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German Pages 844 [848] Year 1992
V E R B O R U M AMOR
VERBORUM AMOR Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Harald Burger, Alois M. Haas und Peter von Matt
w DE
G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1992
Die Herausgabe der vorliegenden Festschrift wurde in dankenswerter Weise ermöglicht durch Beiträge des Kantons Appenzell A. Rh. des Kantons Appenzell I. Rh. des Kantons St. Gallen der Gemeinde Herisau der Appenzell-Ausserrhodischen Kantonalbank und der Winterthurer Versicherungsgesellschaft
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Die Deutsche Bibliothek —
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Verborum amor : Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache ; Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag / hrsg. von Harald Burger ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 ISBN 3-11-011682-0 NE: Burger, Harald [Hrsg.]; Sonderegger, Stefan: Festschrift
© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Zum Geleit Am 28. Juni 1992 begeht Stefan Sonderegger, Ordinarius für germanische Philologie an der Universität Zürich, seinen 65. Geburtstag. Unter dem Titel „VERBORUM AMOR - Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache" haben Kollegen, Freunde und Schüler eine Festgabe zu diesem Tage zusammengestellt, und VERBORUM AMOR soll als der Leitgedanke verstanden werden, unter dem sich das weitgespannte Werk Stefan Sondereggers begreifen läßt. Der deutschen Sprache gilt seine Lebensarbeit: ihrer oft dramatischen Geschichte von den allerersten Anfangen bis zur Gegenwart, ihrer Verwurzelung im Germanischen, der Vielfalt ihrer Beziehungen zu den anderen germanischen Sprachen, zum Lateinischen und zur Romania, ihrer sich wandelnden Form und den Weisen ihrer Verwendung in Texten und Textsorten, ihrem mannigfachen Erscheinen in gesprochener und geschriebener Gestalt, dem Reichtum ihrer Wortfindung und Namengebung, ihrer wirkenden Gegenwärtigkeit in Literatur und hoher Dichtung, aber auch im Reden und Schreiben des Alltags, in der Übersetzungskunst und in der Rhetorik. Zu all diesen Dimensionen und Aspekten des Deutschen hat Stefan Sonderegger wesentliche Forschungsleistungen erbracht und Erkenntnisse weitergegeben, bald konzentriert auf das scharf erfaßte Einzelne, den Baustein, bald ausholend zum geschichtlichen Uberblick, dem kühnen Bogenbau. Daß er Sprache nie losgelöst von allgemeiner Geschichte, von Sozial- und Kulturhistorie betrachtet, davon zeugen insbesondere die Arbeiten zur Namenkunde, zur Rechtssprache und zur Sprache des Kriegswesens. Im Bereich der Wissenschaftsgeschichte gilt seine besondere Liebe dem Werk der Brüder Grimm in dessen eminenter Bedeutung für die Entfaltung der frühen Germanistik. Bei aller Urbanität und dem internationalen Ausgreifen seines wissenschaftlichen Wirkens richtet sich Stefan Sondereggers Blick aber immer auch wieder auf Sprache und Kultur seiner Heimat, des appenzellischen Herzlandes und des großen geschichtlichen Raums um das Kloster St. Gallen. Sprachwissenschaftliche Arbeiten zeugen davon ebenso wie rhetorisch-brillante Essays, und die Bedeutung des GallusKlosters für die Geschichte der deutschen Sprache hat er aus tiefer Vertrautheit in immer neuen Facetten erschlossen.
VI
Zum Geleit
Stefan Sonderegger wurde für sein wissenschaftliches Wirken von der Universität Dublin mit dem Titel eines Doctor Litterarum honoris causa und von der Universität Uppsala mit dem Titel eines Doctor honoris causa geehrt. Der vorliegende Band soll sich — so wünschen und hoffen die Herausgeber — würdig in die Reihe der Ehrungen einfügen. Wenn der Jubilar in den Beiträgen die umfassende Wirksamkeit seines eigenen Schaffens erkennt und bestätigt findet, ist eines der Ziele dieser Festschrift erreicht. Harald Burger Zürich, im Juni 1992
Alois M. Haas
Peter von Matt
Tabula gratulatoria Johannes Anderegg, St. Gallen Herbert Backes, Saarbrücken Oskar Bandle, Zürich Bayerische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Mundartforschung, München Rolf Bergmann, Bamberg Werner Besch, Bonn Bibliotheca Bodmeriana, Cologny Urs Bitterli, Gränichen Michael Böhler, Zürich Brigitte Boothe, Rafz Heinrich Boxler, Feldmeilen Peter Brang, Förch Hans E. Braun, Cologny Claudia und Helmut Brinker, Zürich Elisabeth Buhofer, Hagendorn Christina und Harald Burger, Egg Walter Burkert, Uster Iso Camartin, Zürich Rea Cerciello-Brunner, Ascona Peter Dalcher, Zug Friedhelm Debus, Schierensee/Kiel Ludwig Denecke, Hann/Münden Deutsches Seminar, Universität Zürich Beat Dittli, Zug Johannes Duft, St. Gallen George E. Dunkel, Zürich Ludwig Maximilian Eichinger, Passau Hans-Werner Eroms, Passau Jürg Etzensperger, Baden
Fachbereich Germanistik, Freie Universität Berlin Elisabetta Fazzini-Giovannucci, Pescara Karl Fehr, Gais Rafael Ferber, Sachsein Esther Ferrier, Rudolstadt Franz Fertig, Sünching Hermann Fertig, Sünching Jörg Fisch, Zürich Andreas Fischer, Zürich Stephan Frech, Zürich Susanne und Peter Frei-Korsunsky, Winterthur Eleonore Frey, Zürich Rita und Toni Frey-Wehrlin, Zürich Roger Gabereil, Zürich Thomas Gadmer, Zürich Angelo Garovi, Sachsein Robert H. Gassmann, Wallisellen Germanistisches Institut, Universität Bergen Dieter Geuenich, Denzlingen George T. Gillespie, Cardiff Peter Glatthard, Bern Jürg Glauser, Kloten Hans Glinz, Wädenswil Carsten Goehrke, Förch Jan Goossens, Münster Christian Götte, Zürich Albrecht Greule, Mainz Mark Greuter, Adliswil Georges Güntert, Zürich Alois M. Haas, Zürich
Vili
Tabula gratulatoria
Walter Haas, Fribourg Annelies Häcki Buhofer, Kilchberg Rosmarie und Hans Haefele, Kilchberg John Evert Härd, Uppsala Thomas Arnold Hammer, Zürich Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken Christoph Hauri, Baden Gerhard Heese, Zürich Hubert Herkommer, Bern Urs Herzog, Zürich Reiner Hildebrandt, Cappel bei Marburg Gerold Hilty, Oberrieden Anne Marie und Robert Hinderling, Bayreuth René Hirsig, Zürich Hans-Joachim HoffmannNowotny, Zumikon Helmut Holzhey, Zürich Thomas Honegger, Schlieren Albert Hug, Schwyz Peter Hungerbühler, Riehen Institut für Deutsche Philologie, Sprachwissenschaftliche Abteilung, Universität Würzburg Institut für Germanistik, Universität Salzburg Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft, Tirschenreuth Marc-René Jung, Zürich Reinhold Kaiser, Zürich Kantonsbibliothek (Vadiana), St. Gallen Luzius Keller, Zürich James C. King, Washington Wolfgang Kleiber, Mainz Ulrich Klöti, Wermatswil Verena und Erwin KobelBänninger, Winterthur Gerhard Köbler, Innsbruck
Rosa und Volker Kohlheim, Bayreuth Werner Koller, Bergen Werner König, Augsburg Robert Kramers, Zeist Hans Kuhn, Canberra u. St. Gallen Rolf Max Kully, Solothurn Ursula Kuttner, Zürich Rainer Lambrecht, Zürich Nikiaus Largier, Zürich Ernst Leisi, Pfaffhausen Angelika Linke, Zürich Heinz Lippuner, Grüt Heinrich Löffler, Basel Andreas Lötscher, Riehen Hermann Lübbe, Einsiedeln Max Lütolf, Zürich Eckart Conrad Lutz, Freiburg i. Ue. Franz Georg Maier, Küsnacht Mauro Mantovani, Lenzburg Beatrice und Peter von Matt, Dübendorf Heinrich Mettler, Volketswil Silvia und Werner Metzeler, Felsberg Hans-Rudolf Metzger, Zürich Kurt Meyer, Aarau Paul Michel, Zürich William G. Moulton, Bristol, Rhode Island Anton Näf, Neuchätel Hans-Peter Naumann, Zürich Peter Ochsenbein, St. Gallen Friedrich Ohly, Münster Karl Pestalozzi, Basel Hans Conrad Peyer, Zürich Phonetisches Laboratorium, Universität Zürich Rudolf J. Ramseyer, Rubigen Oskar Reichmann, Heidelberg
Tabula gratulatoria
Ingo Reiffenstein, Salzburg Regula und Rudolf Rohner, Meilen Romanisches Seminar, Universität Zürich Luciano Rossi, Zürich Anthony Rowley, Augsburg Robert Ruckli, Bern Kurt Ruh, Würzburg Heinz Rupp, Basel Sibylle und Peter Rusterholz, Bern Jörg Rutishauser, Elgg Roger Sablonier, Zürich Max Salm, Bern u. Zürich Willy Sanders, Bern Ulrich Saxer, Küsnacht Piergiuseppe Scardigli, Florenz Rudolf Schenda, Zürich Walter Schenker, Trier Max Schiendorfer, Zürich Hans-Peter Schifferle, Zürich Robert Schläpfer, Itingen Heinrich Schmid, Zürich Ruth Schmidt-Wiegand, Münster Rudolf Schnyder, Zürich Rudolf Schützeichel, Münster Ute Schwab, Heidelberg Alexander Schwarz, Zürich Dietrich Schwarz, Zürich Rudolf Schwarzenbach, Meilen Schweizerdeutsches Wörterbuch, Zürich Hans Rudolf Sennhauser, Zurzach Victor Sialm, Balzers Beat Siebenhaar, Aarau Christoph Siegrist, Basel Trudi und Robert Signer, Herisau
IX
Horst Sitta, Zürich Gilbert A. R. de Smet, Gent Ruth Sonderegger-Ritter, Herisau Kurt R. Spillmann, Zürich Jochen Splett, Münster Sonja Spörri-Bütler, Zürich Peter Stadler, Zürich Ulrich Stadler, Zürich Jelle Stegeman, Baar Jacob Steiner, Karlsruhe Peter Stotz, Bülach Hans Stricker, Zürich u. Buchs Eduard Studer, Granges Paccot Heinrich Tanner, Herisau Rolf Tarot, Zürich Georg Thürer, St. Gallen Rudolf Trüb, Zollikerberg Heinrich Tuggener, Nürensdorf Georg Th. Vogelsanger, Rorschach Werner Vogler, St. Gallen Leo Weber, Feldmeilen Max Wehrli, Zürich Viktor Weibel, Schwyz Irma und Johannes Wenk-Madoery, Riehen Peter Wiesinger, Wien Urs Willi, Zürich Markus Winkler, University Park/ Pennsylvania Norbert Richard Wolf, Würzburg Otto Woodtli, Zollikon Eva Wyss, Zürich Roland Zanni, Herrliberg Marianne und Franz Zeiger, Zürich Paul Zinsli, Bern Peter Zürrer, Zürich
Inhaltsverzeichnis I. Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
1
1. Übergreifendes
1
UTE SCHWAB
Lebendige Schwerter und lateinische Schlachtvögel
3
HEINRICH LÖFFLER
„Persönliche Kollektiva" und andere Personenbezeichnungen im Alt- und Neuhochdeutschen. Ein sprachhistorischer Beitrag zu einem aktuellen Problem
34
W I L L Y SANDERS
Sprachglossen. Zur Metamorphose eines alten Fachbegriffs ALEXANDER
47
SCHWARZ
Sang und Zwang. Zum Verhältnis von Textanalyse und Sprachgeschichte
71
O S K A R BANDLE
Des Springquells flüssige Säule auf schwedisch. Eine Skizze
77
GEORGE T. GILLESPIE
Streifzug durch deutsche und englische Literaturübersetzungen, insbesondere aus dem Mittelhochdeutschen 108 2. Mittelalter
127
GERHARD KÖBLER
Vom Umfang des Althochdeutschen
129
R U D O L F SCHÜTZEICHEL
Appellative in althochdeutschen Eigennamen
156
JOCHEN SPLETT
Der Worttyp rossolih im Althochdeutschen
162
E D U A R D STUDER
Abrogans 12.9-18
179
XII
Inhaltsverzeichnis
JOHANNES D U F T
Wesenszüge der Persönlichkeit Notkers des Deutschen
185
JAMES C . K I N G
Philosophia kommt Boethius mit Rhetorik und Disputation entgegen
201
PETER O C H S E N B E I N
Notker Balbulus deutsch
214
REINER HILDEBRANDT
Uuillechomo! Ekkehards IV. beliebte Grußformel
238
U R S HERZOG
Vorschein der „neuen Erde" — Der Heilige und die Tiere in der mittelalterlichen Legende
249
NORBERT R I C H A R D WOLF
Reisen im Mittelalter? Anmerkungen zum mittelalterlichen Reisewortschatz II
263
ALOIS M . HAAS
Schwermütigkeit. Ein Wort der deutschen Mystik
273
PAUL M I C H E L
Stilwandel bei Heinrich Seuse RUTH
297
SCHMIDT-WIEGAND
Der Mainzer Reichslandfriede im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
342
3. Neuzeit
359
PETER W I E S I N G E R
Reflexe gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen. Am Beispiel des steirischen Dichters Andreas Kurzmann
361
ALBRECHT GREULE
Moselfränkische Weistümer des 15. und 16. Jahrhunderts. Funktionale Textgliederung und syntaktischer Stil
396
G I L B E R T A . R . DE SMET
Seb. Heydens Nomenclatura Rerum in Köln
412
WERNER BESCH
Die Bibel als Lehrbuch im Deutschunterricht
430
Inhaltsverzeichnis
XIII
OSKAR REICHMANN
Deutlichkeit in der Sprachtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts . . . 448 INGO REIFFENSTEIN
Oberdeutsch und Hochdeutsch in Gelehrtenbriefen des 18. Jahrhunderts 481 H A R A L D BURGER u n d PETER VON M A T T
Johann Peter Hebels „Andreas Hofer" — politische Tendenz und phraseologische Strategien 502 RUDOLF SCHWARZENBACH
Der „Schweizerische Volksredner" von 1845. Ignaz Thomas Scherrs Leitbild einer republikanischen Rhetorik 524 HORST SITTA
Entschuldigen Sie bitte!
544
II. Dialekte
559
PETER G L A T T H A R D
Weltliteratur berndeutsch — grundsätzliche Überlegungen zum Übersetzen in die Mundart 561 WALTER HAAS
Reine Mundart
578
WOLFGANG KLEIBER
Zur Verbreitung des Lehnmorphems -tfsch < lateinisch -aceu im Oberwallis. Ein Beitrag zur walserdeutsch-romanischen Interferenz 611 III. Namenerschließung in europäischen Bezügen
631
WOLFGANG H A U B R I C H S
Germania submersa. Zu Fragen der Quantität und Dauer germanischer Siedlungsinseln im romanischen Lothringen und Südbelgien 633 DIETER GEUENICH
Zum Zeugniswert frühmittelalterlicher Personennamen für die Sprachgeschichte des Althochdeutschen 667 GEROLD H I L T Y
Alemannisch und Romanisch im obersten Toggenburg. Zur Sprachgeschichte eines Grenzgebiets der althochdeutschen Schweiz 680
XIV
Inhaltsverzeichnis
HANS-PETER NAUMANN
Die altnordischen Personennamen im Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau
701
IV. Forschungsgeschichte
731
ROBERT H I N D E R L I N G
Johann Andreas Schmeller und die Anfänge der deutschen Politik
733
LUDWIG DENECKE
Ein besonderer Geburtstag. Jacob und Wilhelm Grimm am 24. Februar 1843 RUTH
751
SONDEREGGER-RITTER
Heinrich Heine und die Brüder Grimm. Aspekte ihrer gegenseitigen Beziehungen
764
V. Schriftenverzeichnis Stefan Sonderegger zusammengestellt von H A N S - P E T E R S C H I F F E R L E
781
I. Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 1. Übergreifendes
UTE SCHWAB,
Catania
Lebendige Schwerter und lateinische Schlachtvögel Er schwingt es weit, er mäht und mäht Und Etzels Schwert, es schwelgt und trinkt, Bis müd die Sonne niedergeht Und hinter rote Wolken sinkt. aus C. F. Meyer, König Etzels Schwert
1. Gespickt voll von realistischen Einzelheiten ist die eigenartige Schilderung des NL, wie der Thüringer Irinc in Etzels Saal mit jedem der burgondischen Protagonisten ficht: einen nach dem andern greift er an, zuerst Hagen, den er ja gelobt hatte, im Zweikampf zu bestehen und den er dann, als er merkt, daß der kairos noch nicht gekommen war, stehen läßt, um den tapferen spilman Volker, dann Gunther, darauf Gernot anzugreifen. Als es ihm nicht gelingt, die Führungsgruppe zu besiegen, erschlägt Irinc in der Wut vier namenlose Burgonden (2044), zu deren Rache Giselher sich dann verpflichtet fühlt: der jüngste der Dreikönige versetzt dem Thüringer einen so schrecklichen Schlag auf den Helm, daß er, durch das Dröhnen von Eisen auf Eisen, (2047) von des helmes do^e und von des swertes klanc betäubt auf den blutüberströmten Boden stürzt wie tot und nur langsam wieder zu sich kommt. Er läßt die Feinde im Glauben, er sei erschlagen und rührt sich nicht 1 , bis er wieder ganz Herr seiner Sinne und Kräfte ist: da springt er wie toll auf, rast weg durch die Tür, wo er jedoch auf Hagen stößt — und in diesem Augenblick erst gelingt es Irinc, mit dem Wunderschwert Waske seinem Hauptfeind eine Kopfwunde zu schlagen. Dies jedoch bringt wiederum Hagen in eine solch tobende Wut, daß sie sich auf sein Schwert überträgt (wir wissen, es ist Siegfrieds Balmunc): 2052
1
Do der herre Hagene der wunden enpfant, do erwagt im ungefuoge dat^ swert an siner hant —
Schon die Rolle Giselhers weist diese Episode dem letzten, dem Passauer Dichter zu. Die realistischen Einzelheiten, wie das .Sich tot stellen', gehören zu seiner ironischen Haltung dem ,Sagengeschichtlichen' gegenüber: wir fühlen uns an ähnliche Tricks des Fuchses im Tierepos erinnert.
4
Ute Schwab
Wie Hagen also die Wunde am Kopf spürt, gewinnt sein Schwert Leben — es bewegt sich so ungebärdig heftig ( u n g e f u o g e ) , als wolle es sich allein auf den Feind stürzen, und reißt seinen Besitzer mit, der dem Irinc nachstürzt und wild auf ihn dreinhaut, so daß der Thüringer die Treppe hinunter rast, verfolgt von den prasselnden Schlägen seines Feindes, wobei die Funken stieben ... 2. Schwerter und Waffen stehen im Nibelungenlied oft im Blickpunkt — als Teil der Rüstung, als Legitimation der Helden werden sie genannt, identifiziert nach Herkunft und Namen, beschrieben nach Aussehen, Schmuck, Schlagkraft und Beschaffenheit der Klinge 2 . Daß den Waffen eine eigene Energie zugemessen wird, ist uns bereits aus germanischen Runeninschriften der Völkerwanderungszeit bekannt. Die sprechenden poetischen Namen von Schwertern und Speeren, in magischen Runen auf Klinge und Blatt eingeritzt, verleihen Siegesmacht 3 . Schwerter auch historischer Helden haben oft zauberhaften Ursprung oder besonderen Schmuck, der sie erkennen und fürchten macht. Solche Waffen tragen zum Ruhm ihrer Besitzer bei, aber sie können sich ihnen auch versagen, so wie die Kraft eines Zauberspruchs dem Wissenden: die Kriegskunst und die Stärke des Eigentümers genügen nicht immer, wenn ein Instrument zu einem so hohen Ansehen gelangt ist, daß es mit seiner Geschichte auch eigenes Leben gewonnen hat 4 . Siegfrieds Schwert Balmunc offenbart in jenem einen Augenblick seine dämonische Macht in der Hand Hagens 5 . Wie Irinc mit seinem Wunderschwert Waske nach dem vorherigen Versagen durch das Metall des 2
3
4
5
Über ,wunderbare Schwerter' berichtet die Diss. von U. Priebe, Altdeutsche Schwertmärchen, Stettin 1906; vgl. J. C. Poestion, Das Tyrfingschwert, 1883 (mir nicht zugänglich). Es sei nur hingewiesen auf den gotischen Lanzennamen Tilarids ,Hinreiter' (man vergleicht die Odinsheiti Atriör und Frariör), der auch ,Zielrat' — .Angreifer' bedeuten mag: W. Krause —H. Jankuhn, Die Runeninschriften im älteren Futhark. Göttingen 1966 2 = Abh. Ak. d. Wiss. Göttingen, Phil.-Hist. I., 3. F., 65, Nr. 33. - Vgl. ibid. Nr. 31 0 v r e Stabu und Nr. 32 Dahmsdorf; dazu besonders: K. Düwel, Runeninschriften auf Waffen, in: Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Wörter und Sachen im Lichte der Bezeichnungsforschung. = Arb. z. Frühmal. Forschung I. Münster 1981. Wie der Mimrnc, das eigenwillige, von Wieland selbstgeschmiedete Schwert in den Dietrichgeschichten, die sogar im englischen ,Waldere' ihren Niederschlag gefunden haben, als Exemplum für ein versagendes Wunderschwert erscheint; wie das zauberhafte Schwert, das Beowulf in der Meereshöhle der Unholde findet, als ihm sein eigenes nicht gehorcht, usw. Sonst spielt es beim Burgundenuntergang seine Rolle als Symbol jener unvergessenen Mordtat und Hagens tätigen Widerstand gegen Kriemhilts Rache — bis zum Schluß.
Lebendige
Schwerter
und lateinische
Schlachtvögel
5
Helmes noch den ledernen Kopfschutz seines Gegners durchschlägt und ihm eine Kopfwunde zufügt, so gewinnt Hagens Schwert Balmunc Leben, nun da sein Herr fast seiner Sinne beraubt ist. Unbändig — ungefuoge — schlägt es in Hagens Hand aus — wie eine Wünschelrute, die Blut spürt. Dieses Gebaren ist der eleganten, maßvollen, höfischen fuoge entgegengesetzt: wo sich im Nibelungenlied Volkers Fiedelbogen in sein Schwert verwandelt, da wird sein sonst höfisch-kunstvolles „Geigenspiel" ebenfalls mit ungefuoge konnotiert. Ge^ogenliche fiedelt und singt er stiege dcene vor Gotelind in Rüedegers Haus; süe%lich\e\ lullen seine Melodien (1834) die Genossen in der ersten Nacht am Hunnenhofe in den Schlaf; aber schon bei dieser Vigil vor dem blutigen Johannisfest kann die Macht seiner Züge das Gästehaus erdie^en lassen (1835), so wie später sein eilen die Helme der Feinde ungefuoge zum Klingen bringen wird, als seien sie nun seine Geige, als wären sie Resonanzkörper des Schwertes 6 . Volkers Schwertfiedelbogen ,tönt' auch selbst wie ein Instrument und streicht sich beim Geigen im Kampf mit seinen scharfen Zügen blutig: diese Beschaffenheit der Spielmannswaffe haben wir in ihrem metaphorischen Rahmen anderswo zu interpretieren versucht 7 . 3. Dieselben beiden Eigenschaften machen auch sonst — einzeln oder sich integrierend — die Prosopopöie der Waffen, der Schwerter und Lanzen, aus. Ihr sausendes Klingen und Tönen kann sich zum Singen, Heulen und Brüllen steigern; ihre blutigen Schneiden gleichen beißenden Zähnen und Hauern, hackenden Schnäbeln und gefräßigen Mäulern — sie werden trunken von Menschenblut 8 . Wie es in der Fiedelmetaphorik des nibelungischen Volkers doppelt nachklingt, sind solche lebendige Waffen auch verwandt mit jenen nach Mordfraß lüsternen Tieren der Schlacht 9 . Der Rabe mit dem blutigen Schnabel und dem ,tau'-nassen 6
7 8
9
Zu klingen, klengen, /denken, diesen im Bereich des Schwertkampfes vgl. meine Bemerkungen in: Tötende Töne. FS Roswitha Wisniewski (im Druck). Ibd. zu NL 2002,1 und 2004,4. Zu den von Menschenblut betrunkenen Schwertern vgl. unten, Abschnitt 12—15: umgekehrt ertrinken die Erschlagenen in ihrem eigenen Blut, indem sie sich damit betrinken; vgl. dazu Verf., Blut trinken und im Bier ertrinken, in: Saxo Grammaticus, Classiconorrena 4, 1991 (im Druck). Zu diesem Thema vgl. besonders den mir erst nachträglich bekannt gewordenen grundlegenden Aufsatz von G. Neckel, Die kriegerische Kultur der heidnischen Germanen, GRM 7 (1919), bes. S. 2 6 - 3 0 ; dazu F. P. Magoun, The Theme of the Beasts of Battle in Anglo-Saxon Poetry, NM 56 (1955), S. 8 1 - 9 0 ; A. Bonjour, Beowulf and the Beasts of Battle, PMLA 72 (1957), S. 5 6 3 - 7 3 ; F. Robinson, Notes on the Old English Exodus, Anglia 80 (1962), bes. S. 367 Anm. 2; R. E. Diamond, Theme as Ornament in Anglo-Saxon Poetry, PMLA 76 (1961), S. 461 f. Eben erhalte ich den
6
Ute Schwab
G e f i e d e r , der graue, bellende W o l f u n d der r a u b g i e r i g e A d l e r
— die
,odinischen' T i e r e — d u r c h s t r e i f e n l e i c h e n h u n g r i g den W a l der g e r m a nischen Schlachtenepik. W i r k e n n e n dieses z o o m o r p h e E m b l e m hauptsächlich aus d e m n o r d i schen u n d ags. Bereich, w o es auch die b e s o n d e r e F u n k t i o n ü b e r n i m m t , die obligate E r w ä h n u n g historischer M a s s e n k ä m p f e e t w a der c y n e w u l f i schen L e g e n d e n s t e l l v e r t r e t e n d s c h o n bei i h r e m Einsatz, das E n d e r g e b n i s v o r a u s n e h m e n d , zu resümieren. D a m i t w i r d gleichzeitig die V e r w e n d u n g der m y t h i s c h e n K a m p f f o r m e l legitimiert; es w i r d d e m A u t o r ein Teil der S c h i l d e r u n g erspart, n ä m l i c h die Schlacht h o m e r i s c h o d e r lucanisch in vielen E i n z e l k ä m p f e n v a r i i e r t zu zeigen. So in der St. Elena. Konstantin läßt das Kreuz, das beacen godes, vor sich hertragen in die Schlacht; die Trompeten schmettern zum Angriff, und da (110b) Hrefn weorces gefeah, urigfedra, earrt sid beheold, wttlrhreowra wig. Wulf sang ahof, holtes gehleda. Hildgesa stod. (Der Rabe freute sich über das Kriegswerk, der Taubefiederte, der Adler beobachtete die Vorgänge im Kampf, der Grausame, der Wolf ließ seinen Gesang erschallen, der Gefährte des Waldes: der Schrecken der Schlacht war da.) Schon zuvor hieß es bei der Ausfahrt des feindlichen Heeres: (27b) FyrdleoÖ agol wulf on wealde; walrune ne mad urigfedera; earn sang ahof (30) laium on laste (Ein Kriegslied stimmte der Wolf im Walde an; der Taubefiederte verbarg die Kriegsrune nicht; der Adler ließ sein Lied erschallen, während er den Feinden folgte.) Anderswo läßt der Rabe seine Stimme ertönen; Judith 209b ac htm fleah on last earn ates georn; urigfedera, salowigpada sang hildeleoi hyrnednebba. Stopon headorincas, beornas to beadojve (den Feinden folgte auf dem Fuß der freßgierige Adler; der Hornschnabel sang ein Kampflied, der Taubefiederte mit dem schwarzen Frack. Es gingen die Kämpfer, die Krieger zur Schlacht). In dem Planctus am Schlachtfeld von Fontanetum 10 gehen die Tiere ihrem eigentlichen Geschäft nach und sind stumm beim Leichenfraß: Horum carnes vultur, corvus, lupus vorant acriter. Bereits hier m a h n e n w i r z u r V o r s i c h t bei allzu e n g e n , auf den N o r d e n der f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e n e u r o p ä i s c h e n K u l t u r w e i s e n d e n S c h l u ß f o l g e r u n gen. Ä h n l i c h e Leichentiere finden w i r n ä m l i c h bereits bei O v i d , bei der
10
gerade erschienenen Artikel von Roberta Frank, The Battle of Maldon and Heroic Literature, in: D. Scragg (Hrsg.), The Battle of Maldon AD 991, Oxford 1991, wo weitere „Birds and beasts devouring fallen warriors" aus irischer und türkischer Heldendichtung genannt werden (Anm. 129). Wichtig hier die Bemerkung: „But only in England and, especially, Scandinavia do the wolf, raven and eagle form a companionable triad ... before battle ... usually depicted with the winning side." In ,Maldon' werden die Wikinger ,Schlachtwölfe' (v. 96) genannt — und die Vögel der Schlacht erscheinen, sobald die ersten Speere fliegen (v. 106f.): es resultiert eine „ménage à trois ... composed of beastly invader and two birds" (S. 201). Vgl. dazu unten Anm. 84. MGH, Poet. Lat. II, 138 f.
Lebendige Schwerter und lateinische
Schlachtvögel
7
Beschreibung der Pest auf Aegina in den Metamorphosen. Aus den Haufen der unbeerdigten Toten pflanzt sich die Ansteckung fort: die Kadaver stinken so sehr, daß nicht einmal Vögel, Hunde und ,die grauen Wölfe' sie anrühren mögen, ehe sich die Körper auflösen: VII, 549 mira loquar non illa canes avidaeque volucres, non c a n i tetigere l u p i : dilapsa liquescunt. Die grauen Wölfe — wir werden auf sie gleich zurückkommen. Immer wieder finden sich in unserem Rahmen Parallelen der klassischen Dichtung: gleich möchten wir hier noch unser Augenmerk auf die Schlachtschilderung in Lucans Pharsalia, das VII. Buch des Bellum Civile, wenden. In dieser vielstudierten Schullektüre finden sich auch andere überraschende Motivparallelen zu Kampfbeschreibungen, besonders in der deutschen späteren, sog. ,nachklassichen' Heldenepik, auf die bislang nur selten hingewiesen wurde 11 . Die ,Beasts of Battie' erscheinen bei Lucan als jene ,Tiere mit feiner Nase', nämlich Wölfe, Bären und Hunde, welche die Leichenhaufen der Schlachtfelder heimsuchen. Auch die Vögel fehlen nicht — es sind hier Zugvögel, Kraniche, die von Blut triefen. Alle diese Tiere schwelgen im Uberfluß verwesenden Fleisches: 825 Non solum Haemonii funesta ad pabula belli Bistonii venere l u p i tabemque cruentae Caedis odorati Pholoen liquere l e o n e s . Tunc u r s a e latebras, obscaeni tecta domosque Deseruere c a n e s , et quidquid nare sagaci 83o Aera non sanum motumque cadavere sentit Iamque diu v o l u c r e s civilia castra secutae Conveniunt. vos, quae Nilo mutare soletis Threicias hiemes, ad mollem serius Austrum Istis, aves. numquam tanto se v o l t u r e caelum 835 Induit aut plures presserunt aera pinnae. Omne nemus misit v o l u c r e s , o m n i s q u e c r u e n t a Alite sanguineis stillavit roribus arbor. Saepe super voltus victoris et inpia signa A u t c r u o r a u t a l t o d e f l u x i t ab a e t h e r e t a b e s , 840 Membraque deiecit iam lassis unguibus ales. Sic quoque non omnis populus pervenit ad ossa Inque feras discerptus abit; non intima curant Viscera nec totas avide sorbere medullas: " Vgl. Vf., Blut trinken und im Bier ertrinken (wie Anm. 8).
