechtsprechung neue verfahrensrechtliche Formen "erfindet", die in der StPO nicht vorgesehen sind. Damit wird dann nämlich eine freie Rechtsschöpfung betrieben, wodurch die strafprozessual vorgeschriebenen Formen aufgelöst werden. Hierfür bietet die Entscheidung BGHSt 35, 137 ein (nicht-) schönes Beispiel: In dem Revisionsverfahren hatte die Staatsanwaltschaft ohne erkennbaren Grund fast fünf Jahre verstreichen lassen, bis sie die Akten dem BGH nach § 347 StPO vorgelegt hatte. Weil dem BGH eine abschließende Entscheidung der Sache aus materiell-rechtlichen Gründen nicht möglich war, wäre eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht erforderlich gewesen. Der Senat wollte das nun schon so lange anhängige Verfahren aber abschließen. Er schlug der Staatsanwaltschaft die Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO vor; die Staatsanwaltschaft stimmte jedoch nicht zu. Zur Annahme eines Verfahrenshindernisses wegen überlanger Prozessdauer vermochte sich der 3. Strafsenat des BGH nicht durchzuringen. 17 Was also tun? Der BGH entschloss sich zu einem "Abbruch des Verfahrens"; das Verfahren war dadurch - wie gewünscht - beendet und damit war "das passende Ergebnis" gefunden! Aber um welchen Preis! Der BGH hatte eine neue Form der Verfahrensbeendigung "erfunden". Obwohl er mit dem "Verfahrensabbruch" inhaltlich nichts anderes als eine Verfahrenseinstellung vorgenommen hatte, wurde formell die Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses vermieden. Ein Gericht darf aber nicht einfach neue, ihm passende Verfahrenserledigungsformen kreieren, nur um ein passendes Ergebnis zu erzielen: Da das Gesetz als Voraussetzung der Verfahrenseinstellung ein Verfahrenshindernis verlangt, dürfen sonstige Verfahrensverstöße nicht als ausreichend für eine Einstellung des Verfahrens angesehen werden. Der BGH hätte daher, wenn er weder eine Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses bejahen wollte noch eine Zurückverweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung nach § 354 Abs. 2 StPO für vertretbar hielt, den Angeklagten freisprechen müssen, weil die rechtliche Möglichkeit, ihm eine Straftat in noch angemessener Zeit nachzuweisen, damit nicht mehr bestand; 18 der Senat durfte sich aber nicht einfach ein ihm passendes Ergebnis schneidern. 4. Einem zum Verfahren "passenden" Ergebnis ähnlich ist auch das dem Verfahren "nützliche" Ergebnis, "nützlich" nämlich insofern, als es geeignet ist, das Verfahren schnell und vermeintlich komplikationslos zu beenden.

17 Erst im Jahre 2000 hat der 2. Strafsenat des BGH - BGHSt 46, 159 - das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses "in außergewöhnlichen Einzelfällen" anerkannt. 18 Vgl. ausführlicher zum Ganzen Meyer-Goßner FS Eser, 2005, S. 383 ff.; dort auch S. 379 ff. - zu einem weiteren Fall einer verfehlten "Rechtsschöpfung" durch den BGH.

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Hier bietet sich als Beispiel die Behandlung des § 329 StPO in der Rechtsprechung an: Nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist. Das Berufungsgericht könnte also darauf spekulieren, dass der Angeklagte nicht zur Hauptverhandlung kommt und deswegen darauf verzichten, die Akten - oder zumindest das erstinstanzliche Urteil - durchzuarbeiten. Das wird ein verantwortungsbewusster Richter aber natürlich nicht tun; denn er nimmt lieber, falls der Angeklagte nicht erscheint, die vertane Zeit für das Aktenstudium in Kauf, als die Berufungsverhandlung unvorbereitet durchzuführen, falls der Angeklagte kommt. Nun passiert es aber immer wieder, dass der Berufungsrichter beim Aktenstudium feststellt, dass eine Prozessvoraussetzung fehlt, vornehmlich, dass die Sache schon vor Erlass des amtsgerichtlichen Urteils verjährt war oder dass ein notwendiger Strafantrag fehlte. Die verfahrensmäßige Behandlung scheint schnell gefunden: Das Verfahren wird außerhalb der Hauptverhandlung gemäß § 206a StPO eingestellt, 19 und damit ist die Sache bei Verjährung endgültig, bei fehlendem Strafantrag jedenfalls zunächst erledigt. Aber ist dieses - dem Verfahren sicherlich "nützliche" - Ergebnis richtig? Wenn der Berufungsrichter bei Durcharbeiten von Akte und Urteil einen materiell-rechtlichen Fehler erkennt - schlimmstenfalls, dass die abgeurteilte Tat gar nicht strafbar ist -, muss er trotzdem Hauptverhandlungstermin ansetzen und die Berufung verwerfen, wenn der Angeklagte zum Termin nicht erscheint. Hat das Amtsgericht z.B. einen Diebstahl angenommen, obwohl nur ein strafloser furtum usus gegeben ist, kann der Fehler nur durch ein freisprechendes Urteil in einer Berufungsverhandlung behoben werden. Hat das Amtsgericht aber zugleich übersehen, dass rur die "Tat" nach § 247 StGB ein Strafantrag erforderlich gewesen wäre, der nicht vorliegt, soll es das Verfahren ohne weiteres einstellen können? Das kann nicht richtig sein; denn, um zu § 247 StGB zu kommen, muss das Gericht zwangsläufig zunächst § 242 StGB prüfen. 20 Aber davon abgesehen liegt hier ein grundsätzlicher Fehler vor: Die Annahme, ein Verfahrenshindernis müsse stets von Amts wegen beachtet werden und zur Einstellung des Verfahrens ruhren,21 ist eine überholte Vorstellung: So hat der BGH schon 1961 entschieden,22 dass eine zwar in

19

So BGHSt 21, 242~ 46, 230.

20 Vgl. näher dazu Meyer-Goßner NStZ 2003, 169 ff. 21

So etwa Eh. Schmidt JZ 1962, 155.

22 BGHSt 16,115 gegen BGHSt 15,203.

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rechter Form und Frist eingelegte, jedoch nicht ordnungsgemäß begründete Revision auch dann als unzulässig zu verwerfen ist, wenn der Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hatte. In dieser Entscheidung, der sich die ganz h.M. im Schrifttum angeschlossen hat,23 ist zutreffend ausgeführt,24 dass Fehler bei der Beurteilung der Verfahrensvoraussetzungen grundsätzlich nicht schwerer wiegen als Fehler bei der Anwendung des sachlichen Rechts. Dies muss ebenso wie bei der Revision für die Berufung gelten: Wenn das Berufungsgericht bei der Vorprüfung das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung feststellt, muss es das ebenso unberücksichtigt lassen, wie wenn es einen sachlich-rechtlichen Fehler entdeckt. Vom Angeklagten wird verlangt, dass er zur Berufungsverhandlung erscheint, wenn sich das Berufungsgericht mit seiner Sache befassen soll. Unrichtig ist daher auch die Entscheidung BGHSt 46, 230, in der der BGH meinte, die Entscheidung dieser Frage offen lassen zu können, für die Revision aber gleichwohl davon ausging, das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung müsse hier beachtet werden. Abgesehen davon, dass die Frage in Berufung und Revision nicht unterschiedlich behandelt werden kann und ein Berufungsurteil nicht aufgehoben werden darf, wenn das Berufungsgericht richtig entschieden hatte, muss die Frage für das Berufungsverfahren geklärt werden; hier kann das Ergebnis aber nur sein, dass bei Nichterscheinen des Angeklagten das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung ebenso wenig der Verwerfung der Berufung entgegenstehen kann wie ein sachlich-rechtlicher Fehler. 25 So "nützlich" es erscheinen mag, hier die Hauptverhandlung nicht abzuwarten, sondern das Verfahren gleich einzustellen, so fehlerhaft ist es auch. Um die Anberaumung einer Hauptverhandlung kommt der Berufungsrichter also nicht herum; dafür ist die Durchführung der Hauptverhandlung aber problemlos und schnell beendet, wenn der Angeklagte nicht erscheint. 5. Noch schlimmer als eine auf "Nützlichkeit" statt auf prozessualer Folgerichtigkeit aufbauenden Entscheidung ist es aber, wenn aus verfahrensökonomischen, also das Verfahren angeblich vereinfachenden Erwägungen die gesetzliche Systematik unbeachtet bleibt. Hier denke ich an die von mir schon mehrfach angesprochene 26 "Unsitte", ein Rechtsmittelverfahren, in dem der Tatrichter das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses übersehen hatte, nach § 206a StPO einzustellen. Auch hier hat leider zuerst der BGH die Weiche falsch gestellt:

23 Meyer-Goßner (Fn. 1), § 346 Rn. 11 ~ a. M. aber immer noch Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 55 Rn. 66. 24 A.a.O. S. 119. 25 Zutreffend daher die Kritik von Duttge NStZ 2001, 442. 26 Zuerst in GA 1973,366, sodann in FS RieB, 2002, S. 332 und in FS Roxin, 2001, S. 1349.

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In der Entscheidung BGHSt 24, 208 hatte sich der BGH auf Vorlegung durch das Bayer. Oberste Landesgericht damit zu befassen, ob eine Revisionserstreckung nach § 357 StPO auch dann zulässig sei, wenn das Revisionsgericht durch Beschluss vor der Hauptverhandlung und nicht in der Hauptverhandlung durch Urteil entscheide. Der BGH hat diese Frage - in Übereinstimmung mit der damals schon ganz h.M. in Rechtsprechung und Schrifttum27 - zutreffend bejaht. Ohne die Brisanz der Entscheidung zu erkennen, hält der BGH dabei die Einstellung nach § 206a StPO für zulässig und behandelt erst am Ende seines Beschlusses 28 auch die Einstellung nach § 349 IV StPO, wobei er diese lediglich zur Bekräftigung seiner zuvor getroffenen Entscheidung heranzieht. Der BGH hatte sich bei seiner Entscheidung über den Wortlaut des § 357 StPO hinweggesetzt; denn dieser knüpft die Revisionserstreckung ausdrücklieh an die Urteilsaufhebung an; eine Aufhebung des Urteils erfolgt bei § 206a StPO jedoch - unstreitig - nicht, diese macht das angefochtene Urteil vielmehr nur gegenstandslos. Schlimmer ist aber, dass Rechtsprechung und Schrifttum aus der Entscheidung die Folgerung gezogen haben, ein Verfahren könne auch dann nach § 206a StPO eingestellt werden, wenn der Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hatte, der Fehler also ins angefochtene Urteil eingegangen war. Auch der BGH war offenbar der Ansicht, Einstellung nach § 206a und Einstellung nach § 349 Abs. 4 stünden gleichberechtigt nebeneinander. Daraus wurde flugs die Folgerung gezogen, das Revisionsgericht könne sich aussuchen, nach welcher Vorschrift es entscheiden wolle. 29 So hat der BGH auch noch 2007 entschieden 30 und ein Verfahren "unter Aufhebung des Urteils" C!) nach § 206a StPO eingestellt. Aber das ist falsch, wie nun auch die oberlandesgerichtliehe Rechtsprechung 31 und die inzwischen wohl überwiegende Ansicht im Schrifttum32 erkannt haben. Nur weil es einfach schien, wurden die gesetzlichen Unterschiede zwischen zwei Vorschriften einplaniert. Dass es doch ausgeschlossen ist, dass die StPO dieselbe Verfahrensfrage zweimal regelt, wurde dabei geflissentlich übersehen. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine theoretische Gedankenarbeit ohne praktische Auswirkungen: Die Anwendung des § 357 StPO hängt davon ab, ob eine Einstellung nach § 206a wegen eines erst nach Erlass des tatrichterlichen Urteils eingetretenen VerfahrenshindemisNachweise in BGHSt 24,209. S. 213. 29 LR-Meyer, 23. Aufl. 1978, § 349 Rn. 28~ ebenso Hanack, § 349 Rn. 35 in der 24. und 25. Aufl. 1985 und 1998, und immer noch Stuckenberg in der 26. Aufl. 2008, § 206a Rn. 17. 30 StraFo 2007,194 = NStZ-RR 2007, 179 = wistra 2007,154. 31 KG StraFo 2009, 286; OLG Celle NStZ 2008,118; OLG Jena VRS 110, 128, 129. 32 Vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 1), § 206a Rn. 6. 27 28

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ses erfolgte oder ob dieses bereits beim tatrichterlichen Urteil vorlag, aber übersehen wurde: Im ersten Fall erfolgt keine Urteilsaufhebung, sondern nur die Einstellung nach § 206a StPO und folglich auch keine Revisionserstreckung, im zweiten Fall wird das Urteil aufgehoben und § 357 StPO ist anwendbar. Die vermeintlich "einfache" Lösung, § 206a StPO stets anzuwenden, enthält also die Gefahr einer Fehlentscheidung bei § 357 StPO. 6. Eine letzte "Gefahr", die allerdings ganz anders liegt als die bisher erörterten Fälle, soll zuletzt noch erörtert werden: Die Rechtsprechung darf zwar nicht die Konsequenzen aus den Augen verlieren, die eine Entscheidung für die Aufklärung von Straftaten haben kann. Hier kommt es aber vor, dass die Rechtsprechung vor den Folgerungen zurückschreckt und mit nicht überzeugenden Begründungen der Beantwortung einer Frage ausweicht. Der dafür wohl als besonders einschlägig zu bezeichnende Fall ist das Problem, ob ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 1. Alt. StPO ein Verwertungsverbot hinsichtlich der vom Beschuldigten ohne Belehrung gemachten Angaben zur Folge hat. Bekanntlich hat sich der BGH jahrzehntelang - gegen die zuletzt allgemeine Ansicht im Schrifttum geweigert, ein solches Verwertungsverbot anzuerkennen. 33 Nur der Hartnäckigkeit des OLG Celle, das die Rechtsfrage dem BGH zunächst 1983 erfolglos 34 und dann - ein wohl einmaliger Vorgang - erneut 1991, diesmal erfolgreich,35 vorgelegt hatte, ist es zu verdanken, dass der BGH die längst fällige Wende vollzog. Die Angst, die Polizei dadurch in ihrer Aufklärungsarbeit und überhaupt die Aufklärung von Straftaten allzu sehr zu behindern, war aber ersichtlich groß.36 So ist wohl auch das vom 5. Strafsenat in BGHSt 38,214 kreierte Widerspruchserfordernis zu erklären. Die Geschichte scheint sich nun zu wiederholen: Anerkennenswerterweise hat der BGH am 18. 12. 2008 nach ebenfalls jahrzehntelangem Zögern die Notwendigkeit einer "qualifizierten Belehrung" anerkannt,37 falls der Beschuldigte ohne Belehrung über sein Recht, Angaben zur Sache zu verweigern, vernommen worden war: Bei einer erneuten Vernehmung reicht es also nicht, ihn über sein Aussageverweigerungsrecht zu belehren, vielmehr muss er auch darüber informiert werden, dass seine früher (ohne Belehrung) gemachten Angaben unverwertbar sind. So weit, so gut. Der BGH ist aber auch hier davor zurückgeschreckt, beim Fehlen einer solchen "qualifizierten Belehrung" ein Verwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten in der neuen Vernehmung zu statuieren; der BGH meint vielmehr, hier sei eine 33 Vgl. dazu Aleyer-Goßner (Fn. 1), § 136 Rn. 20. 34 BGHSt 31,395. 35 BGHSt 38,214. 36 Auch der Generalbundesanwalt hatte noch beantragt, an BGHSt 31, 395 festzuhalten; vgl. BGHSt 38,231. 37 BGH 4 StR 455/08 = NJW 2009, 1427.

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"Abwägung im Einzelfall" erforderlich, wobei "neben dem Gewicht des Verfahrensverstoßes und des Sachaufklärungsinteresses" maßgeblich darauf abzustellen sei, ob der Beschuldigte nach erfolgter Belehrung davon ausgegangen sei, von seinen früheren Angaben nicht mehr abrücken zu können. Warum wird nicht einfach ein Verwertungsverbot angenommen, wenn nicht sichergestellt ist, dass der Beschuldigte die Unverwertbarkeit seiner früheren Angaben kannte? Was der BGH im Übrigen als Begründung anführt, erscheint auch wenig überzeugend: Dass das Fehlen der "qualifizierten Belehrung" nicht so schwer wiege wie der Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S 2 StPO wird man kaum sagen können. Im Übrigen darf hier auf die überzeugende Kritik der Entscheidung durch Roxin38 verwiesen werden. Es zeigt sich somit, dass die "Angst vor der eigenen Courage" dahin führt, Begründungen für eine Entscheidung zu suchen, die das Ergebnis nicht wirklich zu tragen vermögen. Es sei die Prophezeiung erlaubt, dass die Rechtsprechung auch hier - ebenso wie bei dem Verstoß gegen die Pflicht zur "ersten" Belehrung - eines Tages den zweiten Schritt zu einem von den "Umständen des Einzelfalls" unabhängigen Verwertungsverbot tun wird.

111. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass gerade im Strafverfahrensrecht die Versuchung für die Gerichte groß ist, auf nicht haltbare Weise ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen oder ein unerwünschtes Ergebnis zu vermeiden. Besondere Vorsicht ist stets bei ersichtlich "ergebnisorientierten" Entscheidungen geboten. Ich hoffe, dass diese kleine tour d'horizon meinem Freund Heinz Schäch etwas Freude bereitet hat. Ich wünsche ihm weiterhin beste Gesundheit und ungebrochene Schaffenskraft.

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HRRS 2009, 186.

Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess CLAUS ROXIN

Die Frage, wann jemand zum Beschuldigten im Sinne des § 157 StPO wird, hat in der Rechtsprechung der neueren Zeit große Bedeutung erlangt. Hauptsächlich beruht das darauf, dass die Rechtsprechung seit 1992 1 die unterlassene Belehrung des Beschuldigten über sein Aussageverweigerungsrecht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO mit einem Verwertungsverbot ausgestattet hat. Denn nun kann das Schicksal eines Verfahrens davon abhängen, ob jemand, der ohne Belehrung gegenüber den Strafverfolgungsbehörden selbstbelastende Angaben macht, schon Beschuldigter war oder noch nicht. Es gibt freilich auch andere Konstellationen, bei denen es auf die Beschuldigteneigenschaft ankommt. So ist bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen dem Beschuldigten nach § 168c Abs. 2 die Anwesenheit gestattet, die nur unter den engen Voraussetzungen von § 168c Abs. 5 S. 2 unterbleiben darf. Unterbleibt die Benachrichtigung, ist die Aussage unverwertbar. 2 Über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft gibt es heute theoretisch weitgehend übereinstimmende Ansichten. Aber die Grundlage dieser Übereinstimmung erscheint mir problematisch, und auch die praktische Umsetzung des allgemein bevorzugten Ansatzes bereitet große Probleme. 3 Es erscheint mir deshalb sinnvoll, den Diskussionsstand noch einmal zu hinterfragen.

I. Ist § 397 Abs. 1 AO eine geeignete Abgrenzungsrichtlinie? Über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft gibt § 157 StPO keine Auskunft, und der Gesetzgeber hat die Frage absichtlich offen gelassen in der Meinung, sie entziehe sich "einer allgemein durchgreifenden Feststellung".4 Durchweg wird heute eine rein subjektive und eine rein objektive Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft abgelehnt. Es soll also weder

1 BGHSt 38,214. 2 Einen solchen Fall behandelt BGH NJW 2003, 3142. 3 So auch

Geppert FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 675 ff.. SK-Rogall, 1995, Vor § 133 StPO, Rn. 9~ Geppert a.a.O., S. 677 f.

4 Nähere Nachweise bei

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Claus Roxin

allein auf den Willensentschluss der Strafverfolgungsbehörden noch auf eine bestimmte objektive Verdachtsstärke,5 sondern auf eine "Kombination objektiver und subjektiver Merkmale"6 ankommen. Für die Art dieser Kombination hat sich weithin der zuerst von RogalP gemachte Vorschlag durchgesetzt, der sich an die Regelung des heutigen § 397 Abs. 1 AO anschließt. Danach wird ein Strafverfahren gegen jemanden eingeleitet, d.h. ein Beschuldigtenstatus geschaffen, wenn die zuständige Behörde "eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen". Der BGH hat diesen Gedanken zuerst in BGHSt 38, 228 aufgegriffen und den Hinweis auf § 397 Abs. 1 AO seither mehrmals wiederholt. 8 Auch das BVerfG 9 hat sich dem angeschlossen: "Ein Verdächtiger erlangt bereits dann die Stellung eines Beschuldigten, wenn die zuständige Strafverfolgungsbehörde Maßnahmen gegen ihn ergreift, die erkennbar darauf abzielen, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen." Auch dem Gesetzgeber wird diese Formel mehrfach empfohlen. Der Alternativ-Entwurf "Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV)", an dem Heinz Schäch, der verehrte Jubilar, und auch der Verfasser dieses Aufsatzes mitgewirkt haben, formuliert folgenden Gesetzesvorschlag (§ 157 Abs. 1 StPO): "Beschuldigter ist ein Verdächtiger, gegen den ein Strafverfolgungsorgan eine Handlung vornimmt, die erkennbar darauf abzielt, ihn wegen einer Straftat zu verfolgen." Ebenso hat Jahn 10 unlängst betont: "Dem Gesetzgeber ist ... die Übernahme der in § 397 Abs. 1 AG zum Beginn der Beschuldigteneigenschaft getroffenen Regelung in die Strafprozessordnung anzuraten." Auch sonst wird diese Formel allgemein als zur Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft geeignet angesehen. 11 Bei näherem Hinsehen leistet sie aber nicht so viel, wie ihre Befürworter sich davon versprechen. Gewiss sind die Voraussetzungen der steuerrechtlichen Formel, wie ich sie auf Grund ihrer Herkunft nennen will, bei der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine bestimmte 5 So aber immerhin noch Peters Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 201: "Es kommt nur darauf an, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte beigebracht und von einem Strafverfolgungsorgan zur Kenntnis genommen worden sind." 6 BGHSt 38, 228. 7 Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 27 ff. unter Verweis auf den damaligen § 432 I AG. 8 Etwa in BGH NStZ 1997, 398~ BGHSt 51, 370. 9 NStZ 2001, 103 (Leitsatz 1). 10 lahn JuS 2007, 962 ff., 964. 11 Ich zitiere nur exemplarisch aus der neuesten Literatur: LR-Gleß, 26. Aufl. 2007, § 136 Rn. 5~ LR-Erb, 26. Aufl. 2008, § 163a Rn. 9~ Beulke Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 112~ Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 25 Rn. 11 ~ Geppert (Fn. 3).

Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess

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Person errullt. Aber in solchen Fällen bedarf es ihrer nicht, weil die Beschuldigteneigenschaft ohnehin amtlich statuiert wird. Und sicher setzt die Stellung eines Beschuldigten immer voraus, dass bei den Strafverfolgungsbehörden der Wille zur Verfolgung einer potentiellen Straftat vorliegt und sich in Ermittlungshandlungen manifestiert. Aber die in der Praxis auftretenden Problemfalle werden damit nicht gelöst. Sie liegen in den beiden Bereichen der Abgrenzung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung und der informatorischen Fragen von der Beschuldigtenvernehmung. In diesen Grauzonen liefert die steuerrechtliche Formel keine weiterführenden Ergebnisse. Dass die Polizei bei einer verdächtigen Person Ermittlungen anstellt, kann rur den Befragten noch nicht ohne weiteres eine Beschuldigteneigenschaft (und damit die Belehrungspflicht) begründen. Denn die Strafprozessordnung kennt auch verdächtige Zeugen, wie sich aus § 60 Nr. 2 (Vereidigungsverbot bei verdächtigen Zeugen) und § 55 StPO (Aussageverweigerungsrecht verdächtiger Zeugen) entnehmen lässt. Der BGH 12 hat noch unlängst betont, dass die Strafverfolgungsorgane auch gegenüber einem Zeugen "die Verdachtslage weiter abklären" und "den Vernommenen mit dem Tatverdacht konfrontieren" dürfen. "Hierauf zielende Vorhalte und Fragen" seien "nicht zwingend ein hinreichender Beleg darur, dass der Vernehmende dem Vernommenen als Beschuldigter gegenübertritt." Die Frage, ob jemand wegen einer Straftat verfolgt wird, lässt sich in solchen Fällen mit Hilfe der steuerrechtlichen Formel nicht beantworten. Diese enthält nur eine Ergebnisaussage, deren Voraussetzungen auf andere Weise ermittelt werden müssen. Entsprechendes gilt für die Frage, ob und ggf. beim Vorliegen welcher Umstände ein am Tatort nach den Geschehnissen Befragter zum Beschuldigten wird. Es kann auch nicht etwa darauf ankommen, ob die Strafverfolgungsbehörden beschließen, jemanden als Beschuldigten zu vernehmen. Im Sachverhalt der Entscheidung BGHSt 51, 367 ff., in der es um die Frage ging, ob eine verschwundene Ehefrau und ihre Tochter ermordet worden seien, war bei der Vernehmung des Ehemannes noch nicht einmal klar, ob überhaupt eine Straftat vorlag. Die Ermittlungsbehörden glaubten daher, ihn nicht als Beschuldigten vernehmen und nicht belehren zu müssen. Trotzdem hat der BGH 13 aus der "Art und Weise" (Leitsatz) der Vernehmung ("Das Gewissen plagt Sie nicht?", "Dass Sie uns eventuell sagen, wo die Leichen sind?") den Beschuldigtenstatus des vernommenen Ehemannes hergeleitet. Entscheidend ist danach nicht der innere Wille zur Beschuldigtenvernehmung, sondern das Verhalten des Vernehmungsbeamten "nach außen". Der Ver12 13

NStZ 2008, 48. BGHSt 51, 367, 373; auch schon BGHSt 38, 228~ näher unten V.

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folgungswille wird nicht aus den Intentionen der Vernehmungsperson, sondern "aus dem Ziel, der Gestaltung und den Begleitumständen der Vernehmung" hergeleitet. Andererseits ist aber nach ständiger Rechtsprechung ein Vernommener auch dann als Beschuldigter anzusehen, wenn er zwar nach der "Art und Weise" der Vernehmung als Zeuge behandelt wird, wenn aber der objektive Tatverdacht so erheblich ist, dass die Vorenthaltung der Beschuldigteneigenschaft als ermessensmissbräuchlich angesehen werden muss. So heißt es schon in BGHSt 10, 12: "Würde sie - scil. die Strafverfolgungsbehörde - ... einen ... Verdächtigen, den als Beschuldigten zu verfolgen gute Gründe vorlagen, aus sachfremden Erwägungen willkürlich in die Rolle eines Zeugen drängen, ... so vermöchte ein solcher Missbrauch des Ermessens ihm nicht die Eigenschaft eines Zeugen zu verleihen." Und noch BGHSt 51, 371 f. sagt unter Hinweis auf viele andere Entscheidungen: "Falls ... der Tatverdacht so stark ist, dass die Strafverfolgungsbehörde anderenfalls willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn dennoch nicht zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird." In einer nur 14 Tage später ergangenen Entscheidung desselben (1.) Senats 14 wird das Erfordernis eines"Willensaktes" der Verfolgungsbehörden für bestimmte Fälle ausdrücklich aufgegeben, obwohl der Beschluss im vorhergehenden Absatz noch darauf beharrt hatte, dass die Beschuldigteneigenschaft ,,- subjektiv - den Verfolgungswillen der Strafverfolgungsbehörde" voraussetze, "der sich - objektiv - in einem Willensakt manifestiert". Später heißt es dann aber: "Ergibt sich die Beschuldigteneigenschaft nicht aus einem Willensakt der Strafverfolgungsbehörden, kann - abhängig von der objektiven Stärke des Tatverdachts - unter dem Gesichtspunkt der Umgehung der Beschuldigtenrechte gleichwohl ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO vorliegen." Aus alledem ergibt sich, dass die Rechtsprechung widerspruchsfreie Klarheit noch nicht erreicht hat. Man darf aber jedenfalls davon ausgehen, dass man Beschuldigter entweder durch einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörde oder durch den bloßen Eindruck ihres Verhaltens "nach außen" oder auch allein durch die Stärke des Tatverdachts werden kann. Auf einen gemeinsamen subjektiven Nenner lässt sich das schwerlich bringen. Da aber objektiv in jedem Fall beliebige Ermittlungshandlungen genügen, fehlt auch insoweit ein zur Abgrenzung geeignetes Kriterium. Dass bei der Erfassung der doch offenbar sehr verschiedenartigen Umstände, die die Beschuldigteneigenschaft auslösen, die Formel des § 397 Abs. 1 AO wesentlich weiterhilft, wird man schwerlich sagen können.

14

BGH NStZ 2008, 48.

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Es kommt hinzu, dass im Steuerstrafverfahren die Ermittlungssituation auch in vielen Fällen anders beschaffen ist als beim Durchschnitt sonstiger strafrechtlicher Ermittlungen. Während es bei diesen meist darum geht, wer der Täter ist, gelten die Überprüfungen im Steuerstrafrecht oft der Frage, ob überhaupt eine Straftat vorliegt. Rogall sagt selbst: 15 "Viele Maßnahmen des Finanzamtes sind ... neutral und lassen nicht erkennen, ob sie im Besteuerungs- oder Strafverfahren erfolgen." Infolgedessen heißt es in steuerrechtlichen Kommentaren,16 die Voraussetzungen des § 397 Abs. 1 AO seien erfüllt, wenn eine Willensbetätigung der zuständigen Stelle vorliege, "deren strafrechtliche Zielsetzung objektiv erkennbar ist". Erkennbar müsse nur sein, "dass die zuständige Stelle im strafrechtlichen Bereich tätig werden will". Strafrechtliche Zielsetzungen und ein Tätigwerden im strafrechtlichen Bereich liegen aber im Ermittlungsverfahren auch bei einer Zeugenvernehmung und sonstigen deliktsbezogenen Fragen vor, so dass auch insoweit eine an § 397 Abs. 1 AO orientierte Auslegung im allgemeinen Strafrecht wenig nützt.

11. Der Rückgriff auf den Zweck von Schweigerecht und Belehrungspflicht Anerkannte methodologische Grundsätze legen es deshalb nahe, die Beschuldigteneigenschaft nicht durch eine unklare Kombination subjektiver und objektiver Faktoren - also durch ontische Gegebenheiten -, sondern teleologisch durch den Zweck von Schweigerecht und Belehrungspflicht zu bestimmen. Denn die in Betracht kommenden realen Faktoren sind, wie sich gezeigt hat, recht unterschiedlich und können sich nur durch einen Appell an das Rechtsgefühl legitimieren, während der Zweck der §§ 136, 163a Abs. 3 S. 2 StPO klar zu Tage liegt: Er soll denjenigen, der in den Verdacht einer strafbaren Handlung gerät, vor einer ungewollten Selbstbelastung oder gar Selbstüberführung schützen. Man sollte also die Frage stellen: Unter welchen Voraussetzungen braucht der Beschuldigte den Schutz des § 136 StPO? Dass nach der Auffassung des Gesetzgebers nicht schon jeder Verdacht dieses Schutzbedürfnis hervorruft, ergibt sich nicht nur aus den schon erwähnten §§ 60 Nr. 2, 55 StPO, sondern auch daraus, dass viele prozessuale Zwangseingriffe nur gegenüber einem Beschuldigten zulässig sind, so dass ein Verdächtiger von ihnen verschont bleiben muss, solange er noch kein Beschuldigter ist. Es geht also Rogall (Fn. 7), 30. Ich zitiere aus dem AE-EV, 98, der sich auf Fran=en/Gast/Joecks, 4. Aufl. 1996, § 397 AG, Rn. 65 und Klein/Orlapp, 4. Aufl. 1995, § 397 AG, Anm. 6, beruft. 15

16

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nicht nur darum, dass die Strafverfolgungsbehörden um einer leichteren Sachverhaltsaufklärung willen nicht immer schon in den Anfangsstadien der Ermittlung zur Schweigerechtsbelehrung greifen wollen. Auch derjenige, der in das Visier der Ermittier gerät, kann ein Interesse daran haben, nicht sogleich in den Beschuldigtenstand versetzt zu werden. Er ist dadurch vor Zwangseingriffen und auch vor öffentlicher Aufmerksamkeit und Herabsetzung besser geschützt. Ein Element der Abwägung gegenläufiger Schutzbelange sollte also in die Festlegung der Beschuldigteneigenschaft eingehen. Der Vorgang, der aus einem Verdächtigen oder bisher sogar Unverdächtigen einen Beschuldigten macht, wird meist mit einem aus dem französischen Recht stammenden Begriff als "Inkulpation"17 bezeichnet. Dieser Begriff lässt sich auch dann verwenden, wenn man darauf verzichtet, ihn durch einheitliche Merkmale zu bestimmen. Wenn der Schutz des § 136 StPO durch verschiedenartige Sachgegebenheiten gefordert wird, muss es auch unterschiedliche Formen der Inkulpation geben. Soweit ich sehe, haben sich aus der bisherigen Rechtsprechung vier verschiedene Formen der Inkulpation ergeben, die jeweils besonderer Beurteilung bedürfen: die ausdrückliche Inkulpation, die konkludente Inkulpation, die faktische Inkulpation und die Verdachtsinkulpation.

111. Die ausdrückliche Inkulpation Der eindeutigste Fall der Versetzung in den Beschuldigtenstand liegt vor, wenn ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen eingeleitet wird. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Er kann ausdrück1ich als Beschuldigter zur Vernehmung geladen werden. Es kann aus einem Schreiben der ermittelnden Behörde hervorgehen ("in der Sache gegen Sie wegen ..."),18 dass der Adressat als Beschuldigter verfolgt wird. Man kann auch als Anwalt eines Mandanten, der in Ermittlungen hereingezogen wird, Klarheit schaffen, indem man bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft nachfragt, in welcher Eigenschaft der Mandant dort geruhrt werde. 19 Eine ausdrückliche Inkulpation liegt auch vor, wenn auf eine Strafanzeige hin eine Akte angelegt wird und die Ermittlungen aufgenommen werden. Eine Strafanzeige als solche wird man entgegen einer verbreiteten Meinung zur Begründung einer Beschuldigteneigenschaft noch nicht genügen lassen

17 Vgl. AE-EV 99~ dort wird auch dargelegt, dass der französische Gesetzgeber den Begriff heute nicht mehr verwendet. 18 Weihrauch Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2002, S. 22. 19 Weihrauch a.a.O., S. 23.

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können. 2o Denn wenn Anzeigen, die kein strafbares Verhalten des Angezeigten erkennen lassen oder die jeder realen Grundlage entbehren, keine Verfolgungsaktivitäten auslösen, besteht kein Grund fur einen Schutz vor Selbstbelastung. Wenn Erb 21 immerhin auch "das bloße Einziehen von Erkundigungen" schon zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft ausreichen lassen will, so geht auch das noch zu weit. Denn wenn solche "Erkundigungen" darauf abzielen, die anscheinende Haltlosigkeit einer Anzeige zu bestätigen oder zu klären, ob überhaupt etwas daran ist, so wird der Angezeigte noch nicht strafrechtlich verfolgt. Dies geschieht erst dann, wenn durch die Anzeige ein Anfangsverdacht begründet und daraufhin gegen ihn ermittelt wird. In allen Fällen der ausdrücklichen Inkulpation beruht die Beschuldigteneigenschaft darauf, dass die Behörde selbst erklärt, sie ermittele gegen einen Verdächtigen als Beschuldigten. Es ist also ein Willensakt der Behörde, der die Beschuldigteneigenschaft begründet. Das Schutzbedürfnis des solchermaßen Inkulpierten und damit die Notwendigkeit, ihn über sein Schweigerecht zu belehren, ergibt sich auch beim bloßen Bestehen eines Anfangsverdachts daraus, dass die Ermittlungen über den Willen zur Sachverhaltsaufklärung hinaus auf die Überführung des Verdächtigen zielen. Dann aber entspricht es dem Sinn des § 136 StPO, ihn vor einer aus Unkenntnis der Rechtslage und der Verfahrenssituation resultierenden Selbstbelastung zu schützen und entsprechend zu belehren.

IV. Die konkludente Inkulpation Nahezu unstrittig ist auch die zweite Fallgruppe der konkludenten Inkulpation: 22 So liegt es, wenn im Zuge von Ermittlungen Zwangsmaßnahmen beantragt oder vorgenommen werden, die nur gegenüber Beschuldigten zulässig sind. Das gilt etwa für die Beantragung eines Haftbefehls (§§ 112, 114 StPO), die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO, die Anordnung oder Beantragung von Untersuchungen nach § 81 aStPO, die Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81 b StPO, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § lIla StPO und anderes mehr. Auch die Rechtsprechung liegt auf dieser Linie: 23 "Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen, die nur gegenüber dem Beschuldigten zulässig sind, sind 20 Zutr. LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12, wo in Fn. 24 Vertreter der Gegenmeinung angeführt werden. 21 LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12. 22 Der Ausdruck wird auch sonst verwendet. So sagt etwa Beulke (Fn. 9), Rn. 112, "dass die Begründung der Beschuldigteneigenschaft auch konkludent zum Ausdruck kommen kann". 23 Vgl. nur zuletzt BGHSt 51, 370.

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Handlungen, die ohne weiteres auf den Verfolgungswillen der Strafverfolgungsbehörde schließen lassen." Für diese Annahme streiten drei GrÜnde. 24 Erstens knüpft schon das Gesetz, wenn es einen Eingriff nur gegenüber Beschuldigten zulässt, die Beschuldigteneigenschaft automatisch an die Zwangsmaßnahme. Die Zwangsmaßnahme selbst schafft den Beschuldigtenstatus, weil sie anderenfalls nicht stattfinden dürfte. Zweitens ist auch ein Schutz des Betroffenen noch notwendiger als bei einer ausdrücklichen Inkulpation. Denn während bei dieser die Ermittlungen meist noch am Anfang stehen, beruhen die Zwangsmaßnahmen auf einer erheblichen Verdachtsstärke und zielen meist auf unmittelbare Überführung. Drittens würde es auch gegen die Fairness des Verfahrens verstoßen, wenn dem Verdächtigen zwar die Nachteile der Beschuldigteneigenschaft auferlegt, die Schutzwirkung des § 136 StPO ihm aber vorenthalten würde.

v. Die faktische Inkulpation Dieser Fall liegt vor, wenn die Ermittlungsbehörden jemanden zwar offiziell als Zeugen vernehmen oder informatorisch befragen, wenn sie aber trotz eines nur vagen Tatverdachts zu erkennen geben, dass sie den Betroffenen für den wahrscheinlichen Täter halten. Das Musterbeispiel dieser Art liefert BGHSt 51, 367 ff. Eine Ehefrau und ihre Tochter waren seit Monaten verschwunden. Der Ehemann geriet in Verdacht, sie getötet zu haben, aber es ließ sich ihm nichts nachweisen. Auch die Leichen waren noch nicht gefunden. Auf Zwangsmittel, die eine konkludente Inkulpation hätten bewirken können, wurde verzichtet. Auf die "schwache Beweislage" wurde der Vernommene ausdrücklich hingewiesen. Andererseits versuchte der Vernehmungsbeamte in einer nur von kurzen Pausen unterbrochenen, fast zehnstündigen Vernehmung den Ehemann in Widersprüche zu verwickeln, bezichtigte ihn der Lüge ("Ich glaube Ihnen kein Wort") und erwirkte seine Zustimmung zu einer Speichelprobe und zur Durchsuchung von Haus und Anwesen mit Leichensuchhunden. Er drängte ihn auch zu einem Geständnis ("Das Gewissen plagt Sie nicht?", "Dass Sie uns eventuell sagen, wo die Leichen sind?"). Aus diesen Umständen lässt sich entnehmen, dass die Ermittlungsbeamten den Ehemann zwar in der Zeugenrolle belassen und dementsprechend nicht belehren wollten, dass sie ihn aber in einer für den Vernommenen deutlich erkennbaren Weise für den wahrscheinlichen Täter hielten und ihn 24 Abw. Fincke ZStW 95 (1983), 951, demzufolge es keine Zwangsmaßnahme gibt, "die generell inkulpativ wirkt".

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als solchen zu überführen suchten. Denn sowohl die Auffindung der Leichen wie auch die gewünschten Hinweise auf deren Fundort hätten den Ehemann sofort als Täter entlarvt. Auch der Appell an das Gewissen anstatt bloßer Fragen nach seinem Wissen deutet auf eine Beurteilung als mutmaßlicher Täter. Die Antwort auf die Frage, ob die Ermittlungsbehörden den Ehemann als Beschuldigten verfolgen wollten, fällt bei solchen Konstellationen zwiespältig aus. Sie taten es faktisch (durch ihr Verhalten), wie der BGH 25 richtig sieht, wenn er auf die Wirkung "nach außen, ... in der Wahrnehmung des Betroffenen", abstellt. Sie wollten den Vernommenen aber rechtlich - durch den Verzicht auf Zwangsmittel und gestützt auf das Fehlen konkreter Beweisindizien - in der Zeugenrolle belassen. Ob das rur eine Inkulpation ausreicht, kann nicht von einer Analyse des solchermaßen gespaltenen Willenselementes, sondern nur davon abhängig gemacht werden, ob ein in dieser Weise Vernommener den Schutz des § 136 StPO braucht. Das ist eindeutig zu bejahen. Die Schutzbedürftigkeit ist hier eher noch größer als in den Regelfällen der ausdrücklichen oder der konkludenten Inkulpation. Denn während dort meist noch Beweise gesucht werden müssen, würde eine Auffindung der Leiche oder eine wahrheitsgemäße Antwort die sofortige Überführung des Täters zur Folge haben. Dem Täter zu verdeutlichen, dass er dabei nicht mitzuwirken braucht, ist aber gerade der Zweck der Belehrungsvorschrift. Man kann daher verallgemeinernd sagen, dass die ausdrückliche oder verklausulierte Frage nach der Täterschaft eines Vernommenen auch bei erkennbar schwacher Beweislage nur unter der Voraussetzung seiner Beschuldigteneigenschaft und damit nach einer vollständigen Belehrung im Sinne des § 136 StPO (einschließlich des Hinweises auf das Verteidigerkonsultationsrecht) gestellt werden darf. Der BGH 26 ist also von einem richtigen Judiz geleitet, wenn er "die Art und Weise einer Vernehmung" ggf. "zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft ausreichen" lässt. Wer den Eindruck gewinnen muss, er solle durch die Vernehmung überruhrt werden, bedarf der Belehrung über sein Schweigerecht. Ob die objektive Beweislage eine Versetzung in den Beschuldigtenstand nötig macht, ist darur gleichgültig. Gerade der Versuch, bei fehlenden Beweisen einen Vernommenen dadurch zu überrumpeln, dass man "auf den Busch klopft", muss durch § 136 StPO verhindert werden. Allerdings sollte man die Fälle der faktischen Inkulpation auf Konstellationen beschränken, bei denen verbale Äußerungen der Ermittlungsbehörden in dem Vernommenen den Eindruck erwecken müssen, man halte ihn rur 25 26

BGHSt 51, 373. BGHSt 51, 367.

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den Täter, obwohl die objektive Verdachtslage eine solche Beurteilung nicht rechtfertigt. So lag es in der oben erörterten Entscheidung BGHSt 51, 367, einem Urteil des ersten Senats. Entdecker der Einsicht, dass fur die Begründung der Beschuldigteneigenschaft unabhängig von der Verdachtslage auch von Bedeutung sei, "wie sich das Verhalten des Beamten nach außen, auch in der Wahrnehmung des Befragten darstellt", ist aber der fünfte Senat. 27 Dieser allerdings hat den Anwendungsbereich der faktischen Inkulpation weiter ausgedehnt, wenn er sagt: "Es gibt polizeiliche Verhaltensweisen, die schon nach ihrem äußeren Befund belegen, dass der Polizeibeamte dem Befragten als Beschuldigten begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen. Das wird etwa für Gespräche gelten, die der Beamte mit einem Verdächtigen führt, den er im Kraftfahrzeug der Polizei mit zur Polizeiwache nimmt; hier wird selbst bei einem vergleichsweise geringen Grad des Verdachtes vor jeder Befragung ein Hinweis nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO anzubringen sein." Das scheint mir in dieser Allgemeinheit zu weit zu gehen. Wenn der Beamte, der einen Zeugen am 'ratort angetroffen hat, ihn im Auto mit zur Wache nimmt, um dem schlechten Wetter oder einem Volksauflauf zu entgehen und ihn ungestört weiter befragen zu können, wird der Zeuge dadurch noch nicht zum Beschuldigten. Der erste Strafsenat hat im Jahr 2004 28 einen Fall entschieden, in dem es darum ging, ob eine Tochter für die Tötung ihrer Mutter als Täterin in Betracht kam. Der einzige Anhaltspunkt für eine solche Möglichkeit war nach dem damaligen Ermittlungsstand, dass die Tochter sich zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter im Haus aufgehalten hatte. Hier sagt der erste Senat klipp und klar: "Auch aus dem Umstand, dass die Angekl. am späten Vormittag im Dienst-Pkw der sachbearbeitenden Polizeidienststelle für die Zeugenvernehmung mitfuhr, ergibt sich kein äußerer Befund dahingehend, dass sie nunmehr als Beschuldigte galt." Der die Ermittlungen leitende Oberstaatsanwalt hatte ihr sogar beim Aussteigen kondoliert, was einer Behandlung als Beschuldigte deutlich entgegensteht. Die Ausführungen in BGHSt 38, 228 werden vom ersten Senat als "vom Sachverhalt nicht vergleichbar" abgetan, obgleich es dort nicht um einen realen Sachverhalt, sondern um ein verdeutlichendes Beispiel ging. Jedenfalls zeigt auch diese Entscheidung, dass dem fünften Senat die abstrakte Umschreibung der faktischen Inkulpation zu weit geraten ist und dass erst BGHSt 51, 367 dieser Form der Beschuldigtenstellung klare Konturen verliehen hat.

