Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag am 24. August 1989 [Reprint 2020 ed.] 9783110892079, 9783110117059


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German Pages 930 [932] Year 1989

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Table of contents :
Inhalt
Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag
Grundfragen
Zum Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht
Zum Stellenwert der Gesetzestechnik. Dargestellt an einem Beispiel aus dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität
Grenzen der Unschuldsvermutung
Die Last des Kommentators. Zum strafrechtlichen Publikationswesen in der Bundesrepublik Deutschland
Das Unrechtsbewußtsein in der Verbrechenssystematik
Strafrecht - Allgemeiner Teil
Die Affekttat zwischen Empirie und normativer Bewertung
Zur Auslegung des § 13 II StGB
Die Bedeutung des „faktischen Organs" in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung und -gefährdung
Bemerkungen zum Regreßverbot
Zur forensischen Beurteilung der Affekttat im Hinblick auf eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit
Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Dogmatische Aspekte und kriminalpolitische Probleme
Strafrecht - Besonderer Teil
Herstellen und Absatz gesundheitsgefährdender Ver- und Gebrauchsgüter. Zu strafrechtlichen und kriminologischen Problemen eines bedeutsamen, jedoch mißglückten Typs eines Sozialdelikts (§§ 319, 320 StGB)
Zur Falschheit des Verdächtigens gemäß § 164 Abs. 1 StGB
Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen
Der Zusammenhang von Vermögensverfügung und Vermögensschaden beim Betrug (§263 StGB)
Juristische „Aufrichtigkeit" am Beispiel des § 243 StGB
Untreue bei Interessenkonflikten. Am Beispiel der Tätigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern
Zum Verhältnis von Bundes- und Landesrecht auf dem Gebiet des straf- und bußgeldrechtlichen Denkmalschutzes
Strafen - Maßregeln - Vollzug
Die Strafzumessung im System des Strafrechts
Zur Aburteilungspraxis bei sexueller Gewaltkriminalität. Ein Delikts-und Zeitreihenvergleich anhand der Strafverfolgungsstatistik
Zur Individualisierung der Strafzumessung
Die Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§67d Abs. 2 StGB) im Lichte der Verfassung - Überlegungen zu BVerfGE 70,297
Zum Aussetzungswiderruf wegen einer neuen Straftat (§ 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB)
Die Behandlung des Rückfalls und der Vorstrafen nach Aufhebung des § 48 StGB
Strafverfahren und Gerichtsverfassung
Die Verfahrensstellung des in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Angeklagten
Beobachtungen eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung
Verteidigung mit dem letzten Wort
Zum Verfahrensausgang nach erfolgreicher Revision. Bericht über eine rechtstatsächliche Untersuchung
Erwägungen zur Vereinfachung des Strafverfahrens nach der Revision
Beweis Würdigung, Überzeugung und Wahrscheinlichkeit
Über die „Gerichtskundigkeit"
Schadensersatz bei erfolgloser Strafanzeige?
Beratungsgeheimnis und abweichende Meinung
Kriminalpolitik - Strafrechtsreform - Kriminologie
Zur Behandlung von Aussagen kindlicher und jugendlicher Zeugen
Sterilisation geistig Behinderter: Zur Reformdiskussion im Inland mit Blick auf das Ausland
Der Schwangerschaftsabbruch. Rechtslage und Praxis
§218 StGB aus der Sicht eines Frauenarztes Quo vadis justitia? - Quo vadis medicina!
Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitische Aufgabe
Das Kindeswohl: Strafschutzwürdiges Rechtsgut bei künstlicher Befruchtung im heterologen System?
Staatliche Lebensschutzverweigerung
Zur Reform von § 142 StGB
Rechtsvergleichung - Internationales und Ausländisches Strafrecht Völkerrecht
Neutralität und Neutralitätsstrafrecht
Die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte in neueren Strafgesetzentwürfen
Das neue liechtensteinische Urkunden- und Beweiszeichenstrafrecht. Rechtsvergleichende Betrachtungen unter Berücksichtigung des österreichischen, deutschen und schweizerischen Strafrechts
Zur Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials von Journalisten
1990: Grenzenlos glücklich(er)?
Die Reform der Untersuchungshaft in Schweden
Internationalstrafrechtliche Spiele
Bibliographie
Verzeichnis der Schriften von Herbert Tröndle
Recommend Papers

Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag am 24. August 1989 [Reprint 2020 ed.]
 9783110892079, 9783110117059

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Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag

Festschrift für HERBERT TRÖNDLE zum 70. Geburtstag am 24. August 1989

Herausgegeben von

Hans-Heinrich Jescheck und Theo Vogler

w DE

G

1989

Walter de Gruyter • Berlin • New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Festschrift f ü r Herbert Tröndle zum 70. [siebzigsten] Geburtstag am 24. August 1989 / hrsg. von Hans-Heinrich Jescheck u. Theo Vogler. - Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011705-3 NE: Jescheck, Hans-Heinrich [Hrsg.]; Tröndle, Herbert: Festschrift

© Copyright 1989 bei Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, 1000 Berlin 61

HERBERT TRÖNDLE zum 24. August 1989

JÜRGEN MEYER

GÜNTER BLAU HANS-JÜRGEN

BRUNS

KARLHEINZ MEYER F

KARLHANS DIPPEL

LUTZ

EDUARD

HEINZ

DREHER

MEYER-GOSSNER MÜLLER-DIETZ

ENGELBERT NIEBLER

ALBIN ESER HANS FUHRMANN

WALTER ODERSKY

FRIEDRICH

HARRO

GEERDS

OTTO

WILLI

GEIGER

PETER RIESS

HANS

GÖPPINGER

CLAUS ROXIN

KARL HEINZ WALTER

GÖSSEL

GOLLWITZER

GERHARD

HAMMERSTEIN

ERNST-WALTER

HANACK

CHRISTIAAN FREDERIK RÜTER HANNSKARL SALGER GERHARD

SCHÄFER

EBERHARD

SCHMIDHÄUSER

ROBERT HAUSER

GERHARD

HANS-DIETER

RUDOLF SCHMITT

HIERSCHE

HANS JOACHIM

HIRSCH

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK GÜNTHER ROLF

KAISER

KELLER

DIETHELM

KIENAPFEL

HERMANN

KRAUTH

KARL LACKNER WINRICH

LANGER

KARL LENZEN DIETER

MEURER

SCHMIDT

FRIEDRICH-CHRISTIAN H A N S SCHULTZ G Ü N T E R SPENDEL H A N S TEYSSEN KLAUS TIEDEMANN THEO

VOGLER

KLAUS VOLK ULRICH

WEBER

THOMAS WEIGEND HEINZ

ZIPF

SCHROEDER

Inhalt

Dr. iur., Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz a.D., Bonn: Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag

EDUARD DREHER,

1

Grundfragen Dr. iur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität zu Köln: Zum Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht

19

Dr. iur., em. o. Professor an der Universität Heidelberg: Zum Stellenwert der Gesetzestechnik. Dargestellt an einem Beispiel aus dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität

41

MEYER Vorsitzender Richter am Kammergericht a.D., Berlin: Grenzen der Unschuldsvermutung

61

Dr. iur., o. Professor an der Universität Regensburg: Die Last des Kommentators. Zum strafrechtlichen Publikationswesen in der Bundesrepublik Deutschland

77

Dr. iur., o. Professor an der Universität Würzburg: Das Unrechtsbewußtsein in der Verbrechenssystematik

89

H A N S JOACHIM H I R S C H ,

KARL LACKNER,

KARLHEINZ

FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER,

GÜNTER SPENDEL,

Strafrecht - Allgemeiner Teil Dr. iur., Professor, Richter am O L G a. D., Frankfurt (Main): Die Affekttat zwischen Empirie und normativer Bewertung 109

GÜNTER BLAU,

BRUNS, Dr. iur., em. o. Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg: Zur Auslegung des § 13 II StGB 125

HANS-JÜRGEN

Vili

Inhalt

Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Die Bedeutung des „faktischen Organs" in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 139

HANS FUHRMANN,

Dr. iur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Bayreuth: Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung und -gefährdung 157

HARRO OTTO,

Dr. iur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität München: Bemerkungen zum Regreß verbot 177

CLAUS ROXIN,

Vizepräsident des Bundesgerichtshofs, Karlsruhe: Zur forensischen Beurteilung der Affekttat im Hinblick auf eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit 201

HANNSKARL SALGER,

Dr. iur., o. Professor an der Universität München: Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Dogmatische Aspekte und kriminalpolitische Probleme 219

KLAUS VOLK,

Strafrecht - Besonderer Teil Dr. iur., o. Professor an der Universität Frankfurt (Main): Herstellen und Absatz gesundheitsgefährdender Ver- und Gebrauchsgüter. Zu strafrechtlichen und kriminologischen Problemen eines bedeutsamen, jedoch mißglückten Typs eines Sozialdelikts (§§ 319, 320 StGB) . . 241

FRIEDRICH GEERDS,

Dr. iur., o. Professor an der Universität Marburg: Zur Falschheit des Verdächtigens gemäß § 164 Abs. 1 StGB

WINRICH LANGER,

265

Dr. iur., Professor, Präsident des Bundesgerichtshofs, Karlsruhe: Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen . 291

WALTER ODERSKY,

Dr. iur., em. o. Professor an der Universität Hamburg: Der Zusammenhang von Vermögensverfügung und Vermögensschaden beim Betrug (§ 263 StGB) 305

E B E R H A R D SCHMIDHÄUSER,

Dr. iur., em. o. Professor an der Universität Freiburg i.Br.: Juristische „Aufrichtigkeit" am Beispiel des §243 StGB 313

RUDOLF SCHMITT,

IX

Inhalt

K L A U S TIEDEMANN, D r . i u r . , D r . h. C., o . P r o f e s s o r a n d e r

Universität

Freiburg i. Br.: Untreue bei Interessenkonflikten. Am Beispiel der Tätigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern 319 ULRICH WEBER, Dr. iur., o. Professor an der Universität Würzburg: Zum Verhältnis von Bundes- und Landesrecht auf dem Gebiet des strafund bußgeldrechtlichen Denkmalschutzes 337

Strafen - Maßregeln - Vollzug KARL HEINZ GÖSSEL, D r . iur., o. P r o f e s s o r an der Universität E r l a n g e n -

Nürnberg: Die Strafzumessung im System des Strafrechts

357

PETER RIESS, Dr. iur., Professor, Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz, Bonn: Zur Aburteilungspraxis bei sexueller Gewaltkriminalität. Ein Deliktsund Zeitreihenvergleich anhand der Strafverfolgungsstatistik 369 GERHARD SCHÄFER, Dr. iur., Vorsitzender Richter am Stuttgart: Zur Individualisierung der Strafzumessung

Landgericht, 395

H A N S TEYSSEN, M i n i s t e r i a l d i r i g e n t a. D . , C e l l e :

Die Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ( § 6 7 d Abs. 2 StGB) im Lichte der Verfassung - Überlegungen zu BVerfGE 70,297 407 THEO VOGLER, Dr. iur., o. Professor an der Universität Gießen: Zum Aussetzungswiderruf wegen einer neuen Straftat (§ 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB) 423 HEINZ ZIPF, Dr. iur., o. Professor an der Universität Salzburg: Die Behandlung des Rückfalls und der Vorstrafen nach Aufhebung des §48 StGB 439

Strafverfahren und Gerichtsverfassung WALTER GOLLWITZER, D r . i u r . , M i n i s t e r i a l d i r i g e n t , M ü n c h e n :

Die Verfahrensstellung des in der Hauptverhandlung nicht anwesenden Angeklagten 455

X

Inhalt

Dr. med., Dr. iur., Dr. h.c., em. o. Professor an der Universität Tübingen: Beobachtungen eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung 473

HANS GÖPPINGER,

H A M M E R S T E I N , Dr. iur., Professor, Rechtsanwalt, Freiburg i.Br.: Verteidigung mit dem letzten Wort 485

GERHARD

Dr. iur., o. Professor an der Universität Mainz: Zum Verfahrensausgang nach erfolgreicher Revision. Bericht über eine rechtstatsächliche Untersuchung 495

ERNST-WALTER HANACK,

Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Erwägungen zur Vereinfachung des Strafverfahrens nach der Revision . . . 513

HERMANN KRAUTH,

Dr. iur., o. Professor an der Universität Marburg: Beweiswürdigung, Überzeugung und Wahrscheinlichkeit

DIETER MEURER,

533

Dr. iur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Uber die „Gerichtskundigkeit" 551

LUTZ MEYER-GOSSNER,

Dr. iur., o. Professor an der Universität Saarbrücken: Schadensersatz bei erfolgloser Strafanzeige? 567

HEINZ MÜLLER-DIETZ,

Dr. iur., Dr. h. c., Professor, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., München:

ENGELBERT NIEBLER,

Beratungsgeheimnis und abweichende Meinung

585

Kriminalpolitik - Strafrechtsreform - Kriminologie D I P P E L , Dr. iur., Vorsitzender Richter am O L G Frankfurt (Main): Zur Behandlung von Aussagen kindlicher und jugendlicher Zeugen 599

KARLHANS

Dr. iur., M. C . J . , o. Professor an der Universität Freiburg i. Br., Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i.Br.: Sterilisation geistig Behinderter: Zur Reformdiskussion im Inland mit Blick auf das Ausland 625

ALBIN ESER,

Dr. iur., Professor, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Karlsruhe: Der Schwangerschaftsabbruch. Rechtslage und Praxis 647

WILLI GEIGER,

Inhalt

XI

Dr. med. habil., Professor, Direktor der Frauenklinik, Akademisches Lehrkrankenhaus, Kaiserslautern: §218 StGB aus der Sicht eines Frauenarztes. Q u o vadis justitia? - Q u o vadis medicina! 669

HANS-DIETER HIERSCHE,

Dr. iur., o. Professor an der Universität Zürich, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br.: Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitische Aufgabe 685

GÜNTHER KAISER,

Dr. iur., Professor, Ministerialdirigent im Ministerium für Justiz-, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg, Stuttgart/Tübingen:

ROLF KELLER,

Das Kindeswohl: Strafschutzwürdiges Rechtsgut bei künstlicher Befruchtung im heterologen System? 705 KARL

Regierungsdirektor im Bundesministerium der Justiz,

LENZEN,

Bonn:

Staatliche Lebensschutzverweigerung

723

Dr. iur., o. Professor an der Universität zu Köln: Zur Reform von § 142 StGB

753

THOMAS WEIGEND,

Rechtsvergleichung - Internationales und Ausländisches Strafrecht Völkerstrafrecht ROBERT HAUSER,

Dr. iur., em. o. Professor an der Universität Zürich:

Neutralität und Neutralitätsstrafrecht

773

Dr. iur., Dr. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität Freiburg i. Br., em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br.: Die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte in neueren Strafgesetzentwürfen 795

HANS-HEINRICH JESCHECK,

Dr. iur., o. Professor an der Universität Linz: Das neue liechtensteinische Urkunden- und Beweiszeichenstrafrecht. Rechtsvergleichende Betrachtungen unter Berücksichtigung des österreichischen, deutschen und schweizerischen Strafrechts 817

DIETHELM KIENAPFEL,

JÜRGEN MEYER,

Dr. iur., Professor an der Universität Freiburg i. Br.:

Zur Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials von Journalisten . . . .

837

XII CHRISTIAAN FREDERIK RÜTER,

Inhalt

Dr. iur., o. Professor an der Universität

Amsterdam: 1990: Grenzenlos glücklich(er)?

855

Dr. iur., Professor, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht, Karlsruhe: Die Reform der Untersuchungshaft in Schweden 871

GERHARD SCHMIDT,

Dr. iur., Dr. h. c., em. o. Professor an der Universität Bern: Internationalstrafrechtliche Spiele 895

HANS SCHULTZ,

Bibliographie Verzeichnis der Schriften von Herbert Tröndle

909

Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag EDUARD D R E H E R

Der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat auf außergewöhnliche und glänzende Weise gezeigt, wie ein Mann, der aus schlichten Verhältnissen stammt und den das Schicksal mit einem schweren körperlichen Handicap belastet hat, dennoch in der Lage ist, durch kraftvolle Vitalität und nie erlahmende Energie ein Leben voller Reichtum aufzubauen und zu gestalten, wobei Erfolg nicht das Ziel war. Er stellte sich von selber ein. Herbert Tröndle ist am 2 4 . 8 . 1 9 1 9 , einem Sonntag, im damaligen Kiesenbach, das jetzt Albbruck heißt und zum Kreis Waldshut gehört, geboren. Er war das dritte Kind in der Familie. Sein Vater war Schmiedemeister. Er schickte den begabten Sohn auf das Waldshuter Hochrheingymnasium, und der legte dort im März 1938 die Reifeprüfung ab. Es war mitten in der nationalsozialistischen Zeit, und die spielte dem jungen Mann unbarmherzig mit. Von April bis September 1938 mußte er zum Arbeitsdienst und gleich anschließend im Oktober wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Ohne Unterbrechung begann der Krieg. Er endete für Tröndle im Juni 1942 in Rußland, als eine schwere Granatsplitterverletzung ihn beide Unterschenkel kostete. E r war damals Kompanieführer in einem Jägerregiment, und als Oberleutnant der Reserve wurde er nach Hause geschickt. Das war ein böses Schicksal, und manch einen hätte es für immer aus der Bahn geworfen; nicht aber Tröndle. Er stürzte sich 1943 ins Studium der Rechte. Freiburg, Jena und Göttingen waren seine Universitäten, wo er unter schwierigsten Bedingungen studierte, und im März 1947 konnte er die Erste juristische Staatsprüfung vor dem Oberlandesgericht Celle erfolgreich bestehen. Zwei Jahre später folgte schon die Promotion in Göttingen mit einer maschinengeschriebenen Dissertation zu einem zivilrechtlichen Thema nach und im Juni 1950 die Zweite Staatsprüfung, diesmal vor dem Oberlandesgericht Freiburg. War es schon ein Wink des Schicksals, daß die erste Stelle, die er im selben Jahr als fertiger Jurist auszufüllen hatte, die eines Hilfsstaatsanwalts in Waldshut war? Das Strafrecht und das heimische Waldshut haben Tröndle im Grunde nie wieder losgelassen.

2

Eduard Dreher

Was ihn weiter an die Heimat band und was ihm eine zusätzliche Aufgabe, aber auch Stütze und Geborgenheit brachte, war eine wichtige Lebensentscheidung. Tröndle gründete eine Familie. Noch vor dem Ende des Krieges, im April 1945, hatte er die Tochter des Direktors eines Predigerseminars geheiratet und zwischen 1946 und 1952 gingen zwei Söhne und zwei Töchter aus der Ehe hervor. Tröndle war also schon das Haupt einer sechsköpfigen Familie, als er noch bis 1953 in Waldshut und Säckingen als schlichter Gerichtsassessor arbeitete. Welcher optimistische Lebensmut und welch ungebrochener Elan eines vom Kriege so schwer Getroffenen stehen hinter dieser Lebensgestaltung und man kann sich vorstellen, was es für das junge Ehepaar bedeutete, die harte Zeit nach dem Kriege mit vier kleinen Kindern zu bestehen. Doch schon 1953 trat ein Ereignis ein, das sich für Tröndle wie auch für manche andere vor und nach ihm als Sprungbrett für eine spätere Karriere erwies. Er wurde, in seiner Begabung offenbar schon erkannt, für zwei Jahre juristischer Hilfsarbeiter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, und zwar beim 1. Strafsenat. Das bedeutete Ausbildung an der Spitze der Praxis. Im Jahr darauf wurde Tröndle zum Landgerichtsrat in Waldshut ernannt. Doch noch im Oktober desselben Jahres 1956 holte man ihn ins Bundesjustizministerium nach Bonn. Dort lief damals die Arbeit an der Strafrechtsreform auf Hochtouren, und der Leiter der strafrechtlichen Abteilung Dr. Schaflieutle, der, selbst ein Badener, zuletzt Generalstaatsanwalt in Freiburg gewesen war, suchte zusätzliche Kräfte für das riesige Programm. So war er auf den tüchtigen Nachwuchsjuristen Tröndle aufmerksam geworden, der schon 1953 bescheiden zu publizieren begonnen hatte. Er wurde nun für fünf Jahre in die Reformarbeit eingespannt. Es wurden das nach der Zeit in Karlsruhe die großen Lehrjahre für den heutigen Jubilar. Er wurde damals auch mein Kollege, und er kam nicht nur in einen eng verbundenen Kreis qualifizierter Juristen, von denen ich nur die Namen Lackner, Schwalm, Kleinknecht und Daliinger nennen möchte, sondern er wurde zugleich in die Arbeit der Großen Strafrechtskommission eingebunden, die von 1954 bis 1959 ihre regelmäßigen Tagungen in oft nur kurzen Intervallen abhielt. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß die Kommission nicht nur fast die gesamte damalige Elite der Strafrechtswissenschaft umfaßte - die Namen von Mezger, Eberhard Schmidt, Welzel, Gallas, Bockelmann und für die damals junge Generation Jescheck stehen dafür - , sondern daß auch Vertreter der Praxis von hohem Niveau zu ihren Mitgliedern zählten. Ich nenne nur einige, so den Senatspräsidenten am Bundesgerichtshof Baldus, die Bundesrichterin Koffka, den großen Kommentator Karl Schäfer, Staatssekretär Krille aus Düsseldorf, den bekannten Prozessualisten Generalstaatsanwalt Dünnebier und nicht zuletzt Hans Dahs, den hervorragenden Vertreter der Anwaltschaft.

Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag

3

Was sich in dieser Kommission rund fünf Jahre hindurch abspielte, kann man das glänzendste strafrechtliche Seminar nennen, das je in diesem Jahrhundert irgendwo abgehalten worden ist. Hier konnte man wirklich Strafrecht lernen. Auch Tröndle nutzte diese einmalige Gelegenheit. Er hatte sich auch sehr aktiv zu beteiligen. Bereits im Dezember 1956, als er zum ersten Mal an einer Kommissionstagung teilnahm, hielt er ein Referat über das Problem der „besonders schweren Fälle" und ihre Behandlung im kommenden Strafrecht1, ein Problem, das bekanntlich noch heute, vor allem bei den besonders schweren Fällen des Diebstahls, eine intrikate und umstrittene Rolle spielt. Noch auf derselben Tagung folgte ein Referat über die einheitliche Gestaltung von Strafrahmen2, eine sehr grundsätzliche Frage, die noch immer der Lösung harrt. Diese ersten zwei leiteten eine ansehnliche Reihe von Referaten ein, die Tröndle bis zum Schluß der Kommissionsarbeit vor dem bedeutenden Gremium hielt. Auch wenn er dabei die vorher in einer Unterkommission der Großen Kommission und in internen Besprechungen in der Strafrechtsabteilung des Ministeriums erarbeiteten Vorschläge vorzutragen hatte, möchte ich doch wenigstens einige der herausragenden Themen aufführen, zumal diese Arbeiten für den späteren Schriftsteller und Kommentator Tröndle eine Ausgangsgrundlage darstellten, das Schriftenverzeichnis des Jubilars sie aber unerwähnt lassen muß. Ich nenne die Referate über Urkundenfälschung und die damit im Zusammenhang stehenden Themen der Urkundenunterdrückung sowie der Fälschung und Unterdrückung von Schallaufnahmen und Beweismitteln3. Dem Begriff der Urkunde und des Beweiszeichens war dabei ein eigenes ausführliches Referat gewidmet, das damals von Bockelmann als „ausgezeichnet und sehr aufschlußreich" gelobt wurde. Im Leipziger Kommentar hat Tröndle später das Thema wieder aufgenommen und mit aller Intensität bearbeitet. Ich nenne weiter das nie zur Ruhe kommende Thema „Vollrausch" (heute § 3 2 3 a StGB) 4 , ferner den Komplex von Rechtspflegedelikten, nämlich Rechtsbeugung, Falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat, Aussageerpressung und Verfolgung Unschuldiger5. Dazu gehörte auch eine leider nie Gesetz gewordene Vorschrift über Störung der Strafrechtspflege, nach der in gewisser Anlehnung an den englischen contempt of court bestraft werden sollte, „wer während eines Strafverfahrens dessen vermutlichen Ausgang oder den Wert eines Beweismittels vor dem Urteil des ersten Rechtszuges

1 2 3 4 5

Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 5. Bd., 9. Wie F n . l , 19. Wie Fn. 1, 6. Bd., 150, 178, 192, 195; 8. Bd., 13; 13. Bd., 406. Wie F n . l , 8.Bd., 142. Wie Fn. 1, 13. Bd., 315, 177, 193, 305, 318, 560.

4

Eduard Dreher

öffentlich, in Druckschriften, in Film- oder Funkdarstellungen oder in einer Versammlung erörtert 6 ." Eine derartige Vorschrift, gegen die eine vereinigte Lobby der Medien sofort Sturm lief, könnte in der heutigen Zeit der Vorverurteilungen oft genug heilsame Dienste leisten. Ich nenne weiter die Vorschriften über Wucher, Nötigung eines Verfassungsorgans, Vergehen bei Wahlen und Abstimmungen 7 sowie aus dem Allgemeinen Teil Notstand und Irrtum bei Notstand, mittelbare Täterschaft und Irrtum über den Tätervorsatz 8 . Aus diesem Thema, bei dem es darum ging, wie einen Anstifter zu bestrafen, „wer vorsätzlich einen anderen zu dessen rechtswidrig begangener Tat in der irrigen Annahme bestimmt hat, der Täter werde bei der Begehung vorsätzlich handeln", hat der Jubilar einen seiner frühesten Aufsätze gemacht9. Im Sonderausschuß des Bundestages für die Strafrechtsreform hat man auf eine derartige Vorschrift als zu perfektionistisch verzichtet, was eine Flut kontroverser Äußerungen im Schrifttum zur Folge hatte. Auch zu den Themen Wucher und Vollrausch hat Tröndle später wieder Stellung genommen10. Schon aus dieser keineswegs vollständigen Liste wird deutlich, in welchem Maße Tröndle an der Reformarbeit beteiligt war. Er wirkte dann auch an der Ausarbeitung der ersten Entwürfe zu einem neuen Strafgesetzbuch mit, nämlich den Entwürfen 1958 (nur Allgemeiner Teil), 1959 und 1960, dem ersten Entwurf, der im Bundestag eingebracht wurde, dort aber nicht mehr beraten werden konnte. Die intensive gemeinsame Arbeit an einem großen Ziel, die Tagungen der Kommission, die in der Regel eine Woche, später aber auch länger dauerten und Gelegenheit zu abendlichem Beisammensein boten, soweit nicht die Arbeit in Unterkommissionen weiterging, führten bald auch zu menschlich nahen Beziehungen zwischen den Beteiligten und besonders zu einem kollegial herzlichen Verhältnis zwischen den Angehörigen des Ministeriums. In dieser Runde war Tröndle, der bald zum Oberlandesgerichtsrat avancierte, nicht nur als Jurist hoch geschätzt, sondern mit seinem offenen Temperament, seiner menschlichen Wärme und seinem prächtigen Humor, der oft witzige Bonmots aufblitzen ließ, gern gesehen und allgemein beliebt. So ließ man ihn nur ungern ziehen, als er Ende Juni 1961 das Ministerium verließ, um in die Praxis, die ihm

Wie Fn. 1, 10. Bd., 379, 381, 516. Wie Fn. 1, 7. Bd., 316; 10. Bd., 258, 368; 13. Bd., 257. 8 Wie Fn. 1, 12. Bd., 152, 138, 266. 9 GA 1956, 129; zum Meinungsstreit vgl. Dreher/Tröndle, Kommentar, 44. Aufl. Rdn. 10 vor §25. 10 Hearing des Rechtsausschusses des Bundestages, Prot. VII, 2563, sowie Festschrift für Jescheck, 665. 6

7

Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag

5

besonders am Herzen lag, zurückzukehren und zugleich damit ins heimische Waldshut. Dort hatte er als Landgerichtsdirektor bis zum April 1966 den Vorsitz in einer Strafkammer, die auch als Schwurgericht fungierte. Diese Tätigkeit wurde nur dadurch unterbrochen, daß Tröndle für zwei Jahre zum leitenden Oberstaatsanwalt in Offenburg bestellt wurde. Auf diese Weise konnte er die auch für den Strafrichter wissenswerten Aufgaben, Probleme und Nöte, die mit der spezifischen Position des Staatsanwalts verbunden sind, aus eigener Anschauung kennenlernen und bei seiner weiteren richterlichen Tätigkeit im Auge behalten. Zu dieser Thematik hat er sich auch noch 1968 literarisch geäußert". Es war das Jahr, in dem Tröndle seine staatsanwaltliche Tätigkeit beendete und zum Präsidenten des Landgerichts Waldshut-Tiengen ernannt wurde. Diesen Posten hat der Jubilar bis 1984, also 16 Jahre hindurch, bekleidet, eine außergewöhnlich lange Zeit. Auch als Präsident setzte er seine Tätigkeit als Vorsitzender einer Strafkammer fort. In den langen Jahren hatte er viele bedeutende Strafprozesse, nicht zuletzt Schwurgerichtssachen, zu bewältigen, und es wird ihm von berufener Seite bescheinigt, daß er sie „mit großem Verhandlungsgeschick und gütiger Strenge" geführt, dabei aber auch „um jede Entscheidung gerungen" hat. Für die Gründlichkeit, die er dabei an den Tag legte, ist ihm auch von anwaltlicher Seite ein besonderes Kompliment gemacht worden. Seine mündlichen Urteilsbegründungen zeichneten sich durch Brillanz der Sprache aus. Als Präsident hat Tröndle nicht nur Verbesserungen im personellen Bereich geschaffen. Er hat auch dafür gesorgt, daß die bis dahin unzureichenden räumlichen Verhältnisse durch einen entsprechenden Umbau befriedigender wurden. Er hat seinen Mitarbeitern viel abverlangt, hat es aber auch verstanden, ihnen Freude an der Arbeit zu machen, hat sie gefördert und sich vor sie gestellt, wenn es not tat. Bei seiner Verabschiedung hat ihm Baden-Württembergs Justizminister Eyrich bescheinigt, daß ihm eine „unverwechselbare Prägung der Justiz in seinem Bezirk" gelungen sei und hat ihn als einen „vertrauenswürdigen, verläßlichen und kompetenten Sachwalter der Belange des Rechts" gewürdigt. Auch den „farbigsten" Landgerichtspräsidenten in Baden-Württemberg hat man Tröndle genannt. Während seiner Waldshuter Zeit hat er es verstanden, neben seiner dienstlichen Aufgabe sehr bald durch wissenschaftliche Arbeit und die Tätigkeit in verschiedenen Gremien seine herausragenden juristischen Fähigkeiten deutlich zu machen. Schon 1963 war er Mitglied der Straf-

11

D R i Z 1968, 364.

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Eduard Dreher

rechtskommission des Deutschen Richterbundes geworden12, wo er sich rasch als kompetenter Analytiker auch diffiziler Problematik erwies, der sich auch nicht scheute, die Dinge plastisch beim Namen zu nennen. So charakterisierte er in einem vortrefflichen Referat über die Frage der Berufung in Strafsachen den Berufungsrichter mit dem Satz: „Er gleicht einem Koch, von dem man erwartet, daß er mit weniger Fleisch und schlechteren Zutaten einen besseren Braten bereitet 13 ." Eine für Tröndle sehr charakteristische Formulierung. In den sechziger Jahren, in denen der Jubilar auch Mitglied des Landesjustizprüfungsamtes Baden-Württemberg wurde, schrieb er neben einer Reihe von Urteilsanmerkungen und zahlreichen Buchbesprechungen sowie Ubersichten über die Rechtsprechung des Bundesgerichthofs in Strafsachen des materiellen Rechts 14 Aufsätze, die sich mit der Figur des gerichtlichen Sachverständigen, aber auch des „Richters privat" befaßten15. Vor allem aber hat er sich Fragen der Strafzumessung, insbesondere bei Trunkenheit im Verkehr, zugewendet16. Schon damals hat er sich, auch auf den Verkehrsgerichtstagen von 1967 und 1970, für den Vorrang der Geldstrafe auch bei den Trunkenheitsdelikten eingesetzt, was damals angesichts einer bedenklich zersplitterten Rechtsprechung und der Überzeugung vieler Richter von der stärkeren Abschrekkungswirkung einer Freiheitsstrafe eine wegweisende und mutige Tat war. Damit ist ein Stichwort gefallen, das für Tröndles weitere wissenschaftliche Entwicklung und ihre Akzente besondere Bedeutung gewann: es heißt Geldstrafe. Der Jubilar wurde zu einem Vorkämpfer für die Idee, daß die kurze Freiheitsstrafe nicht nur ganz im Sinne des § 47 StGB lediglich die ultima ratio gegenüber der Geldstrafe zu bilden habe, sondern auch, daß die Geldstrafe bei richtiger Anwendung im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität sämtliche Strafzwecke zu erfüllen sehr wohl in der Lage sei. In zahlreichen Veröffentlichungen, vornehmlich der siebziger Jahre, hat er sich für diese Überzeugung eingesetzt17 und in seiner Kommentierung des 1969 eingeführten Tagessatzsystems für die Geldstrafe in der 9. und 10. Auflage des Leipziger Kommentars hat er diese Idee weiter verfestigt und den guten Sinn wie

Über dessen Tätigkeit berichtete er in DRiZ 1968, 123. GA 1967, 171; die generelle Problematik ist auch behandelt in „Zur Reform des Rechtsmittelsystems im Strafrecht" in „Probleme der Strafprozeßreform"; Hrsg. H. Lüttger; Sammlung Göschen, Bd. 2800. 14 GA 1962, 225; 1966, 1; 1973, 289. 15 Information 1966, 13; DRiZ 1966, 178; 1968, 421. 16 Blutalkohol 1966, 457; 1971, 73; Verhandlungen des 5. Dt. Verkehrsgerichtstags 1967, 67; DRiZ 1967, 261; GA 1968, 298. 17 Kriminologische Gegenwartsfragen 1972, 138; MDR 1972, 461; ZStW86 (1974), 545; ÖJZ 1975, 589. 12

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die Schwierigkeiten des neuen Systems in glänzender Meisterschaft erschöpfend dargelegt und bemerkenswerte Lösungen für die Probleme aufgezeigt. Im Herbst 1969 nahm Tröndle am X. Internationalen Kongreß der Association Internationale De Droit Pénal (AIDP) in Rom teil, zu dessen Verhandlungen in der III. Sektion mit dem Thema „Le rôle du tribunal dans la détermination et l'application des peines" er einen schriftlichen Beitrag geleistet hatte18. Auch an späteren Kongressen der AIDP nahm er teil. 1970 begann seine schon erwähnte Mitarbeit an der damals 9. Auflage des Leipziger Kommentars. Er bearbeitete dort außer den schon erwähnten Materien der Urkundendelikte und der Geldstrafe die §§ 1 bis 12 StGB, darunter also die Grundsatzvorschriften der §§ 1 und 2, das gesamte internationale Strafrecht, dazu aber auch das intrikate Problem der Wahlfeststellung, zu dem Tröndle auch einen Aufsatz schrieb", ferner mit den §§31 bis 33 den Verlust von Amtsfähigkeit, Wählbarkeit und Stimmrecht, weiter neben den später weggefallenen §§38, 39 über die Polizeiaufsicht den praktisch wichtigen und mit Zweifelsfragen gefüllten § 60 über die Anrechnung von Untersuchungshaft oder anderem Freiheitsentzug auf zeitige Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Dazu kam noch der zu den Urkundendelikten gehörende §348 über die Falschbeurkundung im Amt. Später hat der Jubilar in der 10. Auflage des Kommentars, die zwischen 1978 und 1982 erschien, im wesentlichen dieselben Materien bearbeitet. N u r bei den §§38 und 39 handelte es sich diesmal um Dauer und Bemessung der Freiheitsstrafe. Diese Erläuterungen zu lesen, ist für jeden Juristen ein Genuß. Daß hier alles, was Rechtsprechung und Schrifttum zu bieten haben, nicht nur lückenlos aufgeführt, sondern gründlich verarbeitet wird, ist bei diesem Autor eine Selbstverständlichkeit. In einer präzisen Sprache wird all die Problematik, die in den kurzen Gesetzesworten steckt, durchleuchtet, werden die oft verworrenen Irrgärten, in die Gerichte oder Autoren geraten sind, auf gerade Wege zurückgeführt, werden in abgewogener Analyse Lösungen angeboten und akzeptabel gemacht, wobei sich Tröndle auch nicht scheut, von höchstrichterlicher Rechtsprechung oder herrschender Meinung abzuweichen. Mit seinen Arbeiten wurde er weiteren Kreisen bekannt, sein Ansehen stieg. So wurde er 1972 ständiger Mitarbeiter an der Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR) und an Goltdammers Archiv für Strafrecht (GA). Ein Jahr später übernahm er als Mitherausgeber der Juristischen Rundschau (JR) deren strafrechtlichen Teil, und es gelang ihm immer

18 19

Revue intern, de droit pénal, 1970, 409; deutsch in ZStW 82 (1970) 578. JR 1974, 133.

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wieder, nicht nur Aufsätze von Rang für die Zeitschrift zu gewinnen, sondern auch kompetente Besprecher interessanter Entscheidungen, wodurch er die J R auszeichnen konnte. Im selben Jahr 1973 wurde Tröndle persönliches Mitglied des Kuratoriums und des Fachbeirats des renommierten, von Jescheck und dem Kriminologen Günther Kaiser zu erstaunlicher Blüte gebrachten Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. 1976 wurde er, was eine besondere Auszeichnung für einen Juristen bedeutet, Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages. In dieser Eigenschaft hat er beim 53. Juristentag 1980 sowie beim 55. im Jahre 1984 den Vorsitz der strafrechtlichen Abteilung geführt; beim 54. Juristentag 1982 hatte er den stellvertretenden Vorsitz. 1986, beim 56. Juristentag, wo es um das auch die breite Öffentlichkeit bewegende heikle Thema der Sterbehilfe ging, trat er als einer der Referenten auf20. Auch die Universitäten standen nicht zurück, sich Tröndles aus Theorie und langjähriger Praxis erworbene, außergewöhnliche Fähigkeiten, zu denen sich ein ausgesprochenes Rednertalent gesellt, zunutze zu machen. 1976 erhielt er einen Lehrauftrag der Universität Konstanz, dem einer der Universität Freiburg 1978 folgte. Bei seinen Vorlesungen, die er bis heute hält, ist Tröndle in seinem Element. Es reizt ihn, junge Menschen an das lebendige Recht, das alle scheinbare Abstraktion weit hinter sich läßt, heranzuführen. Und seine zupackende Art, mit der er etwa neue Urteile des Bundesgerichtshofs vor seinen Studenten zu durchleuchten und kritisch zu analysieren versteht, lockt eine ungewöhnlich große Zahl von Hörern in seine Vorlesungen. Er möchte sie nicht mehr missen und aus dem, was er dabei auszubreiten hat, schöpft er auch mancherlei Anregung für seine Arbeit als Kommentator. Seine erfolgreiche Tätigkeit wurde auch von der Universität Freiburg anerkannt und gewürdigt. Im Jahre 1980 ernannte man ihn dort zum Honorarprofessor. Tröndles Tätigkeit als Kommentator erhielt 1978 eine neue Dimension. Er übernahm von mir den im Verlag C. H. Beck erscheinenden Kurzkommentar zum Strafgesetzbuch, den Reichsgerichtsrat Schwarz begründet und den ich seit 1961 von der 23. bis zur 37. Auflage betreut hatte. Vor deren Erscheinen hatte ich mich entschlossen, mich anderen Arbeiten zuzuwenden und das Buch in jüngere Hände zu geben. Bei der Umschau nach einem geeigneten Nachfolger, einer Entscheidung, die für mich und den Verlag von größter Bedeutung war, war Tröndle ein idealer Kandidat. Ich kannte seine Fähigkeiten und seinen Fleiß aus der

2 0 Das Referat in Z S t W 9 9 (1987), 25; zum selben Thema die Replik in MedR 1988, 163 auf v. Lutterotti MedR 1988, 55.