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Ute Schwab
Degustant artus. Latiae pars maxima turbae 845 Fastidita iacet, quam sol nimbique diesque Longior Emathiis resolutam miscuit arvis. ,Bistonische W ö l f e kamen zu dem grausigen Mahl, das der Krieg in Thessalien bot, und L ö w e n aus Pholoe, als sie die Fäulnis der blutigen Niederlage rochen. Und nicht nur sie, auch B ä r e n verließen ihre Schlupfwinkel, und ekelhafte H u n d e krochen aus Häusern und Wohnungen und alle andern Tiere, die mit scharfer Witterung 830 ungesunde, von Leichen verpestete Luft wittern. Die V ö g e l , die schon längere Zeit den Heeren des Bürgerkrieges gefolgt waren, sammelten sich. Obwohl die K r a n i c h e gewöhnlich aus dem thrakischen Winter an den Nil reisen, brechen sie später als sonst nach dem milden Süden auf. Noch nie hatte sich der Himmel mit so vielen G e i e r n 835 bedeckt, hatten mehr Fittiche die Luft geschlagen. Jeder Wald entsandte seine gefiederten Bewohner, und als die Vögel blutbeschmiert z u r ü c k kehrten, tropfte jeder Baum von b l u t i g e m Tau. Oft f i e l e n B l u t s t r o p f e n oder f a u l i g e s F l e i s c h h o c h a u s d e r L u f t a u f d a s G e s i c h t des S i e g e r s und auf seine ruchlosen Feldzeichen, 840 und wenn ihre Krallen erlahmten, ließen die Vögel ganze Gliedmaßen niederfallen. Aber auch so wurde die Totenschar nicht bis auf die Knochen abgenagt, von den wilden Tieren nicht völlig zerrissen und aufgefressen. Sie kümmern sich nicht um die innern Organe, sind nicht erpicht, das Mark ganz auszuschlürfen, sondern kosten nur die Glieder. Der größte Teil des römischen Heeres 845 liegt da, verschmäht, und die Sonne, der Regen und die Zeit lösen die Leichen auf und lassen sie im thessalischen Boden versickern.' Die Tiere der Walstatt erscheinen bei diesem sado-pathetischen Dichter des Widersinnes ins Ungeheuerliche verzerrt: besonders die blutlüsternen Vögel, bei denen nicht nur das Gefieder, sondern auch ihre Waldsitze von rotem ,Tau' triefen, sind bemerkenswert. Der Dreierformel der odinischen Tiere stehen hier vier + drei Tiersorten gegenüber. Die Dreiheit der Schlachttiere im germanischen Ambiente signalisierte ursprünglich die Feldschlacht. Doch auch beim Hallenkampf — wie etwa in ,Finnsburg' — können sie die Vorahnung blutigen Geschehens versinnbildlichen. Noch in spätmittelalterlichen historischen Schlachtbeschreibungen finden wir Wölfe und Vögel am Werk — odinische oder lucanische? Ovidische oder gar von Augenzeugen beobachtete? Das Chronicon Colmariense schreibt zu der Schlacht von
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Dürnkrut (a. 1278)12 im Kapitel De corporibus occisorum in exercitu regis Bohemie: Jacuerunt autem cadavera [...] longo tempore, quodnec lupi nec canes nec aves ea comedere voluerunt.
I. Die singende W a f f e 4. W i r kehren nach diesen einleitenden Voraussetzungen mit einem weiteren Beispiel zu unserem T h e m a zurück. M i t dem E m b l e m des heulenden W a l w o l f e s w u r d e die P r o s o p o p ö i e einer W a f f e aus der V ö l k e r w a n d e r u n g s zeit hergestellt — freilich in wieder anderer F u n k t i o n . W i r beziehen uns auf die — allerdings umstrittene — D e u t u n g der Runen auf dem Lanzenblatt v o n M o s auf G o t l a n d 1 3 . M a n liest gaois, und interpretiert dies als N o m e n agentis mit dem ostgermanischen F o r m a n s -is. Es läge das parallel zu an. g e y j a hergestellte ostgerm. V e r b u m *gau-jan ,bellen' ( v o m H u n d o d e r W o l f ) zugrunde. Danach w ä r e dem Speer durch den silbergeschmückten Eintrag der N a m e ,Beller' oder .Heuler' als n o m e n und o m e n gegeben w o r d e n . D i e W a f f e w ä r e magisch mit dem S c h l a c h t w o l f identifiziert w o r d e n , der den Feind zerreißt — also dem K ä m p f e r E r f o l g beschert, entsprechend dem „im alten N o r d e n verbreiteten G l a u b e n , daß ein Speer, in w e l c h e m es beim A u s z u g zum K a m p f e laut tönt, dem Besitzer G l ü c k , dem Feind V e r d e r b e n b r i n g t . " 1 4 In der ersten Auflage seiner Runenkunde weist W. Krause im Zusammenhang auf die Inschrift des Lanzenschaftes von Kragehul (Nr. 27) hin, die er damals so übersetzte: „Magisch tönendes(?) Verderben weihe ich an dem Speer." 15 Krause beruft sich dabei auf den „Volksglauben", wonach es im Speer des ausziehenden Kriegers laut tönte, „wenn dem Speer Verderben beschieden war", und verweist auf Njäls Saga, c. 44 (übers. Heusler, Thüle 4, S. 109, wo es laut in einer Axt tönt, die an die Wand stößt zum Zeichen, daß Sigmund mit einer Axt erschlagen wird, c. 45) und c. 54: „Gunnar [...] nahm seinen Schild und gürtete sich das Schwert Ölwirsgabe um, setzte sich den Helm auf den Kopf und nahm die Hellebarde: in ihr tönte es laut, und Rannweig, seine Mutter, hörte es. Sie kam heraus und sagte: „Zornmütig siehst du aus, Sohn ..." Rannweig trat in die Stube; dort war Lärm und Gelächter. „Bei euch geht's laut zu," sagte sie, aber lauter noch klang die Hellebarde, als Gunnar hinaustrat." [...] „Das wird schon etwas zu bedeuten haben". In der Tat durchsticht dann Gunnar mit der
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Die Zeugnisse sind gesammelt bei: Andreas Kusterning, Erzählende Quellen des Mittelalters. Die Problematik mittelalterlicher Historiographie am Beispiel der Schlacht von Dürnkrut und Jedenspeigen. Wien 1982. Krause —Jankuhn (wie Anm. 3) Nr. 34. ibd., S. 80 f. Diese Deutung wird jedoch als unsicher bezeichnet. Halle 1937, Nr. 39, S. 61. Vgl. S. 67 der zweiten Auflage. Sieh Düwel (wie Anm. 3), S. 145 (mit weiteren Hinweisen).
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Ute Schwab Waffe mehrere Feinde (S. 128 f.). In derselben Njäls Saga (c. 79, S. 172 f.) tönt die Zauberlanze laut, als Högni sie zum Rachezug für Gunnar zu sich nimmt — und verkündet so den Tod eines oder mehrerer.
5. Wenn wir uns unter den Schwertkenningar umsehen, so ist auch hier die Beziehung eine doppelte. Einmal wird das Schwert als schädigendes, angreifendes, beißendes, blutdürstiges Wesen begriffen, dann gelten aber auch seine akustischen Eigenschaften, das Tönen seiner Klinge 16 , sein Singen als Handlungsmetapher des Kampfes. An den ,Beller' gaios erinnern Wolfskenningar für , Schwert' wie göins hurdulfrxl und ennibjalfar ulfr18, dabei auch ,Hunde'-Kenningar (h)reegagarrv\ seilar sölgagarr20 oder hjalmgagarr2X. Wenn das Schwert in der Skaldenpoesie mit der Tätigkeit des Raben, jenes anderen odinischen Schlachttieres verquickt wird, dann kann es zwei Eigenschaften dieses bildspendenden Vogels übernehmen. Es ,singt' (wie auch sonst in der Dichtersprache, s. u.) und es wird zugleich mit dem ,blutigen Schnabel' des ,zuhackenden' Tieres identifiziert. So in einer der Lausavisur, die dem isländischen Skalden Kormakr Ögmundarson zugeschrieben wird: 63 pds, sidernis Säga, sqng of minum vanga Hlakkar prafni, en hrafni heitr feil ä nef sveiti
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die ja nach ihrer akustischen Eigenschaft diesen Namen trägt, vgl. Grimm DW. nach Rudolf Meissner, Die Kenningar der Skalden. Ein Beitrag zur skaldischen Poetik. Bonn/Leipzig 1921, Nr. 76,b,Jt; Stelle: Finnur Jónsson, Den norsk-islandske Skjaldedigtning, B I, 87,5, Fylgdud oss, es Odins endr, ór pessi hendi, Hlakkar Njgrdr, à huròir hurdulfr góins puröi. ibd.; F. Jónsson, Sk. B I 184,3 Ufr beit ennibjlfa, egg kom suqrp i leggi Helga kend ór hendi hardr Grams megin-Njqròu, pds bramàna bqrium hildar bords at mordi urfraningar qrum endr fiqrbrautir rendu. ibd.; F. Jónsson, Sk. B I 650,6 (Kräkumal, Str. 6) Herr kastadi skjqldum, päs ragagarr rendi rastr at gumna brjóstum; beit i Skarpa-sherjum skaru-bildr at hjaldri; rodinn var randar móni, àòr Rafn konungr f e l l i ; dreif ór hqlda bausum heitr à brynjur sveiti. ibd.; F. Jónsson, Sk. B I, 136,4, Tindr Hallkelsson (f nach 1015, Island), Drape om Hakon jarl (a. 987): Vann à Vinda sinni verdbjóir hugins ferdar (beit só Igagarr seilar) sveròs eggja spor (leggi), air hjqrmeidir hrjóòa [...] ibd. F. Jónsson, Sk. B I, 389, 3, (Darraöarljöö post a. 1014): Gengr Hildr vefa ok Hjqrprimul, Sanngriär, Svipul sverium tognum; shapt mun gnesta, skjqldr mun bresta, mun hjalmgagarrj i hlif homa.
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,Klinge herrlich klirrend, klang um meine Wange! Purpurn Rinnsal rann von Rabens blutgem Schnabel'22. Auf das , Singen des Schwertes um das Haupt' werden wir gleich zu sprechen kommen. Hier interessiert uns die Waffe, welche in der Rolle der Schlachttiere agiert und ihre Stimme ertönen läßt. Die Bilder können sich dabei überschneiden. Am Anfang des Finnsburg-Fragments wird die Voraussage des nahenden Unheils so gefaßt: 5 ac her forp berad fugelas singad 6 gylled grceg-hama guö-wudu hljnned 7 scyld scefte oncwjd ,sondern [die Kriegs-Gefahr] bringen sie heran: die Vögel werden singen, der Graumantel wird heulen, das Kampfholz wird ertönen, der Schild wird dem Speerschaft Antwort geben [...]' 23 Der schwierige Abschnitt ist im Rahmenkontext zu fassen. Zuvor (v. 3 und 4) wird geleugnet, daß der helle Schein, den man bemerkt hatte, von der aufgehenden Sonne, von einem feuerspeienden Drachen, oder von der Brenna herrührt — jetzt (v. 7b nu) scheint noch der Mond, ,nun aber (v. 8b nu) beginnen die schlimmen Taten, die jenes Volkes Haß vollbringen wird ...'. Unsere Stelle (5 —7a) nimmt das nahe Kriegsgeschehen voraus, das sich im Futurum abspielt und der vorhergehenden Annahme entgegengesetzt (5a ac her) ist. 5a ist verderbt; es wird mit Brandl zu lesen sein: Ac her far berad.
Die vier Sätze (5b —7a) erklären die nahende Gefahr emblematisch als Einbruch eines Heeres: dem (3) Ne her... Jetzt hier noch nicht' (weder Kampfesfeuer noch feuerspeiender Drache noch der Tagesanbruch ...) wird das sich bald ereignende Geschehen als künftige Wirklichkeit entgegengesetzt und mit ac ,sondern' eingeleitet, um dann im Aufruf an die in der Kriegshalle Schlafenden zu münden: 10 A.c onwagnige ad nu, wigend minel .sondern — auf jetzt [...]!' Ein Hallenkampf, die Verteidigung der Burg, ist vorausgesehen; Wachen werden an die Tür des Saales gestellt (v. 14 ff.). Dazu bilden die 22
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Vgl. zur Orientierung: Rudolf Simek —H. Pälsson, Lexikon der altnordischen Literatur, Stuttgart 1987, s.v. Kormäkr Ogmundarson: der isländische Skalde wirkte etwa von 930 — 970. Es werden ihm in der Kormäks saga des frühen 13. Jh.s über 60 Lausavisur zugeschrieben, deren Echtheit jedoch zweifelhaft ist. — Wir bringen die Ubersetzung aus Thüle 9, Vier Skaldengeschichten, übertr. v. F. Niedner, Jena 1923, S. 205 (Weise 83, v. 5 ff.). Vgl. die Ausgabe der Kormäks saga von T. Möbius, 1886, S. 56 (Kap. XXVII), die mir nicht zugänglich ist. Wir zitieren den Beowulf-Text nach der Ausgabe von Heyne-Schücking-Schnaubert.
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Tiere der Walstatt, die vorher schon aufgerufen wurden, keinen Gegensatz: sie sind (wie wir bereits sahen) ein konventionelles Zeichen für ,Kriegsmacht im Anzug'. Hier ,singen' die odinischen Kampfvögel — das ist sonst nicht ihre Art, ihre Anwesenheit zu bekunden. Der ,Graumantel' läßt seine gellende Stimme ertönen — grceg-hama gyllep: zum Zeichen des ernsthaft einsetzenden Kampfes tut er das. Und schon heult zischend — hlynned — auch der Speer heran. Es ist kein Unterschied zwischen dem Kriegslied der Schlachttiere und der Waffen. hlynnan und giellan werden in den poetischen ags. Denkmälern 24 beide unterschiedslos gebraucht: vom Schrillen der menschlichen Stimme (beim Gelage, Jud. 23 hlynede and dynede; 25 se stidmoda Holofernes styrmde and gylede ... medugal), von dem Klang der cithara (,sonans chorda' Rhym. 25 gellende sner, hearpan hlyn\ Phoenix 135; Beowulf 89; 2458; 3023 u. ö.); vom brüllenden Brausen des Wassers (Andreas 238 garsecg hlynede ,the ocean roared'; Exodus 489), vom schrillen Schrei des Vogels (Riddle 25,3 ic gielle nva hafoc\ Seafarer 62 gielled anfloga-, vgl. Sal. 267); vom schwirrenden Tönen des Speeres, wenn er pfeifend durch die Luft saust (Widsith 128 hivinende fleag giellende gar) — und auch vom klingenden Schall der Rüstungen, wenn sie von den Waffen getroffen werden.
Wenn in der Kampf-Vorhersage von Finnsburg das Singen der Schlachtvögel, das schrille Heulen des grauen Wolfes mit dem pfeifenden Girren des Speeres (6b gud-wudu hlynned), der das resonierende Hallen des Schildes hervorruft, zusammenklingt25, so tönt gellend umgekehrt auch die Rüstung im Kampf selbständig neben dem singenden Schwirren der Kampfhölzer: Andreas 127 guösearo gullon garas hrjsedon. Auch hier sind wiederum die Verben für ,Tönen' austauschbar. Wir vergleichen Beowulf 226 syrcan hrjsedon ,die Rüstungen klirrten' (als die Krieger ans Land stiegen)26. Gylled graghama: ,der Graumantel wird singend heulen' — das Bahuvrihi in Finnsburg bezieht sich zweifellos auf den Wolf der Feldschlacht, dem auch Lucan (s. o.) ebenfalls den Graupelz als charakteristisches Merkmal mitgibt. Daß man sich in Finnsburg auf den Hallenkampf vorbereitet, darf nicht stören, denn die Schlachttiere zeigen ja nur die herannahende Gefahr an, sie sind — wie bei Cynewulf — zum emblemartigen Signal verblaßt. (Das Bahuvrihi ist in seiner Bildung vergleichbar mit Beow. 1895 scacan scirhame ,die [Krieger] mit den glänzenden Rüstungen kämpften'). In der
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Wir zitieren nach den Ausgaben der einzelnen Stücke in ASPR. Im Nibelungenlied ,klengt' Volkers Schwertbogen — das instrumentale Bild erweiternd — die Helme, Schilde, Panzer der Gegner, wie wenn er auf den Schutzwaffen der Feinde fiedelte. Volkers Schwert ,singt' jedoch nicht — wie in der nordischen Version des nibelungischen Saalkampfes der Thidrekssaga, d. h. es .singt' nicht allein, prosopopöisch als selbständiges Wesen, ohne Klangkörper, wie es dies poetisch in der nordischen und ags. Dichtung bei Anlehnung vielleicht an die nunmehr zu Singvögeln gemauserten Schlachtvögel, tut. Zu dieser Situation vgl. unten.
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Schlachttier-Passage von Brunanburh wird der wulf on wealde vorausnehmend als 64 ¡>iet grcege deor bezeichnet (vgl. Ex. Gn. 149/151). ,Grau' wird sonst auch von den alterprobten Stahlwaffen ausgesagt. Mit gragan sivearde gürtet sich Abraham, als er sich zum Isaak-Opfer aufmacht (Genesis 2865); das altberühmte Schwert ist (Beowulf 2682) grag-mal, die Speere haben eine graue Metallspitze — (Beowulf 330 garas, ascholt ufan grag, vgl. Waldere II, 17 hare bjrnan) — und die bewährten Panzer sind 334 grcege sjrcan. Im Andreas übernimmt — der grotesk variierenden Tendenz dieser Dichtung gemäß — die ,graue Möwe' die Funktion der gierigen Leichenfresser: 371 se graga maw ivalgifre. Doch in Finnsburg heult der einzige Wolf, der graue, allein als Vorbote der Schlacht — seine Stimme klingt mißtönig, zusammen mit dem Singen der pluralischen Schlachtvögel.
6. In dem Memorialgedicht von der Schlacht bei Maldon (a. 991) singt der Panzer, als er, seines Schutzes beraubt, den Schlägen wehrlos ausgesetzt ist, ein Schreckenslied: 284 Barst bordes leerig and seo bjrne sang grjreleoda sunt — 27
,The corner (?) of the shield broke and the corselet sang a terrible song'. Das ,Schreckenslied' der Rüstung ist ihr Todesgeheul: sie singt es in dem Augenblick, wo sie vom Schwert gespalten wird. Der Harnisch gibt der Klinge mit dem Entsetzensschrei des zu Tode Getroffenen Antwort: hier wird die Reaktion des Resonanzkörpers personifiziert, die Handlung des Schwertes ist vorausgesetzt. Das Wort grjreleod ist nur noch einmal belegt, und zwar auch im Beowulf. Es bezeichnet da nicht das Schreckensgebrüll der vernichteten Schutzwaffe, sondern das grausige Schreien des Monsters Grendel, als ihm beim Kampf mit dem geatischen Helden der Arm herausgerissen wird. Sein fürchterliches Heulen, sein grjreleod, wird variiert durch (787) sige-leasne sang ,Lied des Verlierers' und durch wop ,Geheul'.
7. Umgekehrt scheint, wie wir schon zeigten, ein Zusammenhang zu walten zwischen der blutgierigen Angriffswaffe und ihrer Stimme beim Kampf. In der südgermanischen Heldendichtung ,klingen' die Schwerter im Gefecht 28 , im Norden .singen' sie autonom. Die Stimme einer Waffe wird in der deutschen Dichtung, soviel ich sehe, nur einmal verbatim genannt. In der Virginal heißt es: 27
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Zitiert nach der Ausgabe von Chiara Staiti, La Battaglia di Maldon. Testo — Commento — Glossario. Messina [EDAS] 1990. — Vgl. zu dem Prädikat Memorialgedicht: Verf., Servire il signore morto. Funzione e trasformazione di riti funebri germanici nell'epica medievale inglese e tedesca. Università di Catania. Collana di Studi di Filologia Moderna 5. Rubbettino Editore 1990. Wie oben Anm. 6, passim.
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727 Heime der wart ^ornes vol: man sach in striten also wol nach ritterlichen eren. uf den risen da% er sluoc, lüt^el der rise da\ vertruoc ir %orn begunde meren si triben einander her unt dar mit %orne und ouch mit grimme, si namen der helme guote war, da von des swertes stimme. Heime mit ellenthafter hant sluoc den risen balde tot: er viel do für in uf da% lant.29 J. Grimm macht in seiner hübschen, fast unbekannten Miszelle ,Über das Singen der Schwerter und Pfeifen der Pfanne' 30 auf solche Phänomene in der klassischen Dichtung aufmerksam. Für uns interessant ist u. a. Odyssee XXI, ,und er griff mit der Hand und prüfte die Sehne (411) und die klang hell auf — der Stimme der Schwalbe vergleichbar': 5e£iTeprj 6' apa x£lP>l Aaßcöv TreipricraTo veOp-ns. f) 8' um) xaAöv aeicrE, x^'Sövi e i k e A ^ au8r|v. Ein Vergleich, keine Personifizierung der Waffe. Ähnliches finden wir im deutschen Mittelalter nur bei Wolfram, den das Schwirren der Bogensehnen an das Schnattern der Störche erinnert: Willehalm 375,8 von in wart manec siebter v^ein durh den schu% un% an den phil ge^ogn: da begunden snateren die bogn so die storche im neste.31 8. Im Norden dagegen erhebt das Schwert bei seiner Prosopopöie die Stimme wie ein Schlachtentier oder ein Monster — ohne daß dieser Vergleich ausgesprochen würde. Abraham zieht gehorsam sein Schwert, um seinen Sohn zu schlachten, da brüllt das alte Erbstück: Exodus 407b 29 30
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Jedoch ist die Stelle vielleicht verderbt. In: Philologus 1848, Bd. I, S. 3 4 0 - 3 4 3 , wieder abgedruckt in: Kleinere Schriften V, Berlin 1871, S. 3 6 2 - 3 6 5 . Wolfram (von Eschenbach): Willehalm. Text d. 6. Ausg. v. Karl Lachmann. Übers, m. Anm. v. Dieter Kartschoke, Berlin 1989 2 . — Die Gegenüberstellung der beiden Vergleiche in der nützlichen Arbeit von Friedrich Bode, Die Kampfesschilderungen in den mittelhochdeutschen Epen, Diss. Greifswald 1909, S. 285.
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Schwerter
und lateinische
Schlachtvögel
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folccuö geteag ealde laje ecg grymetode. Es singt grausam, blutgierig bei der Kampfhandlung (die dann ihr Echo im Schmerzgeheul des Opfers — des lebendigen oder des belebten — finden kann). So schwingt Beowulf sein Schwert Hrunting sausend um das Haupt der Grendel-Mutter: 1519
mcegen-ras forgeaf hilde-bille hond sweng ne ofteah, pcet bire on hafelan bring-meel agol gradig gud-leod. ,Er holte mit dem Kampfschwert gewaltig aus — seine Hand bremste den Schwung nicht, so daß (dem Monster) die ringgeschmückte Klinge über dem Haupt ein gieriges Kampflied anstimmte.'
Die besondere Bedeutung des ,Singens' der Waffe um das Haupt haben wir vorhin bei der Strophe des Kormäkr Ögmundarson (Anm. 22) angedeutet. Das ist gleichzeitig der älteste poetische Beleg für die Prosopopöie des Schwertes in der an. Dichtung, wenn diese Lausavisa wirklich ins 10. Jh. gehört. Das ,Singen des Schwertes' 32 ist in der Edda nur einmal belegt — und dort ebenfalls in diesem besonderen Kontext. Es handelt sich um eine Strophe der heterogenen Helgakviöa Hundingsbana önnur (Lied von Helgi dem Hundingstöter, II), die frühestens dem 12. Jh. angehört: 32 (b 33) Bitia per pat suerp er pu bregpir nema siälfom per sjngui um bqfpi^ J. Grimm, der diese Strophe auch anführt, übersetzt die „Verwünschung" so: ,das schwert, das du zückst, beisse nicht, es sei denn dasz es dir selbst um dein haupt singe' 34 , was besagt, daß das eigene Schwert den Träger töten und daß er selbst damit hingerichtet werden möge 35 . 32
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Belege bei Johan Fritzner, Ordbog over det gamle norske Sprog, III, 1896, s. v. syngja; Sveinbjcern Egilsson — Finnur Jonsson, Lexicon poeticum, Kopenhagen 1931 2 (Nachdruck 1966), S. 556, s. v. syngva. F. Detter-Richard Heinzel, Sxmundar Edda. I. Text. Leipzig 1903, S. 92. Der Kommentar, II, S. 378 bringt Parallelen. Wie oben Anm. 30, S. 363. Im Kommentar von Detter —Heinzel wird dazu der Münchener Ausfahrtssegen zitiert, MSD, XLVII,3: min swert eine wil ich von dem segen scheiden: da^ snide und bi^e alleda^ ih es hei^e, von minen banden und von niemens anden. Vgl. den Tyrving der Hervararsaga, c. II, S. 205. — Dazu das Märchenmotiv des ,bedingten Lebens': der Held kann nur mit dem
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Wir haben hier einen Sonderfall herausgelöst. Die Prosopopöie des Schwertes durch die Handlungsmetapher des ,Singens', wenn man diese als solche auffassen will, wird im Altnordischen nicht so häufig ausgedrückt wie durch (das noch metaphorisch aufgefaßte) klingen und diesen in der mhd. Heldendichtung 36 . In der an. Prosa steht singja als Tätigkeit des Schwertes einzig in der Thidrekssaga und gibt dort, wie wir anderswo 37 ausgeführt haben, teilweise das ,Schwertfiedeln' Volkers poetisch wieder. In der ,Ketils saga haengs' des 14. Jh.s, wo der Riese Surtr mit einer Axt getötet wird, lesen wir noch: Hün söng hätt viö, er hün sneid af honum höfudit, ,sie sang dabei hoch, als sie ihm das Haupt abschnitt' 38 , was uns an die oben zitierte Stelle aus der Njals-Saga und an den Tod der Grendel-Mutter erinnert. In der Eyrbyggia saga (um 1350) ,singen' die Pfeile, knqttu [...] ä minom skjdldi [...] singua39. In der Skaldendichtung hat diese sonst seltene Metonymie für die Tätigkeit des Schwertes einen großen Erfolg wegen der Möglichkeit ihrer Ausweitung auf die verschiedensten Bereiche des ,Singens'. Bei Tindr Hallkelsson (um 987) ,singen die Schwerter beim Kampf-Thing schmerzvoll', song at sveröa pingi sarlam\ in der Porfinnsdräpa des „Jarl-Skalden" Arnorr Pöröarson (nach 1064) heißt es ähnlich: 9 Ulfs tuggu rauÖ eggiar eitt pars Torfnes heitir ungr olli pvi pengill (pat var manadag) frdnar sungupar tilpinga punn f y r Ekkjal sunnan sverd es siklingr barÖisk snarr viö skotlands harra. eigenen Schwert getötet werden, was nach Friedrich Panzer, Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt. Stuttgart 1955, S. 350 f. auf Siegfried ursprünglich zutrifft, ein Zug, der sich in dem dänischen Lied v o n Sivard og Brynhild archaisierend findet (Str. 12 — 23), DgF 3; jetzt bei O. Holzapfel (Hrsg.), Die dänischen Nibelungenballaden. Texte und Kommentare. G A G 122. Göppingen 1974, S. 70 ff. 36
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Vgl. die vielen Belege bei Bode (wie Anm. 31) und meine Bemerkungen in: Tötende Töne (wie Anm. 6). ibd. Die Stelle wird ebenfalls von J. Grimm (oben Anm. 30) zitiert. Gleichzeitig macht mich auf sie Heinrich Beck aufmerksam, der auf die Ausgabe von Guöni Jonsson hinweist: Fornaldarsögur Nordrlanda, Reikjavik 1955, S. 156. E. Ö. Svensson og M. I>6öarson (Hrsg.), Islenzk Fornrit 4 B, Reykjavik 1935, 43 (Kap. 19, Str. 9). Drape om Hakon jarl, 2. F. Jönsson, Skjaldedigtning B I, S. 136.
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,Auf Geheiß des jungen Fürsten röteten sich die scharfen Klingen in den Körpern — bei Torfnaes war das, an einem Montag —, da sangen die schlanken Schwerter, wo der beim Kampf-Thing schnelle Fürst südlich von Ekkjal mit dem König von Schottland kämpfte.' 41 Sonst ist es in diesem poetischen Bereich gebräuchlich, das Zusammenklingen der Waffen als ,Stimme, Sprache, Gesang, Lied', usw. 42 zu verrätsein. Meissner gibt (81, n, ß) ein Beispiel für sverds sqngr (in den Lausavisur des Hästeinn Hrömundarson halta [um 955], die früheste Stelle) 43 — und fünf Beispiele für sverda sqngr44. Die Kenning wird weiter verzweigt: der Gesang der Schwerter erscheint spezifisch als galdr ,Zauberlied' 45 und sogar verchristlicht als Messesang, als Psalmodieren in geistlichen Tonalitäten 46 . 9. Von den zuvor herangezogenen ags. Dichtungen haben Beowulf, Finnsburg und Maldon skandinavische Relationen. Das ,Singen' der Waffen und des ,Kampfliedes des Entsetzens' der preisgegebenen Brünne weisen möglicherweise auf die nordische Dichtersprache, bei offenbar verschiedenen Rezeptionsschichten. Die skaldische Poesie vermag in ihre Schwertprosopopöie auch christliche Elemente einzubauen, um — wie in anderen Fällen — die Metaphorik auf diese (für unsere Ohren geschmacklose) Weise zu bereichern. Auf altenglischem Gebiet bleibt die epische Schlachtenmetonymie gewollt archaisch; sie wird zumindest nicht mit schmük41
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F. Jónsson, Skjaldedigtning B I, S. 317. Vgl. zur Orientierung: Simek-Pälsson, s.v. Arnórr Pöröarson jarlaskald und Porfinnsdräpa: es handelt sich um ein Preislied auf den Orkadenjarl Porfinnr Siguröarson (f 1064). Vgl. unten Anm. 55. Meissner, Die Kenningar der Skalden, S. 196. F. Jónsson, Sk. B I, S. 92,6: Hardr vas gnjr, pàs geròum grjótvarps lotu snarpa, gengu sverds at sqngvi sundr gräkladi Pundar; àdr à hai til hvtldar (hlutu peir bana fleiri), hjaldrs kom hriò a skjqldu, hakings viòir aki. — F. Jónsson, Sk. B I, S. 120,19: Enn reib qdru sinni jarl bordmqrum noròan; sqngheròir lét sverda, sótt Ragnfredi at mòti. — F. Jónsson, Sk. B I, S. 210,2: Póttut mir, es pàttak, Porkels lidar dvelja (squsk eigi peir sverda jsqng) i folk at ganga, dòr an hjqrs à heidi hrid vikingar kniiu, vèr hlutum vdpna skürir, (varò f j l k t lidi) haräa. — F. Jónsson, Sk. B I, S. 380,7: QU bidr Egda stillir eggdjarfra lid seggja sund f y r stnu landi söknqrr stika dqrrum; jqrd mun eigi verda audsótt Fila dróttins sqngherdqndum sverda. Sik ba^tan gram miklu. Diese Beispiele auch bei B. Sijmons (Hrsg.), Hugo Gering, Kommentar zu den Liedern der Edda, Zweite Hälfte: Heldenlieder. Halle 1931, S. 357, zu Akv. 35,4. Meissner, 81,N,5 (vgl. y , E, Q. ibd. hjqrsalma, Hättalykill (um 1145), F. Jónsson, Sk. B I, 493,13a; odda messu, Krakumäl (12. Jh.), F. Jónsson, Sk. B I, 651,11: Hjoggum vèr med hjqrvi. Hundrudum fräk liggja à Eynafs qndrum, pars Englanes heitir; sigldum vèr til snerru sex dagr, ddr lid felli; qttum odda messu vid uppruna solar; vard f y r vqrum sverdum Valpjófr t styr hniga.
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kenden Elementen aus dem christlichen Kultbereich durchsetzt. Anders ist die Haltung der Spätkonvertierten in Skandinavien. Wir nennen im Zusammenhang nur noch eine eigenartige Parallele, die auf frühere Schichten weist — ohne daß wir damit in den Sog einer diachronischen Beurteilung geraten wollen. Das Schwert ist durch sein ,Singen' nicht nur beim Kampfgebaren personifiziert. Es singt sowohl in der eddischen Atlakviöa als auch im Beowulf, wenn es beim Reiten oder Marschieren wie ein Klöppel an die Rüstung des Kriegers stößt, sie erklingen läßt — und dabei selbst ertönt: 32ih
Gud-byrne scan heard hond-locen hring-iren scir song in searwum, pa hie to sele jurdum in hjra gryre-geatwum gangan cwomon ,Die Rüstung glänzte, die harte, die handgeknüpfte. Das ringgeschmückte eiserne Schwert sang, als es (beim Marschieren) auf die Panzer der Männer (rhythmisch auf-)schlug, da sie zur Halle zogen, in ihren Kampfgewändern dorthin schritten.' 47
Bei einer ganz ähnlichen Situation außerhalb des Kampfes wird in Edda das Wort väpnsqngr (Hapax legomenon) gebraucht, wo nämlich Hunnenkönig nach Gunnars Mord mit seinen Mannen heimreitet. schlagen beim Absteigen im Hof die Schwerter der Krieger an die stungen (wohl an die Beinschienen) — und von diesem Klingen Waffen heißt es:
der der Da Rüder
33,5 Djnr var i gardi drqslom of prungit väpnsqngr virba voro af heidi komnir ,There was clattering in the courtyard, crowding of horses, the song of men's weapons — they were back from the moor' 48 47
48
Die Interpretation des Hapaxlegomenon hring-iren ist umstritten: ,Ringeisen' wird sowohl mit ,Ringbrünne' als auch mit ,ringgeschmücktes Schwert' wiedergegeben, so bei Falk, An. Waffenkunde, S. 176 (und dagegen S. 27). Hoops interpretiert hring-iren als Variation zu guöbjrne und meint: „auch der Ausdruck song in searwum ,sang in der Rüstung' beim Marschieren paßt nur auf den Ringpanzer, denn „das Schwert ,singt' nur, wenn es geschwungen wird" (mit Hinweis auf 1521 f.). G. Hübner möchte in seiner Rezension von Hoops' Kommentar (Literaturblatt für germ.-rom. Phil. 56, Sp. 241 — 243, hier Sp. 242) doch an der Bedeutung von hringiren ,ringgeschmücktes Schwert' festhalten; er denkt an die archäologisch bezeugten Ringe, die lose am Schwertknopf angebracht sind, so daß sie beim Marschieren ,singen', d. h. ,klirren' konnten. Zit. nach Ursula Dronke, The Poetic Edda. I. Heroic Poems. Oxford 1969, S. 11. Vgl. B. Sijmons (Hrsg.) — H. Gering, Kommentar zu den Liedern der Edda, III, 2. Halle 1931, S. 357: „von den Männern verursachtes Waffengeklirr".