27 28

BGHSt 38, 228. NStZ-RR 2004, 369.

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VI. Die Verdachtsinkulpation Wie schon oben (I.) dargelegt wurde, nimmt die Rechtsprechung eine Beschuldigteneigenschaft aber auch schon dann an, wenn ein starker Tatverdacht besteht, eine ausdrückliche, konkludente oder faktische Inkulpation aber vermieden wird. Die Ermittlungsbehörden behandeln in solchen Fällen den Vernommenen auch "nach außen" als Zeugen und belehren ihn allenfalls nach § 55 Abs. 2 StPO, obwohl die Stärke des Verdachts eine Verfolgung als Beschuldigter und damit eine Belehrung nach § 136 StPO erfordern würde. Wenn der BGH bei derartigen Konstellationen auf Grund eines "Ermessensmissbrauchs" den Beschuldigtenstatus bejaht, so ist das unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit des Betroffenen richtig. Denn wenn dem Beschuldigten die Beweislage verschleiert wird, bleibt ihm verborgen, dass er sich durch seine Äußerungen sehr leicht in Widerspruch zu schon feststehenden Ermittlungsergebnissen setzen und sich dadurch ungewollt selbst belasten kann. Dann aber braucht er den Schutz des § 136 StPO und muss als Beschuldigter angesehen und belehrt werden. Für die in der Literatur überwiegende Auffassung,29 die die Inkulpation allemal als Willensakt der Strafverfolgungsbehörde auffasst, ist das nicht leicht erklärbar. So lesen wir bei Beulke: 30 "Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Erfordernis des Willensaktes eines Strafverfolgungsorgans für die Begründung der Beschuldigtenstellung ab einem bestimmten Verdachtsgrad praktisch aufgegeben wird und eine Wertung nach objektiven Kriterien an dessen Stelle tritt. Diese Inkonsequenz ist zum Schutz der Beschuldigtenrechte durchaus akzeptabel." Dem folgt Geppert31 , wenn er sagt: "So gesehen ist die Beschuldigten-Eigenschaft in diesem Fall - scil. bei starkem Tatverdacht - letztlich allein nach objektiven Maßstäben zu beurteilen, was jedoch zu akzeptieren ist, weil diese Inkonsequenz dem Schutz rechtsstaatlicher Beschuldigteninteressen dient." Eine Inkonsequenz ist das aber nur, wenn man den Willen der Strafverfolgungsbehörde als das allein entscheidende Kriterium ansieht. Das kann, wie diese Fallgruppe zeigt, nicht richtig sein, weil der "Wille" der Ermittier ggf. auch darauf gerichtet sein kann, einem Verdächtigen seine Rechte vorzuenthalten. Geht man, wie es demnach geboten ist, vom Schutzzweck des § 136 StPO aus, ist die Einbeziehung der Verdachtsinkulpation in die Entstehungsgründe der Beschuldigtenstellung jedoch völlig konsequent, wie durch die Billigung des Ergebnisses indirekt auch Beulke und Geppert anerkennen.

29 Anders aber Putzke/Scheinfeld Strafprozessrecht, 2. Autl. 2009, S. 13. 30 31

Beulke (Fn. 11), Rn. 112. Geppert (Fn. 3), S. 681, Anm. 28.

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Anders und auch im Ergebnis ablehnend äußert sich Rogal[32 zur Verdachtsinkulpation: "Ob sich eine derartige ,Willkürausnahme ' zweifelsfrei in das Prozessrecht integrieren lässt, erscheint zweifelhaft. Denn wir hätten es dann mit einer Statuszuschreibung ohne Inkulpation und ohne Inkulpationssubjekt zu tun, was letztlich auf die objektive Theorie und ihre Schwierigkeiten hinauslaufen würde. Das wäre der Rechtssicherheit nicht förderlich." Die Rechtssicherheit fordert aber nur, dass der Verdachtsgrad, von dem an jemand bei gegen ihn laufenden Ermittlungen in die Beschuldigtenrolle einrückt, hinreichend klar bestimmt wird. Der BGH arbeitet insoweit wechselweise mit vier Verdachtskennzeichnungen, die wohl in etwa gleichbedeutend sein sollen: "Konkretheit", "Ernsthaftigkeit", "Stärke" und "Verdichtung" des Verdachts. So heißt es in der Entscheidung zur faktischen Inkulpation,33 in der es auf den Verdachtsgrad gar nicht ankam, "dass die Strafverfolgungsbehörde ... erst bei einem konkreten und ernsthaften Tatverdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten verpflichtet ist", während derselbe (erste) Senat an anderer Stelle 34 sagt: "Nicht jeder Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit entsprechender Belehrungspflicht, es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatverdachts an." Der Übergang zur Beschuldigtenvernehmung sei geboten, "wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, dass die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt". Da alle diese Verdachtsgrade der StPO fremd sind und infolgedessen kaum eine wissenschaftliche Präzisierung erfahren haben, wäre es wohl besser, an den dringenden Tatverdacht anzuknüpfen, der durch die Verwendung im Haftrecht feste Konturen aufweist. Auch leuchtet es unmittelbar ein, dass jemand, der ggf. sogar verhaftet werden könnte, den Schutz der Beschuldigtenbelehrung braucht. Jedenfalls wäre mit einem Rückgriff auf den eingeführten Begriff des dringenden Tatverdachts der Rechtssicherheit Genüge getan. Rogall meint außerdem,35 auf die Verdachtsinkulpation gänzlich verzichten zu können, "weil die Strafverfolgungsorgane ihren Verfolgungswillen zwar zurückhalten, aber doch auf diesem Willen nicht ad kaIendas graecas sitzen bleiben können, ohne dem ganzen Geschehen Taten folgen zu lassen. Dann aber ist Raum fur die Feststellung des erforderlichen Verfolgungswil32

Rogall NStZ 1997, 398 ff., 400.

33 BGHSt 51, 372. 34 NStZ-RR 2002, 67; auf die Stärke des Tatverdachts hebt der erste Senat auch in NStZ 2008, 48 ab. Allein auf die "Verdichtung" des Tatverdachts nimmt ein Urteil des vierten Senats, StraFo 2004, Bezug; derselbe Senat hatte in BGHSt 37, 52 die Verdichtung und die Stärke des Tatverdachts nebeneinander gestellt. 35 Rogall (Fn. 32), 400.

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lens ... nach Maßgabe des Rechtsgedankens, den § 397 Abs. 1 AO verlautbart." Wenn aber die "Taten", die den Ermittlungen folgen, in einer Anklageschrift bestehen, ist der Betroffene um sein Belehrungsrecht betrogen; und wenn die Belehrung zwar vor der Anklage, aber viel zu spät erfolgt, kann eine überrumpelnde Selbstüberflihrung des Verdächtigen schon geglückt sein. Gewiss hat Rogall Recht, wenn er betont,36 es könne niemand "automatisch" zum Beschuldigten werden. Er muss natürlich in strafrechtliche Ermittlungen einbezogen sein; sonst könnte ein inkulpierender Verdacht überhaupt nicht entstehen. Aber der Wille, einen Verdächtigen als Beschuldigten zu verfolgen, ist keineswegs unbedingt erforderlich. Statistisch gesehen sind sicher die Fälle der ausdrücklichen und der konkludenten Inkulpation die häufigsten. Da sie aber kaum Probleme bereiten, steht in der forensischen Praxis die Verdachtsinkulpation im Vordergrund. Es ist deshalb nicht zutreffend, wenn Rogall sagt,37 "dass die Inkulpation ein prozessualer Gestaltungsakt ist, der allein in der Kompetenz des zuständigen Organs liegt". Denn auf diese Weise wird die Praxis bei den Schwierigkeiten, die die Verdachtsinkulpation mit sich bringt, im Stich gelassen. Mustert man die in den letzten 20 Jahren entschiedenen Fälle,38 so stehen zwei verschiedene Sachverhaltstypen im Vordergrund: Auf der einen Seite handelt es sich um Tötungsdelikte, bei denen Vermisstensachen auffallend häufig sind,39 auf der anderen Seite geht es um Fälle strafbaren Verkehrsverhaltens, bei denen ein Polizist nach der Haltereigenschaft oder einem Alkoholkonsum fragt. 40 Bei der ersten Fallgruppe lässt sich verallgemeinernd sagen, dass eine Beschuldigtenbelehrung noch nicht erforderlich ist, solange die Leiche noch nicht gefunden ist. Auch wenn dies der Fall ist, genügt kriminalistische Erfahrung noch nicht zum Übergang von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung. Es müssen konkrete Indizien hinzutreten, die eine Täterschaft des Vernommenen wahrscheinlich machen. 41 Das ist ein verhältnismäßig gut handhabbarer Maßstab. Dass gleichwohl wegen faktischer Inkulpation belehrt werden muss, wenn die Vernehmungsbeamten sich auf Grund ihrer kriminalistischen Erfahrung hinreißen lassen, einen Vernommenen vor Auffindung der Leiche und ohne handfeste Indizien als wahrscheinlichen Täter zu behandeln, hat BGHSt 51, 367 grundlegend klargestellt. 36

Rogafl (Fn. 7), S. 27.

37 Rogafl (Fn. 32), 400.

38 Der Text enthält nur besonders anschauliche Beispiele~ eine gute Zusammenstellung der Entscheidungen findet sich bei Geppert (Fn. 3), S. 677, Anm. 7. 39 Dazu gehören BGHSt 37,48; BGH NStZ-RR 2002,67; BGHSt 51, 367. 40 Zur Haltereigenschaft BGHSt 38, 214 ff.; AG Bayreuth NZV 2003, 202. Zur Frage nach Alkohol BayObLG NZV 2003, 435; dazu Th. Heinrich NZV 2004, 159 f. 41 BGH NStZ-RR 2004,368 f.

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Bei der zweiten Fallgruppe hat sich die Meinung durchgesetzt, dass bei Verkehrsdelikten vor der Frage nach der Haltereigenschaft immer belehrt werden muss. In BGHSt 38, 227 heißt es im Anschluss an das vorlegende OLG, "dass eine Beschuldigtenvernehmung spätestens zu dem Zeitpunkt vorlag, als R. den Angeklagten danach fragte, ob er das Unfallfahrzeug geführt hatte". Richtigerweise war in diesem Fall mit Geppert42 schon vor der vorhergehenden Frage, ob der Betroffene mit dem Inhaber des im Unfallwagen gefundenen Führerscheins identisch sei, zu belehren gewesen. Denn angesichts der Umstände des konkreten Falles (falsche Namensangabe, Personenähnlichkeit mit dem Bild im Führerschein) kam schon die Frage nach der Identität einer Frage nach der Haltereigenschaft gleich. Eine besondere Begründung für die Notwendigkeit einer Belehrung gibt der BGH nicht. Sie liegt aber auf der Hand und wird vom AG Bayreuth43 nachgeliefert. Die Belehrung sei zwingend, "weil auf Grund der Haltereigenschaft die Fahrzeugführereigenschaft naheliegt und sich daher der Beschuldigtenkreis derart verdichtet, dass der Halter zum Zeitpunkt der Befragung bereits als potentieller Täter in Betracht kommt." Bei der polizeilichen Frage an einen Autofahrer nach seinem Alkoholgenuss sollte außer Streit stehen, dass eine Belehrung erforderlich ist, wenn signifikante andere Auffalligkeiten (z.B. das Fahren von Schlangenlinien) hinzutreten. Für den Fall einer verdachtsunabhängigen VerkehrsAlkoholkontrolle meint allerdings das BayOLG,44 dass ein festgestellter Alkoholgeruch im Fahrzeug noch nicht ausreiche, "Fragen des Polizeibeamten nach der Herkunft des Alkoholgeruchs als ,Vernehmung' des Fahrers mit entsprechender vorheriger Belehrungspflicht zu bewerten". Zur Begründung wird lediglich ausgeführt, der Alkoholgeruch im Auto könne "durchaus auch andere Ursachen haben als eine die Grenzen des § 24a Abs. 1 StVG überschreitende Alkoholisierung des Fahrers". Welche Gründe das etwa sein könnten, wird nicht mitgeteilt. Geppert45 stimmt dem zu mit der Begründung, dass der Alkoholgeruch zur Annahme einer "grenzwertüberschreitenden Alkoholisierung" noch nicht ausreiche. Dem ist aber zu widersprechen. 46 Wenn das BayObLG meint, der Beamte habe nur "im Fahrzeug" und nicht etwa "in der Atemluft des Betroffenen" Alkoholgeruch festgestellt, so ist das eine wenig plausible Unterscheidung, weil es äußerst nahe liegt, dass der Alkoholgeruch im Auto der "Atemluft"

42

Geppert (Fn. 3), S. 686.

43 NZV 2003, 202 m. Anm. Th. Heinrich. 44 BayObLG NZV 2003, 435. 45

Geppert (Fn. 3), S. 688. auch Th. Heinrich NZV 2004, 159 f.

46 AbI.

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des Fahrers entstammt47 und weil die "Atemluft" von der "Autoluft" kaum zu unterscheiden sein dürfte. Geppert ist entgegenzuhalten, dass ein noch erlaubter Alkoholkonsum, der weniger als 0,25 mg/l Alkohol in der Atemluft ausweist (§ 24a Abs. 1 StVG) schwerlich einen Alkoholgeruch im ganzen Auto verbreitet und dass in einem solchen Fall eine Grenzwertüberschreitung jedenfalls wahrscheinlich sein wird. Praktisch dürfte die Frage nach der Belehrungspflicht bei der "Frage nach Alkohol" freilich weniger bedeutsam sein als sonst. Denn der Alkoholgeruch wird immer zu einem Atemalkoholtest und erforderlichenfalls einer Anordnung nach § 81 a StPO ruhren, einerlei, ob der Betroffene belehrt worden ist oder nicht und ob er mit oder ohne Belehrung geschwiegen, gelogen oder die Wahrheit gesagt hat. Die Bedeutung, die der Verdachtsinkulpation in der forensischen Praxis zukommt, zeigt sich auch darin, dass der Grad des Verdachts zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft selbst dann herangezogen wird, wenn auch auf den erkennbaren Verfolgungswillen der Ermittlungsbeamten abgestellt werden könnte. Denn wenn sich die Indizien so verdichten, dass ein Betroffener als wahrscheinlicher Täter angesehen werden muss, wird das in der Regel - nicht notwendig - auch in dem Verhalten des Vernehmungsbeamten "nach außen" sichtbar. Auf eine derartige "faktische Inkulpation" stützt sich die Rechtsprechung aber nur dann, wenn die Verdachtslage als solche eine Inkulpation noch nicht nach sich zieht. Auch darin zeigt sich, dass man die Bedeutung der Verdachtsstärke rur die Begründung der Beschuldigteneigenschaft nicht unterschätzen oder relativieren darf. Sie ist keine "Inkonsequenz", sondern ein Kernelement des Beschuldigtenstatus.

VII. Schluss Es zeigt sich also, dass die Schöpfer der Strafprozessordnung recht hatten, als sie meinten, dass es einen einheitlichen Beschuldigtenbegriff nicht geben könne. Eine Definition des "Beschuldigten", die von stets gleichen Begriffsmerkmalen ausgeht, ist unmöglich, weil der Beschuldigtenbegriff nach den Schutzbedürfnissen der Betroffenen bestimmt \verden muss und diese an unterschiedliche Prozesssituationen anknüpfen. Doch lassen sich mit den vier vorstehend geschilderten Inkulpationsformen die in der Praxis wichtigen Sachverhalte recht gut und genau erfassen. Während die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation auf einem Willensakt der Strafverfolgungsbehörde beruhen, sind die faktische Inkul47

So auch Th. Heinrich (Fn. 46).

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pation und die Verdachtsinkulpation Produkte einer Zuschreibung. Bei der faktischen Inkulpation ist zwar ein Verfolgungswille erkennbar, aber es fehlt der Wille zur Schaffung eines Beschuldigtenstatus. Ein "prozessualer Gestaltungsakt" kann die faktische Inkulpation schon deshalb nicht sein, weil die insoweit maßgebende "Art und Weise der Vernehmung" keine statusschaffende Einzelhandlung, sondern eine Deutung des Gesamtverhaltens der Ermitllungsbehörden ist. Damit bin ich am Ende meiner Abhandlung, die ich Heinz Schäch mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag in alter und immer wieder neuer Freundschaft verehrungsvoll darbringe. Seit ich ihn vor mehr als 25 Jahren kennen gelernt habe (ich glaube, es war auf der Strafrechtslehrertagung in Bern), haben wir vieles gemeinsam gemacht: Alternativ-Entwürfe, aber auch - mit unseren Frauen - Wanderungen und Geselligkeiten. Heinz Schäch gehört zu den nicht allzu häufigen Professoren, die eine Lieblingsbeschäftigung darin sehen, anderen Kollegen Gutes zu tun. Das habe ich an mir selbst in reichem Maße erfahren, und ich werde ihm dafür immer dankbar sein. Ich wünsche ihm Glück, Gesundheit und Schaffenskraft für viele Jahre und freue mich auf unsere weitere Münchener Zeit.

Entwicklungen der Untersuchungshaft aus rechtstatsächlicher und rechtspolitischer Perspektive JÖRG-MARTIN JEHLE

I. Vorbemerkung Heinz Schöch hat sich seit Jahrzehnten immer wieder rechtstatsächlich und rechtspolitisch mit Untersuchungshaft befasst. So leitete er im Auftrag des Bundesjustizministeriums zusammen mit Hans-Ludwig Schreiber in den 1980er Jahren ein bundesweit angelegtes Forschungsprojekt, welches die Haftpraxis des Jahres 1981 untersuchte. l In den 1990er Jahren evaluierte er das Hessische Modellprojekt mit dem Titel "Entschädigung von Anwälten für die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen", welches das Ziel der Untersuchungshaftvermeidung durch frühe Strafverteidigung verfolgte. 2 Hierauf konnte das Hannoveraner Projekt "Vermeidung und Verkürzung von Untersuchungshaft durch frühzeitige Strafverteidigung" aufbauen. 3 Zuletzt hat er sich auf der Basis dieser Erfahrungen sachverständig vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts geäußert. 4 Das Ergebnis dürfte ihn insofern befriedigt haben, als die frühzeitige Pflichtverteidigung für Untersuchungshaftgefangene, die der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vorgesehen hatte, in § 140 Abs. 1 Nr. 4 in die StPO auf1 S. Schäch Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? Versuch einer Standortbeschreibung anhand nationaler und internationaler Statistiken, FS Lackner, 1987, S. 991 ff.~ Gebauer Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1987; zum im Zuges dieses Projekts durchgeführten Part zur Haftpraxis in Niedersachsen Jabel Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Niedersachsen, 1988. 2 Schäch Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, 1997. 3 Jehle in: Schöch/Jehle (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 39 ff.; JehlelBossow BewHi 2002, 73 ff.; Busse Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, 2008; BusselHohmann in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Sicherheit durch Strafe?, 2003, S. 157 ff. 4 Schäch Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 22. April 2009 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts - BT-Drs. 16111644.

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genommen wurde und die Beschränkungen im Untersuchungshaftvollzug nach dem neuen § 119 StPO nur auf den konkreten Haftgrund gestützt werden dürfen. So liegt es nahe, Heinz Schäch einen Beitrag zur Untersuchungshaft zu widmen, zumal er zusammen mit dem Kollegen Frieder Dünkel und dem Autor den von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsverbund zum Thema Haftvermeidung 5 mit den drei großen Evaluationsforschungen: Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen mittels gemeinnütziger Arbeit, 6 Haftvermeidung durch frühe Strafverteidigung7 und Schadenswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen, 8 betrieben hat. Eingebettet in einen Überblick über die Entwicklung der Untersuchungshaft in den letzten Jahrzehnten sollen zwei Aspekte näher betrachtet werden: die Haftvermeidung durch frühe Strafverteidigung und der Untersuchungshaftvollzug.

11. Kriminalpolitischer Hintergrund Ein bekanntes Wort lautet: Das Strafverfahrensrecht ist der Seismograph der Staatsverfassung. 9 Dies gilt in besonderer Weise fiir das strafprozessuale Zwangsmittel der Untersuchungshaft. Wie nirgends sonst drückt sich hier der Konflikt zwischen kriminalpolitischer Effektivität und rechtsstaatlichem Individualschutz aus. Die Interessen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und effektiven Strafverfolgung stehen aus rechtsstaatlichen Geboten der Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeit gegenüber. Der jeweils historisch gefundene Ausgleich zwischen beiden Seiten bleibt stets prekär, ist nie unumstritten. Dementsprechend ist die Geschichte der Untersuchungshaft geprägt von widerstreitenden kriminalpolitischen Bestrebungen restriktiver und extensiver Tendenz, von denen einmal die eine, ein anderes Mal die andere Seite mehr zum Zuge kommt. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Untersuchungshaft zu Beginn der 1980er Jahre, als hohe Haftzahlen und eine starke Überbelegung die Vollzugsanstalten belasteten. Damit verbunden wurde eine vom Deutschen Anwaltverein angestoßene kriminalpolitische Diskussion über die Begrenzung der Untersuchungshaft geführt, die seitens der Wissenschaft und der S. Schöch/Jehle (Fn. 3). S. Dünkel/Scheel in: Schöch/Jehle (Fn. 3), S. 19 ff. 7 S. Fn. 3. 8 Schöch Schadenswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen. Das Münchner Modellprojekt, in: Schöch/Jehle (Fn. 3), S. 71 tI.~ Götting Schadenswiedergutmachung im Strafverfahren, 2004~ Kaspar Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, 2004. 9 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Autl. 2009, § 2 Rn 1. 5

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Rechtspolitik zu Gesetzentwürfen führte. Die Justizverwaltungen reagierten, indem sie an verschiedenen Orten Modellprojekte zur Haftvermeidung einrichteten. Zur gleichen Zeit geriet auch der Vollzug der Untersuchungshaft ins Blickfeld; auch dazu wurden verschiedene Gesetzentwürfe vorgelegt. Schließlich haben sich auch die rechtswissenschaftliche und kriminologische Forschung der Haftvoraussetzungen und des Haftvollzugs angenommen. lO Indessen trat im Gefolge dieser Diskussion eine drastische Verringerung der Haftzahlen und damit auch eine Entspannung im Haftvollzug ein; die kriminalpolitische Dringlichkeit verringerte sich, so dass die rechtspolitischen Vorhaben zur Regelung der Haftvoraussetzungen und des Haftvollzugs nicht über Referenten- bzw. Arbeitsentwürfe des Bundesjustizministeriums hinausgelangten. Die Situation änderte sich allerdings wieder im Gefolge der Deutschen Einheit und der Öffnung der Grenzen zu Osteuropa. Es kam zu einer enormen Wanderungsbewegung von Ost nach West. Zudem stiegen die Zahlen von Aussiedlern und Asylbewerbern. Dass diese Veränderungen auch Auswirkungen auf die Strafjustiz hatten, versteht sich von selbst, und mit steigenden Verhaftungszahlen verschärfte sich das Problem wieder. ll 1996 präsentierte das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf12 eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, dem erstmalig in der Geschichte Deutschlands ein von der Bundesregierung vorgelegter Entwurf für ein Gesetz zur Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft folgte. 13 Zu einer gesetzlichen Regelung führte dies indes nicht. Hierzu kann. es erst im Zuge der Föderalismusreform (s.u. VII!.).