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gemeinsamen Bonner Zeit, aus seiner Arbeit am Leipziger Kommentar wußte ich, wie gut er zu erläutern verstand, seine Grundanschauungen stimmten mit den meinen überein, er war wie ich - ein wichtiger Gesichtspunkt - sowohl Praktiker wie Theoretiker, und wir standen uns menschlich nahe. So kam es, daß der Verlag auf meine Initiative die Fortführung des Kommentars dem Jubilar antrug, und zu unser aller Freude übernahm er das Buch und damit eine gewiß reizvolle Aufgabe, aber zugleich auch eine schwere Bürde. Denn was es heißt, als alleiniger Autor ein Gesetz von der Größe und Bedeutung des Strafgesetzbuches vom ersten bis zum letzten Paragraphen nach dem neuesten Stand auf hohem Niveau zu kommentieren mit all dem Aufwand an Zeit, Arbeit und Sachverstand, die eine solche Aufgabe fordert, kann kaum jemand ermessen, der sich nicht selbst an einem solchen Marathon-Unternehmen versucht hat. Auch für Tröndle gab es da noch ein offenes Problem, das sich aus dem Ubergang vom Großkommentar zum Kurzkommentar ergab. Dem Mitarbeiter an einem großen Kommentar steht praktisch beliebiger Raum zur Verfügung, um alles, was er möchte, ungezwungen darstellen zu können. Der Schreiber eines Kurzkommentars hingegen hat die weit schwierigere Aufgabe, auf möglichst kleinem Raum ein Höchstmaß an Information und Meinung in ansprechender Form so zusammenzudrängen, daß er im Endprodukt nur wenig hinter dem großen Kommentar zurücksteht. Auch dieses für den Kurzkommentar entscheidende Problem hat der Jubilar hervorragend gelöst. Wirft man heute einen Blick in die zur Zeit neueste 44. Auflage, so kann man über das Ausmaß des Gebotenen nur staunen. Was z. B. in der Vorbemerkung zu den §§ 211,212 an Material und Stellungnahme zu so aktuellen Themen wie Todesbegriff, Suizid nebst Garantenstellung beim Suizid, Zwangsernährung und Hungerstreik, Sterbehilfe (allein eine ganze Seite mit Quellennachweisen!) und Patiententestament sowie „Früheuthanasie" ausgebreitet ist, ist bewundernswert. Dabei wird die Kommentararbeit weit über die Zeit hinaus, als ich das Buch betreute, dadurch erschwert, daß die Flut von höchstrichterlichen Entscheidungen, von Aufsätzen und Monographien in beängstigender Weise anwächst. Neue Zeitschriften und neue Entscheidungssammlungen sind erschienen, die sich in ihrem Inhalt überschneiden. Im Ergebnis sieht sich der Kommentator vor jeder neuen Auflage einem riesigen Berg von neuem Material gegenüber, den es aufzuarbeiten gilt. Tröndle meistert diese Aufgabe souverän und mit technischem Geschick. So kann ich nur von dem großen Glück reden, in ihm den richtigen Nachfolger gefunden zu haben. Meine Dankbarkeit wird mit jeder Auflage auch neu lebendig. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt mit der erwähnten 44. Auflage schon die siebente von Tröndle betreute vor. Sie ist wieder ein großer Gewinn für alle, die mit Strafrecht zu tun haben.

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In den siebziger Jahren brachte der Jubilar noch eine Reihe von Arbeiten mit verschiedener Thematik heraus, so zum Verkehrsstrafrecht21, schrieb zum 70. Geburtstag von Karl Peters Grundsätzliches über „Einheit und Vielfalt des Strafrechts" 22 und in der mir 1977 gewidmeten Festschrift23 zeigte er, daß sich hinter der damals viel diskutierten Frage „Rückwirkungsverbot bei Rechtsprechungswandel?" ein bloßes Scheinproblem verberge. In den achtziger Jahren widmete sich Tröndle in seinen Aufsätzen neben rechtspolitischen Themen, von denen noch die Rede sein wird, und in gewissem Zusammenhang mit ihnen, vornehmlich zwei Problemkreisen. Der eine ist der seit langem virulente und brisante Bereich, in dem Strafrecht und Medizin zusammentreffen. So veröffentlichte der Jubilar von ihm gehaltene Vorträge unter dem Thema „Selbstbestimmungsrecht des Patienten - Wohltat und Plage" 24 , worin er sich kritisch mit der zivilrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auseinandersetzte, die an die Aufklärungspflicht des Arztes zu hohe Anforderungen stelle. Es folgte ein Beitrag zur Festschrift für Leferenz mit dem Titel „Kriminologie - Psychiatrie Strafrecht" 25 . Tröndle wurde 1983 auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von „Forensia", Interdisziplinäre Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie und Recht. Über Tröndles Arbeiten zu den Problemen des Vollrauschs und der Sterbehilfe habe ich bereits berichtet. Zu der gesetzgeberisch heiß umstrittenen Frage der „Zwangsernährung im Rechtsstaat" schrieb er einen Beitrag in der Festschrift für Kleinknecht26, in dem er sich sehr engagiert gegen § 101 des Strafvollzugsgesetzes wandte und die Zwangsernährung von Gefangenen, die aus freier Willensentschließung hungerstreikten, für grundgesetzwidrig erklärte. Hauptthema im medizinisch-strafrechtlichen Bereich ist für den Jubilar die immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückende Praxis und rechtliche Einordnung der Abtreibung geworden, die das 1976 reformierte Gesetz „Abbruch der Schwangerschaft" nennt und damit „kaschiert, daß es sich um die Tötung vorgeburtlichen menschlichen Lebens handelt" 27 . Mit aller Energie wendet sich der Jubilar gegen die „Abtreibung auf Kassenschein". Er schreibt: „In der Bundesrepublik kommen auf fünf geborene Kinder drei abgetriebene: Täglich sind es über tausend, jährlich eine Viertelmillion . . . In unserer Rechtsordnung ist kein anderes Rechtsgut so schutzlos wie das ungeborene Leben", 21 22 25 2< 25 26

27

14. Dt. Verkehrsgerichtstag, Referate, 81; J R 1977, 1. J R 1974, 221. 115. M D R 1983, 881. 54. 411; auch in Anästhesiologie und Intensivmedizin, 28 (1987), 95. Tröndle in Dreher/Tröndle, Kommentar, 44. Aufl., R d n . 2 zu §218.

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obwohl dem Embryo „von der Verschmelzung von Ei und Samenzelle an der Schutz der Verfassung" zukomme 28 . Dem stehe eine faktisch unbehinderte Abtreibungspraxis gegenüber. „Aus kleinmütigem Opportunismus vermeiden es verantwortliche Politiker, wirksame Maßnahmen zur ,Eindämmung der Abtreibungsseuche' zu ergreifen 29 ." Mit großer Entschiedenheit lehnt Tröndle die Auffassung ab, daß die in §218 a StGB aufgeführten Indikationen als Rechtfertigungsgründe zu verstehen seien. Er selbst begreift sie mit Ausnahme der medizinischen Indikation in ihrer strengen Form als bloße Schuldausschließungsgründe 30 . Unter der Uberschrift „Gibt die Rechtsprechung den Schutz ungeborenen menschlichen Lebens vollends preis?" übt Tröndle scharfe Kritik an der Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, die darauf hinauslaufe, daß „die Tötung ungeborenen menschlichen Lebens Gegenstand eines wirksamen (!) Vertrages sein soll und ein gesundes (wegen mißlungener Abtreibung geborenes) ,Kind als Schaden' anzusehen ist" 31 . Tröndle erklärt, daß diese Rechtsprechung gegen die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fristenlösung 32 verstoße, und charakterisiert ihr Ergebnis mit den bitteren Worten: „Abtreibungsärzte können sonach damit rechnen, daß die Justiz ihnen in der Art des Vogels Strauß begegnet 33 ." Der Jubilar wird nicht müde, das ganze Gewicht seiner Person und seines Ansehens in die Waagschale zu werfen, wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht. Er ist seit ihrem Bestehen stellvertretender Vorsitzender der Juristenvereinigung Lebensrecht, die sich diesen Schutz zum Ziel gemacht hat. Schon in der ersten Mitgliederversammlung im April 1985 hielt der Jubilar eines der Referate mit dem Titel .„Soziale Indikation' - Rechtfertigungsgrund?" 34 . Das Thema läßt ihn nicht los. Seine mir beim Schreiben dieser Zeilen bekannte jüngste Äußerung dazu ist ein schon zitierter, eindrucksvoll geschriebener Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3.8.1988 mit dem Titel „Das Recht des Stärkeren als Fortschritt'?", der schon den Beifall gewichtiger Persönlichkeiten gefunden hat. Das zweite Thema, dem sich Tröndle mit besonderem Elan widmete, ist die Problematik des §240 StGB, insbesondere das Phänomen der Sitzblockaden, das leider eine erhebliche praktische Bedeutung gewonnen hat und politisch wie rechtlich hart umstritten ist. Der Jubilar hat

28 2« 30 31 32 33 34

FAZ vom 3. 8.1988, 6. MedR 1986, 32. Jura 1987, 66; im Kommentar wie Fn.27 sehr ausführlich in Rdn.8ff. vor §218. MedR 1986, 31; hier 32. BVerfGE 39, 1. Wie Fn. 31, 33. Schriftenreihe der Vereinigung, Nr. 1, 45.

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dazu als Gutachter in der mündlichen Verhandlung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 15. Juli 1986 eingehend Stellung genommen35. Er ging davon aus, daß das Rechtsgut der Willensbetätigungsfreiheit des Bürgers gerade von einer freiheitlichen Rechtsordnung besonders gesichert werden müsse. Er erinnerte an die Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 191136, in der das Versperren eines Leichenzuges auf einem Friedhof durch eine Menschenmauer als Gewalt angesehen wurde. Dabei handle es sich nicht um psychische, sondern um physische Gewalt. Die Verwerflichkeitsklausel des §240 Abs. 2 werde in ähnlicher Weise auch im Recht Österreichs und der Schweiz praktiziert. Die Fassung des §240 könne sich auch auf eine langjährige Entwurfsgeschichte stützen. Der Begriff „verwerflich" sei als sozialwidrig zu verstehen. Bei der Mittel-Zweck-Relation komme es nur auf den unmittelbaren Zweck des nötigenden Verhaltens an, nicht auf Fernziele des Nötigenden. Die Rolle des Richters könne es nicht sein, politische Meinungen zu bewerten. Sitzblockaden seien „unerträgliche Angriffe auf die gesamte Rechtsordnung, die unser freiheitliches System im Kern treffen". Das Wort vom „zivilen Ungehorsam" sei in einem demokratischen Rechtsstaat ein Ungedanke. Mit friedlichen Versammlungen im Sinn des Art. 8 des Grundgesetzes hätten Sitzblockaden nichts zu tun. Dazu zitierte Tröndle entsprechende Äußerungen sowohl des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Zeidler wie auch des Senatsvorsitzenden Herzog. Inwieweit diese eindrucksvoll formulierte Stellungnahme die dann folgende berühmte 4:4-Entscheidung des Gerichts37 beeinflußt haben mag, läßt sich nicht sagen. Im Vorwort zur 44. Auflage seines Kommentars nennt Tröndle sie „irritierend". So hat sie sich auch zunächst auf eine verunsicherte Rechtsprechung ausgewirkt. Tröndle nahm das zum Anlaß einer vollständigen Neukommentierung des §240 in der 44. Auflage. Sie setzt sich unter Heranziehung der gesamten Rechtsprechung, auch der Untergerichte, sowie des gesamten umfangreichen Schrifttums mit größter Sorgfalt und Uberzeugungskraft mit der Problematik auseinander und untermauert mit Kritik an den vier mit ihrer Meinung nicht durchgedrungenen Verfassungsrichtern den von ihm in Karlsruhe vorgetragenen Standpunkt. Nach dem Erscheinen der 44. Auflage hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluß vom 5.5.1988 38 der Unsicherheit, wie zu hoffen ist, ein Ende gemacht. Mit einer vorzüglichen, von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus-

35 36 37 38

Veröffentlicht als Beitrag zur Lackner-Festschr., 627. RGSt. 45, 153. BVerfGE 73, 206. NJW 1988, 1739.

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gehenden Begründung kommt der Senat zu dem Schluß: „Die Fernziele von Straßenblockierern sind nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen." Damit ist im praktisch wichtigsten Punkt Klarheit geschaffen und ein Eingreifen des Gesetzgebers könnte entbehrlich werden. Es liegt nahe, daß bei dieser verdienstvollen Entscheidung auch Tröndles Vorarbeit hilfreich gewesen ist. Als er sie leistete, war er als Präsident des Landgerichts WaldshutTiengen schon ein paar Jahre im Ruhestand. Der trat am 1. September 1984 ein. Die Verabschiedung fand aber mit Rücksicht auf die gleichzeitige Amtseinführung seines Nachfolgers Brunckhorst, dessen Ernennung sich verzögert hatte, erst am 20. April 1985 in der Waldshuter Stadthalle statt. Es war eine illustre Veranstaltung mit einer großen Zahl von Teilnehmern, darunter viel Prominenz aus Politik und Justiz, aus Behörden und Verbänden, nicht zuletzt auch aus Universitätskreisen. Das Ganze dauerte über drei Stunden. Denn acht Namen standen auf der Rednerliste. Als erster würdigte der baden-württembergische Justizminister Eyrich Persönlichkeit und Verdienste des scheidenden Präsidenten. Ich habe einiges davon bereits zitiert. Der Minister nannte Tröndle „einen der bedeutendsten Strafrechtler der Bundesrepublik" und überreichte ihm am Schluß das vom Bundespräsidenten verliehene Große Verdienstkreuz. Unter den übrigen Rednern waren der Landrat von Waldshut, der Oberbürgermeister und der Präsident der Industrie- und Handelskammer. Für die Universität Freiburg sprach Professor Tiedemann und als Kollege aus der benachbarten Schweiz der Präsident des Obergerichts Schaffhausen, Orgis. Viel Lob wurde über den Jubilar ausgeschüttet, und er hatte viel zu danken. Eingerahmt wurde die Veranstaltung von Darbietungen eines Streichquartetts, in dem Tröndles Sohn Tilmann Violine und sein Sohn Wolfram Viola spielte. Vor dieser großen Feier, die weit über das bei solchen Gelegenheiten übliche Maß hinausging, hatte der scheidende Präsident seine sämtlichen Mitarbeiter, von der Putzfrau bis zu seinem Vertreter als Gäste eines Abschiedsessens in sein Haus eingeladen. Was folgte, kann man tatsächlich nur einen „Unruhestand" nennen. Der Jubilar dichtete schon im Juli 1984 sehr launig: „Ein Mensch, inzwischen 65, denkt nach und merkt: so langsam rächt sich, daß er hienieden Jahr um Jahr - in Hörigkeit dem Kommentar fast alles andre in der Welt dem jus zulieb' hintangestellt. Der Mensch hält ein im Kommentieren, nur kurz zwar, um zu jubilieren, daß er befreit in diesen Tagen

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Eduard Dreher von Amtes Lasten, Bürd' und Plagen und mancher Stunden Zugewinn verwenden kann in seinem Sinn."

Was der „von Amtes Lasten, Bürd' und Plagen" befreite Mann in Wirklichkeit tat, war: er arbeitete weiter, arbeitete unverdrossen und mit derselben Energie. Dabei stand zwar das Juristische im Vordergrund, erhielten der Kommentar und die Freiburger Vorlesungen noch mehr Gewicht, aber auch Vorträge vielerorts, Diskussionen, Zeitungsartikel und anderes mehr zehrten der „Stunden Zugewinn" ganz und gar auf. Tröndles Tatendrang erschöpfte sich aber keineswegs im Juristischen. In der Zeit, als seine Kinder heranwuchsen und noch bei den Eltern waren, hatten die Kammermusikabende im Hause Tröndle einen großen Ruf. Er selbst spielte Cembalo. Aber er betätigt sich auch auf anderen Gebieten. Er eröffnet Ausstellungen ihm nahestehender Künstler und Künstlerinnen. Er hielt und hält Vorträge aller Art, so aus festlichen Anlässen in Waldshut, und zu Jubiläen ihm befreundeter Persönlichkeiten weiß er Tischreden zu halten, die von Esprit sprühen. Ich besitze auch das Manuskript einer großartigen, von Ernst und Humor gemischten Ansprache, die er zum 25jährigen Jubiläum des Neubaus seiner Schule, des Hochrheingymnasiums in Waldshut im September 1983 hielt. So ist der Jubilar ein immer und rastlos Tätiger. Der Hochrhein, das ist die Landschaft, in der der Alemanne Tröndle geboren und verwurzelt ist. Dort lebt er. Aus dieser Landschaft zieht er neue Kraft. Unterbrechungen bedeuten immer nur neue Rückkehr. Der Jubilar hat Waldshut stets die Treue gehalten. Chancen, einen höheren Posten zu erreichen, boten sich ihm verschiedentlich. Aber er hat sie ausgeschlagen. Der Rang eines Mannes von seinem Format mißt sich auch nicht nach Dienstgraden. Wenn ich mir Tröndle vorstelle, so fällt mir oft ein anderer Alemanne ein, Johann Peter Hebel, nicht weit von des Jubilars Geburtsort Albbruck in Basel geboren und Südbaden ein Leben lang aufs tiefste verhaftet. Was bei Hebel hervorsticht, seine menschliche Herzlichkeit, sein warmer Humor, seine Gradheit und das Kernige seines Wesens, das sind auch Eigenschaften, die Tröndle auszeichnen. Er hält ein gastfreies Haus. Er geht gern mit Menschen um. Er ist Rotarier. Aber wie bei Hebel steht hinter all der Liebenswürdigkeit des Alemannen, der auch am Rande Deutschlands weit über alles Provinzielle hinausgewachsen ist, der Ernst der Sache, um die es ihm geht. Tröndle ist - und das hebt ihn aus einer nicht kleinen Zahl intellektuell hochstehender Vertreter seines Faches noch heraus - Jurist aus Leidenschaft. Das Recht bedeutet ihm nicht Beruf, sondern Berufung. Er engagiert sich mit seiner ganzen Persönlichkeit, die Sache, für die er eintritt, ist ihm Herzenssache, die er mit temperamentvoller Leiden-

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schaft vertritt. Sein Kampf gegen die Abtreibungsseuche, sein Nein zu den Sitzblockaden sind signifikante Beispiele, aber auch lediglich Beispiele für den persönlichen Einsatz, der hinter seiner ganzen Arbeit steht. Wenn er für seine Sache streitet, schreckt Tröndle auch nicht vor harten Formulierungen zurück. Gegen die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs erhebt er „Protest", erklärt ihre Auswirkungen für „verheerend". Er wagt sogar den Satz: „Mit dieser Entscheidung hat sich der Senat nicht nur von seiner Schutzpflicht für das ungeborene Leben verabschiedet, sondern in casu wohl auch vom gesunden Menschenverstand39." Von der Leidenschaft des Kampfes für eine Sache, von der er tief durchdrungen ist, daß sie eine gerechte ist, läßt sich der sonst so konziliante Jubilar zu derartigen Formulierungen hinreißen. Auch so etwas findet sich bei dem anderen Alemannen Hebel. Beim Streit um seine Sachen hilft Tröndle auch sein im übrigen glänzender Stil. Er schreibt kraftvoll und plastisch im Fluß klarer Gedankenketten. Bei seiner Grundeinstellung zum Recht konnte es nicht ausbleiben, daß Tröndle nicht nur Richter und Staatsanwalt, nicht nur Kommentator und Hochschullehrer, sondern immer auch Kriminalpolitiker war und ist. Er will das Recht mitgestalten helfen. So hat er sich denn auch verschiedentlich als Rechtspolitiker geäußert. Ich kann hier nur ein paar Titel nennen, die aber schon erkennen lassen, worum es geht: „Vom Fortschritt, der auf der Stelle tritt"; „Stammheim und der Rechtsstaat"; „Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit als Widersacher der Resozialisierung"; „Die Vernachlässigung und die Ausbreitung des Rechtsstaats in unserer Zeit" 40 . Tröndles imponierende Lebensleistung wäre ohne eine besondere Eigenschaft nicht denkbar, die hinter allem Erfolg steht: sein immenser Fleiß. Es ist erstaunlich, wie er all die Aufgaben, die er zum guten Teil sich selbst auferlegt, Aufgaben, die einen Riesenberg von Arbeit bedeuten, unverdrossen bewältigt und sich dabei immer wieder steigert. Nur als Beispiel möchte ich darauf hinweisen, daß Tröndle seine Kommentierung der §§ 1 bis 12 StGB im Leipziger Kommentar von 92 Seiten in der 9. Auflage auf 230 in der 10. Auflage erhöhte und die Erläuterung der §§267 bis 282 von 134 auf 218 Seiten. Hassenpflug, der bei de Gruyter den Leipziger Kommentar und die Juristische Rundschau verlegerisch betreute, nannte Tröndle ein „Phänomen an Schaffenskraft" und Justizminister Eyrich erwähnte in seiner schon mehrfach zitierten Ansprache

Wie Fn. 31, 34, 35. MDR 1975, 617; DRiZ 1975, 327, 403; Die Justiz 1976, 88; Herrenaiber Texte, Bd. 40 (1982), 33. 40

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ein früheres Dienstzeugnis für Tröndle, in dem ihm „organisierter Fleiß" attestiert wurde. Dieses Wort trifft seine Arbeitsweise genau. Es wird geradezu lebendig, wenn man den großen und lichten Arbeitsraum betritt, den sich der Jubilar in der Mansarde seines Hauses eingerichtet hat. Hier, wo alles seine Ordnung hat und nichts herumliegt, wird der organisierte Fleiß des Hausherrn Wirklichkeit. Hier spürt man auch die gediegene handwerkliche Arbeit, die alles auszeichnet, was Tröndle schreibt. Vielleicht ein Erbe seiner Väter. Alles in allem: eine großartige Persönlichkeit. Im Januar 1987 schrieb ich ihm, es dränge sich mir der Gedanke auf, er könnte ein glücklicher Mensch sein. Es würde mich freuen, einen solchen Menschen gefunden zu haben. Er antwortete: „So einfach ist das nicht zu sagen. Unzufrieden bin ich eigentlich nicht - es sei denn, dann und wann, wenn die gebotene Selbstkritik zu Beanstandungen Anlaß hat. Ihre Frage würde ich also bejahen, wenn der Mangel an Unzufriedenheit bereits irdisches Glück ausmacht." Eine bescheidene Antwort. Tröndle lebt in seinem schönen, geschmackvoll und sehr persönlich erbauten und eingerichteten Hause hoch über der Stadt mit Blick auf den Rhein. Seine Gattin ist ihm durch Jahrzehnte, auch durch schwierige Zeiten hindurch, eine getreue Begleiterin seines Weges, herzlich, liebenswürdig und immer tatkräftig, sei es in dem von ihr betreuten blühenden Garten, sei es als praktizierende Homöopathin. Von Tröndles Söhnen ist der eine Richter am Landgericht in Braunschweig, der andere Kammermusiker in Salzburg, die eine Tochter ist Regierungsrätin, die andere Studienrätin. Bemerkenswerte Bilder, von ihrer Hand schmücken auch das Haus in Waldshut. Eine ganze Reihe von Enkeln ist die Freude der Großeltern. So ist Tröndle in seine Familie eingebettet. Er reist viel, mit Vorliebe in die Provence. Erstaunlich ist, wie er das arge Handicap souverän überspielt, das der Krieg ihm zufügte. Ich habe ihn schwimmen, ich habe ihn tanzen gesehen. Einen großen Wagen zu fahren, ist ihm eine Selbstverständlichkeit. Immer ist er heiter und strahlt Lebendigkeit aus. Ich glaube, er ist doch ein glücklicher Mensch.

Grundfragen

Zum Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht HANS JOACHIM HIRSCH

1. Es gibt nur wenige Staaten, in denen der fachliche Kontakt zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung so eng ist wie in der Bundesrepublik. Das gilt gerade auch für den Bereich des Strafrechts. In den höchstrichterlichen Entscheidungen wird das einschlägige wissenschaftliche Schrifttum regelmäßig herangezogen und zitiert. Auf der anderen Seite findet in der wissenschaftlichen Literatur die höchstrichterliche Judikatur eingehende Beachtung. Dieser zwischen Theorie und Praxis geführte Dialog hat begünstigt, daß bei der Mehrheit der zu lösenden Probleme ein Konsens festzustellen ist. Aber es ist gleichwohl nicht zu übersehen, daß durchaus zentrale Punkte kontrovers sind und die Fälle zunehmen, in denen Gegensätze zwischen Wissenschaft und Rechtspflege aufeinander prallen. Im folgenden soll versucht werden, die Ursachen dieser fachlichen Spannungen mit dem Blick auf einige besonders hervortretende aktuelle Strafrechtsprobleme aufzuzeigen. Bei diesen Problemkreisen geht es sowohl um solche, die erst neuerdings Aktualität gewonnen haben, als auch um solche von anhaltender Aktualität. 2. Im Vordergrund des Interesses stehen im materiellrechtlichen Bereich in letzter Zeit drei Probleme: die Sitzblockaden, die verfassungskonforme Auslegung der Mordstrafbestimmung und die ärztliche Sterbehilfe. a) In einem von der Öffentlichkeit stark beachteten Beschluß hat der BGH kürzlich erneut zur strafrechtlichen Beurteilung von Sitzblockaden Stellung genommen 1 . Er bestätigt die von ihm seit dem 1969 ergangenen Laepple-Urteil vertretene Auffassung 2 , daß ein solches Verhalten eine durch Gewalt begangene Nötigung im Sinne des Nötigungstatbestands §240 StGB sei. Während einige Oberlandesgerichte aber 1 2

BGH NJW 1988, 1739. BGHSt. 23, 46, 53 f. und dem folgend BGHSt.32, 165, 180 f.

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bisher meinten, daß die Verwerflichkeitsklausel des Absatzes 2 eine Eingrenzung der Strafbarkeit in concreto durch Berücksichtigung von achtenswerten Fernzielen möglich mache 3 , heißt es jetzt: auf Fernziele komme es nicht an; eine Sitzblockade sei daher, weil auf das Nahziel einer Verkehrsbehinderung gerichtet, nach § 240 Abs. 2 StGB verwerflich und damit rechtswidrig und strafbar, es sei denn, daß es sich um einen Fall geringer Behinderung handele. Dieser jüngste Beschluß ist in der Öffentlichkeit je nach politischem Standort positiv oder negativ aufgenommen worden. Die Äußerungen lauten von der beifälligen Schlagzeile „Bundesgerichtshof schafft Klarheit bei den Sitzblockaden" 4 bis zu abfälligen Bemerkungen wie „Fortsetzung der traurigen Tradition deutscher Rechtsprechung seit der Weimarer Republik" und „Erschreckender Rückfall in den Obrigkeitsstaat" 5 . Bei allem menschlichen Verständnis für solche politischen Meinungsbekundungen führen sie bei den hier anzustellenden Überlegungen jedoch nicht weiter. Es geht vorliegend allein darum, wie die rechtliche Beurteilung der Sitzblockaden sich nach geltendem Strafrecht darstellt, und das ist keine Frage der politischen Gesinnung, sondern es richtet sich nach Maßstäben der Jurisprudenz. In diesem Zusammenhang sollte man auch registrieren, daß die von Theoretikern erhobene massive Kritik an der Rechtsprechung keineswegs nur aus einem politischen Lager kommt. Vielmehr stammt sie überwiegend von rein wissenschaftlich motivierten Autoren 6 , wie sich auch daran zeigt, daß gegen ein Einschreiten des Gesetzgebers zumeist keine Einwände erhoben werden63. Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Praxis ist deshalb hier der zwischen Lösungen de lege lata und de lege ferenda. Die von seiten der Wissenschaft erhobene Kritik bezieht sich bereits auf die Bejahung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt", und dort liegt auch der Kern der ganzen Problematik. In der BGH-Rechtsprechung seit dem Laepple-Urteil, das den Protest gegen Fahrpreiserhöhungen durch Sitzblockaden auf Straßenbahnschienen in der Kölner Innenstadt betraf, wird für „Gewalt" als genügend

3 OLG Köln NJW 1986, 2443; OLG Düsseldorf MDR 1987, 692; NStZ 1987, 368; OLG Oldenburg StV 1987, 489; OLG Zweibrücken NJW 1988, 716. 4 FAZ v. 17.5.1988, S. 12. 5 Vgl. Erklärungen des Koordinierungsausschusses der „Friedensbewegung", in: FAZ v. 16.5.1988, S. 4, bzw. der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, in: Kölner Stadt-Anzeiger v. 19.5.1988, S.5. 6 So die meisten der 28 Strafrechtslehrer, die sich in einer Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht für die Verfassungswidrigkeit ausgesprochen haben, darunter Geerds, Arthur Kaufmann, Roxin, H.-L. Schreiber und Wessels. 61 Vgl. etwa den Gesetzesvorschlag zu §240 StGB von Baumann, ZRP 1987, 265, 266. Teilweise wird auch eine Regelung im Ordnungswidrigkeitenrecht favorisiert.

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angesehen, daß der Täter durch den im Hinsetzen bestehenden geringen körperlichen Kraftaufwand einen lediglich psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt und dadurch einen unwiderstehlichen Zwang auf den betroffenen Fahrer ausübt, nämlich anhalten zu müssen, weil er sonst einen Totschlag begehen würde7. Dieser Auffassung wird von großen Teilen des Schrifttums entgegengehalten, daß sie den Gewaltbegriff des StGB auflöse8. Man weist darauf hin, daß herkömmlich unter Gewalt im Sinne des StGB die Anwendung nicht unerheblicher körperlicher Kraft zur Beseitigung eines Widerstands verstanden worden ist. Dieser Gewaltbegriff ist von der Praxis bekanntlich zunächst dadurch erweitert worden, daß sie auf das Erfordernis der erheblichen körperlichen Kraftentfaltung verzichtete und statt dessen die unmittelbare körperliche Zwangswirkung beim Opfer genügen ließ9. Die weitere Expansion lag dann in der Einbeziehung lediglich psychisch vermittelten unwiderstehlichen Zwangs10. In der Sitzdemonstrationen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird von der diese Ausweitung als verfassungsrechtlich unbedenklich ansehenden Hälfte des Senats angeführt", daß das Wort „Gewalt" auch sprachlich einen breiten Anwendungsraum habe: Dieser umfasse auch allgemein ein unrechtmäßiges Vorgehen, durch das ein anderer zu etwas gezwungen werde. Gewalt lasse sich daher in §240 StGB als gegenwärtige Zufügung eines empfindlichen Übels verstehen, während es bei der Drohungsalternative um die Androhung eines künftigen empfindlichen Übels gehe. Es handelt sich jedoch bei der zur Erörterung stehenden Frage nicht darum, was sich nach etymologischen Wörterbüchern alles mit dem Wort „Gewalt" bezeichnen läßt. Niemand würde beim Tatbestand der Freiheitsberaubung auf den Gedanken kommen, das Wort „Freiheit" in allen seinen Bedeutungen erfassen zu wollen. Entscheidend ist vielmehr, BGHSt. 23, 46, 54. Vgl. Geilen, H. Mayer-Festschrift, 1966, S.445; Callies, Der Begriff der Gewalt im Systemzusammenhang der Straftatbestände, 1974; Müller-Dietz, GA 1974, 33; Krey, JuS 1974, 418; ders., Was ist Gewalt?, 1988, S. 19; Schmidhausen Strafrecht, Bes.Teil, 2. Aufl. 1983, S. 47f.; Krauß, NJW 1984, 905; Wolter, NStZ 1985, 193. Anders Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 23. Aufl. 1988, Vor §234 Rdn. 6ff.; Dreher/Tröndle, StGB, 44. Aufl. 1988, §240 Rdn. 12 mit weit. Nachw. 9 Vgl. BGHSt. 1, 145, wo es darum ging, daß auch andere Naturkräfte als die Muskelkraft ausreichend sein können, z . B . chemische Stoffe oder elektrischer Strom. Hierbei befand sich die Rspr. noch in Einklang mit dem Schrifttum, vgl. die Nachw. in der Entscheidung S. 148. 10 Zur Entwicklung des Gewaltbegriffs in der Rspr. vgl. die Darstellungen bei Blei, JA 1970, 19, 77, 141; v. Heintschel-Heinegg, Die Gewalt als Nötigungsmittel im Strafrecht, 1975, S.32ff.; Keller, JuS 1984, 109; Schäfer, LK, 10. Aufl. 1986, §240 Rdn.7ff. " BVerfGE 73, 206, 242 f. 7 8

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welchen Bedeutungsgehalt ein Wort nach dem Zusammenhang hat, in dem es in einer Vorschrift und darüber hinaus sonst im S t G B verwandt wird. Mit Recht wird von seiten der Wissenschaft deshalb auf folgendes hingewiesen: Wenn man das Ingangsetzen eines psychisch determinierten Prozesses, der zu einer unwiderstehlichen Zwangswirkung beim Adressaten führt, genügen läßt, so wird die Abgrenzung zwischen den Nötigungsmitteln Gewalt und Drohung mit einem empfindlichen Übel verwischt. Die Drohungsalternative würde im wesentlichen zu einem bloßen Unterfall der Gewalt. Dies aber entspricht offensichtlich nicht dem Gesetz. Wie der Wortlaut unmißverständlich zeigt, stellt § 2 4 0 S t G B nicht jede Zwangseinwirkung auf die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit unter Strafe, sondern beschränkt sich auf zwei bedeutsame Zwangsmittel: die Gewalt und die Drohung mit einem empfindlichen Übel 1 2 , 1 3 . Die erwähnte Annahme, Gewalt lasse sich als gegenwärtige Zufügung eines Übels von der Drohung als Inaussichtstellen eines künftigen Übels abheben, vermag diesen Einwand nicht auszuräumen. Denn bei Abstellen auf die psychische Zwangswirkung ist die Androhung schon selbst eine Übelszufügung. Außerdem ist die Gegenüberstellung auch deshalb verfehlt, weil nicht jedes Übel, das als Drohungsinhalt Nötigungsrelevanz haben kann, dies auch bei gegenwärtiger Realisierung haben muß. Daß ein Personalchef einer Angestellten androht, von einem bestehenden Kündigungsrecht Gebrauch zu machen, falls sie sich ihm nicht sexuell hingebe, ist Nötigung. Daß ein bestehendes Kündigungsrecht ausgeübt wird, dagegen offensichtlich nicht. Der juristische Grund hierfür liegt darin, daß die Nötigung ein Willensbeugungsdelikt ist und deshalb die Tatmittel zum Zwecke der Willensbeeinflussung dienen müssen. Daran fehlt es jedoch zumeist bei der Zufügung eines gegenwärtigen Übels, weil dieses den Betroffenen bereits vor vollendete Tatsachen stellt, die er nur noch als schon eingetreten zur Kenntnis nehmen kann 14 . Die Unvereinbarkeit der Gewaltrechtsprechung mit dem Gesetz zeigt sich auch überall dort, wo das S t G B qualifizierte Drohungsinhalte verlangt. So wird in einigen Strafbestimmungen Drohung mit Gewalt

12 Daß „Gewalt" dabei nicht jeden gegenwärtigen Zwang meint, zeigt sich auch daran, daß das Tatbestandsmerkmal „nötigt" die Bedeutung von „zwingen" hat und sich deshalb andernfalls die merkwürdige Konsequenz ergeben würde, daß das Gesetz lautet: „Wer durch Zwang zwingt". 13 Entgegen Eser ([Fn. 8], Vor §234 Rdn. 16 f.) spricht die Begehungsform der vis compulsiva nicht dafür, daß beim Gewaltbegriff das Ingangsetzen eines psychisch determinierten Prozesses genügen kann. Im Unterschied zur Drohungsalternative geht es doch bei ihr primär um eine unmittelbare Körpereinwirkung. 14 Vgl. im einzelnen Geilen (Fn. 8), S. 463 ff.

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gefordert 15 . Wenn jedoch die Begriffe „Gewalt" und „empfindliches Übel" identisch sein sollen, dann geht die dort beabsichtigte Einschränkung ins Leere. Ebenso versagt der erweiterte Gewaltbegriff dort, wo der Tatbestand neben der Gewalt gegen die Person die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben stellt. Die Gewaltalternative würde dann nämlich nicht mehr in Relation zu den qualifizierten Anforderungen der Drohungsalternative stehen16. Der B G H sah sich deshalb bereits gezwungen, beim Tatbestand der Vergewaltigung eine engere Auffassung zu vertreten und damit von einem unterschiedlichen Gewaltbegriff im StGB auszugehen 17 . Die für die BGH-Rechtsprechung zu §240 StGB gelegentlich angeführte Sargträger-Entscheidung des Reichsgerichts 18 ist demgegenüber unergiebig. Sie betraf nicht § 240, sondern den Tatbestand des Landfriedensbruchs, und es handelte sich in dem Fall um eine Menschenmenge, die nicht lediglich Passivität dokumentierte, sondern von der die Bedrohung mit einer Gewalttätigkeit ausging. D a der § 125 StGB diese Begehungsform damals noch nicht enthielt, versuchte das Reichsgericht, sie mit unter das Merkmal Gewalttätigkeit dieses Tatbestands zu subsumieren. Daß das rechtlich unhaltbar war, ist nicht nur im damaligen Schrifttum, etwa durch Reinhard Frank19, gerügt worden, sondern wird auch im Laepple-Urteil des B G H ausdrücklich vermerkt 20 . Uber die gesetzessystematischen Einwände hinaus ist anzuführen, daß die Aufweichung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs auf seine Verniedlichung hinausläuft und damit letztlich das Gegenteil dessen bewirkt, was die Rechtsprechung intendiert. Gewalt im strafrechtlichen Sinne ist dann ja nicht mehr nur in ausnahmsweisen Rechtfertigungsfällen, wie etwa Notwehr oder zulässigen Festnahmen, gestattet. Es gibt dann vielmehr auch sozialkonforme Gewalt, nämlich psychische Zwangswirkung bezweckende Übelszufügungen, die nicht verwerflich sind. Wie sich in der Judikatur alsbald gezeigt hat, wird deshalb §240 Abs. 2 StGB, der

15 Vgl. §§105, 107, 113 (Drohung mit Gewalt), §125 (Bedrohung mit Gewalttätigkeit), §§177, 178, 249, 252, 255 (Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben), § 2 3 9 b (Drohung mit dem T o d e oder einer schweren Körperverletzung) und §241 (Bedrohung mit der Begehung eines Verbrechens). 16 Siehe schon Geilen (Fn. 8), S. 459. Nicht weiterführend ist deshalb auch der historische Hinweis von Jakobs ( H . Kaufmann-Gedächtnisschrift, 1986, S. 791) auf den weit verstandenen Gewaltbegriff des früheren crimen vis. 17 Vgl. B G H N J W 1981, 2204. Danach soll nicht in jedem Einschließen oder ähnlicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit einer Frau bereits Anwendung von Gewalt i . S . d . § 1 7 7 S t G B liegen. 18 R G S t . 45, 153. 19 S t G B , 18. Aufl. 1931, §124 A n m . I 2. 20 B G H S t . 23, 46, 53.