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II. Das blutdürstige und hungrige Schwert 10. Die Belebung des Schwertes in der Skaldenpoesie wird durch verschiedene metaphorische Mittel verwirklicht: die Waffen .erwachen' beim Kampf aus der Ruhe (Meissner 81, w, ß) oder sie werden als einander ,feindselig' dargestellt (Meissner 81, w, 5 zitiert u. a. egg/a dolg F. Jonsson, Sk. B I, 133, 3). Der barocke Ausdruck ,Schüttelfrost des Schwertes' (Meissner 81, w, a, bauga bliks riöusött F. Jönsson, Sk. B II, 123, 27,4) erinnert an die konvulse Bewegung des Balmunc in Hagens Hand in der am Anfang zitierten NL-Stelle. Wenn die Schwerter dann als gefräßig oder blutdürstig erscheinen, so agieren sie dem Fleisch und Blut der Feinde gegenüber wie die Vögel und Wölfe der Schlacht. Wir erinnern an die oben (Anm. 22) angeführte Kenning, welche das Schwert den ,blutigen Schnabel des Raben' nennt, das Zustechen der Waffe also mit dem ,Bluttrinken' des Walstatt-Vogels gleichsetzt. In anderen Worten: wenn die Gefallenen als Fraß, ihr Blut als Trank der Schlachtentiere bezeichnet werden können — wie die vielen Beispiele bei Meissner (83,c) zeigen — so mag analog auch das Blut als Trank des Schwertes aufgefaßt werden. Der Rabe ist ein Bluttrinker, hrcesavar bergir, der ,Trinker der Leichenseen'. 49 So ist das Blut wiederum allgemein das ,Getränk des Raben', Hugins drekka50, oft auch der ,Wein des Raben' 51 , ja sogar, von hierher übertragen, der ,Wein des Wolfs' 52 . Analog zum ,Schwertgesang', der auf der Folie des Vogelsangs oder Wolfsgeheuls den Kampf als sonore Tätigkeit der Waffe, sie personifizierend, verbildlicht, mag also das ,Trinken' oder ,Fressen' des Schwertes im Norden ebenfalls in seiner Bildlichkeit durch das Analogon der WalstattTiere gestützt werden. Wir werden im folgenden sehen, wie sich diese Analogie poetisch verwirklicht hat. In Bezug auf Freßgier und Blutdurst sind in der Skaldensprache Wolf und Rabe austauschbar. Die Toten sind sowohl die ,Mahlzeit des Raben' 49
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Vgl. Meissner, S. 119, 41. Rabe, a, und S. 207. F. Jónsson, Sk. B I, 25,20: At berserkja reidu vilk spyrja, bergir hrasavar, hversu es fengit peims i folk vada vigdjqrfum verum? Vgl. Meissner 84,c: Blutkenningar, die durch die Tiere der Schlacht bestimmt werden, mit Hinweis auf F. Jönsson, Sk. B I, 302,2: Afreks veit, pats jqjri allrikr i styr slikum Gqndlar Njqrdr, sàs gerii, gekk nast, Hugins drekku. Von den vielen Belegen bei Meissner, S. 208, 84,c,v zitierten wir aus der Placidus-Drapa, nach F. Jónsson, Sk. B I, 619,49: Hyrgildir fekk hvilSar hrafnsvins lidi sinu, garpr baud Prós iporpipingveljqndum dveljask; setti of eins hversytis apaldrs garö brimis kapla, ... lyöar, lungs, umbhverfis stungit. F. Jónsson, Sk. B I, 610,14,4: Hvat hafim Sjqfn at sitja seims, malti pat, heima? elda njótr vid itra ulfvins konu sina; eigum oss at ItBgja, einn ... god beinir, (reyndr 's sàs striò ma stanndask stör) bünadi órum.
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(hrafns verär)53 als auch das Wolfs (ulfs verdr; vars verdr)54: Gefräßigkeit und Blutdurst sind gepaart. Wir verweisen nochmals auf den Anfang der oben zum Singen der Schwerter zitierten Strophe aus der Porfinnsdräpa des Arnörr I>6röarson nach der Übersetzung von W. Baetke: 12 Ulfs tuggu raud eggjar (...) ,Beiß'nde Schneid (des Schwertes) Wolfs Bissen (den todwunden Feind) Blutrot malt (rötete in Blut) ...' 5 S . tugga ,was man kaut' heißt der gefallene Krieger auch für den Raben: der Tote ist ,Munins tugga'56. Die Schwerter ,beißen' nämlich wie die scharfen Zähne des Wolfes: an. bita und ags. bitan wird in der Dichter spräche von schneidenden Waffen, aber auch sonst von scharfen Werkzeugen ausgesagt. Die semantische Entwicklung von idg. beidh- ,spalten, schneiden' bleibt auf ein breites Feld ausgedehnt; für das Zerfleischen mit den Zähnen oder Zerhacken mit Werkzeugen und Waffen kann das gleiche Verbum und das gleiche Nomen agentis (an. bit\ ags. bite) verwendet werden. Es ist nicht auszumachen, von wann an die Bedeutungsbeschränkung auf .beißen, Biß' im heutigen Sinne sich durchgesetzt hat, ab wann man den ,Biß', das ,Beißen' des Schwertes als Metonymie zu verstehen und als dichterische Metapher zu definieren hätte. Ähnliches gilt vom Adjektiv ,bitter' (an. bitr, ags. bitter, ahd. bitar usw.), das einen breiten Bedeutungsradius auch heute noch bewahrt hat 57 . Dies alles müssen wir im folgenden beachten. Wir möchten keineswegs das ganze Material auflisten. Es sollen nur einige markante und umstrittene Stellen besprochen werden. Und dabei richten wir unseren Blick wieder auf Parallelen in der lateinischen Schullektüre. Wir werden auch biblische Bilder heranziehen. Nicht alle Fälle der hauptsächlich im Norden entwikkelten und dort von dem enigmatischen Skaldenstil gepflegten Schwertprosopopöie verdanken ihre Existenz der odinistischen Mythologie. 53 54 55
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Meissner, S. 203, 84c, mit Hinweis auf F. Jönsson, Sk. B I, 316,1,2; 476,1,4; 136,4,2. Meissner, ibd., mit Hinweis auf F. Jönsson, Sk. B I, 124,2,2; 468,6,3. Die Geschichte von den Orkaden, Dänemark und der Jomsburg. Thüle 19. Jena 1924, S. 53. Der an. Text nach Siguröur Nordal (Hrsg.), Orkneyinga Saga. SUGNL 40. Kopenhagen 1913 — 16, S. 50. Dazu noch die Übersetzung von F. Guömundsson (Hg.), Orkneyinga Saga [...]. Islenzk Fornrit 34. Reykjavik 1965, S. 50, Anm. 12: „Fränar effjar rauö ulfs tuggu", ,mit Blut', vgl. Meissner, S. 203, und oben Anm. 41. Vgl. Meissner, S. 203, mit folgenden Nachweisen: F. Jönsson, Sk. B I, 102,31,4; 108,13,4; 303,4,6. Vgl. Verf., Eva reicht den Todesbecher. Atti Accademia Peloritana, Messina 1973/74, hier: S. 13 — 20; besonders zur mors amara Anm. 17, mit Hinweis auf H. Rahner, Die Symbole der Kirche, S. 277, Anm. 45. Vgl. unten Anm. 65.
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11. Wir werfen somit einen Blick auf ein besonderes Segment der nordischen Literatur, nämlich auf lateinische Wiedergaben germanischer Überlieferung. Wir betrachten zunächst die von Saxo Grammaticus (f 1216) latinisierten Bjarkamál, wo sich das Problem aus umgekehrter Sicht darbietet und daher unser Auge schärft 58 . Von einem Schwert, das auf dem Helm des Redners zersplittert, erzählt dieser, die Klinge sei ,mitten im Beißen' zerschellt: lile meo capiti impactum perfregit Hochingum elisum morsu gladium, maiora daturus vulnera, si melius ferri viguisset acumen**. Saxo weiß: die Waffen sind ,gefräßig'. Speere und Schwerter verzehren den Schild bis auf den kleinsten Bissen: Iam durae acies et spicula scutum frustatim secuere meum partesque minutim avulsas absumpsit edax per prcelia ferrum. , Schon haben in Stücke den trefflichen Schild mir Stählerne Schneiden und Speere geschnitten, in Teile gespalten, Alle sie, Splitter für Splitter, verzehrte gefräßig das Eisen.' 60 Es scheint hier die Prosopopöie der hungrig beißenden und fressenden Schneiden analog zu dem Verhalten der Waltiere begriffen zu werden — zitiert doch der altpatriotische Däne Saxo die ,Vögel der Schlacht' am Ende seiner Version dieses ,Hohen Liedes der Gefolgschaftstreue'. Adler und Rabe vollbringen die letzte Arbeit an den todessehnsüchtigen Helden: A.d caput exstincti moriar ducis obrutus, at tu eiusdem pedibus moriendo allabere pronus, ut videat, quisquís congesta cadavera lustrat, qualiter acceptum domino pensarimus aurum. Praeda erimus corvis aquilisque rapacibus esca, vesceturque vorax nostri dape corporis ales. Sic belli intrépidos proceses occumbere par est, illustrem socio complexos funere regem. Fall ich zu Häupten dem Führer, dem toten, dort will ich dann sterben, Du zu den Füßen des Toten laß, sinkend zum Tode dich gleiten. Wie wir dem Herrn das Gold, das zur Gabe er schenkte, vergalten 58
59 60
J. Olrik/H. Rxder (Hrsg.), Saxonis Gesta Danorum, Bd. I., Hauniae 1931, L. II, c. vii. — P. Herrmann, Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus. I. Ubersetzung. Leipzig 1901, § 59 ff., S. 76 ff. Olrik/Rasder, II, vii, § 19, S. 58, 3 4 - 3 6 ; Herrmann, S. 82, § 64, 23 - 25. Olrik/Rseder, II, vii, § 23, S. 6 0 , 2 - 5 ; Herrmann, S. 84, § 66, 3 2 - 3 4 .
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Wer dann die Haufen der Leichen durchmustert mit Blicken, der sehe, Raben dann sind wir ein Mahl, sind Beute der gierigen Adler, Suchen dann wird seine Speise an uns der gefräßige Vogel. So müssen fallen im Kampf ohn Zagen die edlen Genossen, ihrem erlauchten Gebieter und Herrn im Tode vereinigt. 61 Hier sind also die odinischen Vögel am Werk — doch erinnern wir uns, daß auch in Lucans Pharsalia die Leichenhaufen von Wölfen ,zum grausigen Mahl' (VII, 825 ff., s. o.) heimgesucht werden — und von gefiederten Scharen: ,jeder Wald entsandte seine Vögel, jeder Baum war von den Vögeln mit Blut besudelt und troff von rotem Naß'. Und mehr: Lucan kennt auch die Prosopopöie des durstigen und hungrigen, mordenden Schwertes: (VII, 317) quanto satiavit sanguine ferrum ,wie reichlich hat er da den Blutdurst seines Schwertes gestillt und seine Freßgier gesättigt!' — so Caesar von Pompeius in der rhetorischen Glanzrede an seine Truppen, in der er diese vor der Schlacht zur Kampflust aufstachelt. Dabei gilt es folgendes zu bedenken: wörtliche Ubernahmen Saxos aus Lucans Bürgerkrieg sind im Apparat in der Ausgabe von Olrik/Raeder oft vermerkt, jedoch nicht Saxos Nachgestaltung ganzer Szenen, wie etwa der Meeresschlacht 62 , oder scheußlicher Einzelheiten, wie etwa des Blutsees voll von Leichenteilen, ebenfalls in den Bjarkamäl 63 . Saxo bezieht aus der lateinischen Lektüre Vorstellungen und sprachliche Wendungen, aber seine Bjarkamäl geben ja gleichzeitig eine volkssprachig geformte Dichtung wieder. In unserem Rahmen ist da ein Fall besonders interessant. Wenn wir lesen, daß ein Schwert ,bittere' Wunden schlägt — armillas dextrae excipiant, quo fortius ictus collibrare queant et amarum figere vulnus ,Schlingt um die Rechte die Spangen, dann könnt ihr gewaltiger schwingen Lan^e und Schwert, könnt schlagen gewuchtiger bittere Wunden'64 — so erhebt sich der Verdacht, daß hier bitr .schmerzlich' zugrunde liegt: die Schwertwunde ist bitr, da sie von der Schneide stammt, welcher das ,Beißen', der ,Biß' zukommt — oder auch weil diese Wunde scharf brennt. In den germanischen Dialekten bezeichnet das Adjektiv ,bitter' sowohl die Messerschärfe als auch die stechende Schärfe ätzender Flüssigkeiten, von Gift und Galle, Dämpfen, Brand und 61 62
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Olrik/Ra^der, II, vii, §29, S. 60, 3 7 - 6 1 , 7; Herrmann, S. 85, 67, 2 8 - 3 5 . Seeschlacht: Olrik/Raeder, II, i, § 6, S. 38, 12 ff.; Herrmann, S. 50, § 40; Lucan, De Bello Civile, III, 635 ff. Olrik/Raeder, II, vii, § 15, S. 57; Herrmann, S. 81, 6 - 1 1 ; vgl. Lucan, De Bello Civile, III, 6 5 5 - 6 6 1 . Olrik/Raeder, II, vii, § 17, S. 58, 23 f.; Herrmann, S. 82, § 64,11 f.
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Kampfgemetzel — gleichzeitig jedoch auch im weiteren Sinn die Gemütsverfassung des Hasses und Zornes und im christlichen Bereich die geistlichen .Verletzungen zur Sünde' und Tod: das flevit amare des Petrus wird mit .bitterlich' wiedergegeben65. Hat Saxo also amarum deshalb zur Bezeichnung von vulnus gewählt, weil ihm bitr als Ubersetzungslehnwort für amarus aus der geistlichen Sphäre geläufig war?
12. Die Prosopopöie der ,durstigen und gefräßigen Waffen' ist auch biblisch. Jahwe spricht Deut. 32,42: Inebriabo sagittas meas sanguine, et gladius meus devorabit carnes — ,Ich werde meine Pfeile aussenden, so daß sie sich am Blut meiner Feinde betrinken, und mein Schwert wird das Fleisch meiner Feinde verschlingen.' Die Wurfgeschosse ,trinken' also nicht nur das Blut ihrer Opfer — sie ,betrinken' sich daran: nach dem Willen ihrer göttlichen Sendung verfahren sie ... wie unmäßige Gäsfe eines Banketts, die über ihren Durst trinken, die sich berauschen an der flüssigen Labung, gemäß dem sensus realis: am Lebenssaft der Feinde. Das singulare Schwert dagegen ist gefräßig — es wird die Opfer ganz und gar zermalmen und wie ein Fleischwolf verschlingen. Damit blicken wir wieder in den ags. Bereich hinüber. In den lateinisch abgefaßten, halb sagenhaften halb chronikalisch orientierten Vitae duorum Offarum 66 — d. h. der ,Vita' jenes sagenhaften Angeln, den wir aus dem Widsiö und dem Beowulf kennen, und der ,Vita' des Königs Offa von Mercien (757 —796)67 — wird einer der Könige folgendermaßen gepriesen: Deuorauit gladius tuus hostes nostros fulminans et cruentatus hostili sanguine magnifice inebriatus. Edith Rickert 68 , welche ein ags. Lied als Grundlage der Vitae aufgrund von Syntax und Wortwahl postulierte, rekonstruierte (ohne die eben zitierte Bibelstelle zu beachten) die volkssprachige Fassung dieser Zeilen wie folgt: Bat beado-leoma blodig [blod-fag ure] ladas secga swate swide bestjmed dreore druncen [dryhtlic irenJ69 65
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Vgl. zuletzt Teresa Fiocco, II significato della parola bitter nel Cristo ags., Helikon 28 (1990/91) [im Druck], Die Vitae sind ein Additamentum zu den Chronica majora des Matthäus von Paris, wahrscheinlich in St. Alban zwischen 1195 und 1214 verfaßt. Vgl. Luard, Matthei Parisiensus Chronica Majora, Rolls Series 1882, VI, vii —x. V, iv, 42 f. The Offa Saga, Modern Philology 2 (1904/5), hier: S. 28 f. Der Hinweis auf ähnliche Formulierungen im gleichen Text. ibd. S. 39.
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,Es biß die blutige Kampfklinge die [unsere] Feinde, [das herrliche Eisen ward] sehr durch das Blut der Männer benetzt, vom Blute trunken'. Folgende Belege von Einzelphrasen bilden das Gerüst, welches diesen Wiederherstellungsversuch stützte: deuorauit gladius: billes bite10 deuorauit gladius fulminans: se beado-leoma bitan noldelx gladius fulminans: swyrd-leoma (Finnsb. 35) cruentatus: blodig; blod-fag gladius sanguine inebriatus: dreore druncen (Andreas 1002) Bitan und bite des ags. *Urtextes können, wie wir sagten, nur bedingt die Grundlage der lateinischen Personifizierung des Schwertes durch die tierisch-gefräßige Handlung des ,Verschlingens' (devorare) decken, wären aber denkbar als Ausgangsbasis der lateinischen Wiedergabe. Schwierigkeiten stellen sich jedoch ein, wo es gilt, eine Parallele in der volkssprachigen Dichtung zu dem gladius inebriatus der lateinischen .Ubersetzung' zu finden. E. Rickert konnte dabei nur auf die Andreas-Stelle hinweisen. 13. Unsere weiterführende Kritik setzt bei dieser Stelle ein, die wir im Kontext betrachten wollen. 72 Der Apostel Andreas geht durch die Stadt der Menschenfresser zum Gefängnis; die Wächter fallen tot um (944b Ealle swylt fornam...). Im Kerker selbst trifft die Macht Gottes sofort auf die Schergen: der Dichter beschreibt dies so, als ob heidnische Feinde in der Feldschlacht erschlagen worden wären: 1001
Hadene swafon Dreore druncne deaÖwang rudon ,Die Heiden starben — vom Blut betrunken röteten sie die Walstatt.'
Hier ist aber nicht das Schwert,betrunken' vom Blut, sondern die gleichsam vom Schwert des göttlichen Zornes Getroffenen sind besoffen von ihrer e i g e n e n Lebensflüssigkeit, die aus ihren Adern strömt, so daß ihr Sterbeplatz zur Blutlache wird, in der sie ertrinken. 73 70
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Dazu Beowulf 1122 lad-bite ,Wunde'; 2060 after billes bite; 2258b sio at bilde gebad (...) bite irena. Beowulf 1453 b pat bine syipan no brond ne beado-mecas bitan ne meahton; 1523 pat se beadoleoma bitan nolde, aldre scepian\ 2377 b pat sio ecg gewac, brun on bane, bat unswiÒor. Bei Rickert Anm. 8. — Man vergleiche dazu und zum folgenden die in ,Blut trinken und im Bier ertrinken' (wie oben Anm. 8) gesammelten Eindrücke. Zur Genese solcher Vorstellungen vgl. Verf., Blut trinken ... (wie Anm. 8).
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In der lateinischen Andreaslegende74 sowie in der ags. Prosa75 fehlt dieses Bild: Der Apostel geht unsichtbar zum Kerker — die heidnischen Wächter an der Tür fallen nach seinem Wunsch (von Gott geschlagen!) tot um: Se haliga Andreas pa gebad on his heortan, and rade hio waron deade.
Im Andreas sind also die T o t e n selbst dreore druncne ,betrunken von (ihrem) Blut', mit dem sie das .Schlachtfeld' röten. (Wir denken dabei an die an. Kampfkenning vangrqd ,cruentatio campt, u. ä. 76 ). Weder hat sich das personifizierte Schwert an dem Blut seiner Opfer übertrunken — wie in Deut. 32 — noch der odinische Vogel, der im Norden als Bluttrinker die Rolle des Schwertes post festum spielt: dieser betrinkt sich jedoch nie ausdrücklich an dem ,Wein des Raben'. Doch wissen wir ja, auf welch barocke Weise der Dichter des Andreas bekannte Formeln der Heldendichtung variiert und sie allusiv verrätselt 77 . Zu dreore druncne bietet der Beowulf in der Tat auch in diesem Falle das Vorbild, und zwar doppelt: a) als klanglich verwandte Formel und b) als Sinntypus. a) Beowulf (480) beore druncne sind die Krieger beim beot, wenn sie beim Gelage künftige Heldentaten — in diesem Fall den Kampf mit Grendel — geloben. Ähnlich wird die Phrase in Juliana gebraucht, wo der Teufel in analoger Situation die Männer zur Rache aufstachelt: 484 Sume ic larum geteah, to geflite fremede, pat hy fceringa ealde afponcan edniwedan, (486) beore druncne — ,Einige überredete ich und brachte sie zum Kampf, weil sie plötzlich sich an alte Beleidigungen erinnert hatten — von Bier betrunken ... 7 8 Die Hallen-Formel beore druncne wird also im Andreas zu dreore druncne ,trunken von Blut', jedoch nicht auf die lebendigen Krieger beim Kampf bezogen, sondern auf die toten Feinde der Feldschlacht, die ihr eigenes Blut sozusagen im Überfluß getrunken haben und beim Fallen weitertrinken 79 . 74
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78 79
F. Blatt, Die lateinischen Bearbeitungen der Acta Andreae et Matthiae apud Anthropophagos, Gießen 1930. Bright's Ags. Reader, revised and enlarged by J. T. Hulbert, NY 1961, S. 120. Meissner, 81,w,£. Vgl. dazu die vielen Beispiele bei Th. M. Andersson, Blood on the Battlefield, Neophilologus 56 (1972), S. 12 u. 17. Wir verweisen nur auf die Ausarbeitung des Beowulfischen ealuscerwen zu dem meoduscerwen, dem biter beorpegu der salzigen Meeresflut, des tödlichen Festgetränkes, in Andreas 1523 — 1535, wozu zuletzt Verf., Weinverschütten und Minnetrinken. Verwendung und Umwandlung metaphorischer Hallentopik im Nibelungenlied. Pöchlarner Heldenliedgespräch ( = Philologica Germanica 12), Wien 1990, S. 59 — 101, hier bes. 68-71. Auf diese Parallele hat schon P. J. Cosijn, Anglosaxonica, PBB 21 (1896), 13 hingewiesen. Über diesen Aspekt und lucanische Parallelen (Bellum civile, VII, 617 ff.) vgl. Verf, Blut trinken ... [oben Anm. 8].
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b) Der Tod durch .Trinken von Blut' findet sich in der vielbesprochenen Beowulfstelle 2358 hierodryncum
swealt
bille gebeaten*0
Wir nehmen voraus, daß auch von hier kaum ein direkter Bezug zu den Vitae Offarum, dem gladius hostili sanguine inebriatus, herzustellen ist. Die ,betrunkenen' Schwerter der Vitae sind biblischer Herkunft, daran ist nicht zu rütteln. Ob das ,Sterben durch Bluttrinken'/,Schwerttrünke' anderswo gleichfalls als Bibelzitat gelten darf oder gar von der Schullektüre des Bellum civile angeregt wurde, ist eine besondere Frage 81 . 14. Wir kehren damit in unseren engeren Rahmen zurück und befragen Beowulf 2358: ist von einem .blutdürstigen' Schwert die Rede? Haben wir hier eine Prosopopöie des Schwertes — wie in Deut. 32? Wir müssen die Stelle gleichfalls in breiterem Kontext vorstellen: 2356 sjddan Geata cyning guöe rcesum freawine folca Freslondom on 2358 Hredles eafora heorodryncum swealt bille gebeaten ,damals als man Hygelac erschlug, als der König der Geaten im Kampfgewühl zu Friesland, der gnädige Fürst seiner Scharen, der Sohn Hrethels, durch Schwert-(?)Trünke starb, vom Schwert niedergehauen' Was heißt also, was bedeutet heorodryncum swealt vom Tod in der Schlacht, einem Tod, der im folgenden Halbvers weiter definiert wird als ,durch Schwerthieb' vollbracht? Das als got. hairus und an. hjqrr ,Schwert' ( < um. *heruR) selbständig gebrauchte, als as. heru- und ags. heoru-, hioru- überwiegend in Zss. belegte Wort (Grein zitiert das Simplex heoru in Beowulf 1285 und Maxims I, 200) unsicherer Etymologie 82 ist ein poetischer Ausdruck. In der ags. Dichtersprache ist heoru- (wie im As. 83 und im Gegensatz zum Gebrauch in der an. Poesie) bereits so verblaßt, daß es meist allgemein für ,Kampf ( = Schwertkampf) steht. Während Andreas 80 81 82 83
Die Stelle wird bei Rickert (wie Anm. 68) ebenfalls zitiert. Wie Anm. 79. Vielleicht zu ai. saru m. f. .Geschoß, Speer, Pfeil'. heru- verleiht dem Grundwort die Dimension des Entsetzlichen, Verderblichen, wie in Hei. 5167 heru-sei .Todesstrick' (an dem sich Judas erhängt); 5705 heru-thrum .verderbende Gewalt der Waffe'; 4658 heru-grim .feindlich wie im Krieg'; heru-bendi 4917, 5224, 5488 .Fesseln'.
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942 heoru-dolg ,Schwertwunde', Beowulf 9 heoru-dreor ,Blut aus einer vom Schwert verursachten Wunde' spezifisch gemeint sein kann, so heißt heorudreorig sowohl ,schwertwund' als auch einfach ,im Kampf verwundet' (Beowulf 935; 1780; 2720; Andreas 998; 1085; Elena 1215; vgl. Heliand 4878). In allen übrigen ags. Belegen bedeutet heoru- einfach ,Krieg', ,Schlacht' (z.B. in heoru-cumbol,signum bellicum' Elena 107) oder feindlich', ,tödlich' (z. B. heoru-faÖm .tödliche Umarmung', wie wœl-fœdm), wenn kein direkter Bezug zum Schwert besteht, wie etwa bei heoru-sweng (Beowulf 1590; vgl. sweordes sivengum Beowulf 2386; zu Andreas 952 heardum heoru-swengum vgl. unten). Interessant für unseren Zusammenhang sind besonders zwei mit heoruzusammengesetzte Ausdrücke. Grendel heißt Beowulf 1267 heoru-wearh hetelic (was Grein mit ,lupus sanguinarius' wiedergibt). Die berserkerartigen Krieger erscheinen die Exod. 181 als hare heorawulfas-, von ihnen heißt es: bilde gretton, purstige pracwiges ,die grauen Schwertwölfe lechzten nach Kampf, sie dürsteten nach wildem Gefecht' 84 . Hier stellt sich also die Frage: handelt es sich bei Beowulf 2358 heorodryncum swealt, bille gebeaten um eine Variation ,er starb von Schwerttrünken, vom Schwert erschlagen' — oder um eine Spezifizierung ,er starb an Kampftrünken, vom Schwert erschlagen'? Doch kann man die beiden Phrasen nicht streng von einander in ihrer Bedeutung trennen. Wenn ,Kampftrünke' durch das Schwert vollbracht werden, so ist die Bedeutung von heoro-drjnc eo ipso ,Schwerttrunk'. Man hat zum Verständnis immer wieder hingewiesen auf die an. BlutKenning hjqr-lçgr85. Diese Kenning ist ein Hapaxlegomenon der Fafnismâl (14,3). Der Kontext: Sigurör will von dem sterbenden Fafnir wissen, wie der Holm heißt, wo Surtr und die Asen einst ihr Blut 86 mischen werden: hué sa hôlmr heitir, er blanda hjqrlegi Surtr ok cesir saman. Der Ausdruck hjqrIqgr87 ,Schwertwasser' = ,Blut' ist eine der zahlreichen Blut-Kenningar,
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Tolkien bemerkt in seinem Kommentar (ed. Joan Turville-Petre, Oxford CP 1981): „to appreciate this concise and forceful expression, we should recognize that har was associated both with armour (especially the byrne); and that wolves were associated with warriors, especially with attacking or pursuing enemies." Lucas vergleicht in seinem Kommentar die wikingischen walwuljas, Maldon 96. Vgl. Wanderer 82 hara wulf und Brunanburh 64 grage deor: dazu auch oben Anm. 9. Bosworth-Toller, s. v. Vgl. H. Marquardt, Die ae. Kenningar. Ein Beitrag zur Stilkunde der altgermanischen Dichtung. Schriften der Königsberger gel. Ges. Geisteswiss. Kl. 14 (1937/38), H. 3, s.v. Simrock übersetzt .Herzblut'. Weitere Zss. mit hjqrr als Bestimmungswort: hjqdr-stefna .Schwertbegegnung' HH I, 13,1; hjqdr-ping .Schwertversammlung' (drei eddische Belege); hjqdr-leikr .Schwertspiel,
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die als Grundwort eine (trinkbare) Flüssigkeit besitzen. Meissner unterscheidet (§ 84, S. 204 ff.) drei Gruppen: a) das Grundwort ist irgendeine Flüssigkeit (Welle, Brandung, Tümpel, Flut, Brunnen) und wird durch ,Waffen' oder ,Kampf bestimmt, wie etwa bei fella hrqnn ,Brunnen der Schwerter' oder bei hjqrflöd ,Schwertflut'; b) das Bestimmungswort ist die Wunde oder der verwundete Körperteil, z. B. dynbrunnr tauschender Bronn' oder unda mjodr ,Wundenmet'; c) „Kenningar, die durch die Tiere der Schlacht bestimmt werden", wobei „als charakteristische Grundwörter diejenigen hervortreten", in denen „das Blut eine zum Trinken bestimmte Flüssigkeit" vertritt, z.B. Hugins drekka ,das Getränk des R a b e n ' ; y l g j a r brunnr ,Wolfsbrunnen', usw. Diese dritte Gruppe haben wir oben bereits in Betracht gezogen. Das Beowulflsche heorodrjnc ,Schwerttrunk/Kampftrunk', das weiter mit dem ,Tod durch das Schwert' konnotiert ist, paßt weder ganz zur Kategorie a noch zur Kategorie c. Mit der Gruppe a hat heoro-drync die Bestimmung .Waffe/Kampf* gemeinsam, doch ist bei diesen Kenningar das Grundwort,Flüssigkeit' durch die den Bestimmungswörtern inhärente Handlung e r z e u g t , aber nicht vertilgt: Waffe + Flüssigkeit = Flüssigkeit durch Waffe (erzeugt) = Blut (vergossen) Vergleichen wir nochmals heoro-drync.
Hier haben wir die Struktur:
Waffe + Flüssigkeit als Trunk = Waffe erzeugt Trunk — Blut (getrunken) Die Sinngebung ,Waffe bringt den Bluttrunk hervor' wäre dann für die Struktur der Gruppe a annehmbar, wenn die Waffe selbst der Trinker des von ihr erzeugten Blutes wäre. Dieser Sinn ergibt sich in dem Fall, wo das Schwert (wie in Gruppe c) als Tier der Walstatt personifiziert gedacht wird. Es hätte dann die doppelte Fähigkeit, (a) den (Blut-)Trank, die Blut-Trünke, zu erzeugen, indem es sein Opfer tötet, gleichzeitig aber wie Rabe und Wolf (c) das Blut des Opfers in gierigen Zügen sich einverleibt. Nochmals: heoro-drync ist keine Kenning, bedeutet nicht einfach ,Blut'. Die Zusammensetzung ist ohne die Vorstellung des .lebendigen Schwertes' sinnlos 88 .