111. Entwicklung der Haftzahlen Betrachtet man die Entwicklung der Untersuchungshaftpopulation im Justizvollzug der alten Bundesländer, zeigt die Strafvollzugsstatistik eine wellenförmige Auf- und Abbewegung mit Höhepunkten Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre: Nach einem kontinuierlichen leichten Absin10 S. z.B. Schöch (Fn. 1), S. 991 ff.; Jehle Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermutung und Wiedereingliederung, 1985; Seebode Der Vollzug der Untersuchungshaft, 1985; Baumann Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, 1981; Arbeitskreis Strafprozessreform Die Untersuchungshaft. Gesetzentwurf mit Begründung, 1983; Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft. Vorschläge und Materialien, 1983. 11 Ausführlich dazu Jehle Entwicklung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden vor und nach der Wiedervereinigung, 1995, S. 24 f. 12 Vgl. dazu Seebode in: v. Koop/Klappenberg (Hrsg;), Untersuchungshaft - eine vergessene Reform?, 1998, S. 14 ff. 13 BR-Drs. 249/99.

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ken der Zahlen bis zum Jahr 1978 schnellten diese bis 1982 wieder hoch auf den bis dahin höchsten Nachkriegsstand (16.500 Untersuchungshäftlinge). Die darauf folgende Abwärtsbewegung schlug Ende der 1980er Jahre wiederum in einen Aufwärtstrend um, der sich zunächst langsam, dann rapide bis zu einem bis dahin nicht da gewesenen Höchststand Mitte der 1990er Jahre steigerte (für das alte Bundesgebiet ink!. Gesamtberlin waren es 1993: 18.895; rur Gesamtdeutschland 1995: 20.959 Inhaftierte). Seither sind die Belegungszahlen wieder enorm gesunken auf 11.178 (Gesamtdeutschland) am 31.08.2009. Ob dies "auf Maßnahmen der Haftvermeidung" zurückzuruhren ist, wie das Statistische Bundesamt 14 vermutet, oder eher auf einer veränderten Anordnungspraxis infolge einer entspannteren kriminalpolitischen Lage beruht, muss offen bleiben. Für die neuen Bundesländer gilt zu konstatieren, dass sich die Zahlen hier - gemessen an der Bevölkerungszahl - insgesamt auf einem deutlich niedrigeren Niveau bewegen, am 31.08.2009 waren es nur 1.197 Untersuchungshäftlinge. In etwa parallel zur Entwicklung der Zahlen der Untersuchungsgefangenen geht nach der Strafverfolgungsstatistik die Zahl der Abgeurteilten, die vor der Aburteilung in Untersuchungshaft waren, bis zum Jahr 1979 leicht zurück, um dann bis zu einem vorläufigen Höchststand im Jahr 1982 stark anzusteigen (42.324 Abgeurteilte, die zuvor in Untersuchungshaft waren). Nach einem erneuten Rückgang in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam es seit 1990 wieder zu einem Anstieg. Seit 1998 sind die Zahlen rückläufig. Im Jahr 2008 waren nur noch 29.532 Abgeurteilte zuvor in Untersuchungshaft. 15 Diese Schwankungen der Untersuchungshaftzahlen lassen sich - wie bereits Schäch in seiner Untersuchung 1997 aufgezeigt hat 16 - nicht mit gesetzgeberischen Veränderungen erklären; auch die Strafrechtspraxis weist im Übrigen keine derartigen Schwankungen auf. 17 Allgemein wird angenommen, dass der stete Rückgang bei unveränderter Gesetzeslage zwischen 1982 und 1986 auf ein verändertes kriminalpolitisches Klima zurückzuführen war. Der Druck überfüllter Haftanstalten und die heftig geführte Diskussion, ob zu viel und zu lange verhaftet werde, habe diesen Rückgang bewirkt. 18 Für die seit 1989 steigenden Verhaftungszahlen wurde vermutet, dass sie sich im Wesentlichen aus der Zuwanderung und verstärkten Reise14 So die Aussage des Statistischen Bundesamtes, in: Justiz auf einen Blick, 2008, S. 33.

15 Diese Zahlen beziehen sich nur auf das alte Bundesgebiet einschließlich Gesamtberlin.

Schäch (Fn. 2), S. 15 f. Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 34 ff; ders. in: ders. (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung, 1992, S. 349 ff; Gebauer (Fn. 1), S. 49 ff. 18 Schäch Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schuh (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Straf- und Maßregelvollzugs, 1987, S. 61 f; Geiler Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen, 1998, S. 54 f 16

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tätigkeit im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der Öffnung der Grenzen zu Osteuropa, aber auch aus der veränderten Kriminalitätsstruktur erklären lassen. 19 Insgesamt zeigt die langfristige Entwicklung der Haftzahlen, dass es offenbar erhebliche Beurteilungsspielräume gibt, wann die Anordnung von Untersuchungshaft erforderlich ist; hierbei wird ersichtlich die Verhaftungspraxis vom jeweiligen kriminalpolitischen Klima mit beeinflusst.

IV. Empirische Befunde zu den Haftvoraussetzungen Sieht man sich die Haftvoraussetzungen genau an, so fordern sie durchweg Prognosen bzw. Erwartungen. Der Beschuldigte muss der Tat dringend verdächtig sein, ein Haftgrund, z.B. Fluchtgefahr, muss bestehen (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO) und die Anordnung darf nicht unverhältnismäßig sein (§ 112 Abs. 1 S.2 StPO). Dem dringenden Tatverdacht liegt die Annahme zugrunde, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt wird. Die Haftgründe der Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr setzen die Erwartung voraus, der Beschuldigte werde sich ohne Untersuchungshaft dem Verfahren entziehen, die Beweisführung beeinträchtigen oder weitere einschlägige Straftaten begehen. Schließlich erfordert die Verhältnismäßigkeit einerseits die Annahme, dass weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen werden, den genannten Gefahren zu begegnen, und andererseits die Erwartung einer bestimmten Rechtsfolge, in der Regel einer freiheitsentziehenden Sanktion. Ob diese Annahmen in der Praxis richtig getroffen worden sind oder aufgrund fehlerhafter Annahmen zuviel verhaftet wird, wie nicht selten behauptet wird, lässt sich nicht präzise untersuchen, aber die einschlägigen Statistiken und empirische Forschungen geben einige Hinweise.

1. Dringender Tatverdacht Der dringende Tatverdacht als erste Voraussetzung dürfte in der Praxis ganz überwiegend zu Recht angenommen, wenn auch selten eigens begründet werden. Nach der Strafverfolgungsstatistik (2008) liegen gerichtliche Freisprüche und Einstellungen bei 3 %. Nach einer bundesweiten Aktenuntersuchung in den 80er Jahren, die auch die statistisch nicht ausgewiesenen Einstellungen, insbesondere auch §§ 170 Abs. 2, 153, 153a und 154 StPO,

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Vgl. dazu H-J. Albrecht FS G. Kaiser, 1998, S. 1137 ff.; Jehle (Fn. 11).

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berücksichtigt hat, ergab sich allerdings eine Quote von etwa 10 % nicht verurteilter Untersuchungsgefangener. 20

2. Haftgründe Betrachtet man die prozentuale Verteilung der Haftgründe, ist zu bedenken, dass auch mehrere Verhaftungsgründe nebeneinander möglich sind und dass deshalb das Gesamt der Haftgründe mehr als 100 % ergibt. 21 Als wichtigster, ganz dominierender Haftgrund mit 93,1 % ist die Flucht oder Fluchtgefahr zu verzeichnen, gefolgt von der Wiederholungsgefahr, die nur 9,3 % ausmacht; noch seltener mit 5,9 % ist der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, d.h. die Gefahr, dass Beweismittel manipuliert oder Zeugen beeinflusst werden (§ 112 Abs. 2 StPO). Am geringsten ist die Zahl der Fälle, in denen Schwerstkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) die Haft begründet, mit 4,6 %. Wiederholungs- und Verdunkelungsgefahr sowie die Tatschwere entfalten als alleiniger Haftgrund jeweils aber nur geringe quantitative Bedeutung. Ein "Zuviel" an Verhaftungen wird man ehesten im Bereich der Fluchtgefahr vermuten dürfen. Was die Haftbegründungen bei Fluchtgefahr angeht, fällt auf, dass neben der bekannten Begründung mit mangelnden sozialen Bindungen häufig überwiegend formelhaft - eine hohe Straferwartung herangezogen wird, zum Teil sogar als einzige Begründung. 22 Allerdings endeten die Verfahren selbst in letzteren Fällen nur bei zwei Dritteln mit vollstreckbarer Freiheitsstrafe. 23 Diese falschen Erwartungen beruhen wohl teilweise auf einem defizitären Erkenntnisstand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Haftentscheidung sowie auf unzureichenden Ermittlungen. Dennoch liegen zumeist erhebliche soziale Auffälligkeiten vor. Nach einer Befragung von Untersuchungsgefangenen bestanden einzeln oder kumulativ bei den meisten (über 80 %) entsprechende Auffälligkeiten, wie fehlender Wohnsitz, Arbeitslosigkeit oder mangelnde Einbindung in Ehe oder Familie. 24 Freilich besagt dies noch nichts darüber, ob sich die Betroffenen tatsächlich dem Verfahren entziehen werden. Die Anlassdelikte sind in fast drei Vierteln aller Fälle dem Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität zuzuordnen. Bei einem 20 Gebauer (Fn. 1), S. 149; in der Hannoveraner Studie ergab sich, dass 6 % der Verfahrensausgänge auf Einstellung und Freispruch lauteten, Busse (Fn. 3), S. 216. 21 Alle Zahlen aus Jehle Strafrechtspflege in Deutschland, 5. Aufl. 2009, S. 20 f. 22 Krit. dazu Volk Haftbefehle und ihre Begründungen, 1995, S. 73 ff., 126 ff. m.w.N.; zur Fluchtgefahr bei Beschuldigten mit ausländischenl Wohnsitz: Grau NStZ 2007, 10; Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 8. 23 Nach Gebauer (Fn. 1) ergingen 18 % der Haftbefehle in Bagatellsachen (z.B. Verstöße gegen das Ausländergesetz oder § 265a StGB), S. 234 ff. 24 Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 150 ff.; ders. KrimPäd 1987,33 ff.; vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 180.

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Viertel der Fälle fällt das schwerste Delikt, welches dem Beschuldigten im Haftbefehl vorgeworfen wurde, allerdings in den Bereich der einfachen Kriminalität; 7 % verbleiben im Bereich der Bagatelldelikte. 25 Es gibt Anzeichen, dass in Zeiten des Rückgangs der Verhaftungen der Anteil kurzer Haftzeiten sinkt, dass also in minder schweren Strafsachen weniger schnell verhaftet wird. So beträgt der Anteil der Untersuchungshaft bis 1 Monat 1998 noch 34 %, im Jahr 2008 nur mehr 28 0/0. Neben fehlerhaften Haftbegründungen könnte sich ein Zuviel von Verhaftungen auch daraus ergeben, dass sich hinter dem offiziellen Haftgrund Fluchtgefahr andere Haftgründe verbergen, die entweder schwer zu begründen oder aber gesetzlich gar nicht vorgesehen, also apokryphe Haftgründe sind. So könnte man zu der Annahme gelangen, dass "die Gründe des Haftrichters nicht seine Motive" sind und dass die Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden oft als "Krisenintervention", "Erziehungsmaßnahme oder vorweggenommene Jugendstrafe" verstanden wird. 26 Nicht zu übersehen sind die Schwierigkeiten des Richters, der die Notwendigkeit sieht, einen Gungen) Straftäter aus seiner ungünstigen Umgebung herauszunehmen, oder der die Aussetzung zur Bewährung nicht ohne jede Verbüßungserfahrung verantworten will. Nur: Hierzu ist die Untersuchungshaft nicht da. Dennoch stehen auch in der Praxis Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter nicht durchweg ablehnend solchen apokryphen Erwägungen gegenüber, obwohl sie nach Gebauer keine dominante Rolle spielen, während Hilger ihnen eine nicht unerhebliche Rolle zuspricht. 27

3. Verhältnismäßigkeit/Straferwartung Die Verhältnismäßigkeit im eigentlichen Sinne betrifft die Frage, ob die Untersuchungshaft, obgleich geeignet und erforderlich, dennoch nicht angeordnet werden darf, weil dies zur Bedeutung der Sache und der erwarteten Sanktion außer Verhältnis stünde. Maßstab nach § 112 Abs. 1 S. 2 StPO bildet im Wesentlichen die Rechtsfolgenerwartung. Unverhältnismäßigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die Dauer der Freiheitsstrafe bzw. die Anzahl der Tagessätze einer Geldstrafe überschreitet, was relativ selten der Fall ist. 28 Umstritten ist indes, ob grundsätzlich bei zu erwartender Geldstrafe oder Bewährungsstrafe die Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist. Aus der obergerichtlichen Rechtspre-

Busse (Fn. 3), S. 180. So schon Schub DVJJ-JoumaII981, 399 ff. 27 Gebauer (Fn. 1), S. 333 ff.~ LR-Hilger StPO, Bd. 4,26. Aufl. 2007, § 112 Rn. 54. 28 In 2008: 2.259 von 29.532 Fällen, Statistisches Bundesamt, Strafverfolgungsstatistik 2008, Fachserie 10 Reihe 3, Tab. 6.1. 25

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chung und der Kommentarliteratur lässt sich als wohl herrschende Auslegung herauslesen, dass Untersuchungshaft nur ausnahmsweise verhältnismäßig ist, wenn eine Bewährungs- oder Geldstrafe zu erwarten ist. 29 Auch wenn man in Rechnung stellt, dass zu Anfang des Verfahrens die Straferwartung naturgemäß unsicher ist, wird man mit Blick auf die beträchtliche Quote von Bewährungsstrafe (32 %) und Geldstrafe (8 %)30 nicht behaupten können, dass dieser Ausnahmecharakter gewahrt ist. Immerhin ist positiv zu vermerken, dass die Anteile von Geldstrafe und Bewährungsstrafe seit 1998 deutlich gesunken sind.

4. Spezifische Verhaftungsrisiken Ganz allgemein findet unter den Beschuldigten eine große Auslese statt: Nur weniger als 3 % der später Abgeurteilten werden im Laufe des Strafverfahrens verhaftet. Was die Anlassdelikte angeht, so findet sich ein deliktsspezifisches Verhaftungsrisiko, das sich aber weitgehend mit der Schwere der Taten erklären lässt: je schwerer die Tat, desto höher das Haftrisiko. Eine Besonderheit bieten die Drogendelikte; dort ist das Haftrisiko deutlich erhöht. Frauen dagegen spielen nur eine geringe Rolle, sie stellen knapp 7 % der Abgeurteilten mit Untersuchungshaft. 31 Was das Haftrisiko bestimmter Personengruppen angeht, so hat eine Sonderauswertung ergeben, dass Heranwachsende unter den Abgeurteilten mit Untersuchungshaft bezogen auf ihren Anteil an der Wohnbevölkerung deutlich überrepräsentiert sind. Jugendliche und Heranwachsende sind zusammengenommen unter Untersuchungsgefangenen stärker vertreten als unter Strafgefangenen, außerdem werden sie in geringerem Maße zu vollstreckbaren Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt als Erwachsene. Insoweit könnte es tatsächlich einen gewissen Anhaltspunkt für den behaupteten apokryphen Haftgrund der Krisenintervention geben. 32 Als eine spezifische Klientel gilt die Gruppe der jungen Untersuchungsgefangenen, die neben der Devianz eine weitere starke psychische Vorbelastung aufweist. 33 Eine besonders bedeutsame Gruppe unter den Inhaftierten stellen die Ausländer. Eine bundesweite Statistik zur Ent,vicklung des Ausländeranteils in Untersuchungshaft existiert bislang nicht. Jedoch zeigen einzelne Zahlen 29

Statt vieler Hilger (Fn. 27), § 112 Rn. 62~ KK-Graf StPO, 6. Autl. 2008, § 112 Rn. 50.

30 Bezogen auf Abgeurteilte mit Untersuchungshaft, Statistisches Bundesamt (Fn. 28), Tab. 6.2. 31 Alle Zahlen aus Jehle (Fn. 21). 32 Ausführl. Jehle (Fn. 11), S. 38, 78 f. 33 C=erner Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten Jugendlichen zwischen Repression und Prävention, 2008, S. 299~ z.B. zur Problematik des ADHS-Syndroms s. Köhler/Müller/Hinrichs ZJJ 2007,253, 255 f.~ Hosser/Jungmann/Zöllner ZJJ 2007, 244, 249 .

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aus den verschiedenen Bundesländern eine deutliche Tendenz. Beispielsweise ist der Ausländeranteil in den Untersuchungshaftabteilungen der niedersächsischen Justizvollzugsanstalten von 27 % im Jahr 1989 auf 68 % im Jahr 1992 gestiegen. 34 Auch die Zahlen aus Hessen rangieren 1994 auf diesem Niveau,35 am 31.03.2006 betrug der Anteil ausländischer Untersuchungsgefangener in Hessen noch immer 62 %.36 Fragt man nach den Gründen für dieses große Wachstum, ist zunächst an eine zunehmende "Ausländerkriminalität"37 zu denken. Seit 1998 verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik allerdings einen Abwärtstrend bei den Zahlen nichtdeutscher Tatverdächtiger (2008: 471.067). Dasselbe gilt auch fur die Abgeurteilten nach der Strafverfolgungsstatistik; auch hier sind die Anteile von Ausländern zwischen 1998 und 2008 (von 30 % auf 21 %) deutlich gesunken. Dies könnte auch eine Folge davon sein, dass Migranten der zweiten Generation zunehmend eingebürgert worden sind. Als Erklärung fur den hohen Ausländeranteil bietet sich daher eher an, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr auf die Gruppe von Ausländern "passt", die in der Untersuchungshaft dominieren, nämlich männliche Illegale, Asylbewerber, Geduldete und solche mit einem kurzen befristeten Aufenthalt. 38

v. Haftdauer Die Kritik, es werde zuviel verhaftet, verbindet sich zumeist mit der Behauptung, es werde zu lange verhaftet. 39 Eine Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft kann auch durch ihre unangemessene Länge begründet sein. Bezüglich der Haftdauer operiert das deutsche Strafverfahrensrecht seit 1965 mit der komplexen Regelung des § 121 StPO, die die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit konkretisiert. Danach ist die Dauer der Untersuchungshaft, solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist, grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt. Unter den Voraussetzungen des § 121 StPO kann die Untersuchungshaft jedoch durch das

34 Schütze DVJJ-Joumal 1993, 381~ die Hannoveraner Studie zur Untersuchungshaft ergab für 1998-2000 eine Ausländerquote von ca. 50 %, Busse (Fn.3), S. 148. 35 Staudinger in: Umwelt Kriminalität - Recht, Bd. 6,2001, S. 15 . 36 Hessisches Ministerium der Justiz Justizvollzug in Hessen, 2006, S. 10; anders sieht es in den neuen Bundesländern aus; in Sachsen-Anhalt lag der Ausländeranteil in der Untersuchungshaft bei nur etwa 13 %, http://www.sachsen-anhalt.de. Jahresstatistik, Stand 31.12.2008. 37 Ausführl. SchöchlGebauer Ausländerkriminalität, 1991. 38 In der Hannoveraner Studie machten allein die Illegalen, Geduldeten bzw. Asylbewerber etwa zwei Drittel der ausländischen Beschuldigten aus, Busse (Fn.3), S. 150. 39 Vgl. bereits die empirische Untersuchung von Carstensen Dauer von Untersuchungshaft, 1981, S. 62.