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1943 wegen der vom damaligen Gesetzgeber zu weit gefaßten Drohungsalternative eingeführt worden ist und die rechtsstaatlich fragwürdigste Regelung im StGB bildet21, nun auch für die Gewaltalternative des § 240 Abs. 1 bedeutsam. Das läuft darauf hinaus, daß auf die Instanzrichter, zumeist einen Amtsrichter, die Aufgabe abgewälzt wird, zwischen verwerflicher und nicht verwerflicher Gewalt zu selektieren. Zu welch verheerenden Konsequenzen dies führt, ist durch die Vielzahl divergierender amtsrichterlicher Entscheidungen zu den Sitzblockaden schnell zutage getreten22. Daß der BGH in seinem jüngsten Beschluß23 bemüht ist, die Rechtssicherheit wiederherzustellen, ist insoweit verständlich; nur ist man erst einmal bei Absatz 2 angelangt, so gerät die dann vom Richter zu treffende Entscheidung über die Verwerflichkeit zwangsläufig in die politische Auseinandersetzung. Das um so mehr, als die These des BGH, Fernziele seien für Absatz 2 unerheblich, nicht überzeugend ist24. Ob die Nötigung bei Zugrundelegung eines weiten Gewaltbegriffs als verwerflich, nämlich sozialethisch unerträglich, anzusehen ist, läßt sich - ebenso wie bei der Drohungsalternative - nur unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände bestimmen. Zu ihnen gehört auch das „Warum" des Handelns, weshalb sich der in Absatz 2 erwähnte Zweck nicht ohne Einbeziehung der Fernziele bestimmen läßt. Dies leuchtet sofort ein, wenn man an den Fall denkt, daß Polizisten die Zufahrt zu einer öffentlichen Deponie sperren, weil die Gefahr einer Verseuchung und damit des Ausbruchs einer etwaigen Epidemie besteht. Stellt man nur auf das Nahziel der Verhinderung des Weiterfahrens ab, so ergibt sich, daß dieses Verhalten ebenso wie Sitzblockaden von vornherein verwerflich sein müßte. Berücksichtigt man dagegen das Fernziel, andere Personen vor Gesundheitsschäden zu bewahren, dann ergibt sich das zutreffende Ergebnis. Umgekehrt läßt sich auch ein eindeutig negatives Fernziel nicht ausklammern, etwa bei der Blockierung des Verkehrs, auch nur für kürzere Zeit, um die Begehung einer Straftat zu ermöglichen. Der Richter kommt deshalb, wenn er die Verwerflichkeitsfrage zu

21 Vgl. schon die verfassungsrechtlichen Bedenken bei H. Mayer, Strafrecht, Allg. Teil, 1953, S. 86; Welzel, Niederschriften VI, S . 2 7 9 f . ; ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.327; Schaffstein, Z S t W 7 2 (1960), 369, 377; Hirsch, Z S t W 7 4 (1962), 78, 124. 22 Von den veröffentlichten Entscheidungen den §240 StGB bejahend: A G Schwäbisch Gmünd N J W 1985, 2 1 1 ; 1986, 2445; A G Schwandorf NStZ 1986, 461; verneinend: A G Erlangen StV 1984, 28; A G Frankfurt StV 1983, 374; 1985, 61, 373, 462; A G Nürnberg StV 1984, 29; A G Reutlingen NStZ 1984, 508; A G Münster N J W 1985, 213. 23 BGH N J W 1988, 1739. 24 So mit Recht LG Bad Kreuznach N J W 1988, 2624, 2627 ff.; Arthur Kaufmann, N J W 1988, 2581, 2583 f.; Roggemann, JZ 1988, 1108 f.; zweifelnd auch Arzt, JZ 1988, 775, 777.

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entscheiden hat, nicht daran vorbei, darüber zu befinden, ob das betreffende Verhalten ein in unserer Rechtsordnung angemessenes Mittel bildet, um das jeweilige Fernziel zu verfolgen 25 . Bedenkt man schließlich, daß Sitzblockaden, also versperrendes passives Verhalten, seit Mahatma Ghandi als klassische Formen gewaltlosen Widerstands gelten, dann fragt man sich am Ende doch, ob der B G H mit seiner Judikatur nicht auch den Boden der deutschen Sprache verlassen hat. Aus allen diesen Gründen findet sich die wissenschaftliche Auffassung bestätigt, daß es einer selbständigen tatbestandlichen Vertypung bedarf, wenn solche Verhaltensweisen pönalisiert sein sollen. Man wird der höchstrichterlichen Rechtsprechung indes nicht entgegenhalten können, diese Schwierigkeiten würden von ihr nicht gesehen. Die Probleme, in die sie beim Vergewaltigungstatbestand und bei § 2 4 0 Abs. 2 StGB geraten ist, haben spätestens bewußt gemacht, welche Fußangeln auf dem von ihr beschrittenen Weg ausgelegt sind. In Fällen, in denen die praktischen Bedürfnisse in eine andere Richtung zu weisen scheinen als die Argumente der Theorie, drängt sich aus der Sicht der Praxis jedoch leicht der Einwand auf: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis". Nun, der Einwand ist so alt wie der Gegensatz von Theorie und Praxis überhaupt 26 . Die klassische Antwort hat Kant in seiner Abhandlung über diesen Gemeinspruch gegeben. Er führte dort 27 aus: Daß eine Theorie ergänzungsbedürftig sein, das heißt noch weiterer theoretischer Sätze bedürfen kann, um für die Praxis hinreichend zu sein, das ist jederzeit möglich. Daß sie aber als Theorie gültig und gleichwohl mit den Erfordernissen der Praxis, so wie sie die Erfahrung lehrt, im Widerspruch sein könnte, das ist eine Behauptung, durch die entweder die Theorie oder die Praxis aller Beziehung auf mögliche wahre Aussagen überhaupt beraubt werden würde. „Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis." Die Sitzblockaden-Entscheidungen vermitteln den Eindruck, den es anschließend noch bei einigen anderen Problemkreisen auf seine Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu prüfen gilt, daß in der höchstrichterlichen

2 5 Andernfalls würde man trotz des zugrundegelegten weiten Gewaltbegriffs doch zur unrechtsindizierenden Wirkung der Gewaltalternative des § 2 4 0 Abs. 1 StGB gelangen. Daß das verfassungswidrig wäre, war übereinstimmende Ansicht in B V e r f G E 73, 206, 247. 2 6 Man hat sich bereits im Altertum mit ihm befaßt. So vertrat Piaton die Auffassung, daß nur das harmonische Zusammenspiel von Theorie und Praxis zum W o h l des Staates und der Bürger beitragen könne (Der Staat, 473 c - d ) . Auch hat der Redner Isokrates den Athener Richtern vorgeworfen, daß bei den Gerichten der Ausgang eines Prozesses oft im Widerspruch zur Lehre und Meinung stehe (Gegenklage gegen Kallimachos, § 9). 2 7 Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793 (neu hrsgg. von J. Ebbinghaus, 1968), S.7, 23 f., 68.

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Strafjustiz ein unausgesprochenes Leitmotiv besteht: Es ergebe sich aus der sozialen Ordnungsaufgabe des Gerichts, daß es sich dieser in keinem Fall entziehen dürfe. Aus einem solchen Verantwortungsgefühl resultiert dann leicht das Bestreben, daß Verhaltensweisen, die dem Gericht strafwürdig erscheinen und sich noch irgendwie unter Worte in einer Strafvorschrift pressen lassen, auch unter sie subsumiert werden. Eine derartige Vorstellung läßt übrigens auch der Göttinger Offentlichrechtler Starck in seiner Besprechung zu der zu §240 StGB ergangenen Patt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkennen 28 . Er bezeichnet es nämlich als „erstaunlich", daß die gegen die Verfassungsmäßigkeit votierende Senatshälfte zwar eine Strafbarkeit der in Frage stehenden Fälle als mit der Verfassung vereinbar ansieht, die Subsumtion unter den Gewaltbegriff des geltenden §240 aber gleichwohl als verfassungswidrig erachtet. Die fragmentarische Natur des Strafrechts und die dahinterstehende rechtsstaatliche Garantie der Tatbestandsbestimmtheit geraten bei einer solchen Sichtweise jedoch aus dem Blick. Es besteht nun einmal aus guten Gründen ein fundamentaler Unterschied zwischen außerstrafrechtlicher und strafrechtlicher Rechtsanwendung. Das Füllen von Gesetzeslücken, wie es etwa in Art. 1 des Schweizer Zivilgesetzbuchs dem Zivilrichter aufgegeben wird, ist dem Strafrichter hinsichtlich der Erweiterung der Strafbarkeit verwehrt. Wenn man wie der B G H hier deshalb die strafrechtlichen Begriffe überdehnt, so unterläuft man diese Verschiedenheit nicht nur, sondern bringt zudem das Gesamtgefüge des StGB durcheinander. Hinzu kommt bei solchen Entwicklungen der Rechtsprechung, daß der Gesamtzusammenhang eines Problems, vor allem bei der die Weiche stellenden ersten Entscheidung, leicht wegen der Fixierung auf den konkreten Fall nicht hinreichend beachtet wird. Auch scheint ein mangelndes Zutrauen zum Gesetzgeber eine Rolle zu spielen - ein Punkt, der schon bei der bedenklichen Anwendung des §34 StGB auf hoheitliche Eingriffe hervorgetreten ist 29 . Es ist der Zweifel, ob der Gesetzgeber überhaupt oder in angemessener Zeit eine Regelung schaffen kann. Dieser Zweifel ist von Politikern wiederholt genährt worden, und einige haben die jüngste Sitzblockaden-Entscheidung des B G H sogar dazu benutzt, um mit Erleichterung die Notwendigkeit eines Tätigwerdens des Gesetzgebers zu verneinen 30 . Wer auf die Grenzen strafrichterlicher Kompetenz hinweist, muß mit dem Vorwurf

J Z 1987, 145, 147. Vgl. BGHSt. 27, 260; 31, 304, 307; O L G München NJW 1972, 2275. Näher dazu Hirsch, L K , 10. Aufl. 1984, §34 Rdn.6ff. mit weit. Nachw. 30 Zu letzterem vgl. F A Z v. 17.5.1988, S. 3. Obwohl immerhin im Bundesverfassungsgericht die eine Senatshälfte Verfassungswidrigkeit des geltenden §240 StGB angenommen hat, sieht auch der Deutsche Richterbund keinen gesetzgeberischen Handlungs28

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rechnen: Fiat iustitia, et pereat mundus. Aber sind wir denn schon wieder so weit wie in den letzten Jahren der Weimarer Republik, daß die gesetzgebenden Organe nicht mehr funktionsfähig sind? Das wäre doch erst einmal auf die Probe zu stellen! Denkt man an die zahlreichen Strafprozeßnovellen, die wegen der Terrorismusszene geschaffen worden sind, so zeigt sich, daß der Gesetzgeber durchaus reagieren kann, wenn er in Zugzwang gerät. Auch das Argument, ein in der Zwischenzeit bestehender straffreier Zustand sei sozial unerträglich, verfängt nicht. Denn es geht hier lediglich um den Grad der rechtlichen Reaktion. Polizeirechtliche, ordnungswidrigkeitenrechtliche (wegen Verkehrsbehinderung) und ggf. schadensersatzrechtliche Möglichkeiten bestehen ohnehin31. Daß existente Rechtsnormen nicht angewandt oder ausgeschöpft werden, liegt auf einer anderen Ebene und trifft auf Strafvorschriften ebenso zu. Die Vorstellung, der B G H habe in einer Art von Regelungsnotstand handeln müssen, ist daher bereits in tatsächlicher Hinsicht irrig. Der Gerichtshof hat mit seinen Entscheidungen zu den Sitzblockaden vielmehr der Strafrechtsordnung keinen guten Dienst erwiesen. b) Sehr deutlich tritt das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis auch bei der verfassungskonformen Auslegung der Mordstraföestimmung §211 StGB zutage. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bekanntlich unter der Voraussetzung bejaht, daß §211 StGB hinsichtlich der Mordmerkmale der Heimtücke und der zur Verdeckung einer anderen Straftat begangenen Tötung restriktiv am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgelegt wird32. Die Forderung, den § 211 insoweit enger zu interpretieren, als es bis dahin in der Strafjustiz geschah, entsprach der seit langem überwiegend im Schrifttum vertretenen Auffassung33. Nach Aufzählung der in der Literatur vorhandenen verschiedenen Vorschläge für eine Einschränkung dieser Merkmale überließ das Bundesverfassungsgericht den im einzelnen zu beschreitenden Lösungsweg dem B G H als dem für die einfache Gesetzesauslegung von Strafrechtsnormen letztlich zuständigen Gericht.

bedarf (vgl. DRiZ 1988, 385), und der Bundesminister der Justiz hält die im früheren Referentenentwurf vorgesehene Änderung des § 240 StGB nunmehr für überflüssig (Interview im WDR-Hörfunk v. 18.10.1988). 31 In polizeirechtlicher Hinsicht kann sich eine Störung der öffentlichen Ordnung auch aus der Beeinträchtigung des Gemeingebrauchs ergeben. 32 BVerfGE 45, 187. 33 Vgl. Jescheck, JZ 1957, 386; Scbwalm, MDR 1957, 260; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 138 ff.; Kohlrausch/Lange, StGB , 43. Aufl. 1961, §§211/212 Anm. VIII5; Schaffstein, H. Mayer-Festschrift, 1966, S.419, 423 ff.; Welzel, Lb. (Fn.21), S.283; u.a.

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Bekanntlich hat sich der Große Strafsenat des B G H 3 4 in einem Fall, in dem es um das Vorliegen heimtückischer Begehung ging, dann gegen eine restriktive Auslegung dieses Mordmerkmals ausgesprochen und sich statt dessen für eine bis dahin unbekannte Rechtsfolgenlösung entschieden. Danach soll bei außergewöhnlichen entlastenden Umständen, durch die die Schuld so gemindert ist, daß die lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäßig sein würde, eine Strafmilderung nach dem Strafrahmenschlüssel des § 49 Nr. 1 S t G B erfolgen. Diese Lösung bedeutet, daß in den fraglichen Fällen weiterhin wegen Mordes verurteilt wird, an die Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe aber ein Strafrahmen treten kann, der bis zu nur 3 Jahren Freiheitsstrafe heruntergeht. Die Konstruktion ist teilweise sehr scharf kritisiert worden 35 . Dabei wird, wie gesagt, nicht die Notwendigkeit einer Einschränkung des § 2 1 1 S t G B bestritten, sondern es geht um den vom B G H gewählten Lösungsweg. Man erhebt den Vorwurf, der Große Senat habe die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung überschritten. In der Tat war der B G H nach allgemeinen strafrechtlichen Auslegungsgrundsätzen nur befugt, eine sich im Rahmen des Wortlauts des §211 haltende restriktive Auslegung der Vorschrift vorzunehmen. Diese ist hermeneutisch möglich hinsichtlich der von der Rechtsprechung im Gegensatz zur Wissenschaft weit interpretierten fraglichen Mordmerkmale, also namentlich der Heimtücke. Dagegen ist § 2 1 1 bezüglich der Rechtsfolge ganz eindeutig, so daß insoweit von vornherein überhaupt keine Interpretation in Frage kommt. Die Auswirkungen, die es für die Strafrechts- und Verfassungsordnung haben würde, wenn ordentliche Gerichte die Befugnis hätten, gesetzlich eindeutige Strafdrohungsregelungen unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbst außer Kraft zu setzen, wären verheerend 36 . Darüber hinaus beruht das bei §211 entstandene Verhältnismäßigkeitsproblem doch gerade darauf, daß Rechtsfolgenvoraussetzungen, insbesondere das Tatbestandsmerkmal „heimtückisch", zu weit interpretiert worden sind. Wenn man die Korrektur erst bei der Strafzumessung vornimmt, werden die Täter daher zu Unrecht als Mordtäter eingestuft und stigmatisiert. Andererseits wird durch diese Rechtsfolgenlösung die Mindeststrafe für Mord erheblich unter die des Totschlags abgesenkt. Bedenkt man, daß es bei der Problematik immer nur um die

BGHSt. (GS) 30, 105. Vgl. Bruns, J R 1981, 358; den., Kleinknecht-Festschrift, 1985, S.49; Dreherl Tröndle (Fn. 8), §211 Rdn. 17; Günther, NJW 1982, 353; Spendet, J R 1983, 269. 36 Darauf weist insbesondere Bruns (Kleinknecht-Festschrift, S. 57 ff.) hin. Die rechtlichen Bedenken gegenüber einer solchen „Gesetzeskorrektur durch Richterspruch" lassen sich auch nicht damit überwinden, daß man deren Zulässigkeit „bedenkenlos" bejaht; so aber Frommel, StV 1982, 533; dazu treffend Bruns, a . a . O . , S.55f. 34

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Alternative „Mord oder Totschlag" gegangen war, so ist auch dies eine überraschende Konsequenz. Legt man sich nun auch hier die Frage vor, wie es zu diesem Gegensatz zwischen Praxis und Wissenschaft kommen konnte, so ergibt sich aus den Gründen des Plenarbeschlusses, daß man den von einer wissenschaftlichen Richtung vertretenen Einschränkungsgesichtspunkt der besonderen Verwerflichkeit mit Recht als zu unscharf für eine Tatbestandslösung angesehen hat, das von einer anderen Richtung aufgestellte Kriterium des Bruchs eines besonderen Vertrauensverhältnisses aber als zu stark limitierend erachtete. Die Rechtsfolgenlösung versprach dagegen Flexibilität ohne Verstoß gegen das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit. Daß man beim Einschlagen dieses Weges die Grenzen strafrichterlicher Kompetenz übersah, mag damit zusammenhängen, daß dem Großen Strafsenat die Kontinuität eines ständigen Spruchkörpers fehlt. Das Ergebnis ist im übrigen: In der heutigen Praxis werden die Voraussetzungen der Rechtsfolgenlösung so eng interpretiert, daß die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, den §211 StGB hinsichtlich der Heimtücke restriktiv zu handhaben, nur geringe praktische Bedeutung erlangt hat37. Im Hintergrund der ganzen Problematik steht wieder, daß die betreffende Strafbestimmung reformbedürftig ist38, der Gesetzgeber sich aber zurückhält. Andererseits wäre es hier möglich gewesen, die Tatbestandslösung, etwa durch eine schärfere Konturierung des im Merkmal „Heimtücke" enthaltenen Gesichtspunkts der Tücke, selbst zu finden - woran bis zu dem Plenarbeschluß auch niemand gezweifelt hatte. c) Ein zentrales Streitthema zwischen Theorie und Praxis bildete in jüngster Zeit auch die strafrechtliche Beurteilung der passiven ärztlichen Sterbehilfe. In dem im Jahre 1984 entschiedenen Fall Dr. Wittig setzte sich der 3. Strafsenat des BGH 3 9 in Gegensatz zum Meinungsstand der Wissenschaft, obwohl sich das Schrifttum zuvor besonders intensiv mit diesem Themenkreis befaßt hatte40. Es ging um die Frage, wie das Verhalten eines Hausarztes zu bewerten ist, der seine an hochgradigen Altersbeschwerden leidende, betagte Patientin ihrem - auch noch auf

Vgl. B G H N J W 1983, 54; N S t Z 1982, 6 9 ; 1983, 553; 1984, 20. Siehe schon die Erörterung auf dem 5 3 . D J T (1980). Die strafrechtliche Abteilung des D J T hielt die Straftatbestände für Mord, Totschlag und Kindestötung für reformbedürftig und empfahl, die Mängel des geltenden Rechts durch eine grundlegende Reform zu beheben („große Lösung"). Als Leitprinzip für höchststrafwürdige Fälle sei auf die besonders gefährliche Einstellung gegenüber Leib und Leben abzuheben („Gefährlichkeitslösung"). Vgl. Verhandlungen des 53. D J T 1980, M 163 ff. 3 9 B G H S t . 32, 367. 4 0 Vgl. die Nachweise bei Hirsch, Lackner-Festschrift, 1987, S . 5 9 7 , 599 Anm. 15. 37 38

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einem von ihm vorgefundenen Zettel schriftlich bestätigten - Todeswunsch gemäß sterben läßt, als er sie nach in Selbstmordabsicht erfolgter Einnahme einer Uberdosis Schlafmittel bewußtlos auffindet und eine schwere Dauerschädigung im Fall der Rettung erwartet. Der 3. Strafsenat vertrat die Ansicht, daß keine von vornherein straflose bloße Beihilfe (durch Unterlassen) zum Selbstmord vorliege, sondern eine von einem Garanten begangene Tötung auf Verlangen nach §216 StGB durch Unterlassen. Der Erfolgsabwendungspflicht des Arztes stehe der vor Eintritt der Bewußtlosigkeit erklärte Sterbewunsch der Patientin nicht entgegen. O b der Arzt in solcher Situation gleichwohl straflos sein könne, hänge vielmehr allein davon ab, ob im Einzelfall dessen Gewissensentscheidung von Rechts wegen als nicht unvertretbar anzusehen sei. Auch wenn man berücksichtigt, daß der Sachverhalt einen Suizidpatienten betraf und deshalb einige rechtliche Sonderprobleme aufwarf, stand die Ansicht, daß der Tatbestand des §216 StGB erfüllt und die Straflosigkeit sich erst mit Rücksicht auf einen Gewissenskonflikt des Arztes ergebe, in klarem Gegensatz zur im Schrifttum herrschenden, aus dem Gesetz deduzierten Rechtsauffassung. Den Senat leitete dabei offenbar die Sorge, diese lasse sozialethische Belange der Rechtsgemeinschaft außer acht und sei zu liberalistisch41. Die Begründung des Urteils stieß nicht nur auf Kritik bei Strafrechtstheoretikern42, sondern löste darüber hinaus einen Sturm der Ablehnung bei der Ärzteschaft und in weiten Kreisen der Öffentlichkeit aus. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat dann auch schnell reagiert. Inzwischen hat sich der 2. Strafsenat des B G H in einem 1987 ergangenen Beschluß 43 , durch den die Verurteilung eines Arztes aufgehoben wurde, von den Rechtsausführungen der Wittig-Entscheidung distanziert und ausgeführt: Es genügt, wenn feststeht, daß der Suizident den Selbsttötungsentschluß ernsthaft und frei verantwortlich gefaßt hat und demgemäß nicht mit einer Verhinderung des von ihm erstrebten Todes einverstanden ist. Darüber hinaus dürfte der sehr eingehend begründete Beschluß des O L G München im Prof. Hackethal-Fall 44 dazu beitragen, daß die geltende Rechtslage, nach der auch die aktive Teilnahme des behandelnden Arztes am

41 Vgl. BGHSt. 32, 367, 379 und den Aufsatz des Richters am BGH Kutzer, MDR 1985, 710, 713 m.Anm.26. 42 R. Schmitt, J Z 1984, 866; Eser, MedR 1985, 6; Hirsch (Fn.40), S.599, 603 f. Anm.25; Roxin, NStZ 1987, 345. Auch Tröndle bezeichnet sie als „beklagenswert falsch" (Referat 5 6 . D J T 1986, M29, 40). 43 B G H NJW 1988, 1532. 44 NJW 1987, 2940.

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frei verantwortlichen Selbstmord des Patienten nicht strafbar ist, in der Praxis die notwendige Beachtung findet. Durch die Klarstellungen in den beiden Beschlüssen sind die in diesem Bereich entstandenen Spannungen zwischen Theorie und Praxis wohl abgebaut worden. 3. Neben den durch die neuere Judikatur ins Blickfeld getretenen Spannungsfeldern gibt es andere, die in ständiger Rechtsprechung immer wieder hervortreten und daher von fortwährender Aktualität sind. Einige sind besonders hervorzuheben. Sie zeichnen sich im übrigen dadurch aus, daß bei ihnen weltanschauliche Aspekte keine Rolle spielen. a) Zunächst ist die extensive Auslegung des Urkundenbegriffs durch die Rechtsprechung bei den Urkundendelikten zu nennen. Bereits das Reichsgericht hatte in zahlreichen Entscheidungen45 die Auffassung vertreten, daß Urkunden nicht in der Verkörperung einer aus sich selbst heraus verständlichen Erklärung in einem Schriftstück bestehen müßten, sondern daß auch Zeichen, die keine aus sich heraus verständliche Erklärung enthalten, im Zusammenhang mit einem Bezugsobjekt, mit dem sie verbunden sind, eine Urkunde sein könnten. Nach dieser bis heute von den Gerichten zugrunde gelegten Auffassung bildet zum Beispiel ein Preisschild zusammen mit der Bluse, an der es befestigt ist, eine Urkunde, daher bei entsprechender subjektiver Tatseite seine unbefugte Abnahme eine Urkundenunterdrückung (in der Form der Urkundenvernichtung) und seine Veränderung eine Urkundenfälschung46. Jedes Bekleidungsgeschäft ist folglich ein Urkundendepot, und jedes Textilkaufhaus würde in einem Wettbewerb um die meisten Urkunden mit Leichtigkeit die Urkundenmagazine von Amtsgerichten und Notaren auf die Plätze verweisen. Die Erweiterung des Urkundenbegriffs hat eine Vielzahl von höchstrichterlichen Entscheidungen zur Folge gehabt. Am bekanntesten ist das Urteil des Reichsgerichts47, in dem das Loch auf den Zifferblättern einer Kontrolluhr als Urkunde eingestuft worden ist. Karl Binding48 hat es damals zu der berühmten Feststellung veranlaßt: „Das Loch als Urkunde ist wohl der tiefste Punkt, bis zu welchem deren Verkennung herabsinken kann".

45 Vgl. etwa RGSt. 17, 352; 34, 53; 44, 87; 46, 290; 50, 191; 56, 355; 58, 16; 68, 94; 76, 186. « Vgl. O L G Hamm N J W 1968, 1894; O L G Köln N J W 1973, 1807; 1979, 729. 47 RGSt. 34, 435. 48 Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Bes. Teil II, 2. A u f l . 1904, S. 184 f.

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Obgleich sich namhafte Theoretiker des Urkundenstrafrechts f ü r die Rückkehr zum engeren Urkundenbegriff ausgesprochen haben 49 , ist die Rechtsprechung von der Kritik ganz unbeeindruckt geblieben 50 . W a r u m das so ist, findet auch hier seine Erklärung darin, daß man andernfalls Strafbarkeitslücken befürchtet 5 1 . Jedoch liegt in strafwürdigen Fällen meistens ohnehin ein anderer Tatbestand vor, zumeist versuchter oder vollendeter Betrug 52 . Die Rechtsprechung zeigt daher hier wie auch an anderen Stellen des Urkundenstrafrechts das Bestreben, das sachlich woanders liegende Unrecht einer Tat durch die Konstruktion eines Urkundendelikts zu verstärken. Hinzu tritt bei der Herausbildung einer ständigen Rechtsprechung das Phänomen, daß man sich selbst blockiert hat. Denn die Abkehr von der extensiven Linie bedeutet, daß man einräumen müßte, ständig zu Unrecht Strafen verhängt zu haben. Eine grundsätzliche Umkehr ist daher in solchen Fällen zumeist nur noch durch den Gesetzgeber zu bewerkstelligen. Für diesen sind entsprechende Neuregelungen jedoch häufig uninteressant, weil sie politisch nichts einbringen. b) Eine ähnliche Expansion ist beim Schadensbegriff der Vermögensdelikte zu beobachten. Nach ständiger Rechtsprechung wird im Gegensatz zum Standpunkt der herrschenden Lehre der strafrichterliche Vermögensschutz über den v o m Zivilrecht gewährten Schutz hinaus ausgedehnt 53 . Dahinter steht der Gedanke, daß charakterliches Fehlverhalten

49 Vgl. Binding (Fn.48), S. 179ff.; Nagler, LK, 6./7.Aufl. 1951, Vor §267 Anm. IV 2B; Welzel, Lb. (Fn. 21), S. 403 f.; einschränkend auch Kienapfel, Urkunden und andere Gewährschaftsträger, 1979, S. 105 ff. Demgegenüber soll nach Samson (Urkunde und Beweiszeichen, 1968, S. 122 ff., 146 f.) eine Differenzierung zwischen Urkunde und Beweiszeichen nicht durchführbar sein; kritisch dazu Hirsch, ZStW85 (1973), 696, 706 ff. Auch der E 1962 geht in seinem § 303 vom engeren Urkundenbegriff aus, stellt dann aber in §304 Nr. 2 E 1962 die Beweiszeichen den Urkunden gleich. 50 Vgl. BGHSt.9, 235; 16, 94; 18, 66; OLG Düsseldorf NJW 1982, 2268 sowie die Nachw. in Fn. 46. 51 Darauf hinweisend Tröndle, LK, 10. Aufl. 1982, §267 Rdn. 70; Wessels, Strafrecht, Bes. Teil 1, 12. Aufl. 1988, S.162. 52 Daß in Fällen, in denen nicht auch mit dem Gebrauchmachen begonnen wird, ein Versuch des §263 StGB noch nicht gegeben ist, wäre kein Einwand. Abgesehen davon, daß Sachverhalte bloßen Herstellens oder Verfälschens selten sind, handelt es sich insoweit bei §267 StGB um eine nicht unproblematische Vorverlegung der Strafbarkeit durch die Strafrechtsnovelle von 1943, die nicht zusätzlich ausgedehnt werden sollte. 53 Zum rein wirtschaftlichen Vermögensbegriff vgl. RGSt. 44, 230; 66, 281; BGHSt. 2, 364; 3, 99; 16,220; zur juristisch-ökonomischen Vermittlungslehre siehe Nagler (Fn.49), Vor §249 Anm.IIIl; Welzel, Lb. (Fn.21), S.372f.; Gallas, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961, S. 401, 406ff.; Cramer, Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 100; ders., in: Schönke/Schröder, StGB, 23.Aufl. 1988, §263 Rdn.82ff.; Hirsch, ZStW81 (1969), 917, 945; Samson, SK, 4. Aufl. 1988, §263 Rdn. 112ff.

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auch unabhängig von den zivilrechtlichen Vorgaben Strafe verdienen könne. Außerdem hat die ständige Rechtsprechung zur schadensgleichen Gefährdung54 zu solchen Ausdehnungen des Schadensbegriffs geführt namentlich beim Eingehungsbetrug - , daß Fälle des nur versuchten Betruges sachwidrig zu Vollendungsfällen geworden sind - nicht zuletzt mit der Folge, daß dem Täter die Möglichkeit des strafbefreienden Rücktritts abgeschnitten wird. In diesem Zusammenhang scheint auch jener Extensionsmechanismus eine Rolle zu spielen, der dann entsteht, wenn die Besonderheiten der Ausgangsfälle durch vereinfachende Kernoder Leitsätze aus dem Blick kommen. Bei der Problematik der schadensgleichen Gefährdung ist es in letzter Zeit aber immerhin gelungen, Problembewußtsein zu wecken55. c) Einen inzwischen schon klassischen Gegensatz zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft findet man beim ärztlichen H e i l e i n g r i f f . Nach ständiger Rechtsprechung soll der ärztliche Heileingriff stets eine tatbestandsmäßige vorsätzliche Körperverletzung sein, die lediglich durch eine wirksame Einwilligung gerechtfertigt wird56. Die herrschende Lehre57 hält dem entgegen, daß bei einem erfolgreichen Heileingriff die gesetzlichen Begriffsmerkmale der Körperverletzung, nämlich eine körperliche Mißhandlung oder Gesundheitsbeschädigung, schon objektiv nicht gegeben sind. Er vermindert nicht den Körperzustand, sondern verbessert ihn. Bei mißlungenem Heileingriff kommt zwar objektiv eine Körperverletzung in Betracht, aber es fehlt der Tatbestandsvorsatz, so daß nur eine fahrlässige Körperverletzung gegeben sein kann, und auch dies nur dann, wenn der Eingriff nicht lege artis vorgenommen worden ist. Mit der herrschenden Lehre ist daher der Rechtsprechung entgegenzuhalten, daß die Einwilligungsfrage beim erfolgreichen oder jedenfalls lege artis durchgeführten Heileingriff nicht die Rechtfertigung einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung betrifft, sondern ausschließlich

54 Vgl. BGHSt.6, 115; 15, 24; 21, 112; 23, 300; B G H MDR 1987, 949; näher dazu Riemann, Vermögensgefährdung und Vermögensschaden, 1989, mit weit. Nachw. 55 Einschränkend etwa BGHSt.31, 178; B G H StV 1985, 186; für den Fall eines gesetzlichen oder vertraglichen - Rücktrittsrechts auch B G H bei Daliinger, MDR 1971, 546; O L G Köln MDR 1975, 244; BayObLGSt. 1986, 62; einen Schaden bejahend aber wiederum BGHSt. 34, 199. 56 Vgl. RGSt. 25, 375, 378; 38, 34; 74, 91; BGHSt. 11, 111; 16, 309; B G H JZ 1964, 231; O L G Hamm MDR 1963, 520; O L G Hamburg NJW 1975, 603. 57 Vgl. Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 69 ff.; Engisch, ZStW58 (1939), 1, 5ff.; Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S.66ff.; ders., ZStW93 (1981), 105; Hirsch, LK, 10. Aufl. 1981, Vor §223 Rdn.3ff.; Arthur Kaufmann, ZStW73 (1961), 341, 373; Tröndle (Fn.42), M35f., 43ff.; Welze!, Lb. (Fn.21), S.289; differenzierend Eser (Fn.8), §223 Rn.31ff.

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die Selbstbestimmung des Patienten bezüglich der Behandlung. Bei der Verletzung der Selbstbestimmung aber geht es um ein Freiheitsdelikt. Die Rechtsprechung hält gleichwohl hartnäckig an ihrem Standpunkt fest. Denn solange nicht der in den Strafgesetzentwürfen vorgesehene und im neuen österreichischen StGB enthaltene Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung58, ein Freiheitsdelikt, bei uns eingeführt wird, entstehen für die herrschende Lehre Strafbarkeitslücken. Aber auch hier stellt sich wieder die Frage, ob es unabhängig von den Bedenken bezüglich der Einhaltung des Satzes nullum crimen sine lege eigentlich von praktischem Nutzen ist, wenn die Rechtsprechung meint, sich über die theoretischen Einwände hinwegsetzen zu sollen. Die Folge ist nämlich ein Zirkel: Der Gesetzgeber bleibt untätig, weil die Rechtsprechung auch so zur Strafbarkeit gelangt, und die Rechtsprechung straft auf juristisch fragwürdiger Grundlage, weil der Gesetzgeber in Untätigkeit verharrt. d) Ein Dauerproblem zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft bildet auch das Verhältnis von Mord und Totschlag. Obgleich die §§211 und 212 StGB seit der Strafrechtsnovelle von 1941 in der Weise geregelt sind, daß der Totschlag in der vorsätzlichen Tötung eines anderen besteht und der mit schärferer Strafe bedrohte Mord die Verwirklichung bestimmter zusätzlicher Merkmale verlangt, nimmt die Judikatur 59 weiterhin zwei selbständige, voneinander unabhängige Tatbestände an. Der demgegenüber von der herrschenden Lehre60 erhobene Einwand, daß sich aus allgemein geltenden Grundsätzen der Konkurrenzlehre ergibt, nun den Totschlag als Grundtatbestand und den Mord als qualifizierten Tatbestand einzuordnen, ist in der Praxis ohne Resonanz geblieben. Der BGH 6 1 hat die Artverschiedenheit damit begründet, daß derjenige, der in einer in §211 StGB beschriebenen Weise einen Menschen tötet, nach dieser Bestimmung „als Mörder" bestraft wird, wer vorsätzlich tötet, nach §212 StGB dagegen „als Totschläger". Das Gesetz kennzeichne die in §211 StGB aufgeführten Begehungsweisen der Tötung nicht als qualifizierte Fälle des Totschlags, sondern als eine andere Straftat: als Mord. Diese Argumentation ist zu vordergründig, um eine ständige Rechtsprechung motivieren zu können. Aufschlußreicher ist deshalb der Vgl. §281 E 1927; §281 E 1 9 3 0 ; §431 E 1 9 3 6 ; §162 E 1962; §110 österr. StGB. BGHSt. 1, 368; 6, 329; 22, 375; B G H StV 1984, 69. 60 Vgl. Dreher/Tröndle (Fn.8), §211 Rdn. 14; Eser (Fn.8), Vor §211 Rdn.5; Horn, SK, 4.Aufl. 1988, §211 Rdn.2; Lackner, StGB, 17.Aufl. 1987, Vor §211 A n m . 5 a ; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht, Bes. Teil I, 7. Aufl. 1988, S. 27; Jähnke, LK, 10. Aufl. 1980, Vor §211 Rdn. 39 ff. mit weit. Nachw. 61 BGHSt. 1, 368, 370 f. 58

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Punkt, bei dem der Streit bedeutsam wird, also der sachliche Hintergrund. Wie sich schon in der grundlegenden BGH-Entscheidung zeigte, ist das die in §28 Abs. 2 StGB (=§50 Abs. 3 [bis 1968: Abs. 2] a.F.) enthaltene Teilnahmeregelung für qualifizierende besondere persönliche Merkmale. Der BGH erklärte es damals für sachwidrig, eine aus niedrigem Beweggrund erfolgte Anstiftung zum Totschlag durch Anwendung dieser Teilnahmebestimmung als Anstiftung zum Mord zu bestrafen. Auch sei es umgekehrt unhaltbar, die Bestrafung wegen Anstiftung zum Morde davon abhängig zu machen, ob der um das Vorhandensein der Merkmale des §211 StGB beim Täter wissende Anstifter auch selbst das betreffende persönliche Merkmal aufweise. Das in der Tat Unbefriedigende dieser vom BGH abgelehnten Ergebnisse hat die Ursache aber nicht in Besonderheiten der §§211,212 StGB, sondern in Mängeln jener Teilnahmevorschrift. Daß sie als Tatbestandsregelung nicht paßt, wird durch die später für strafbegründende besondere persönliche Merkmale eingeführte Regelung (§28 Abs. 1 StGB = §50 Abs.2 i.d.F. von 1968) bestätigt. Wenn nämlich im Falle des §28 Abs. 2 der Extraneus nur eine Teilnahme am Grundtatbestand begangen haben soll, dann ergibt sich als logische Konsequenz bei persönlichen Merkmalen mit strafbegründender Funktion, daß der Extraneus dort entgegen Absatz 1 überhaupt nicht bestraft werden dürfte. Will man ein derart sachwidriges Ergebnis vermeiden, so müßte auch für die Fälle des Absatzes 2 die Lösung lauten, daß der anstiftende oder unterstützende Extraneus wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum qualifizierten oder privilegierten Delikt zu betrafen ist62. § 28 Abs. 1 StGB verdeutlicht daher, daß es in den Fällen des Absatzes 2 ebenfalls nur um eine Strafzumessungsfrage geht. Man hat es bei der von der Judikatur zum Verhältnis von §211 und §212 StGB vertretenen Auffassung also in Wahrheit mit der Abwendung negativer Konsequenzen der bisherigen Auslegung des unglücklich gefaßten § 28 Abs. 2 StGB und seiner Vorgänger zu tun. Richtiger und legitimer, als sich über die elementaren Grundsätze der Konkurrenzlehre hinwegzusetzen, wäre es deshalb, wenn die Praxis die Fragwürdigkeit dieser Teilnahmekonstruktion herausstellte und dadurch an den Gesetzgeber appellierte. Darüber hinaus wird inzwischen im Schrifttum vorgeschlagen, den §28 Abs. 2 StGB als Strafzumessungsregelung zu interpretieren und auf solche Weise mit Absatz 1 wenigstens prinzipiell in Harmonie zu bringen 63 . 62 Vgl. dazu Wagner, Amtsverbrechen, 1975, S. 391 ff., 401; Hirsch, ZStW88 (1976), 772, 782; ders. (Fn.57), §340 Rdn.16; Cortes Rosa, ZStW9Q (1978), 413, 433. 63 Cortes Rosa (Fn.62); Horn (Fn.60), §340 Rdn.8; Roxin, LK, 10. Aufl. 1978, §28 Rdn.4ff.; Rudolphi, SK, 4. Aufl. 1988, Vor §331 Rdn.5; Wagner (Fn.62), S.398.