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Kampf Rm. 23; hjqr-drótt, Gör. II, 15 ,das mit dem Schwert bewaffnete Kriegsvolk'; hjqr-mdapr ,vom Schwert verwundet', nach H. Gering, Vollst. Wb. z. d. Liedern der Edda, Halle 1903, Sp. 445 f.; J. Fritzner, Ordbog over det gamie norske Spreragelt\weregeldum, willa, miliare, %elga, paumarium'i
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Urkundentextes, in welchem diejenigen einheimischen Begriffe, welche nicht lateinisch umschrieben werden konnten, in der Volkssprache festgehalten werden 80 . Einen wertvollen Beitrag in derselben Richtung erbrachten auch Heinrich Tiefenbachs Studien zu Wörtern volkssprachiger Herkunft in karolingischen Königsurkunden 81 , die zwar die Beschränkung auf eine Landschaft wieder aufgaben, aber infolge ihrer Konzentration auf einen engen Quellenbereich ebenfalls erschöpfend vorgehen konnten. Sie stießen in den 185 bearbeiteten, zum kleineren Teil gefälschten Diplomen auf insgesamt 39 volkssprachige, vielfach aus älteren Vorlagen übernommene Ausdrücke 82 . Das häufigst belegte Wort war dabei fredum, fredus mit insgesamt 30 Belegen 83 . Grundsätzlicher griff demgegenüber dann Rudolf Schützeichel selbst wieder aus, indem er sich das Ziel setzte, den volkssprachigen Wortschatz der kontinentalgermanischen Leges geschlossen und vollständig vorzustellen, was angesichts der teilweise beachtlichen Überlieferungsdichte rasch zu größeren Dimensionen führte. Nach einem Zwischenbericht erbringen die 256 Handschriften der Volksrechte (einschließlich der Leges Langobardorum)M des siebten/achten bis 16. Jahrhunderts in allen Varianten des volkssprachigen Wortschatzes etwa 1800 Ansätze mit mehr als 7000 Varianten und mit knapp 20000 Belegen. Darüber hinaus ist danach der volkssprachige Wortschatz der karolingischen Kapitularien und der Urkunden und sonstigen Überlieferung der althochdeutschen Zeit und des althochdeutschen Raumes nahezu vollständig erfaßt, wenn auch noch nicht bearbeitet85.
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Sonderegger, S., Zu den althochdeutschen Sachwörtern in den lateinischen Urkunden der Schweiz, FS Largiader, A., 1958, 203 ff. Die wichtigste Quelle bildeten dabei die St. Gallener Urkunden. Ihre Zahl beträgt etwa 750 Privaturkunden (von insgesamt rund 1 0 0 0 0 frühmittelalterlichen Privaturkunden bzw. knapp 15 000 frühmittelalterlichen Urkunden des fränkisch-deutschen frühmittelalterlichen Reiches), vgl. Köbler, G., Das Recht im frühen Mittelalter, 1971, 39. Ein Beitrag zum Wortschatz der Diplome Lothars I. und Lothars II., 1973. Während von den Diplomen Pippins (751—68) und Karlmanns 63 bzw. 67 volkssprachige Wörter enthalten, sind es in den Diplomen Lothars I. und Lothars II. nur 3 0 % bzw. 2 5 % , Tiefenbach 11, 14 ff. Tiefenbach 56. Bei Einbeziehung aller Zeugnisse aller Fassungen der Lex Salica wird dabei freilich der Rahmen des Althochdeutschen bereits wieder eindeutig überschritten. Schützeichel, R., Die philologische Erforschung des volkssprachigen Wortschatzes der Leges, Capitularien und Diplome, FS Schmidt-Wiegand, R., 1986, 831 ff.; vgl. hierzu auch Anm. 76.
Vom Umfang des
Althochdeutschen
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Zieht man aus diesen gesicherten Ergebnissen und der eigenen Beobachtung einen zusammenfassenden Schluß, so wird man die Gesamtzahl der Belege der (teilweise) althochdeutsch-volkssprachigen Wörter in der lateinischen zeitgenössischen Uberlieferung (vor allem wegen der teilweise sehr umfangreichen Handschriftenfiliation) auf bis zu 40000 ansetzen können, womit sie schon sehr beachtlich ist, aber doch noch eindeutig hinter Texten und Glossen zurückbleibt. Die Zahl der (dem entsprechenden) Wörter könnte sich vielleicht auf 10 — 20000 berechnen lassen und die Zahl der hieraus zu gewinnenden Ansätze dürfte sich dann auf vermutlich deutlich weniger als 5000 schätzen lassen86. 4. Erschlossene Wörter Die bereits genannten Quellen stellen insgesamt die Überlieferung des einheitlich abzugrenzenden Althochdeutschen dar. Zusammengefaßt erweist sich ihr Umfang damit als nicht mehr und nicht weniger als etwa ein Dutzend moderner gedruckter Bände umfassend. Schon deswegen, aber auch wegen der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Zeugnisse ist von vornherein auszuschließen, daß durch die Gesamtheit der Überlieferung die Gesamtheit des althochdeutschen Sprachschatzes bezeugt ist. Dies hat zur Folge, daß auch an die planmäßige Schließung zufälliger Überlieferungslücken zu denken ist. Für das in noch geringerem Umfang überkommene Gotische hat dies neben anderen etwa schon Schubert versucht87, für das Altfriesische hat dies zuletzt Ärhammer ins Gespräch gebracht88. Als dafür in Betracht kommenden Methoden und Wege sind vor allem wohl drei zu nennen. Am einfachsten ist die Schließung von Lücken durch den diese umgebenden Wortschatz selbst. Dies bedeutet etwa die Annahme eines erschließbaren Simplex bei Vorliegen eines bezeugten Kompositums (z. B. *blumfen aus inblumfen, *giboganlih aus ungiboganlih oder *boro aus äruntboro)9,9. 86
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Diese Zahl hängt anscheinend erheblich davon ab, in welchem Maß Varianten als eigene Ansätze angesehen werden. Vgl. für die lateinisch-althochdeutschen Mischwörter auch noch Niermeyer, J., Mediae latinitatis Lexicon minus, 1954 ff. Schubert, J., Die Erweiterung des bibelgotischen Wortschatzes mit Hilfe der Methoden der Wortbildungslehre, 1968; vgl. auch schon Gamillscheg, E., Romania Germanica, Bd. l f f . 1. A. 1935 ff., Bd. 1. 2. A. 1970; Holthausen, F., Gotisches etymologisches Wörterbuch, 1934. Ärhammer, N., Zur Rekonstruktion des altfriesischen Lexikons mit Hilfe der neufriesischen Dialekte, in: Philologia Frisica anno 1988, 1989, 94 ff. m. w. N. Die Grenzen dieses Vorgehens sind dabei nicht immer ganz sicher. In jedem Fall lassen sich erschlossene Grundformen (Wortelemente) aber doch zugleich auch als Verweise auf komplexere und in der alphabetischen Einordnung durch den (eventuell abweichenden) Anfangsbuchstaben bestimmte Wortformen verwerten.
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Hierher gehört auch die Bejahung einer Grundform, wenn eine entferntere Ableitung nachgewiesen ist (z. B. eines Adjektives *boslih aus einem Adverb boslihho). Nicht übersehen werden darf dabei freilich, daß die Sprachwirklichkeit einem formal möglichen Modell nicht in jeder Hinsicht entspricht, so daß nicht jede auf diese Weise konstruierbare Grundform tatsächlich auch in Übung gewesen zu sein braucht. Weiter reicht und deshalb umgekehrt auch entsprechend fragwürdiger ist die Berücksichtigung des überlieferten Namensgutes, welche dadurch nahegelegt wird, daß die Namensüberlieferung vielfach in beträchtlichem Umfang bereits in Zeiten einsetzt, in denen die sonstige Überlieferung noch sehr dürftig ist oder auch noch fast gänzlich fehlt 90 . Freilich kann dabei nicht außer acht bleiben, daß das Wortgut, aus dem Namen gebildet werden, in seinem Umfang durchaus beschränkt ist. Hinzu kommt, daß sich nicht in jedem Fall sichern läßt, daß das in Namen (noch) tradierte Wortgut auch Bestandteil der allgemeinen Sprachwirklichkeit ist. Als drittes ist an die Lückenfüllung durch Berücksichtigung verwandter Sprachen zu denken. Dies bedeutet für das Althochdeutsche in erster Linie den Blick auf das Altsächsische und das Altniederfränkische. Zwar zeigt die althochdeutsche Überlieferung gegenüber der altsächsischen Überlieferung wie der altniederfränkischen Überlieferung durchaus zahlreiche Eigenheiten, aber nicht jede dieser Besonderheiten braucht auf der Individualität des Althochdeutschen zu beruhen. Manche von ihnen kann im Gegenteil ihre Ursache allein in einer Zufälligkeit der Quellenlage haben. Dazu kommt, daß die Quellen des Altsächsischen und noch mehr des Altniederfränkischen erheblich dürftiger sind als die des Althochdeutschen. Deshalb bietet auch aus der Sicht dieser Sprachen eine gegenseitige Verknüpfung der Überlieferungen unübersehbare Vorteile. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, für jeden belegten altsächsischen bzw. altniederfränkischen Ansatz eine althochdeutsche Entsprechung zu konstruieren, unter welcher im Althochdeutschen auf die altsächsische bzw. altniederfränkische Sprachwirklichkeit hingewiesen werden kann 91 . Dies bedeutet beispielsweise, daß auf Grund eines altsächsischen blotmänuth ein althochdeutsches bluo^manod angesetzt werden kann, ohne daß damit allerdings auch bereits zwangsläufig dieses althochdeutsche bluozmänod für die Sprachwirklichkeit gesichert ist. Im jeweiligen Einzelfall können dann aber durchaus zusätzliche Gründe bestehen, welche die 90 91
Vgl. Schützeichel, FS Schröbler 33. Vgl. dazu das im Glossenwörterbuch im Laufe seiner Entstehungszeit und am Ende rückwirkend für die Anfangsteile entwickelte Verfahren, das allerdings auf die Glossen beschränkt ist, sowie auch das Althochdeutsche Wörterbuch.
Vom Umfang des
Althochdeutschen
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Existenz eines so erschlossenen Wortes auch in der Sprachwirklichkeit wahrscheinlich werden lassen. Hierzu dürfte beispielsweise das Vorhandensein zahlreicher Ableitungen einer zusammengehörigen Wortfamilie gehören. Wie die verwandten Sprachen der gleichen Zeitstufe bei dieser Lükkenfüllung verwendet werden können, so kann grundsätzlich auch eine ältere oder jüngere Sprachstufe der behandelten Sprache berücksichtigt werden. Dementsprechend lassen sich theoretisch sowohl aus dem Germanischen, das freilich seinerseits selbst nicht überliefert, sondern nur durch Rekonstruktion gewonnen ist 92 , als auch etwa aus dem Mittelhochdeutschen 93 oder gar dem Neuhochdeutschen bzw. dessen möglicherweise verstärkt althochdeutsches Wortgut bewahrenden Dialekten 94 vermutungsweise einzelne althochdeutsche Ansätze konstruieren. Auch ihre Wahrscheinlichkeit hängt im Einzelfall jedoch von zusätzlichen bestärkenden Momenten ab. Eine Besonderheit ergibt sich dabei in diesem Zusammenhang noch für das Langobardische, das nach freilich umstrittener Ansicht 95 wohl doch zum Althochdeutschen zu zählen ist. Da es während seiner Lebenszeit in romanistischer Umgebung gesprochen wurde, lassen sich seine Bestandteile (außer durch die bescheidene eigene Überlieferung 96 ) am ehesten durch die Betrachtung seiner Auswirkungen auf seine romanistische Umgebung ermitteln. Dementsprechend hat schon Ernst Gamillscheg 97 eine ganze Reihe langobardischer Ansätze aus dem Italienischen und seinen einzelnen Dialekten gewonnen, welche sich in vielen Fällen durch die Beleglage des (übrigen) Althochdeutschen absichern lassen, aber am besten wohl doch gesondert angesetzt werden sollten. III. Faßt man all dies zusammen, so ergibt sich, daß das Althochdeutsche durch eine eigene Überlieferung bezeugt ist, welche einen Umfang von vielleicht alles in allem rund 750000 (zumindest teilweise althochdeut92
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Vgl. etwa Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. A. 1975, z. B. 435 leise (ahd. "lisi). Vgl. dazu die wertvollen Angaben bei Grimm, J./Grimm, W., Deutsches Wörterbuch, Bd. 1 ff. 1854, und im Althochdeutschen Wörterbuch. Vgl. hierzu Schützeichel PBB 95 (Tübingen 1973), 25 einerseits und FS Schmidt-Wiegand 839 andererseits. Bruckner, W., Die Sprache der Langobarden, 1895. Vgl. Bruckner, passim sowie Rhee, F. van der, Die germanischen Wörter in den langobardischen Gesetzen, Rotterdam 1970. Gamillscheg, E., Romania Germanica, Bd. 1 ff. 1. A. 1935 ff., Bd. 1 2. A. 1970.
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sehen) Belegen hat. Da diese Zahl durch die bloße Addition aller Überlieferungsstränge zustande kommt, bedarf sie noch der Bereinigung. Zieht man die (bloße, wohl auch nur auf Zufälligkeiten beruhende) Mehrfachüberlieferung ab, so verringert sich die Gesamtüberlieferung des Althochdeutschen auf eine Zahl von vielleicht gut der Hälfte dieser 750 000 Belege. Da die aufschließende Organisation des Bestandes einer Sprache — außer durch eine bloße, wenn auch den jeweils höchsten methodischen Ansprüchen gerecht werdende Edition des Materiales — auch durch ein nach formalen Gesichtspunkten geordnetes Verzeichnis des Bestandes ihrer praktisch verwendeten Elemente (Wörter) erfolgen kann, bedarf es zum Schluß noch einiger Bemerkungen hinsichtlich des Umfanges eines aus dem genannten Bestand zu gewinnenden, normalisierende Ansätze verwendenden althochdeutschen Wörterbuches. Hierzu hat die Betrachtung des Wortbestandes der althochdeutschen Texte bereits ergeben, daß diese (bei Ausscheidung aller bloßen Glossen) etwa 11 000 Wörter bzw. Ansätze belegen. Für den Gesamtwortschatz der Glossen hat Wells eine Zahl von ungefähr 21 000 Vokabeln 98 (einschließlich Eigennamen) genannt. Von daher bedarf es nun als nächstem der Ermittlung der Zahl der aus dem gesamten (derzeit bekannten) Glossenmaterial zu gewinnenden althochdeutschen Wörter. Betrachtet man das Glossenwörterbuch zu diesem Zweck näher, so zeigt sich, daß es in seinem Hauptteil schätzungsweise 26 700 Ansätze (einschließlich Verweise und Namen) enthält, zu denen noch rund 350 latinisierte Wörter und Namen germanischen Ursprungs, 3400 (weitgehend nur ergänzende oder berichtigende) Ansätze in der Nachlese, rund 1000 Ansätze in den Ergänzungen und 1750 Ansätze in den Berichtigungen kommen (Summe rund 33 200 Ansätze). Zieht man von der Gesamtzahl von 26 700 etwa 2650 (10%) Verweise und Namen, 500 altenglische, 150 altostniederfränkische, 550 altsächsische, 1950 mittelhochdeutsche und 75 mittelniederdeutsche Ansätze ab (5875) und fügt rund 500 zusätzliche althochdeutsche Ansätze aus Nachträgen und Ergänzungen hinzu, so ergibt sich eine Gesamtsumme von etwas mehr als 21 000 althochdeutschen Ansätzen aus dem gesamten Glossenbestand. Stehen sich somit etwa 11000 Textwortansätze und mehr als 21000 Glossenwortansätze gegenüber, so fragt sich deren gegenseitige Entsprechung. Für sie ergibt sich bei einer zufällig herausgegriffenen Versuchsstrecke von blidi bis boula, daß 131 Wörtern, welche nur in Glossen (einschließlich des Notkerglossators) belegt sind, 41 Wörter, welche in 98
Starck/Wells, Glossenwörterbuch XII.
Vom Umfang des Althochdeutschen
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Glossen und Texten vertreten sind, und 37 Wörter, welche nur in Texten aufscheinen, gegenüberstehen. Von 207 Wörtern insgesamt sind demnach nur gut 20% sowohl in Glossen als auch in Texten bezeugt, dagegen mehr als 60% nur in Glossen und weniger als 20% nur in Texten. Versucht man, dieses doch überraschende Ergebnis mit Hilfe einer nach dem Zufälligkeitsprinzip gestreuten statistischen Stichprobe zu überprüfen, so lassen sich folgende Daten gewinnen. 44 (15,7%) Ansätze, welche nur in Texten, nicht aber zugleich auch in Glossen belegt sind, stehen 68 ( = 24,2%) Ansätzen gegenüber, welche sowohl in Texten als auch in Glossen bezeugt sind, sowie 169 ( = 6 0 , 1 % ) Ansätze, die sich nur in Glossen nachweisen lassen. Zusätzlich erscheinen 13 (teilweise lateinischalthochdeutsche) Wörter aus Volksrechten, Kapitularien usw. Prozentual bedeutet dies, daß etwa 57,5% der althochdeutschen Wörter nur in Glossen auftreten, etwa 23% in Glossen und Texten, etwa 15% nur in Texten und etwa 4,5% in Volksrechten, Urkunden, Kapitularien usw. Etwa 80% aller althochdeutschen belegten Wörter kommen demnach in den Glossen vor, weniger als 40% in den Texten. Von den ausgewählten, in den Quellen belegten 294 Ansätzen sind 129 ( = 43,6%) nur an einer einzigen (, wenn auch vielleicht durch mehrere verwandte oder übereinstimmende Handschriften überlieferten) Stelle nachgewiesen. 44 ( = 14,9%) Wörter sind durch 2 Belege bezeugt, je 19 ( = 6,5%) durch 3 bzw. 4 Belege sowie 9 (— 3,1%) durch 5. Zwischen 6 und 10 Stellen finden sich für 26 Wörter, zwischen 11 und 20 Stellen für 11 Wörter sowie zwischen 21 und 50 Stellen für 14 Wörter. Höhere Belegzahlen treten nur in weniger als 10 von 294 Fällen auf. Die ältesten Nachweise für einzelne Wörter finden sich, wie sich aus der Überlieferungsgeschichte des Althochdeutschen unschwer ablesen läßt, für die in den Volksrechten, Kapitularien, Urkunden usw. überlieferten Wörter. Immerhin lassen sich aber doch für 64 der zufallig ausgewählten Wörter früheste Belege bereits aus dem 8. Jahrhundert aufspüren. 87 Wörter (knapp 30%) treten erstmals im 9. Jahrhundert auf, davon 13 im Tatian und 15 bei Otfrid, 35 (knapp 12%) erstmals im 10. Jahrhundert. Von Notker stammen älteste Zeugnisse für 37 Wörter (12,5%), aus dem 11. Jahrhundert für 47 Wörter (knapp 16%). Die Zahl der nach dem 11. Jahrhundert erstmals bezeugten und dennoch als althochdeutsch angesehenen Wörter ist mit knapp 10% verhältnismäßig gering. Fragt man nach dem Verhältnis des Althochdeutschen zum Lateinischen, so zeigt sich, daß nahezu alle althochdeutschen Wörter in mehr oder weniger eindeutig erkennbaren Übersetzungsgleichungen als Übersetzungen lateinischer Vorlagewörter auftreten. Die statistische Untersuchung ergibt dabei, daß etwa die Hälfte aller (in Übersetzungsgleichungen
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Gerhard Köbler
belegten althochdeutschen) Wörter nur einem einzigen lateinischen Vorlagewort entspricht, was sich mit der hohen Zahl der nur an einer einzigen Stelle belegten althochdeutschen Wörter zwangslos erklären läßt. Daneben finden sich für etwa 20% der Wörter 2 Ubersetzungsgleichungen, für 10% 3 Ubersetzungsgleichungen, für je 5% 4 bzw. 5 Ubersetzungsgleichungen sowie für insgesamt 10% mehr als 5 Übersetzungsgleichungen. Da die belegten Wörter in einem Wörterbuch sinnvollerweise normalisiert angesetzt werden müssen, fragt sich, in welchem Ausmaß die normalisierten Formen durch die Quellen tatsächlich bezeugt sind. Dabei ist deswegen, weil viele Wörter in den Quellen in flektierten Formen erscheinen, eine Normalisierung sich aber stets auf Grundformen wie Nominativ oder Infinitiv zu beziehen hat, schon von vornherein mit einem eher geringen Prozentsatz zu rechnen. Hinzu kommt, daß fast die Hälfte aller Wörter hapax legomena sind und daß die aus unterschiedlichen Zeiten und Orten stammenden Quellen unterschiedliche Schreibsysteme verwenden. Beachtet man darüber hinaus, daß das gesuchte Ergebnis auch von der Art der Normalisierung abhängt, so überrascht es kaum, daß nicht einmal ein Viertel aller belegten Wörter auch genau in der Schreibweise des normalisierten Ansatzes in den Quellen bezeugt ist. Zu den 294 bezeugten Ansätzen der Stichprobe kommen noch etwa 50 durch Erschließung gewonnene Wörter bzw. Wortelemente hinzu. Zusätzlich ist mit etwa einer gleichen Anzahl von Verweisen zu rechnen, welche Sachzusammenhänge wiederherstellen sollen, welche durch eine streng alphabetische Ordnung der Wörter zerrissen werden, wobei allerdings Hinweise von ungewöhnlichen Schreibweisen eines Beleges auf einen Ansatz deswegen nicht einbezogen sind, weil die dadurch angestrebte Zusammenführung zu den Aufgaben einer (vollständigen) Belegübersicht gehört. Betrachtet man diesen Gesamtbestand noch nach den Wortarten, so herrschen — zumindest teilweise auch durch die Eigenart der Sachglossare und der alphabetischen Glossare bedingt — die Substantive eindeutig vor (etwa 55%). Dem folgen die Verben (knapp 20%), die Adjektive (knapp 15%) und die Adverbien (8%), während den übrigen Wortarten zahlenmäßig kaum eine Bedeutung zukommt. Innerhalb der Substantive überwiegen die Feminina (rund 50%) die Maskulina (34%) und diese die Neutra (16%), innerhalb der Deklinationsklassen die Wörter der starken Deklinationsklassen (etwa 75%) die schwachen Deklinationsklassen. Als letztes ermöglicht die Stichprobe noch eine einfache Grobaussage über das Verhältnis der althochdeutschen Ansätze zu den lateinisch-althochdeutschen wie zu den langobardischen Ansätzen. Langobardische Ansätze betreffen statistisch etwa 2%, lateinisch-althochdeutsche Ansätze
Vom Umfang des Althochdeutschen
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etwa 3% aller Ansätze. Damit kommt beiden Sondergruppen insgesamt nur eine beschränkte Bedeutung zu. Geht man abschließend davon aus, daß die behandelte Stichprobe 1% des tatsächlichen Bestandes des Althochdeutschen erfaßt, so kann man zusammenfassend den Umfang des Althochdeutschen auf nicht ganz 35 000 Ansätze (bzw. Wortelementansätze) schätzen, von denen etwa 5000 erschlossen sind und 11 000 durch Texte bzw. knapp 22 000 durch Glossen (davon 20 — 25% sowohl durch Texte als auch Glossen) belegt werden". Diese werden durch Texte im Umfang von etwa 290000 Wörtern, rund 200000 einzelne Glossen und vielleicht durch bis zu 40000 Einzelbelege der gesamten sonstigen Uberlieferung gestützt. Sie alle vermögen das Material für ein althochdeutsch-neuhochdeutsch-lateinisches Wörterbuch 100 zu bilden, mit dessen Hilfe sich Althochdeutsch, Neuhochdeutsch und Lateinisch besser verstehen lassen als zuvor.
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Splett, FS Schmidt-Wiegand 931, geht v o n 3 2 0 0 0 Wörtern des Althochdeutschen aus, welche sich auf knapp 3800 Wortfamilien verteilen, wobei rund 6 % des überkommenen Wortschatzes sich als isoliert erweisen. Vgl. auch Splett, J., Lexikologie des Althochdeutschen, in: Sprachgeschichte, hg. v. Besch, W. u.a. 1985, 2, 1 0 3 0 f . Köbler, G., Althochdeutsch-neuhochdeutsch-lateinisches Wörterbuch, 3. A. Bd. 1 (a—1) 1991, Bd. 2 (m—z) 1992. A u f dieser Grundlage wird sich unter Einbeziehung v o n Interferenzen, Etymologie und Fortleben ein erstes zusammenfassendes althochdeutsches Wörterbuch erstellen lassen, das freilich auf Belegangaben verzichten muß. Dessen ungeachtet wird es gestatten, den Umfang des Althochdeutschen genauer zu ermitteln.
R U D O L F SCHÜTZEICHEL,
Münster
Appellative in althochdeutschen Eigennamen I. Die Unterscheidung von Eigenname und Appellativ ist in theoretischer Hinsicht viel diskutiert und im ganzen durchaus geklärt. Die Übereinstimmung in der kategoriellen Bedeutung verbindet beide am deutlichsten, im ganzen auch die instrumentalen Bedeutungen, die beim Eigennamen im syntaktischen Zusammenhang wirksam werden, schließlich die Bezeichnungsfunktion. Der wichtigste Unterschied besteht bei der lexikalischen Bedeutung, da sie bei den Namen als Eigennamen nicht anzutreffen ist. Diese Tatsache ändert jedoch nichts daran, daß die Namenelemente aus dem allgemeinen sprachlichen Material gewonnen sind, so daß die Eigennamen auch über die zugrundeliegenden sprachlichen Elemente Auskunft geben können, überdies selbst in die sprachgeschichtlichen Vorgänge auf allen Ebenen einbezogen sind. Das unterschiedliche Verhalten im einzelnen liegt eben an dem unverkennbaren Unterschied, der zwischen nomen proprium und nomen appellativum nun einmal besteht. Im folgenden ist das Augenmerk auf bestimmte Aspekte zu richten, die die appellativische Welt innerhalb des Namenschatzes deutlicher in den Vordergrund rücken sollen. II. Zur Erforschung des Althochdeutschen gehört zweifellos auch die Erfassung und Erforschung der Namenüberlieferung in den verschiedenartigsten Quellen des Althochdeutschen. Zunächst wird man an die in den literarischen Denkmälern, etwa im Tatian, bei Otfrid, in Notkers Übersetzungswerk (und so weiter) auftretenden Namen denken, die in einem Althochdeutschen Wörterbuch nicht berücksichtigt sind. Tatsächlich sind aber Massen von Personennamen und von Ortsnamen in den verschiedensten Überlieferungen tradiert, insbesondere in den Verbrüderungsbüchern, in den Annalen, Chroniken, Viten, Briefen, Urkunden, in theolo-
Appellative in althochdeutschen
Eigennamen
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gischem und religiösem Schrifttum sonstiger Art, auch in der Glossenüberlieferung. Dieses Sprachmaterial ist insgesamt für die sprachgeschichtliche Erforschung des Deutschen, bezogen auf den Zeitraum des Althochdeutschen, von außerordentlicher Wichtigkeit und in beachtlichen Ansätzen auch schon philologisch untersucht und für die Beschreibung des Althochdeutschen nutzbar gemacht worden. Das ist beispielsweise in einer Abhandlung von Stefan Sonderegger in einer Festschrift für Adolf Bach erfolgt, dann in einem Beitrag von Stefan Sonderegger zum Münchener Namenkongreß, weiterhin in dem gewichtigen Werk von Hubertus Menke über das Namengut der frühen karolingischen Königsurkunden, das als ein Beitrag zur Erforschung des Althochdeutschen bestimmt war, schließlich in den Untersuchungen zur Nordgrenze des Althochdeutschen an niederrheinischen Personennamen des neunten bis elften Jahrhunderts von Heinrich Tiefenbach, um nur einige hervorstechende Beispiele zu nennen. Bei aller Wichtigkeit der Massen von Sprachzeugnissen, die uns in den Quellen der althochdeutschen Zeit entgegentreten, ist ihre Hereinnahme in den ,Gesamtwortschatz' des Althochdeutschen aus verschiedenen Gründen nicht ohne weiteres möglich. Allerdings muß doch auf einige Gesichtspunkte aufmerksam gemacht werden, die das Verhältnis von Namenschatz und Wortschatz im Althochdeutschen in etwas klarerem Licht erscheinen lassen können.
III. Es ist eine elementare Feststellung, daß die Ortsnamen appellativische Grundlagen haben, die den Anreiz insbesondere zu etymologischer Forschung geben müssen. Deswegen weisen Albert L. Lloyd und Otto Springer in ihrem Etymologischen Wörterbuch des Althochdeutschen (im Vorwort) mit Recht darauf hin, daß der ,lateinisch bedingte und inhaltlich vorwiegend theologisch-religiöse Charakter der althochdeutschen Überlieferung' ,zur Folge' hat, ,daß eine sehr beträchtliche Zahl von Vokabeln, welche Dinge des täglichen Lebens, der sinnlichen Welt oder der säkularen menschlichen Gesellschaft nicht ,literarisch', ja, nicht einmal in den lateinisch-deutschen Glossen zur Sprache kommt, während sie in den Tausenden und Abertausenden von (auch historisch belegten) Eigennamen für Personen und Ortlichkeiten mit Händen zu greifen sind'. Es sei ,zu erwarten, daß ein ... Auswirken von Namenforschung und althochdeutscher Wortetymologie im Endergebnis der Namenforschung nicht minder zugute kommen wird, die ja gerade in puncto sprachwissenschaftlicher Erklärung noch immer viel zu wünschen übrigläßt'.
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Rudolf
Schüt^eichel
Das Interesse der etymologischen Forschung an den im Althochdeutschen überlieferten Namen liegt also auf der Hand. Für die Wortforschung im Sinne der Wörterbucharbeit sind nun insbesondere solche Appellative von Belang, die deutlich sichtbar in den Ortsnamen wie im appellativischen Wortschatz zeitlich und räumlich nebeneinander erscheinen. Das ist bei den Ortsnamen in unzähligen Fällen so gegeben, so beispielsweise bei den Furtnamen und den Flurnamen, denen Heinrich Tiefenbach verschiedene Abhandlungen gewidmet hat, dann etwa bei den Namen mit dem Bestandteil -dorf- und diesen vergleichbaren Namen (beispielsweise mit dem Bestandteil -hüs-, -berg-, -bürg-, -stat- und vielen anderen). Die Fülle der wissenschaftlichen Literatur kann hier natürlich nicht ausgebreitet werden. Von ganz besonderem Interesse werden solche Namenbestandteile sein, die in althochdeutscher Namenüberlieferung auftreten, im appellativischen Wortschatz aber verschwunden sind. Auch dafür gibt es Beispiele. Deutlicher sind die Verhältnisse bei den Personennamen.
IV. Hier können nur solche Personennamen gemeint sein, die vor der relativ späten Entstehung der Familiennamen als Rufnamen oder allenfalls als Beinamen bezeugt sind. Für die etymologischen Grundlagen gilt prinzipiell das gleiche, was in dem vorausgehenden Abschnitt über die Ortsnamen gesagt worden ist. a) Appellative als Beinamen. In den in althochdeutscher Zeit massenhaft überlieferten Personennamen, die also noch in einer Zeit der Einnamigkeit als Rufnamen existiert haben, treten in seltenen Fällen Beinamen neben einem Rufnamen auf, sehr häufig aber als Rufnamen mit Beinamencharakter, was bedeutet, daß die appellativische Grundlage sehr deutlich hervortritt. Hierfür hat beispielsweise Dieter Geuenich in seinem Werk über die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter zahlreiche Fälle aufgewiesen. Aus diesem Material konnten sprechende Beispiele geschöpft werden: In früher Uberlieferung auftretende Simplicia vom Typus Erbio ,der Erbe', Ernust,Ernst, Eifer, Kampf, Karl ,Mann, Ehemann', Craft ,Kraft, Fähigkeit'. Der ursprüngliche Beiname konnte auch aus Personengruppenbezeichnungen stammen, wie: Frieso, Hessa, Nordman, Nortuuib, die dann wie Appellative wirken (Thuring ,der Thüringer'). Auch Benennung nach Ortsbezeichnungen sind so aufzufassen, wie etwa: Rumhart .Römer'. Berufsbezeichnungen und Standesbezeichnungen treten häufig auf, zum Beispiel Boto ,Bote', Gotesman
Appellative in althochdeutschen
Eigennamen
159
.Theologe', Thegan ,Krieger', Uuarto ,Wächter'. Von Interesse sind auch Verwandtschaftsbezeichnungen in den Namen wie: Fater ,Vater', Buolo ,naher Verwandter', Uuasa ,Base', weiterhin Abstrakta wie: Alttuom .Alter', Fruma ,Nutzen', Minna ,Liebe', Unuuan ,Überraschung'. Tierbezeichnungen fehlen nicht, zumal sie auch in den zweigliedrigen Namen eine große Rolle spielen (Hraban ,Rabe', Uuelf ,junger Hund', Aro ,Adler'). Auch andere Bereiche spielen eine Rolle: Dilli ,Dill', Harpfa ,Harfe', Ertag ,Dienstag'. In den Beinamentypen erscheinen Adjektive natürlicherweise sehr häufig, zum Beispiel: Broda .hinfällig', Geila ,übermütig', Lud ,laut', Stur ,stark', Zeisga ,lieb', ebenso natürlich Partizipialbildungen, die im Wortschatz ja als Adjektive behandelt werden (zum Beispiel: Uuallod zu wallön .wandern, gehen, pilgern'). Im Althochdeutschen Wörterbuch sind von Eigennamen abgeleitete Adjektive (Beispiel: judeisc) und von Eigennamen genommene Bezeichnungen (wie: franko) mit berücksichtigt. Man muß aber sehen, daß die Rufnamen mit Beinamencharakter eben auch in den Bereich der Appellative gestellt werden müßten. b) Verschollene Appellative in Personennamen. In allem sind natürlich solche Personennamen von besonderem Interesse, in denen sonst nicht mehr bezeugte Appellative erscheinen. Als Beispiel kann auf Aufsätze von Norbert Wagner hingewiesen werden, in denen er ,neue althochdeutsche Wörter' behandelt, die er in den Namen erkennen kann, die aber sonst nicht recht bezeugt sind. Diese Abhandlungen seien hier (aus einer ganzen Reihe vergleichbarer Fälle) exemplarisch herausgestellt. V. In allen Fällen, in denen die Eigennamen der althochdeutschen Überlieferung sonst bezeugte oder sonst nicht mehr bezeugte Appellative bringen, sind sie als eine Ergänzung des althochdeutschen Wortschatzes anzusehen, der nicht unbeachtet bleiben kann. Das ist als ein besonderer (und womöglich besonders wichtiger) Aspekt im Hinblick auf die Wortforschung anzusehen, der nicht mit den weiter oben angedeuteten allgemeinen Zusammenhängen und den etymologischen Grundlagen verwechselt werden darf.