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Oberlandesgericht auch über sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden. Dieses Modell der Haftprüfung wird als wenig effektiv kritisiert. 40 Daten zur Untersuchungshaftdauer können der Strafverfolgungsstatistik entnommen werden. Diese sind allerdings recht grob und für die Kriterien des § 121 StPO zu ungenau, da weder Angaben dazu gemacht werden, in welchem Verfahrensstadium die Untersuchungshaft angeordnet wurde, noch wie lange mögliche Unterbrechungen der Untersuchungshaft (z.B. zur anderweitigen Strafverbüßung) dauerten. Vor allem aber teilt die Strafverfolgungsstatistik die Haftdauer in relativ grobe Gruppen (Dauer bis 1 Monat, 1-3 Monate, 3-6 Monate, 6-12 Monate und darüber) auf, eine exakte Verteilung der Haftdauer lässt sich anhand dieser Daten nicht errechnen. Betrachtet man anhand dieser groben Kategorien die Entwicklung der Dauer der Untersuchungshaft der letzen 30 Jahre, wird klar, dass der Anteil kurzer Haftzeiten (bis zu 3 Monate Haft), der bis Anfang der 1980er Jahre fast zwei Drittel aller Haftzeiten ausmachte, deutlich auf 56 % im Jahr 1994 gesunken war. Nachdem er um die Jahrtausendwende noch einmal anstieg, macht er 2008 nur noch die Hälfte aller Untersuchungshaftfalle aus. Dem entsprechend haben die Anteile mittlerer (3-6 Monate) und längerer (über 6 Monate) Haftzeiten zugenommen. Der Rückgang sowohl der Verhaftungen als auch der Inhaftierten liegt also vornehmlich im Bereich der kurzen Haftdauer; es wird bei leichteren Straftaten nicht mehr so schnell verhaftet. Gleichwohl muss das seit langem bestehende hohe Niveau langer Haftzeiten (2008: 7.063, das sind 24 % aller Abgeurteilten mit Untersuchungshaft), Anlass dazu geben, über ein effektiveres Instrument der Haftkontrolle nachzudenken. 41

VI. Haftvermeidung und -verkürzung Das geltende Recht kennt keine echte ambulante Alternative zur Untersuchungshaft, vielmehr setzt die Haftverschonung nach § 116 StPO zunächst die Anordnung der Untersuchungshaft voraus. Soweit der Zweck der Untersuchungshaft es zulässt, kann oder muss der Vollzug des Haftbefehls dann durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden. Darüber hinaus wurde im JGG ein eigenständiges Instrument ambulanter Sicherung, das Vorrang vor der Untersuchungshaft hat, geschaffen. Nach 40 Vgl. Jehle/Hoch (Hrsg.), Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft, 1998; dazu auch das Wiesbadener Forschungsprojekt, das sich mit der Praxis der Haftkontrolle durch die Gerichte und ihren Auswirkungen beschäftigt; Dessecker in: Lösel/BenderlJehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 269 ff.; Kintzi DRiZ 2004, 348 ff. 41 S. Jehle/Hoch (Fn. 40); Dessecker (Fn. 40).

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§ 72 Abs. 1 S. 1 JGG darf Untersuchungshaft nur dann verhängt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendgerichtshilfe, erreicht werden kann. Zusätzlich werden bei Jugendlichen unter 16 Jahren fur die Annahme von Fluchtgefahr konkrete Fluchtindizien gefordert. Ferner ist nach § 72a JGG die Jugendgerichtshilfe heranzuziehen und zwar soll ihr bereits der Erlass des Haftbefehls mitgeteilt werden; jedenfalls ist sie unverzüglich von der Vollstreckung des Haftbefehls zu unterrichten und berichtet beschleunigt über das Ergebnis ihrer Nachforschungen. Die Rechtswirklichkeit sieht, trotz dieser eindeutigen Gesetzeslage, jedoch prekär aus. Beispielsweise spielte nach einer Untersuchung von Kowalzyck für nur etwa die Hälfte der in Mecklenburg-Vorpommern fur Haftbefehle gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden zuständigen Richter die Möglichkeit einer haftvermeidenden Unterbringung eine Rolle. 42 Auch im Erwachsenenstrafrecht gilt - einer alten Forderung von Schöch 43 entsprechend - Haftvermeidung bzw. Haftverkürzung als Aufgabe der Gerichtshilfe. Da hier aber keine grundsätzliche Pflicht zur Beteiligung der Gerichtshilfe besteht, bleibt es der jeweiligen Staatsanwaltschaft bzw. dem Haftrichter überlassen, die Gerichtshilfe einzuschalten. Erschwerend kommt die geringe personelle Kapazität hinzu, die ein flächendeckendes Tätigwerden der Gerichtshilfe in allen Haftfällen nicht zulässt. Eine echte ambulante Alternative könnte in Zukunft der Einsatz der sog. elektronischen Fuß/essel (in einigen europäischen Nachbarländern seit langem zur Routine gehörend) bieten. Diese würde jederzeit die Standortbestimmung des Beschuldigten sichern und könnte die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr teilweise ersetzen. So forderte auch der Deutsche Anwaltverein, die Auflagen des § 116 StPO, unter denen der Vollzug der Untersuchungshaft ausgesetzt werden kann, ausdrücklich um die Möglichkeit elektronischer Überwachung zu erweitern. 44 Bereits auf der Grundlage des 42 Kowalzyck DVJJ-Joumal 2002, 300, 305~ ders. Untersuchungshaft, Untersuchungshaftvermeidung und geschlossene Unterbringung bei Jugendlichen und Heranwachsenden in Mecklenburg-Vorpommem, 2008~ weitere Studien vgl. Will DVJJ-Journal 1999,49, 51, landesweite Evaluation in Thüringen; Staudinger (Fn. 35), S. 97 f.~ Volk Haftbefehle und ihre Begründungen: Gesetzliche Anforderungen und praktische Umsetzung, 1995~ Weinknecht Die Situation der Untersuchungshaft und der Unterbringung an Jugendlichen und Heranwachsenden: untersucht anhand von Strafakten der Jahrgänge 1980-1984 aus dem Landgerichtsbezirk Kiel, 1988. 43 Schöch Die Gerichtshilfe aus kriminologischer und verfahrensrechtlicher Sicht, FS Leferenz, 1983, S. 127 ff. 44 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Referentenentwurf für ein "Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts", S. 5: sehr krit. zum bisherigen Umgang mit dieser Möglichkeit durch den Gesetzgeber: Dünkel StV 1994,

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geltenden § 116 StPO läuft seit einigen Jahren in Hessen ein Modellversuch, der die elektronische Überwachung mit einer verstärkten sozialarbeiterischen Betreuung verknüpft. Obwohl durchaus positiv evaluiert,45 wird diese Möglichkeit in der Praxis - wohl aufgrund von grundsätzlichen Vorbehalten seitens der beteiligten Justiz und Sozialarbeit - nur sehr eingeschränkt wahrgenommen.

VII. Insbesondere: Notwendige Verteidigung Die frühzeitige Beiordnung von Verteidigern bei Untersuchungshaft war eine seit Jahrzehnten von Strafverteidigern erhobene Forderung. 46 Auch der BGH hat schon 2001 hervorgehoben, dass die Staatsanwaltschaft, wenn sie einen Haftbefehl wegen eines Verbrechens beantragt, auch die Stellung eines Beiordnungsantrages zu erwägen habe. 47 Mit der Untersuchungshaftnovelle 2009 wurde der § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO neu gefasst. Damit ist nach langjährigen Reformforderungen zum 01.01.2010 - für den Fall von Untersuchungshaft (§§ 112, 112a StPO) oder einstweiliger Unterbringung (§ 126a sowie § 275a Abs. 5 StPO) - die Verteidigung vom ersten Tag der Vollstreckung an fur notwendig erklärt worden. 48 Bisher war nach der StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erst nach Ablauf von drei Monaten in Untersuchungshaft zwingend erforderlich. Praktisch bedeutet das nun, dass die Beiordnung zusammen mit der Verkündung des Haftbefehls durch das zuständige Amtsgericht zu erfolgen hat, wobei der Untersuchungshäftling das Recht besitzt, einen Verteidiger seiner Wahl beigeordnet zu bekommen. Mit der Neuregelung wird sichergestellt, dass der Inhaftierte vom Beginn seiner Inhaftierung an wirksam seine Rechte wahrnehmen kann. Dass eine frühe Strafverteidigung haftverkürzende Effekte haben kann, indizierte schon die wissenschaftliche Evaluationsstudie von Schöch zum Hessischen Modellprojekt "Entschädigung von Anwälten fur die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen"49 und konnte durch das von der

610; Münchhalffen/Gat~veiler Das Recht der Untersuchungshaft, 2009, Rn. 7 f; Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn 3. 45 H.-J. Albrecht in: Schäch/Jehle (Fn. 3), S. 109 ff m.w.N. 46 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Referentenentwurf für ein "Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts", Nr. 61/2008, S.6. 47 BGHSt 47, 172 ff 48 Vgl. dazu Schöch (Fn. 4). 49 Schöch (Fn. 2).

Entwicklungen der Untersuchungshaft

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Abteilung Kriminologie der Juristischen Fakultät Göttingen wissenschaftlich begleitete Modellproj ekt in der JVA Hannover nachgewiesen werden. 50 Anliegen des Hannoveraner Projekts war es, durch frühe Strafverteidigung Haftvermeidung und -verkürzung zu bewirken und zugleich rechtsstaatliche Defizite zu beseitigen. Ausgangspunkt war, dass man in den ersten drei Haftmonaten, insbesondere im ersten Haftrnonat, ein Defizit an Strafverteidigung vermuten kann. Damit verband sich für das Praxisexperiment die Erwartung, dass die Haftzeiten verkürzt werden können bzw. dass Untersuchungshaft verstärkt vermieden werden kann, wenn auch der nicht durch einen Wahl- oder Pflichtverteidiger vertretene Beschuldigte bereits zu einem frühen Zeitpunkt einen Strafverteidiger erhält. Daher wurde während des Praxisexperiments jedem unverteidigten Untersuchungsgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Hannover ein Strafverteidiger zu Verfügung gestellt. Über die reine Haftverkürzung hinaus wurden weitere positive Auswirkungen erwartet: eine Verfahrensverkürzung durch ein verbessertes Zusammenwirken der Beteiligten, verfahrensökonomische Aspekte durch verstärkte Kooperation des Beschuldigten, eine Verringerung der psychischen Belastung des Inhaftierten und damit einhergehend eine Verbesserung des Anstaltsklimas sowie nicht zuletzt ein rechtsstaatlicher Gewinn. Um den optimalen Ansatzpunkt fur die frühe Strafverteidigung herauszufinden, wurden drei verschiedene Projektvarianten gewählt: In der ersten Variante wurde nach einem Monat ein Verteidiger zur Verfügung gestellt, in der zweiten erfolgte die Strafverteidigung mit Haftantritt. In der dritten Variante, die nur am Amtsgericht Hannover durchgeführt wurde, erhielt der Beschuldigte das Angebot früher Strafverteidigung bereits unmittelbar vor der Vorführungsverhandlung. Die zentrale Frage für die wissenschaftliche Begleitforschung war, wie sich die Effekte der Projektverteidigung messen lassen. Da aus praktischen und ethischen Gründen ein klassisches Experiment ausschied, war ein Binnenvergleich zwischen Projektteilnehmern und Nichtprojektteilnehmern und zwischen den einzelnen Varianten 1, 2, und 3 vorzunehmen und darüber hinaus ein Vorher-Nachher-Vergleich anzustellen. Die wichtigste Datenquelle für die Begleitforschung stellten die Strafverfahrensakten dar; nur dort finden sich Angaben zu Verlauf und Abschluss des Verfahrens und v.a. zum Ob und Wie der Strafverteidigung. Um die Untersuchung für alle Beteiligten in einem zu bewältigenden Rahmen zu halten, wurden nicht alle Strafakten der Inhaftierten untersucht, sondern eine Totalerhebung aller Projektfalle angestrebt; von den übrigen Gruppen sollte jeweils eine Zufallsstichprobe gezogen werden, d.h. jeder Dritte der Inhaftierten. Die Evaluation blieb auf männliche erwachsene Untersuchungsgefangene i.S.v. 50

Busse (Fn. 3)~ Jehle (Fn. 3), S. 39 ff.~ Hohmann-Fricke in: SchöchiJehle (Fn. 3), S. 45 ff.

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§§ 112, 112a StPO beschränkt. Insgesamt wurden fast 900 einschlägige Akten ausgewertet. Darüber hinaus wurden Bundeszentralregisterauszüge angefordert, die Probanden sowie vor und nach dem Proj ekt die beteiligten Berufsgruppen, sprich: Haftrichter, Staatsanwälte, Strafverteidiger und Bedienstete der Vollzugsanstalt, befragt. Es zeigte sich, dass in der ersten Projektvariante nur noch ein kleiner Teil der Inhaftierten von dem Projektangebot auf Strafverteidigung erreicht werden konnte. Offenbar kommt nach einem Monat das Angebot auf Verteidigung zu spät. Anders sieht es aus, wenn das Angebot unmittelbar nach Haftantritt unterbreitet wird. In Variante 2 ist es gelungen, rascher und für einen größeren Teil der Inhaftierten eine Verteidigung zu gewährleisten: bereits nach 14 Tagen sind nur noch wenige unverteidigt. Die dritte Variante, die bereits bei der Vorführung vor dem Haftrichter ansetzt, hatte mit beträchtlichen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen, sie war aber insofern ein Erfolg, als sich der Anteil der von Beginn der Haft an Verteidigten noch einmal erhöht hat. Zusammenfassend lässt sich sagen: Nach zweiwöchiger Haft ist noch jeder dritte Untersuchungsgefangene unverteidigt. Bei einem Angebot auf Strafverteidigung von Anfang an ist dies nur noch jeder Zehnte. Dies ist eine klare Verbesserung der Verteidigungssituation. Damit geht auch eine nachweisbare Verkürzung der Haft- und Verfahrensdauer einher. Frühzeitige Verteidigung ist also ein erfolgreiches Mittel der Haftverkürzung. Es stellte sich heraus, dass sich die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft um mindestens 14 Tage und die Dauer des gesamten Strafverfahrens sogar um mindestens 22 Tage verkürzt, wenn der Gefangene von Anfang an verteidigt ist. Eine haftvermeidende Wirkung der frühen Verteidigung konnte indes mit der verwendeten Erhebungsmethode nicht nachgewiesen werden. 51 Überdies scheint es sich zu rechnen, wenn man die Kosten für die Strafverteidigung und die ersparten Haftkosten gegenüberstellt. 52 Insbesondere wird die Verkürzung durch verschiedene Aktivitäten der Verteidiger gefördert, z.B. durch besser vorbereitete Haftprüfungstermine, Kontaktaufnahme zum sozialen Umfeld oder zu Therapieeinrichtungen, durch Hinwirken auf frühzeitige Geständnisse statt sinnlosem Leugnen oder auf Wiedergutmachungsbemühungen sowie durch verfahrensfördernde Gespräche mit der Staatsanwaltschaft oder dem zuständigen Richter, oft in Verbindung mit anderen verfahrensbeschleunigenden Absprachen, die einen frühen Termin für die Hauptverhandlung oder eine Erledigung durch Strafbefehl ermöglichen. 53 51

Ausführt. Busse (Fn. 3), S. 272, 317 f., 320. Schöch (Fn. 4), S. 5; Busse (Fn. 3), S. 326. Schöch (Fn. 4), S. 5.

52 Rechenbeispiele 53

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VIII. Untersuchungshaftvollzug

I. Gesetzliche Grundlage Für den Vollzug der Untersuchungshaft galten Jahrzehnte lang die Vorschriften der StPO (§ 119) - bei jungen Menschen ergänzend § 93 JGG -, §§23ffEGGVG und die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) als Verwaltungsvorschrift. Genau genommen enthielt § 119 StPO Generalklauseln, die im Interesse einer einheitlichen Vollzugspraxis durch eine von den Landesjustizverwaltungen erlassene Verwaltungsanordnung, die UVollzO, konkretisiert wurde. Dass der Untersuchungshaftvollzug nunmehr kodifiziert wird, geht auf die Grundsatzentscheidung des BVerfG zum Jugendstrafvollzug 54 zurück. In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung hat es die blankettartigen Vorschriften des JGG zum Jugendstrafvollzug nicht mehr für ausreichend erachtet und eine differenzierte gesetzliche Regelung verlangt. Dieser neue Maßstab hat implizit bedeutet, dass auch für den Untersuchungshaftvollzug die bisherigen Vorschriften des § 119 StPO als verfassungsrechtlich nicht ausreichend anzusehen sind. Der damit verbundene Zwang zur Kodifizierung liegt infolge der nahezu zeitgleich beschlossenen Föderalismusreform 55 nunmehr bei den Ländern, so dass in allen Ländern 56 Gesetzgebungsverfahren zum Untersuchungshaftvollzug gelaufen sind. Als erstes Bundesland hat Niedersachen im Rahmen seines Justizvollzugsgesetzes (NJVoIlzG)57 den Untersuchungshaftvollzug gesetzlich geregelt. Inzwischen hat der Bund mit Wirkung vom 01.01.2010 § 119 StPO neu gefasst und § 119a StPO neu geschaffen, was vor allem für die Regelungskompetenz im Hinblick auf Haftzweck und Richtervorbehalt von Belang ist. Ersichtlich überschneiden sich die bundesgesetzlichen und die niedersächsischen Regelungen, so dass sich kompetenzrechtliche Fragen ergeben. Die vom Verfassungsgesetzgeber im Zuge der Föderalismusreform in Art. 74 Nr. 1 GG gefundene Formulierung "gerichtliches Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs)" ist wenig geglückt. Der Wortlaut lässt verschiedene Deutungen zu: Zum einen könnte der Untersuchungshaftvollzug in toto der konkurrierenden Gesetzgebung entzogen und damit 54 BVerfG NJW 2006,2093. 55 BGB!. I 2006, S. 2034. 56 Entwurf eines Gesetzbuchs über den Justizvollzug in Baden-Württemberg (JVollzGB), s. wwwjum. baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/show/1240750/Gesetzentwurf/JVollzGB. pdf~ Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft und zur Verbesserung der Sicherheit in Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen (GVUVS NRW), Drs. 14/863~ Entwurf eines Thüringer Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft (ThürUVollzG), Drs. 4/4803. 57 Nds. GVBI. 2007, 720 i.V.m. dem Änderungsgesetz v. 20.02.2009, GVBI. 2009, S. 32.

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ausschließlich landesrechtlicher Regelung zugänglich sein, wie es die Auffassung des niedersächsischen Gesetzgebers war. Auf der anderen Seite könnte man den Standpunkt vertreten, die landesrechtliche Kompetenz sei auf die reinen vollzuglichen Aspekte, namentlich Sicherheit und Ordnung der Anstalt, begrenzt und umfasse verfahrensrechtliche Aspekte und gerichtlichen Rechtsschutz nicht, was der Auffassung des Bundesgesetzgebers entspricht. Bei der Interpretation muss beachtet werden, dass das gerichtliche Verfahren hier eine doppelte Bedeutung besitzt. Einmal dient der Haftvollzug als Durchführung der Untersuchungshaft in Verfolgung des Haftzwecks mit der Ausnahme der Wiederholungsgefahr der Verfahrenssicherung und gehört deshalb zum gerichtlichen Verfahren. Andererseits gehören richterliche Kontrolle von Vollzugsentscheidungen und gerichtliche Anordnungen im Vollzug unbestritten ebenfalls zum gerichtlichen Verfahren LS.v. Art. 74 GG. Dies erweist sich gerade auch in der Föderalismusreform unter anderem daran, dass §§ 109 ff. StVollzG vom Landesgesetzgeber - da bundesrechtliche Materie - gerade nicht geregelt wurde. Deshalb regelt der Bundesgesetzgeber zu Recht selbst den Rechtsschutz (§ 119a StPO) und bestimmt die Maßnahmen zur Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr, die dem Richter zugewiesen sind (§ 119 StPO). Infolgedessen muss Niedersachsen entweder sein Gesetz entsprechend novellieren oder das Bundesverfassungsgericht zur Klärung der kompetenzrechtlichen Fragen anrufen. Denn während nach dem niedersächsischen Justizvollzugsgesetz58 der Anstaltsleiter nicht nur zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, sondern auch zur Verhinderung von Fluchtgefahr einschränkende Anordnungen treffen kann, sind in § 119 StPO Einschränkungen aufgrund der Haftgründe, und zwar des jeweils konkret vorliegenden Haftgrunds der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, vom Richter zu treffen; der Anstaltsleiter kann hiernach also seine Anordnung nur auf die nicht verfahrensbezogenen, rein vollzuglichen Aspekte der Sicherheit und Ordnung der Anstalt stützen.

2. Vollzugsgestaltung und Bedürfnisse der Inhaftierten Während

die

verfahrensrechtlich

begründeten

Einschränkungen

in

§§ 119, 119a StPO bundesgesetzlich geregelt werden, sind die Gestaltung des Vollzugs und die sich hieraus ergebenden Einschränkungen für die Inhaftierten unstreitig Sache landesrechtlicher Regelung. Bei der gesetzlichen Ausformung und der praktischen Durchführung des Untersuchungshaftvollzugs müssen widerstreitende Gestaltungsprinzipien zum Ausgleich 58 Vgl. näher Winzer Der Vollzug der Untersuchungshaft nach dem Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz, Diss. jur. Göttingen (erscheint voraussichtlich Herbst 2010).

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gebracht werden. Auf der einen Seite muss die Justizvollzugsanstalt einen ordnungsgemäß funktionierenden und sicheren Vollzug gewährleisten, auf der anderen Seite hat sie den Vollzug so zu gestalten, dass er der Unschuldsvermutung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt. Deshalb erlegt das NJVollzG 59 der Anstalt die Pflicht zur Gegensteuerung und Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse auf, wie sie auch in § 3 StVollzG für Strafgefangene formuliert ist. Was diese Verpflichtung wert ist, erweist sich an den konkreten Bestimmungen in den einzelnen Vollzugsbereichen. Wenn etwa das NJVollzG aus Praktikabilitäts- und Kostengründen den Anspruch auf Besuch auf eine Stunde im Monat festlegt, so ist dies eine unzumutbare Beschränkung. Ein nicht unerheblicher Teil der Gefangenen ist nur wenige Wochen in Untersuchungshaft, sodass ihr Besuchsrecht weitgehend leer läuft, obwohl doch gerade in den ersten Wochen der Kontakt mit Angehörigen besonders wichtig erscheint. Hier zeigt sich, dass die Rechte des Untersuchungsgefangenen durch die derzeit äußerst begrenzten Mittel personeller und sachlicher Art maßgeblich bestimmt werden. Verschärft tritt dieses Problem zutage, wenn das NJVollzG neben den konkreten, gesetzlich bestimmten Eingriffsbefugnissen generalklauselartig jegliche Störung der Anstalt als Legitimationsgrundlage nimmt, statt zumindest - wie in § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG60 - eine schwerwiegenden Störung der Ordnung zu verlangen. Man wird also die neuen Untersuchungshaftvollzugsgesetze kritisch daraufhin analysieren müssen, ob sie eine Rückführung der Beschränkungen auf das verfahrensmäßig gebotene und institutionell erforderliche Mindestmaß gewährleisten und zugleich eine gewisse Angleichung der Haftbedingungen an die äußeren Lebensverhältnisse erlauben. Wie Erhebungen der persönlichen und sozialen Situation Untersuchungsgefangener gezeigt haben,61 sind Personen betroffen, die überwiegend bereits vor der Haft sozial nicht (mehr) voll integriert waren, vielmehr in verschiedenen Lebensbereichen mit einer Vielzahl sozialer Schwierigkeiten, Mängellagen und Verhaltensauffalligkeiten belastet waren. Hinzu kommt die Tatsache, dass fast die Hälfte der Verhafteten anschließend nicht in den Strafvollzug gelangt, sondern ihre Strafe, d.h. regelmäßig die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, ausschließlich in der Untersuchungshaft verbüßen; dies gebietet, die Auswirkungen der Haft und die Entlassungssituation im Hinblick auf eine Wiedereingliederung verstärkt zu berücksichtigen. Es besteht also ein objektives Bedürfnis nach einer Ausgestaltung der Untersuchungshaft, die die Haftsituation als solche erleichtert, (weitere) 59

Wie auch die entsprechenden Entwürfe der anderen Länder, s. Fn. 56.