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e) Daß es über die geschilderten besonders bedeutsamen Problembereiche hinaus noch eine Reihe weiterer gibt, in denen höchstrichterliche Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft in konstantem Gegensatz zueinander stehen, ist jedem Strafjuristen geläufig. Von anderen fortwährend aktuellen Punkten seien hier nur die subjektive Teilnahmelehre und das Verhältnis von Raub und Erpressung ausdrücklich genannt. 4. Ging es bei den bisher behandelten Fragen um das Spannungsverhältnis zwischen Revisionsgerichten und Wissenschaft, so soll als letzter Punkt nicht unerwähnt bleiben, daß es jetzt auch einen sehr aktuellen unmittelbaren Gegensatz zwischen Wissenschaft einerseits und Staatsanwaltschaften und Instanzgerichten andererseits gibt. Es handelt sich um die Praxis der Einstellungen nach §153a StPO. Sie sind grundsätzlich der Kontrolle durch die Obergerichte entzogen. Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift ohne vorherige öffentliche Fachdiskussion gelegentlich der Strafrechtsreform von 1975 eingeführt. Sie ist inzwischen zum praktisch folgenreichsten Punkt der gesamten damaligen Reform geworden. Der § 1 5 3 a StPO erweitert bekanntlich seinem klaren Wortlaut nach den zur Aussonderung der Bagatelldelinquenz bestimmten § 1 5 3 StPO in der Weise, daß in Fällen geringer Schuld, aber gleichwohl bestehenden öffentlichen Strafverfolgungsinteresses eine Einstellung wegen Geringfügigkeit auch dann stattfinden kann, wenn die Erfüllung einer Auflage - praktisch in der Regel einer Geldbuße an eine karitative Einrichtung - zur Beseitigung des öffentlichen Verfolgungsinteresses geeignet ist. Die Vorschrift, die also hinsichtlich des Erfordernisses der geringen Schuld ersichtlich an denselben Rechtsbegriff wie § 153 StPO anknüpft, ist inzwischen in der Praxis über den Bereich der eigentlichen Bagatelldelinquenz hinaus ausgedehnt worden. Das wurde dadurch möglich, daß mangels einer übergeordneten Kontrollinstanz hier Staatsanwälte und Instanzrichter jeweils frei darüber befinden, was sie als geringe Schuld und auch als fehlendes öffentliches Interesse definieren wollen. Wie sich dieser Freiraum auswirkt, konnte man unlängst wieder einmal in der Presse 64 nachlesen: Ein Arzt war wegen eines Behandlungsfehlers vor einer Strafkammer angeklagt und aus §222 S t G B zu 6 Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung und 8000 D M Geldbuße verurteilt worden. Der B G H hob dieses Urteil auf, weil die tatsächlichen Feststellungen nicht das Vorliegen der Kausalität stützten. In der erneuten Hauptverhandlung wurde das Verfahren, ohne daß die Kausalität festgestellt werden konnte, wegen Geringfügigkeit gegen Zahlung einer

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Kölner Stadt-Anzeiger v. 23-/24.4.1988, S. 16.

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Geldbuße von 18 000 DM eingestellt. Das heißt: §153a StPO hat man hier zu einer Denkzettelsanktion bei drohendem Freispruch umfunktioniert65. Von Seiten der Wissenschaft ist die Entwicklung wiederholt kritisiert worden, wobei man entweder in der Regelung ein strafrechtliches Unterwerfungsverfahren ohne hinreichende Verfahrensgarantien sieht und deshalb überhaupt verwirft 66 oder aber eine Kontrollinstanz fordert67. Diese Kritik ist jedoch wirkungslos geblieben. Die Praxis hält den Freiraum für arbeitsstrategisch vorteilhaft, und Landesjustizverwaltungen tolerieren aus justizökonomischen Gründen, daß von ihm ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Nur das Strafprozeßrecht und der Rechtsstaat bleiben dabei auf der Strecke68. 5. Die hier versuchte Analyse der Hintergründe der bei einigen aktuellen Strafrechtsproblemen hervortretenden Gegensätze zwischen Theorie und Praxis sollten nicht dahin verstanden werden, als gehe es darum, wissenschaftliche Ressentiments gegenüber der Praxis zu schüren. Schon zu Anfang wurde hervorgehoben, daß die Beziehungen zwischen beiden gerade in der Bundesrepublik außergewöhnlich gut sind. Eben deshalb müßte es auch möglich sein, über die aufgeworfene grundsätzliche Problematik sine ira et studio in eine Diskussion einzutreten. Das im Mittelpunkt der Ausführungen stehende Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und höchstrichterlicher Rechtsprechung entsteht, wie auch die behandelten Problemkreise bestätigt haben, von Anbeginn dadurch, daß sich das Gericht mit einem konkreten Fall befaßt und bestrebt ist, diesen zu einer ihm gerecht erscheinenden Entschei65 Weitere Beispiele bei Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gem. §§ 153 II, 1 5 3 a I I S t P O - Eine empirische Analyse über die Formen der Bekämpfung der Bagatellkriminalität, 1978, S. 6 7 f f . ; Hertwig, Die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit — Eine empirische Analyse der Handhabung der §§ 153, 153 a StPO in der staatsanwaltlichen und gerichtlichen Praxis, 1982, S. 43 ff.; Paschmanns, Die staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153a StPO - Entscheidungsgrenzen und Entscheidungskontrolle, 1988, S. 22 ff. 66 Vgl. Schmidhäuser, J Z 1973, 529, 533 ff.; Hanack, Gallas-Festschrift, 1973, S.339, 3 4 4 f f . ; Hirsch, Z S t W 9 2 (1980), 218, 2 2 6 f f . ; ders., H.Kaufmann-Gedächtnisschrift, 1986, S. 133, 140ff.; Banmann, N J W 1 9 8 2 , 1558, 1560. 67 Vgl. Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, 1978, S. 177; ders., Z S t W 9 6 (1984), 761, 787f.; Schock, Z S t W 9 2 (1980), 143, 180 Fn.204; ders., NStZ 1984, 385, 389; Werner, NStZ 1984, 401, 403; Jung, JR 1984, 309, 312; Rieß, Gutachten zum 55. DJT, 1984, Rdn. 113 ff. 68 Daß der Bundesminister der Justiz sich kürzlich veranlaßt sah, eine zurückhaltendere Einstellungspraxis bei den Umweltdelikten anzumahnen (vgl. Handelsblatt v. 1 5 . 8 . 1 9 8 8 , S. 2), kann nur bestätigen, in welchem Maße die im StGB getroffenen gesetzgeberischen Entscheidungen inzwischen durch die A r t der Handhabung des § 1 5 3 a StPO relativiert werden.

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dung zu bringen. Die Wissenschaft hat dagegen das Gesamtgefüge eines Rechtsgebiets vor Augen und ist darauf ausgerichtet, durch Systematisierung generelle Lösungen zu entwickeln. Hinzu kommt, daß die Revisionsgerichte die Macht haben, ihre Rechtsauffassung in der Praxis anzuwenden und durchzusetzen. Der Wissenschaft ist dagegen insoweit Ohnmacht wesenseigen. Ob die von ihr gefundenen Ergebnisse bei der Rechtsanwendung Berücksichtigung finden, hängt davon ab, daß die Rechtsprechung sich mit ihnen befreunden kann. Das Streben der Praxis nach materiell gerechter Entscheidung des konkreten Falles erreicht jedoch seine Grenzen an der fragmentarischen Natur des Strafrechts. Strafbar ist nur, was das Gesetz für strafbar erklärt. Strafwürdigkeit begründet für sich alleine keine Strafbarkeit. Die teilweise zu beobachtende Tendenz der höchstrichterlichen Rechtsprechung, das Maximum an Strafbarkeit aus den Strafbestimmungen herauszupressen und sich dabei weder durch eine gegenteilige ratio legis noch durch dagegen sprechende systematische Zusammenhänge, geschweige denn durch den Meinungsstand der Wissenschaft abbringen zu lassen, ist eine bedenkliche Entwicklung. Sie beruht meines Erachtens auf einem zu weit gesteckten Aufgabenverständnis, das die Strafjustiz von sich hat. Zwar erfolgen die Grenzüberschreitungen durchweg bona fide und in bester Absicht. Aber das vermag nichts daran zu ändern, daß sie objektiv solche sind. Der Strafrichter ist in seinen Entscheidungen, bedingt durch die besonderen rechtsstaatlichen Anforderungen des Straf- und Strafverfahrensrechts, nun einmal notwendigerweise erheblich unfreier als der Zivilrichter. Daß man dies nicht immer deutlich im Blick hat, wird durch einen zunehmenden Autoritätsverlust des Gesetzgebers gefördert 69 . Der Qualitätsschwund der parlamentarischen Gesetzgebung, hervorgerufen durch die Zurückdrängung des juristischen Sachverstands zugunsten parteitaktischer Überlegungen, und das trotz Handlungsbedarfs zu beobachtende Zögern des Gesetzgebers, veranlaßt durch die Rücksichtnahme auf Parteirandgruppen oder mangelndes Interesse wegen parteipolitischer Unergiebigkeit, sind die evidenten Ursachen. Mancher Staatsbürger und sogar Jurist mag deshalb Erleichterung darüber empfinden, daß der BGH für "law and order" sorgt, oder seine Kritik jedenfalls dann zurückstellen, wenn die Urteile ins jeweilige weltanschauliche Konzept passen. Aber wo ist das verfassungsrechtliche Mandat der Strafjustiz, sich als Ersatzgesetzgeber zu betätigen? Das Strafrecht verlangt in einem Rechtssystem, das auf den Satz nullum crimen sine lege als rechtsstaatlichem Fundamentalprinzip

69 Zu diesem auch Dreher/Tröndle Rdn. 1.

(Fn. 8), §125 Rdn. 1, 5 1 3 0 a Rdn. 1 f., §194

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aufbaut, daß die Gewaltenteilung klar eingehalten wird. Im übrigen zeigen die hier aufgelisteten Fälle, daß die Vorgehensweise der höchstrichterlichen Rechtsprechung den Gesetzgeber auch auf politisch indifferenten Feldern geradezu aus der Pflicht entläßt. Er vertraut darauf, daß der B G H die Dinge schon richten wird. Dieser Entwicklung kann nur dadurch Einhalt geboten werden, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem ihr strafwürdig erscheinenden, aber unter das Gesetz genau besehen nicht subsumierbaren Fall klipp und klar sagt, daß dieser de lege lata nicht strafbar ist, und den Gesetzgeber auf solche Weise in Zugzwang versetzt. Daß der Gesetzgeber notfalls auch schnell reagieren kann, hat sich, wie schon erwähnt, bei einer Reihe von Strafprozeßnovellen der vergangenen Jahre gezeigt. Würde er jedoch untätig bleiben und dadurch die Rechtsordnung gefährden, so wäre die Lösung eines solchen Konflikts erst einmal Sache des Verfassungsrechts. Aber man sollte bei der Suche nach den Gründen der Entwicklung auch nicht die Wissenschaft aus dem Blick lassen. Diese hat in den letzten zwanzig Jahren ebenfalls stark an Autorität eingebüßt. Das hängt zum einen mit der teilweise zu beobachtenden Verquickung von Wissenschaft und Ideologie oder Parteipolitik zusammen. Zum anderen zeigt die Inflationierung der Professorenschaft ihre Wirkung 70 . In der 1840 erschienenen Vorrede zu seinem „System des heutigen Römischen Rechts" beklagte Savigny als „Hauptübel" des damaligen Rechtswesens eine „stets wachsende Scheidung zwischen Theorie und Praxis" 7 1 . Davon sind wir, da die aufgezeigten Gegensätze nur einige Teilbereiche betreffen, glücklicherweise noch weit entfernt. Aber seine an beide gerichtete Mahnung sollte man sich immer wieder bewußt machen: „Es b e r u h t . . . alles Heil darauf", daß in den heute gesonderten Tätigkeiten von Theorie und Praxis „jeder die ursprüngliche Einheit fest im Auge behalte, daß also in gewissem Grade jeder Theoretiker den praktischen, jeder Praktiker den theoretischen Sinn in sich erhalte und entwickele. Wo dieses nicht geschieht, wo die Trennung zwischen Theorie und Praxis eine absolute wird, da entsteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabsinke" 72 . Gerade Herbert Tröndle, dem dieser Beitrag in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, hat in seinen zahlreichen juristischen

70 Die mit ihr verbundene Publikationsflut führt teilweise auch zu so subtilen dogmatischen Differenzierungen, daß die Herausgeber des Kommentars von Schönke/ Schröder schon die Frage aufgeworfen haben, ob die Praxis dieser Entwicklung noch folgen wird und folgen kann (Vorwort, 22. Aufl. 1985, S.V). 71 S. X X V . 72 S. X X .

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Arbeiten stets aufs neue jene Verbindung von praktischem und theoretischem Sinn erkennen lassen. Ihr verdankt er das hohe Ansehen, das er bei Praktikern und Theoretikern genießt.

Zum Stellenwert der Gesetzestechnik Dargestellt an einem Beispiel aus dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität KARL LACKNER

I. „Hier liegt auch die eigentliche Gefahr für die Zukunft. Wir werden allen Fortschritt aufs Spiel setzen, wenn es uns nicht gelingt, vor der Gesetzgebungstradition des 19.Jahrhunderts zu bestehen." Mit dieser Mahnung hat Theodor Lenckner im Jahre 1977 einen Uberblick über die „Strafgesetzgebung in Vergangenheit und Zukunft" abgeschlossen 1 . Er meinte damit den Stil der Gesetzgebung und faßte seine Ergebnisse nach Hinweisen auf zahlreiche undurchdachte und kompromißhafte Gesetzgebungsakte der jüngeren Vergangenheit wie folgt zusammen: „So steht am Ende dieses Rückblicks . . . der Eindruck, daß der moderne Gesetzgeber auf dem Weg ist, seine eigene Autorität zu untergraben. Wir wissen alle, wie Gesetze in unserer Zeit zustande kommen. Der Gesetzgeber handelt unter Zeitnot, steht unter politischem Erfolgszwang und ist immer wieder zu Kompromissen genötigt. . . . Ein so hochempfindliches Instrument wie das Strafrecht wird dies auf die Dauer nicht überstehen, ohne Schaden zu nehmen, vor allem wenn es sich dabei um mehr als nur um einige zufällige Einzelerscheinungen handelt 2 ." Lenckner brachte damit nur eine damals aktuell gewordene und in das allgemeine Bewußtsein getretene Sorge um die Qualität der Strafgesetzgebung zum Ausdruck. Sie ist seither so vielstimmig artikuliert worden, daß es bei diesem einen Beispiel sein Bewenden haben kann. Inzwischen ist ein weiteres Jahrzehnt vergangen. Die Warnung Lenckners ist - wie ich meine - bisher ohne Wirkung geblieben. Während die Gesetzgebung zur Strafrechtsreform jedenfalls bis zum Jahre 1969 noch von dem gemeinsamen Willen getragen war, ein Reformwerk hervorzubringen, das auf längere Sicht angelegt, gründlich durchgearbeitet und möglichst von einer breiten Mehrheit der politischen Kräfte getragen war, dominiert heute - und zwar seit dem Versanden der Reformbemühungen - das strafrechtliche ad-hoc-Gesetz, das seine Ent1 Tradition und Fortschritt im Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S . 2 3 9 , 261. 2 Fn. 1.

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stehung konkreten Anlässen im politischen, gesellschaftlichen oder justiziellen Bereich verdankt und keineswegs in allen Fällen wirklichen Regelungsbedarf befriedigt. Im folgenden soll nicht der Gesetzgebungsstil im ganzen zum Gegenstand der Kritik gemacht werden. Es geht vielmehr darum, nur einen Aspekt in den Blick zu nehmen, von dem mindestens dem äußeren Anschein nach anzunehmen ist, daß die Einsicht in seine Bedeutung für die Qualität unserer Gesetzgebung kontinuierlich abgenommen hat. In einer Zeit, in der auch das Kernstrafrecht in den Strudel polarisierter tagespolitischer Auseinandersetzungen geraten ist, scheint eine wichtige Funktion der Gesetzgebungskunst zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Gemeint ist eine spezifische Aufgabenstellung, die erst zum Tragen kommt, wenn über den sachlichen Inhalt einer geplanten rechtlichen Neuordnung bereits weitgehende Klarheit besteht. In diesem Stadium sind nämlich regelmäßig noch drei unverzichtbare Aufgaben zu erfüllen: Zunächst muß der entwickelte gesetzgeberische Gedanke nach Inhalt und Grenzen so bestimmt und so konkret wie nur möglich erfaßt werden. Alsdann ist er in Gesetzessprache umzusetzen mit dem Ziel, den Sinn des gesetzgeberisch Gewollten dem Adressaten mit einem Höchstmaß an erreichbarer Deutlichkeit und Einfachheit zu vermitteln. Schließlich ist sorgfältig zu prüfen, ob der neue Rechtssatz auch wirklich in das Gesamtsystem paßt, namentlich ob er zur Klärung von systematischen Zusammenhängen oder zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen der Präzisierung, Einschränkung oder Ergänzung bedarf und zu welchen Anpassungen er an anderer Stelle der Rechtsordnung nötigt. Diese Aufgaben, die man in einem weiteren Sinne wohl noch der Gesetzestechnik zuordnen kann, sind im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nicht etwa nur einmal an dessen Ende zu erfüllen. Sie stellen sich vielmehr fortwährend. Denn auch wer einen allerersten vorläufigen Gesetzentwurf unterbreitet, muß diese Fragen schon bedacht und für sich beantwortet haben. U n d jeder, der - bei welchem Verfahrensstand auch immer - einen verantwortlichen Gegenvorschlag macht, muß dessen rechtstechnische Unbedenklichkeit geprüft und für sich bejaht haben. Unter den Ursachen für Pannen, die auf Fehlleistungen in der Gesetzestechnik zurückgehen, verdienen zwei besondere Aufmerksamkeit. Zum einen macht der Prozeß ständig wachsender Differenzierung und Komplizierung, in dem sich unser Rechtssystem befindet, den Durchblick auf das Ganze immer schwerer und liefert immer mehr Ansatzpunkte für Mißdeutungen und für Wertungswidersprüche. Zum anderen ist der zeitliche Spielraum für die gebotene Prüfung hinreichender Eindeutigkeit, Einfachheit und Systemverträglichkeit neuer Texte infolge des Gesetzgebungsstils der jüngeren Vergangenheit immer enger geworden. Besonders störanfällig sind erfahrungsgemäß solche Gesetz-

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entwürfe, die ihre Entstehung einem tagespolitischen, vermeintlich besonders dringlichen Bedürfnis verdanken und nicht wirklich sachlich erörtert, sondern auf der Basis polarisierter Meinungsfronten durch die gesetzgebenden Körperschaften „geschleust" werden. Leider sind aber, was weniger beachtet wird, mindestens ebenso störanfällig auch solche Entwürfe, die man zwar in ihrem Ursprung gründlich vorbereitet, aber in fortgeschrittenen Phasen des Verfahrens auf Grund mehr oder weniger zufälliger Vorschläge oder Bedenken wesentlich erweitert oder umgestaltet hat. Das möchte ich an einem Beispiel aus dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2.WiKG) 3 anschaulich machen. II. In den langjährigen vorbereitenden Beratungen zum 2. WiKG hat die Problematik der Computerkriminalität einen herausragenden Schwerpunkt gebildet. In diesem Bereich wiederum war es der Vermögensschutz gegen Computermanipulationen, der eindeutig im Vordergrund des Interesses stand und der inzwischen durch den Tatbestand des Computerbetrugs gesetzlich verankert worden ist (§ 263 a StGB)4. 1. Es ist bemerkenswert, daß hier die Notwendigkeit, Strafbarkeitslükken im Verhältnis zum Betrug zu schließen, von Anbeginn kaum ernsthaften Zweifeln ausgesetzt war und daß sich wie ein roter Faden durch alle Stadien des Gesetzgebungsverfahrens die Zielvorstellung zog, den neuen Tatbestand in möglichst weitgehender struktureller Übereinstimmung mit § 263 zu konzipieren. Das drückte sich sehr nachhaltig schon in den Empfehlungen der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität aus dem Jahre 1976 aus5. Danach sollte mit Strafe bedroht werden, wer in Bereicherungsabsicht das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, „daß er durch falsche Eingaben in Datenverarbeitungsanlagen oder durch Einwirkung auf deren Arbeitsablauf eine vermögenswirksame Disposition herbeiführt" 6 . Man war der Ansicht, mit dieser Formulierung „alle zur Zeit denkbaren Manipulationen automatischer Prozesse" erfaßt zu haben, und stellte ausdrücklich „weitgehende Einigkeit" darin fest, „daß der neue Tatbestand in Voraussetzungen und V o m 15. Mai 1986 (BGBl. I S. 721). Im folgenden sind Paragraphen ohne Angabe des Gesetzes solche des StGB. 5 Tagungsberichte der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - Reform des Wirtschaftsstrafrechts - Herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, XII. Band (Zwölfte Arbeitstagung vom 2 2 . - 2 6 . 1 1 . 1 9 7 6 ) . 6 Fn. 5, S. 77. 3 4

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Wirkungen nicht weitergehen solle als der derzeitige Betrugstatbestand in der Ausformung der Rechtsprechung, sondern man nur die Lücken schließen solle, die §263 StGB im Bereich der Computerkriminalität offenlasse" 7 . Noch ausgeprägter tritt diese Zielsetzung in dem Referentenentwurf eines 2. WiKG aus dem Jahre 19788 zutage, wo schon im Gesetzestext eine enge Anlehnung an § 263 angestrebt wurde. Jetzt muß die Vermögensbeschädigung dadurch bewirkt werden, daß der Täter „das Ergebnis eines vermögenserheblichen Datenverarbeitungsvorgangs durch Verwendung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Daten oder durch Einwirkung auf den Programmablauf beeinflußt" 9 . In der Begründung wird dazu nach ausführlicher Darstellung der Strafbarkeitslücken, die im früheren Recht bei Computermanipulationen zu verzeichnen waren, die „eigentliche Schwierigkeit" für die strukturelle Gleichrichtung der beiden Betrugstatbestände wie folgt beschrieben: „(Sie) liegt darin, das Merkmal der Irrtumserregung, das dort ausdrücklich genannt ist, und das ungeschriebene Merkmal der Vermögensverfügung, das sich zwangsläufig aus der vorausgesetzten Kausalkette zwischen Irrtumserregung und dem eingetretenen Vermögensschaden ergibt, durch solche Merkmale zu ersetzen, die beim Einsatz einer Datenverarbeitungsanlage an die Stelle des menschlichen Denkens und Handelns treten" 10 . Die Entwurfsverfasser haben geglaubt, diese Schwierigkeit überwinden zu können. Indem sie die vorgesehene Umschreibung „Ergebnis eines vermögenserheblichen Datenverarbeitungsvorgangs" dem im Betrugstatbestand relevanten „Ergebnis eines vermögenserheblichen Denk- und Entscheidungsprozesses" gegenüberstellten, wollten sie deutlich machen, daß mit dieser Formulierung die Betrugsmerkmale des Irrtums und der Vermögensverfügung in gleichwertiger Weise ersetzt werden könnten 11 . Auch in der Beschreibung der Mittel, mit denen das Ergebnis des vermögensrelevanten Datenverarbeitungsvorgangs beeinflußt werden kann, sollte „weitestgehend" Übereinstimmung mit dem Betrug hergestellt werden. Die geringfügigen Textabweichungen von § 2631, namentlich die Ersetzung des Begriffs „Tatsachen" durch den der „Daten" und die Einbeziehung der Tathandlungen des „Einwirkens auf den Programmablauf" wurden nur als Klarstellungen gewertet und mit den Besonderheiten des Computerbetrugs

Fn.5, S. 69. Bundesministerium der Justiz. Stand Oktober 1978. 9 Fn.8, S.2. 10 Fn.8, S.54. Nahezu wortgleich die Bundestagsvorlage (BT-Drucks. S. 19). 11 Fn.8, S . 5 5 . Vgl. auch die Bundestagsvorlage (BT-Drucks. 10/318 S. 19). 7 8

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erklärt 12 . Danach erscheint es nur folgerichtig, wenn in der Begründung ausdrücklich gesagt wird, „daß der neue Tatbestand nur die Funktion hat, lückenfüllend in den Fällen einzugreifen, in denen die Merkmale des Betruges beim Einsatz eines Computers zur Herbeiführung oder Auslösung von Vermögensdispositionen nicht vorliegen würden" 13 . Dieses Bestreben, die beiden Tatbestände übereinstimmend zu strukturieren und ihre unterschiedliche Reichweite tunlichst zu vermeiden, sowie die Überzeugung, das mit den vorgeschlagenen Formulierungen auch erreicht zu haben, zieht sich durch alle weiteren Entwürfe 14 bis hin zur letzten Bundestagsvorlage in der 10. Wahlperiode 15 . Sie wiederholen sämtlich die vorstehend mitgeteilten Begründungen, in der Regel wörtlich, vereinzelt auch nur sinngemäß. Auszunehmen sind lediglich zwei Änderungen, die wesentlich zu sein scheinen, aber nach der eigenen Einschätzung des Entwurfs nur technische Bedeutung haben sollten. Zum einen wird im Gesetzestext der Datenverarbeitungsvorgang nicht mehr ausdrücklich als „vermögenserheblich" bezeichnet, weil sich „diese Einschränkung aus der Charakterisierung des Tatbestandes als Betrug und der vorausgesetzten Kausalkette zwischen den einzelnen Tatbestandsmerkmalen von selbst" ergebe16. Zum anderen werden ebenfalls im Gesetztestext die Tatmittel nicht mehr mit den Worten „durch Verwendung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Daten oder durch Einwirkung auf den Programmablauf" umschrieben. Sie werden vielmehr durch die von § 2631 weiter entfernte Formel „durch unrichtige Gestaltung des Programms oder Einwirkung auf seinen Ablauf oder durch Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten" ersetzt 17 . Damit soll aber die „weitestgehende Ubereinstimmung" mit dem Betrugstatbestand nicht in Frage gestellt werden. Die Entwurfsbegründung erklärt das so: „Im Hinblick auf sie (die Daten) verwendet der Entwurf die Begriffe ,unrichtig' und .unvollständig'. Dies bedeutet der Sache nach keine Abweichung von der in §263 StGB verwendeten Umschreibung ,Vorspiegelung falscher oder Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen'. Diese Umschreibung des §263 StGB ist nur deswegen nicht übernommen, weil die dort vorgenommene Aufgliederung der Täuschungshandlung in drei Tatmodalitäten seit langem als irreführend angesehen wird und deshalb bei der Umschreibung

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Fn.8, S. 56. Fn.8, S.55. 14 Vgl. etwa den Entwurf eines 2. WiKG - Stand April 1982 - und die Bundestagsvorläge vom 30.9.1982 (BT-Drucks. 9/2008). 15 Vom 26.8.1983 (BT-Drucks. 10/318). 16 Fn. 15, S. 19. 17 Fn. 15, S.4. 13

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einer Täuschung über Tatsachen in neueren Vorschriften vermieden worden ist (vgl. §§264, 265b StGB)" 18 . Im Ergebnis wird also davon auszugehen sein, daß der dem Bundestag vorgeschlagene Tatbestand des Computerbetrugs als eine lückenfüllende Ergänzungsnorm zu §263 gedacht war, die nur diejenigen Computermanipulationen erfassen sollte, bei denen es am Irrtum und an der Vermögensverfügung eines Menschen fehlte, die übrigen Betrugsvoraussetzungen aber gleichwertig erfüllt waren. Von dieser Besonderheit abgesehen, sollte mit den empfohlenen Formulierungen ein Schutzbereich abgesteckt werden, der weder hinter dem des Betruges zurückbleibt noch ihn überschreitet. 2. Im Schrifttum ist der Versuch, den Tatbestand des Computerbetrugs einerseits strikt an §263 auszurichten, andererseits aber die für seine Verwirklichung erforderlichen Manipulationen selbständig und abschließend zu beschreiben, auf vielfältige Kritik gestoßen. Besonders in der letzten, dem Bundestag zur Beratung vorgelegten Fassung fällt auf, daß die Tatmittel der unrichtigen Gestaltung des Programms usw. enumerativ und deshalb nicht erweiterungsfähig aufgezählt werden. Das weckte Besorgnisse. Man fürchtete namentlich, daß dadurch die Strukturgleichheit zum Betrug gefährdet werden könnte, zugleich aber auch, daß möglicherweise heute noch unbekannte Manipulationspraktiken aus dem Schutzbereich des Tatbestandes ausgeschieden werden könnten. Es wurden deshalb abweichende Modelle entwickelt, die teils eine unmittelbare Integration des Computerbetrugs in §263 anstrebten19, teils einen Verzicht auf nähere oder jedenfalls abschließende Beschreibung der Handlungsmodalitäten empfahlen20 und teils auch eine Verbindung der beiden Gestaltungsmöglichkeiten für sachdienlich hielten. Diese Vorschläge haben sich aber nicht durchgesetzt und bedürfen deshalb hier keiner näheren Erörterung unter dem Gesichtspunkt, ob sie vor der Gesetz gewordenen Lösung den Vorzug verdient hätten. Auffallend ist allerdings, daß sie alle nicht dazu geführt haben, den Entwurf vor Einbringung der letzten Regierungsvorlage noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob die erstrebte Parallelität zum Betrugstatbestand wirklich gewährleistet war. Bemerkenswert ist ferner, daß bald danach vermehrt Zweifel laut wurden, ob die Entwurfsfassung überhaupt geeignet sei, die bereits bekannt gewordenen und teils schon gängigen betrugsspezifi-

Fn. 15, S. 20. Vgl. etwa Lenckner, Computerkriminalität und Vermögensdelikte, 1981, S.45; Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, 2. Aufl. 1980, Teil2, S.39. 20 So mit Nachdruck namentlich Sieber, Informationstechnologie und Strafrechtsreform, 1985, S. 37. Ähnlich vorher schon §202 des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuches - Besonderer Teil, Straftaten gegen die Wirtschaft - 1977; Lampe, G A 1 9 7 5 , 1 , 1 9 . 18

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sehen Manipulationen des Mißbrauchs von Codekarten an Geldautomaten (Bankomatenmißbrauch) und den unbefugten Anschluß an das BtxSystem zu erfassen21. 3. In dieser Ausgangslage wurde der BT-Rechtsausschuß mit der Beratung des Entwurfs befaßt. In ersten, zunächst nur der Orientierung dienenden Erörterungen bestand Einverständnis, daß der Gesetzestext im Hinblick auf die neuen Manipulationspraktiken änderungsbedürftig sei, und zwar entweder durch die Verwirklichung von Vorschlägen, die nur den Betrugstatbestand erweitern und auf eine nähere Beschreibung von Handlungsmodalitäten verzichten wollten, oder durch Einbeziehung des Tatmittels der „unbefugten Verwendung von Daten" in den Text des Regierungsentwurfs 22 . Im Ergebnis durchgesetzt hat sich die zweite Möglichkeit. Allerdings sind die dafür maßgebenden Gründe aus den Ausschußprotokollen nicht ersichtlich. Erkennbar ist nur, daß unter dem 2. Oktober 1985 von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP neben anderen Änderungen auch eine Neufassung des §263a in die Beratungen eingeführt wurde. Sie ließ die Grundstruktur des Tatbestandes gegenüber der Regierungsvorlage unberührt, ersetzte aber die Beschreibung der Tatmittel durch folgende erweiterte Formel: „durch unrichtige Gestaltung des Programms, durch Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten, durch unbefugte Verwendung von Daten oder sonst durch unbefugte Einwirkung auf den Ablauf". Diese Fassung ist offenbar nur in ausschußfremden Zirkeln konzipiert und wahrscheinlich auch ausschußintern nur in einem informellen engeren Kreis von Fraktionsvertretern geprüft worden. Jedenfalls ist sie im Ausschuß ohne Aussprache angenommen worden 23 und im weiteren Verlauf unverändert in das 2.WiKG eingegangen. Die Gründe für die Erweiterung gegenüber dem Regierungsentwurf und die Vorstellungen über deren Tragweite lassen sich daher nur der einschlägigen Beschlußempfehlung und dem Bericht des BT-Rechtsausschusses entnehmen24. Was die Einbeziehung des Tatmittels der „unbefugten Verwendung von Daten" betrifft, äußert sich der Bericht wie folgt: „Nachdem in der Wissenschaft und in der öffentlichen Anhörung von mehreren Sachverständigen . . . Zweifel geäußert waren, ob mit der Alternative der .unrichtigen Verwen21 Lenckner/Winkelbauer, wistra, 1984, 83, 88; Otto, Banktätigkeit und Strafrecht, 1983, S. 127; Vgl. auch Haft und Sieber in der öffentlichen Anhörung des BT-Rechtsausschusses am 6. Juni 1984 (Prot.-Nr. 26, S. 163, 170). 22 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des BT-Rechtsausschusses am 2 5 . 1 . 1 9 8 4 (Nr. 14, S. 85) und am 2 3 . 1 . 1 9 8 5 (Nr. 42, S. 79). 23 Stenographisches Protokoll über die Sitzung des BT-Rechtsausschusses am 2 2 . 1 . 1 9 8 6 (Nr. 71, S.7). 24 BT-Drucks. 10/5058 (im folgenden als „Bericht" bezeichnet).

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dung von Daten' auch der Fall erfaßt werden kann, daß jemand z. B. unbefugt fremde Codenummern bei mißbräuchlichem Gebrauch eines Geldautomaten oder jemand unbefugt einen fremden Anschluß an das Bildschirmtextsystem benutzt, hat der Ausschuß eine ergänzende Klarstellung insoweit für notwendig erachtet." Die Auswirkung dieser „ergänzenden Klarstellung" auf das Verhältnis zum Betrug sieht der Bericht so: „Der Ausschuß spricht sich dafür aus, die allgemeine Struktur des § 2 6 3 S t G B im Rahmen dieses Gesetzes unangetastet zu lassen. Der Betrugstatbestand ist eine allgemeine Vorschrift zum Schutze des Vermögens gegen einen bestimmten Angriff, nämlich die dort genannten Täuschungshandlungen in Bereicherungsabsicht. Gegen andere Angriffe auf das Vermögen gibt es jeweils spezielle Vorschriften (vgl. als allgemeine Regelung z. B. § 2 6 6 StGB). Der Computerbetrug stellt eine neue Manipulationsform zum Nachteil des Vermögens dar, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß ein Mensch nicht getäuscht und zu einer vermögensschädigenden Vermögensverfügung veranlaßt wird. Deshalb hat der Ausschuß auch von der Alternative abgesehen, den Computerbetrug in einem neuen Absatz 2 des § 263 S t G B zu erfassen. Computerbetrügereien weisen Besonderheiten auf, die einen eigenen Tatbestand auch mit einer vom Betrug teilweise abweichenden Ausgestaltung rechtfertigen. . . . Was die vom Täter mittels einer oder mehrerer Tatmodalitäten herbeigeführten und gewollten Folgen betrifft, so hat sich im übrigen aufgrund der parallelen Ausgestaltung zu § 263 S t G B die Auslegung des § 263 a S t G B zu dessen Eingrenzung an der Auslegung des § 263 S t G B zu orientieren, wie dies näher im Regierungsentwurf ausgeführt ist. Dadurch kann eine unnötige zu weite Anwendung des Tatbestandes verhindert werden" 2 5 . 4. Wer diese Begründung unbefangen liest, erkennt sofort, daß es im wesentlichen 26 die neu aufgetretenen Manipulationspraktiken waren, die zur Änderung des Regierungsentwurfs motiviert haben. Für sie eine angemessene Lösung zu finden, war offensichtlich das Ziel, das erreicht werden mußte. Denn es war in der Tat kaum möglich, den Bankomatenmißbrauch und die unberechtigte Inanspruchnahme des Btx-Systems auf der Grundlage des Regierungsentwurfs als „unrichtige oder unvollständige Verwendung von Daten" unter den Tatbestand zu subsumieren 27 .