160
Rudolf
Schüt^eichel
BIBLIOGRAPHIE
Zu den theoretischen Grundlagen: R. Schützeichel/M. Gottschald, Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen. Fünfte verbesserte Auflage mit einer Einführung in die Familiennamenkunde von R. Schützeichel, Berlin —New York 1982 (mit den nötigen Literaturhinweisen). Zum Folgenden: R. Schützeichel, Addenda und Corrigenda (III) zum althochdeutschen Wortschatz, Studien zum Althochdeutschen 12, Göttingen 1991, S. 147 — 150 (,Namen'; mit der notwendigsten Literatur). St. Sonderegger, Aufgaben und Probleme der althochdeutschen Namenkunde, Namenforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag am 31. Januar 1965. Herausgegeben von R. Schützeichel und M. Zender, Heidelberg 1965, S. 55 — 96. St. Sonderegger, Der althochdeutsche Personennamenschatz von St. Gallen. Ein Beitrag zum Problem einer althochdeutschen Namengrammatik, VI. Internationaler Kongress für Namenforschung. München: 2 4 . - 2 8 . August 1958. Kongressberichte Band III. Kongreßchronik und Sektionsvorträge 51 — 144 herausgegeben von K. Puchner, Studia Onomástica Monacensia IV, München 1961, S. 722—729. H. Menke, Das Namengut der frühen karolingischen Königsurkunden. Ein Beitrag zur Erforschung des Althochdeutschen, BNF.NF. Beiheft 19, Heidelberg 1980. H. Tiefenbach, Xanten —Essen —Köln. Untersuchungen zur Nordgrenze des Althochdeutschen an niederrheinischen Personennamen des neunten bis elften Jahrhunderts, Studien zum Althochdeutschen 3, Göttingen 1984. A. L. Lloyd/O. Springer, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, I, Götting e n - Z ü r i c h 1988. H. Tiefenbach, Mimigemaford — Mimigardeford. Die ursprünglichen Namen der Stadt Münster, BNF.NF. 19 (1984) S. 1 - 2 0 . H. Tiefenbach, Bezeichnungen für Fluren im Althochdeutschen, Altsächsischen und Altniederfränkischen, Untersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1975 und 1976 herausgegeben von H. Beck. D. Denecke, H. Jankuhn, II, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 116, Göttingen 1980, S. 287-322. H. Tiefenbach, Furtnamen und Verwandtes, Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa. V. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1980 bis 1983 herausgegeben von H. Jankuhn, W. Kimmig, E. Ebel, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 180, Göttingen 1989, S. 262-290. R. Schützeichel, ,Dorf\ Wort und Begriff, Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters, Siedlungsform — wirtschaftliche Funktion — soziale Struktur. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren 1973 und 1974 herausgegeben von H. Jankuhn, R. Schützeichel und F. Schwind, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 101, Göttingen 1977, S. 9 - 3 6 .
Appellative
in althochdeutschen
Eigennamen
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H. v. Gadow, Dorf. II. Philologisches, RGA. VI, S. 9 1 - 9 4 . Bibliographie der Ortsnamenbücher des deutschen Sprachgebietes in Mitteleuropa. Unter Mitwirkung von J. Zamora herausgegeben von R. Schützeichel, BNF.NF. Beiheft 26, Heidelberg 1988. D. Geuenich, Die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, Münstersche Mittelalter-Schriften 5, München 1976. R. Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, 4. A. Tübingen 1989. N. Wagner, Chistesbrunno und Huohhobura. Zu den althochdeutschen Würzburger Markbeschreibungen, BNF.NF. 12 (1977) S. 372 - 397. N.Wagner, Camfesnesta .Gramschatz', BNF.NF. 14 (1979) S. 278-281. N.Wagner, Der Name der Stellinga, BNF.NF. 15 (1980) S. 128-133. N.Wagner, ad Tre[u]iches eichi, BNF.NF. 18 (1983) S. 6 6 - 7 0 . N.Wagner, Althochdeutsche Personennamen auf-od, BNF.NF. 18 (1983) S. 7 3 - 8 2 . N.Wagner, Flozzolf, BNF.NF. 18 (1983) S. 8 2 - 8 4 . N.Wagner, Wirziburg .Würzburg', BNF.NF. 19 (1984) S. 155-167. N. Wagner, Husi- in althochdeutschen und altniederdeutschen Personennamen, BNF.NF. 19 (1984) S. 168-171. N.Wagner, Lauda, BNF.NF. 20 (1985) S. 385-388. N.Wagner, Der Alemannenname Selah, BNF.NF. 22 (1987) S. 6 8 - 7 0 . N.Wagner, Hrunzolf und Branzolf, BNF.NF. 22 (1987) S. 356-362. N.Wagner, Sellant, BNF.NF. 23 (1988) S. 248f. N.Wagner, Strodo und Strut, BNF.NF. 23 (1988) S. 449 - 451. N. Wagner, Der Name des Eritgaus, BNF.NF. 24 (1989) S. 106 f. N.Wagner, Poralind und Purihilt, BNF.NF. 24 (1989) S. 108f. N.Wagner, Die Westgotennamen Sueridus und Colias, BNF.NF. 24 (1989) S. 110-115. N. Wagner, Frickenhausen und Adams von Bremen Fricco, BNF.NF. 24 (1989) S. 295-309. N.Wagner, Adaric und ahd. atahaft, BNF.NF. 24 (1989) S. 310-317. N.Wagner, Ucciandus und Vciolf, BNF.NF. 24 (1989) S. 318-321. N.Wagner, Himilger und Mimigernaford, BNF.NF. 25 (1990) S. 5 6 - 6 3 . N.Wagner, Schäftlarn und das Suffix -1er, BNF.NF. 25 (1990) S. 163-168. N.Wagner, Chulpinc und Culping, BNF.NF. 25 (1990) S. 277-279. N.Wagner, Nurnhari, BNF.NF. 25 (1990) S. 287-289. N.Wagner, Zu den unverschobenen altbaierischen Ortsnamen, BNF.NF. 26 (1991) S. 161-175. S. beispielsweise auch: L. Voetz, Zu den Personennamen auf -man in althochdeutscher Zeit, BNF.NF. 13 (1978) S. 3 8 2 - 3 9 7 (und viele andere).
JOCHEN SPLETT, MÜNSTER
Der Worttyp rossolih im Althochdeutschen Aus den über 500 Wörtern auf -lih x, die im Althochdeutschen 2 bezeugt sind, lassen sich unter formalem, inhaltlichem und syntaktischem Aspekt 24 Wörter 3 aussondern, die als Pronominal-Adjektive zu bestimmen und deren erster Wortteil mit einem Substantiv im Genitiv Plural zu korrelieren sind. Mit Ausnahme von fieróno-lih (nur im Abrogans) und manno-lih (auch im Freisinger Paternoster, im Reimspruch ,Wider den Teufel' [WdT] und beim Notker-Glossator) sind sie nur bei Otfrid und Notker überliefert. Die folgende alphabetische Auflistung gibt einen vollständigen Uberblick über die Beleglage 4 :
I: boumo-líh
1) Tríuuo cbád si . nóh tés nedárft tu £uíuelon . síd tu síhest chríutelih . únde bóumolíh an déro stéte uuáhsen . diu ímo limfet. Nb 166,25 [1,201,22]
' Eine A u f l i s t u n g aller althochdeutschen Suffixwörter, der A u f w e i s ihrer internen S t r u k t u r und ihre E i n o r d n u n g in die jeweiligen Wortfamilien bietet im Rahmen einer Aufarbeitung des gesamten appellativischen Wortschatzes einer Sprachstufe das Althochdeutsche Wortfamilienwörterbuch des Verfassers, das in Kürze erscheinen w i r d . Dazu v g l . Splett (1990) und die dort S. 81, A n m . 1, a u f g e f ü h r t e Literatur. Der vorstehende Beitrag, der im Z u s a m m e n h a n g dieser Arbeit entstanden ist, m ö g e als kleiner Festgruß d e m verehrten Jubilar w i l l k o m m e n sein, von dessen Begeisterung für die A n f ä n g e unserer Sprache ich seinerzeit angesteckt w o r d e n bin. 2 Als zeitliche Grenze zum Frühmittelhochdeutschen gilt bei den Sprachdenkmälern das Werk Notkers; so sind beispielsweise W i l l i r a m und die P r e d i g t s a m m l u n g e n entgegen der Vorgehensweise des Leipziger Althochdeutschen Wörterbuchs nicht berücksichtigt. Eine A u s n a h m e bildet der Notker-Glossator — dazu S o n d e r e g g e r (1970), S. 113 ff. —, der a u f g r u n d seines engen Z u s a m m e n h a n g s mit Notkers Psalter nicht ü b e r g a n g e n w u r d e . Hinsichtlich der zeitlichen E i n g r e n z u n g der Glossen, die im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g jedoch keine wesentliche Rolle spielen, vgl. Splett (1989). 3 Zählt man das K o m p o s i t u m io-manno-lih hinzu, sind es 25 Wörter. 4 Die Siglen entsprechen denen des Leipziger Althochdeutschen Wörterbuchs. Dort sind auch die g ä n g i g e n A u s g a b e n verzeichnet. N o t k e r w i r d nach der neuen A u s g a b e von James C. K i n g und Petrus Tax zitiert; in eckigen K l a m m e r n ist die jeweilige Stellenangabe nach der A u s g a b e von Paul Piper hinzugefügt. Die in der Neuausgabe bisher noch nicht erschienenen .kleineren Schriften' werden nur nach der A u s g a b e von Piper zitiert. Die Belege, auf die es hier a n k o m m t , sind handschriftengetreu w i e d e r g e g e b e n . Die Otfrid-Belege sind anhand der Faksimile-Ausgabe des W i e n e r Kodex ( V ) überprüft.
Der Worttyp rossolih im Althochdeutschen
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2) Vttde da\ uuéter sluòg uuinegarten unde ftghpoüma . unde fermületa boümelich dar in lande. Np 393,5 [11,448,22] II: dingo-lih
1) Übe àllero dingoliches küot tiurera ist . tànne ... Nb 82,6 [1,94,30] 2) Allero dingoliebes natura . uuürchet tà^ iro gesläht ist ? uuürchenne. Nb 92,15 [1,106,16] 3) Suadendo unde disputando màg man den man ällero dingoliches errihten. Nb 104,21 [1,121,7] 4) ünde mio si dingolih pinde mit féstemo bande. Nb 117,15 [1,137,25] 5) Ällero dingolih habet sina uuideruàrt. Nb 118,22 [1,139,14] 6) Tär ümbe dingoliches kegéròt uuirt. Nb 162,13 [1,194,17] 7) Aber güot . ümbe dà\ tingoliches uuàrt kegéròt . tà^ chàd ih uuésen beatitudinem. Nb 162,21 [1,194,29] 8) Neuuéist tu chàd si . àllero dingolih so làngo uuérén . rnde bestàn . ün% éin isti Nb 165,14 [1,199,15] 9) Unde uuàrt e %e àllén dingen ànderén . so sihest tu dingolih pestàn . ùnti éin ist. Nb 165,29 [1,200,8] 10) Àllero dingolih hàltet io dà% imo geuàllet. Nb 168,1 [1,203,16] 11) Mit tien drin düohta in . dà^ uuir àllero dingoliches sin irrihtenne. Nb 139,30 [1,206,22] 12) uuàv^ àllero dingolih méine. Nb 211,13 [1,272,2] 13) Uuànda prouidentia ist sélbiu diu in góte stànda rédohàfti . diu dingolih keséstót. Nb 213,19 [1,275,16] 14) mit téro prouidentia dingolih tuinget sinero órdeno. Nb 213,21 [1,275,20] 15) Unde ist tingolih so filo inbündenora . des fati . so uilo ¿Z nàhòr gerücchet ... Nb 215,16 [1,278,18] 16) ... téro sàmòn . die dingolih récchent. Nb 217,19 [1,281,21]
17) Mit téro er dingolih skéide . uuéder tüonne si . àlde nesi. Nb 237,17 [1,311,14] 18) uuànda nót ist . tingolih so sin . só si erfàren hàbet . tà% jz si. Nb 242,26 [1,319,18] 19) Dà^> man uuànet àllero dingolih pechénnet uuérden .fóne sin selbes natura. Nb 252,8 [1,333,3] 20) Also dingolih tà% man séhen màg . ünde grifen . àllelih ist ! übe man dero rèdo sihet. Nb 269,17 [1,359,17]
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Jochen Splett
21) So ist io dingolib [B: dingelih, Zkfl. rad.] tèmo uniuocum . sàment tèmo hàbit . éinen nàmen geméinen . ünde ... Nk 7,6 [1,370,8] 22) Attero dingolih pechnàet man io uóne sinemo proprio. Nk 27,23 [1,387,11] 23) Tiu séhsiu . diu àttero dingolih ùmbe hàbint. ünde ümbe grifint. Nk 47,20 [1,405,30] 24) Uuànda dingolig [B: dingelih] nieht pe nòte neist übel àldeguot. Nk 117,5 [1,472,8] 25) Uuànda fóne dingolichemo gesprochen uuirdet. Ni 11,21 [1,506,6] 26) Instrumentum ist . mit tiu man dingolih tuòn sòl. Ni 16,5 [1,509,13] 27) Ein ding hàbet éinen terminum . %uéi hàbint %uéne . dingolih hàbit sinen. Ni 21,3 [1,513,23] 28) Ter an dingolichemo \lic auf Rasur von ge\ der lükkero ist . ter hàbet geuàngen an dén uuideruuartigen uuàn. Ni 101,26 [1,584,4] 29) Tu tùost rnónén dingolih àndermo. Ne 3,14 [1,689,12] 30) Ünde dingolih skéidende mit quàremo ùnderskéite. Ne 120,7 [1,801,19] 31) Allusiones sint. die dingolih spilelicho de's cruo^ent. Np 86,23 [11,91,27] III: dioto-lih
1) So ne-gesuàsta er sih niéht ne-geóffenota er in siniù gerihte 535,18 [11,602,4]
atterdiételichemo . noh so . so er israheli téta. Np
IV. fieróno-lih
1) undique : in feronolihha eocahuuar Pa in feronolihha edho eokiuuahar Kb St.I,86,l 2) untique munitum : in feranolihha kijestinod Kb St. 1,223,1
V: friunto-lih
1) Nist uuiht in themo bóume . tha^friuntilib [V: Fugenvokal i aus a korr.; F: friuntilich] gilóube / thes mànnilih [F: mannilich\ giuuis si . tha^ dar übbiga^ si O V,l,17 f. 2) Nist uuiht in demo bóume . tha^ jriuntilih [F: friuntilich] gilóube I thes mànnilih [F: mannilich] giuuis si . tha% thar übbiges si O V,l,23 f. 3) Bidiu nist in demo bóume . tha^ mànnilih [F: mannilich\ gilóube I thes friunti Uh [F: friuntilich\ giuuis si . tha^ thar übbiges si O V,l,29f.
Der Worttyp rossolih im Althochdeutscben
165
4) Nist áuur in demo bóume . tha^fríuntilih [F: friuntilich\ gilóube I thes mánnilih [F: mannilich] giuuís si . tha^ dar úbbiges si O V,l,35 f. 5) Bidiu níst in demo bóume . tha^ mánnilih [F: mannilich] gilóube I thes fríuntilih [F: friuntilich] giuuís si . tha^ dar úbbiges si O V,l,41 f. 6) Bidiu níst in themo bóume . thes mánnilih [F: mannilich] gilóube I thes fríuntilih [F: friuntilich] giuuís si . tha^ dar úbbiga£ si O V,l,47f. 7) so quéme mir frámmort nu in múat . uuíer fon demo grábe irstuant / Ioh uuío nan fríuntilih [F: friuntilich] gisáh . ouh mit then íungoron sprah O V,4,2 f. VI: goto-líh
1) állero gótelih sár némende téil des róuches. tér ímo g e f i e l . sá% er fró arábiskes stánches. Nc 168,9 [1,845,7]
VII: guoto-líh
1) uns límphit . uuir mit uuíllen . gúatalih [F: guatalich\ irfúllen O 1,25,12 2) Mag íauuiht queman thánana . tha^ sí thiheining rédina I gúatigiliches [P: gúatigilíches\ F: guataliches\ . fon lú^ili thes uuíches ? O 11,7,47 f. 3) Gúataliches [P: gvataliches] uuáltent . thie thúrst ioh húngar thultent O 11,16,13 4) Tha% mih mit sínu nide . ther fíant íó bimíde / ioh mir híar libe . gúatalih [F: guatalich] íó klíbe . O V,3,19f. 5) uuio harto er thie gifréuuita . ioh gúatilih [F: guatalich] in ságeta . O V,4,4 6) Uuánda demo uuáne da% állero güotelih güot sí . ist ter uuíderuuartig . da% ne hein güot kúot ne sí. Ni 104,23 [1,587,2] 7) Uuíle dü den uuán da^ küot kúot sí állelícho spréchen so chíst tú állér güotelih güot uuésen. Ni 105,1 [1,587,7] 8) Also dero állelichun rédo da% áller güotelih küot sí . díu réda uuíderuuartig ist . da^ ... Ni 105,17 [1,587,23] 9) Dar du mih hábest. dar hábest dü güotelih. Np 172,24 [11,191,7]
10) Dar ist in állerguótelih ferságet. VIII: krüto-líh
Np 354,9 [11,401,30]
1) vgl. 1,1 2) si neuuólta níeht chrüteliches plüomen brechen. Nc 88,16 [1,772,7]
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IX: leido-líh
Jochen Splett
1) Háben ih klágonne . ioh léidalib [F: leidilich\ ságenne / ni uuéhi ih les in gáhe . uuar ih ánafahe O V,7,23
X: lido-líh
1) Thóh mir megi lídolih . sprechan uuórto gilíh [P: uuorto gilih; F: uuortoliti\ / ni mag ih thóh mit mor te . thes lóbes queman énte O 1,18,5 f.
Xla: manno-líh
1) altero mannoliih seal sih pidenchen in desem uuortom, da^ allero manno uuelih sinemo pruoder enti sinemo gno% sino sculdifla^e,
... Pn S 44,53 (B)
2) Nu vuillih bidan den rihehan Crist, the mannelihches [< mbnnflkhchfs\ chenist ist WdT S 399,3 3) so nu mánnilih [F: mannilicb\ ist séhenti. O 1,3,40 4) Nu síngemes álle mánnolih bi bárne: O 1,6,15 5) Tha^ er thie uuénege . ni jínde so firdáne / ioh mánnilih [F: mannilich-, D: mánnilih] thes gáhe . búas^u gifahe. O 1,23,8 6) sih
mánnolih bitháhti . quad hímilrichi náhti. O 1 , 2 3 , 1 2 7) Bi thiu búa^et iuih slíumo . ouh mánnilih sih ríuuo. O I,23,55
8) Ioh mánnilih singóume . tha\ sinan ni hóuuue, O 1,23,59 Er lérta thie líuti . tha^ mánnilih gilóubti, O 11,2,9 10) giscríban ist in álauuar / tha^ mánnilih giuuéreti, O
9)
II,4,75 f.
11) thiu mánnilichan rúarit . ther líchamon fuarit:
O
11,12,16 12) ioh góte
thero uuérko . mánnilih githánko. O 11,17,24 13) Tha^ mánnilih [F: mannilictí\ gibórge . sih íámanne ni bélge, O 1 1 , 1 8 , 1 5 14) ioh mánnilih thar sát uuard . O 111,6,44 15) . tha% mánnilih [F: mannilich] gilóube, O 111,9,7 16) . giang uueges gréifonti / Zi mánniliches [P: mánnoliches] uuéntiO
111,20,38 f.
17) Mánnilih [F: mannilich] nu lóufe . thémo sconen dóufe, O 111,21,23 18) Tha^ mánnilih [F: mannilich] irkénne . O IV,13,9 19) mánnilih [F: mannilich] nu thénke . uua\ ínan thesses thúnke. O IV,19,68 2 0 - 2 5 ) vgl. V,1 bis V , 6
26) si uuanta in álafesti . tha£ mánnalih [F: mannilich\ uuesti. O V,7,54
Der Worttyp rossolîh im Althochdeutschen
167
27) Mânnilib [F: mannilich] uuei\ güater . tha^ thiarna ist kristes müater, O V,12,19 28) . thar sorget mânnilib [F: mannilich] bi sih, O V,19,51 29) ûnde uués si dih . ünde mânnolichen gescüldet bähet . so ... Nb 42,25 [1,52,2] 30) Nû ist tiu stimma sâlih scâ% . tâ\ si âlliu sâment in mânnoliches ôrôn ist. Nb 77,20 [1,89,16] 31) uuâ^ mânnoliches âmbâht si %e tûonne. Nb 88,19 [1,102,3] 32) tâ^ téro %uéi sô gemâriu sin . dâ% iro mânnolih iéhen müge. Nb 114,9 [1,133,9] 33) Fâne diu ist châd si . mânnolîh tûrftig ânderes mânnes hélfo. Nb 121,12 [1,142,28] 34) Famés ünde sitis . ûnde nuditas . mâchônt mânnolichen egenvm. Nb 122,20 [1,144,12] 35) Übe mânnolih sô ueruuôrfenero ist . sô er îo fâne mânigorên ferchâren uuirt. Nb 125,8 [1,147,13] 36) Tâ% kôt âllero dingo hêrro gûot si . dés übet mânnoliches sin. Nb 153,9 [1,181,20] 37) Sid âber éiniu diu gûoti mânnolichen erhéuen mâg über die ménnisken . sô ... Nb 198,17 [1,250,29] 38) Uuile du mânnolichemo gâgen sînên uuirden lônôn ? Nb 208,22 [1,267,19] 39) sâmoso dâ% mânnolichemo sôltî geskéhen . dâ% er imo spréchendo erlégetî. Nb 216,24 [1,280,12] 40) sô chûmet mânnolichemo âne fléha . dâ% imo soi. Nb 244,19 [1,322,1] 41) Tîe-dir uui^en uuôltôn . mânnoliches mûote ânagetân uuérden . sensus ûnde imagines . fône ... Nb 256,21 [1,339,21] 42) Nehe'in man neist rehter . unde dîa . mânnolih ist ûnrebter. Ni 55,14 [1,543,15] 43) ételih man est rehter . unde dia . mânnolih neist nieht ûnrehter. Ni 55,17 [1,543,18] 44) Übe man uraget so samo fône allen . ist mânnolih uuîse ? Ni 56,24 [1,544,27] 45) so ist mânnolih non sapiens .so ... Ni 56,26 [1,544,29] 46) mânnolih [o aus i korr.] ist reht. Ni 96,22a [1,579,11] 47) mânnolih ist ûnreht. [von andrer Hand nachgetr.] Ni 96,22b [1,579,12]
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48/49) Ünde übe dâr uuideruuârtîg ist . tér uuân da% mânnolîh réht si . démo uuâne . da^ mânnolîh ûnreht si. Ni 97,6,7 [1,579,21,22] 50) da% mânnolih kûot si. Ni 105,19 [1,587,25] 51) Sélbiu ursa ist pi demo nôrde . mânnelichemo %éichenhâftiu . föne dien siben glâtên stérnôn. Ne 64,14 [1,749,11] 52) Mânnolichemo réhtondo . nîo-mannen anderes héfenonde . dânne sô er uuérd ist. Ne 120,9 [1,801,23] 53) CHRISTVS ist ter uueg . an démo mânnolich kàn sol. Np 12,26 [11,7,13] 54) Gôt der réhte rich tare ist. uuanda er mânnelichemo nâh sinen mérehen lônot. Np 23,8 [11,18,26] 55) Mannolichen leidot dâr . aide fersprichet dâr sin conscientia. Np 28,16 [11,24,21] 56) Dav^ ... disiû léida mêrlt-finstri déro mânnilichen irdriê^en mag . ^e-störet uuerde. Np 36,6 [11,33,13] 57) Der ... mannolichen ârges fermidet. Np 41,20 [11,39,23] 58) Mânnolih der got keséhen uuelle der furhte in. Np 68,16 [11,71,8] 59) Die not sol mânnolih überuuinden mit diémuôti. Np 91,15 [11,97,19] 60) Mânnolîh uuirt iêo-doh in gemêitun getruôbet sines muotes. Np 133,1 [11,143,27] 61) Abel unde cain sint mânnoliches forderen. Np 170,16 [11,188,18]
62) Salutarem hostiam bringen sacerdotes . cor contritum bringe mânnolîh. Np 179,16 [11,198,24] 63) Vnde forhta imo mânnolih. Np 216,9 [11,241,5] 64) Mânnolih pôrgee da\ sîn lîchamo in iro geuualt nechôme. Np 238,4 [11,267,25] 65) Sus chéde mânnelîh. Np 242,24 [11,273,14] 66) Sô uuégoe mânnolih sînen fienden. Np 243,4 [11,273,22] 67) Vn^ ih sus chéde . mânnelichemo. Np 248,22 [11,280,9] 68) mânnelih uuas imo selbo mer. Np 285,16 [11,322,9] 69) Der ist mânnoliches pater . den er bildot. Np 353,20 [11,401,11] 70) F âne diu sî mânnolih iustus. Np 362,11 [11,412,3] 71) Mânnolih lirnee tuôn iudicium. Np 362,14 [11,412,8]
Der Worttyp rossolih im Althochdeutschen
169
72) Dannati ànauuert fóne dèmo mórgene . gat mànnolih smemo uuerche Np 385,11 [11,439,18] 73) Mànnolih \h aus langem x rad. und verb.] si puer . si dièmuòte . unde lóboe Got. Np 424,7 [11,484,1] 74) Des ist mànnolichemo dürft . da\ er ile finden dia miseriam Np 430,11 [11,490,16] 75) ... umbe sina léngi die mànnolih uueiNp 437,26 [11,498,18] 76) Mànnolichemo ist àna desiderium. Np 439,15 [11,500,12] 77) Nu sèhe mannelih uuiéo guot da^ si des er gérót. Np 444,12 [11,505,15] 78) Mànnolihjchen leidot aide intsàget sin conscientia. Np 450,1 [11,511,4] 79) Hier in dirro naht sol mànnolih irhügen nominis dei. Np 454,2 [11,515,17] 80) Die haftent mannelichemo . die sinero situn sint. Np 494,11 [11,559,6] 81) Vaile du manlichemo sin ünreht behalten truhten ? Np 496,9 [11,561,10] 82) unde mànnolih lóbot sinen heiligen nàmen . ièmer unde iémer. Np 529,4 [11,595,17] 83) Mànnoliches séla lóboe Got. Np 529,7 [11,595,21] 84) manda mànnelih mendet da% er dar t'nne uuésen muó%. Np 533,24 [11,600,16] 85) Disa gedingun ferneme mànnelih. Np 564,11 [11,633,22] 86) unde danne chumet mannelichemo lob fone Góte Ngl 118,23 [11,128,4] 87) der ieo selb-selbo Geist injannilichemo sine genàda teilende in-gàgen des er uuile Ngl 284,8 [11,320,23) 88) manda dir nieht mannolich nelichet Ngl 395,9 [11,451,6] Xlb: io-manno-lih
1) So mito\ io mànnolih keuàgo sin déro güollichi. dia er under dien sinén haben màg. Nb 99,10 [1,114,18]
XII: rehto-lih
1) Allero réhtolih . ^tmig,• Al tymilih . cüot; Alli^ réht . cuoi. Ns 1,599,18
XIII: rosso-Uh
1) Róssolih sol frenum hàben. Np 99,4 [11,105,23]
170 XIV: sâlido-lîh
XV: sango-lîh
Jochen Spielt
1) Tânne âllero sâldolîh vmnnesâmiu . iôh ârbéit-sâmiv . ûmbe dâ% kelâ^en uuérde . tâ^ si gûotên lônoe . âlde ... Nb 225,4 [1,293,14] 2) Ist créhto nôt châd si . fône dien oberen geiihten . âllero sâldolih tîen gûot sîn . die in tûgede siéent . âlde ... Nb 226.21 [1,296,6] 3) . . . . âber iro ûbeli sih fâsto hâbentên . âllero sâldolîh ében übel sîn. Nb 226,23 [1,296,9] 4) Ir trîbeNT j hândegen mîg. mit sâldolichero. Nb 227,10 [1,297,6] 1) Unde uuânda sângolîh uuâllôn mâg fône sînemo û\lâ\e ntder . ûn\ demofinften buôhstâbe . ûnde ... Nm 1,853,19 2) ... . dâ^ man ânageléitên béiden bänden . ûfstîgendo fôllesingen muge sângolîh . ûnde obenân negebréste. Nm 1,854,20
XVI: strîto-lîb
1) Témo spréchentemo . âllero strîtolih sib in %uéi téilet. Ne
XVII: teilo-lîh
1) so geskâh ôuh tâ\ . tâ\ âllero téilelîh [D: aller téilelih] tero mérite dûrh-skâffenêr . sîa mâchôta dûrh-skâffena. Nb 149,22 [1,177,17] 2) Unde da^ knôtesta uuéi% si . téilelichen neuuéis^ si. Nb 246,19 [1,324,24] 3) Nîoman neist sô gehûhtîg . tâs^ er âlles téileliches sô uuâla gehûge . sô des knôtesten. Nb 246,19 [1,324,26] 4) Siu ^éichenint uuîo téilelîh [B: erstes i aus / rad.; A: télelîh] lige . ân demo corpore . nais uuîolîh sélbe^ sî. Nk 103,25 [1,459,4] 1) Téro âllero tîerlîh âhtet . tîe slâhent sih sélben ûndûrftes târa %ûo mit uuâfene. Nb 208,16 [1,267,10]
XVIII: tioro-lîh
118.22 [1,800,12]
XIX: ubilo-lîh
1) ... .ferstoßet er u^er sînemo riche . âllero ûbelolîh . mit téro nôt-hâftûn rihti des ûrlages. Nb 223,2 [1,290,11]
XX: wego-lîh
1) Er gegagenmerta sih uuégelichemo der guôt neist. Np 115,19 [11,124,14]
XXI: wîbo-lîh
1) Uuanta quimit noh thiu %iit. tha% uuibilih [F: uuibilich] fon iru quit j uuôla uuard thia lébenta . thiu kinde nio ni fâgeta O IV,26,35 f.
XXII: wihto-lîh
1) uuîo gérno uuihtelîh sî .fône dîen milligên uuârbôn . dero stnnigûn sêlo. Nb 168,18 [1,204,14]
Der Worttyp rossolîh im
Althochdeutschen
171
2) ... . tä^ habet sih tero natura gelôubet ! an déro âllero uuihtelih pestât. Nb 192,17 [1,241,10] 3) Unde nâh sînemo bilde . heilet uuihtelih quäle. Nk 103,16 [1,458,22] XXIII: worto-lih
1) vgl. X,1
XXIV: ^ito-lth
1/2) IJuânda éne% in %itelib uuâr ist . föne diu ist in %itelib uuâr ze spréchenne. Nb 189,5 [1,236,4,5] 3) uuânda nieht éine negât . pe note uuésen . tia uuila ist . also sedere ist . unde in %itelîh pe note uuésen . sô dd% ist . mortalem esse. Ni 43,16 [1,533,10] 4) Not ist manne . ünt^ er nesisget . non sedere . imo ist aber in vçitelih nôt . non immortalem esse. Ni 43,20 [1,533,13] 5) Unde uindest tu dicchôr an sumeltchên dd% éina uuâr . dânne da% ander . ni io döh nieht in ^itelih. Ni 45,16 [1,534,29] 6) Ih lobon Got in tftelih. Np 104,23 [11,112,7]
Vom Standpunkt der historischen Wortbildungslehre gesehen handelt es sich nach herrschender Meinung bei diesem Worttyp um eine ,verkürzte' uneigentliche Zusammensetzung. Wilhelm Horn hat diese Auffassung in seinem Buch , Sprachkörper und Sprachfunktion', in dem er in Auseinandersetzung mit den Junggrammatikern Kürzungsvorgänge bei Wörtern und Wortgruppen behandelt, prägnant zusammengefaßt: „Kürzungen sind auch, wie schon Henrici, Beitr. 5, 57 gesehen hat, ahd. mannolih .jedermann', dingolîh ,jedes Ding' usw. Die ursprünglichen Formen waren, wie Behaghel erkannt hat, manno und dingo gihwilih, nicht gilth ,gleich', wie man vorher annahm, manno gihwilih ergab ahd. mannogilih (nhd. männiglich), mannolîh, mannlîh\ im Mnd. ist *manno gihwilic sogar zu einsilbigem male gekürzt." 5 Der Grund für diese Hypothese Behaghels 6 ist ein semantischer; denn nur so lasse sich der pronominale Begriff ,jeder' 7 gewinnen. Zur Datierung dieses erheblichen Kürzungsvorganges wird allerdings nichts Näheres ausgeführt. Nach Ausweis des Abrogansbelegs (IV,1) müßte dies bereits in voralthochdeutscher Zeit geschehen sein. Außerdem ist bemerkenswert, daß alle Phasen dieses Vorgangs in Form äquivalenter Aus5 6 7
Horn (1923), S. 59. Behaghel (1913), S. 176; Behaghel (1923), S. 387 f. Vgl. auch schon Weinhold (1883), S. 294. Schröder (1961), S. 175.