60 Vgl. die entsprechende Formulierung im Baden-württembergischen JVollzugGB. 61 S. Jehle (Fn. 11)~ vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 143 ff., 180.

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Entsozialisierung vermeidet und die Wiedereingliederung fördert. Gemeint sind hiermit insbesondere eine soziale Hilfe, welche sich der Regelung der äußeren, meist untergeordneten Lebensverhältnisse der Inhaftierten annimmt, und Angebote an Arbeit und sinnvoller Beschäftigung und bei länger Inhaftierten auch Betreuungsangebote und soziale Trainingskurse.62 Auch hier wird man die gesetzlichen Bestimmungen und die darauf beruhende Haftpraxis sorgsam daraufhin untersuchen müssen, inwieweit die Vollzugsgestaltung diesen Bedürfnissen entspricht und die Vollzugsanstalten ihrer aus dem Sozialstaatsprinzip und dem Angleichungsgrundsatz abzuleitenden Verpflichtung, die durch die Inhaftierung entstandenen Belastungen der Untersuchungsgefangenen zu kompensieren, Rechnung tragen.

IX. Ausblick So erfreulich der Rückgang der Haftzahlen in den letzten Jahren gewesen ist, so wenig besteht indes Anlass, die rechtspolitischen Bemühungen um eine Begrenzung der Untersuchungshaft einzustellen. Nach wie vor gibt es - unter Verhältnismäßigkeitsaspekten fragwürdige - Verhaftungen bei Bagatelldelikten oder in Verfahren, die nicht mit einer freiheitsentziehenden Sanktion enden. Noch immer sind haftvermeidende Alternativen nicht hinreichend ausgebaut und nach wie vor ist der Anteil langer, über 6 Monate dauernder Untersuchungshaft zu groß. Auch der erfreuliche Umstand, dass endlich eine hinreichende gesetzliche Grundlage für den Untersuchungshaftvollzug geschaffen worden ist, darf nicht daran hindern, die weithin vorherrschende Vollzugswirklichkeit, die auf eine "Einkapselung der Gefangenen in den unzulänglichsten Anstaltsräumen"63 hinausläuft, zu kritisieren und an einer humanen, Desintegration vermeidenden Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs zu arbeiten. Es ist also an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen, "bei der die tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwänge den liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien unseres Haftrechts und den verfassungsrechtlichen Geboten der Unschuldvermutung und der Verhältnismäßigkeit gegenüber gestellt werden". 64

Jehle (Fn. 11), S. 271. Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 30. 64 Schäch (Fn. 2), S. 14. 62

63

Das europäische "ne bis in idem" und die Aufwertung des Opportunitätsprinzips auf Unionsebene V ASILEIOS PETROPOULOS

I. Einleitung Die Reichweite der Sperrwirkung einer gerichtlichen bzw. staatsanwaltlichen Entscheidung im Rahmen der Diversion wird an erster Stelle als Frage des nationalen Rechts betrachtet. So führen im deutschen Recht die §§ 153 Abs. 2, 153a StPO aufgrund der geringen Täterschuld und des fehlenden öffentlichen Verfolgungsinteresses, welches bei § 153a StPO nach der Errullung von Weisungen und Auflagen beseitigt ist, zu einem bedingten Stratklageverbrauch. 1 Im Hinblick darauf hat der u.a. auch im Bereich der Diversion hochangesehene Jubilar den § 153a StPO seit langem als das "Kernstück der sog. prozessualen Lösung bei der Bekämpfung der Kleinkriminalität" treffend bezeichnet. 2 Eine supranationale Auswirkung der Verfahrenseinstellung im Wege der Diversion wurde erstmals in der GözütoklBrügge-Entscheidung des EuGH anerkannt, welche einen europaweiten Stratklageverbrauch aufgrund einer innerstaatlichen Diversionsmaßnahme bejahte. Seitdem ist von einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa auszugehen, 3 welche hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten in die eigenen Rechtsordnungen als Grundvoraussetzung fur die Schaffung eines gemeinsamen Raums rur Freiheit, Sicherheit und

1 KK-Schoreit, 6. Aufl. 2008, § 153 Rn. 62~ § 153a Rn. 41 ~ LR-Beulke, 26. Aufl. 2008, § 153 Rn. 88~ AK-StPOISchöch, 1988, § 153 Rn. 55. 2 AK-StPOISchöch (Fn. 1), § 153a Rn. 1. 3 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge, Zif. 33 ff.~ Satzger Europäisches und Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2009, § 9 Rn. 59~ Ambos Internationales Recht, 2. Aufl. 2008, § 12 Rn. 48~ Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 13 Rn. 26~ Bogensberger FS Miklau, 2006, S. 91~ Stein NJW 2003, 1163 ff.~ Böse GA 2003, 757 ff.~ RadtkelBusch NStZ 2003, 282 ff.~ Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 818 ff.~ Vogel FS F.C. Schroeder, 2006, S. 888 ff.

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Recht begründet wird. 4 Die Deklaration einer solchen Zielerreichung ist an sich nicht zu beanstanden; aber eine in foro Angleichung von nationalen Rechtsordnungen bedarf einer dogmatisch stabileren Begründung als den bloßen Appell an die Verwirklichung der europäischen Integration, insbesondere wenn die strafrechtliche Tradition der Mitgliedstaaten davon betroffen ist. 5 Im Hinblick darauf wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Reichweite des europäischen "ne bis in idem "-Prinzips nach der EuGH-Rechtsprechung zum Art. 54 SDÜ und nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon behandelt. Dazu wird auch die Betrachtung des "ne bis in idem "-Prinzips als Frage der Kompetenzabgrenzung in Strafsachen nach dem Motto "eine Strafgewalt pro Tat" untersucht. Die Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa wird schließlich angesichts des gemeinsamen Nenners von Strafklageverbrauch und Verfahrenseinstellung im Wege der Diversion begründet; als solcher könnte ein europäischer Rechtsfriedensbegriff als strafprozessuales Haupttelos in Betracht kommen. 6

11. Das europäische ne his in idem nach dem SDÜ und dem Vertrag von Lissabon 1. Gegenstand und rechtliches Substrat des europäischen ne bis in idem Trotz seiner Anerkennung durch sämtliche EU Mitgliedstaaten bleibt das "ne bis in idem "-Prinzip hinsichtlich seines Gegenstandes bestimmungsbedürftig. Es ist m.a.W. nicht klar, ob es sich um ein Doppelverfolgungs- oder Doppelbestrafungsverbot handelt. Das lässt sich am Beispiel des Art. 103 Abs. 3 GG demonstrieren, dessen Wortlaut ("Verbot einer mehrfachen Bestrafung") von der Lehre und Rechtsprechung extensiv ausgelegt wird und dadurch auch das Doppelverfolgungsverbot erfasst. 7 Von einem Strafverfolgungsverbot gehen des Weiteren auch die wichtigsten völkerrechtli4 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge a.a.O.~ EuGH 09.03.2006 C436/06 van Esbroek, Zif. 30~ Bogensberger a.a.O.~ Wohlers a.a.O.~ Vogel a.a.O. 5 Schünemann FS Szwarc, 2009, S. 121~ Wohlers (Fn. 3), S. 820~ zu den Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung eines gemeinsamen Justizraums in Europa Hofmanski FS Szwarc, a.a.O., S. 671. 6 Zur Betrachtung der Sicherung des Rechtsfriedens nach Bezugnahme auf die "Bewährung des Strafrechts" als Prozesszweck ausführlich Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 183 ff., 200 ff.~ Rieß JR 2006, 270 ff.~ dazu auch LandauNStZ 2007, 125~ Stein Zum europäischen ne bis in idem nach Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens, 2004,S.254,317,476. 7 So angesichts der Normgeschichte F.-C. Schroeder JuS 1997, 228~ BVerfGE 65, 381~ vgl. auch Schomburg FS Eser, 2005, S. 830 ff., 836.

Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem'"

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chen Übereinkommen aus, welche zwar kein transnationales ne bis in idem begründen, aber immerhin die Existenz des Prinzips auf nationaler Ebene sicherstellen. 8 Dasselbe lässt sich auch betreffend das Regelsubstrat des europäischen ne bis in idem, nämlich Art. 54-58 ff. SDÜ und Art. 50 GRC (LV.m. dem neuen Art. 6 EUV 9), feststellen. Art. 54 SDÜ lautet: "Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann". Art 50 GRC lautet: "Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden". Die Abgrenzung zwischen Doppelverfolgungs- und Doppelbestrafungsverbot ist sowohl für die dogmatische Begründung als auch für die praktische Anwendung des Prinzips von großer Bedeutung. Dogmatisch betrachtet ist eine zweite Verfolgung wegen derselben Tat als Verletzung der Rechtssicherheit anzusehen und eine zweite Bestrafung als Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeits- und das Gerechtigkeitsprinzip zu verstehen. 10 Auf praktischer Ebene übt diese Differenzierung auf die Bestimmung des Adressaten des "ne bis in idem u-Prinzips einen großen Einfluss aus. Geht man von einem Doppelverfolgungsverbot aus, kommen neben den Gerichten auch die Staatsanwaltschaft und die Verfolgungsbehörde als unmittelbare Adressaten des Prinzips in Betracht. In diesem Fall ist das Verfahren aufgrund einer rechtskräftigen Aburteilung derselben Tat auch auf europäischer Ebene nicht nur nach den §§ 206a, 260 StPO,11 sondern auch nach § 170 StPO einzustellen. 12 Es obliegt also der Staatsanwaltschaft in solchen Fällen, der Rechtsprechung des EuGH Rechnung zu tragen. Ein Vorrang des Doppelverfolgungs- gegenüber dem Doppelbestrafungsverbot könnte zwar den Eindruck erwecken, dass die Sicherung des Rechtsfriedens als prozessuales Telos von einem Vorrang der Rechtssicherheit gegenüber der Gerechtigkeit ausgehe. Aber eine Betrachtung von "Rechts-

Vgl. dazu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls EMRK, Art. 14 Abs. 7 des IPBR. Hinsichtlich der Charta Eser in: Meyer, Komtnentar zur Charta der Grundrechte, 2. Aufl. 2006, Art. 50 Rn. 12b.~ Nehl in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, 2006, § 58 Rn. 16~ das (nicht von allen Mitgliedern ratifizierte) EG-ne bis in idem ÜbK von 1987 hat nach dem Schengen-Acquis an Bedeutung verloren. 10 U.a. Schroeder (Fn. 7),228. 11 Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 2. 12 Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 20, 36~ Veh in: WabnitzlJanovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 22 Rn. 93 ff.~ dazu Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 170 Rn. 1, 6~ Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 38~ Sat=ger (Fn. 3), § 9 Rn. 52. 8

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sicherheit" und "Gerechtigkeit" als Gegensatzpaar steht mit der Rechtsfriedenssicherung wenig in Einklang. Rechtssicherheit setzt Gerechtigkeit voraus und Gerechtigkeit muss auch dem Recht des Beschuldigten Rechnung tragen, nach Aburteilung seiner Tat "in Ruhe" gelassen zu werden. 13 Die Sicherung des "Rechtsfriedens" erfordert m.a. W. die Berücksichtigung beider Aspekte der Rechtssicherheit, sowohl des individuellen Aspekts, der sich auf den Schutz des Angeklagten bezieht, als auch des kollektiven, der das gesellschaftliche Verlangen nach Ordnung befriedigt. 14 Eine "gespaltene" materiell- und prozessualrechtliche Natur des ne bis in idem 15 zeugt nur von der Existenz eines materiellen Substrats des Prinzips. Das ist für die Bestimmung des gemeinsamen Nenners von Strafklageverbrauch und Opportunitätsprinzip (welches ebenfalls eine materielle Dimension hat, wie später gezeigt wird) von großer Bedeutung. Die Bestimmung der Reichweite des europäischen ne bis in idem muss nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch dem abweichenden Wortlaut zwischen Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRC Rechnung tragen. So geht Art. 50 GRC von einer "Straftat" aus und gibt daher Anlass rur eine normative Bestimmung des Prozessgegenstandes; im Gegensatz dazu verbietet Art. 54 SDÜ die strafrechtliche Verfolgung derselben "Tat" und bleibt daher an einem faktischen prozessualen Tatbegriff orientiert. 16 Des Weiteren verzichtet der Art. 50 GRC auf das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ und betrachtet die rechtskräftige Verurteilung bzw. den rechtskräftigen Freispruch als ausreichende Voraussetzung einer Anwendung des PrinZipS.17 Dazu bleibt auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon offen, ob die Ausnahmen von Art. 54 SDÜ, wie diese in Art. 55 SDÜ und in den darauf beruhenden staatlichen Erklärungen beschrieben werden, als Schranken des Art. 50 GRC gern. Art. 52 GRC betrachtet werden dürfen. 18 Die Bestimmung der Reichweite des europäischen ne bis in idem übt daher einen Einfluss auf die "Qualität" der Aufwertung des Opportunitätsprinzips auf europäischer Ebene aus. So kann z.B. eine normative Bestimmung des prozessualen Tatbegriffs den Weg zu einer Beschränkung der Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen ebnen. Dasselbe gilt auch fur die Bestimmung 13 Volk (Fn. 6), S. 200 ff.; in diesem Sinne hat die Dialektik zwischen "singulärem" und "allgemeinem" Interesse keine Aussagekraft; dazu auch Radtke FS Seebade, 2008, S. 311 (Fn. 84). 14 Volk (Fn. 6), S. 184 ; Stein (Fn. 3), 143. 15 Schroeder (Fn. 7), 228. 16 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48; EuGH 18.07.2007 C-367/05 Kraaijenbrik Zif. 26 ff.; dazu (mit unterschiedlicher Argumentation) Wasmeier IRPL (Val. 77), 129; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 6 ff.; BGH NJW 2008,2931 (mit Anm. Rübenstahl). 17 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 14. 18 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 16c; kritisch betreffend diese Einschränkungsmöglichkeit Gauweiler FS Mehle, 2009, S. 213 ff.

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der Ausnahmen vom ne bis in idem gern. Art 55 SDÜ bzw. 52 GRC. Jedoch bleibt eine spektakuläre Änderung der Reichweite des "ne bis in idem Prinzips als Folge des Vertrags von Lissabon höchst unwahrscheinlich. Erstens, weil Art. 50 GRC einen geringeren Anwendungsbereich als Art. 54 SDÜ hat, da er sich auf die Delikte des Art. 83 AEUV beschränkt und darüber hinaus nicht für Polen und das Vereinigte Königsreich gilt. 19 Zweitens, weil die Anerkennung der Verbindlichkeit der GRC durch den Vertrag von Lissabon auf die Sicherstellung eines Mindestschutzniveaus von Grundrechten zielt, welche hinsichtlich einer Ersetzung der Art. 54 ff. SDÜ durch Art. 50 GRC keinesfalls erzeugt wird. 20 Selbst wenn man künftig auf das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im Hinblick auf den Art. 50 GRC verzichtet, bleibt die Befassung mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zum Art. 54 SDÜ unentbehrlich. Auch künftig ist davon auszugehen, dass der Art. 50 GRC im Lichte des Art. 54 SDÜ interpretiert wird. 21 Das hat auch für die Bestimmung einer europaweiten Sperrwirkung als Folge von Diversionsmaßnahmen große Bedeutung. H_

2. Die Reichweite des europäischen ne bis in idem nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 SDÜ Die Einbeziehung des Übereinkommens von Schengen in das Unionsrecht durch den Vertrag von Amsterdam erlaubte dem EuGH, den Schengener Vertrag gern. Art. 31, 35 EUV a.F. auszulegen. 22 Dadurch wurde auch die Doppelnatur des Vertrags als völkerrechtliches Übereinkommen und als europäischer "Acquis" bestätigt. Seitdem hat der EuGH mehrmals demonstriert, dass der Vertrag von Amsterdam zu einer Inhaltsänderung des Schengener Übereinkommens geführt hat, sodass auch die Art. 54 ff. SDÜ unter Berücksichtigung der Unionsziele ausgelegt werden müssen. 23 Dabei konnte der EuGH seine Rolle als "Motor der Integration" u.a. auch im Rahmen seiner Rechtsprechung zum europäischen ne bis in idem beweisen. 24

19 Tiedemann FS Jung, 2007, S. 987 ff. (zwar hinsichtlich der EV, aber im Grunde genommen auch betreffend den EUV); Protokoll über die Anwendung der GRC auf Polen und den VK, ABI. C306 v. 17.12.2007, S. 156. 20 Zur Reichweite des Art. 50 GRC, der an Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMKR orientiert ist, Nehl (Fn. 9), § 57 Rn. 11 ff., 15 ff. 21 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 13; Anagnostopoulos Ne bis in idem, europäische und transnationale Aspekte, 2008, S. 173 (auf Griechisch); Klip European Criminal Law, 2009, S. 246; Peers EU Justice and Horne Affairs Law, 2. Aufl. 2006, S. 464. 22 Schomburg NJW 2000,839; RadkelBusch EuGRZ 2000, S. 424; dies. (Fn. 3),283; Wasmeier (Fn. 16), 122 ff. 23 Bogensberger (Fn. 3), S. 91. 24 RadtkelBusch (Fn. 3), 283; Stein NJW 2003, 1162 ff.

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Auslegungsbedürftig sind im Rahmen des Art. 54 SDÜ insbesondere das Merkmal der rechtskräftigen Aburteilung ("ne bis"), der prozessuale Tatbegriff ("idem") und das Vollstreckungselement. So stellt die Form einer gerichtlichen Entscheidung im Erstverfolgerstaat seit der GözütoklBrüggeEntscheidung keine Voraussetzung für die Bej ahung einer "rechtskräftigen Aburteilung" gemäß Art. 54 SDÜ mehr dar. 25 Darunter fallen auch Diversionsmaßnahmen, welche auf nationaler Ebene eine Sperrwirkung auslösen. Daher geht der EuGH bei der Bestimmung des "ne bis" in Art. 54 SDÜ von einer formellen Rechtskraft aus. Das wurde zwar bis zu einem Punkt kritisch betrachtet, solange das ne bis in idenl als "die materielle Rechtskraft" im Allgemeinen verstanden wird. 26 Aber der EuGH-Rechtsprechung ist insofern beizupflichten, als die formelle Rechtskraft vor der materiellen (als ihre Voraussetzung) festgestellt werden muss. 27 Jedoch findet auch diese Orientierung an der formellen Rechtskraft im Erfordernis der sachlichen Befassung mit dem Fall beim Erstverfolgerstaat ihre Grenze. Das hat auch der EuGH in einer weiteren Entscheidung bestätigt. 28 Das weitere Merkmal "derselben Tat" wurde vom EuGH als Tatkomplex ausgelegt, welcher nach zeitlicher und räumlicher Hinsicht einen Sachverhalt darstellt. 29 So ging das Gericht von einer einheitlichen Bestimmung des "idem"-Merkmals auf europäischer Ebene aus, welche vom prozessualen Tatbegriff des Erstverfolgerstaates unabhängig ist 30 und im Grunde genommen dem faktischen prozessualen Tatbegriff der deutschen Rechtsprechung entspricht. 31 Sowohl im Hinblick auf die einheitliche Betrachtung des Prozessgegenstandes auf europäischer Ebene als auch hinsichtlich der Orientierung an diesem faktischen prozessualen Tatbegriff ist der EuGHRechtsprechung beizupflichten. Ein Ausgehen vom prozessualen Tatbegriff des Erstverfolgerstaates würde den Anwendungsbereich des Art. 54 SOÜ von einer nationalen Bestimmung des Prozessgegenstands abhängig machen

25 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gö::ütok und Brügge Zif. 30; Wasmeier (Fn. 16), 124; Radtke (Fn. 13), S. 304; Zeder Öst. Anwaltsblatt 2007, 454, 463. 26 Radtke/Busch (Fn. 3), 284. 27 Kühne Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 657 ff. 28 EuGH 10.03.2005 C-469/03 Miraglia, Zif. 28; Wasmeier (Fn. 16), 125; Veh (Fn. 12), Rn. 1OOb; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 13. 29 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48 = JZ 2006 (mit Anm. Kühne); EuGH 18.07.2007 C-367/05 Kraaijenbrik, Zif. 28; BGH NJW 2008, 2931 (mit Anm. Rübenstahl)~ ferner Radtke NStZ 2008, 162; ders. (Fn. 13), S. 306. 30 So Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 57; Sat::ger (Fn. 3), § 9 Rn. 65; Ebensperger ÖJZ 1999, 183; Lagodny NStZ 1997 266; Veh (Fn. 12), Rn. 99~ in diese Richtung auch MK-StGB/Ambos, 2003, Vor §§ 3-7 Rn. 76. 31 KK-Engelhardt, 6. Aufl. 2008, § 264 Rn. 3 (m.w.N.); Böse (Fn. 3), 758.