Fn. 24, S. 30. Dem Umstand, daß die Neufassung auch mögliche „hard-ware-Manipulationen" sicher einbeziehen sollte (Bericht S. 30), kommt demgegenüber nur untergeordnete Bedeutung zu. 17 Meine abweichende Meinung in Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 17. Aufl. 1987, §263a Anm.4c halte ich nicht aufrecht. 25

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Mindestens die verfassungsrechtlich gewährleistete Wortlautschranke 28 hätte das ausgeschlossen. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet die Gesetzesfassung einen eindeutigen Fortschritt. Dennoch hat sie nach ihrem Inkrafttreten - nicht zuletzt in Bezug auf das Merkmal „unbefugte Verwendung von Daten" - einen bisher völlig unausgetragenen Meinungsstreit entfacht 29 . Es drängt sich deshalb die Frage auf, ob an der Stelle des Gesetzgebungsverfahrens, an der die Weichen für die Änderung gestellt worden sind, etwas versäumt wurde, ob mit anderen Worten die Erfüllung der drei eingangs beschriebenen Aufgaben 30 zu kurz gekommen ist. Haben die Entwurfsverfasser möglicherweise nicht bemerkt, daß sie mit der Einführung des Elements „unbefugter" Datenverwendung das T o r für die Einbeziehung von Verhaltensweisen öffneten, die für einen „Betrug" gänzlich unspezifisch sind? Haben sie ferner das gesetzgeberisch Gewollte sprachlich so einwandfrei zum Ausdruck gebracht, daß vermeidbare Mißverständnisse ausgeschlossen wurden? Und haben sie schließlich die Auswirkungen der Änderung auf das Gesamtsystem hinreichend bedacht? Unter allen drei Gesichtspunkten werden im Schrifttum Einwendungen erhoben (dazu 5 - 7 ) . 5. a) Bei dem Merkmal „unbefugter" Datenverwendung hat man davon auszugehen, daß unbefugtes Handeln nicht zugleich irreführendes Handeln ist. Im Anwendungsbereich des Betruges wird eine Befugnis daher nur relevant, wenn sie zu den Grundlagen der Beziehung zwischen den Beteiligten gehört und auch bei deren Schweigen als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt wird. U m dem Betroffenen Partner in solchen Fällen das unerläßliche Minimum an Redlichkeit im Verkehr zu gewährleisten, nimmt ihm das Recht das Orientierungsrisiko ab und behandelt das Vorhandensein der Befugnis als „schlüssig" miterklärt 31 . Ihr Fehlen ist daher nicht als solches, sondern nur unter der Voraussetzung „betrugsspezifisch", daß der Rechtsverkehr nach den Umständen des Einzelfalls Konkludenz für ihr Vorhandensein bejaht. In Frage kommt diese Konstellation namentlich, wenn jemand seine Befugnis zum Abschluß eines Vertrages oder zur Inanspruchnahme einer Leistung konkludent vorspiegelt, etwa dadurch, daß er in bezug auf einen bestimmten Gegenstand das Fehlen seiner Verfügungsbefugnis ver-

B V e r f G E 73, 206, 235. Vgl. dazu den weiteren Text. 30 Oben I. 31 Zum schlüssigen Verhalten Cramer, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 23.Aufl. 1988, § 2 6 3 Rdn. 1 4 - 1 7 c ; Lackner, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar (LK), 18. Lieferung der 10. Aufl. 1979, § 2 6 3 Rdn. 2 8 - 5 1 , jeweils mit weiteren Nachweisen. 28

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schweigt32, oder dadurch, daß er über das Fehlen der nach dem Geschäftstypus allgemein vorausgesetzten Deckung nicht aufklärt 33 . Mutatis mutandis würde diese Voraussetzung auch beim Mißbrauch einer Codekarte am Bankomaten und bei der unbefugten Teilnahme am Btx-System vorliegen; denn wer von einem Menschen auf Grund eines ihm nicht zustehenden Berechtigungsausweises (Codekarte, Zugangssignal usw.) die Auszahlung von Geld oder die Teilnahme an einer entgeltlichen Veranstaltung beansprucht, erklärt zugleich ausdrücklich oder mindestens schlüssig, daß er Inhaber der Berechtigung sei. Diese Einschränkung auf „betrugsspezifisches" Verhalten fehlt bei dem Merkmal der „unbefugten" Datenverwendung im Sinne des § 263 a. Nimmt man den Begriff „unbefugt" beim Wort, so deckt er jede Verwendung ab, die dem Willen des über die Daten Verfügungsberechtigten widerspricht, und zwar gleichgültig, ob sie in dem oben beschriebenen Sinne täuschungsgleich ist oder nicht. Bei dieser Annahme wäre es unausweichlich, den Gesamtbereich der Untreue in den Tatbestand einzubeziehen, sofern nur der Täter in Bereicherungsabsicht handelt. So würde z. B. auch das Vorstandsmitglied einer AG, das zur Verschiebung der Machtverhältnisse in einem Konzern treuwidrig Finanzmittel von einer Konzerngesellschaft auf eine andere verschiebt, zum Computerbetrüger, weil einerseits die Transaktion im Verhältnis zur eigenen Gesellschaft unbefugt war und andererseits die fremde Gesellschaft bereichert werden sollte. Es ist offensichtlich, daß von einer täuschungsähnlichen Manipulation hier keine Rede sein kann. Eine Übertragung des Sachverhalts auf die Ebene der Kommunikation unter Menschen zeigt deshalb auch, daß für die Konstruktion einer schlüssigen Erklärung, mit der dem betroffenen Partner ein Orientierungsrisiko abgenommen werden könnte, jeder Ansatz fehlt. Bei dieser Auslegung ist § 263 a - mindestens im Verhältnis zur Untreue - zweifelsfrei zu weit geraten. Eine solche Ausdehnung des Anwendungsbereichs läßt sich auch kaum mit der Erwägung rechtfertigen, daß jedenfalls auf Grund der Konkurrenzregeln ungerechte Ergebnisse zuverlässig vermieden werden könnten. Geht man schon von der Verwirklichung beider Tatbestände aus, so führt wegen der Unterschiede in den Schutzbereichen kein Weg an der Annahme von Idealkonkurrenz vorbei. Dann muß aber der Schuldspruch auch den § 263 a enthalten und den Täter, der kein betrugsspezifisches Unrecht begangen hat, als Computer-„Betrüger" abstempeln. Nicht nur speziell im Verhältnis zur Untreue ist die Anknüpfung an die „unbefugte" Datenverwendung fragwürdig. Bei wortlautgetreuer

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Schönke/Schröder/Cramer (Fn.31), §263 Rdn. 16 b. » Schönke/Schröder/Cramer (Fn.31), §263 Rdn.29.

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Auslegung würde auch jede andere wie immer geartete zivil- oder öffentlichrechtliche Pflicht, die Verwendung bestimmter Daten zu unterlassen, ausreichen, um das Merkmal zu erfüllen. Auch Pflichten, die ganz anderen Zwecken dienen, unter Umständen sogar überhaupt keine Beziehung zum Vermögen haben, wären nicht ohne weiteres auszugrenzen. Wahrscheinlich würde sich allerdings in diesem Bereich der überwiegende Teil kritischer Fälle mit Hilfe der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen bewältigen lassen. Denn immerhin muß - insoweit besteht gegenüber § 263 kein Unterschied - die unbefugte Datenverwendung das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs mit unmittelbar vermögensschädigender Wirkung beeinflussen und in Bereicherungsabsicht geschehen. Viele einschlägige Pfichtverletzungen werden schon ihrer Natur nach untauglich sein, diesen inneren Zusammenhang herzustellen. Geht man aber mit dem Gesetzeswortlaut von der uferlosen Weite des Begriffs „unbefugt" aus, dann ist es beunruhigend, damit rechnen zu müssen, daß es praktisch bedeutsame Fallgruppen geben kann, die dem Tatbestand des § 263 a zu subsumieren sind, aber kein betrugsspezifisches Unrecht bedeuten34. b) Angesichts dieser unsicheren Ausgangslage waren die Reaktionen im Schrifttum auf die neue Tatbestandsalternative ungewöhnlich vielfältig. Zwar wird an der ungeklärten Tragweite des Merkmals „unbefugte Verwendung von Daten" und der daraus folgenden Unbestimmtheit des Tatbestandes im ganzen nahezu einhellig Kritik geübt35. Uber die Wege zur Bewältigung der Schwierigkeiten gehen die Meinungen aber weit auseinander. Teils wird vorgeschlagen, dem Willen des Gesetzgebers aus gesetzestechnischen Gründen, auf die noch einzugehen sein wird, die Gefolgschaft überhaupt zu versagen und die Anwendbarkeit der Vorschrift sogar auf die Standardfälle zu verneinen, die für die Gesetzesänderung motivierend gewesen sind36. Meist wird jedoch - allerdings mit verschiedenen Ansätzen - versucht, durch restriktive Auslegung eine Begrenzung zu finden. Einige Autoren sehen dazu eine Möglichkeit in der Herstellung einer spezifischen Beziehung zum Programm. Danach soll es darauf ankommen, ob die unbefugt verwendeten Daten Eingang in die Programmgestaltung gefunden haben37 bzw. ob sie gerade in 34 Unter diesem Gesichtspunkt problematisch ist z.B. der Fall, daß Glücksspielautomaten unter Verwendung von anderweit erlangten Kenntnissen über das Programm des Geräts „ausgeleert" werden (dazu LG Göttingen, NJW 1988, 2488). 35 Statt aller LG Köln NJW 1987, 667; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 44. Aufl. 1988, §263a Rdn. 10; Schönke/Schröder/Crawer (Fn.31), §263a Rdn. 2, jeweils mit weiteren Nachweisen. » Unten II 6.

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Lenckner/Winkelbauer, CR 1986, 654, 657.

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bezug auf ihre Funktion im Programm verwendet worden sind38. Auf diese Weise werden alle Fälle ausgeschieden, in denen die Datenverwendung keinen im Programm vorgesehenen Verarbeitungsschritt auslöst. Eine solche Einschränkung ist sehr wirksam. Sie führt dazu, daß die Untreuefälle - jedenfalls in ihrer großen Mehrzahl - und darüber hinaus auch alle Fälle ausgeschieden werden, in denen auf Grund interner Rechtsbeziehungen zwischen Personen die Datenverwendung zwar unerlaubt, in der Programmgestaltung des Computers aber nicht berücksichtigt ist39. Nach dieser Ansicht wird der Bankomatenmißbrauch durch den Nichtberechtigten erfaßt, während der entsprechende Mißbrauch durch den kontoüberziehenden Berechtigten ausgeschieden bleibt40. Zum Teil geht man auch davon aus, daß eine sinnvolle Einschränkung des § 263 a weder durch das betrugsfremde Merkmal „unbefugt" noch durch die ursprünglich beabsichtigte enge Anlehnung an § 263 gelungen sei, so daß deshalb „nicht ausdrücklich geregelte Fragen im Wege der Auslegung zu klären" seien41. Damit ist wohl gemeint, daß bei den einschlägigen Fallgruppen eine - allerdings nicht näher definierte Ähnlichkeit zu betrügerischem Verhalten vorausgesetzt werden muß. Auf dieser Grundlage wird dann auch die Einbeziehung des vom berechtigten Kontoinhaber begangenen Mißbrauchs befürwortet 42 . Dasselbe Ergebnis wird schließlich noch mit Hilfe eines anderen, eng verwandten Ansatzes gewonnen. Nach ihm kommt es auf die für den Kontoinhaber zu bejahende Frage an, ob die in den unbefugt verwendeten Daten steckende Information, wäre sie statt an den Computer an einen Menschen gerichtet, als Täuschung qualifiziert werden könnte43. c) Schon diese zusammenfassende Skizze des bisher entstandenen Meinungsspektrums dürfte das Ausmaß der Unsicherheit, die von der Ergänzung des § 263 a durch den BT-Rechtsausschuß ausgegangen ist, 38 Samson, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK), Band2, Besonderer Teil, Loseblatt-Ausgabe, Stand Februar 1988, §263a Rdn. 8. 39 Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 31), §263a Rdn. 8-11; im Ergebnis ebenso Weber, JZ 1987, 215. 40 Vgl. die Nachweise in Fn. 37-39. 41 Dreher/Tröndle (Fn.35), § 263 a Rdn. 10. 42 Dreher/Tröndle (Fn.35). Im Ergebnis ebenso Achenbach, NJW 1986, 1835, 1838; Granderath, DB 1986, Beilage 18, S.l, 4; Haft, NStZ 1987, 6, 8; Haß, in: Lehmann (Hrsg.), Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, 1988, S. 299, Rdn. 14; Möhrenschlager, wistra 1986, 128, 133; Otto, wistra 1986, 150, 153 und Jura-Kartei 1988, StGB, §266 b/1; Tiedemann, JZ 1986, 865, 869; Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil 2, 10. Aufl. 1987, § 13V2. 43 So Schlächter, Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, 1987, S. 91.

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hinreichend deutlich machen. Eine wirklich befriedigende Bewältigung der Schwierigkeiten ist bisher nicht gelungen. Ich selbst neige zu der Auffassung, daß sich der Gesetzgeber - wie aus der oben ausführlich dargestellten Gesetzesgeschichte hervorgeht - von dem ursprünglich verfolgten Prinzip einer möglichst engen Anbindung des Computerbetrugs an §263 nur in den Grenzen des ihm unbedingt notwendig Erscheinenden entfernen wollte44. Er kann deshalb den Begriff „unbefugt" nicht im schlichten Wortsinn gemeint haben. Alle Versuche der Einschränkung entsprechen deshalb den Zweckvorstellungen des Gesetzes. Nimmt man aber den Gedanken hinzu, daß auch die Kongruenz mit dem Betrug so weit wie möglich erhalten bleiben sollte, dann bietet sich an, das „Betrugsspezifische" der unbefugten Datenverwendung darin zu sehen, daß die Befugnis des Täters zur Inanspruchnahme der Leistung seines Beziehungspartners zu den Grundlagen des jeweiligen Geschäftstypus gehören muß und daß sie nach den Anschauungen des Geschäftsverkehrs auch beim Schweigen der Beteiligten als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt wird45. Unter dieser Voraussetzung hat - wie sich aus der Entwicklung der Rechtsprechung zum Betrug ergibt - die unbefugte Datenverwendung Täuschungswert und auch nur insoweit sollte sie dem Tatbestand des § 2 6 3 a subsumiert werden. Denn mit dieser Deutung fügt sich das neue Merkmal bruchlos in die Betrugskonzeption ein. Es scheidet auf der einen Seite die Untreuefälle und alle weiteren Fälle aus, die in dem beschriebenen Sinne keinen Täuschungswert haben, erfaßt auf der anderen Seite aber die Standardfälle der mißbräuchlichen Inanspruchnahme von elektronisch vermittelten Leistungen durch den Nichtberechtigten zuverlässig46. Auch der umstrittene47 Bankomatenmißbrauch durch den berechtigten Kontoinhaber dürfte sich auf dieser Grundlage einbeziehen lassen. Daß nämlich nach dem Geschäftstypus automatischer Geldabhebung die Befugnis des Kontoinhabers zur Inanspruchnahme der Leistung als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt wird, liegt offen zutage. Fraglich ist nur, ob sie auch zu den Grundlagen eines solchen Massengeschäfts gehört. Das ist aus ähnlichen Gründen zweifelhaft wie beim Scheckkartenbetrug nach früherem Recht. Die Rechtsprechung hat hier bekanntlich einen Irrtum des Schecknehmers bejaht48, während das Schrifttum ihn überwiegend

Oben I I I . Oben II 5 a. 46 Fn. 45. 47 Vgl. Fn. 37-43. 48 BGHSt. 24, 386; 33, 244, 248; O L G Köln, NJW 1978, 713; O L G Hamburg, NJW 1983, 768. 44

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verneint hat49. Maßgebend für die Haltung des Schrifttums war der Umstand, daß in den einschlägigen Fällen keine zureichenden Anhaltspunkte für eine positive Fehlvorstellung des Schecknehmers ausgemacht werden konnten; denn im Hinblick auf die Garantieerklärung der bezogenen Bank brauchte er sich regelmäßig über die Deckung des Schecks keine Gedanken zu machen. Im System der automatischen Geldabhebung besteht ein wesentlicher Unterschied insofern, als sich der Umstand der Deckung des in Anspruch genommenen Geldbetrages zwar von vornherein nicht im Computerprogramm niederschlägt, daß er aber dennoch nach den Anschauungen des Rechtsverkehrs im Hinblick auf das offensichtlich gleichgerichtete Interesse aller am Verbund beteiligten Kreditinstitute, keine Kreditüberziehungen zuzulassen, den Grundbedingungen des Geschäftstypus zugeordnet werden kann. Alsdann erscheint es folgerichtig, das Verhalten des Täters einer schlüssigen Erklärung seiner Befugnis gleichzusetzen und ihm daher - insoweit in Übereinstimmung mit der überwiegenden Schrifttumsmeinung50 — Täuschungswert beizumessen. Die Gegenmeinung, die eine Berücksichtigung der Befugnis im Programm voraussetzt 51 , ist vor allem deshalb problematisch, weil sie in Wahrheit nicht auf den Täuschungswert des Täterverhaltens abstellt, sondern auf den zufälligen Umstand, ob und wieweit die Möglichkeiten, auf fraudulöse Angriffe schon in der Programmgestaltung zu reagieren, technisch fortgeschritten und praktisch realisierbar sind. d) Folgt man der hier entwickelten Konzeption, dann kann, wie kurz zu zeigen sein wird, bei „betrugsspezifischer" Auslegung auch der übrigen Manipulationsformen erreicht werden, daß sich Betrug und Computerbetrug in ihrer Struktur vollständig decken und daß der Computerbetrug wegen seiner lückenfüllenden Funktion nur anwendbar wird, wenn die Tat nicht schon als Betrug strafbar ist.

aa) Was zunächst die wichtigste Manipulationsform, die „Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten" betrifft, ist darunter das Einführen solcher Daten in den Verarbeitungsvorgang zu verstehen. Erfaßt wird nach einhelliger Meinung nicht nur das unmittelbare Einführen, z.B. durch den Terminalbenutzer, sondern auch das mittelbare durch das Datenerfassungspersonal, durch Sachbearbeiter und durch außenstehende Dritte52, allerdings mit der Einschränkung, daß mittelbare Täterschaft vorliegt, der unmittelbar Eingebende und die mittelbar handelnn 50 51 52

Lackner L K (Fn.31) §263 Rdn.321 mit weiteren Nachweisen. Vgl. Fn. 42, 43. Vgl. Fn. 37-39. Statt aller Möhrenschlager, wistra 1986, 128, 132.

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den Zwischenpersonen also bloße Tatmittler sind. Die Tatbestandsgrenze für den Hintermann wird danach erst überschritten, wenn eine Zwischenperson selbst vorsätzlich handelt und ihn dadurch auf die Rolle des Teilnehmers verweist. Ich halte es entgegen der überwiegenden Meinung im Schrifttum nicht für richtig, davon den Fall auszunehmen, daß die Zwischenperson mit der sachlichen Nachprüfung des Dateninhalts betraut und daher tauglicher Adressat einer Täuschung ist53. Das widerspricht den allgemeinen, für die mittelbare Täterschaft geltenden Regeln und wird durch die Auffangfunktion des Computerbetrugs nicht gefordert. Denn es gibt keinen Grundsatz, nach dem die Merkmale eines Tatbestandes nur deshalb nicht erfüllt sind, weil ein anderer eingreift. Außerdem ist erst die Konkurrenzebene der richtige Ort, um das Verhältnis der möglicherweise nebeneinander verwirklichten Betrugstatbestände zu bestimmen. - Aus der Nähe zu §263 folgt alsdann, daß verwendete Daten „unrichtig" sind, wenn die mit ihnen dargestellten Informationen „falsche oder entstellte Tatsachen" (§ 2631) bedeuten, und „unvollständig", wenn sie Informationen über „wahre Tatsachen" pflichtwidrig vorenthalten. Das wird, soweit ersichtlich, nicht bestritten54 und stellt die gebotene strukturelle Ubereinstimmung mit § 263 her. bb) Bei der weiteren Manipulationsform, der „unrichtigen Gestaltung des Programms", bedarf der Hervorhebung, daß eine Programmgestaltung nur unrichtig ist, wenn sie bewirkt, daß die eingegebenen, auf die betrugsrelevanten Tatsachen bezogenen Ausgangsdaten ganz oder teilweise so verarbeitet werden, daß das Ergebnis von der Aufgabenstellung abweicht, die mit der Datenverarbeitung bewältigt werden soll. Es ist nicht der Wille irgendeines „Verfügungsberechtigten"55, sondern das Verhältnis zwischen den Beteiligten, aus dem die Aufgabenstellung der Datenverarbeitung und die daraus folgende Richtigkeit der Programmgestaltung abzuleiten sind56. Ein Programm ist danach immer, aber auch nur dann richtig gestaltet, wenn es bei Verwendung richtiger und vollständiger Daten nicht nur zufällig, sondern in systematisch vollzogenen Arbeitsschritten das den Zwecken der Datenverarbeitung entsprechende Ergebnis präsentiert. Auch damit wird eine enge Anbindung an

53 So aber u.a. Lenckner/Winkelhauer, C R 1986, 654, 656; Möhrenschlager (Fn.52); Samson SK (Fn.38), § 2 6 3 a Rdn. 12. Wie hier Haß (Fn.42) S.299, R d n . l l ; Dreher/Tröndle (Fn.35), §263a Rdn. 7. 54 Vgl. etwa Haft, NStZ 1987, 6, 7. 55 So aber die Regierungsvorlage (BT-Drucks. 10/318 S. 20); Lenckner/Winkelbauer, C R 1986, 654, 656; Möhrenschlager, wistra 1986, 128, 132; Schönke/Schröder/ Cramer (Fn.31), § 2 6 3 a Rdn.6; Samson SK (Fn.38), § 2 6 3 a Rdn. 5. 56 Wie hier u.a. Haft, NStZ 1987, 6, 7; Haß (Fn.42) S.299 Rdn. 12; Schlechter (Fn. 43) S. 87; Dreher/Tröndle (Fn. 35) § 263 a Rdn. 6.

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den Betrugstatbestand erreicht; denn der Denkprozeß des Menschen verläuft prinzipiell nicht anders. cc) Auch die letzte, hier zu erörternde Manipulationsform, die „sonst unbefugte Einwirkung auf den Ablauf" 5 7 läßt sich unschwer „betrugsspezifisch" begrenzen. Dann reicht nämlich der bloße Mangel der Befugnis zur Einwirkung allein nicht aus. Zur Begründung des Täuschungswerts muß vielmehr hinzukommen, daß die Anlage infolge der Einwirkung die eingegebenen Informationen über Tatsachen nicht ihrem sachlichen Gehalt entsprechend verarbeitet und aus diesem Grunde zu einem abweichenden Ergebnis kommt. Eine solche Einschränkung macht den Anwendungsbereich dieser Manipulationsform überschaubar und entschärft auch die sonst berechtigten Bedenken, die im Hinblick auf die Unbestimmtheit gerade dieses Merkmals erhoben worden sind 58 . e) Kann man sich in dieser Weise auf eine „betrugsspezifische" Begrenzung des Tatbestandes verständigen, bestehen gegen die Annahme der Strukturgleichheit von Betrug und Computerbetrug keine Bedenken mehr. Denn dann trifft es in der Tat zu, daß beide Tatbestände zum Teil deckungsgleich sind (Vermögensschaden, Bereicherungsabsicht) und daß im übrigen - wie die Begründung zur Regierungsvorlage ausführt 59 die Betrugsmerkmale Täuschung, Irrtum und Vermögensverfügung beim Computerbetrug „durch solche Merkmale" ersetzt werden, „die beim Einsatz einer Datenverarbeitungsanlage an die Stelle des menschlichen Denkens und Handelns treten".

f) Folgt man dieser Auslegung, so werden weitreichende Vereinfachungen im Verhältnis der beiden Tatbestände untereinander erreicht. Sie können hier aus Raumgründen nur noch angedeutet werden 60 : In der Praxis ist die tatsächliche Konstellation typisch, daß in die Datenverarbeitung Menschen mit nicht nur formaler, sondern inhaltlicher Prüfungskompetenz kontrollierend eingeschaltet sind und daß deshalb Betrug und Computerbetrug gleichermaßen in Frage kommen. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Konzeption läßt sich das Nebeneinander der beiden Tatbestände nach den allgemeinen, für Vorsatz und Konkurrenzen geltenden Regeln sinnvoll lösen, wenn die gesetzgeberisch gewollte 61 Auffangfunktion des § 263 a zugrunde gelegt wird. In 57 Auf diese Alternative wird in anderem Zusammenhang unter 116 nochmals zurückzukommen sein. 58 Vgl. etwa L G Köln N J W 1987, 667; Schlüchter (Fn.43), S.91; Dreher/Tröndle (Fn.35), § 2 6 3 a Rdn.9; Schönke/Schröder/Cramer (Fn.31), § 2 6 3 a Rdn. 12; Samson SK (Fn.38), § 2 6 3 a Rdn.9. 59 Oben I I I . 60 Näher dazu Lackner (Fn. 27), § 263 a Anm. 7, 10. « Oben I I I .

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allen Fällen, in denen derselbe Schaden vorsätzlich nicht nur durch Computermanipulation, sondern auch durch Täuschung eines Menschen bewirkt wird, sind dann zwar beide Tatbestände nebeneinander verwirklicht62; § 263 a tritt aber als die subsidiäre (lückenausfüllende) Norm zurück. Das trifft wahrscheinlich für die Mehrzahl aller einschlägigen Fallgruppen zu. Nun müssen aber objektives Geschehen und Vorsatz sich nicht notwendig decken. Denkbar ist z.B. auch, daß der Täter objektiv den einen der beiden Tatbestände verwirklicht, daß er subjektiv aber nur den anderen verwirklichen will. Hier liegt wegen der Gleichwertigkeit des Unrechts eine unwesentliche Abweichung des Kausalverlaufs vor63, so daß die objektiv begangene Betrugsform vollendet und die vorgestellte nur versucht ist. Bei solchem Zusammentreffen von vollendeter und versuchter Tat tritt der Versuch als die zwar wertgleiche, aber weniger weit fortgeschrittene Begehungsform zurück (Subsidiarität) 64 . Die Ergebnisse sind daher denkbar einfach65. Sie sind aber nur vertretbar, wenn zuvor durch Auslegung die Struktur- und Wertgleichheit der beiden Tatbestände hergestellt werden kann. g) Im ganzen zeigt sich, daß Betrug und Computerbetrug widerspruchsfrei nebeneinander bestehen können, wenn man sich zu der vorgeschlagenen „betrugsspezifischen" Auslegung entschließen kann. Leider läßt sie sich nicht zwingend aus dem im Kern gänzlich unklaren Gesetz ableiten. Die Einfügung des Elements „unbefugter" Datenverwendung hat vielmehr eine höchst unsichere Lage geschaffen, die möglicherweise vermeidbar gewesen wäre, wenn das gesetzgeberisch Gewollte in einer auf das Notwendige beschränkten Formulierung präziser gefaßt worden wäre. 6. Unglücklicherweise enthält die im BT-Rechtsausschuß beschlossene Fassung auch eine nicht beabsichtigte sprachliche Unebenheit, die schon bald nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgedeckt wurde 66 . Bekanntlich 67 62 63

Oben II 5 d aa. Zu den näheren Voraussetzungen dieser Rechtsfigur vgl. etwa BGHSt. 7, 325,

327. Vogler LK (Fn.31), Vorbem. zu §52 Rdn. 123. An sich wären hier noch weitere mögliche Formen des Zusammentreffens im Vorsatz- und Konkurrenzbereich zu erörtern, die aber alle nach denselben Grundsätzen gelöst werden können. Wie weit die Vereinfachung reicht, mag das folgende Beispiel verdeutlichen: Wer die Verpflichtungserklärung eines anderen durch Computerbetrug erschleicht (Eingehungsschaden) und seinen „Anspruch" dann durch normalen Betrug realisiert (Erfüllungsschaden), begeht nur eine Betrugstat mit Vorrang des § 263 (zu dieser im internen Betrugsbereich anerkannten Zusammenfassung von Eingehungs- und Erfüllungsbetrug zu einer einheitlichen Tat vgl. Lackner LK, Fn.31, §263 Rdn.292). 64

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Kleb-Braun, Oben II 3.

JA 1986, 249, 259.

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endet die Aufzählung der verschiedenen Tatmittel im Gesetzestext mit den Worten: „oder sonst durch unbefugte Einwirkung auf den Ablauf beeinflußt". Sprachlich ordnet danach das Wort „sonst" alle vorausgegangenen enumerativ benannten Manipulationsformen der zuletzt genannten Form, dem unbefugten Einwirken auf den Ablauf, als bloße Beispiele unter. Die Tathandlung besteht bei grammatischer Auslegung also nur darin, daß jemand das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs durch unbefugte Einwirkung auf den Ablauf beeinflußt, während alle übrigen Begehungsformen nur Beispiele unbefugter Einwirkung sind. Davon ausgehend wird geltend gemacht, daß in den Bankomatenfällen die „unbefugte Verwendung von Daten" keine Einwirkung auf den Ablauf des Datenverarbeitungsvorgangs bedeute, sondern lediglich dessen Ingangsetzung und die Herstellung des Ergebnisses. Es sei zwar nicht zweifelhaft, daß die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten auch die unbefugte Verwendung erfassen wollten, daß sie das gewünschte Ergebnis aber durch die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen, in die dieses Merkmal eingebunden worden sei, verfehlt hätten. Einer „berichtigenden" Auslegung stehe die Wortlautschranke des Art. 103 II GG 6 8 entgegen 69 . Diese Argumentation, die anfangs erhebliche Unsicherheit verbreitet hat 70 , konnte erst nach einem längeren Klärungsprozeß als unbegründet erwiesen werden 71 . Auf sie ist hier nicht näher einzugehen. Was aber bleibt, ist die Frage, ob der Fehler durch größere Aufmerksamkeit bei der sprachlichen Umsetzung des gesetzgeberisch Gewollten hätte vermieden werden können. 7. Auch was die Auswirkungen der Neufassung auf das Gesamtsystem betrifft, bestand Grund zur Uberprüfung der neuen Lage. Sie war dadurch entstanden, daß mit dem Merkmal „unbefugte" Datenverwendung möglicherweise auch der Bankomatenmißbrauch durch den berechtigten Kontoinhaber erfaßt wurde. Das ist heute überwiegende Meinung 72 und scheint jedenfalls die Auffassung auch der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Ministerialbeamten gewesen zu sein 73 . Bei diesem Ausgangspunkt entsteht nun aber ein Wertungswiderspruch zu dem ebenfalls auf dem 2 . W i K G beruhenden § 266 b, der den ScheckVgl. Fn.28. Ranft, wistra 1987, 79, 83; ähnlich schon vor ihm Kleb-Braun J A 1986, 249, 259; Jungwirth, MDR 1987, 537, 542. 70 Vgl. Dreher/Tröndle (Fn.35), 43. Aufl., § 2 6 3 a Rdn.8. 71 Ablehnend jetzt namentlich Haft, NStZ 1987, 6, 8, Fn. 16; Haß (Fn.42), S.299 Rdn. 17; Huff NJW 1987, 817; Otto, J R 1987, 221, 224; Scblüchter (Fn. 43) S. 92; Dreher/ Tröndle (Fn. 35), § 2 6 3 a Rdn. 8; Samson SK (Fn. 38), §263 a Rdn. 7. 72 Vgl. oben I I 5 c und Fn.42. 73 Möhrenschlager, wistra 1986, 128, 133. 68

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und den Kreditkartenmißbrauch mit einer gegenüber den §§263, 263 a und 266 geringeren Strafe bedroht. Auch hier geht es um den berechtigten Kontoinhaber, der seine Kreditlinie überzieht. Irgendeinen Grund, Scheck-, Kredit- und Codekarte in diesem Punkt verschieden zu behandeln, gibt es nicht. Die Rechtsprechung74 und ein Teil der Lehre75 haben inzwischen versucht, diesen offensichtlichen Wertungswiderspruch auszuräumen. Da im „eurocheques"-System die Funktionen der Scheckund der Codekarte zufällig in einer Karte vereinigt sind, wird der Codekartenmißbrauch in den Anwendungsbereich des § 266 b mit dem Argument einbezogen, die Scheckkarte verliere ihre Eigenschaft als solche nicht dadurch, daß sie im Einzelfall als Codekarte eingesetzt werde. Dieser Ausweg dürfte jedoch kaum gangbar sein76. Man braucht nur die Frage zu stellen, was gelten soll, wenn in einem anderen System die Funktionsverbindung aufgelöst und eine Codekarte wieder getrennt ausgegeben wird. Soll dann wieder § 2 6 3 a einspringen? Was auch hier bleibt, ist die Frage, ob der inzwischen offenbar gewordene Konstruktionsfehler des Gesetzes durch größere Aufmerksamkeit bei Prüfung der Systemverträglichkeit des neuen § 263 a hätte vermieden werden können.

III. Am Ende dieser Überlegungen, die sich auf einen Ausschnitt aus der Problematik des Computerbetrugs beschränkt haben, ist das Fazit zu ziehen. Nachdrücklich soll vorweg betont werden, daß es nicht darum geht, einen Vorwurf - welcher Art und gegen wen auch immer - zu erheben. Aus eigenen leidvollen Erfahrungen während meiner Ministerialtätigkeit ist mir die unübersehbare Komplexität des Themas viel zu gut bekannt. Hier liegt auch der Grund, warum ich diesen Beitrag gerade dem verehrten Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, in dankbarer Erinnerung an lange Perioden enger Zusammenarbeit darbringen möchte. Denn ich weiß, wie sehr er auf diesem Felde bewandert ist, und hoffe deshalb zuversichtlich, daß er meiner folgenden Bewertung zustimmen kann: Fehler von der Art, wie sie hier ins Auge gefaßt wurden, sind niemals ganz vermeidbar. Sie sind in der Organisation des Gesetzgebungsverfahrens und den vielfältigen Einflußmöglichkeiten, denen die Beratungen O L G Stuttgart, NJW 1988, 981, 982; LG Köln NJW 1987, 667, 669. Bieber, WM 1987, Beil. 6, S.27; Huff, N J W 1987, 815, 818; Müller/Wabnitz, Wirtschaftskriminalität, 2. Aufl. 1986, S. 17; Weber, NStZ 1986, 481, 484, JZ 1987, 215, 217 und Gedächtnisschrift für E. Küchenhoff, 1987, S.485, 490; Schönke/Schrödcr/CVamer (Fn. 31), 263 a Rdn. 11. 76 Ablehnend auch Granderath, DB 1986, Beilage 18, S.9; Otto, wistra 1986, 150, 153; Dreher/Tröndle (Fn. 35), §263 a Rdn. 10. 74

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ausgesetzt sind, geradezu vorprogrammiert. Es wäre Illusion zu glauben, daß es den Verantwortlichen möglich sein könnte, immer hinreichend zu erkennen, wie das gesetzgeberisch Gewollte mit einem Höchstmaß an Eindeutigkeit, Einfachheit und Systemverträglichkeit in Gesetzessprache umgesetzt werden kann. Dazu reichen die menschliche Phantasie und vor allem auch die zur Verfügung stehende Zeit häufig nicht aus. - Wohl aber war es Ziel dieses Beitrags, ins Bewußtsein zu heben, daß hier von einem wichtigen, in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Aufgabenfeld die Rede ist. Einschlägige Fehler haben regelmäßig fatale Folgen. Es ist noch das Wenigste, daß sie die Gerichte oft mit einer Fülle sonst vermeidbarer Verfahren belasten, in denen die Streitfragen durchweg bis zur letzten Instanz ausgetragen werden müssen. Immerhin wird aber auf diese Weise ein Potential von Arbeitskraft gebunden, das an anderer Stelle Produktiveres leisten könnte. Wichtiger ist, daß jede unter den einschlägigen Gesichtspunkten „kranke" Gesetzesfassung eine Zone der Unsicherheit und damit der Unberechenbarkeit des Rechts schafft. Ihre unangemessene Häufung bildet eine ernste Gefahr für das Vertrauen des Bürgers in das Recht und für die Rechtskultur im ganzen. Das Bewußtsein dafür zu schärfen, ist das Anliegen dieses Beitrags. Für die Erfüllung der beschriebenen Aufgaben sind intime Kenntnis der Materie, die Gegenstand des geplanten Gesetzes sein soll, ein weiter Überblick über die Zusammenhänge der Rechtsordnung und sehr viel Erfahrung erforderlich. Dabei mögen allgemeine Regeln und Richtlinien der Gesetzgebungspraxis, Maßnahmen computergesteuerter Informationsbeschaffung und eine Organisation sinnvoller Zusammenarbeit notwendig und hilfreich sein. Letztlich entscheidend bleibt aber immer der Mensch. Von ihm hängt es letztlich ab, ob die notwendige Sachkunde vorhanden und verfügbar ist, ob sie in das Verfahren wirksam eingebracht werden kann und ob sie sich mit dem hier ganz unerläßlichen Mut gegen alltagspolitische Bedürfnisse „raschen Erfolges" durchzusetzen vermag.

Grenzen der Unschuldsvermutung KARLHEINZ MEYER F

Über die Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, der Verfassungsrang genießt1 und in Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention (MRK) 2 als Menschenrecht und Grundfreiheit anerkannt ist3, besteht nach allgemeiner Ansicht keinerlei Klarheit4. Roxin hält auch in der neuesten Auflage seines Kurzlehrbuchs über das Strafverfahrensrecht5 an der Behauptung fest, der sachliche Gehalt der Unschuldsvermutung sei bis heute ungeklärt. Ob diese Bewertung noch zutrifft, nachdem sich das BVerfG in der Entscheidung vom 26.3.1987 6 erstmals grundsätzlich zum Inhalt der Unschuldsvermutung geäußert hat und nachdem Vogler in seiner Kommentierung des Art. 6 Abs. 2 MRK 7 einen in dieser Vollständigkeit bisher nicht vorhandenen Uberblick über den Meinungsstand gegeben hat, erscheint aber zweifelhaft. Im folgenden soll daher untersucht werden, ob sich heute gültigere Aussagen über Tragweite und Grenzen der Unschuldsvermutung machen lassen als bisher.

1 Das BVerfG hält ihn für eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (BVerfGE 19, 342, 347; 22, 254, 265; 25, 327, 331; 35, 311, 320; 74, 358, 370). 2 Vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S.685). 3 Die MRK ist unmittelbar geltendes Recht der Bundesrepublik; gegenüber dem sonstigen innerstaatlichen Recht hat sie aber keinen Vorrang (Kleinknecht/Meyer StPO 38. Aufl., Rdn. 3 vor Art. 1 MRK m. w. N.). 4 Vgl. Frister Jura 1988, 356, 357; Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, 1983, S. 9; Rogall in: SK/StPO, Rdn. 74 vor § 133 und in: Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 109; Rüping ZStW91 (1979), S.358; Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, 1978, S.2. - Vgl. auch Krauß in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, S. 153, 154, der das geringe Bemühen von Praxis und Lehre um eine inhaltliche Bestimmung und Effektivierung des Grundsatzes beklagt. 5 Roxin, Strafverfahrensrecht, 20. Aufl., 1987, S. 59. 6 BVerfGE 74, 358. 7 Vogler in: Internationaler Kommentar zur Menschenrechtskonvention (IntKommEMRK), Loseblattkommentar, Art. 6 MRK, Rdn. 380 bis 468.

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Karlheinz Meyer

I.