172
Jochen Splett
drücke im Althochdeutschen bezeugt sind, wie die folgenden Beispiele 8 zeigen: steto giwelih: In steteo . gabuue lihberu. F 31,6 kunno-gilih: dara scal queman chunno kiliha\ Musp. S 67,32 boumo-lih: vgl. 1,1 Dies ist bei vergleichbaren Kürzungen sonst offensichtlich nicht der Fall. Auch im Hinblick auf das Nebeneinander von äquivalenten Konstruktionen mit gi-welih und welih — vgl. rahhöno welih : da% er rahono [uJueliha re[h]to arteile. Musp. S 69,64 — erscheint eine Kürzung von gi-welih zu gi-lih nicht sehr plausibel; ein Nebeneinander von gi-welih und welih einerseits dürfte auch ein Nebeneinander von gi-lih und -Ith andererseits entsprechen. Zu dem semantischen Problem hatte bereits Wilhelm Wilmanns 9 Stellung bezogen und in Auseinandersetzung mit Heinrici die Auffassung vertreten, daß die Annahme einer Kürzung nur dann erforderlich sei, wenn man die Bildungen auf -lih auf das Substantiv lih ,Körper, Gestalt, Art' bzw. genauer auf dessen Vorstufen zurückführt. Er erwägt, statt dessen von „einem gleichlautenden Stamm in der Bedeutung ,gleich, glatt, passend'" 10 auszugehen und verweist auf entsprechende alte Partikelkomposita im Gotischen und Althochdeutschen: got.ga-leiks,ähnlich, gleich' 11 ; got. ana-leiko ,auf gleiche Weise' 12 ; ahd. in ana-lihhi ,in gleicher Weise, ganz entsprechend' 13 , das ein *ana-lih voraussetzt. Demzufolge liegen hier zwei parallele Bildungen auf -gilih bzw. -lih vor. Erstaunlich ist, daß diese Auffassung von Wilmanns meines Wissens in der Folgezeit 14 — zumindest im Zusammenhang des Typs rossolih — einfach übergangen worden ist. Das trifft auch auf die modifizierte Auffassung von Eduard Hermann 15 zu, der von einer Kürzung von gi-we-lih zu -gi-lih und von we-lih zu -lih auf voralthochdeutscher Stufe ausgeht; zumal auch hier das Argument nicht überzeugt, daß die „Silbe -hwe- funktionslos" 16 geworden sei. Nicht zu diesem Bildungstyp gehören bestimmte Adjektive auf -lih, deren Basen Wörter zugrunde liegen, die Zeitabschnitte bezeichnen 17 . Vgl. Heinrici (1878), S. 54 ff., Wilmanns (1899), S. 491 f., und die Zusammenstellungen bei Erben (1950), S. 197 ff. 9 Wilmanns (1899), S. 492. 10 Wilmanns (1899), S. 477. " Feist/Lehmann (1986), S. 142. 12 Feist/Lehmann (1986), S. 31. 13 Karg-Gasterstädt/Frings (1968), Sp. 432. 14 Vgl. z.B. Henzen (1965), S. 203; Schröder (1961), S. 175; Grimm (1983), Sp. 1098. 15 Hermann (1941), S. 192 f. 16 Hermann (1941), S. 193. 17 Vgl. Wilmanns (1899), S. 492; verunklart bei Henzen (1963), S. 203. 8
Der Worttyp rossolih im
Althochdeutschen
173
Eine substantivische Verwendung wie bei den Pronominal-Adjektiven ist hier nämlich nicht anzutreffen, wie die folgende Belegübersicht zeigt: tago-lth
1) kisa^jtero ... des salmsanges tagalibjchen ... / (disjposite ordine psalmodi^ diurjne reliqui omnes psalmi.) B S 228,32 2) I ... ^a imbisge / tagalibcbin .../ (Sufficere credimus ad refectionem / cotidianum ...) B S 244,23 3) tagalihhem ... citim die wer che / cotes ... / ... nalles / kehlavffit (Diurnis autem horis qui ad opus / dei post uersum et gloriam primi I psalmi post uersum dicitur non / occurrerit;) B S 250,14 4) unsar brät tagalibha^ gib uns biutu T 34,6 5) Da\ sie tagelicba muohi bäbeton . Jone dero übelon conuersatione. Np 363,25 [11,414,2] 6) Vnser tagelicba bröt . kib uns biüto. Np 564,6 [11,633,16] 7) tage liebe uuerra (Cottidiana scandala [ cbellent animam iusti.]) Ngl 242,26 [11,273,17] 8) Diuturnum : tacoliban Pa dagolibba Kb tagalih Ra St.1,106,17 9) Diurnum : tagoliban R St.I,107,15 10) Cottidiana sollicitudo : tagalih sorga Clm 19440; Wien, Cod. 2723 u. 2732 tagilih sorga Clm 14689 St.I,809,48 f. (2 Cor. 11,28: Praeter illa quae extrinsecus sunt instantia mea cotidiana sollicitudo omnium ecclesiarum.) 11) Diurno : tagalichemo St. Gallen, Cod. 299 St.II,263,47 (Matth. 20,2: Conuentione autem facta cum operariis ex denario diurno, misit eos in uineam suam)
mänöd-lth
1) Menstruis : manotliben Clm 18140; Clm 19440 manodliben Clm 19440 St.II,268,35 (Gregor, Homiliae in euangelia 1,2: luna autem in sacro eloquio pro defectu carnis ponitur, quia dum menstruis momentis decrescit, defectum nostrae mortalitatis designat.) 2) Menstrua luna : manothlicher Schlettstadt, Ms. 7 (100) St.II,681,ll (Vergil, Georgica 1,353: ..., ipse pater statuit, quid menstrua luna moneret, ...)
Nicht hierher gehören die aufgrund ihrer Bedeutung den gewöhnlichen' //¿-Bildungen zuzuordnenden Adjektive mittitaga-lih ,mittäglich, am Mittag' 18 , nahtlih ,nächtlich' 19 und stunt-\stuntün-lih .augenblicklich, gegenwärtig' 20 . Hinzukommen jedoch möglicherweise *nahto-lih und *jär-lih, die 18 19 20
St.1,520,42. B S 248,5; 249,19; H XXIV,12,1; XXV,2,3; Nc72,2 [1,756,8], St.1,766,31; 1V,332,11.
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Jochen
Splett
im Althochdeutschen zwar nicht bezeugt, aber aufgrund der überlieferten Adverbien nahto-lihhes — Vbe des negnudget . so tiésgo ih min bètte nahteliches Np 20,8 [11,15,24] — ,jar-lihho — annuatim iarlicho St.II,615,75 — ,jàr-lihhes — consules ... . die iàrliches keuuébselòt màrtiri. Nb 89,18 [1,103,7] - , j à r Ithhùn — Quotannis iarilichun ( < ibrklkchxn) St.II,527,36 — jàr-lihhém — ùnde irò census . tén sie iàrlichen infàhen sóltòn. Nb 126,16 [1,149,10] wohl vorauszusetzen sind. Bedeutungsmäßig stehen diese Adjektive dem Typ rosso-lih nahe, da sie die regelmäßige Wiederkehr eines Ereignisses bezeichnen: ,täglich' < ,an jedem Tag'. Der adjektivische Gebrauch dürfte dabei über den adverbialen vermittelt sein. Entgegen Wilmanns 9 ist es aber nicht so, daß den Adjektiven diese iterative Bedeutung nur insofern zukommen könne, als sie auf „Genitiv-Verbindungen" beruhen bzw. nach ihrem Muster gebildet sind. Der Kollokationsklasse ,Zeitabschnitt' ist nämlich von der bezeichneten Sache her das iterative Moment inhärent; das durative bedarf dagegen einer zusätzlichen Kennzeichnung, wie der Typ dri-tag-ig;21 zeigt. So ist es auch fraglich, ob die in der Pariser und St. Galler Abroganshandschrift sowie in der Samanunga bezeugte Fuge in tago-lih (Beleg 8 u. 9) 22 als Indiz dafür gelten kann, daß alle Wörter dieses Typs als „Genitiv-Verbindungen" 9 zu gelten haben. Bloße Angleichung an den Typ rossolih ist zumindest in Erwägung zu ziehen. Die Entscheidung wird auch dadurch erschwert, daß schon im Abrogans in der unmittelbar vorhergehenden Glosse Diurnum : decalihida2ì Pa dakalihhidha Kb tagalihida Ra 24 statt -o- der bei den gewöhnlichen Suffixbildungen auf -Ith zu erwartende Fugenvokal auftritt. Eine Entscheidung in jedem Einzelfall ist kaum möglich, weil der Verfall der alten Fugenvokale im Althochdeutschen schon weit fortgeschritten ist. Dies zeigt sich sogar bei dem so klar abgrenzbaren Bildungstyp rossolih. Vgl. die Tabelle S. 175. Bemerkenswert ist allerdings die Konstanz des Fugenvokals bezogen auf das jeweilige Wort 26 . Abgesehen von mannolih, das aufgrund seines An-
21 22
23 24 25
26
Vgl. Wilmanns (1899), S. 462. Der Samanunga-Beleg dürfte, wenn auch mit verändertem lateinischen Lemma, auf den Abrogans-Beleg zurückgehen. Zur Verschreibung ec für ac vgl. Splett (1976), S. 171. St.I,106,15. Die drei Belege des Notker-Glossators sind jeweils in der Form +1 bei den Notkerbelegen vermerkt. Die in eckige Klammern eingeschlossenen Belegzahlen beziehen sich auf verbesserte Belege vor der Korrektur. Die mit * bezeichneten Fälle finden sich als Abweichungen von der sonstigen Überlieferung nur in einer Handschrift, die jeweils in der Belegübersicht nachgewiesen ist. Aus der Statistik bei Gröger (1911), S. 46, ist dies nicht zu ersehen, zumal er die hier unterschiedenen Bildungstypen dabei nicht getrennt aufführt.
Der Worttyp rossolîh im Althochdeutschen
-0Gesamtbelege
O
N
175
-i _
-ePn/Gl
N
boumo-lîh
1
1
dingo-lîh
31
31
dioto-lîh
1
fierôno-lîh
2
friunto-lîh
1
goto-lîb
1
1
guoto-lîh
10
5
krûto-lîh
2
2
leido-lîh
1
lido-lîh
1
WdT
O
N
-a-
-0-
O
N
2* 1 2/1* 7
H]
1
4/1*
1*
1
1
manno-lîh25
88
iomanno-lîh
1
rebto-lîh
1
rosso-lîh
1
1
sâlido-lîh
4
4
sango-lîh
2
2
strito-lîh
1
1
teilo-lîh
4
tioro-lîh
1
ubilo-lîh
1
wego-lîh
1
wîbo-lîh
1
wihto-lîh
3
ivorto-lîh
1
^îto-lîh
5
2 46+1 1*
1
9+ 1
1
24
1
1+ 1 H]
1 1
4 1 1 1 1 3 1 5
172
5
89
3
32
1
33
2
5
2
Gesamtbelege
O
N
Pn/Gl
N
WdT
O
N
O
N
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Jochen Splett
Schlusses an die Indefinit-Pronomina eine Sonderstellung einnimmt und deshalb wohl auch als einziges den in mittelhochdeutscher Zeit einsetzenden Untergang des Typs rossolih überdauert hat, gilt dies für Notker uneingeschränkt. Die Belege dingelih (11,21 u. 24) widersprechen dem nicht; denn sie stehen als Varianten nur in der St. Galler Handschrift B (Cod. 818). Bei Otfrid verstößt nur der Beleg güatilih (VII,5) in den Handschriften V (Cod. Vindob. 2687) und P (Cod. Pal. Lat. 52) dagegen; in der Handschrift F (Cgm 14) sind hier jedoch nur Belege mit dem Fugenvokal -a- überliefert. Die abweichende Form leidilich (IX, 1) steht dagegen nur im Fringensis. Die Verbesserung von friuntalih zu friuntilih (V,l) durch den Korrektor im Wiener Codex, der nach den Untersuchungen von Wolfgang Kleiber 27 mit Otfrid zu identifizieren ist, unterstreicht noch zusätzlich das Prinzip der Wortkonstanz. Hinsichtlich der wechselnden Form des Fugenvokals, insofern er von der lautgesetzlich zu erwartenden Form abweicht, ist keine Gesetzmäßigkeit zu erkennen. Der vorangehende Wurzelvokal hat offensichtlich keinen Einfluß auf die Qualität des Fugenvokals, wie beispielsweise stritolih (XVI, 1) gegenüber %ttelih\%ttelih (XXIV,1—6) bei Notker zeigt, säldo-lih statt sälidono-lih — vgl. fierdno-lih (IV,1—2) im Abrogans — ist im Hinblick auf den Gen.Pl. säldon bzw. saldon bei Notker 28 und den vereinzelten althochdeutschen Belegen auf -o bei den o-Stämmen 29 eine zu erwartende Verkürzung. Auffällig aber ist das Fehlen des Fugenvokals bei dem nur bei Notker bezeugten tioro-lib (XVIII,1), zumal hier wie auch in weiteren elf bzw. indirekt über ein entsprechendes Adverb in fünf Fällen Pronominal-Adjektiv und Adjektiv nebeneinanderstehen: boumo-lih (I) / boum-lih ? .baumartig' (Gl) 30 dingo-lih
friunto-lih goto-lth
guoto-lih
(II) / ding-lih
,Gerichts-, gerichtlich ...' (N, Gl)
(V) / friunt-lih ( V I ) / got-lih
.förderlich, nützlich' (Gl)
, g ö t t l i c h ' (I, N , G l )
(VII) / guot-lih
,gut, heilbringend . . . ' (I, Wess, F, G l )
guot-libho Adv. .vortrefflich; freundlich ...' (N, Gl) leido-lih
(IX) / leid-lih
,hassenswert, verabscheuungswürdig . . . ' (T, O, Gl)
lido-lih (X) / —; lidu-libho Adv. »stückweise, Glied für Glied' (Gl) manno-lih
( X I a ) / man-lib
.männlich' (Gl)
rehto-lih (XII) / reht-lih .gerecht; rechtlich ...' (B, T, Cap, Gl) sango-lih 27 28 29 30
( X V ) / sang-lih
.klingend' (N)
Kleiber (1971), S. 87 ff. Vgl. Sehrt/Legner (1955), S. 424. Schatz (1927), S. 218. Vgl. Splett (1976), S. 326.
Der Worttyp rossolîh im strito-lih teilo-lih tioro-lih ubilo-lih wibo-lth
worto-lih ^ito-lih
Althochdeutschen
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(XVI) / —; eiunstrit-lih .beharrlich, hartnäckig' (Gl) strit-lihho Adv. ,heftig; beharrlich ...' (Gl) (XVII) / - ; teil-ltbho Adv. anteilmäßig' (Gl) (XVIII) / tior-lih ,wild, tierisch' (N, Gl) (XIX) / —; ubil-lihho Adv. ,böswillig, in boshafter Weise' (Gl) (XXI) / wib-lib .weiblich, fraulich' (Gl) ( X X I I I ) / —; wort-lihho
(XXIV) / ^it-lih
Adv. ,wörtlich' (Gl)
.zeitlich; augenblicklich ...' (N, Ngl, Gl)
Dieses Nebeneinander ist bei Notker in weiteren vier Fällen (II, VI, XV, XXIV) und indirekt in einem Fall (VII) anzutreffen, so daß bei ihm noch von einer klaren Trennung dieser beiden Bildungstypen auszugehen ist. Dies umso mehr, da im Gegensatz zu Otfrid nur bei ihm — abgesehen von dem Beleg im Freisinger Paternoster (XIa,l) — vorangestelltes aller anzutreffen ist, das den substantivischen Charakter dieser PronominalAdjektive unterstreicht und aufgrund der flexi vischen Kongruenz mit der Basis die Abgrenzung zum Adjektivtyp augenfällig macht. So wäre auch die Möglichkeit eines Abschreibfehlers zu erwägen und dementsprechend tierolih zu konjizieren. Wie man sich in dieser Frage auch entscheidet, in jedem Fall ist mit Graff 32 entgegen dem Notker-Wortschatz und dem Notker-Glossar 33 das Pronominal-Adjektiv vom Adjektiv tiorlih zu scheiden und als eigenes Lemma anzusetzen.
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31 32 33
Vgl. Müller/Frings (1950), S. 432 ff.; Karg-Gasterstädt/Frings (1968), Sp. 141 f. Graff (1840), Sp. 448. Sehrt/Legner (1955), S. 505; Sehrt (1962), S. 222. Dasselbe gilt für goto-lib\got-lib\ Sehrt/ Legner (1955), S. 234; Sehrt (1962), S. 79.
178
Jochen
Splett
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EDUARD STUDER,
Freiburg i.
Ü.
Abrogans 1 2 . 9 - 1 8 Ater niger
salomer a, salauuer b, salauer c souuar^ abc
Atra nigra tenebrosa obscura
salauuo ab, saluo c somarro ab, suampo c ßnstro ab, finistro c tmclo ac, tunchlo b
Atrum nigrum tenebrosum obscurum
salauui ab, salui c souuar^ ab, suars^ c Jinstar ab trncal a, tumbal b
Innerhalb der rund 3670 Abrogans-Vokabeln 1 gibt es wenige Stellen, die sich formal derart geschlossen durch alle drei Haupthandschriften hindurch präsentieren wie die eben zitierte. Und doch gibt sie ein grammatikalisches Rätsel auf, das schon dem wissenschaftlichen Entdecker des Denkmals um 1812 in St. Gallen aufgestoßen ist: das -o im Nom. Sg. Fem. eines st. flektierten Adjektivs 2 . Es geht um die ahd. Entsprechung des ungedeckten Auslauts idg. -ä, germ. -5 der Nominalendungen Nom. Sg. Fem. und — mit identischem Kasussuffix — Nom. Akk. PI. Neutrum. Unsere ahd. Grammatiken setzen im Nom. Sg. Fem. des st. Adjektivs als ,ursprüngliche' und ,echt nominale' Form blint ein, als .pronominale Neubildung' obdt. blintiu, fränk. blint(i)u [Paradigma, flekt. und unflekt. Form schon bei Jacob Grimm DGr. I 2 (1822) 722; Differenzierung nach Dialekten seit Braune PBB 2 (1876) 164 f.]. Über die zeitliche Abgrenzung bzw. Sukzession der Endungen -iu und -u und deren Verhältnis zu got. 1
2
Stefan Sonderegger, Die germanistische Bedeutung des ,Abrogans' und der St. Galler .Abrogans'-Handschrift (in: Das älteste deutsche Buch: Die ,Abrogans'-Handschrift der Stiftsbibliothek St. Gallen, im Faksimile herausgegeben und beschrieben von Bernhard Bischoff, Johannes Duft und Stefan Sonderegger, St. Gallen 1977), Textband Seite 123, Anm. 32. Überraschend auch das salauui (statt salauuaim Neutrum; salo ist »-Stamm, flektiert aber hier mit ya-Flexion, wie ein Parallelfall bei maro nahelegt: s. Braune/Mitzka, Ahd. Gr.8 Tübingen 1953, § 253 Anm. 1.
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Eduard
Studer
-a hat sich — mit längerer Bannung des Blicks durch das lituslaw. Pronominalenklitikon -ja beim ,bestimmten' Adjektiv — im Anschluß an W. Scherer zGDS 1 (1868) 402 ff. eine lebhafte Diskussion entwickelt, vgl. Sievers PBB 2, 121, Braune ib. 164 ff., Paul ib. 6, 164, Brugmann Gdr. d. vgl. Gr. II 761, Kögel AfdA 19, 242 f., Sievers PBB 19, 557 ff. Das wichtigste, wenn auch noch immer umstrittene Ergebnis der Kontroverse stammt von Braune PBB 2,164 ff.: auch das fränk. -u sei aus pronominalem -iu herzuleiten, genauer aus -iu, daher nach demy-Schwund dort Abschwächung zu -e\ demgegenüber -iu bzw. bair. -eu im Obdt. bis ins 15. Jahrhundert. Kögels Einspruch AfdA 19, 242 f. ließ Wilmanns DGr. III 427 f. nicht gelten, gab aber zu, es sei „sogar wahrscheinlich", daß zur Zeit des Eindringens von -iu ein älteres -u < germ. -6 „noch nicht ganz erloschen" war und dann mit -u < -iu zusammenfiel. Dieses postulierte ehemalige *-u leitete Braune direkt aus dem got. -a her: „den lautgesetzen gemäß wurde aus dem got. blinda [...] *blintu" PBB 2, 166 3 , so daß sich die Reihe ergab: idg. -ä > urg. -ö > got. -a > ahd. -u. Wo soll hier die oben aus dem Abrogans belegte Form auf -o ihren Platz finden? Sie hat die erwähnte Diskussion aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nie wirklich beeinflußt und ist weder in den historischen Dt. Grammatiken von Grimm, Wilmanns und Paul noch in den Ahd. Grammatiken von Braune/Helm/Mitzka, Naumann, Schatz und Schwarz und auch nicht in den obdt. Spezialgrammatiken von Weinhold und Schatz angeführt, obschon in der genannten junggrammatischen Auseinandersetzung die Abrogansstelle 12.11 — 14 mehrmals erwähnt ist, freilich fast ausschließlich durch einen beiläufigen Hinweis auf Franz Dietrich, der in seiner ,Historia declinationis theotiscae primariae e fontibus' (Marburg 1859) S. 6 Anm. 11 einige Belege für -o anstelle von erwartetem -u zusammengestellt hatte, darunter auch Abrogans 12.11 ff. Allerdings waren jene Votantan von andern Sprachdenkmälern ausgegangen; die erste grammatische Abrogans-Analyse lieferte erst 1879 Rudolf Kögel (,Über das Keronische Glossar'), dessen Arbeit 1931 Georg Baesecke ersetzte (,Die Sprache des Deutschen Abrogans' in PBB 55, 321—376). Der Erstling des Leipziger Zarncke- und Braune-Schülers Kögel war bereits mit dem Instrumentarium und im Geiste junggrammatischer Forschung geschrieben: „Aus urgerm. *^ebo mußte lautgesetzlich entstehen ahd. *gebu *geb" (S. 148). Die geforderte Entwicklung urg. -ö (got. -a) > -(u) bezog ihre Stützen zwar aus dem Nordischen (um. alu und andere 3
Die unglückliche Formulierung „wurde aus got ..." vermied, bei sachlich gleicher Ansicht wie Braune, Rudolf Kögel im AfdA 19, 243: ... „so daß also die adjectivformen auf -u den gotischen auf -a getrost gleichgesetzt werden dürfen".
Abrogant 12.9- 18
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Runenbeispiele, altn. giqj mit »-Umlaut) und aus dem Altenglischen ($iefu, wofür aber auch y e f o erscheinen kann, vgl. Sievers/Brunner Ae. Gr.4 § 252), während im Ahd. das Hauptbeispiel (der Nom. Sg. kurzsilbiger Feminina der o-Dekl.) durch das Eindringen der Akk.-Endung versagt, ebenso der ursprünglich identische Auslaut des Nom. Akk. PI. neutraler «-Stämme (Endungslosigkeit bzw. -ir statt -»); für das Ahd. bleibt in beiden Fällen bloß das pronominale diu. Nun bietet aber gerade der Abrogans außer dem gewöhnlichen -a des Akk. auch einige Formen des Nom. Akk. Sg. der o-Stämme auf -o: gamahhido a 8.12 (bc -a), somilivgo b 30.6, umritho ab 68.6, maniliho ab 186.37 und bc 248.3 (hier Akk.), moa^ico bc 208.6, unmatliho bc 263.33 (nach Baesecke PBB 55 § 33.1a). Zu diesen mit einer Ausnahme schon von Kögel S. 149 erwähnten Beispielen stellte Otto Bremer ZfdA 31 (1887) 205 f. das ero des Wessobrunner Gebets und bemerkte dazu, es habe nichts Anstößiges, daß sich unter den Abrogans-Beispielen auch Akkusative befänden: „setzt doch die spätere alleinherrschaft der accusativform eine zeit voraus, in der beide formen durcheinander geworfen waren". Auffällig dagegen, fährt Bremer fort, „scheint das -o der endung für eine so frühe zeit zu sein, allein das Wessobr. gebet zeigt auch in seo und dino ebenfalls -o für westgerm. -u. übrigens kommt ein solches -o selbst in der ältesten ahd.zeit gar nicht so selten vor. ich führe aus dem Keron. gl. nach Kögel an: ..." Er zählt nun etwa 15 unerwartete oEndungen auf, nämlich Dative wie stimno b79.28 (einziges -o in b neben 16 a hat auch hier -ü), Instrumentale neutraler «-Stämme wie diu (: eo modo) a 128.32 und thiu rehto (: ea ratione) b 129.31 (sonst stets -#), schließlich Endungen der 1. Person Sg. Ind. Präs., wo Kögel (S. 179) in der Handschrift a lauter -», in b dreimal -o (neben 29 -u und 1 -a) und in c einmal -o (19 -«, 1 -uo) belegt hatte; auch Baesecke zählt in PBB 55, 373 im ganzen Abrogans 4 -o. (Die Verbalendung, andrer Herkunft, muß wegbleiben.) Hier erhebt sich zunächst die Frage, ob alle diese Fälle von o-Endungen überhaupt miteinander verglichen werden dürfen. Wenn man den Blick nur auf das Schwanken zwischen -u und -o im Ahd. richtet, kann man dafür in der Formenlehre viele Beispiele finden, ohne daß man bis zu der Vorherrschaft des -o bei Notker hinabzugehen braucht; man vergleiche die Dative und Instrumentale Sg. der a-,ja- und o-Stämme und dieselben Kasus des st. Adjektivs im Ahd. (und auch im Altsächsischen). Der Dativ Sg. steht indessen nicht unter den gleichen auslautgesetzlichen Bedingungen wie der Nominativ Sg.; bloß für den Instrumental Sg. darf man ebenfalls ungedecktes urg. -5 voraussetzen, doch nicht ausschließlich, da die got. Belege (pe) auf urg. -e zurückweisen (Hirt, Hdb. d. Urg. II 30).
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Eduard Studer
Wie läßt sich die vom Altenglischen und Altnordischen suggerierte Entwicklung urg. -5 zu -u für das Ahd. tragfähig belegen? In der grammatischen Literatur kann ich dafür nur zwei Beispiele finden, beide aus dem Abrogans: b 255.1 un^e einu (: unzia una; fehlt ac, Kögel S. 176, bei Baesecke nicht erwähnt). Für den Nom. Akk. PL: b 49.36 uuaffan himilischu (: arma caelestia; a hat aber himillihiu, weshalb Baesecke PBB 55, 372 *himilisciu für *a& deutsch ansetzt) und b 205.5 clesinu leohtfa% (: cicindelae; fehlt ac, sonst müßte die Form vielleicht ebenfalls emendiert werden). Diesen beiden Fällen stehen aber nach Kögel S. 175 und Baesecke PBB 55, 372 fünf sichere -o gegenüber: ab 18.18 chrumbo (: tortuosa; c hat kiridan), ab 38.13 f. farsoffano und farsouuolgano (: Absorpta, degluttita; c fehlt), b 252.3 f. kihei^antlihho und uuillantlihbo (: spontanea, uoluntaria; ac fehlen). Baesecke bemerkt dazu, alle fünf könnten Feminina sein, aber da die Endungen des Nom. PI. Neutrum und des Nom. Sg. Fem. im Idg. und im Urg. identisch sind, berührt das unser Problem nicht. Freilich müßten jetzt die frühen fränk. Belege für den Nom. Sg. Fem. und für Nom. Akk. PI. N. des st. flektierten Adjektivs noch einmal daraufhin geprüft werden, ob sich allenfalls doch v o r dem Eindringen des pronominalen -iu die Form auf -u sichern ließe; ich erwähne jedoch, daß Sievers, der 1876 bestimmt erklärt hatte: ,,-u ist im ahd. die älteste adj.-endung für nom. fem. sg., nom. pl. n. und instr. sg." PBB 2, 121, diese Meinung für den Nominativ fallen ließ (vgl. PBB 19, 558), nachdem Braune aufgrund seiner systematischen Sammlungen zur ahd. Grammatik ebenso bestimmt erklärt hatte, die -iu-Formen seien älter als die mit -u (PBB 2, 164); im Altsächsischen belegen Gallee und Holthausen für die entsprechenden Adjektivformen gar keine -u. Beim Substantiv anderseits finden sich im As. etliche Belege für den Nom. Sg. reiner ¿"-Stämme, die nicht den regulären Ersatz durch das -a des Akk. aufweisen und die man gewiß anders auffassen darf, als es Gallee tut: „Einige male findet sich ein o im ausgang, wol Schreibfehler" (As. Gr.2 § 307 Anm. 1). Wir stehen vor dem Befund: Die lautgeschichtliche Fortentwicklung der ungedeckten Kasusendung idg. -ä, urg. -ö kann im Ahd. nur noch in wenigen Resten beobachtet werden, da sie teils geschwunden (wort, blint), teils durch die Pronominalendung ersetzt (blintiu), teils durch die Akk.Form (geba) verdrängt ist. Wo sie sich aber noch zeigt — das scheint, von unsichern Trümmern wie ero im Wessobr. Gebet abgesehen, ausschließlich im ältesten deutschen Buch, dem Abrogans, der Fall zu sein —, da finden wir sie überwiegend auf -o ausgehend und bloß in zwei ungesicherten (weil bloß in einer Handschrift bezeugten) Fällen auf -u. Das Lautgesetz (urg. -ö > -u) ist aus andern germanischen Dialekten gewonnen und auf das Ahd. übertragen worden; seine Autorität war
Abrogans 12.9- 18
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indessen so groß, daß es sich auch durch eine genauere Abrogans-Analyse nicht mehr erschüttern ließ. Kögel äußerte sich zu den zwei b-Stellen mit -u im Nom. PI. N. des st. Adjektivs: „Außerdem begegnen aber zwei formen mit erhaltenem -#" S. 175), während er zu den fünf Gegenbeispielen (wovon drei durch eine zweite Handschrift gesichert) bemerkte: „Viel geben möchte ich nicht auf diese formen mit -o" (ib.). Auf derselben Seite besprach er die eingangs zitierte, in abc übereinstimmende Adj.Endung des Nom. Sg. Fem.: „Einigemale ist -o (aus -u) bewahrt, wenigstens sehe ich nicht, wie man die formen anders auffassen soll". Eine seltsame Logik! Baesecke wurde mit den o-Formen nicht so leicht fertig. Er erwähnte sie schon 1918 in seiner „Einführung in das Ahd." § 103.2, wo er zwar ebenfalls die beiden »-Belege aus b als Reste der Normalform bezeichnete, für die fünf -o aber eine Erklärung suchte: „Schwächung zu o". Ähnlich noch 1931 in seiner Abrogans-Grammatik PBB 55: „rest des früheren « < < ? ' ( § 32.5 c), „Diese o sind aus u < ö des alten nom. zu erklären" (§ 33.1) und zusammenfassend: „Wenn man nach Einf. § 103.2 als zugrundeliegende endungen der beiden adjectivformen nicht das pronominale iu, sondern das alte substantivische u ansetzt, so kann man sagen: in all diesen Worten steht o für ein u, das nach lang- oder mehrsilbigem stamme lautgesetzlich fallen mußte oder nur durch ausgleich fest blieb, hier aber wenigstens in der Schwächung zu o erhalten ist. Diese Schwächung hätte dann auch schon andre u ergriffen, so daß hier ganz vorzeitliches und jugendliches nebeneinander stünden." (§ 14.4)
Kann es sich bei unserem -o um „Jugendliches" handeln, wo es doch eine Endung belegt, die in andern ahd. Quellen synkopiert oder durch einen fremden Auslaut verdrängt ist? Auch im Abrogans ist für Nom. Sg. Fem. und Nom. Akk. PL N. des st. Adjektivs -iu die Norm, wobei wir (da von den b-Formen auf -u die einzige mit ac vergleichbare Stelle durch die Handschrift a in -iu korrigiert wird) doch wohl berechtigt sind, der bUberlieferung hier nicht zu trauen. Wir sehen also schon im Abrogans den Pronominalauslaut siegreich in die Adjektivendung eingedrungen. Die Belege auf -o indes sind daneben noch genügend zahlreich, so daß es kaum angeht, sie zu übersehen oder sich mit dem Blick auf das spätere Schwanken zwischen ahd. -u und -o zu beruhigen. Abrogans 12.11 — 14, der Hauptbeleg, den die Handschriften abc in seltener Übereinstimmung vorführen und das Femininum durch die anderen Genera flankieren, also keine Möglichkeit einer Fehlinterpretation zulassen, steht weit vorn im Texte, in jenem Teil abj, den Baesecke nicht nur kritisch ediert (wobei er jene o-Formen schon dem Archetypus zuerkennen mußte: Altdt. Textbibliothek 30, S. 20), sondern auch als „altertümlichste Überlieferung" (PBB 55, 321) zur Grundlage seiner Abrogans-Grammatik gewählt hat.