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und den Weg zur Umgehung des Doppelverfolgungsverbots ebnen. 32 Und eine normative Betrachtung des prozessualen Tatbegriffs könnte dem Zweitverfolgerstaat ermöglichen, die Reichweite der Anwendung des Art. 54 SDÜ einschränkend zu bestimmen. In Wirklichkeit verschlingen sich in jedem strafprozessualen Tatbegriff Faktizität und Normativität, solange jeder Tatbegriff als Prozessgegenstand im Strafverfahren systemimmanent bleibt und nach prozessrechtlichen Prämissen interpretiert wird. 33 Daher ist auch auf europäischer Ebene davon auszugehen, dass "ein historischer Sachverhalt in sozialen Sinneinheiten von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen stattfindet", welche beim Ermittlungsverfahren "umgangssprachlich rekonstruiert werden". 34 Dieser "täterfreundliche", faktische Tatbegriff wird schließlich auch vom EGMR bei der Auslegung des Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK berücksichtigt. 35 Von weiterer Bedeutung für die Reichweite der Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen ist die EuGH-Rechtsprechung zur Anwendung des Art. 54 SDÜ nur auf die Personen, welche am Verfahren beim Erstverfolgerstaat teilgenommen haben, und nicht auf ihre Mittäter. 36 Darüber hinaus greift Art. 54 SDÜ auch während der Probezeit einer bedingten Vollstreckung ein bzw. auch dann, wenn die Vollstreckung der Strafe im Erstverfolgerstaat zur Bewährung ausgesetzt wird. Dagegen reicht die bloße Verhängung einer Untersuchungshaft für die Bejahung des Vollstreckungselements des Art. 54 SDÜ nicht aus, solange die Vollstreckung eine Urteilsexistenz voraussetzt. 37 Schließlich findet Art. 54 SDÜ auch dann Anwendung, wenn die Entscheidung des Erstverfolgerstaates "nach dem Recht des Urteilsstaats wegen im Recht dieses Staates bestehender verfahrensrechtlicher Besonderheiten nie unmittelbar vollstreckt werden konnte". 38 Dasselbe gilt auch im

32 Böse (Fn. 3),757; Radtke (Fn. 13), S. 310; EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek, Zif. 35; so auch der Schlussantrag des Generalanwalts Colomer (die Orientierung an dem Tatbegriff des Erstverfolgerstaates führe "zu einer restriktiven Lösung, die mit der expansiven Kraft der grundlegenden Garantien des Einzelnen ZUln Schutz seiner Würde unvereinbar ist"). 33 RoxinlSchünemann Strafverfahrenssrecht, 26. Aufl. 2009, § 20 Rn. 5, 9; a.A. Roxin JZ 1988,260. 34 RoxinlSchünemann, a.a.O.; eine künftige Orientierung an einer rechtsgutsbezogenen Normativierung des Tatbegriffs ist aber nicht auszuschließen; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 8; zu den offenen Frage aus der EuGH-Rechtsprechung Radtke (Fn. 13), S. 312 ff.; über die hier nicht weiter behandelte Frage der Einwirkung der EuGH-Rechtsprechung auf den nationalen Tatbegriff am Beispiel der öStPO Birklbauer FS Miklau, 2006, S. 58 ff. 35 Gradinger vs. Österreich, A 328-C (1995), Rn. 55; dazu u.a. Birklbauer (Fn. 34), S. 47 ff.; diese Rechtsprechnung ist jedoch nicht fest, vgl. Sat=ger (Fn. 3), § 10 Rn. 81. 36 EuGH 28.09.2006 C-767/04 Gasparini Zif. 34~ Zeder (Fn. 25),463. 37 EuGH 18.07.2007 C-288/05 Kret=inger, Zif. 45. 38 EuGH 11.12.2008 C-297/07 Bourquain Zif. 40 ff., 47 ff.

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Fall einer Verjährung des Sachverhalts 39 bzw. eines Freispruchs aufgrund von fehlenden Beweisen im Erstverfolgerstaat.40 Aus dem oben Erwähnten ergibt sich, dass die Reichweite des europäischen ne bis in idem größtenteils von der EuGH-Rechtsprechung zum Art. 54 SDÜ bestimmt wird. Im Hinblick darauf lässt sich auch die "Qualität" der Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa bemessen. Wird das "ne bis in idem tl-Prinzip "großzügig" auf Strafsachverhalte angewendet wie in der EuGH-Rechtsprechung, ist die Anerkennung einer europaweiten Geltung der nationalen Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen auch in der Praxis als Aufwertung des Opportunitätsprinzips zu betrachten. Daher ist die Betrachtung des "ne bis in idem tl-Prinzips als Frage nach der Bestimmung der geeigneten Strafgewalt für die gegenwärtige Untersuchung von großer Bedeutung; die Verschiebung des ne bis in idem auf diese Vorebene einer gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen kann nämlich auf die Reichweite des Prinzips einwirken.

3. Das europäische ne bis in idem als Problem der geeigneten Strafgewaltbestimmung? Der logische Zusammenhang zwischen Rechtshängigkeit, Prozessgegenstand und Rechtskraft, welcher im Rahmen des nationalen Strafverfahrens offensichtlich ist,41 rührte zur Betrachtung des europäischen ne bis in idem als Frage der zwischenstaatlichen gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen nach dem Motto "eine Strafgewalt pro Tat".42 Das wurde erstmals durch die griechische Initiative zur Schaffung eines Rahmenbeschlusses für die "Auslegung des Problems des ne bis in idem" offiziell betont und auch durch verschiedene wissenschaftliche Gutachtenerstellungen und Projekte bestätigt. 43 Im Hinblick darauf erließ die Kommission ein "Grünbuch 39 EuGH 28.09.2006 C-467/04 Gasparini Zif. 22. 40 EuGH 28.09.2006 C-150/05 van Straaten, Zif. 60, 61~ Nehl (Fn.

9), § 58 Rn. 14 ff. Kühne (Fn. 27), Rn. 639 ff.~ HK-StPO/Lemke, 4. Aufl. 2009, Einl. Rn. 27~ dazu Schomburg (Fn. 7), S. 832 ff. 42 Vgl. Art. 2 des Alternativentwurfs einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 5 ff.~ Lagodny Empfiehlt es sich eine europäische Gerichtskompetenz für Strafgewaltskonflikte vorzusehen?, BMJ-Gutachten 2001, S. 99~ ders. FS Trechsel, 2002, S. 263 ff~ Van der Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624 ff.~ Vogel (Fn. 3), S. 891 ff.~ Ambos (Fn. 12), § 12 Rn. 54 ff.~ so auch Biehler u.a. Freiburg proposal on concurrentjuridictions and the prohibition of multiple prosecutions in the EU, 2003~ umfassend im Tagungsbericht Steins ZStW 115 (2003), 983 ff.~ Schomburg (Fn. 7), S. 843~ im Bereich des Kartellrechts Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 25. 43 Alternativentwurf-Schünemann a.a.O.~ Freiburg proposal a.a.O.~ Lagodny BJM-Gutachten a.a.O. 41

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über Kompetenzkonflikte in der EU und ne bis in idem", auf dem auch der weitere Vorschlag des Europäischen Rats für einen Rahmenbeschluss zur Kompetenzabgrenzung in Strafsachen größtenteils beruhte. 44 Nach einer weiteren inhaltlichen Erarbeitung45 erwuchs dieser Vorschlag am letzten Tag vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einem endgültigen Rahmenbeschluss. 46 Mit einer Fortsetzung des Versuchs zur Koordination der Mitgliedstaaten bei Kompetenzkonflikten in Strafsachen ist hinsichtlich des neuen Art. 82 I (2) AEUV auch künftig zu rechnen. Die Frage nach der gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen ist grundsätzlich erst im Rahmen des nationalen Rechts als die "andere Seite der Medaille" des ne bis in idem zu verstehen. Das ist z.B. bei föderalen Staaten der Fall, wo die verschiedenen Kompetenzkonflikte in Strafsachen auf der Grundlage eines föderalen Gesetzes bzw. nach Entscheidung eines obersten Gerichts innerstaatlich gelöst werden. 47 Im Gegensatz dazu bleibt die Verbindlichkeit einer "geeigneten" Gerichtsbarkeitsbestimmung auf supranationaler Ebene hinsichtlich der Begrenzung der nationalen Souveränität (in Form eines Gerichtsbarkeitsverzichtes) bedenklich. 48 Das lässt sich angesichts der Kompetenz-Kompetenz des Völkerrechts zur Bestimmung des Nichteinmischungsgrundsatzes und daher zur Verhinderung von Souveränitätskonflikten zwischen den Staaten begründen. 49 Zwischen diesem bloßen Konsenscharakter des Völkerrechts und der Verbindlichkeit des nationalen Rechts wäre auf Unionsebene wünschenswert, von einem Konsens mit verbindlichen Rechtsfolgen auszugehen. Das bedarf einer weiteren Begründung, welche dem supranationalen Charakter des Unionsrechts Rechnung tragen muss. Als Gegenstand eines supranationalen Konsenses ist die Hierarchisierung von Anknüpfungspunkten für die Anwendung einer Strafgewalt und als Begründung dieses Konsenses die Rationalisierung dieser Hierarchisierung zu betrachten. Diese Rationalisierung beruht auf der Abgrenzung zwischen "den zur Durchsetzung eigener oder/und fremder staatlichen Interessen dienenden Prinzipien" und ist deswegen parallel zum materiellen Substrat des Doppelverfolgungsverbots als fehlendes Verfolgungsinteresse zu beKOM (2005) 696~ dazu u.a. Panayides IRPL (Vol. 77), 117. Initiative der tschechischen Republik, der Republik Polen, der Republik Slowenien, der slowakischen Republik und des Königreichs Schwedens - 08535/2009 - C7-0205/2009 2009/0802(CNS), v. 08.10.2009. 46 Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009. 47 Am Beispiel des (noch geltenden) kantonalen Strafverfahrens in der Schweiz vgl. Wohlers in: Schünemann (Fn. 42), S. 51 ff.~ Hofmanski (Fn. 5), S. 677. 48 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20, 25~ Panayides (Fn. 44), 114 ff. 49 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20~ treffend Schünemann (Fn. 5), S. 121 ~ speziell zur universalen Gerichtsbarkeit Weigend FS Eser, 2005, S. 969. 44

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trachten. 50 So muss ein supranationales Konsensverfahren von einer ebenfalls supranationalen Bestimmung der Verfolgungsinteressen der Staaten ausgehen. Dabei kann die zwischenstaatliche Kommunikation von Verfolgungsbehörden den Charakter einer "vorbildlichen bilateralen Verständigung" aufweisen. 51 Diese Bestimmung deckt sich zwar mit derjenigen des nationalen Verfolgungsinteresses nicht (und gerade deswegen gibt es auch die Kompetenzkonflikte); sie sorgt aber für die Schaffung eines (zwar aus dem Völkerrecht stammenden, aber in diesem Sinne auch nationalverfassungsrechtlich akzeptierten) Minimums an Rechtsfrieden 52 auf innerstaatlicher Ebene. Die Tatsache, dass eine bestimmte Strafgewalt nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten gegenüber den anderen einen Vorrang hat und in diesem Sinne eine "gerechte, sichere, rasche, schonende (etc.)" Art und Weise darstellt, "einen Konflikt beizulegen",53 schafft auch bei diesen Rechtsordnungen ein Minimum an Rechtsfrieden, welche als weniger geeignet betrachtet werden, ihre Strafgewalt auszuüben. Im Hinblick darauf kann zwar die Verbindlichkeit der Folgen eines Konsenses über die Auswahl der geeigneten Strafgewalt auf den (künftigen) Gesetzen zur Einführung des Rahmenbeschlusses 2009/948/JI in die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, auf einem künftigen Normerlass nach Art. 82 I (b) AEUV bzw. auf einer extensiven Auslegung des heutigen Art. 55 IV SDÜ beruhen. Aber ihre dogmatische Begründung erfolgt erst im Hinblick auf die Sicherung des Rechtsfriedens auch in diesen Staaten, welche auf die Strafgewaltanwendung verzichten. Ein innerstaatlicher Rechtsfrieden als Folge eines supranationalen Konsenses ist entweder durch die Gleichstellung des supranational erzeugten Rechtsfriedens mit dem nationalen oder durch die Einführung der Folgen des supranationalen Konsensverfahrens in die nationale Rechtsordnung mit Hilfe eines nationalen Verfahrens sicherzustellen.54 In einem gemeinsamen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts sprechen die meisten Argumente für die erste Lösung. Dadurch lassen sich des Weiteren sowohl der Versuch einer Angleichung der Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten im Bereich Auslie50 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 72; Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 tf.; zur Problematik Vogel (Fn. 3), S. 890 ff. 51 Und nicht bei der Normativierung des Prozessgegenstands (so Appl GS Vogler, 2004, S. 121; Hecker StV 2001,307); dazu Art. 5 ff. des Rahmenbeschlusses 20091948/11 des Rates v.30.11.2009. 52 Der Rechtsfrieden ist hinsichtlich einer präskriptiv generalisierten Erwartung, welche "an bestimmte generalisierend bewertete Vorhandlungen präsumptiv geknüpft wird", normativ zu bestimmen, Volk (Fn. 6), S. 201; Rieß JR 2006,270 ff. (m.w.N. aufFn. 13). 53 Volk (Fn. 6), S. 201; so wird die Rechtsfriedenstheorie Schmidhäusers (FS Eb. Schmidt, 1961, S. 511 ff.) verfeinert. 54 Weitere Vorschläge Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 627; Panayides (Fn. 44), 117 ff.

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ferung, Rechtshilfe und Vollstreckungshilfe als auch die grenzüberschreitende Funktion des Schengener Informationssystems (SIS) begründen. 55 Auf der anderen Seite wäre das Erfordernis einer Verfahrensschaffung zur Einführung der Konsensfolgen ins nationale Recht zeitaufwändig. 56 In diesem Sinne kann sich ein europäischer von einem völkerrechtlichen Konsens zur Bestimmung der "geeigneten" Strafgewalt unter Rücksicht auf die Verbindlichkeit seiner Folgen unterscheiden. Sowohl die nationalen Gesetze zur Einführung des Rahmenbeschlusses 2009/948/11 v. 30.11.2009 in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als auch jeder künftige Normerlass gemäß Art. 82 I (b) AUEV haben des Weiteren der Kritik am Vorschlag des Rahmenbeschlusses Rechnung zu tragen. Der Schutz der Rechte des Beschuldigten während des Konsensverfahrens muss durch die klare Bestimmung des gesetzlichen Richters, die Schaffung von Rechtsbehelfen und die Setzung von bestimmten Fristen in den mitwirkenden Staaten sichergestellt werden. 57 An den berechtigten Einwänden der Praxis gegen die eventuell lange Dauer eines solchen Konsensverfahrens 58 darf nicht nur die heutige (für die Rechte des Beschuldigten in der Tat problematische) Verfahrensdauer vor dem EuGH als "alternatives Übel" entgegengesetzt werden. Zur Verkürzung der Verfahrensdauer und zu einer europaweiten Berücksichtigung der Rechtshängigkeit könnte z.B. die Schaffung eines europäischen Verfolgungs- bzw. Strafverfahrensregisters beitragen, das die Koordination zwischen den verschiedenen Verfolgungsbehörden wesentlich erleichtern würde. 59 Eine "geeignete" Strafgewalt lässt sich als Typusbegriff nach einer ,jedesto" Argumentationslogik mit Hilfe von Indizien (d.h. Anknüpfungspunkten) im Konsensverfahren ermitteln. 60 Das Erreichen eines Konsenses ist van Straaten Zif. 27~ Kühne (Fn. 27), § 3 Rn. 70 ff., 74 das steht sowohl mit dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009 als auch mit dem Gedanken des Netzwerksystems in Einklang (dazu Nehl [Fn. 9], § 58 Rn. 21 ff.). 56 Zu den Problemen aus der Verfahrensdauer vor deIn EuGH Satzger Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 666~ Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 25~ Lagodny NStZ 2006, 109. 57 Vgl. Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/948111 des Rates v. 30.11.2009~ zur Kritik am Vorschlag des Beschlusses: u.a. Hopkins Plädoyer v. 13. 07. 2009 vor dem "House of Comnlons"; die Stellungnahme der BRAK Nr. 12-2009 zum Vorschlag eines Rahmenbeschlusses zur Vermeidung der Kompetenzkonflikte in Strafsachen~ das Gutachten der Meijers Comittee v. 25. 08. 2009~ das Gutachten der britischen Organisation lustice v. Juli 2009~ den Vorschlag der "Law Society of England and \Vales" v. Februar 2009~ den "offenen Brief' der ECBA vom 6. April 2009 an das EU-Parlament (sämtliche Dokumente sind im Internet mittels der üblichen Suchmaschinen abrutbar). 58 Vgl. oben Fn. 56~ Vogel in: Schünemann (Fn. 42), S. 122~ Anagnostopoulos (Fn. 21), S. 180 ff.~ auf eine kurze Dauer des Konsensverfahrens zielen auch die Art. 5 ff. des Rahmenbeschlusses 2009/948/11 des Rates v. 30.11.2009. 59 Panayides (Fn. 44), 116 ff.~ Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42), 627. 60 Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42),625 ff. 55 Vgl. EuGH 28.09.2006 C-150/05

ff.~

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daher als Rationalisierung der Hierarchisierung der Anknüpfungspunkte zu verstehen, welche filr eine bestimmte Strafgewalt sprechen. 61 Darin dürfte die innerstaatliche Anwendung und Reichweite des Opportunitätsprinzips im Grunde genommen nicht berücksichtigt werden. 62 Die Berücksichtigung der Reichweite von nationalen Diversionsmaßnahmen beim (supranationalen) Auswahlverfabren der geeigneten Strafgewalt könnte sonst zu einem Forum Shopping (diesmal seitens der Verfolgungsorgane) filbren. 63 Bei der Kompetenzabgrenzung in Strafsachen gibt es daher keinen Raum filr die Aufwertung des Opportunitätsprinzips. In diesem Sinne kann die "ne bis in idem"-Problematik durch eine Verschiebung auf die Vorebene der Kompetenzabgrenzung nur teilweise gelöst werden. Es muss dazu sichergestellt werden, dass das in Betracht kommende "geeignete" Gericht dem supranationalen Charakter des Sachverhalts Rechnung trägt.

111. Nationaler Strafldageverbrauch nach Verfahrenseinstellung und Auswirkung auf das europäische ne bis in idem Nach der obigen Befassung mit der Reichweite des europäischen ne bis in idem zur Bestimmung des Grads der Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa wird im Folgenden versucht, diese Aufwertung dogmatisch zu begründen. Dabei ist die Auslösung eines europaweiten Strafklageverbrauchs als Folge von nationalen Diversionsmaßnahmen im Hinblick auf den Prozesszweck der Rechtsfriedenssicherstellung zu betrachten. 64

1. Das Nebeneinander von Opportunitäts- und Legalitätsprinzip in Europa Die Existenz und Reichweite eines staatsanwaltlichen bzw. gerichtlichen Ermessensspielraums hinsichtlich eines Absehens von der Anklageerhebung und daher hinsichtlich der Durchbrechung des Legalitätsprinzips hängt im Grunde genommen von jeder nationalen rechtlichen Tradition ab. So gehen z.B. die deutsche und österreichische StPO bei Verbrechen von einer Verfolgungspflicht aus und erlauben nur bei minder- bzw. mittelschweren Ver-

61 Solche Kriterien werden in Art. 11 des Rahmenbeschlusses 2009/948111 des Rates v. 30.11.2009 nicht erwähnt. Zu den Kriterien MüKo-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 25 ff., 64 ff.; Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 ff. 62 Und wenn überhaupt, dann nur mittelbar in1 Rahmen des völkerrechtlichen Optimierungsgebots - dazu MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 22, 72. 63 Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 626. 64 Dazu Volk (Fn. 6), S. 183 ff., 200 ff.

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gehen die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen. 65 Dagegen kann die Staatsanwaltschaft in Belgien und in den Niederlanden auch Verbrechen aus Opportunitätsgründen einstellen. 66 Dasselbe gilt auch in Frankreich, wo die Staatsanwälte die Entscheidung treffen, entweder weiter zu ermitteln oder das Verfahren nach Erteilung von Auflagen einzustellen. Als Durchbrechung des Legalitätsprinzips ist des Weiteren auch die gerichtliche Herunterdefinierung einer Straftat zu betrachten. 67 Das Opportunitätsprinzip wird auch in der angelsächsischen rechtlichen Tradition praktiziert, insbesondere wenn man darunter auch die Absprachen versteht. Eine diversionelle Geldbußeerteilung, welche zum Strafklageverbrauch ruhrt, steht nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern auch den Polizeibehörden zur Verrugung. 68 Strenger am Legalitätsprinzip sind u.a. die italienische 69 , die spanische 70 und die griechische 71 Strafprozessordnung orientiert, welche in der Anklage- und Verfolgungspflicht die "andere Seite der Medaille" des Gleichheitsgrundsatzes sehen. 72 Jenseits dieser materiellrechtlichen Begründung bleibt das Absehen vom Opportunitätsprinzip des Öfteren auch mit praktischen Schwierigkeiten verbunden. Mangelnde Organisationsstruktur hinsichtlich einer ordnungsgemäßen Auflagenerfullung und ein latentes Misstrauen am "Ethos" der Strafverfolgungsorgane als Folge eines defizitären Überwachungsmechanismus 73 stellen praktische Hindernisse fur die breite Einfuhrung des Opportunitätsprinzips ins nationale Recht dar. So bleibt der sperrwirkungsauslösende Charakter einer diversionellen Verfahrenseinstellung auf Unionsebene insbesondere rur diese Rechtsordnungen, welche sich vornehmlich am Legalitätsprinzip orientieren, begründungsbedürftig, und zwar nicht nur hinsichtlich eines vage ausgestalteten "Vertrauens" zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch nach materiellrechtlichen Gesichtspunkten. 65 AK-StPOISchöch (Fn. 1), §§ 153 Rn.1, 153a Rn.1~ F.-C. Schroeder FS Fezer, 2008, S. 544 ff.~ BurgstallerlGrafl FS Miklau, 2006, S. 109 ff. 66 Corstens Het Nederlandse Strafprocesrecht, 1993, S. 53~ Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 11 ff.; Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1402. 67 Fourment Procedure Penale, 10. Aufl. 2009-2010, S. 139 ff.~ Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1227. 68 Umfassend Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1154. 69 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1282. 70 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1378. 71 Androulakis Grundbegriffe des Strafverfahrens, 3. Aufl. 2007, S. 65 ff.~ Karras Strafverfahrensrecht, 3. Aufl. 2007, S. 270 ff. 72 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2~ Jokisch Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S.149. 73 Hassemer FS StA Schieswig-Hoistein, 1992, S. 539 f. ~ dazu Salas Kritik des strafprozessualen Denkens, 2005, S. 63 ff.

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Nach einer Ansicht werden die Überzeugung des Richters von der Täterschuld, die Methoden der Strafaufklärung im Rahmen des Verfahrens sowie die Begründungspflicht einer Entscheidung als berücksichtigungsbedürftige materielle Gesichtspunkte einer Strafklageverbrauchsbegründung betrachtet. 74 Im Hinblick darauf sei dann die materielle Rechtskraft von Verfahrenseinstellungen gemäß § 153a StPO zu vemeinen. 75 Aber einer solchen Bestimmung der Voraussetzungen der materiellen Rechtskraft ist nur teilweise beizupflichten. Der Strafklageverbrauch lässt sich erst angesichts des strafprozessualen Telos einer Rechtsfriedenserreichung vollständig begründen. 76 Das betrifft auch die Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen und daher auch die Bestimmung der Voraussetzungen dieser europaweiten Aufwertung des Opportunitätsprinzips. So kann der Begriff der "Prozessökonomie" als "das Inbezugsetzen von Prozessziel und Prozessaufwand"77 auch eine europaweite Dimension haben, welche der Aufwertung des Opportunitätsprinzips nicht widerspricht. Das lässt sich auch am Beispiel des Wortlauts der §§ 153, 153a StPO bestätigen, die von einem mangelnden öffentlichen Verfolgungsinteresse ausgehen, welches sich auf das strafprozessuale Telos des Rechtsfriedens beziehen muss. Die Voraussetzungen eines europaweiten Stratklageverbrauchs und einer nationalen Verfahrenseinstellung sind daher mit der Begründung des Opportunitätsprinzips eng verbunden. Das lässt sich auch angesichts des deutschen Rechts beweisen.