Die Unschuldsvermutung wird im Schrifttum gelegentlich als allgemeine, nur durch eine rechtskräftige Verurteilung widerlegbare Rechtsvermutung für das gesetzestreue Verhalten des Staatsbürgers und gegen das Vorliegen einer Straftat verstanden, die kein spezifisch strafrechtlicher Grundsatz ist, sondern im gesamten Rechtsleben gilt 8 . Insbesondere das BVerfG vertritt die Meinung, die Unschuldsvermutung verlange den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor sie dem Verurteilten „im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf" 9 . O b die Annahme, bei der Unschuldsvermutung handele es sich um eine nicht auf den Strafprozeß beschränkte Rechtsvermutung, schon wegen der damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten auf Bedenken stoßen muß 1 0 , erscheint fraglich. Sicher ist, daß die Unschuldsvermutung ihrem Wesen nach ein nur für das Strafrecht erforderlicher Grundsatz ist. Sie schützt ausschließlich „den wegen einer Straftat Angeklagten" 11 und steht in engem Zusammenhang mit dem Recht des Beschuldigten, den staatlichen Strafanspruch in einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren abzuwehren und sich zu verteidigen 12 . Sie wird mit Recht als die selbstverständliche Folge eines nach Inhalt und Grenzen durch das Gebot der Achtung der Menschenwürde bestimmten, auf dem Schuldgrundsatz aufbauenden materiellen Strafrechts angesehen 13 . Das alles verträgt sich nicht mit der Annahme, es handele sich in Wahrheit um einen allgemeinen, für das gesamte Rechtsleben geltenden Rechtsgrundsatz. Eine so ausdehnende Anwendung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung ist auch nicht geboten. Denn außerhalb des Strafrechts schützen andere Rechtsgrundsätze den Staatsbürger davor, daß er als schuldig bezeichnet und behandelt wird, bevor er rechtskräftig verurteilt ist.

8 So insbesondere Förster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, Diss. Bonn 1979, S. 144 ff., 176. Vgl. auch Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 42 ff., 49. - Marxen ( G A 1980, 365, 373) versteht die Unschuldsvermutung als übergreifendes, für die neuzeitliche F o r m gesellschaftlichen Zusammenlebens konstitutives Rechtsprinzip. ' B V e r f G E 74, 358, 371. Wörtlich ebenso BVerfG (Kammerbeschluß) N J W 1988, 1715 = N S t Z 1988, 21. 10 Vgl. dazu Frister Jura 1988, 355, 359. 11 So ausdrücklich Art. 6 Abs. 2 M R K . Vgl. dazu B V e r w G N J W 1988, 660. 12 B V e r f G E 74, 358, 371. 13 BVerfG (Fn. 12); Sax in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II Halbband2, S . 9 0 6 , 9 8 7 ; Vogler ( F n . 7 ) , R d n . 3 8 2 und in: FS für Kleinknecht, 1985, S. 429, 436.

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Die Unschuldsvermutung gilt daher weder im Zivilprozeß14 noch im Verwaltungsstreitverfahren. In beiden Verfahrensarten sind die Gerichte nicht gehindert, Tatsachen festzustellen und zu berücksichtigen, die den Tatbestand einer Straftat enthalten, auch wenn der Betroffene deswegen noch nicht rechtskräftig verurteilt ist. Entsprechendes gilt für die Behörden der öffentlichen Verwaltung15. Sie können Maßnahmen, die die Begehung von Straftaten voraussetzen, auch dann treffen, wenn deswegen noch keine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung ergangen ist. Daher ist z. B. die Ausweisung eines Ausländers, der wegen einer Straftat verurteilt worden ist, nach §10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG nach allgemeiner Ansicht auch zulässig, wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist16. Im Verhältnis zwischen den Staatsbürgern untereinander, insbesondere im Verhältnis zwischen den Medien und dem einzelnen Staatsbürger gilt die Unschuldsvermutung weder unmittelbar noch im Wege der „Drittwirkung" 17 . Allenfalls ist aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung ein Gebot gegenüber dem Staat abzuleiten, durch positive Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Presse sich bei der Berichterstattung über anhängige Strafverfahren in den Grenzen der gebotenen Sachlichkeit hält18. Vor Diskriminierungen wegen einer nicht oder noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Straftat schützt den Staatsbürger das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 GG 1 9 . Es gewährt ihm grundsätzlich Schutz vor Erörterungen seiner Straftat in der Öffentlichkeit. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung nur konkretisiert 20 . In diesem Sinne ist wohl auch die Erwähnung der Unschuldsvermutung in dem

14 Frowein in: FS für Huber, 1981, S.553, 556 unter Hinweis auf Entscheidungen der E K M R ; Peukert EuGRZ 1980, 247, 259; Vogler (Fn.7), Rdn.383. 15 A . A . Kühl in: FS für Hubmann, 1985, S.241, 247; Rogall in: SK/StPO, Rdn.75 vor § 133: Die Unschuldsvermutung gilt für alle übrigen staatlichen Organe. 16 BVerwG 1988, 660; JR1969, 474; Huber, Ausländer- und Asylrecht, 1983, Rdn. 271; Kanein, Ausländerrecht, 4. Aufl., Rdn. 51; Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, Anm. 46; beide zu § 10 AuslG; Vogler (Fn. 7) Rdn. 388. 17 O L G Frankfurt N J W 1980, 597, 598; Frowein (Fn. 14), S.553, 556; Kühl (Fn. 15), S.241, 248 und AfP 1973, 356; Peukert EuGRZ 1980, 247, 260; Rogall in: SK/StPO, Rdn. 75 vor § 133; a. A. Marxen GA 1980, 365, 373 ff. 18 Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6 MRK Rdn. 114; Peukert EuGRZ 1980, 247, 260; ähnlich auch Kühl (Fn. 15), S. 241, 248; Ulsamer in: FS für Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1799, 1802. " O L G Braunschweig NJW 1975, 651; Lampe NJW 1973, 217. 20 KG NJW 1968, 1969; O L G Frankfurt NJW 1980, 597, 598 mit Stellungnahme Grave N J W 1982, 209 (Prüfungsmaßstab für Handlungen Dritter); O L G Köln NJW 1987, 2682, 2684; AfP 1985, 293 = JMB1NRW 1985, 182 (Ausstrahlung der Unschuldsvermutung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht); Bornkamm NStZ 1983, 102, 104 und in: Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, 1980, S. 258; Lampe (Fn. 19).

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Lebach-Urteil des BVerfG 2 1 zu verstehen. Von einem „Persönlichkeitsrecht der Unschuldsvermutung" zu sprechen 22 , ist allerdings mißverständlich.

II. Die Unschuldsvermutung ist eine Verfahrensdirektive, die sich in erster Hinsicht an den Gesetzgeber richtet 23 . Seine Aufgabe ist es, das Verfahren so auszugestalten, daß die Unschuldsvermutung, um deren Widerlegung oder Fortgeltung es im Strafprozeß geht, hinreichend wirksam werden kann 24 . Daß die StPO dem Grundsatz der Unschuldsvermutung grundsätzlich Rechnung trägt, hat das BVerfG 2 5 ausdrücklich anerkannt. Gleichwohl wird im Schrifttum die Unvereinbarkeit einzelner Rechtsvorschriften mit der Unschuldsvermutung behauptet. Dabei soll nicht weiter auf die von Sax2i vertretene Ansicht eingegangen werden, es müsse geprüft werden, ob die Umgestaltung des deutschen Strafprozesses nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Parteiprozesses, in dem sich die Unschuldsvermutung angeblich erst voll auswirken kann, verfassungsrechtlich geboten ist 27 . Sie beruht möglicherweise auf dem verbreiteten Irrtum 28 , die Unschuldsvermutung sei im Grunde ein Rechtsprinzip des anglo-amerikanischen Rechts und von dort für das kontinental-europäische Recht übernommen worden. Daß hiervon keine Rede sein kann, hat Försterüberzeugend nachgewiesen. Die Ansicht, wenn schon nicht die Übernahme des anglo-amerikanischen Parteiprozesses im Ganzen, so sei jedenfalls die Zweiteilung der Hauptverhandlung in eine Tatsachenfeststellung und eine Rechtsfolgenfeststellung (Schuldinterlokut) notwendig, weil nur sie dem Gedanken der Unschuldsvermutung gerecht werden kann 30 , verdient ebenfalls keine Zustimmung. Eine solche Aufteilung der Verhandlung kann verhindern, daß die vorzeitige Erörterung ungünstiger persönlicher Verhältnisse zum Nachteil des Angeklagten auf die Feststellung seiner

B V e r f G E 35, 202, 232. So Kühl (Fn. 15), S.241, 250ff. 23 Krauß (Fn.4), S. 153, 160. 24 B V e r f G E 74, 358, 372. 25 Fn. 24. 26 Sax (Fn. 13), S.906, 989. 27 Schubarth (Fn.4), S. 18 hält eine solche Forderung mit Recht für utopisch. 28 Vgl. auch Krauß (Fn.4), S. 153, 154. 29 Förster (Fn. 8), S. 69 ff., 85: Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Unschuldsvermutung in den anglo-amerikanischen Ländern nahezu unbekannt. 30 Krauß (Fn.4), S. 153, 164; Schuharth (Fn.4), S.20. 21

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die

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Schuld einwirkt und daß seine persönlichen Verhältnisse auch dann offengelegt werden, wenn es schließlich nicht zu einer Verurteilung kommt 31 . Ob diese Vorteile der Zweiteilung ihre Nachteile 32 überwiegen, mag dahinstehen. Jedenfalls ist es nicht die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK, die eine solche tiefgreifende Veränderung des bundesdeutschen Strafprozesses verlangt. Gelegentlich wird §112 Abs. 3 StPO, der wegen der besonderen Schwere der Tat die Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen der Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO zuläßt, als mit der Unschuldsvermutung unvereinbar bezeichnet, weil es sich bei dieser Art der Untersuchungshaft um eine bloße Verdachtsstrafe, um eine vorgeschobene Strafhaft handele33. In Wahrheit ist die Untersuchungshaft nach dieser Bestimmung in der verfassungsmäßigen Auslegung durch das BVerfG34 eine Untersuchungshaft wie jede andere, nur mit dem Unterschied, daß dem Richter eine eingehende Feststellung der Haftgründe, wie sie §112 Abs. 2 StPO vorschreibt, erspart bleibt35. Bedenken anderer Art führen zu der Ansicht, daß die §§116 Abs. 1 Nr. 4, 127 a und 132 StPO wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung unwirksam sind36. Angeblich kehren diese Vorschriften, die die Durchführung des Strafverfahrens sicherstellen sollen, das zeitliche und funktionale Verhältnis von Schuldfeststellungen und Strafe in anfechtbarer Weise um, indem sie die Sicherung der Strafzwecke bereits im Verfahren zulassen. Überzeugen können auch diese Bedenken nicht; der Angeklagte, der Sicherheit leisten muß, damit er sich dem Verfahren nicht entzieht, wird dadurch nicht vor Urteilsrechtskraft als schuldig behandelt. Zu erwähnen ist schließlich noch die Meinung von Sax37, der einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darin sieht, daß nach § 8 1 a StPO die körperliche Untersuchung des Beschuldigten in weiterem Umfang zulässig ist als nach § 8 1 c StPO die des Nichtverdächtigen. Kraußn hat hiergegen mit Recht eingewendet, daß nicht die Unwirksamkeit des §81 a StPO, sondern allenfalls die des §81 c StPO zu erörtern wäre, weil er prozessuale Eingriffe auch ohne Vorliegen eines Tatverdachts zuläßt.

31 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl., Schäfer, Einl. Kap. 13 Rdn.20. Dazu Heinitz in: Festgabe für von Lübtow, 1970, S. 835, 837 ff. Paeffgen (Fn. 8), S. 111 ff., 118; Wolter Z S t W 9 3 (1981), S.453, 483 ff. BVerfGE 19, 342, 350. Kleinknecht/Meyer, § 1 1 2 StPO Rdn.38. Vgl. Krauß (Fn.4), S. 153, 161 ff. Sax (Fn. 13), S.906, 986. Krauß (Fn.4), S. 153, 166/167.

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III. Die Unschuldsvermutung wird häufig als „oberstes Verfahrensregulativ" bezeichnet39. Das läßt sich damit begründen, daß der Grundsatz ein prozeßordnungsmäßiges Verfahren zum Beweis des Gegenteils verlangt, bevor wegen eines Tatvorwurfs Entscheidungen getroffen werden, die die Feststellung von Schuld erfordern. Nicht jede rechtskräftige Verurteilung, sondern nur der gesetzliche und prozeßordnungsgemäße Schuldnachweis entkräftet die Unschuldsvermutung 40 . Würde man das wörtlich nehmen, so wäre jede Verletzung des Verfahrensrechts zugleich ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung. So weit will aber offenbar niemand gehen41. Man beschränkt sich vielmehr darauf, in der Unschuldsvermutung eine Beweiswürdigungs- und eine Beweislastregel zu sehen und einzelne Verstöße gegen diese Regeln zugleich als Verstöße gegen Art. 6 Abs. 2 MRK zu betrachten. So verfährt insbesondere die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR). In einer Rechtsprechung, die jegliche Konzeption vermissen läßt42, ist die Kommission bereit zu prüfen, ob das Gericht gegen Verfahrensgrundsätze, aber auch gegen das sachliche Recht verstoßen und dadurch die Unschuldsvermutung verletzt hat. Die E K M R hält eine solche Verletzung z. B. für gegeben, wenn der Richter gegen den Angeklagten voreingenommen war43, wenn er grob unfaire oder willkürliche Schlußfolgerungen aus den ihm unterbreiteten Tatsachen gezogen hat44 oder wenn er bei der Urteilsfindung Einlassungen des Beschuldigten berücksichtigt, die im Vorverfahren in unerlaubter Weise erlangt worden sind45. Als Beweislastregel schützt die Unschuldsvermutung vor Umkehrungen der Beweislast46. Daraus wird im Schrifttum abgeleitet, daß sowohl die Aussagefreiheit des Angeklagten, der Grundsatz des nemo tenetur,

39 Marxen GA 1980, 365, 373; Sax (Fn. 13), S.906, 987; Vogler (Fa. 7), Rdn. 410 und (Fn. 13), S. 429, 436. 40 Vgl. BVerfGE 74, 358, 371; ähnlich Vogler (Fn. 7), Rdn. 398: Die Feststellung muß dem Prozeßrecht entsprechen. 41 Es kann ja nicht zugelassen werden, daß das BVerfG wegen jeden Verfahrensverstoßes mit der auf Verletzung der Unschuldsvermutung gestützten Verfassungsbeschwerde angerufen und daß das Verfahren nach Art. 25 ff. MRK wegen jeder Verfahrensverletzung durchgeführt werden kann. Mißverständlich Vogler (Fn. 7), Rdn. 395: „Wurden die Verfahrensregeln eingehalten, dann kann sich der Verurteilte nach Abschluß des Verfahrens nicht mehr auf die Vermutung der Unschuld berufen". 42 So mit Recht Frister Jura 1988, 356, 358 Fn. 15. 43 Vgl. Vogler (Fn. 7), Rdn. 405; Peukert EuGRZ 1980, 247, 260. 44 Vogler (Fn. 7), Rdn. 412. 45 Peukert EuGRZ 1980, 247, 261; Vogler (Fn. 7), Rdn. 393. 46 Vogler (Fn. 7), Rdn. 414.

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als auch das Verbot, aus seinem Schweigen Schlüsse zu ziehen, sich unmittelbar aus der Unschuldsvermutung ergeben 47 . Dieser Grundsatz soll sogar auf das Teilschweigen und das unterschiedliche Aussageverhalten des Beschuldigten in mehreren Verfahrensabschnitten angewendet werden 48 . Bei dieser Sicht der Dinge liegt es nahe, die Unschuldsvermutung auch als Sitz des Grundsatzes in dubio pro reo zu betrachten 49 . Nach anderer Ansicht hat die Unschuldsvermutung zwar Berührungspunkte mit diesem Grundsatz, unterscheidet sich aber wesentlich von ihm 50 . In Wahrheit haben beide Grundsätze dieselbe rechtsgeschichtliche Wurzel, nämlich den Kampf gegen die noch im vorigen Jahrhundert gesetzlich zugelassene Verdachtsstrafe 51 . Inzwischen ist der Grundsatz in dubio pro reo aber keine Beweisregel mehr, sondern eine Entscheidungsregel, ein Rechtssatz 52 , der dem sachlichen Strafrecht angehört 53 . Aus der Unschuldsvermutung kann er nicht mehr abgeleitet werden. IV. 5A

Nach Ansicht von Krey liegt die Hauptbedeutung der Unschuldsvermutung darin, daß ihr für die Frage, ob die Dauer einer Untersuchungshaft und/oder eines Strafverfahrens angemessen ist (Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 MRK) maßgebliches Gewicht zukommt. Daß die Unschuldsvermutung die Möglichkeit und Zulässigkeit strafprozessualer Zwangseingriffe begrenzt, ist auch die Meinung von Krauß5i. Er ist der Ansicht, der Gesetzgeber müsse diese Eingriffe in jedem Fall an der Möglichkeit eines späteren Freispruchs orientieren und daher so bemessen, daß sie auch bei voller Ausschöpfung die den Beschuldigten treffende Belastung im Fall eines Freispruchs als gerade noch zumutbares 47 Ad. Arndt NJW 1966, 869, 870; Guradze, Art. 6 MRK Anm.23 und in: FS für Loewenstein, 1971, S. 151, 160; Rüping JR1974, 135, 138; Schubarth (Fn.4), S. 8. Hiergegen mit Recht Rogall (Fn. 4) S. 109 ff. und in: SK/StPO Rdn. 76 vor § 133. Vgl. auch Peukert EuGRZ 1980, 247, 261: nicht nachprüfbare Regel der Beweiswürdigung. 48 Schuharth (Fn.4), S. 10; a. A. Vogler (Fn. 7), Rdn.412. 49 Roxin (Fn. 5), S. 59 und Schubarth (Fn. 4), S. 3, sehen darin sogar den Kern der Unschuldsvermutung. 50 Vgl. Mrozynski JZ 1978, 255, 256; Vogler (Fn.7), Rdn. 418. - Stree, In dubio pro reo, 1962, S. 7 Fn. 24 hält Art. 6 Abs. 2 MRK für eine Untersuchung über den Grundsatz in dubio pro reo für ganz unergiebig. 51 Vgl. Förster (Fn. 8), S. 103 ff. 52 Stree JR 1974, 300. 53 Kleinknecht/Meyer, §261 StPO Rdn. 26; Krey J A 1983, 237; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl., 1983, Rdn. 383. 54 JA 1983, 638 und in: Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 1988, Rdn. 127. 55 Krauß (Fn.4), S. 153, 172, 176.

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Sonderopfer eines Unschuldigen angesehen werden können56. Auch Schubarthi7 vertritt die Auffassung, Maßnahmen gegen den Beschuldigten dürften in ihrer Intensität, vor allem in ihrer Dauer, nicht den Charakter einer Strafe erhalten. Daß aber ein strafprozessualer Eingriff infolge seiner besonderen Intensität oder Dauer den Charakter einer Strafe annehmen können soll, leuchtet nicht ein. Untersuchungshaft bleibt Untersuchungshaft und wird nicht zur Strafe, gleichviel, wie lange sie vollzogen wird58. Eine Beschlagnahme ist eine Beschlagnahme und keine strafähnliche Sanktion, auch wenn sie in besonderem Maße in die Rechte des Beschuldigten eingreift. Vor übermäßigen Eingriffen in seine Rechte durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen schützt den Beschuldigten der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz59, der für die Untersuchungshaft in § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO sogar ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist. Ihn durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung zu ersetzen oder zu ergänzen, führt zu keiner größeren Rechtssicherheit für den Beschuldigten60. Denn für Verstöße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lassen sich bestimmte Maßstäbe aufstellen; der Eingriff darf vor allem nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen61 und muß zum Nachweis der Schuld im Einzelfall erforderlich sein62. Für die Unschuldsvermutung lassen sich brauchbare Maßstäbe insoweit nicht finden. Wann die Maßnahme nach Intensität und Dauer den Charakter einer Strafe annimmt, ist völlig ungewiß. V. 1. Führt man den Grundsatz der Unschuldsvermutung auf seinen strafrechtlichen Kern zurück, so sind ihm zwei Verbote zu entnehmen. 56 Ähnlich Frister Jura 1988, 356, 360; Haberstroh NStZ1984, 289, 290; Roxin (Fn. 5), S. 59. - Krauß (Fn. 55) leitet daraus die Notwendigkeit ab, die gesamten Eingriffsmöglichkeiten der StPO neu zu überdenken. 57 Schubarth (Fn.4), S.28; ebenso Vogler (Fn.7), Rdn.428. Vgl. auch Sax (Fn. 13), S. 906, 987: Maßprinzip. 58 Vgl. Frowein/Peukert, Art. 6 M R K Rdn. 17, die mit Recht der Ansicht sind, daß Art. 5 Abs. 3 M R K vorrangig anzuwenden ist. Im Fall Wemhoff (JR1968, 463) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei einer Untersuchungshaft von 4 Jahren den Art. 6 Abs. 2 M R K nicht einmal erwähnt, sondern nur die Verletzung der Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 M R K geprüft (und verneint). 59 BVerfGE 19, 342, 347; Mrozynski ]Z 1978, 255, 256. - Roxin (Fn.5), S.59 faßt die Unschuldsvermutung als Konkretisierung des Ubermaßverbots auf. Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vgl. allg. Kleinknecht/Meyer, Einl. Rdn. 20. 60 A . A . Haberstroh NStZ 1984, 289, 290, nach dessen Ansicht die Unschuldsvermutung weitergehenden Rechtsschutz gewährt als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 61 Kleinknecht/Meyer (Fn. 59). 62 Ulsamer (Fn. 18), S. 1799, 1806 hält das für ein Gebot der Unschuldsvermutung.

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Einmal darf gegen den Beschuldigten keine Strafe oder strafähnliche Sanktion verhängt werden, bevor gegen ihn nach den Vorschriften der StPO ein Schuldnachweis geführt worden ist63. Die Unschuldsvermutung sichert sozusagen die „Exklusivität" der verfahrensmäßigen Schuldfeststellung als Voraussetzung für die Bestrafung des Beschuldigten 64 . Zum anderen darf dem Beschuldigten seine Schuld außerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Schuldfeststellung in dem anhängigen Verfahren erst nach der rechtskräftigen Verurteilung bescheinigt oder vorgehalten werden. Das BVerfG 65 faßt den Inhalt der Unschuldsvermutung anders auf. Es zieht die Verbote der Bestrafung vor Führung eines Schuldnachweises und der Bescheinigung der Schuld vor der rechtskräftigen Verurteilung zu einem einheitlichen Verbot zusammen; daneben sieht es in der Unschuldsvermutung ein allgemeines, nicht auf das Strafrecht beschränktes Rechtsprinzip (vgl. oben I). Nach dem BVerfG verbietet die Unschuldsvermutung zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne gesetzlichen, prozeßordnungsgemäßen - nicht notwendigerweise rechtskräftigen — Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen, und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; zum anderen verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf."

2. Daß gegen einen Angeklagten, gegen den noch kein Schuldnachweis geführt worden ist, keine Strafen i. S. der §§38 ff. StGB verhängt und keine Maßregel i. S. der §§61 ff. StGB angeordnet werden dürfen, erscheint selbstverständlich 66 . Ein Vorgriff auf die Strafe ist immer unzulässig, mag der Tatverdacht auch noch so dringend sein67. Die Schwierigkeit liegt darin, den Begriff der strafähnlichen Sanktion zu bestimmen. Daß darunter alle Maßnahmen fallen, die einer Strafe gleichkommende Nachteile enthalten 68 , ist sicherlich richtig. Fraglich ist aber, welche Nachteile die Maßnahmen enthalten müssen, um strafähnlich zu sein. Daß die Ansicht unrichtig ist, unter die strafähnlichen Maßnahmen könnten Zwangseingriffe fallen, die in ihrer Intensität oder Dauer besonders erheblich sind, wurde schon oben (IV) ausgeführt. In Betracht kommen nur Einbußen an körperlicher Bewegungsfreiheit, wie sie die Freiheitsstrafe mit sich bringt, und die finanzielle Belastung durch 63

Vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 35, 311, 320; Kühl (Fn.4), S. 12. Vogler (Fn. 7), Rdn. 401. 65 BVerfGE 74, 358, 371; wörtlich ebenso BVerfG (Kammerbeschluß) NJW1988, 1715 = NStZ 1988, 21. Vgl. Krauß (Fn.4), S. 153, 161. 67 BVerfGE 19, 342, 347. 68 BVerfGE 74, 358, 371. 64

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eine Geldzahlungspflicht, wie sie bei der Geldstrafe eintritt69. Praktisch kann es sich nur um Belastungen durch Geldzahlungspflichten handeln, also um Verfahrenskosten, Erstattung von Auslagen des Prozeßgegners, Zahlungen für Auflagen u. ä. Auf das Vermögen des Beschuldigten haben solche Zahlungspflichten dieselbe Wirkung wie die Geldstrafe. Keine „Belastung" in diesem Sinne, die gegen Art. 6 Abs. 2 MRK verstoßen könnte, tritt ein, wenn das Gericht es ablehnt, die notwendigen Auslagen des Beschuldigten nicht der Staatskasse aufzuerlegen 70 . Strafähnlich sind Zahlungspflichten aber nur, wenn sie außer dem Charakter eines Übels auch das mit der Verhängung einer Strafe verbundene sozialethische Unwerturteil enthalten71. Da mit der Zahlungsauflage nach §153a StPO ein solches Unwerturteil nicht verbunden ist, verstößt die Vorschrift entgegen einer im Schrifttum vertretenen Mindermeinung 72 nicht gegen die Unschuldsvermutung 73 . Das BVerfG74 und ein Teil des Schrifttums 75 sind der Meinung, daß die Frage, ob eine Maßnahme in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommt, nicht nach dem Inhalt der Maßnahmen, sondern nur in Verbindung mit der in der Entscheidung getroffenen Schuldzuweisung beantwortet werden könne. Das BVerfG mißt daher der Uberbürdung von Verfahrenskosten und Auslagen des Privatklägers auf den Beschuldigten Strafcharakter bei, wenn sie mit der Schuld des Angeklagten begründet wird, nicht aber, wenn das Gericht anderweitige Erwägungen zu ihrer angemessenen Verteilung anstellt. Diese Ansicht kompliziert das Problem in unnötiger Weise. Denn wenn die Entscheidung Schuldzuweisungen enthält, ohne daß der gesetzliche Nachweis der Schuld geführt ist, liegt bereits hierin ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung 76 . Es

" Kühl (Fn. 4), S. 13. 70 Vgl. EGMR EuGRZ 1987, 399, 403 (Fall Lutz); EGMR EuGRZ 1987, 405, 409 (Fall Englert); EGMR EuGRZ 1987, 410, 413 (Fall Nölkenbockhoff); BGHZ64, 347, 353; OLG Celle NJW 1971, 2182; OLG Hamburg NJW 1983, 464; Kühl (Fn.4), S. 120. 71 Kühl (Fn.4), S. 14ff.; Vogler (Fn.7), Rdn.388; hiergegen Frister Jura 1988, 356, 360 und P a e f f g e n (Fn. 8), S. 53 Fn. 194, die aber keine besseren Vorschläge zur Bewertung der Strafähnlichkeit machen können. 72 Bandemer NStZ 1988, 297; Dencker JZ 1973, 144, 150; Vogler (Fn.7), Rdn.438. 73 BGHSt. 28, 174, 176; Kleinknecht/Meyer, Rdn. 12; LR Rieß Rdn.9; beide zu § 153 a StPO. 74 BVerfGE 74, 358, 375 ff. 75 Vgl. Frister Jura 1988, 356, 360, der die Unschuldsvermutung nicht als Verbot einer bestimmten Art, sondern als Verbot einer bestimmten materiellen Rechtfertigung von Eingriffen in die Rechte der der Begehung einer Straftat Verdächtigen auffaßt. 76 Vgl. EGMR 1983, 475, 479 (Fall Minelli): Es verstößt gegen Art. 6 Abs. 2 MRK, wenn eine gerichtliche Entscheidung die Auffassung vertritt, der - nicht in gesetzlicher Weise für schuldig befundene - Angeklagte sei schuldig. So übrigens auch BVerfGE 74, 358, 374.

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ist daher auch ein überflüssiger Umweg, die Verletzung des Art. 6 Abs. 2 MRK in solchen Fällen darin zu sehen, daß die in den Gründen zum Ausdruck gebrachte Uberzeugung des Gerichts von der Wahrscheinlichkeit der Schuld des Verdächtigen zumindest als „strafähnlich" anzusehen sei, weil sie eine Mißbilligung ausdrückt und diskriminierende Wirkung hat77. 3. Dem Beschuldigten darf seine Schuld nicht bescheinigt oder vorgehalten werden, bevor er rechtskräftig 78 verurteilt ist. a) Das gilt auch für den Beschuldigten im Ermittlungsverfahren 79 und richtet sich nicht nur an die Richter des anhängigen Verfahrens. Auch die Polizei, die Staatsanwaltschaft und sonstige Justizsprecher, selbst der Justizminister 80 , können gegen Art. 6 Abs. 2 MRK verstoßen, wenn sie über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens oder einzelne Verfahrensmaßnahmen, wie Verhaftung und Durchsuchung, öffentliche Erklärungen abgeben, die den Eindruck erwecken, die Schuld des Beschuldigten sei bereits erwiesen81. b) Art. 6 Abs. 2 MRK gibt dem Beschuldigten keinen Anspruch darauf, daß er in dem anhängigen Verfahren entweder verurteilt oder freigesprochen wird 82 . Wird ein Strafverfahren aber auf andere Art als durch Verurteilung oder Freispruch beendet, so dürfen keine Schuldfeststellungen getroffen werden, auch nicht die Feststellung, daß der Angeklagte wahrscheinlich schuldig ist. Das gilt insbesondere, wenn das Verfahren wegen Verjährung 83 oder wegen eines anderen Prozeßhindernisses eingestellt wird 84 .

77 Kühl NStZ 1981, 114, 115; Vogler (Fn. 7), Rdn. 445. Ähnlich neuerdings EGMR EuGRZ 1987, 405, 409 (Fall Englert). Vgl. auch Kühl (Fn.4), S. 120: faktische Verurteilung. 78 BVerfGE 35, 202, 232; 38, 105; Frowein/Peukert Art.6 MRK, Rdn. 111; Kühl NJW 1980, 806, 809; Marxen GA1980, 365; Paeffgen (Fn.8), S.48; Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, 1966, S. 161; a. A. Guradze, Art. 6 MRK Anm. 25. 79 O L G Koblenz StV 1987, 430, 431; O L G Köln N J W 1987, 2682, 2684; Frowein/ Peukert, Art.6 MRK Rdn. 113; Marxen GA1980, 365; vgl. auch Vogler (Fn. 7), Rdn. 391. 80 Vgl. Frowein/Peukert, Art.6 MRK Rdn. 113; Frowein (Fn. 14), S.553, 554ff.; Vogler (Fn. 7), Rdn. 410. 81 Frowein (Fn. 14); Loesdau M D R 1962, 773, 776; Schuharth (Fn.4), S. 11; Ulsamer (Fn. 18), S. 1799, 1809. Vgl. auch die Hinweise auf die Rspr. der EKMR bei Peukert EuGRZ 1980, 247, 260. 82 Frowein (Fn. 14); Kühl (Fn.4), S.86ff„ 91 ff.; vgl. auch Vogler (Fn. 7), Rdn.433, 436. 85 Vgl. EGMR EuGRZ 1983, 475 (Fall Minelli); dazu auch Kühl (Fn.4), S.96ff. 84 Vogler (Fn. 7), Rdn. 442.

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Wird das Verfahren nach §153 Abs. 2 StPO eingestellt, so darf der Einstellungsbeschluß nicht damit begründet werden, daß die Schuld des Angeklagten zwar erwiesen, aber gering sei85. Dem trägt die Neufassung des § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO im Jahre 1975 dadurch Rechnung, daß die Entscheidung nur noch voraussetzt, daß die Schuld des Täters „als gering anzusehen wäre". Entsprechendes gilt für die Kostenentscheidung im Falle der Ermessenseinstellung nach §467 Abs. 4 StPO86. Sie darf weder Schuldfeststellungen enthalten noch damit begründet werden, daß der Angeklagte wahrscheinlich verurteilt worden wäre, wenn das Verfahren nicht eingestellt worden wäre 87 . Für den Fall, daß der Angeklagte vor Rechtskraft der Entscheidung stirbt, ist eine Kosten- und Auslagenentscheidung nach richtiger Ansicht nicht erforderlich 88 . Wird sie trotzdem getroffen, so darf sie nicht damit begründet werden, daß der Tote vermutlich rechtskräftig verurteilt worden wäre 89 . Unrichtig ist jedoch die Ansicht 90 , Art. 6 Abs. 2 MRK gebiete es, den Erben die notwendigen Auslagen des Toten zu erstatten, weil eine Widerlegung der Unschuldsvermutung infolge des Todes des Beschuldigten unmöglich geworden ist91. Im Schrifttum wird die Begründung der Kostenentscheidung im Falle der Verfahrenseinstellung mit dem weiter bestehenden Tatverdacht für ebenso unzulässig gehalten wie die mit der erwiesenen oder wahrscheinlich zu erweisenden Schuld des Angeklagten 92 . Tatsächlich macht es keinen praktischen Unterschied, ob die Begründung lautet, eine Verurteilung sei wahrscheinlich, oder ob sie den bestehen bleibenden Tatver-

85 EGMR EuGRZ 1982, 297 (Fall Adolph); BVerfGE74, 358, 374; LR Häger §467 StPO Rdn.67; Kühl (Fn.4), S. 129 ff. und NStZ 1981, 114. Das BVerfG macht a.a.O eine (einleuchtende) Ausnahme für den Fall, daß die Hauptverhandlung bis zur Entscheidungsreife durchgeführt worden ist und die Schuld des Angeklagten ergeben hat; a. A. auch insoweit Kühl (Fn. 4), S. 131. 86 Auch für die Entscheidung über die Entscheidung nach § 2 ff. StrEG ( K ü h l NJW 1980, 806; Vogler [Fn. 7], Rdn. 461 ff.). 87 BVerfGE 74, 358; Frowein (Fn. 14), S.553, 559; Frowein/Peukert, Art. 6 MRK Rdn. 115; Haberstroh NStZ 1984, 289, 294; Kühl JR 1978, 94; NJW 1984, 1264; NStZ 1981, 114; Liemersdorf/Miebach NJW 1980, 371. 88 Kleinknecht/Meyer § 464 StPO Rdn. 14 m. w. N. 89 LR Hilger §467 StPO Rdn. 18. 90 OLG Frankfurt NJW 1982, 1891; Kühl NJW 1978, 977, 979; 1982, 977; Pflüger NJW 1983, 1894 und in: Der Tod des Beschuldigten im Strafverfahren, Diss. Tübingen, 1987, S. 131 ff., 138. 91 OLG Celle MDR 1972, 1050 mit Anm. Kleinknecht; OLG Hamburg NJW 1983, 464; vgl. auch LaubenthaU Mitsch NStZ 1988, 108. In BGH NJW 1983, 463 ist Art. 6 Abs. 2 MRK nicht erwähnt. Der hier vertretenen Ansicht entspricht die Entscheidung EGMR EuGRZ 1987, 410 (Fall Nölkenbockhoff). 92 Kühl NJW 1980, 806; 1984, 1265, 1268; LR Hilger §467 StPO Rdn.67.

Grenzen der Unschuldsvermutung

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dacht als so erheblich bezeichnet, daß es gerechtfertigt ist, dem Beschuldigten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Der EGMR hat demgegenüber in mehreren neueren Entscheidungen93 die Ansicht vertreten, der Hinweis auf den Tatverdacht bedeute keine Schuldzuweisung und verstoße daher nicht gegen Art. 6 Abs. 2 MRK. Vielmehr seien die Gerichte bei Anwendung der Kostenvorschriften sogar verpflichtet, auch den Grad des Verdachts zu berücksichtigen, der noch auf dem Betroffenen lastet94. Die Entscheidungen sind insofern besonders bemerkenswert, als in allen Fällen die tatrichterliche Entscheidung eindeutig dahin gelautet hatte, daß die Schuld des Beschuldigten wahrscheinlich sei; der EGMR hält das in einer die Grenzen des Wohlwollens wohl schon überschreitenden Auslegung lediglich für eine zweideutige und wenig zufriedenstellende Umschreibung der Verdachtslage 95 . c) Der Satz, daß die Schuld dem Angeklagten nicht vorgehalten werden darf, bevor sie rechtskräftig festgestellt ist, bedeutet nicht, daß Art. 6 Abs. 2 MRK grundsätzlich zu der Unterstellung zwingt, daß sich der Sachverhalt einer Straftat nicht zugetragen hat, bevor er rechtskräftig festgestellt worden ist96. Die Unschuldsvermutung schützt insbesondere nicht davor, daß ein strafbares Verhalten, ohne daß es deswegen schon zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen wäre, in einem anderen gerichtlichen Verfahren festgestellt wird und hieraus für dieses Verfahren bestimmte Folgerungen gezogen werden 97 . Die Behauptung, an die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat dürften erst dann strafrechtliche Rechtsfolgen geknüpft werden, wenn über sie in dem Verfahren entschieden worden ist, das den Tatvorwurf selbst zum Gegenstand hat98, ist zwar richtig. Aber strafrechtliche Rechtsfolgen in diesem Sinne sind nur Strafen oder Maßnahmen, die wegen der Tat verhängt werden, nicht allgemein die Berücksichtigung der Tat in einem anderen Verfahren. Aus diesem Grunde darf das Gericht bei der Beweiswürdigung berücksichtigen, daß der Angeklagte schon vorher oder später eine ähnliche wie die den Gegenstand des Verfahrens bildende Tat begangen hat, auch wenn er deswegen nicht oder noch nicht rechtskräftig bestraft worden ist. Erforderlich ist lediglich, daß das Gericht in dem Verfahren, Vgl. die Zusammenstellung bei Claudia Westerdiek EuGRZ 1987, 393. Vgl. EGMR EuGRZ 1987, 399, 403 (Fall Lutz). 95 EGMR (Fn. 94); EGMR EuGRZ 1987, 405, 409 (Fall Englert); EGMR EuGRZ 1987, 410, 414 (Fall Nölkenbockhoff). Noch im Fall Minelli (EuGRZ 1983, 475) hat der EGMR eine solche wohlwollende Umdeutung nicht einmal in Erwägung gezogen. 96 BGHSt. 34, 209 mit zust.Anm. Gollwitzer JR 1988, 340 und krit.Anm. Frister Jura 1988, 356; a.A. Haberstroh NStZ 1984, 288; Vogler (Fn. 7), Rdn.420ff. 97 BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 1988, 1715. 98 Vgl. Vogler (Fn. 7), Rdn. 403 und (Fn. 13), S. 429, 437. 93 94

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Karlheinz Meyer

in dem die andere Straftat als Beweisanzeichen berücksichtigt wird, von der Begehung dieser Tat überzeugt ist". Entsprechendes gilt für die Strafzumessung 100 . Auch hier kann das Vorliegen einer weiteren, zweifelsfrei bewiesenen Straftat berücksichtigt werden, gleichgültig, ob sie Gegenstand eines weiteren, noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens ist oder ob sie Gegenstand des anhängigen Verfahrens war, aber nach §§ 154, 154 a StPO ausgeschieden worden ist 101 . Schließlich verbietet Art. 6 Abs. 2 M R K auch nicht, den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f. Abs. 1 Nr. 1 StGB damit zu begründen, daß das Gericht aufgrund eigenständiger Beurteilung davon überzeugt ist, daß der Angeklagte während der Bewährungszeit eine weitere Tat begangen hat, derentwegen er bisher nicht bestraft worden ist' 02 .