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Eduard Studer
Die Endung -o muß im Urg. und noch im Urdeutschen als femininbildend empfunden worden sein, -u nicht. Als sich im Frühahd. diese Wirkung verlor, bemächtigte sich das st. Adjektiv (das ein Genusmerkmal mehr benötigt als das sw. Adjektiv und das Substantiv) der Endung des Demonstrativpronomens als der nächstliegenden Möglichkeit, wieder deutliche Beziehungen zu den Genera zu schaffen. Das ,Lautgesetz' -o > -u aber darf ohne sichere Belege nicht aufs Ahd. und bestimmt nicht aufs Obdt. übertragen werden.
JOHANNES DUFT,
St. Gallen
Wesenszüge der Persönlichkeit Notkers des Deutschen Es mag wie eine Vermessenheit erscheinen, wenn sich ein Historiker, der zwar Mediävist, nicht aber Germanist ist, in Anbetracht der überflutenden Fachliteratur nochmals Notker dem Deutschen zu nahen wagt. Doch es soll nicht unter germanistischen Gesichtspunkten, sondern aus einer sozusagen personenbezogenen Betrachtungsweise geschehen, und dieses zweifach: einerseits bezogen auf die Persönlichkeiten der Sankt-Galler Mönche namens Notker und Ekkehart, deren Memoria mir als Stiftsbibliothekar zu St. Gallen während Jahrzehnten anvertraut war; andererseits bezogen auf Stefan Sonderegger, von dem ich zwei einschlägige Bände in der Bücherreihe ,Bibliotheca Sangallensis' 1 herausgeben durfte. Hier seien nun nicht nochmals Notkers des Deutschen Schriften aufgezählt, es seien selbst nicht alle Quellenbelege zu seiner Persönlichkeit und Wirksamkeit von neuem zitiert und interpretiert; die Fachwissenschaft hat gründliche Arbeit geleistet, und St. Sonderegger hat daraus die ganze große Summa 2 gezogen. Sondern es sei versucht, die Quellen aus der Zeit und Umwelt Notkers des Deutschen wieder einmal nach Wesenszügen seiner äußeren und inneren Gestalt zu befragen 3 . ' Als 6. Band: Althochdeutsch in St. Gallen. Ergebnisse und Probleme der althochdeutschen Sprachüberlieferung in St. Gallen vom 8. bis ins 12. Jahrhundert, St. Gallen und Sigmaringen 1970. — Als 7. Band: Schatzkammer deutscher Sprachdenkmäler. Die Stiftsbibliothek St. Gallen als Quelle germanistischer Handschriftenerschließung vom Humanismus bis zur Gegenwart, ebd. 1982. 2 Im Artikel Notker III. von St. Gallen in V L 2 Bd. VI 1 2 1 2 - 1 2 3 6 . 3 Hier seien ein Hinweis und eine Berichtigung gestattet: Der Hinweis bezieht sich auf meinen gelegentlich zitierten Vortrag „Notker der Deutsche — Persönlichkeit und Bildung", dessen Kurzfassung im 14. Protokoll über die Fachsitzung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. vom 27. 4. 1970 erschienen ist; die Berichtigung auf meinen 1979 für die „Innsbrucker Historischen Studien" angekündigten, aber nicht erschienenen Aufsatz desselben Inhalts. Beides ist erwähnt bei St. Sonderegger, Gesprochene Sprache im Althochdeutschen und ihre Vergleichbarkeit mit dem Neuhochdeutschen — Das Beispiel Notkers des Deutschen in St. Gallen, in: H. Sitta (Hg.), Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte, Zürcher Kolloquium 1978, Tübingen 1980, S. 75.
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Johannes Duft
I. Quellen zu Notkers Persönlichkeit 1. Zeugnisse der Zeit Notker der Deutsche, der weder Herrscher noch Heiliger war, erhielt niemals eine Vita, auch nicht Zeugnisse eines liturgischen Kultes. Er ist auch nicht in einer mittelalterlichen Miniatur „porträtiert", wie es sie von Notker dem Stammler erstaunlicherweise zweimal 4 gibt. Aber die historischen Bezeugungen, die über ihn und von ihm verblieben sind, muten unmittelbarer, ja persönlicher an, als es eine mit Topoi durchsetzte Vita oder ein schematisiertes Autorbildnis tun könnten. Über seine Herkunft und über seinen Klostereintritt — wohl als puer oblatus schon in kindlichem Alter, was seine außerordentliche Beherrschung der lateinischen Sprache und seine die artes liberales vollumspannende Ausbildung nahelegen — ist keine Nachricht erhalten. Es besteht aber kein Zweifel, daß er dem im toggenburgischen Jonschwil ansässigen und im weiteren Thurgau begüterten Grundherrengeschlecht der Notkere und der mit ihnen verwandten Sippe der Ekkeharte entstammte 5 . Jedenfalls weiß der diesbezüglich bestens orientierte Ekkehart IV. (,Casus s. Galli', Kap. 80) zu berichten, Ekkehart I. der Dekan ( + 973) habe „dem heiligen Gallus seine vier Neffen von Bruder- und Schwesterseite zum Mönchtum dargebracht: zwei ihm gleichnamige" (Ekkehart II. den Höfling + 990, Ekkehart III. genannt minor, +?), „ferner Purchart den nachmaligen Abt" (Purchart II. +1022) und „Notker unseren Lehrer" (Notker III. +1022). Notkers Geburtsjahr ist nicht überliefert. Wenn Ekkeharts (hier noch zu besprechender) Augenzeugenbericht über Notkers Sterben — er habe 4
In einem Mindener Sequentiar um 1025 (in der Bibliotheka Jagiellönska in Krakau) und in einem Sankt-Galler Sequentiar um 1075 (Einzelblatt im Staatsarchiv Zürich), beide wiedergegeben bei Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt, Editionsband, Bern 1948, Tafel 1 und 2; jetzt auch beschrieben und in Farben wiedergegeben bei J. Duft, Die Abtei St. Gallen, Bd. I (Beiträge zur Erforschung ihrer Manuskripte), Sigmaringen 1990, S. 252 f., Abb. 16 und 17. — In eine der 1935 neugestalteten Eingangstüren zur Kathedrale St. Gallen hat Bildhauer Josef Büsser in beinahe mittelalterlicher Manier das hölzerne Halbrelief des v o r Klosterschülern sitzenden Lehrers Notker Labeo eingeschnitzt.
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Um diesen Aufsatz nicht mit der Fülle von (bekannten) Quellen- und Literaturbelegen zu belasten, sei hier auf die bestens dokumentierten Beiträge in V L 2 hingewiesen: von P. Stotz über Ekkehart I. und II. in Bd. II 447 — 455, von H. F. Haefele über Ekkehart IV. ebd. 4 5 5 - 4 6 5 , von demselben über N o t k e r l , in Bd. VI 1 1 8 7 - 1 2 1 0 , von J. Duft über Notker II. ebd. 1 2 1 0 - 1 2 1 2 , v o n St. Sonderegger über Notker III. ebd. 1 2 1 2 — 1236.
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damals als septuagenarius sein Bekenntnis abgelegt — als genaue Zeitangabe aufzufassen wäre, hätte seine Geburt 952 stattgefunden. Richtiger ist, darin eine Rundzahl zu sehen und weiterhin „um 950" zu schreiben. Jahresangaben waren bekanntlich selbst in Heiligenviten unüblich, ja unwichtig; bei einem liturgisch zu verehrenden Heiligen war einzig der Sterbetag als jährlicher Gedenktag zu notieren. Der starke Eindruck Notkers auf seine Zeitgenossen spiegelt sich in den Memorialeinträgen 6 wider, die im allgemeinen zwar nur Namen mitteilen. Im Necrologium sind aber vier Notkere durch kurze Epitheta voneinander unterschieden und trefflich charakterisiert: Zum Todestag Notkers (I.) des Stammlers am 6. April (912) Obitvs ...et Notkeri magistri hat eine nur wenig spätere Hand beigefügt: qui sequentias composuit (damit ist die Benennung des Balbulus als Notker der Dichter, wie Wolfram von den Steinen 7 sie eingeführt hat, sozusagen vorweggenommen). Zum Todestag Notkers (II.) des Arztes am 12. November (975) steht: Obitvs Notkeri benignissimi doctoris et medici. Zum Todestag Notkers des Abtes, eines Neffen des Arztes, am 15. Dezember (975): Obitvs Notkeri abbatis uenerandi. Zum Todestag Notkers (III.) des Deutschen am 29. Juni (1022): Et [obitus] Notkeri doctissimi atque benignissimi magistri. Das Todesjahr Notkers wird in den ,Annales Sangallenses maiores' mitgeteilt, und zwar in einem der ausführlichsten Einträge, der für die nachwirkende Betroffenheit zeugt: Es ist ein wohl auf Teilnehmer zurückgehender Bericht über den dritten Italien-Feldzug Kaiser Heinrichs II. und die auf der Rückkehr ausgebrochene Pest, die den größten Teil des Heeres hinweggerafft habe; in ipsa expeditione seien auch Abt Purchart, der als elegantissimum sanctae ecclesiae speculum gerühmt wird, und zwei Begleiter namens Ymmo und Purchart umgekommen; an der eingeschleppten Seuche — morbo late saeviente — seien dann auch Notker nostrae memoriae hominum doctissimus et benignissimus und fünf andere gestorben. Wie ein Echo mutet es an, wenn die anonyme ,Continuatio casuum s. Galli', in wörtlicher Übereinstimmung mit der Weltchronik Hermanns 6
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Weil sie in der Stiftsbibliothek St. Gallen noch als geradezu eindrückliche Originalhandschriften erhalten sind, sollen hier die genauen Hinweise erfolgen: Necrologium Codex 915, S. 313, 346, 352, 326; Annalen ebd. S. 225 f. Dagegen sind die originalen Niederschriften der ,Casus s. Galli' Ekkeharts und seiner Fortsetzer nicht mehr erhalten; ihre (mehrfachen) Abschriften werden hier nicht angeführt. Notker der Dichter, Darstellungsband, 1948, S. 3 2 f . : „Die Beinamen Pfefferkorn (für Notker II.) und der Lefzige (für Notker III.) sind längst zu Kuriositäten geworden: allgemein sagt man Notker der Arzt und Notker der Deutsche. Gleiches Recht sollte auch für den Stammler gelten, dessen Verse wahrlich nicht stammeln: und so heißt er fortab Notker der Dichter."
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des Lahmen (+1054) von der Reichenau, berichtet: Notkerus quoque magister et aliipraestantes fratres apud sanctum Gallum decesserunt (Kap. 18). Conradus de Fabaria (nach 1200) nennt ihn im Zusammenhang mit anderen SanktGaller Gelehrten Nogkerum magistrum artis theoric[a]e non pigrum (Kap. 3). Als Zeugnis der Zeit hat auch das Epitbaphiu[m] quatuor scolarum magistris [a]eque tumulatis zu gelten, das Ekkehart IV. eigenhändig dem Sammelband seiner Dichtungen 8 beigegeben, also wohl selber in dem für ihn geradezu typischen Versmaß des leoninischen Hexameters verfaßt hat9. Der erste dieser vier Klosterlehrer ist Ruodpertus facilis, der zweite Notker apertus, doctrin[a]e fomes, der dritte pater Anno fomes, der vierte Erimpertus artus. Vom zweitgenannten weiß er zu rühmen: Notker amor Christo, sacra libans corpore casto, Sympbona uirgineis gaudia lüde choris. Notker war also der magister apertus, weil er seinen Schülern die lateinischen Schriften durch Kommentierung und Übersetzung offenlegte, und er war der in Keuschheit vorbildliche Mönch — es sind zwei die Wirksamkeit und die Persönlichkeit charakterisierende Wesenszüge. Das Wort apertus spricht geradezu für Ekkeharts Verfasserschaft, verwendete er es doch auch in seiner (hier noch zu besprechenden) Würdigung des sterbenden Notker: Er habe librum lob in das „vierte Sprachgefaß umgegossen" und es dadurch apertum gemacht. Gleichfalls wie ein — wiederum sehr persönlich empfundenes — Zeugnis der Zeit mutet bis heute die Glosse an, die derselbe Ekkehart der ,Historia adversus paganos' des Orosius, einer von ihm durchkorrigierten Sankt-Galler Abschrift aus dem 9. Jahrhundert, interlinear beigefügt hat10. Sie steht über zwei sich deutlich abhebenden Textzeilen und besagt: Has duas lineas amandas do[m]nus Notkejrus scripsit: Viuat anima eius in d[omi]no. Ob auch die acht verehrungsvollen Hexameter über Notker, die eine Hand des 15. Jahrhunderts der Ekkehart'schen Gedichtesammlung11 bei8
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Codex 393, S. 262. Edition von Johannes Egli, Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleinern Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393 ( = Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 31), St. Gallen 1909, S. 405 f. Hierzu insgesamt Alfred Wolf, Ekkehard IV. und Notker Labeo, in: Studia Neophilologica 33, 1 9 6 1 , S. 145 — 158; dort die Quellenbelege und die Literatur. Codex 621, S. 321. Im Facsimile schon wiedergegeben von I. von A r x in M G H Script. II, 1829, auf Tafel VI. Hingewiesen sei hier auch — ein- für allemal — auf Gustav Scherrer, Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, hier S. 202. Codex 393, S. 246. Bei Egli (wie Anm. 8) nicht im Zusammenhang, sondern in der Einleitung (S. V, als Fußnote) abgedruckt und deshalb oft übersehen. In unserer am Codex 393 nachgeprüften Wiedergabe werden die im 15. Jahrhundert üblichen Wortkürzungen aufgelöst.
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gefügt hat, als Zeugnisse der Zeit zu gelten haben, ist oft diskutiert, vom Klosterchronisten Jodocus Metzler (+1639) behauptet, von A.Wolf 1 2 sogar für Ekkehart wahrscheinlich gemacht worden, mag letztlich aber zweifelhaft bleiben. Ob schon aus dem 11. oder erst aus dem 15. Jahrhundert stammend, überliefern sie in der 4. und 5. Zeile die unterscheidenden Beinamen der drei großen Notkere (für die beiden ersteren sind sie bekanntlich auch in Ekkeharts .Casus s. Galli' bezeugt): 4 5 6 7 8
Baibus erat Notker, Piperis granum fuit alter, Tertius hic labio datus est agnomine lato Pectore mandatum gestans labio quoque latum. Lacior hinc labio puto nemo videbitur illo, Ecce favos labio quäles (?) stillat tibi lato.
Daran schließen sich sechs Hexameter, die als Oratio, ja als Versus S. Notkeri dessen eigene letzte Bitte wiederzugeben behaupten, schließlich das nun wohl sicher von Ekkehart verfaßte Distichon, das Notkers anderen Beinamen — nicht Labeo, sondern Teutonicus — anführt. Dieses Distichon steht auch schon in der ältesten erhaltenen Abschrift des lateinisch-althochdeutschen Psalters 13 Notkers, geschrieben im 12. Jahrhundert, als Schlußwunsch, und zwar in diesem Wortlaut: NOTKER • TEVTONICVS • D[OMI]NO • FINITVR • AMICVS • GAVDEAT • ILLE • LOCIS • IN PARADYSIACIS • Für Ekkeharts Verfasserschaft des Distichons sprechen sowohl das geradezu typische Versmaß als auch seine mehrfache Verwendung dieses Binnenreims (locis — paradjsiacis). Auch das Epitheton teutonicus klingt bei ihm vertraut, schreibt er doch in der (hier noch anzuführenden) Totenklage, Notker habe teutonice „mehrere Bücher exponiert", darunter teutonice „Gregors Moralia". Die Benennung teutonicus hat somit als zeitgenössisch zu gelten. Und sie dürfte wirklich von Ekkehart geprägt und in dieser Form dem (heute nicht mehr vorhandenen) Psaltermanuskript seines verehrten Lehrers beigeschrieben worden sein, ist ihm doch höchst
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Ekkehard IV. (wie Anm. 9), S. 146 —155, hier auch eine deutsche Übersetzung im entsprechenden Versmaß. Codex 21, S. 575, von der Schreiberhand eingetragen. Zum Manuskript ausführlich schon G. Scherrer (wie Anm. 10), S. 8 — 11. Zur älteren, verschollenen Psalter-Handschrift Bernhard Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast, Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock ( = Das Althochdeutsche von St. Gallen, hg. von St. Sonderegger, 3. Bd.) Berlin-New York 1975, S. 7 0 - 8 4 , 1 6 1 - 1 6 4 , 2 0 1 - 2 6 4 .
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wahrscheinlich auch die zusätzliche „Glossierung zu Notkers Psalter" 14 zu verdanken. Ob Notkers Beiname Labeo wirklich als zeitgenössisch zu gelten hat, bleibt — trotz der heutigen Opinio communis 15 — solange zweifelhaft, als die Herkunft obiger acht Hexameter nicht über das 15. Jahrhundert zurück festgestellt werden kann. Sie waren jedenfalls auch Vadian bekannt, ja anscheinend schon geläufig, als er (vor 1545/46) seine sogenannte Kleinere Äbte-Chronik (,Die äpt des closters zü S.Gallen') verfaßte. Darin 16 berichtet er: Er habe „von diesen gsellen ein altz Mönchenverslin gelesen, das kompt auß der Lieberey zü S.Gallen und lautet also ... Diss Carmen stellt und zeit nur drey Notkern, die im Closter zü S.Gallen gwesen sygind: Den ersten Balbum, den lurggenden Notkern, ist der Poet gwesen; den andern Piperis granum, das ist den Pfefferkörnly, der ist der doctor und artzt gwesen; den dritten Labeonem, mit dem großen maul, dem schreybt man den teutschen Psalter zü ..." Angemerkt sei, daß zu den Zeugnissen der Zeit selbstverständlich die eigenhändigen Einträge der Namen im Profeßbuch 17 gehören. Aber weil sie begreiflicherweise keine Beinamen und keine Daten tragen (und weil einzelne Blätter fehlen und andere unrichtig eingebunden sind), lassen sie sich den gleichnamigen Trägern kaum eindeutig zuweisen. Einer der drei gleichlautenden Einträge auf der vorletzten Seite 18 — einmal Ego notker, zweimal ego NotKer — dürfte vom Teutonicus/Labeo geschrieben sein. 2. Zeugnisse des Schülers Ekkehart Ekkehart 19 , der vierte unter den bekanntgebliebenen Trägern dieses Namens im Kloster St. Gallen (geb. vor/um 1000, gest. um/nach 1057), setzte seinem geliebten Lehrer Notker ein vielfältiges literarisches Denk14
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So St. Sonderegger, Althochdeutsch (wie Anm, 1), S. 1 1 3 — 123. Dazu jetzt auch bestätigend und weiterführend Petrus W. Tax, Wer hat die Einleitung zu den Stufenpsalmen in Notkers Psalter verfaßt?, in: Althochdeutsch, 1. Bd., Heidelberg 1987, S. 8 7 2 - 8 8 1 . So beispielsweise St. Sonderegger, Notker (wie Anm. 2), 1213. Vad. Ms. 44, S. 35; hg. von Ernst Götzinger, Joachim v. Watt (Vadian), Deutsche Historische Schriften, 1. Bd., St. Gallen 1875, S. 171 f. Dazu Hertenstein (wie Anm. 13), S. 71 ff., 267 f.; Sonderegger, Schatzkammer (wie Anm. 1), S. 26 f. Stiftsarchiv: Cod. Class. 1. Cist. C. 3. B. 56. Phototypische Wiedergabe v o n Paul M. Krieg, Das Profeßbuch der Abtei St. Gallen, Augsburg 1931. Hierzu J. Duft, Ekkehardus-Ekkehart. Wie Ekkehart IV. seinen Namen geschrieben hat, in: Variorum munera florum (Festschrift für Hans E Haefele), hrsg. v o n A. Reinle, L. Schmugge, P. Stotz, Sigmaringen 1985, S. 8 3 - 9 0 , hier 85 f. S. 20 (richtigerweise 22), bei Krieg Tafel X X I I . Wie gründlich sich H. F. Haefele mit ihm befaßt hat, ist zusammengestellt bei J. Duft (wie Anm. 17).
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mal, wie es die hier soeben mitgeteilten Zeugnisse der Zeit bereits angedeutet haben. Zwar schildert er ihn nicht in seinen ,Casus s. Galli' (sie brechen schon mit dem Besuch Kaiser Ottos im Jahre 972 ab). Aber er gedenkt seiner geradezu persönlich in der eigenhändig geschriebenen Sammlung seiner Dichtungen (heute unzutreffend ,Liber benedictionum' 20 benannt), und dieses in zweifacher Weise: Einerseits sind es die rund achtzig Gedichte, die der Schüler auf Geheiß seines Lehrers sozusagen als Hausaufgaben von Tag zu Tag zu verfassen hatte; Ekkehart stellte sie in späteren Jahren für seine eigenen Schüler als Musterbeispiele zusammen, mit Randbemerkungen wie dictamen diei magistro, also „dichterische Tagesarbeit für den Lehrer" 21 . Obwohl sie ausnahmslos in (gestelzter) lateinischer Sprache einhergehen, dürfte dieser Lehrer — neben anderen — Notker der Deutsche gewesen sein (sein Deutsch war ja nicht ein Dienst an der Muttersprache, sondern sollte den Schülern zur Erfassung des lateinischen Bildungsgutes verhelfen). Zweimal ist dabei Notker namentlich genannt; bei einem anderen Dictamen debitum magistro ist er zweifellos als der besondere Förderer des Schülers, ja als der stille Sammler seiner Verse gemeint, steht doch am Blattrand 22 die Notiz Ekkeharts: Hoc et cetera, qu[aJe scripsi, ipse scribi iussit in cartis suis, in quibus ea postf ea] inveniens in hac sceda pro locis ascripsi, ut iuvenes nostros in id ipsum adf hJortarer. Andererseits — und das ist Ekkeharts herzlichstes Zeugnis — ist es der Nachruf, den er als eine Art Totenklage seinem Lehrer gewidmet hat. Er besteht aus 22 Versen (62 — 83)23, die er einer aus 87 leoninischen Hexametern bestehenden Dichtung De aliis sincellitis amborum, also „über die anderen Zellengenossen 24 der beiden" (der Gründer Gallus und Otmar), eingegossen hat. Eigenhändig hat er seine Verse nicht einfach nur niedergeschrieben, sondern er hat sie auch interlinear und marginal kommentiert. Insgesamt ergibt sich daraus ein Porträt des ob seiner Leistung 20
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So seit der Ausgabe des Codex 393 durch J. Egli (wie Anm. 8). Dazu grundlegend Ernst Schulz, Über die Dichtungen Ekkeharts IV. von St. Gallen, in: Corona quernea ( = Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 6, Festgabe Karl Strecker), Leipzig 1941, S. 199 — 235. — Unsere Wiedergaben lösen die damals üblichen Wortkürzungen auf. So Peter Stotz, Dichten als Schulfach — Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung, in: Mittellateinisches Jahrbuch, Bd. 16, 1981, S. 1 - 1 6 , hier 2 - 5 . Auf Seite 183, bei Egli S. 279. Auf den Seiten 155/156, bei Egli S. 230—234. Jetzt erstmals faksimil wiedergegeben bei J. Duft, Die Abtei St. Gallen, Bd. II (Beiträge zur Kenntnis ihrer Persönlichkeiten), Sigmaringen 1991, Abb. 38 und 39, dazu S. 1 6 5 - 1 7 3 , 301. Ekkehart selber erklärt das Wort sincellita (von syn-cellita) in der Glosse zu Vers 85 als concellaris cohabitatorque cellae.
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bewunderten Meisters, des ob seiner Güte geliebten Lehrers, des ob seines Sterbens verehrten Mönches. Die Leistung: (Vers 62) Primus barbaricam scribens faciensque saporam, dazu die Glosse Teutonice plures libros exponens. Von diesen „deutsch exponierten Büchern" nennt Ekkehart (in den Versen 64 — 67): lob (in der Glosse: librum lob, opus mirandum, vollendet am Tag des Hinschieds); Gregorii pondus (in der Glosse: moralia teutonice ...ab eo); Dauidis dicta (in der Glosse: psalterium). Das Motiv (in der Glosse zu Vers 62): propter caritatem discipulorum, was ein Doppeltes besagt: Liebe des Lehrers zu seinen Schülern und Liebe der Schüler zu ihrem Lehrer, — und dies in einer Zeit härtester Lernschule, die Memorieren weit höher bewertete als Kommentieren und Verstehen. Daß Notker mit dem Einsichtigmachen des Psalters — er war und blieb der Hauptbestandteil des klösterlichen Chorgebetes und war ein Hauptstück des Auswendiglernen in der Schule — besonderen Anklang fand, bezeugt Ekkeharts Glosse: In quo [psalterio] omnes, qui barbaricam legere sciunt, multum delectantur. Wie Notker deswegen sogar weit über die Klosterschule hinaus bewundert wurde, widerspiegelt sich in der zusätzlichen Notiz: Kisila imperatrix, operum eius auidissima, habe sich Psalter und lob sorgfältig abschreiben lassen. Gisela, die Gemahlin Konrads II., besuchte 1027, also fünf Jahre nach Notkers Tod, zusammen mit ihrem Sohn Heinrich das Kloster St. Gallen 25 ; Ekkehart war Augenzeuge. Das erbauliche Sterben: Ekkehart hat die Todesstunden seines Lehrers offensichtlich miterlebt und im Gedächtnis bewahrt, war doch dieser dritte Notker seines Erachtens den beiden früheren geistesmächtig gleich (Vers 68): Pneumate mactorum hic tertius [aJeqfuijuocorum. Er starb am Vorabend des auf den 29. Juni [1022] fallenden Jahrestages des Apostels Petrus (Vers 69: Vespere natalis Petri petit astra priore). Zuvor hatte er (laut Glossen) in der dem Heiligen geweihten Kirche — d. h. in der auf dem Klosterfriedhof gelegenen St. Peter-Kapelle 26 neben dem Münster — als Verehrer desselben (Vers 70) unter Tränen die Vesper gesungen, war dann aus eigener Kraft in das Kloster zurückgegangen, ohne daß „wir sein sogleich bevorstehendes Ende voraussehen konnten", und bat (Vers 71) kniend die Brüder um ihr Gebet für eine fröhliche Komplet 27 : (Vers 72) 25 26
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Bezeugt auch in den ,Annales Sangallenses maiores'. Vgl. Erwin Poeschel, Die Kunstdenkmäler des Kantons St. Gallen, 3. Bd. (Das Stift), Basel 1961, S. 6, 76. Diese scheinbar nebensächliche, von Poeschel nicht beachtete Glosse Ekkeharts enthält für den Kenner der (heute nicht mehr so bestehenden) lokalen Verhältnisse eine starke Aussagekraft. Dem Kenner der Liturgie bedeutet die Komplet noch heute den Abschluß des täglichen Chor- bzw. Breviergebetes und symbolisiert das gottergebene Ende des (Lebens-)Tages.
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Psallite, completam Petrus ut faciat mihi l[a]etam, wozu es (laut Glosse) eben läutete. Nach Versen (73 — 80) über Wesenzüge seiner Persönlichkeit, die sich im Sterben offenbarte, wird nochmals der unauslöschliche Eindruck seiner geisterfüllten Wirksamkeit hervorgehoben: (Verse 81 — 82) Hic finis hominis post[ea] imparis eruditoris / Pneumate quem fotum repleuit gratia totum. Die Totenklage mündet in den Vers (83) aus, der geradezu als Zeugnis der Zeit zu gelten hat: Hunc merito flebunt, simili qui deinde carebunt. 3. Selbstzeugnis des Lehrers Notker Vom ersten und vom dritten Notker sind Selbstzeugnisse in Briefform — wenn auch nicht mehr in den originalen Niederschriften, so doch in zuverlässigen Abschriften — überliefert. Offenbarungen ihrer Persönlichkeit wollten sie selbstverständlich nicht sein, sondern nur Erläuterungen ihrer für die Adressaten bestimmten und für diese auch erstaunlichen Schriften: Von Notker dem Dichter ist es der Widmungsbrief 28 seiner gesammelten Sequenzen an Bischof Liutward von Vercelli, von Notker dem Deutschen ein seine Übersetzungen begleitender Brief 29 an Bischof Hugo von Sitten. Während der Adressat von Notker I. mit Namen und Bischofssitz genannt ist, wird er von Notker III. nur mit der Initiale H., jedoch mit dem Bischofssitz, angedeutet; es war, so steht heute einwandfrei fest, der in den Jahren 998/1017 oftmals bezeugte Bischof Hugo. Die beiden Absender sind namentlich aufgeführt. Notkers des Deutschen Brief ist in einer Handschrift in Brüssel aus der Mitte des 12. Jahrhunderts überliefert, orthographisch etwas verderbt, inhaltlich aber einsichtig. Der Sammelcodex enthält didaktisch-lateinische Texte, wie man sie für die Schule benötigte. Er mag durch sankt-gallische Vorlagen mitangeregt worden sein, wurde aber „für das Trierer Kloster St. Eucharius-Matthias angefertigt" 30 . Ob Ekkehart IV., Schulmeister in St. Gallen und in Mainz, einer der früheren Vermittler solchen Bildungsstoffes und damit auch des (hier vereinsamt stehenden) Notker-Briefes 28
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Bei W. v o n den Steinen (wie Anm. 4) wiedergegeben (Editionsband S. 8 — 11, 160) und interpretiert (Darstellungsband S. 1 5 4 - 1 6 3 , 5 0 4 - 5 0 8 ) . Beste, die bisherigen Würdigungen zusammenfassende Wiedergabe und Beurteilung von Ernst Hellgardt, Notkers des Deutschen Brief an Bischof Hugo von Sitten, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft ( = Festschrift Hans Fromm), Tübingen 1979, S. 169 — 192. Die endgültigen Nachweise sind E. Hellgardt (wie Anm. 29) zu verdanken; zur Datierung des Briefes ebd. S. 182: recht nahe bei Notkers Todesjahr, „ich denke bis gegen 1019/20".
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gewesen war, ist bisher nicht erörtert worden. Die Möglichkeit besteht aber, war er doch befreundet mit jenem Diakon Johannes, der Abt zu St. Maximin in Trier wurde, — und ausgerechnet ihm hat er das umfangreiche Dichtwerk gewidmet, zu welchem als kleiner Bestandteil auch die Totenklage auf Notker gehört. Notkers Brief, „das einzige Selbstzeugnis eines Autors der althochdeutschen Literatur" dieser Art, ist zu bekannt, als daß er hier wiedergegeben werden müßte. Er zählt sein ganzes Schrifttum — das lateinische und das althochdeutsche, das bis heute erhaltene und auch das untergegangene — auf. Indem er zugleich über dessen „unmittelbare Zweckbestimmung und über den Stellenwert, den er selbst seinen Werken innerhalb seines Wirkens als Mönch und magister scholae des Klosters St. Gallen beimißt" 31 , berichtet, legt er auch ungewollt Wesenszüge seiner Persönlichkeit offen: er „ist Ausdruck eines reifen, erfahrenen und selbstbewußten Meisters ... um 65 Jahre alt" 32 . Dieser Meister weiß sich seiner Kirche und seinen Schülern verpflichtet; er ist also zutiefst christlich, geradezu kerygmatisch gesinnt. Er sagt es in zwei kurzen, nüchternen Nebensätzen aus: In der Schule seien vor allem die kirchlichen Bücher zu lesen, und letztlich zu ihnen wolle er seine Schüler hinführen (ecclesiastici libri ... ad quos dum accessum habere nostros vellem scolasticos), und selber sei er ad divina zurückgekehrt. Die weltlichen Wissenschaften seien hierfür nur die Instrumente, allerdings die zu deren voller Erkenntnis notwendigen Hilfsmittel. Um den Zugang zu verschaffen, habe er das fast Unerhörte gewagt: lateinische Schriften in unsere Sprache zu übertragen (latine scripta in nostram [linguam] vertere) und durch Schriftsteller wie Aristoteles oder Cicero zu erhellen ... Daß das Ziel zu erreichen sei, werde der Leser, selbst nach anfänglichem Zurückschrecken, schließlich erfahren, da man durch die vaterländische Sprache (per patriam linguam) rascher verstehe, was in fremder Sprache (in lingua non propria) kaum oder nicht ganz zu erfassen sei. Eine Bemerkung zur Terminologie: Notker verwendet in diesem Schlüsselbrief nach latine nicht auch das entsprechende Adverb teutonice, mit welchem Ekkeharts Totenklage sein Werk glossiert. Für Notker ist die einheimische Sprache die patria lingua, allerdings seien die verba theutonica nicht ohne Akzente zu schreiben; Latein ist die lingua non propria. Auf dem Hintergrund dieser Formulierung erscheinen moderne Aus31 32
Zitate nach Hellgardt. So Sonderegger, Althochdeutsch (wie Anm. 1), S. 86; ders., Notker III. und die althochdeutsche Volkssprache, in: Geistesleben um den Bodensee im frühen Mittelalter, hg. von A. Masser und A . W o l f , Freiburg i. Br. 1989, S. 1 3 9 - 1 5 6 .