2. Opportunitätsprinzip und Prozesszweck Die Reichweite des Opportunitätsprinzips wird im deutschen Recht im Grunde genommen in den §§ 153 ff. StPO geregelt. Ob darunter auch die Absprachen gern. des neuen § 257c StPO fallen, solange auch "sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren" als Gegenstand der Verständigung betrachtet werden,78 mag jenseits der gegenwärtigen Untersuchung, welche sich auf die §§ 153, 153a StPO beschränkt, verbleiben. Die Dominanz der §§ 153 ff. StPO im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität ist als mildere Reaktion auf ein milderes 74 RadtkelBusch (Fn. 3),

287~ Wohlers (Fn. 3), S. 818 ff.

75 RadtkelBusch (Fn. 3), 287, hinsichtlich der gerichtlichen Kognitionspflicht Radtke

(Fn. 13), S. 314 ff.~ weitere Ansichten in Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 46. 76 Volk (Fn. 6), S. 83 ff., 183 ff., 200 ff. 77 Volk (Fn. 6), S. 260. 78 Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 257c Rn. 13 (Ergänzungsheft)~ zum Regelgehalt der Absprachen in anderen Rechtsordnungen u.a. Kühne (Fn. 27), § 47 Rn. 747 ff.~ betreffend den Strafklageverbrauch Schomburg (Fn. 7), S. 831 ~ Zur Problematik eines darauf beruhenden Strafklageverbrauchs Schünemann (Fn. 5), S. 121.

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"Übel" und daher als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu betrachten. 79 In diesem Sinne lässt sich das Opportunitätsprinzip angesichts der Bestimmung der Voraussetzungen seiner Anwendung als Ergänzung und nicht als Gegensatz zum Legalitätsprinzip verstehen. Es ist nicht zwischen Zweckmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit, sondern zwischen gesetzlicher Bestimmtheit und Unbestimmtheit zu unterscheiden. 80 Das zeugt bereits vom materiellrechtlichen Substrat des Opportunitätsprinzips. Solange die Pflicht der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben, auf dem Bestimmtheits- und Gleichheitsgrundsatz (und daher auf dem Rechtsstaatsprinzip) beruht, gerade weil die Voraussetzungen strafrechtlicher Ahndung nur vom Gesetzgeber und nicht von der Staatsanwaltschaft bestimmt werden dürfen,81 bedarf auch die Durchbrechung dieses Anklagezwangs einer materiellrechtlichen Begründung. So ist das Opportunitätsprinzip nicht als staatsanwaltliches Wahlrecht "zwischen Verfolgung und Nichtverfolgung", sondern als Rechtsanwendung, m.a.W. als Subsumtion eines Sachverhalts unter die vom Gesetzgeber bestimmten Voraussetzungen einer sanktionsfreien Sicherstellung des Rechtsfriedens, zu verstehen. 82 Im Hinblick darauf wird das Legalitätsprinzip den absoluten und das Opportunitätsprinz den relativen Straftheorien - vereinfacht formuliert - zugeordnet. 83 Und aus diesem Grund widerspricht die verfahrensökonomische Begründung des Opportunitätsprinzips der materiellen Gerechtigkeit nicht. Die Prozessökonomie ist keine "technische Maxime", welche den Zielen des materiellen Strafrechts keine Rechnung trägt. 84 Ganz im Gegenteil werden die Normen des materiellen Strafrechts auch im Rahmen des Prozessrechts nach "materiellrechtlicher Legalität" verwirklicht. 85 Das lässt sich auch hinsichtlich der zentralen Merkmale der §§ 153, 153a StPO (der Schuld des Täters und des öffentlichen Interesses) bestätigen. 86 Als "Schuld des Täters" ist die Strafzumessungsschuld anzusehen, welche u.a. die Art der Tatausführung bzw. die verschuldeten Auswirkungen der 79 KK-PfeifferIHannisch, 6. Autl. 2008, Einl. Rn. 6~ Volk Grundkurs StPO, 6. Autl. 2008, § 12 Rn. 13~ LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 3,23. 80 F.C. Schroeder FS Peters, 1974, S. 412~ Kühne (Fn. 27), § 18 Rn. 309~ SK-StPO/Wolter 11. Aufl. 1994, Vor § 151 Rn. 13 ff., 46 ff.; eine präzise Bestimmung der Opportunitätsfalle ist für die "Rechtstaatlichkeit des Verfahrens" unentbehrlich, so Hassemer FS StA SchleswigHolstein, 1992, S. 539. 81 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2. 82 KK-PfeifferlHannisch (Fn. 79), Einl. Rn. 6~ Kühne (Fn. 27), § 35 Rn. 585 ff.~ Volk (Fn. 6), S. 201, 260~ F.C. Schroeder (Fn. 80), S. 417 ff. 83 Hassemer (Fn. 80), S. 538~ darauf beruht die dogmatische Begründung der Reichweite des Opportunitätsprinzips in den Niederlanden (Kühne [Fn. 27], § 76 Rn. 1441). 84 Volk (Fn. 6), S. 260. 85 Hassemer (Fn. 80), S. 529. 86 LR-Beulke (Fn. 79), § 153 Rn. 23.

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Tat erfasst. 87 Die Schuld des Täters im engeren Sinne (als Bestandteil der strafrechtlichen Verantwortlichkeit) ist des Weiteren mit hinreichendem Verdacht und als Folge der Ermittlungen festzustellen. Der hinreichende Verdacht muss etwas mehr als die "Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" sein. Fehlt dieser Verdacht, ist das Verfahren gemäß § 170 StPO einzustellen. 88 Auf die (Strafzumessungs-)Schuld des Täters kann sich u.a. eine übermäßig lange Verfahrensdauer auswirken,89 welche die Rechte des Beschuldigten verletzt, der Verhältnismäßigkeit keine Rechnung trägt und dem Rechtsfrieden widerspricht. In der Praxis stellen solche Verfahrensverzögerungen gerade bei Strafverfahren mit einem internationalen Charakter kein Novum dar. 9o Der Begriff des öffentlichen Interesses an der Verfolgung lässt sich des Weiteren "nach Maßgabe der Strafzwecke", also nach general- und spezialpräventiven Erwägungen, bestimmen. Das zeugt wiederum vom materiellrechtlichen Substrat des Absehens von der Anklageerhebung, welches auch angesichts der Betrachtung des Opportunitätsprinzips als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips begründet wird. Der Gesetzgeber wollte die Entscheidung über die Strafbarkeit "nicht subsumtionsgerecht festlegen, sondern dem außerhalb der Tat liegenden Ermessen von Staatsanwaltschaft und Gericht überantworten".91 Es handelt sich m.a.W. nicht um eine bloße Ausnahme vom Anklageerhebungszwang, sondern um eine "Subsumtion unter Tatbestandsmerkmale".92 Liegen die Voraussetzungen der Diversion gern. §§ 153 ff. StPO vor, ist der Rechtsfrieden auch ohne strafrechtliche Sanktionierung zu erreichen. Das steht mit der normativen Bestimmung des Rechtsfriedens, welche von einer präskriptiv generalisierten und an Vorhandlungen präsumtiv angeknüpften Erwartung der Gemeinschaft ausgeht, in Einklang. 93

87 AK-StPO/Schöch (Fn. 1), § 153 Rn. 15 ff. 88 Kühne (Fn. 27), § 35 Rn. 586; Lorenzen FS StA Schieswig-Hoistein (Fn. 73), S. 556. 89 BGH NStZ 1990,94; AnwK-StPO/Walther, 2. Aufl. 2010, § 153 Rn. 7. Dazu vgl. Lagodny NStZ 2006,109; Cramer Wistra 1999,292. Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 59 92 Schroeder (Fn. 80), S. 425. 93 Ausführlich Volk (Fn. 6), S. 201; Bandemer NStZ 1988,300; vgl. auch Landau (Fn. 6), 122; angesichts dieser normativen Bestimmung des Rechtsfriedens lassen sich verschiedene Einwände gegen die Anwendung der Diversion auf konkrete Fälle (insb. des Wirtschaftsstrafrechts, vgl. Götz NJW 2007, 421; Roxin/Schünemann [Fn. 33], § 3 Rn. 23) entkräften. Diese beziehen sich auf das "Ethos" der Verfolgungsbehörde (Hassemer [Fn. 80], S. 540) und daher auf die praktische Durchführung der Diversion; zur Bedeutung der Abgrenzung zwischen Theorie und Praxis des Strafverfahrens u.a. Salas (Fn. 73), S. 63 ff. 90

91

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Die Begründung des Opportunitätsprinzips in den anderen europäischen Staaten erfolgt mit ähnlicher Argumentation. 94 Abweichungen in der Reichweite und Anwendung von Diversionsmodellen zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sind Folge einer unterschiedlichen nationalen Kriminalpolitik.95 Diese beruht zwar überwiegend auf dem materiellen Strafrecht, sie muss aber auch weiteren Faktoren bezüglich der praktischen Durchftihrung der Diversion Rechnung tragen (z.B. der Schaffung einer Organisationsstruktur zur Erftillung bzw. zur Kontrolle von Auflagen und Weisungen). Deswegen wird zwar die materiellrechtliche Dimension des Opportunitätsprinzips (insb. in §§ 153, 153a StPO) treffend hervorgehoben, ohne aber den prozessualen Aspekt des Prinzips zu verneinen. Die Betrachtung eines Absehens von der Anklageerhebung als "mittelbare Entkriminalisierung", welche sich "systemwidrig" im Strafverfahrensrecht befindet,96 verkennt die Abgrenzung zwischen der Existenz einer staatlichen Reaktion und der Durchführung dieser Reaktion in der Praxis. 97 Ob der Rechtsfrieden als (normativ bestimmbare) "präskriptiv generalisierte Erwartung" angesichts des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch andere Mittel als die Strafe sichergestellt werden kann, hängt nicht nur vom straftatbezogenen Ausmaß der gesellschaftlichen Erschütterung, sondern auch von der praktischen Funktionstüchtigkeit eines diversionellen Reaktionsmittels ab. 98 Das schließt natürlich die Existenz eines materiellrechtlichen Substrats der Diversion (als Ausfluss aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip) keinesfalls aus, was wiederum auf europäischer Ebene gerade für diese Staaten, welche dem Legalitätsprinzip überwiegend folgen, von großer Bedeutung ist. Das Opportunitätsprinzip stellt für sie keine "exotische" strafprozessuale Regel dar, welche mit der eigenen Rechtsordnung nicht in Einklang steht, sondern es ist als kriminalpolitische Entscheidung eines anderen Staates zu betrachten, mit "geeigneteren" Mitteln das erwünschte strafprozessuale Ziel zu erreichen. Deswegen kann das Opportunitätsprinzip auch von ihnen hinsichtlich seines materiellen Substrats als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit geringem Misstrauen und hinsichtlich seiner praktischen Anwendung mit großem Interesse betrachtet werden. 94 Eine Übersicht in Kühne (Fn. 27), 7. Kapitel (§§ 71-76); Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 811 ff. 95 Vgl. u.a. LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 2. 96 Hassemer (Fn. 80), S. 538; ähnlich Lorenzen (Fn. 88), S. 548 ff. 97 Zum prozessualrechtlichen Charakter der Vorschrift u.a. LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 3; über die dogmatische Begründung der Trennung von Prozessrecht und materiellem Strafrecht Volk (Fn. 6), S. 201 ff. 98 Über die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtsptlege im Allgemeinen Landau (Fn. 6), 127; dabei ist in der Tat auf das Ethos der Behörden und Gerichte abzustellen (Hassemer [Fn. 80], S. 540); zum Rechtsfriedensbegriff Volk (Fn. 6), S. 201; vgl. auch Landau a.a.O., 122.

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3. Opportunitätsprinzip und öffentliches Interesse beim europäischen ne bis in idem Das bereits festgestellte materielle Substrat einer Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153, 153a StPO, welches als Ausfluss aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verstanden wird und im Begriff des öffentlichen Verfolgungsinteresses seinen Hauptausdruck findet, ist rur die Begründung der europaweiten Sperrwirkung von diversionellen Verfahrenseinstellungen von erheblicher Bedeutung. Denn auch die Begründung der materiellen Sperrwirkung liegt in einem bereits sichergestellten Rechtsfrieden, in welchem sowohl die Interessen des Täters, nach seiner Aburteilung "in Ruhe" gelassen zu werden, als auch die Voraussetzungen einer kollektiven Rechtssicherheit berücksichtigt werden. 99 In diesem Sinne ist auch das Kriterium des "krassen Widerspruchs" zur materiellen Gerechtigkeit, welches vom Wiederaufnahmerecht nicht unabhängig betrachtet werden darf, als Voraussetzung der Durchbrechung des ne bis in idem zu verstehen. 100 Betrachtet man den Rechtsfrieden als Telos des Strafprozesses, braucht man nicht vom Gegensatzpaar "Rechtssicherheit"l"materielle Gerechtigkeit" auszugehen. Beide Prinzipien tragen zur Sicherung des Rechtsfriedens bei und sind daher parallel zu betrachten. Im Hinblick darauf lassen sich sowohl die gesetzliche Regelung in § 153a Abs. 1 S. 4 StPO als auch die Rechtsprechung zum § 153 Abs. 2 StPO,101 welche von einer Teilrechtskraft ausgehen, angesichts des "Grades" an sichergestelltem Rechtsfrieden durchaus begründen. Wenig ersichtlich ist dagegen, warum die Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO dieselbe Teilrechtskraft nicht auslösen darf. 102 Ein Argument e contrario aus dem § 153a StPO überzeugt nicht, solange die Erteilung von Weisungen und Auflagen Folge der unterschiedlichen Bemessung der Schuld des Täters und des öffentlichen Interesses in §§ 153, 153a StPO ist und keinesfalls als Ursache der Teilsperrwirkung des § 153a StPO betrachtet werden darf. 103 Das lässt

Volk (Fn. 6), S. 184~ Stein (Fn. 6), S. 142 ff. Hinsichtlich des Wiederaufnahmerechts Schäch Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957, S. 5~ Volk (Fn. 6), S. 87. 101 BGH NJW 1963, 549~ NJW 2004, 375~ zum Streitstand bezüglich der Reichweite der Sperrwirkung LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 88. 102 So die h.M. LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 56 (m.w.N. aufFn. 56)~ a.A. Radtke Die Systematik des Strafklageverbrauchs bei verfahrenserledigenden Entscheidungen im Strafrecht, 1994, S. 385 ~ ders. NStZ 1999, 483 ff. 103 Die Tatsache, dass aufgrund der geringen Schuld und des mangelnden ötfentlichen Interesses eine Weisungs- bzw. Auflagenerteilung in § 153 StPO nicht erforderlich ist, darf nicht gegen den Beschuldigten gewendet werden, Volk Grundkurs StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 21. 99

100

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sich im Grunde genommen auch durch die Rechtsprechung des EuGH bestätigen. 104 Dieselbe Argumentation lässt sich auch auf einen europaweiten Strafklageverbrauch anwenden, der in diesem Sinne auf der Sicherung eines europäischen Rechtsfriedens beruhen muss. Dieser Begriff ist des Weiteren als Ausfluss aus dem nationalen Rechtsfrieden der Mitgliedstaaten, welche mit dem Sachverhalt verbunden sind, ebenfalls normativ zu verstehen. 105 Als Ziel des nationalen Strafverfahrens mit europäischem Bezug wird m.a.W. die Sicherung eines europäischen Rechtsfriedens betrachtet. Das ist bei den §§ 153, 153a StPO mit Hilfe einer "europafreundlichen" Bestimmung des Begriffs des öffentlichen Interesses durchaus möglich; dies steht des Weiteren mit der Betrachtung des ne bis in idem als Frage nach der richtigen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen 106 keinesfalls in Widerspruch. Das (nationale) öffentliche Strafverfolgungsinteresse, welches mit dem materiellrechtlichen Gehalt des Opportunitätsprinzips eng verbunden ist, widerspiegelt sich in der Rationalisierung der Hierarchisierung der Anknüpfungspunkte für die Auswahl der geeigneten Strafgewalt,107 wie es oben (unter I. 3.) gezeigt wurde. Natürlich müssen die in Betracht kommenden Anknüpfungspunkte vom materiellen Recht jeder nationalen Rechtsordnung unabhängig bleiben, sonst besteht die Gefahr eines (diesmal von den Strafverfolgungsorganen begangenen) "Forum Shoppings". Deswegen darf die innerstaatliche Möglichkeit einer Diversion (und daher einer milderen Behandlung einer Straftat) als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung der geeigneten Strafgewalt nicht in Betracht kommen. Das heißt aber nicht, dass eine Entscheidung zugunsten einer Rechtsordnung, welche stark am Opportunitätsprinzip orientiert ist, den Verfolgungsinteressen der anderen Rechtsordnungen wider-

104

Böse (Fn. 3), 750~ ders. JR 2005, 13~ Kühne JZ 2003, 306~ a.A. LR-Beulke (Fn. 95),

§ 153 Rn. 56~ Veh (Fn. 12), Rn. 101~ bei der EuGHE C-491/07 v. 22.12.2008 Turansky ging es

um die vorläufige Einstellung des Anklageerhebungsverfahrens von der Polizei, welche mit einer Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO nicht vergleichbar ist. 105 Solange die Union auf den Mitgliedstaaten beruht, vgl. u.a. Streinz Europarecht, 8. Aufl. 2008, § 2 Rn. 63~ darauf bezieht sich die materiellrechtliche Frage nach dem "genuinen" Charakter der europäischer Rechtsgüter, BitzilekislKaiaja-GbandiISymeonidou-Kastanidou in: Schünemann (Fn. 42), S. 223 ff.~ Spinelis in: Schünemann (Fn. 42), S. 237 ff.~ auf einen europäischen Rechtsfriedensbegriff bezieht sich auch die Diskussion über die Zukunft des Europarechts, Tiedemann FS Eser, 2005, S. 893 ff. 106 Lagodny FS Trechsel, 2002, S. 263~ vgl. dazu Art. 82 I (b), 82 11 2 (b) und (c), 83 und 85 I 1 (c) AEUV, wo die Beratungsrolle des Eurojust beim Verhindern und Beilegen von Kompetenzkonflikten in Strafsachen besonders betont wird. 107 Ausführlich MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 25 ff., 64 ff.~ Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 ff.~ Schomburg (Fn. 7), S. 832 (der treffend von einer "materiell-rechtlichen Vorfrage" ausgeht).

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sprechen muss. Ganz im Gegenteil setzt die europaweite Akzeptanz des Opportunitätsprinzips (in der FOIW der europaweiten Sperrwirkung von nationalen Diversionsmaßnahmen) die Sicherung eines supranationalen Rechtsfriedens voraus. Beim deutschen Recht könnte das hinsichtlich des Begriffs des öffentlichen Interesses gern. §§ 153, 153a StPO erfolgen. 108 So könnte die Auslegung des "öffentlichen Interesses" neben den Voraussetzungen der formellen auch den Erfordernissen der materiellen Rechtskraft Rechnung tragen; 109 denn auch im Rahmen einer Verfahrenseinstellung können materielle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die sich auf den supranationalen Charakter des Falls beziehen. Die Reichweite dieser Berücksichtigung hängt des Weiteren von den Diversionsmöglichkeiten, welche der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht nach den Voraussetzungen des nationalen Rechts zur Verfügung stehen, ab. So können z.B. im Rahmen des deutschen Rechts hinsichtlich des nicht abschließenden Weisungs- bzw. Auflagekatalogs in § 153a StPO Weisungen oder Auflagen erteilt werden, welche dem Auslandselement des Sachverhalts Rechnung tragen. In Betracht käme etwa ein Täter-Opfer-Ausgleich mit dem ausländischen Opfer oder die Zahlung eines Teils der Geldbuße an eine ausländische Einrichtung (z.B. an ein Krankenhaus) oder die Arbeit in einer ausländischen Einrichtung im Inland (z.B. in einer Botschaft) usw. Wichtig ist, dass die staatliche Reaktion von einer Berücksichtigung des Verfolgungsinteresses des anderen Staates zeugt und in diesem Sinne einen grenzüberschreitenden Rechtsfrieden schafft. Dieser kann auch angesichts des Ermessensspielraums bei der Vollstreckung der Strafe auf europäischer Ebene erreicht werden. 110

IV. Ausblick Die EuGH-Rechtsprechung zur Anerkennung eines europaweiten Strafklageverbrauchs angesichts einer nationalrechtlichen Sperrwirkung, welche von (ebenfalls nationalen) Diversionsmaßnahmen ausgelöst wird, führt zu einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa. Diese Rechtsprechung steht auch mit dem neuen Art. 6 EUV i.V.m. Art. 50 GRC in Einklang und lässt sich hinsichtlich des materiellen Substrats des Opportunitätsprinzips begründen. Auf demselben materiellen Substrat, m.a.W. auf der 108 Über eine EG-konforme Auslegung des öffentlichen Interesses Jokisch Getneinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 158 ff. ~ im Bereich der Kartellgeldbußen angesichts des Art. 50 GRC Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 23~ weitere Argumente in Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 39 ff. m.w.N. 109 RadtkelBusch (Fn. 3), 284. 110 Dazu u.a. Sat=ger in: Schünemann (Fn. 42), S. 146 ff.

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"Bewährung des Strafrechts" als Voraussetzung einer normativen Bestimmung des Rechtsfriedens, beruht auch die dogmatische Begründung der Reichweite des Strafklageverbrauchs. Eine europaweite Aufwertung dieses nationalen Strafklageverbrauchs, der als Folge von Diversionsmaßnahmen entsteht, ist daher angesichts der Sicherstellung eines europäischen Rechtsfriedens, welcher als Ziel eines nationalen Diversionsverfahrens mit supranational europäischem Charakter betrachtet wird, durchaus möglich und zu begrüßen. Vorliegende Begründung der Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa steht auch mit der Ansicht des Jubilars betreffend die materiellrechtliche Entkriminalisierungsfunktion der Diversion und den materiellrechtlichen Bezug der Wiederaufnahmeregeln bei Fällen einer krassen Beeinträchtigung der materiellen Gerechtigkeit in Einklang. 111 Es ist rur mich eine besondere Freude und Ehre, dem Jubilar, meinelTI akademischen Lehrer Professor Heinz Schöch, vorliegende Untersuchung zu widmen und ihm an dieser Stelle von Herzen "ci