VI. Die Untersuchung hat ergeben, daß die Behauptung, über Inhalt und Tragweite der Unschuldsvermutung bestehe wenig Klarheit, nach wie vor zutrifft. Die Entscheidung BVerfGE 74, 358 ist kaum geeignet, klare und eindeutige Auslegungsregeln zu schaffen. Sie steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des E G M R und weitet die Unschuldsvermutung ohne Notwendigkeit (und ohne Begründung) zu einem über das

99 Die Behauptung von Vogler (Fn. 7), Rdn.421 Fn.3 und (Fn. 13), S.429, 438, der BGH lasse insoweit den bloßen Verdacht als Beweisanzeichen genügen, wird durch die Entscheidungen BGHSt.30, 165; 31, 302 widerlegt. 100 Auch nach Meinung des EGMR, der im Engel-Urteil (EuGRZ 1976, 221, 235) ausdrücklich betont, daß Art. 6 Abs. 2 MRK nur die Feststellung der Schuld, nicht Art und Strafe betrifft, so daß der Richter nicht gehindert sei, bei der Strafbemessung „Faktoren zu berücksichtigen, die sich auf die Persönlichkeit des Betroffenen beziehen". 101 BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 1988, 1715; BGHSt.30, 147; Kleinknecht/ Meyer § 154 a StPO Rdn.2 m . w . N . ; Bruns StV 1982, 18 und in: Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl., 1985, S. 226; Terhorst MDR 1979, 17; a.A. Appl, Die strafschärfende Verwertung von nach §§ 154, 154 a StPO eingestellten Nebendelikten und ausgeschiedenen Tatteilen bei der Strafzumessung, 1987, S. 172; Haberstroh NStZ 1984, 289; Vogler (Fn. 7), Rdn. 420 ff. und (Fn. 13), S. 429, 436 ff. (dort auch zur schwankenden Rspr. des BGH). Vgl. auch Kapahnke, Opportunität und Legalität im Strafverfahren, Diss. Tübingen 1982, S. 148 ff., der sich aber nicht auf Art. 6 Abs. 2 MRK beruft. 102 BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 1988, 1715; BVerfG (Kammerbeschluß) NStZ 1987, 118; KG JR 1966, 109; StV 1988, 26; OLG Celle NJW 1971, 1665; OLG Hamburg JR1979, 379 mit Anm. Zipf; Dreher/Tröndle, StGB 44. Aufl., Rdn. 3 b; LK Ruß Rdn. 2 a; beide zu §56f. StGB; Frank MDR 1982, 353, 360; Haberstroh NStZ 1984, 289, 291; a.A. Mrozynski JZ 1978, 255; Vogler (Fn. 7), Rdn.419 und (Fn. 13), S.429, 442. Vgl. auch Frowein/Peukert, Art. 6 MRK Rdn. 118, die der Meinung sind, es dürfe nur der hinreichende Tatverdacht festgestellt werden, der aber für den Widerruf auch genüge.

Grenzen der Unschuldsvermutung

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Strafrecht hinausgreifenden allgemeinen Rechtsgrundsatz aus. Die verdienstvolle Zusammenstellung der zu Art. 6 Abs. 2 M R K vertretenen Rechtsmeinungen in der Kommentierung von Vogler'03 zeigt die Schwierigkeiten auf, die Tragweite der Unschuldsvermutung zu bestimmen, beseitigt sie aber nicht.

103

Vogler (Fn. 7).

Die Last des Kommentators Zum strafrechtlichen Publikationswesen in der Bundesrepublik Deutschland FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

Wer die Publikationen auf dem Gebiet des Strafrechts umfassend verfolgt bzw. zu verfolgen versucht, insbesondere, wer selbst eine Gesamtdarstellung zu betreuen hat, ist immer wieder völlig frappiert, wie es dem Jubilar gelingt, alle anderthalb Jahre die gesamte Publikationstätigkeit auf dem Gebiet des Strafrechts in seinem Kommentar zu berücksichtigen und wiederzugeben. Andererseits trägt der Jubilar aber auch als Mitherausgeber einer juristischen Fachzeitschrift selbst zu dem Material bei, das er in seinen Kommentar einarbeiten muß. Schließlich bilden - wie noch näher zu zeigen ist - Festschriften einen immer größeren Bestandteil des strafrechtlichen Schrifttums. Eine Festschrift für den Jubilar erscheint daher als dreifacher Anlaß, sich mit dem Publikationswesen auf dem Gebiet des Strafrechts in der Bundesrepublik zu beschäftigen.

I. Diese strafrechtliche Publikationstätigkeit ist in der neueren Zeit ungeheuer angeschwollen, und zwar in allen Sparten. Die Zunahme wird erst voll ersichtlich, wenn man die entsprechenden Zahlen vergleicht. 1. Periodica Das Anwachsen wird am deutlichsten bei den Zeitschriften. Zunächst haben die überkommenen Zeitschriften ihren Umfang vielfach erheblich erweitert. Beginnen wir mit den allgemeinen juristischen Zeitschriften, die auch das Strafrecht berücksichtigen:

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Friedrich-Christian Schroeder

NJW 60er Jahre Ende der 70er Jahre 1980 1982 1985 1987

Steigerung 2400 S. 2600 S. 2800 S. 2900 S. 3000 S. 3280 S.

8,3 % 16,6% 20,8 % 24,9 % 36,6 %

JZ Anfang der 7Oer Jahre 800 S. Anfang der 80er Jahre über 900 S. 12,5 % ab 1984 über 1100 S. 37,5 % Es gilt aber auch für „Goltdammer's Archiv für Strafrecht": 70er Jahre 384 S. 1979-80 480 S. 25,0 % seit 1981 588 S. 53,1 % Relativ konstant geblieben sind nur die MDR, die JR und die ZStW (Inlandsteil). Außerdem sind zahlreiche neue juristische Zeitschriften gegründet worden. Dabei hielt man einen Einbruch in den schon damals stark besetzten Markt zunächst nur mit einer Spezialisierung auf die Rechtsstudenten, gewissermaßen einer „vertikalen" Spezialisierung, für möglich. 1961 wurde die „Juristische Schulung", 1969 wurden die „Juristischen Arbeitsblätter", 1979 wurde die Zeitschrift „Jura - Juristische Ausbildung" eröffnet. Die in diesen Zeitschriften veröffentlichten Beiträge bemühen sich jedoch vielfach, das offensichtlich als Odium empfundene Bild der Ausbildungsliteratur abzustreifen, und streben nach „Höherem". Mitte der sechziger Jahre setzte auch vorsichtig eine „horizontale" Spezialisierung ein: 1965 wurde die Zeitschrift „Arztrecht", 1968 die „Zeitschrift für Rechtspolitik" gegründet. Im Jahre 1981 wurden dann sogar zwei neue strafrechtliche Spezialzeitschriften gegründet, nämlich die „Neue Zeitschrift für Straf recht"1 und die Zeitschrift „Strafverteidiger". Beide erscheinen allmonatlich mit einem umfangreichen Rechtsprechungsteil. Danach verstärkte sich die „horizontale" Spezialisierung: 1982 wistra - Zeitschrift für Wirtschaft. Steuern. Strafrecht 1983 Medizinrecht 1985 Computer und Recht 1988 Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht 1 Bei der „Neuen Zeitschrift f ü r Strafrecht" ist zu berücksichtigen, daß sie die N J W entlastet. Nach wie vor werden jedoch in der N J W ebenfalls strafrechtliche Aufsätze und Entscheidungen veröffentlicht, und zwar ohne sinnvolle Abgrenzung. Der Umfang der N J W ist sogar noch gewachsen (s. o.).

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Die Last des Kommentators

Auch bei den neuen Zeitschriften hat alsbald der bereits für die überkommenen Zeitschriften geschilderte Ausdehnungsprozeß eingesetzt: NStZ 1981 1987

496 S. 576 S.

Steigerung 16,1%

wistra 1982 1987

240 S. 360 S.

50,0%

2.

Sammelwerke

Die Publikation von strafrechtlichen Festschriften hat sich von herausgehobenen festlichen Ereignissen zu einer ausgelassenen Dauerfestivität entwickelt. Während Festschriften auf dem Gebiet des Strafrechts vor dem zweiten Weltkrieg eine Rarität darstellten, hatte sich nach dem Krieg zunächst ein erstaunlich beständiger Dreijahresrhythmus herausgebildet: Festschrift für Mezger Rittler Eb. Schmidt Hellmuth v. Weber H. Mayer Engisch

1954 1957 1960 1963 1966 1969.

Danach steigerte sich die Intensität erheblich: Festschrift für Honig Maurach Heinitz Gallas

1970 1972 1972 1973.

Seit Mitte der siebziger Jahre muß man sich wundern, wenn in einem Jahr einmal keine Festschrift erscheint. In die Bresche springen Gedächtnisschriften: Grünhut Radbruch H.Schröder Noll Hilde Kaufmann

1965 1968 1978 1984 1986.

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Neuerdings erscheinen sogar regelmäßig mehrere Fest- oder Gedächtnisschriften pro Jahr: 1983 Klug Leferenz 1984 Peters Noll Faller 1985 Jescheck Blau Oehler Kleinknecht Wassermann 1986 Heidelberg Middendorf H. Kaufmann. Dabei werden auch diese Fest- und Gedächtnisschriften immer dikker: Während Festschriften bis dahin 700 Seiten nicht überschritten, erreichte die Festschrift für Welzel (1974) 956Seiten. Auch dieser Rekord erwies sich indessen als kurzlebig. Schon 1976 erzielte Richard Lange 1058 Seiten. Diese Rekordmarke konnte von Bockelmann (1979) trotz beachtlicher 950 Seiten nicht erreicht werden. Eine neue Rekordmarke setzte jedoch Jescheck 1985 mit 1532 Seiten; die Festschrift mußte in zwei Bänden erscheinen. Aber auch die Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann 1986 erreichte 1000 Seiten, Lackner 1987 1090 Seiten. Dementsprechend stieg die Zahl der Beiträge: von 39 (Maurach) über 49 (Welzel, Lackner), 58 (R. Lange, Bockelmann) bis auf 74 (Jescheck). Daß die vorliegende Festschrift in diesem hochkarätigen Umfeld nicht als Aschenbrödel dasteht, können wir in diesem Augenblick nur hoffen. Eine weitere lebhaft sprudelnde Publikationsquelle ist der florierende Tagungsbetrieb mit seinen Folgepublikationen. Eine ganze Reihe von Akademien und Fortbildungsinstitutionen nimmt sich dringender Themen an und präsentiert die dort für ein Laienpublikum gehaltenen oder schon anderwärts publizierten Vorträge anschließend als interdisziplinären Sammelband. Ein neues und stark expansives strafrechtsliterarisches Genre sind schließlich die deutschen strafrechtlichen Landesberichte für die zunehmenden internationalen Kongresse, Symposien, Kolloquien usf. An sich haben diese Landesberichte die Aufgabe, die ausländischen Kollegen über den Stand der Entwicklung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu einem bestimmten Thema zu informieren. Da sie aber regelmäßig auch im Inland publiziert werden, entsteht der Drang zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Leistung. Es sei nur daran erinnert,

Die Last des Kommentators

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daß H. Schröder seine bedeutsame Figur der abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte in seinem deutschen Landesbericht für den X. Internationalen Strafrechtskongreß 1969 wesentlich weiterentwickelt hat2. 3.

Monographien

Die Entwicklung der Publikation von strafrechtlichen Monographien, insbesondere der Dissertationen, konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht zahlenmäßig ermittelt werden. Auch hier ist aber eine erhebliche Steigerung offensichtlich. Die Vermehrung der Dissertationen kommt insbesondere in der Begründung von neuen Reihen wie den „Strafrechtlichen Abhandlungen" im Jahre 1968 neben den seit 1961 bestehenden „Schriften zum Strafrecht" sowie zahlreichen Universitätsreihen zum Ausdruck. Bei dieser Gelegenheit ist auf die bedauerliche Entwicklung hinzuweisen, daß Dissertationen von Verlagen gegen Druckkostenzuschüsse publiziert werden, ohne daß sie als Dissertationen kenntlich gemacht werden. 4.

Gesamtdarstellungen

Die Zahl der Lehrbücher hat sich seit den sechziger Jahren wesentlich erweitert. An großen Lehrbüchern des Allgemeinen Teils sind 1969 das Lehrbuch von Jescheck, 1970 dasjenige von Schmidhäuser hinzugetreten. Das Lehrbuch von Jakobs ist - rein quantitativ gesehen - nicht als Zusatzpublikation anzusehen, da es ursprünglich als Neuauflage des Welzeischen Lehrbuchs gedacht war, das mit ihm eingegangen ist. Daneben ist eine Fülle von Kurzlehrbüchern zum Allgemeinen Teil neu erschienen; erwähnt seien die Bücher von Bockelmann, Haft, Hruschka, Naucke, Otto, Stratenwerth und Wessels; auch Schmidhäuser hat neben seinem Lehrbuch ein „Studienbuch" veröffentlicht. Auf dem Gebiet des Besonderen Teils ist seit 1977 in fünf umfangreichen „Lehrheften" das Werk von Arzt/Weber erschienen; Kurzlehrbücher finden sich von Bockelmann, Haft, Otto, Schmidhäuser und Wessels. Dazu kommt noch eine Reihe mehr ausbildungsorientierter Darstellungen wie der „Studienkurs" in vier Heften von Eser, das „Studienbuch" von Krey und der „Wiederholungs- und Vertiefungskurs" von Samson. Uberraschend stabil geblieben ist allerdings die Zahl der Kommentare: hier ist in den letzten dreißig Jahren nur der Systematische Kommentar hinzugetreten, während gleichzeitig der knappe, aber in vielem eigenständige Kommentar von Kohlrausch-Lange eingegangen ist. Immerhin hat sich bereits der „Alternativkommentar" mit einem von fünf angestrebten Bänden zu Wort gemeldet. 2

Die Gefährdungsdelikte im Strafrecht, ZStW 81 (1969), 7 ff.

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Explodiert ist jedoch der Umfang der Kommentare. Dabei wird die Steigerung des Umfangs vielfach noch durch eine Verkleinerung des Satzspiegels überdeckt. Unter Berücksichtigung dieser Veränderung hat sich der Umfang des Schönke/Schröder von der 11. Aufl. 1963 bis zur 23. Aufl. 1988 um 101% gesteigert. Beim Dreher/Tröndle beträgt die Steigerung von der 26. Aufl. 1964 (damals „Dreher/Schwarz") bis zur 44. Aufl. 1988 78 %. Der Umfang des Leipziger Kommentars hat sich gar von der 8. Aufl. 1957 bis zur 10. Aufl. ab 1978 von 1680S. auf 7105S. erweitert, d. h. mehr als vervierfacht. Im übrigen wurde auch im Bereich der Kommentare versucht, mit einer Spezialisierung neue Interessenten zu erschließen. Mehrere Kommentare zum Straßenverkehrsrecht erläutern eingehend das einschlägige Strafrecht. Es gibt einen „Kommentar" zu dem vom Gesetzgeber keineswegs als systematische Kodifikation angesehenen „Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität". Den Höhepunkt der Spezialisierung stellt zweifellos ein „Kommentar" zu einem einzigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs (§142) im Umfang von ca. 400 S. dar. Kühn hat dieser „Kommentar" mit einem Satz alle denkbaren Zwischenstufen übersprungen und das nicht mehr übertreffbare Extrem der Spezialisierung markiert. Bemerkenswert erscheint es noch, daß die zahlreichen Neugründungen bei Zeitschriften und Gesamtdarstellungen nicht in neuen Verlagen erscheinen, sondern daß die bestehenden Verlage zunehmend dazu übergehen, Konkurrenzprodukte im eigenen Haus zu publizieren und dies mit Hinweisen auf eine vertikale und horizontale Spezialisierung nur notdürftig kaschieren, während die Autoren Konkurrenzklauseln unterworfen werden. II. Infolge der geschilderten Ausweitung in allen Sparten hat die Zahl der strafrechtlichen Publikationen ein enormes Ausmaß erreicht. So wurden im Jahre 1987 zum materiellen Strafrecht 157 Aufsätze und 84 Entscheidungsrezensionen3 veröffentlicht, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß in diesem Jahr „nur" eine Festschrift auf dem Gebiet des Strafrechts erschien. Das bedeutet für den Kommentator oder den sonstigen „Konsumenten", bei Berücksichtigung eines dreiwöchigen Urlaubs, fast für jeden Tag des Jahres einen Aufsatz oder eine Entscheidungsrezension4. 3 Ohne die „Entscheidungssammlung zum Straf- und (EzSt)".

Ordnungswidrigkeitenrecht

4 Die Untersuchung beschränkt sich gemäß ihrem Anlaß auf das materielle Strafrecht. Da die Hochschullehrer in aller Regel auch das Strafprozeßrecht zu vertreten und die praktischen Juristen es zu verfolgen haben, erhöht sich die Belastung noch nicht unerheblich.

Die Last des Kommentators

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Veröffentlicht wurden ferner allein in Zeitschriften, d. h. ohne Berücksichtigung von Entscheidungssammlungen, auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts 1003 Gerichtsentscheidungen. Der „sorgfältige" Strafrechtswissenschaftler und -praktiker müßte also ungefähr drei Entscheidungen pro Tag durchsehen. Hier zeigt sich übrigens eine typische Folge der o. I geschilderten Vermehrung der Zeitschriften: 173 Gerichtsentscheidungen wurden doppelt, 163 sogar dreifach oder noch häufiger veröffentlicht. Eine Gerichtsentscheidung wurde nicht weniger als achtmal publiziert 5 . Daß diese Entscheidung sich mit der nicht gerade zentralen Materie des Parteiverrates befaßt, sei nur am Rande vermerkt. Insgesamt wurden 657mal Entscheidungen veröffentlicht, die bereits anderswo abgedruckt waren. Die Mehrfachveröffentlichungen von Gerichtsentscheidungen belasten zwar den „Konsumenten" nicht zeitlich, wohl aber finanziell und - was von den Zeitschriftenproduzenten noch kaum erkannt zu sein scheint - in seiner Stellfläche. Die Zeitschriften streben offensichtlich an, „ihr" Publikum umfassend oder jedenfalls angemessen zu informieren. Da der „sorgfältige Konsument", sei es als Wissenschaftler, sei es als Richter oder Staatsanwalt, sei es als Verteidiger, jedoch umfassend informiert sein muß, ist er genötigt, alle oder doch jedenfalls einen Großteil der Zeitschriften zu beziehen, und erliegt daher der erwähnten Belastung. III. Fragt man sich nach den Ursachen dieser Publikationenflut, so kann man hinsichtlich der publizierten Entscheidungen kaum sagen, daß die Ausweitung durch eine entsprechende Zunahme bedeutsamer Entscheidungen bedingt ist. Gewiß haben neue rechtliche Regelungen wie das Umweltstrafrecht und das Computerstrafrecht neuen justiziellen Auslegungsbedarf geschaffen. Auch die Abmilderung des Strafrechts hat zu vielfältigen Differenzierungen mit entsprechenden Folgelasten bei der Auslegung und Anwendung geführt. Im übrigen aber erwecken keineswegs alle publizierten Entscheidungen den Eindruck einer besonderen Bedeutung. Viele bestätigen nur frühere Entscheidungen, andere führen sie weiter aus, wieder andere modifizieren sie minimal. Häufig drängt sich der Eindruck auf, daß juristische Zeitschriften geradezu nach publikationsfähigen Entscheidungen jagen. Auch geht man buchstäblich „auf die Dörfer": immer häufiger werden Entscheidungen von Untergerich 5 BGH 1 StR 519/86: BGHSt. 34, 190 = NJW 87, 335 = MDR 87, 157 = JR 87, 475 = JuS 87, 412 = NStZ 87, 73 = StV 87, 197 = wistra 87, 70.

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ten publiziert. Hinter der zunehmenden Veröffentlichung von Entscheidungen der Untergerichte dürfte sich allerdings neben der krampfhaften Suche nach Publikationsmaterial auch eine rechtspolitische Absicht verbergen, nämlich das Bemühen, die Regulierungsfunktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. §121 Abs. 2 GVG) abzuschwächen und damit die Rechtsprechung zu „demokratisieren". Ganz offensichtlich wurde dies bei der Veröffentlichung der Entscheidungen zahlreicher Untergerichte zur Frage der Sitzblockaden. Offensichtlich haben die Ausweitung des Bildungswesens mit den Studentenzahlen und der Zahl der Ausbildungsinstitutionen und die starke Vermehrung der Rechtsanwälte bei den Verlagen die Erwartung genährt, juristische Publikationen erfolgreich abzusetzen. Die zunehmenden Konkurrenzprodukte innerhalb der Verlage (s. o. II) sprechen dafür. Auf der anderen Seite hat die Entwicklung der Studentenzahlen zu einer enormen Vermehrung der Hochschullehrer des Strafrechts geführt. Das neueste Verzeichnis vom März 1987 weist allein für die Bundesrepublik 206 Hochschullehrer aus. Wenn auch für die Bundesrepublik nicht der gnadenlose Grundsatz „to publish or perish" gilt, so hat das Hochschulrecht der Bundesrepublik doch für alle Hochschullehrer an der Einheit von Lehre und Forschung festgehalten und die Hochschullehrer dazu verpflichtet, ihr Fach nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung angemessen zu vertreten. Hinzu kommen die Hochschullehrer des deutschsprachigen Auslands, die nicht nur den Dialog mit der Strafrechtswissenschaft der Bundesrepublik führen, sondern in einer Reihe von Fällen auch aus der Bundesrepublik stammen. Hieraus ergibt sich ein erheblicher Publikationsdrang. Daneben haben sich auch die Publikationen von Praktikern erheblich vermehrt - ein Ausfluß einerseits der „Demokratisierung" der Wissenschaft, andererseits aber auch wohl eines gewissen Zuwachses an Freizeit im öffentlichen Dienst. IV. Die Auswirkung der Ausdehnung des strafrechtlichen Schrifttums erschöpft sich nicht in einer erhöhten Arbeitsbelastung für die Strafrechtswissenschaftler und -praktiker. Die geschilderte Ausweitung des strafrechtlichen Schrifttums kann nicht ohne weitreichende Folgen bleiben. 1. Die Funktion der strafrechtlichen Zeitschriften wandelt sich. Der sinnvollste Zweck einer Fachzeitschrift ist es wohl, den beruflich eingespannten Leser über die wichtigsten Entwicklungen in dem jeweiligen Fachgebiet auf dem laufenden zu halten (Fortbildungsfunktion). Dieser Zweck dürfte aber eine Beschränkung auf maximal fünf Entscheidungen

Die Last des Kommentators

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im Monat voraussetzen. Er wird - soweit ich sehe - von kaum einer der bestehenden Zeitschriften erreicht. Einige bombardieren den Leser mit mehr als 30 strafrechtlichen Entscheidungen pro Monat. Damit können sie nur noch die Funktion der Dokumentation, der juristischen Datenbank erfüllen. Hierzu wirkt sich aber die periodische Erscheinungsweise nachteilig aus; sinnvoll wäre die zusammenfassende Publikation von Entscheidungen nach Sachgebieten in bestimmten Zeitabständen. Die in solchen Fachzeitschriften abgelagerten Entscheidungen müssen daher durch zusätzliche Hilfsmittel erschlossen werden. Dies sind neben Lehrbüchern und Kommentaren Überblicksaufsätze, deren Autoren allerdings regelmäßig den Ehrgeiz zu einer wissenschaftlichen Leistung nicht unterdrücken können, so daß die Erschließung selber wieder zur Quelle wird. Andere Zeitschriften versuchen, der verbreiteten Mehrfachveröffentlichung (s. o. II) mit Anmerkungen gegenzusteuern, was allerdings Konzessionen hinsichtlich der zeitlichen Abfolge bedingt und überdies das Informationsangebot noch vergrößert. 2. In der Wissenschaft führt die geschilderte Entwicklung zu einer weitgehenden Verdichtung der juristischen Diskussion. Dies gilt sowohl punktuell als auch für die Fläche. Es gibt kaum eine neue Regelung, ein aktuelles Problem oder eine wichtige Entscheidung, zu der nicht alsbald gleich mehrere Abhandlungen und Rezensionen erscheinen. Höhepunkte bilden die Sterbehilfe und die Scheckkarte. Die Auseinandersetzung geht aber häufig weniger in die Tiefe als in die Breite. O b der Stiefel am Fuß ein Werkzeug nach §250 StGB darstellt, wird heutzutage auf zehn Zeitschriftenspalten erörtert. Zu der Frage, ob das Besprühen der Augen mit Salzsäure eine „Vergiftung" nach § 2 2 9 StGB darstellt, erschienen drei Anmerkungen von angesehenen Wissenschaftlern, darunter einem, der einige Jahre zuvor schon einmal zu dieser Frage Stellung genommen hatte. Außer rechtspolitischen Erwägungen konnte keine der Anmerkungen zu diesem Problem etwas beisteuern. Eine Entscheidung, in der der B G H seine frühere Auffassung bestätigte, daß die Verurteilung wegen Bandendiebstahls eine unmittelbare Mitwirkung voraussetzt, wurde gar fünfmal rezensiert. Zu der Frage, ob das eigenmächtige Geldwechseln Diebstahl ist, liegen aus neuerer Zeit vier Aufsätze und fünf Dissertationen vor. Spätere Rechtshistoriker müssen zu dem Eindruck kommen, daß das eigenmächtige Geldwechseln sich Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu einer Epidemie entwickelt hat.

3. Auf den im Vorstehenden geschilderten rasant angewachsenen Stoffanfall reagieren die meisten Wissenschaftler folgerichtig mit einer sektoral begrenzten Stoffaufnahme, d.h. einer Spezialisierung. Bereits die zunehmende Gründung von strafrechtlichen Spezialzeitschriften (s. o. I) führt zu einer bedauerlichen Abkoppelung der Strafrechtler von der

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allgemeinen rechtswissenschaftlichen Diskussion und Entwicklung. Aber auch die meisten Gesamtdarstellungen des Strafrechts selbst werden von mehreren Autoren verfaßt. Darin liegt eine frappierende Annäherung an die „Autorenkollektive" in den kommunistisch regierten Staaten, bei denen diese Form ursprünglich nicht aus arbeitsökonomischen Gründen entstanden ist, sondern zum Zweck der Zurückdrängung der individuellen Forscherpersönlichkeit zugunsten eines „Kollektivs". Damit verkleinert sich die Gruppe der wissenschaftlichen Disputanten. Leider schießt diese Entwicklung erfahrungsgemäß über die mit der Angebotserweiterung korrespondierende Rezipien ten Verengung hinaus: das Spezialistentum wirkt entmutigend, der Kreis der Spezialisten wird immer kleiner, die Erörterungen werden immer spezieller. Dabei kann man auch den Redakteuren der juristischen Fachzeitschriften eine Mitschuld an dieser Spezialisierung nicht absprechen. Bei der Suche nach dem Rezensenten einer Entscheidung fällt die Wahl allzu oft auf diejenigen, die bereits früher zu dieser Frage publiziert haben. Dies hat zur Folge, daß manche Rechtsmaterien seit Jahrzehnten sowohl monographisch als auch rezensorisch fest in einer Hand liegen. Sehr viel reizvoller und belebender für die wissenschaftliche Diskussion ist es, wenn die Rezension einer Entscheidung einem bisher Unbeteiligten anvertraut wird, damit dieser unbefangen prüfen kann, ob die jeweilige Entscheidung oder die frühere wissenschaftliche Äußerung die besseren Argumente für sich hat. 4. In Gesamtdarstellungen überwuchert die Aufgabe der Dokumentation der fremden Publikationen immer mehr die eigene Auslegung. Neben der Berücksichtigung von Gerichtsentscheidungen und Abhandlungen in Periódica und Sammelwerken ist eine Berücksichtigung der in anderen Gesamtdarstellungen vertretenen Auffassungen in einer eigenen Gesamtdarstellung arbeitsökonomisch kaum noch oder allenfalls im Rahmen der o. 3. angesprochenen Spezialisierung möglich. Dies führt dazu, daß der wissenschaftliche Disput von den Gesamtdarstellungen weitgehend auf Abhandlungen und Monographien verlagert wird. In den Gesamtdarstellungen findet die Auseinandersetzung dagegen nur noch kasuistisch statt. Alte Zitate können noch unter Einsatz von wissenschaftlichen Hilfskräften auf den neuesten Stand gebracht werden; die adäquate Berücksichtigung neuer Gesamtdarstellungen ist kaum noch möglich. Die Ausweitung der Publikationen vergrößert den Lehrstoff und trägt damit zu der allgemein beklagten Stoffüberlastung und der Verlängerung des Jurastudiums bei. Da die Ausweitung der Publikationen auch auf der Vermehrung der Zahl der Hochschullehrer beruht

Die Last des Kommentators

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(s.o. III), hebt sich die Wirkung der zur Intensivierung der Lehre erfolgten Vermehrung der Hochschullehrer teilweise selbst auf6. 6. Die geschilderte Entwicklung bildet auch eine bedrückende Fessel für die Gewinnung junger Strafrechtswissenschaftler. Bei fast jedem Thema muß sich eine Arbeit erst durch ein dichtes Geflecht der bisherigen Diskussion hindurchkämpfen. Seminare über strafrechtliche Entscheidungen sind kaum noch möglich; binnen kürzester Zeit liegen zu allen einigermaßen interessanten Entscheidungen mehrere Rezensionen von illustren Strafrechtswissenschaftlern vor, denen gegenüber Studenten kaum noch etwas Neues bringen können. Eine ähnliche Themennot zeigt sich bei Dissertationen. Themen, die früher typischer Gegenstand von Dissertationen waren, sind heute weitgehend bereits von Kollegen aufgegriffen und „abgegrast". 7. Eine weitere Sorge ergibt sich aus der geschilderten Publikationenflut für die Stellung der deutschen Strafrechtswissenschaft im Ausland. Bekanntlich ist diese Stellung vor allem in Japan, aber auch in Polen, Griechenland, Spanien und anderen Ländern sehr stark. Diese Stärke beruht darauf, daß Kollegen aus diesen Ländern die Entwicklung der deutschen Strafrechtswissenschaft an der Quelle mitverfolgen. In der letzten Zeit stößt man allerdings immer häufiger auf Resignation gegenüber der Publikationenflut. Dem kann man, wenn man selbst fast resigniert, kaum etwas Plausibles entgegensetzen. V. Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß angesichts der geschilderten nachteiligen Folgen eine Gesundschrumpfung des strafrechtlichen Publikationswesens, das zu einem Publikationsunwesen geworden ist, segensreich wäre. Sehr viel problematischer erscheint allerdings die Frage, mit welchen Mitteln eine solche Schrumpfung erreicht werden soll. Dirigistische Maßnahmen sind in der Wissenschaft und Publizistik weder möglich noch wünschenswert. Auf der anderen Seite muß man aber auch sagen, daß unter reinen Marktgesetzen sicher eine Schrumpfung bereits eingetreten wäre. Von den zahlreichen Publikationen auf dem Gebiet des Strafrechts verdanken einige ihr Uberleben dem subjektiv empfundenen Zwang zur kompletten Ausstattung, manche sogar nur dem Zwang der wissenschaftlichen Bibliotheken zu einem kompletten Literaturangebot. Man wird daher als Gegenwehr eine stärkere Koordination zwischen den wissenschaftlichen Bibliotheken mit Beschleuni-

6 In den Analysen des „Elends des Jurastudiums" (z. B. Großfeld J Z 86, 357) wird dieser Faktor überraschend außer acht gelassen.

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gung der Fernleihe sowie den Mut zur UnVollständigkeit der Information für legitim ansehen müssen. Sinnvoll wäre auch auf der anderen Seite eine Koordination zwischen den juristischen Fachzeitschriften. Bei Festschriften sollte die spezielle Ausrichtung auf den Jubilar den Vorrang vor dem Umfang haben. Ein letzter, freilich wohl eher utopischer Weg bestände darin, daß unter den Wissenschaftlern und den sonstigen potentiellen Autoren die Wertschätzung der Freizeit so zunimmt, daß die Zeitschriften mangels Masse ihre Seitenzahlen wieder reduzieren müssen. Dem Jubilar wäre es als Kommentator, nicht als Redakteur, zu gönnen.

Das Unrechtsbewußtsein in der Verbrechenssystematik G Ü N T E R SPENDEL

I.

Die vorliegende Studie gilt der Frage, wo der Standort, nicht, was der Inhalt des (aktuellen oder potentiellen) Unrechtsbewußtseins im allgemeinen Verbrechenssystem ist. M. a. W.: Es steht hier zur Debatte, ob es wirklich, wie gemeinhin heute gelehrt wird 1 , zur Schuld als dem vierten und letzten generellen Deliktsmerkmal gehört oder ob es nicht vielmehr, wie der Verf. seit jeher vertreten hat2, zum subjektiven Tatbestand als dem davon zu unterscheidenden Gegenstand der Schuldwertung zählt, der die nach objektivem Tatbestand und Unrecht zu prüfende dritte Stufe im Verbrechensaufbau bildet. Die Beantwortung dieser Frage dient nicht allein der richtigen Lokalisierung einer Strafbarkeitsvoraussetzung, die im Interesse begrifflicher Klarheit über den Schuldgedanken ihren Wert in sich besitzt, sondern auch der Verdeutlichung unbegründeter Folgerungen, die man mit der verfehlten Einordnung des subjektiven Elements verbunden hat und verbindet. Wie nötig eine Klarstellung ist, zeigen sich widerstreitende Formulierungen; so wird z. B. in einer dem Unrechtsbewußtsein und seinem Gegenstück, dem „Verbotsirrtum", gewidmeten Monographie die Unrechtskenntnis bald - richtig - als „psychisches Faktum" bezeichnet, bald - widersprüchlich - als „selbständiges Schuldelement" behandelt 3 , womit eine seelische Tatsache zum Bestandteil eines Unwertes deklariert wird. Bei der für unser Problem bedeutsamen Verwendung von Begriffen wie „Wert" oder „Wertung", „normativ" oder „Schuld" fällt außerdem auf, wie wenig einerseits die

1 So z.B. Dreher/Tröndle, StGB, 44.Aufl. 1988, Rdn.31 vor § 1 3 , § 1 7 Rdn.2; Jescheck in LeipzKomm., 10. Aufl., I. Bd. (1985), 13. Lfg. 1979, Rdn. 76 vor § 13; Lackner, StGB, 17. Aufl. 1987, § 1 5 Anm. II.5.c), § 1 7 Anm.4.a); BGHSt. 2, S. 194, 205; 3, S. 110/ 111, 123 und oft. 1 Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, S. 226/227; zuletzt ders. in LeipzKomm., 10. Aufl., 7. Bd. (1988), 28. Lfg. 1982, §336 Rdn. 95; 40. Lfg. 1985, § 3 2 3 a Rdn. 230 u. Fn. 382, Rdn. 244; § 323 b Rdn. 30; 46. Lfg. 1988, § 3 2 3 c Rdn. 141. 3 Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, z.B. S.33; 1 f., 150.

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Juristen, auch die Strafrechtler, die philosophischen Grundlagen der von ihnen gebrauchten Ausdrücke in Betracht ziehen, andererseits die Philosophen, selbst die Rechtsphilosophen, ihre allgemeinen Überlegungen zu den besonderen rechtlichen Fragen in Beziehung setzen.

II. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben lange gebraucht anzuerkennen, daß ein Mensch für sein Verhalten und dessen Folgen nur zu bestrafen ist, wenn er wußte oder zumindest wissen konnte, was er tatsächlich tat oder unterließ; sie brauchten oder brauchen noch länger dazu einzusehen, daß ein Täter nur strafbar sein sollte, wenn er auch die rechtliche Eigenschaft, den rechtlichen Unwert seiner Tat kannte oder wenigstens zu kennen in der Lage war, d.h. sich des Unrechts seines Tuns oder Unterlassens bewußt war oder hätte bewußt sein können. Hypnotisiert von dem Gedanken, daß sonst viele Verbrecher ihrer verdienten Strafe entgehen würden, haben sich auf die seit der Jahrhundertwende immer dringlicheren Forderungen der Rechtslehre hin die Rechtsprechung - nach einzelnen alten Entscheidungen 4 - grundsätzlich erst seit B G H S t . (GrS) 2, S. 194 von 1952 und die Gesetzgebung - nach Teilregelungen für das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht 5 - allgemein in § 17 StGB von 1975 dazu durchgerungen, zwar noch keine (Er-)Kenntnis, wohl aber wenigstens eine Erkennbarkeit des Unrechts der Tatbestandsverwirklichung, also ein potentielles Unrechtsbewußtsein bzw. eine „Rechtsfahrlässigkeit" bei Vorsatzdelikten als Strafbarkeitsvoraussetzung zu verlangen. Und das, obwohl z . B . schon im vergangenen Jahrhundert im deutschen Landesstrafrecht vereinzelt außer dem Tatvorsatz ein Bewußtsein des Unerlaubten für nötig gehalten wurde, so in Art. 41 des Kriminalgesetzbuches für Hannover von 1840 6 , und obwohl

4 Preuß. OTrib. in: Die Rechtspr. d. Kgl. Ober-Tribunals in Strafs., hrsg. v. Oppenhoff, 5. Bd. (1864), S. 52 (Unbefugte Jagdausübung nur strafbar bei „Bewußtsein der Widerrechtlichkeit"); Bayer. O G H in: Samml. von Entscheid, d e s . . . , 2. Bd. (1873), S. 182, 184 (zum Vorsatz der Beleidigung gehöre das „Bewußtsein ihrer Rechtswidrigkeit"); RGZ 72 (1910), S.4, 6 (im Zivilrecht schließe „das vorsätzliche Verschulden . . . auch die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Handelns" ein); s. auch BayObLG in Ztschr. f. Rechtspfl. in Bayern, 1911, S. 120, 121. 5 In diesem Jahrhundert zum ersten Male blieb ein Täter straffrei, der „in unverschuldetem Irrtum über das Bestehen oder die Anwendbarkeit der übertretenen Vorschrift" des Kriegswirtschaftsrechts seine „Tat für erlaubt gehalten hat", nach §§1 u. 2 BundesratsVO vom 18.1.1917 (RGBl. S.58), dann nach §358 AbgO vom 13.12.1919 (RGBl. S.2076) und § 4 4 DevG vom 4 . 2 . 1 9 3 5 (RGBl. I S. 112) = §71 DevG vom 12.12.1938 (RGBl. I S.1744). 6 Vgl. dazu Rob. v. Hippel, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, in VDA, III. Bd. 1908, S. 373, 463; s. ferner die in Fn. 4 angeführten Gerichtsentscheidungen.

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man selbst für die Strafrechtsreform unter dem NS-Regime eine entsprechende Regelung gefordert hat7. Die Entwicklung, die zu der heutigen Regelung und Lehre geführt hat, war folgende: Zwischen den beiden gegensätzlichen Positionen, der Anerkennung eines Unrechtsbewußtseins auf der einen8, seiner Ablehnung auf der anderen Seite9, hatten sich vermittelnde Stimmen erhoben, die sich mit der Möglichkeit einer solchen Kenntnis, d.h. mit einer Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit begnügten und für eine Kombination des TatVorsatzes mit der „Rechts-Fahrlässigkeit" - denn darauf läuft die Erkennbarkeit oder Voraussehbarkeit des Unrechts hinaus10 - eintraten. Daß eine derartige „zusammengesetzte" Form auf der subjektiven Tatseite auch sonst nichts Ungewöhnliches ist", zeigen z . B . die heutigen (unechten) „erfolgsqualifizierten" Delikte (§18 StGB); bei ihnen muß sich der Vorsatz nur auf den durch die Handlung verwirklichten Grundtatbestand (z.B. Körperverletzung, §223 StGB), auf den durch den Erfolg qualifizierten Tatbestand (z.B. schwere Körperverletzung, §224 StGB) dagegen nur die Voraussicht oder Voraussehbarkeit bzw. Fahrlässigkeit erstrecken12. Ferner ist z . B . auf die §§311 IV, 315 IV, 315a III Nr. 1, 315 b IV, 315 c III Nr. 1 StGB hinzuweisen.

7 Dazu mit Nachweisen z . B . Schönke, StGB, l.Aufl. 1942, ehem. §59 Anm. Vl.l.a). 8 Vor allem Binding, Die Normen und ihre Übertretung, II. Bd. 2. H., 2. Aufl. 1916, S. 935 ff., 955; ders., Die Schuld im deutschen Strafrecht, 1919, S. 38 ff.; Allfeld, Die Bedeutung des Rechtsirrtums im Strafrecht, 1904, S. 4 ff., 22 ff., 33, 39; ders., Lehrb. d. Dtsch. Strafr., 9. Aufl. 1934, S. 165 ff., 168; Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906 (Nachdr. 1964), S. 180 ff., 185; Gerland, Dtsch. RStrafr., 2. Aufl. 1932, S. 128 ff.; Mezger, Strafr., Lehrb., 3. Aufl. 1949, S.331 ff.; Schönke, StGB, l.Aufl. 1942, ehem. § 5 9 Anm. II vor 1, Vl.l.a). » v.Bar, Gesetz u. Schuld im Strafr., II. Bd. 1907, S. 384 ff., 391 ff., 398; Schwartz, StGB, Komm., 1914, ehem. § 5 9 Anm. 7.c); Wachenfeld, Lehrb. d. dtsch. Strafr., 1914, S. 152, 158; Lucas/Ebermayer, Anleit. zur strafrechtl. Praxis, 4. Aufl., 2. Bd. 1924, S. 133; insbesondere das R G , s. z . B . RGSt. 1, S. 88, 90; 2, S.268, 269; 8, S. 182, 183; 37, S. 139, 141/142; 51, S. 9, 12; 63, S.215, 218; 72, S. 82, 84. 10 So in erster Linie Roh. v. Hippel, Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, in: Mitt. d. IKV, X X I I . Bd. 1924, S. 16, 25, 27 (auch selbständig erschienen); ders., Dtsch. Strafr., II. Bd. 1930, S. 342 ff., 346 ff., 348, 350. Vgl. auch schon kurz Seuffert, Ein neues Strafgesetzbuch für Deutschland, 1902, S. 39. Ähnlich (Erkennbarkeit der Pflichtwidrigkeit neben Tatvorsatz ausreichend) Adolf Merkel, Lehrb. d. dtsch. Strafr., 1889, S.67f.; M.E. Mayer, Der Allgem. Teil d. dtsch. Strafr., 2. Aufl. 1923, S.235, 258, 320. 11 And. (eine solche „zusammengesetzte Schuldform" sei dem StGB „fremd") Schönke, StGB, 6. Aufl. 1952, ehem. §59 Anm. IV.2 a.E. 12 Vgl. schon die entsprechenden Hinweise von Rob. v. Hippel, Dtsch. Strafr., II. Bd. 1930, S. 342 Anm. 4.

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Der Begründer der Mittelmeinung, Robert von Hippel, bezeichnete zunächst ganz richtig die Verbindung von Tat-Vorsatz und „RechtsFahrlässigkeit" (Erkennbarkeit des Unrechts) 13 als Berücksichtigung eines „psychologisch zusammengesetzten Vorgangs" (!), den dem Gebiet der Vorsatz- oder der Fahrlässigkeitsdelikte zuzurechnen dogmatisch gleich befriedigend oder unbefriedigend erscheinen müsse, so daß die Entscheidung unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten zu treffen sei; und diese letzten Aspekte sprächen eben für die erste Alternative, d. h. für eine Vorsatzbestrafung 14 . Rob. v. Hippel verhinderte aber eine klare Erfassung der Sach- und Begriffslage wieder dadurch, daß er verschiedentlich die Kenntnis und Erkennbarkeit des Unrechts als „normatives" Element des Vorsatzes ansah, und zwar im Unterschied zu dessen „psychologischem" Element, dem Kennen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung (dem Tat-Vorsatz!). Zu einer noch größeren Verwirrung mußte es beitragen, wenn er verfehlt in einer Berücksichtigung nur des Tatvorsatzes als Strafbarkeitsvoraussetzung das Wesen der „psychologischen", in der Anerkennung auch eines (potentiellen) Unrechtsbewußtseins das der „normativen" Schuldauffassung erblickte 15 . Im Ergebnis (Vorsatzbestrafung schon bei Erkennbarkeit des Unrechts) gleich, anders aber nun in der Begriffs- und Systembildung hat 1927 Paul Merkel die heute herrschende Auffassung entwickelt: TatVorsatz und (potentielles) Unrechts-Bewußtsein seien nicht als Einheit zu sehen, sondern nebeneinander zu stellen; der erste Begriff gehöre der Tatsachensphäre an (was richtig ist), der zweite der Wertsphäre (was unrichtig ist). Die Kenntnis, erst recht die Erkennbarkeit des Unrechts sei nicht ein Merkmal des Vorsatzes, sondern ein Element der Schuld16. Paul Merkel sah in dieser Systematik eine Konsequenz aus der normativen Schuldauffassung, nach der man Vorsatz und Schuld nicht etwa gleichsetzen dürfe, weil jener „normativ und ethisch farblos", diese dagegen ein Unwert(urteil) sei; zu einer solchen Wertung sei der Richtende nur befähigt und befugt, wenn auch der Täter die Einsicht in das Unrecht seiner konkreten Tat gehabt habe oder eine solche Erkenntnis

13 Der Ausdruck „Rechtsfahrlässigkeit" zuerst bei Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906 (Nachdr. 1964), S. 191 f.; dann bei Rob. v. Hippel, Ein wichtiger Fortschritt der Schuldlehre, in D S t r Z 1917, Sp. 14, 20; dems., Dtsch. Strafr., II. B d . 1930, S. 344 u. A n m . 3. Zu dem Begriff näher Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930 (Nachdr. 1964), S. 243 ff. 14 Rob. V.Hippel, Dtsch. Strafr., I I . B d . 1930, S.350 (Hervorheb. vom zitier. Verf.). 15 Rob. v.Hippel (Fn. 14), S . 2 7 9 zu N r . 5, 280 u. F n . 4 , 337, 349. 16 Paul Merkel, Grundriß des Strafrechts, Allgem. Teil, 1927, S . 9 2 f f . , 113, 114 ff., 142 ff., 144; ebenso weitgehend, wenngleich nicht immer exakt, Berg, Der gegenwärtige Stand der Schuldlehre im Strafrecht, in StrAbh. H . 2 2 0 (1927), S . 5 5 , 65 f., 71; Wetz, Die Arten des Irrtums, in StrAbh. H . 2 8 6 (1931), S . 5 f f . , 19.

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hätte haben können. Die Unrechtskenntnis oder -erkennbarkeit sei also nicht „Bestandteil" (Begriffsmerkmal), sondern „Begleiterscheinung" des (Tat-)Vorsatzes (und der Tat-Fahrlässigkeit) und gehöre daher systematisch zur Schuld17. Die vorstehend skizzierten Thesen sind dann später als scheinbar neue Ansichten von Welzel in Verbindung mit seiner „finalen Handlungslehre" unter dem verfehlten und verwirrenden Schlagwort „Schuldtheorie" wiederholt worden18, ohne daß des geistigen Vorgängers Paul Merkel auch nur mit einem Wort gedacht worden wäre19. Wenn sich Welzel zur Stützung seiner Ansicht ursprünglich allein auf die Autoren Rob. v. Hippel und Graf zu Dohna als Bundesgenossen berufen hat20, so war das oberflächlich und ungenau. Diese Berufung war nur äußerlich im Ergebnis zutreffend (Trennung von Tatvorsatz und [potentiellem] Unrechtsbewußtsein, mildere Bestrafung eines Vorsatzdelikts bei Erkennbarkeit des Unrechts bzw. Vermeidbarkeit des „Verbotsirrtums"), nicht in der begrifflichen und systematischen Bestimmung und Begründung. Denn Rob. v. Hippel ist, wie im vorhergehenden dargelegt, von einer „zusammengesetzten" Form der psychischen Beziehung des Täters zur objektiven Tatseite (Tatvorsatz - Rechtsfahrlässigkeit - Kombination) ausgegangen und hat die „normative Schuldauffassung" noch nicht klar erfaßt21. Graf zu Dohna hat, wie noch zu zeigen sein wird, das Unrechtsbewußtsein gerade nicht als Schuldelement, sondern richtig als psychische Beziehung des Handelnden zu seiner Tat und als Objekt der (Schuld-)Wertung angesehen22. Bei den strafrechtlichen Ausführungen wird in der Literatur meist nicht deutlich, auf welchem rechtsphilosophischen Hintergrund der Autor seine Definitionen und Distinktionen entwickelt. Zur richtigen Einordnung und Bestimmung der Kenntnis oder Erkennbarkeit des Unrechts innerhalb des allgemeinen Verbrechenssystems empfiehlt es sich daher, von dem Wust unklarer Meinungen möglichst weitgehend

17

Paul Merkel (Fn. 16), S. 114. Die mehr als unglücklichen Termini „Vorsatz- und Schuldtheorie" zum ersten Male gebraucht von Welzel, Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, in SJZ 1948, Sp. 368, 369, dann ab der 2. Aufl. (1949) seines Grundrisses „Das Dtsch. Strafr. in seinen Grundz." (5. Aufl. seines „Allgem. Teils d. dtsch. Strafr."), S. 83. 19 Erst ab der 5. Aufl. seines Grundrisses von 1956 (S. 136 zu Nr. 3) taucht unter den Literaturangaben plötzlich auch kurz der Name Paul Merkels auf. 20 Von Welzel, Der Allgem. Teil d. dtsch. Strafr., 2. Aufl. 1943 (die l.Aufl. stand dem Verf. nicht zur Verfügung), S. 95, wird als Beleg nur angeführt: „s. zum Ganzen" Rob. v.Hippel, Dtsch. Strafr., II. Bd. 1930, S. 349 f. und „besonders" Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Aufl. 1941, S.41 ff. 21 Vgl. oben Text zu Fn. 14 und 15! 22 Dazu nachfolg. Text zu Fn. 46 f. 18

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abzusehen und sich zunächst einmal die rechtsphilosophischen Ausgangspositionen klarzumachen. III. 1. Grundlegend für die strafrechtliche Deliktssystematik ist die Einsicht geworden, die insbesondere der Neukantianismus der südwestdeutschen Philosophenschule von Windelband, Rickert und Lask herausgearbeitet hat, und zwar die Lehre, daß scharf zwischen Tatsachen und Werten, zwischen einer ontologischen und axiologischen Blickweise, zwischen einer deskriptiven und normativen Anschauung zu unterscheiden ist. So hat ein Vertreter dieser Richtung, Emil Lask, „die Scheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung" als „das . . . Fundamentalprinzip aller philosophischen Besinnung" bezeichnet, das auch in der Rechts- und Sozialphilosophie immer mehr anerkannt werde23. Der insbesondere von diesem Denker beeinflußte Rechtsphilosoph und Strafrechtler Radbruch geht davon aus: „Es ist die erste Tat des Geistes, das Ich aus der Gegebenheit" (d.h. für ihn: aus „dem ungeformten Rohstoff unseres Erlebens") „zurückzuziehen und ihr gegenüberzustellen und damit die Wirklichkeit vom Wert zu scheiden."24 Und um noch das Urteil eines Autors anzuführen, der an diese Einsicht seine Überlegungen zur strafrechtlichen Schuldlehre anknüpfte, einen Satz Erik Wolfs: „Diese beiden Grundkategorien: Wirklichkeit und Wert, stellen für den Bezirk der Kulturerkenntnis in der Tat die columnae philosophiae und damit das unverrückbare methodologische Fundament jedweder wissenschaftlichen" (also auch der strafrechtswissenschaftlichen!) „Betrachtungsweise dar."25 Mag der Laie z.B. bei einem Unfall mit Sachschaden oder bei einem Streit mit tödlichen Folgen Verursachung und Verschuldung, Rechtfertigung und Entschuldigung miteinander vermengen, der Jurist muß als erstes lernen, „Sein und Sollen" (wie das ungenaue Schlagwort lautet), Tatsachenfeststellung und Werturteil zu trennen und innerhalb solcher Beurteilungen zu differenzieren. So ist heute dem Strafrechtler der Gegensatz von Tatbestand als Gegenstand der Wertung (des Unrechts) und Unrecht als Wertung (d.h. Unwert) dieses Gegenstandes auf der äußeren Verbrechensseite geläufig. Wer einen Menschen getötet hat, braucht das noch lange nicht rechtswidrig getan zu haben, da er z. B. in Notwehr oder nach Kriegsrecht gehandelt haben kann. Umgekehrt verhält sich der Strafgefangene nicht rechtmä-

23 Lask, Rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten J a h r hunderts ( K u n o Fischer-Festschr.), 2. A u f l . (2. A b d r . ) 1907, S . 2 6 9 , 279. 24 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, S. 1. 25 Erik Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928, S . 3 .

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ßig, der aus der Strafhaft flieht, weil er sie zu erdulden rechtlich verpflichtet ist; seine Selbstbefreiung ist aber nicht (straf)tatbestandsmäßig. Hinsichtlich der subjektiven Tatseite sollte diese Erkenntnis ebenfalls Allgemeingut sein, d.h. auch hier scharf zwischen Tatsachen- und Wertsphäre unterschieden werden. Nach der „normativen Schuldauffassung" ist der (Tat)Vorsatz etwas von der Schuld, Verschiedenes: der erstere ist als seelisch-tatsächliche Beziehung des Täters zu seinem Tun und Lassen wie dessen Folgen die tatsächliche Gegebenheit („Gegenstand") des Unwerts, die letztere der Unwert dieses seelischen Sachverhalts. Ein Mensch kann einen anderen nicht nur zu Unrecht, sondern sogar vorsätzlich töten, ohne schuldhaft zu handeln, weil seine Wissensund Willensbildung z. B. wegen der Todesnot, in der er sich befindet (s. § 35 StGB), keinen Vorwurf verdient und sich daher nicht negativ als Schuld qualifiziert, sondern als entschuldigt gilt26. 2. Das große philosophische Problem, dessen man sich heute meist gar nicht mehr deutlich bewußt zu sein scheint, ist bei der vorstehenden Unterscheidung der Tatsachen- und Wertsphäre, wie die Begriffe Wert und Unwert und dementsprechend Unrecht und Schuld als Unwerte aufzufassen sind. Auch für die Jurisprudenz bietet sich als Lösungsmöglichkeit im wesentlichen eine Alternative an, und zwar, wie man vereinfachend sagen darf, eine subjektiv-psychologische oder eine mehr objektiv-ontologische oder doch objektiv-axiologische Blickstellung. Entweder wird „Wert" als subjektive „Wertung" des urteilenden Subjekts, als „Werturteil" des Richtenden oder der personifiziert gedachten Rechtsordnung verstanden oder aber als objektiver Wert i. S. v. Eigenschaft, als „Qualität" einer physischen oder psychischen Realität (Sache, äußerer Vorgang, innerer Zustand). Im ersten Falle gäbe es mit dem Verschwinden des letzten Philosophen und Juristen und überhaupt des letzten Menschen von unserem Erdball das Gute und Gerechte oder das Schöne nicht mehr in unserer Welt, da kein menschliches Subjekt da wäre, das die Dinge werten würde und könnte. Im zweiten Falle würde der Wert den tatsächlichen Objekten als eine bestimmte Art von „idealen" Eigenschaften weiter anhaften, die Marmorstatue der Venus von Milo weiter schön sein, auch wenn kein Mensch mehr ihre Schönheit zu empfinden und festzustellen vermöchte. Erkenntnistheoretisch bedeutet dieses philosophisch nicht eindeutig und endgültig lösbare Problem, ob die idealen Werte wie das Wahre, Schöne und Gute bzw. Gerechte nur des subjekti-

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Insofern treffend z.B. auch Welze!, Um die finale Handlungslehre, 1949, S.24.

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ven Bekenntnisses oder doch, mehr oder minder weitgehend, der objektiven Erkenntnis fähig sind27. Ein Blick auf die Verschiedenheit menschlicher Wertvorstellungen über Schönheit und Sittlichkeit im Laufe der geschichtlichen Entwicklung scheint für die erste Alternative zu sprechen - die Wilden haben von ihren Frauen ein anderes Schönheitsideal als die Griechen des klassischen Altertums; was die Kannibalen für recht und lobenswert hielten, erscheint uns unrecht und verbrecherisch. Den ersten Standpunkt findet man oft in der Rechtsphilosophie und in der Strafrechtsdogmatik eingenommen. „Wir erleben" - so sagt Radbmch - „Menschen und Dinge behaftet mit Wert und Unwert und ohne jedes Bewußtsein, daß dieser Wert und Unwert von uns, den Betrachtenden, herkommt... Der Adel eines Menschen glänzt um sein Antlitz wie ein Heiligenschein. Aus dem Geäst alter Eichen weht uns ein Schauer von Heiligkeit a n . . . " Aber, so meint der Rechtsphilosoph, „nicht von den Dingen und Menschen selber" rühren solche „Werte" her28. Von dieser philosophischen Grundhaltung aus werden erst Redewendungen wie die von Schuld als Schuldurteil oder auf den ersten Blick paradox erscheinende Begriffsbestimmungen wie folgende ganz verständlich: „Rechtswidrigkeit ist ein Werturteil über die Tat, in der Innenwelt des Richters kommt es zustande." 29 Und weiter: „Schuld ist . . . ein Werturteil über den Schuldsachverhalt" (sc.: erfaßt im subjektiven Tatbestand); es erscheine daher nicht „befremdlich, daß ,die Schuld' eines Menschen nicht in seinem Kopf, sondern ,in den Köpfen anderer stecken' soll." Denn „das Urteil", der Täter habe seine tatbestandsmäßige, rechtswidrige (und z.B. vorsätzliche) Tat „schuldhaft" begangen, bewerte seine seelische Beziehung zu dem Verbrechen als einen ihm „vorwerfbaren Vorgang". „Erst durch dieses Wert-Urteil des Richtenden" werde „das psychologische Geschehen zu dem Begriff der Schuld erhoben." 30 Einen „abstrusen Gedanken" kann man mit Welzel eine solche Auffassung, d. h. die These, „daß die Schuld nicht eine Unwertezgenschaft... sei, sondern in den . . . urteilenden Köpfen anderer stecke" 31 ,

27 Für die erste Alternative ausdrücklich Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, S. 9 und schon ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 2. 28 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, S. 1, Hervorh. vom zitier. Verf. 29 M.E. Mayer, Der Allg. Teil d. dtsch. Strafr., 2. Aufl. 1923, S. 10, Hervorh. vom zitier. Verf. 30 Mezger, Strafr., Lehrb., 3. Aufl. 1949, S.248 und 249, Hervorh. z . T . vom zitier. Verf. 31 So Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, l . A u f l . 1951, S.29 vor N r . 1; dieses abfällige Urteil später gestrichen, s. 4. Aufl. 1961, S. 39 zu N r . 2. Gegen einen Schuldbegriff i. S. v. „Schuldurteil" anderer über den Täter z. B. schon E. H. Rosenfeld, Schuld und Vorsatz im v. Lisztschen Lehrbuch, in ZStrW 32 (1911), S. 466, 469, obwohl

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nur dann nennen, wenn man sich über die ihr zugrunde liegende philosophische Haltung nicht klar ist oder wenn man doktrinär allein die eigene „ontologische" Deutung des Wertbegriffs für vertretbar hält32. Daneben heißt es übrigens auch bei Welzel, daß „Schuld im eigentlichen Sinne nur die Vorwerfbarkeit als Wertung des Handlungswillens", dieser also Gegenstand des Werturteils sei33. Die erste Alternative zur Bestimmung des Wertbegriffs bedeutet seine Psychologisierung, die zu einem Subjektivismus und Relativismus führen muß, wie beide für die Rechtsphilosophie Radbruchs kennzeichnend sind. Eine solche Gleichsetzung von Wert und subjektiver Wertung kann nur für materielle Objekte wie z. B. ein Schmuckstück in Betracht kommen, das für den einen wertvoll, für den anderen wertlos ist, dessen „Wert" also allein von der „Wertschätzung" des einzelnen abhängt. Der Psychologismus in der Wertlehre ist um so merkwürdiger, als er heute weitgehend abgelehnt34 und auch durch die südwest-deutsche Philosophenschule des Neukantianismus nicht nahegelegt wird. Denn ein führender Vertreter dieser Richtung wie Richert, dessen Lehre sich Radbruch u.a. verpflichtet fühlte35, mit der er sich aber in seinem Werke nicht näher auseinandersetzt, unterscheidet von dem realen (physischen und psychischen) und dem idealen Sein (zu dem etwa mathematische Gebilde wie ein Dreieck oder die Zahlen gerechnet werden) noch das Reich des Werthaften und Sinnvollen, das nicht „ist" (existiert), aber doch „gelte"36. Ob man nun den „Wert" (oder Unwert) als etwas „ideal Seiendes" oder als etwas „Irreales", aber „Geltendes" deutet - als etwas Psychisches, als eine bloße „Wertung" ist er jedenfalls nicht aufzufassen. Sinnvoller dürfte es auch sein, den Begriff des „Geltens" i. S. v. Anerkennungszwang, Verbindlichkeit nur den Gesetzen zuzuerkennen, und zwar den Naturgesetzen und den (ungeschriebenen) Normen, d. h. den

auch für ihn das „Wesen der Schuld" in einem „Widerspruch zu einem rechtlich-sozialen Sollen" besteht (S. 477/478). 32 Auch Mezger, Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik, 1951, S. 7/8 (s. dazu die Besprechung von Spendet in ARSPh. 38. Jg. [1950], S. 622) hat später etwas dunkel von einer Wende zur „ontologischen" (nicht axiologischen?!) Betrachtung der Werte und von ihrem „essentiellen Sein" (idealem Sein?) gesprochen. 33 So ursprünglich Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, l.Aufl. 1951, S.29 zu Nr. 2. 34 Vgl. z. B. mit weit. Nachw. Victor Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl. 1951, S.2ff., 5; Hessen, Lehrb. d. Philosophie, II.Bd.: Wertlehre, 2. Aufl. 1959, S. 19 f. 35 Vgl. den ausdrücklichen Hinweis Radbruchs in seiner „Rechtsphilosophie", 1932, S.l F n . l . 36 Richert, System der Philosophie, I. Bd.: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, 1921, S. 108ff., llOff., 115, 121 f., 124.

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Sätzen des „Müssens" wie denen des „Sollens"*7. Die hier nicht näher zu erörternde philosophische Streitfrage, ob in dem Wert ein Sollen gründe oder nicht vielmehr umgekehrt aus dem Sollen(ssatz) der Wert einer Gegebenheit folge38, ist also im zweiten Sinne zu entscheiden. Die tatsächlichen Objekte (Dinge, Vorgänge, Zustände), die den Naturgesetzen entsprechen, erhalten dadurch ihre realen Eigenschaften; so bestimmt sich z. B. die Farbe (Farbeigenschaft) eines Körpers nach gewissen physikalischen Gesetzen für das auffallende Licht (Schwingungszahlen der Lichtarten) und die Absorptionsfähigkeit des Gegenstandes. Ahnliches muß für die „idealen" Eigenschaften einer Tatsache zutreffen; ein Marmorblock, der ästhetischen Normen entspricht, erscheint schön, eine Handlung, die ethischen Normen genügt (z.B. dem Sollenssatz, daß Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln sei), gerecht. Der Wert ist danach als eine objektive Qualität, nicht nur als eine subjektive Empfindung zu begreifen. Sowenig die Rose ihre rote Farbe verliert, weil ein Farbblinder sie nicht sehen kann, sowenig eine griechische Statue ihre Schönheit, weil ein Kunstbanause diese nicht nachzuempfinden vermag, und sowenig eine edle Tat ihren sittlichen Charakter, weil ein Verbrecher dafür keinen Sinn hat. Der Wert ist mithin als etwas unabhängig vom Subjekt Bestehendes und insofern als etwas Objektives aufzufassen, das allerdings noch schwerer als die physische und psychische Realität und nur annäherungsweise zu erkennen ist. Von dieser zweiten Anschauungsweise aus „steckt" die Schuld nicht „in den Köpfen anderer", d. h. der Richtenden, sondern im Kopfe des Delinquenten selbst. Sie ist der „Makel", der dem kriminellen Wissen und Wollen des Täters anhaftet, wie das Unrecht der „Schandfleck" ist, der seinem verbrecherischen Tun und Treiben anhängt. Nur mit dieser Einschränkung darf man ungenau bei den genannten beiden Unwertbegriffen von „Wertung" oder „Werturteil" sprechen und die sonst so prägnante Formel Graf zu Dohnas gebrauchen, daß „das Wesen der Schuld in der Wertung des subjektiven wie das Wesen der Rechtswidrigkeit in der Wertung des objektiven Tatbestandes liegt"39. Zur Klarstellung der gebrauchten Begriffe sei noch kurz zur Abrundung folgendes festgehalten: Unrecht und Schuld sind hier, wie schon

37 Vgl. auch Hülsmann, Art. „Gelten, Geltung" in: Histor. Wörterb. d. Philos., hrsg. v. Joachim Ritter, 3. Bd. 1974, Sp. 232 unt. 38 Zu diesem Problem s. z . B . Hessen, Lehrb. d. Philos., 2.Bd., 2.Aufl. 1959, S. 61 ff.; Schräder, Art. „Norm", II.3, in: Histor. Wörterb. d. Philos., hrsg. v. Joach. Rittery Karlfr. Gründer, 6. Bd. 1984, Sp.913. 39 Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 1950, S. 22/23, Hervorh. vom zitier. Verf.

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der große Systematiker Beling hervorgehoben hat (zumindest zunächst und primär), „nichts Substantielles, sondern Eigenschaften eines menschlichen Verhaltens"40, das erstere Eigenschaft des äußeren, die letztere solche des inneren Verhaltens. Der Unwert dieser beiden Tatseiten ergibt sich aus ihrem Widerspruch zu einer Rechtsnorm. Die zwei Begriffe „Unrecht" und „Schuld" bezeichnen also eine Normwidrigkeit und betreffen die Frage der Normativität. Das muß keinen „subjektivistischen Rationalismus" bedeuten, wie Arthur Kaufmann meint41. Gleich anderen Werten oder Unwerten bedürfen natürlich auch Unrecht und Schuld eines „realen Substrats", in dem sie sich realisieren und konkretisieren, um dadurch faßbar zu werden, ähnlich einem „idealen" Gebilde, z. B. einem Dreieck, das sich uns jeweils in der gezeichneten Figur darstellt. Insofern darf man in einem weiteren Sinne auch das rechtswidrige äußere Verhalten, z.B. eine widerrechtliche Tötung, Unrecht, eine schuldhafte innere Haltung, z.B. den vorwerfbaren Tötungsvorsatz, Schuld nennen. Das erstere bedeutet dann die objektive Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung, die letztere die subjektive Pflichtwidrigkeit oder Vorwerfbarkeit. Man muß dabei nur immer im Auge behalten, daß die Normativität das wesentliche Kennzeichen für Unrecht und Schuld ist. IV. Für die Verbrechenssystematik dürfte nunmehr die Frage, zu welchem generellen Deliktsmerkmal das aktuelle Unrechtsbewußtsein (soweit es neben dem Tatwissen und -willen für die Strafbarkeit der Vorsatztat gefordert würde) gehört, ob zum subjektiven Tatbestand oder zur Schuld, keine Schwierigkeiten bereiten. Als seelische Beziehung des Täters zur rechtlichen Eigenschaft seiner Tat ist es ein psychisches Faktum, eine geistige Realität; nur sein Inhalt betrifft nichts Tatsächliches, sondern einen Unwert. Damit ist das Unrechtsbewußtsein ebenso wie das Tatwissen und der Tatwille Gegenstand des Schuldvorwurfs, nicht dessen Bestandteil42. Dementsprechend kann man es in einen dann 40 Beling, Unschuld, Schuld und Schuldstufen, 1910, S. 6. Umgekehrt („etwas Substantielles") Welzel, Das Dtsch. Strafr., 11. Aufl. 1969, S.52 vor Nr. III; ebenso neuerdings Arth. Kaufmann in: Lackner-Festschrift, 1987, S. 185, 187. - Die dabei vorgenommene Unterscheidung von (nicht abstufbarer) Rechtswidrigkeit und (abstufbarem) Unrecht (Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1. Aufl. 1951, S. 15, 4. Aufl. 1961, S. 19) ist übrigens in der Sache auch nicht ganz neu, s. schon Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, S. 41/42, 72. 41 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 71, 175. 42 Ebenso Hellmut Feisenberger, Das Unrechtsbewußtsein, Diss. Leipzig 1932, S. 32 f. im Anschluß an James Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 12, SAbdr. aus: Öst. Ztschr. f. Strafr. 1913, S. 140.

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weiter gefaßten, Tat- und Unrechtskenntnis umspannenden Vorsatzbegriff aufnehmen; notwendig ist das jedoch keineswegs. Man kann genauso gut das Unrechtsbewußtsein als selbständiges subjektives Tatbestandsmerkmal neben den Vorsatz stellen, der in diesem Falle als „TatVorsatz" erscheint. Solche Definitionen und Distinktionen sind sogar zweckmäßiger und klarer. Denn während man beim (Tat-)Vorsatz eine (Gewißheits- oder Möglichkeits-)Vor-sie//««g und ein (festes oder abgeschwächtes) Vor-nehmen (im zweiten Falle ein Hin-nehmen bzw. InY^aui-Nehmen) unterscheidet43, betont man beim Unrechtsbewußtsein nur die intellektuelle Seite, also das Wissenselement. Diese sprachliche Bildung ist nicht zufällig. Denn Recht oder Unrecht, einen Wert oder Unwert kann man eigentlich nicht wollen, sondern nur (er)kennen oder nicht. Zwar läßt Goethe in seinem „Faust" Mephisto von sich sagen, er sei ein Teil von jener „Kraft, die stets das Böse will..."-, aber wollen kann der Täter im Grunde nur die tatsächliche Handlung und deren Folge, die den Stempel des Bösen oder des Unrechts tragen und die er als solche erkannt hat oder hätte erkennen können. Immerhin ist auch bei der Unrechtskenntnis das Willensmoment insofern nicht ganz auszuklammern, als es so, wie einen bedingten Tat-vorsatz, auch ein bedingtes Unrechtsbewußtsein gibt: Der Täter weiß zwar nicht sicher, hält es aber für möglich, daß er mit der von ihm aus dem Ausland eingeführten, nicht deklarierten Ware gegen eine Zollvorschrift verstößt, also unerlaubt handelt, nimmt das jedoch in Kauf. Aber entscheidend und dominierend ist bei der mehr oder minder sicheren Unrechtskenntnis die intellektuelle Seite, so daß schon der sprachliche Ausdruck darauf mit Recht den Akzent legt. Um Kritik und Ergebnis noch einmal zusammenzufassen: Es zeugt von einer großen Unklarheit über das Verhältnis von Tatsachen- und Wertseite und über die Eigenart der Wert(ungs)frage, wenn man Tatwissen und -willen (also den Tatvorsatz) als „psychologisches", das Unrechtsbewußtsein als „ethisches" oder „normatives" Element des Vorsatzes oder der „Schuld" angesehen44 und sogar in der Anerken-

43 Zu diesen beiden Elementen des Vorsatzes (Vor-setzens), der sich in ein Vorstellen und Vor-nehmen aufgliedert, s. Spendel, Zum Begriff des Vorsatzes, in: LacknerFestschr., 1987, S. 167, 174. Die hiergegen gerichtete Polemik Herzbergs in JZ 1988, S. 573 ff. ist unangebracht. Man kann nicht plötzlich etwas gegen die vorstehende Begriffsbestimmung auf Grund der Sprachentwicklung einwenden, auf die sich auch Gesinnungsgenossen des Kritikers berufen, nachdem diesen nachgewiesen worden ist, daß schon die Etymologie gerade nicht für, sondern gegen die Ausscheidung des Willensmomentes aus dem Vorsatzbegriff spricht. « So M. Ii. Mayer, Der Allg. Teil d. Dtsch. Strafr., 2. Aufl. 1923, S.231 Fn.6, 232, 233 ff., 238 ff., 258; s. auch die Kritik solcher Ansicht bei Paul Merkel, Grundr. d. Strafr., 1927, S. 112.

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nung des Unrechtsbewußtseins als subjektiver Strafbarkeitsvoraussetzung das Kennzeichen der „normativen Schuldauffassung" erblickt hat 45 . Dies hieße in der Tat deren Wesen „völlig verkennen", wie Graf zu Dohna treffend betont hat. Denn mit der Unrechtskenntnis „ist nur ein weiteres Objekt psychischer Beziehung gewonnen, die psychologische Struktur der Schuld aber mitnichten verändert" 46 . Daher darf man das Unrechtsbewußtsein, eine seelische Tatsache, nicht als Element der Schuld, als Bestandteil eines Unwertes, auffassen. Und darum konnte sich Welzel, um seine „Schuldtheorie" zu stützen, auf Graf zu Dohna ebensowenig berufen wie auf Roh. v. Hippel47. Wenn er, insofern zutreffend, gesagt hat: „Weil die Schuld die Bewertung des Vorsatzes ist, kann der Vorsatz nicht zugleich Teil dieser Wertung sein; er ist vielmehr das Bewertete, das Objekt, der Gegenstand der Schuldwertung" 48 , so gilt das nicht minder für das Unrechtsbewußtsein als psychisches Faktum. Und genauso unrichtig ist weiter Welzeis Behauptung, der (Tat-)Vorsatz sei in Graf zu Dohnas Verbrechenssystem „heimatlos" geworden und habe erst durch die „finale Handlungslehre" seinen „sachgemäßen Platz" zugewiesen bekommen 49 . In Wahrheit bilden beide subjektiven Faktoren, der Tatvorsatz und das Unrechtsbewußtsein, als zwei zusammenhängende seelische Tatsachen den Gegenstand des Unwertes „Schuld", sind jedoch durch die neue Lehre auseinandergerissen und unsystematisch zwei verschiedenen Standorten (der erste zur Tatbestandshandlung vor dem Unrecht, das zweite zur Schuld) zugeordnet worden, wo sie nicht hingehören. V. Sollte es nach dem Vorausgegangenen nicht zweifelhaft sein, daß das aktuelle Unrechtsbewußtsein als eine seelische Tatsache im Verbrechenssystem, um Graf zu Dohnas Formel zu gebrauchen, zum subjektiven Tatbestand als „Gegenstand der Wertung" und nicht zur Schuld als „Wertung dieses Gegenstandes" gehört, so könnte es fraglich erscheinen, ob für die potentielle Unrechtskenntnis, d. h. die Erkennbarkeit des So Rob. v.Hippel, s. schon oben zu Fn. 15. Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 1950, S. 39/40. Vgl. weiter v. Liszt/Schmidt, Lehrb. d. Dtsch. Strafr., I.Bd., 26. Aufl. 1932, S.227 Fn.7; Mezger, Strafr., Lehrb., 3. Aufl. 1949, S. 250 Fn. 6. Man darf also nicht die subjektive Wertung der Tat durch den Täter mit dem objektiven Unwert des subjektiven Tatbestandes (Tatvorsatzes und Unrechtsbewußtseins) bzw. mit dessen „Wertung" durch den Richtenden verwechseln! 47 Zu letzterem s. oben S. 92 zu Fn. 13 ff. 48 Welzel, Um die finale Handlungslehre, 1949, S.24. 49 Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl. 1961, S. 42. 45

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Unrechts, die nach dem Gesetz (§17 StGB) für eine Vorsatzbestrafung ausreicht, dasselbe gilt. Da sie „Rechtsfahrlässigkeit" bedeutet 50 , drängt sich sofort die Anknüpfung an den Deliktsaufbau der Fahrlässigkeitstat auf. Bei der bewußten Fahrlässigkeit ist die Parallele zum Tatvorsatz ganz offensichtlich. Hier entspricht diesem als einer psychischen Beziehung des Täters zu seiner Tat die Voraussicht der Tatbestandsverwirklichung (im Vertrauen auf deren Nichteintritt) als „psychologisches Element" der Fahrlässigkeit 51 . Der Täter hat es z.B. für möglich gehalten, mit seinem verkehrsuntüchtigen Gefährt einen Unfall herbeizuführen, aber darauf vertraut, es werde noch einmal gut gehen („LeinenfängerFall" von RGSt. 30, S.25). Das Gleiche gilt für das Unrechtsbewußtsein in der Form einer Möglichkeitsvorstellung und der Annahme, das Handeln sei doch erlaubt (der Reisende beschwichtigt schließlich sein Gewissen mit dem Gedanken, daß der von ihm eingeführte und nicht deklarierte Gegenstand doch nicht zollpflichtig sei, beruhigt sich also damit, daß er nichts Unerlaubtes tue). Problematisch könnte es vielleicht erscheinen, wie bei der ««bewußten Fahrlässigkeit zu systematisieren ist, da hier eine aktuelle psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat fehlt und nur eine potentielle vorzuliegen braucht. Es sind dies die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung und die Erkennbarkeit des Unrechts, die beide zu ihrer Feststellung eine gewisse Beurteilung („Bewertung") des Richters erfordern. Aber auch diese potentielle seelische Beziehung ist dem Bereich der psychischen Realität zuzurechnen 52 . Denn die Fahr-Ai'wig-keit oder Nach-/