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drucksweisen — beispielsweise „Vatersprache" für Latein zur Unterscheidung von „Muttersprache" 33 — als eigenwillig, ja als unhistorisch. Latein war für Notker nicht die „Vatersprache"; immerhin war und blieb es die „Vätersprache", nämlich die Sprache der Kirchen- und der Mönchsväter.
II. Deutung der Zeugnisse Zeugnisse aus dem Mittelalter dürfen bekanntlich nicht überinterpretiert, nicht mit heutiger Psychologie befragt werden. Im Bewußtsein dieser gebotenen Zurückhaltung sei versucht, einige Wesenszüge der Persönlichkeit Notkers des Deutschen festzustellen. 1. Notkers leibliche Komponente Ein starker Mann, vermutlich großgewachsen, mit schwulstiger Lippe, aber nicht finster und verschlossen, sondern menschenfreundlich und zugänglich (apertus), kein Duckmäuser, sondern im guten Sinne selbstbewußt, ausgestattet mit Kraft und Gesundheit während siebzig Lebensjahren bis zum letzten Tag: so erscheint Notkers Gestalt in den Zeugnissen. In jungen Jahren hatte er eigenhändig einen Wolf erschlagen (Glosse zu Vers 73 in Ekkeharts Totenklage), was Mut und Kraft erforderte. Die natürliche Sinnlichkeit seines starken Leibes hielt ihn laut eigenem Bekenntnis noch im Alter in Spannung (Glosse ebd.: quodpudet, in somnis bis passus septuagenarius). Deshalb trug er, was sich seinen ergriffenen Mitbrüdern erst beim Tode offenbarte und von Ekkehart (Verse 77 — 79 mit Glossen) eigens erwähnt wurde, um die Lenden eine Bußkette, wie es schon der heilige Gallus vorgebildet habe. Er bat deshalb, man möge ihn nicht entkleiden, sondern seinen umgürteten Leib so wie er war — in roco, capitium habens in capite — beisetzen. Notker starb nicht an Altersschwäche, arbeitete er doch bis zum letzten Tag (er beendete damals das Buch lob, wie Ekkehart in Vers 64 und Glosse bewundernd festhielt); sondern er starb an der durch Heinrichs Heer eingeschleppten Seuche. Es geschah ohne Wehleidigkeit (Vers 63: residens — was mit cucullatus erklärt wird — neque grandia passus). Mit erhobenen Händen stand er aufrecht (Vers 76); dann betete er kurz, sank zurück und entschlief (Vers 80). Dieser kraftvolle Mann freute sich offensichtlich an Jagd und Kampf, an Natur und Getier seiner Heimat. Er wagte sogar, sie zur Exemplifl33
So von den Steinen, Darstellungsband (wie Anm. 4), S. 16, 34.
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zierung für die Schüler in die sonst so strenge und fremde Schule aufzunehmen, ja selbst in vorwiegend lateinischen Schriften muttersprachlich anzuführen (und sie damit über die Jahrhunderte hinweg ungewollt aufzubewahren). Althochdeutsche Sprichwörter als Beispiele ,de partibus logicae' und ebensolche Reimverse ,de arte rhetorica' bezeugen es in einzigartiger Weise. 2. Notkers seelische Komponente Die leibliche Kräftigkeit Notkers war von seelischer Zartheit beherrscht: er wollte, entsprechend seinem Mönchsstand, sanftmütig und keusch sein. Deshalb bekannte er in öffentlicher Beichte vor dem Sterben als gravissimum (Glosse zu Vers 73 in Ekkeharts Totenklage): Als Jüngling in monachico habitu habe er den Wolf erschlagen (nicht die Tötung war also das vermeintliche Vergehen, rief doch einer der „einfacheren Priester" unter den Umstehenden in beinahe alemannischem Latein: utinam omnes lupos, qui usquam sunt, occisos haberetis!). Und als Greis habe er zweimal beschämende Träume erlitten (im Komplet-Hymnus des lateinischen Chor- und Breviergebets steht noch heute die Bitte: Procul recedant somnia / et noctium phantasmata / hostemque nostrum comprime / ne polluantur corpora!). Daß Notker keuschen Leibes gewesen und deshalb zu den jungfräulichen Chören eingegangen sei, rühmt Ekkehart bekanntlich auch im Epitaphium. Das selbstverständliche, deshalb nicht eigens zitierte Leitwort steht bei Paulus (1. Cor. 9,27): castigo corpus meum et in servitutem redigo. Es klingt auch unter den instrumenta bonorum operum der Benedictus-Regel an: corpus castigare (4,11), also castitatem amare (4,64). Der von Notker persönlich verehrte Heilige war der Apostel Petrus. Deshalb sang er, als er plötzlich den Tod in sich verspürte, mit besonderer Ergriffenheit (in lacrimis) am besonderen Ort (in ecclesia eius) und am besonderen Abend (vespere natalis Petri) die Vesper. Denn er war, wie Ekkeharts Totenklage (Verse 69/70 und Glossen) mitteilt, assertor magnus semper suus atque benignus. Das zeigte sich zweifach: einmal darin, daß er in memoriis eius, wo immer er sich befand, inständig betete; sodann darin, daß er seinem Schüler zu sagen pflegte: Roga, Ekk[ehart], clauigerum caeli, ut tibi aperiat; dazu der Aufruf zur christlichen Hoffnung: spera in eum et ipse facietl Die seelische Gestimmtheit und Gewissenhaftigkeit dieses Lehrers läßt sich aus seinem ,Psalterium barbaricum' und den diesem beigegebenen Cantica und katechetischen Stücken erfahren. Nicht nur die Schüler, sondern auch Kaiserin Gisela waren davon — intellektuell und affektiv — höchst erfreut (multum delectantur). Die äußerliche Sprachgestaltung
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und die innerliche Einfühlung Notkers zeugen „ebenso von der souveränen Gelehrsamkeit wie von der tiefgläubigen Inbrunst eines Meisters" 34 . Das monastische Idealbild Tuotilos ( + um 913)35, das Ekkehart in den ,Casus s. Galli' (Kap. 34) aus klösterlicher Uberlieferung nachgezeichnet hat, mag von der Erinnerung an seinen Lehrer Notker mitbeeinflußt worden sein. Einige körperliche und seelische Wesenszüge scheinen sich bei beiden entsprochen zu haben: Tuotilo war ein „Mann, wie Fabius die Athleten auszuwählen lehrt, beredt, hell in der Stimme ... des Zusammenfügens (concinnandi) in beiden Sprachen mächtig und dazu von Natur aus geneigt, in Ernst und Scherz heiter, so daß unser Karl (III.) einstmals jenen verwünschte, der einen Mann solcher Natur zum Mönch gemacht habe. Aber bei alledem war er, was das andere übertrifft: im Chor(dienst) rührig, im Verborgenen tränenreich ... keusch als Schüler des Marcellus, der vor Frauen die Augen verschlossen hat". 3. Notkers intellektuelle Komponente Das Schrifttum Notkers ist zu bekannt, als daß es hier nochmals aufgefächert werden müßte. Es erweist seine „breiteste Gelehrsamkeit als Magister auf dem Gebiet der Artes wie der Theologie" in einem Ausmaß, wie es „nur auf dem Hintergrund einer umfassenden persönlichen Bildung sowie eines breit angelegten frühmittelalterlichen Scriptoriums möglich war" 36 . Für Ekkehart war er deshalb doctrinae fomes (im Epitaphium), erfüllt mit pneuma und gratis (in den Versen 68 und 82 der Totenklage). Seine bildungsgeschichtliche Bedeutung besteht darin, daß er als Notker latinus und als Notker teutonicus in beiden Sprachen 37 stand, damit aber auch zwischen den beiden Sprachen und Kulturen, ja zwischen den Zeiten stand. Er erfand nicht eine neue Wissenschaft, wohl aber eine neue Methode (nach eigenem Zeugnis rem paene inusitatam), um das alte Wissen einer neuen Schriftsprache und dadurch einer neuen Zeit zu vermitteln. 34
35
36 37
So St. Sonderegger, St. Gallen an der Wiege der deutschen Sprache, in: Die Alpen in der europäischen Geschichte des Mittelalters ( = Vorträge und Forschungen, 10. Bd.), Konstanz/Stuttgart 1965, S. 1 5 9 - 1 8 3 , hier 181. Über ihn und die nach ihm benannten, weil von ihm geschnitzten Tuotilo-Tafeln am .Evangelium longum' Johannes Duft und Rudolf Schnyder, Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibliothek St. Gallen ( = Kult und Kunst, 7. Bd.), Beuron 1984. So Sonderegger, Notker III. (wie Anm. 2), 1216, 1226. Daß neben dem „deutschen" Notker auch der von der früheren Forschung vernachlässigte „lateinische" Notker, damit also die lateinischen Voraussetzungen und Vorlagen für Notkers Übersetzungen und Kommentierungen erkannt und ediert werden, ist der vielbändigen neuen Ausgabe durch James C. King und Petrus W. Tax, Tübingen 1973 ff., zu verdanken.
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Dabei ging es ihm — darin spricht sich im Brief an Bischof Hugo die intellektuelle Komponente seiner Persönlichkeit aus — um das Hinführen ad intellectum integrum ...ad legendum et ad dinoscendum. Das war damals noch keineswegs selbstverständlich; es bedeutete deshalb den damit beglückten Schülern wie Ekkehart und den damit beschenkten Lesern wie der Kaiserin Gisela großes Erstaunen (opus mirandum) und reine Freude (multum delectantur). Intellektuelle Einsicht führte so auch zum affektiven Erlebnis, und Notkers intellektuelle Komponente wurde gleichzeitig zu seinem sozialen Wesenszug. 4. Notkers soziale Komponente Wer die Zeugnisse der Zeit über und von Notker befragt, erkennt rasch, daß er nicht der große Einsame war, nicht der stille, in sich beruhende, sonderlich-sonderbare, ja versponnene Stubengelehrte ohne Aus- und Nachwirkung, als den ihn die Germanistik darzustellen beliebte (beispielsweise H. de Boor: einerseits „Deutsch ist hier wirklich zu einer europäischen Sprache geworden", andererseits „Die Weltabkehr des Mönches wird bei ihm zur Weltferne des Gelehrten"). Zwar ist nirgendwo überliefert, wie er sich zu den Ereignissen seiner hochpolitischen Zeit, zur Reichsund Klösterpolitik der ottonischen Kaiser, zur Verflechtung seines Klosters und seiner Äbte mit dem Königsdienst gestellt hat 38 . Aber seine eigene Abstammung und die Herkunft aller seiner Mitmönche und Schüler lassen die „unsoziale Legende" 39 als unwahrscheinlich, ja unmöglich erkennen. Starke mitmenschliche Beziehungen verbanden Notker offensichtlich mit zwei sozial gänzlich verschiedenen Gruppen: mit den Mitbrüdern im Kloster und mit den Armen der Umgegend. Beide wollte er beim Sterben um sich haben, vor beiden wollte er die öffentliche Beichte seiner vermeintlichen Sünden ablegen, wie es Ekkehart in der Totenklage (Verse 73 — 76 mit Glossen) aus der nachwirkenden Erinnerung des ergriffenen Beteiligten 40 geschildert hat: Die Pforten sollten geöffnet werden, wozu 38
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Zur Geschichte des Klosters, mit ausführlicher Bibliographie: Johannes Duft, A n t o n Gössi, Werner Vogler, Die Abtei St. Gallen: Abriß der Geschichte, Kurzbiographien der Äbte, Das stift st. gallische Offizialat, St. Gallen 1986 (Sonderband aus Helvetia Sacra III/l, S. 1 1 8 0 - 1 3 6 9 ) . Hier sei der Hinweis auf einen Zeitungsbeitrag, der mehrmals zitiert worden ist, gestattet: J. Duft, Notker — Zerstörung einer unsozialen Legende, in: Stuttgarter Zeitung, Nr. 173 (Aus der Landeskunde, S. 31), 31. 7. 1970. Zwar war damals „der Tod eine öffentliche und genau festgelegte Zeremonie; sie wird vom Sterbenden selbst organisiert ... das Zimmer des Sterbenden wandelte sich zur
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er selber nicht mehr die Kraft gehabt habe; die Armen, die man insgesamt habe erreichen können, seien ad nos hereinzulassen; sie wolle er im Sterben essen und trinken sehen. Es geschah so; das Haus war voll von ihnen, und ihr übliches Geschrei belästigte auch nos, d. h. die Mönche. Notkers Kontakte hatten sich aber nicht auf das eigene Kloster beschränkt. Er stand auch im Austausch gelehrter Texte sowohl mit Hugo, dem Bischof von Sitten, als auch mit Berno, dem Abt auf Reichenau, wie sich sozusagen zufallig aus seinem Brief ergibt. Die auswärtigen Beziehungen dürften noch weiter gereicht haben; die erstaunliche Bücherleihe zwischen Sitten-St. Gallen-Reichenau macht es wahrscheinlich. Die engste mitmenschliche Beziehung verband den Lehrer Notker mit seinen Schülern. Sie — nostros scolasticos — bezeichnete er im Brief an Bischof Hugo als seine soziale Zielgruppe, was im verwendeten Relativsatz beinahe als selbstverständlich erscheinen mag, was aber den ehemaligen Schüler Ekkehart noch in der rückblickenden Totenklage zur besonderen Dankbarkeit veranlaßte: Notker habe, primus barbaricam [linguam] scribens, diese Sprache auch saporam gemacht, also schmackhaft, einsichtig, verständlich (Vers 62); er habe sich damit eine Last auf den Buckel geladen (Vers 66: pondus dorso levat)-, aber er habe es propter caritatem discipulorum getan (Glosse zu Vers 62). Weil der Lehrer wollte, daß die Schüler das Bücherwissen nicht nur auswendig erlernen, sondern auch inwendig erfassen sollten, machte er es ihnen apertum (Vers 65) und wurde so ihr magister apertus (Epitaphium). Gleichzeitig war dieser magister doctissimus auch der benignissimus (Necrologium), was sich für Ekkehart noch in einer späten Entdeckung geradezu persönlich äußerte: Er habe seine alten Schülergedichte unter dessen hinterlassenen Pergamenten (in cartis suis) finden dürfen. Notkers lebenslanges Unternehmen war nicht eine monomane Eigenbrötelei, auch nicht ,,1'art pour l'art"; sondern es wollte sein und wurde erkannt als die didaktische, pädagogische, ethische Leistung. Der Lehrer als der Seelsorger in einer herzlichen, unpathetischen Frömmigkeit: er offenbart sich auch in Ekkeharts Glosse (zu Vers 70): Notker habe den Jungen zu ermahnen gepflegt, den heiligen Petrus anzurufen und zwar öffentlichen Räumlichkeit mit freiem Eintritt", so — allerdings ohne Kenntnis der Ekkehart'schen Schilderung — Philippe Aries, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland (L'homme devant la mort, Paris 1977), in der (eher saloppen) deutschen Übersetzung von Hans-Horst Henschen, S. 24, dazu S. 73 f.; doch Ekkeharts Verse lassen seine persönliche Anteilnahme nachempfinden. Hingewiesen sei auch auf den Vortrag von Werner Goez, Die Einstellung zum Tode im Mittelalter, in: Der Grenzbereich zwischen Leben und Tod ( = Vorträge ... in Hamburg 1975), Göttingen 1976, S. 1 1 1 - 1 5 3 .
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als den Pförtner des Himmels (clauigerum caeli), auf daß er ihm den Himmel öffne. Den Schülern nicht nur das Reich der Wissenschaften, dabei letztlich die kirchlichen Bücher, sondern auch das Himmelreich zu eröffnen: das war die soziale Komponente dieser Persönlichkeit. Andere Lehrer, selbst in der Klosterschule, griffen zu den Ruten (aus Angst vor der Züchtigung habe ein Schüler im Jahre 937 das Kloster in Brand gesteckt, so erzählt Ekkehart im 67. Kapitel der ,Casus s. Galli'). Notker dagegen bediente sich des Hilfs- und Heilmittels der Caritas. Hinter dieser christlich-priesterlichen Verpflichtung propter caritatem stand selbstverständlich — ohne in den Quellen ausdrücklich erwähnt werden zu müssen — die Theologie des Paulus: Nunc autem manent fides, spes, Caritas, tria baec, maior autem horum est Caritas (1. Cor. 13,13). Daraus aber ergab sich für den doctor gentium Paulus wie für den magister scolarum Notker die Haltung: Caritas Christi urget nos (2. Cor. 5,14).
JAMES E . K I N G ,
Washington, D.C.
Philosophia kommt Boethius mit Rhetorik und Disputation entgegen Notker der Deutsche faßt Boethius' Verfahren in der ,Consolatio' als eine fortwährende Übung in der Redekunst und dem philosophischen Gespräch auf, also weilt er bei jedem rhetorischen und dialektischen Beleg. Bald erklärt er kurz und bündig — etwa durch eine Glosse, bald entsteht ein längerer Exkurs — entweder im Rahmen des lateinisch-althochdeutschen Grundtextes oder in einem eigenen Abschnitt bzw. Kapitel. Dadurch schafft Notker in seiner Auslegung von Boethius' Werk gleichsam zwei Lehrbüchlein, eines über Rhetorik und das andere über Dialektik, die seine späteren Abhandlungen De arte rhetorica und De syllogismis vorwegnehmen. Inwieweit der Kommentar des Remigius von Auxerre und eines anonymen St. Gallers Notkers Anregung durch Boethius verstärkte, bleibe bis zum Erscheinen des Notker latinus zum Text dahingestellt. In dieser Untersuchung zitiere ich nach Petrus W. Tax' seiten- und zeilengetreuer Ausgabe, Notker der Deutsche. Boethius, „De consolatione Philosophiae", die 1986, 1988 und 1990 erschienen ist. Das Sigel A bezeichnet Codex Sangallensis 825, S. 4—271, der Notkers Bearbeitung der ,Consolatio' enthält. Will der Leser eine Übersicht über Boethius' modus procedendi gewinnen, so beginne er mit folgenden Stellen, an denen Notker das Wort ergreift: 1) Hier sölt tu chtesen . uuâ^ keskéidenes . ünder rhetorica suadela . mit téro si [Philosophia] %e êrest âna-fîeng . ünde ünder philosophica disputatione . dâr si nû âna ist. Tô si in siechen fânt stnes mäotes . ünde er dés fortunam scûldigôta . sâmoso er sia in dinge mâloti . dâr^ si in dâra-^û hrâht hâbeti . tô sôlta si imo note . uuânda si medica ist . mit tiu êrest héilen sîn mûot . sî is keântséidoti . dîa ér is %êh ... Unde uuânda si imo nü hâbet ûber-nâmen sîn sêr . mit téro satisfactione . pe diu stépfet si nû âba dero suasione dero disputatione . dà% si imo dâr-mite fôlle-héile sîn mûot. II.39.A85,11 —17 und 86,14—17. Aus dem eingeschobenen Abschnitt QUID SIT INTER RHETORICAM SUADELAM . ET PHILOSOPH IC AM DISPUTA TIONEM.
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2) Also uuàra némenne ist . uuio boetius in primo libro uuàs incusans fortunam . ünde sia philosophia dés ferspràh in secundo libro . rhetorica defensione . also ist hier in tertio libro uuàra tùonne . uuànda si disputando chòsot . tà^ tiu disputatio triplex ist. Si begónda in secundo libro disputare . contra diuitias . honorem . potentiam . gloriam . uoluptatem . dia disputationem fiólle^ph si hier in tertio ... Tànnàn eruuindet si àber in fine libri ad theologicam disputationem . tàr si gótes simplicitatem óuget. III.124.A181,27-182,2,13-15. Aus dem eingeschobenen Abschnitt DE UARIETATE TRANSACTE DISPUTATIONIS. 3) Also in tertio libro die questiones morales sint . tie-dar óugent beatitudinem bonorum . so sint tie hier in quarto . die uns óugent miseriam malorum . ünde die dàra-nàh fólgént . de prouidentia et fato. Aber die nóh fióre sint in quinto libro . de casu et libero arbitrio . die skéident sih. Casus t r i f f et ad prouidentiam . be diu ist tiu questio moralis. Übe ¿ber sàment mügin sin . prouidentia . ünde liberum arbitrium ... pe diu t r i f f et tiv questio ad theologiam . chit ad eam rationem . que, est de diuinis. IV.56.A230,l6 — 21,22/23. Aus dem eingeschobenen Abschnitt QUESTIONES HUIUS QU AR TI LIBRI. ET QUI ADHUC SEQUITUR QUINTI . AD QUAM PART EM PHILOSOPHIAE PERTINEANT. 4) Hier ist üns umnenne . mit tien si [Philosophia] gehéilen uuólta sin siecha müot . tà% tie [questiones] imo uuàren fóne irò proposite, . in primo libro ... To er àber fóne irò fiernàm . dia rationem . déro questionum ... tó begónda ér sih trösten . ünde àba disèn questionibus . àn ändere fàhen . dànnàn irrünnene. Téro hàbet si imo sümeliche gerécchet in quarto libro ... Nóh sint fóre . déro ér nu gérot . de casu . de predistinatione diuina . de arbitrii liberiate. V.1.A232,5/6,9/10,14-16,17/18. Aus dem Abschnitt REUOCATUR PHILOSOPHIA A PRO POS ITA DISPUTATIONE. 5) Hier mügen uuir chiesen . dä% boetius nàh tisemo quinto libro . mit temo tède dés keirret uuàrd . dà% ér nemuosa fiernémen fóne philosophia . diu si imo gehie^ . hàra-nàh sàgenne. V.49.A271,25-27. Aus dem Abschnitt
EPILOGUS.
Die beiden ersten Bücher gelten also der Rhetorik, aber schon gegen Ende des Uber secundus beginnt Philosophia zu disputieren. Wir erfahren, daß sie dabei zu Argumenten und Syllogismen greift, seltener zu Defini-
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tionen. Manchmal aber läßt sie die Redekunst wieder zur Geltung kommen, denn man hat ja Rhetorik und Dialektik abwechselnd einzusetzen. Wie beim Martianus Capella und den aristotelischen Schriften Categoriae und De interpretatione, so teilte Notker auch bei der ,Consolatio' das lateinische Original in Abschnitte bzw. Kapitel auf, die er mit ihm eigenen Überschriften versah. Hinzu kommen in den ursprünglichen Text eingeschobene Voll- und Teilabschnitte, die Notker des Unterrichts in der Klosterschule halber ergänzte. Unten wird ausgeführt, wie die Uberschriften, Glossen und Einschübe seine Neigung zum Rhetorisch-Dialektischen an Boethius' Dichtung betonen.
Rhetorice suadere dissuadereue II.3.A43,19 —23 regt Boethius Notker im Abschnitt DE ADHIBENDIS PRIMUM MEDICAMINIBUS. zum ersten Exkurs über Rhetorik an. Die Anhaltsstelle lautet: Adsit igitur suadela rhe,torice, dulcedinis. Nu helfe is rethorica . mit iro süo^un scündedo [,mit ihrer süßen Überredungskraft']. Quet tum tantum procedit recto calle. Tiu echert tarne rehto uddot. Cum non deserit nostra instituta. So st über mina lera nesteffet. Der Einschub von 15 Zeilen, A43,23 —44,7, beginnt: ist diso si chäde. und schließt: pe diu ist si [rhetorica] philosophie, so gehende . pe diu uuile si diseti siechen man . mit iro fügende generien. Dessen Inhalt, der zum Teil auf Remigius von Auxerre und dem anonymen St. Galler beruht, wird später im eingeschobenen Vollabschnitt ILIO. QUID SIT RHETORICA. wieder aufgenommen. Notker ergänzt II.5.A46,28/29: Td^ ist rhetorica dissuasio . minime temptare . que, non possuntfieri. Im gleichen Abschnitt erläutert er A47,8— 11: Süslicha copiam paradigmatum . dd% chit exemplorum . chünnen die füre-^ihen . die potentes sint in eloquentia. Pe diu ist 6uh kehei^en rhetorica apud grecos . a copia fandi. Als Philosophia II.9.A54,13/14 spricht: oblitaque melle rhetorice, ac musice, dulcedinis., das Notker A54,14—16 so verdeutscht: ünde sdmo-so gehonogotiu . mit rhetorica . ünde mit musica [.gleichsam mit Honig bestrichen, d. h. durch Rhetorik und Musik süß gemacht']., liegt es ihm nahe, fünf Abschnitte über Rhetorik in Boethius' Text einzufügen, u. zw. mit dem begründenden Übergang A54,16 —20: Da die Rede wieder von der Süße der Rhetorik sei, so dürfe man die Gelegenheit nicht verpassen, kurz und
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bündig festzustellen, was mit Rhetorik gemeint sei; sonst könnte man ihre Lieblichkeit nie erfahren. Es folgen die fünf Abschnitte (II.10.A54,21-55,21 QUID SIT RHETORICA., 11.A55,21-56,17 DE MATERIA ARTIS RHETORICAE., 12.A56,17 —57,13 QUI SINT STATUS LEGALES., 13. A57,13—60,4 QUI SINT STATUS RATIONALES, und 14.A60,561,14 QUID SIT STATUS.), die Stefan Sonderegger (1980, S. 248) mit Recht Notkers kleine, althochdeutsch verfaßte Rhetorik nennt gegenüber der späteren, alleinstehenden, lateinisch verfaßten Schrift De arte rhetorica. Im darauf folgenden, auch eingeschobenen Abschnitt 15.A61,14 —62,5 DE PRESENTI STATU, führt der Lehrer seine Schüler zu Boethius' Streit mit Fortuna zurück. Auch zu nennen ist der Einschub 11.51.A106,14-107,8 DE OFFICIO ORATORIS., in dem Notker unter orator Philosophia als Rednerin bei Boethius versteht. Die Klosterschüler bekommen sonst vom Wirkungskreis des Redners durch die Bemerkungen ihres Lehrers an folgenden Stellen zu hören: II.3.A43,24-44,5; 10.A55,6-12; 17.A64/7-10; 27.A76,12 —15; 39.A86,2-6. Der Redner befaßt sich mit Fragen, die den Menschen angehen — que,stiones ciuiles, d. h. iudiciales, demonstratiue, deliberatiue,que. Die werden II.11.A55,25 —56,6 (im Abschnitt DE MATERIA ARTIS RHETORICAE.), 39.A86,4—87,14 (im Abschnitt QUID SIT INTER RHETORICAM SUADELAM . ET PHILOSOPHICAM DISPUTATIONEM.) und 49.A103,25-104,14 (im Abschnitt ITEM STILUM CONUERTI ^ DISPUTANDO AD SUADENDUM.) aufgeführt und beschrieben; die besagten Kapitel wurden übrigens alle in den Grundtext eingeschoben. Den Schülern werden verschiedene rhetorische Begriffe und Bezeichnungen in Notkers Textexplikation beigebracht, so z.B. II.6.A47,21/22 parabole ... comparatio, 6.A47,28 —30 superbia ... crudelitas ... fallatia, 7.A49,19 —21 ornatus locutionis ... omoeoteleuton ... similiter finitum bzw. desinens, 7.A50,l/2 indignatio cum emulatione, 7.A50,17/18 rhetorica declamatio ... acclamatio, 7.A50,30 confutatio, 21.A69,20 —22 suasio per comparatiuum superlatiuumue, 25.A74,7/8 argumentatio ... in rhetorica comprehensio, 25.A74,18/19 dissuasoria oratio, 37.A83,21 irrisio yronica und V.3.A234,15 jpallage. Der Abschnitt mit der von Notker ergänzten Überschrift EPILOGUS. (ultima pars orationis) V.49.A271,17 —27 schließt die lateinischalthochdeutsche ,Consolatio'. Achtmal (siehe z. B. II.46.A100,25,27,29) teilt Notker verwickelte Satzgefüge bzw. Gedankengänge durch rhetorisch-dialektisch-syntaktische Anweisungen (Suspensio uocis., Et hic., Depositio.) in handliche Glieder
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auf; dieses Verfahren hat er mit dem Verfasser des St. Galler Traktats gemein. Siehe dazu Backes S. 56 — 61 und Sonderegger 1987, S. 856 — 862. Der Redner muß sich auch vor Gericht bewähren. Daß Boethius zunächst gewissermaßen einen Prozeß gegen die von Philosophia vertretene und verteidigte Fortuna führt und dabei Berufung in seiner eigenen Sache einlegt, geht schon aus Notkers Überschriften hervor, z.B. 1.1. A6,12/13 CONQUESTIO BOETII . DE INS TA BILITA TE FORTUNE., 5. AI 1,9 CONQUESTIO PHILOSOPHIAE SUPER AEGRO., 16.A24,2 REMOTIO CRIMINUM., 17.A25,9 ITEM., 20.A28,14 PURGAT SE SUSPITIONE SACRILEGII., 26.A34,5 AD SUPERIORA RESPONDETUR. und II.8.A53,1 LOCUS COMMUNIS. Vier von den eingeschobenen Abschnitten der sog. kleinen Rhetorik - 11.11. DE MATERIA ARTIS RHETORICAE., 12. QUI SINT STATUS LEGALES., 13. QUI SINT STATUS RATIONALES. und 14. QUID SIT STATUS. — bringen auch Juristisches zur Sprache. Notkers Ausführungen 11.39.86,4—7 (iudices . ünde iuris consulti ...In foro) und V. 16. A246,30 — 247,2 (Summa facti nach Cicero, De inventione 1,26,37; dazu Sonderegger 1980, S. 253) gehören auch hierher. IV.35.A207,2/3 (oratores ... tie ding-män), Z.3/4 (iudicum ... die iudices), Z.7 —9 (ad iudicium ...ab iratis accusatoribus ... ^e dinge ...föne iro leidären), Z.14,16 (in habitum .i. in modum accusationis ... ddra-uuidere leidondo), 2.18/ 19, 22/23 (cruciatibus poenarum ... cruciatus ...föne des uui^es hdndegi ...füre uui^e) und Z.23 —26 (Defensorumque operam ... accusatoribus . iudicibusque ... tero bistellön helfo ... dien leidären . iöh tien rihtären) dagegen steht das Rechtswissenschaftliche schon bei Boethius. Obwohl nunmehr Argumente und Syllogismen angewandt werden, streift Notker IV. 1.AI 83,2,4 die Rhetorik in einer lateinischen Glosse, die nicht verdeutscht wird: etgrauitate oris .s. secundumprecepta rhetorica ... ünde mit ^ühtigi des mündes.
Dialectice disputare Die Heilung des Boethius durch Philosophia fing mit Rhetorik an, die bekanntlich bequemer und einfacher ist. Jetzt geht die „Ärztin" zur Disputation über, ist diese doch schwieriger und schärfer. Um mit Notker selber 11.42.A94,l — 5 am Ende des eingeschobenen Abschnitts QUID SIT DISPUTATIO. zu reden: SU tes siechen müot erest in dien geriehen neuuäs . dd% si [Philosophia] mit imo mähti disputare . uudnda to disputatio subtilis ist. ünde acuta . föne
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diu sölta si in mit rhetorica suadela . diu delectabilior . ünde planior ist . leiten s^e dero disputatione . an dero si nü io-äna ist. Schon im Exkurs II.27.A76,11 —19, der mitten im lateinisch-althochdeutschen Text des Abschnitts INCIPIT DISPUTARE DE REBUS IPSIS. steht, hatte Notker auf den Ubergang aufmerksam gemacht. Die Zeilen 15 — 17 lauten: Nü uuile si disputare . dä\ negät ten oratorem nieht dna . nübe den phylosophum. Td^ heilet disputare . de naturis rerum . uel de deo . uel de moribus tractare. Wie Notker früher mit den fünf eingeschobenen Abschnitten ILIO. —14. eine kleine, althochdeutsch verfaßte Rhetorik schuf, so läßt er jetzt eine kleine, althochdeutsch verfaßte Dialektik bzw. Syllogistik entstehen, die den Inhalt seiner späteren lateinisch-althochdeutschen Schrift De syllogismis umreißt. Dazu gehören vor allem die eingeschobenen Voll- und Teilabschnitte 11.40.A87,16-88,24 DE PARTIBUS PHILOSOPHIAE., 42.A93,22 —94,5 QUID SIT DISPUTATIO., III.15.A114.5-29 QUANTA SIT UIS SYLLOGISMI. (Einschub am Anfang des Abschnitts), 60.A140,9—27 BON IS CORPORIS HOMINES NON AEQUARIBESTIIS. (Einschub am Ende des Abschnitts), 78.A154.7155,29 DE PREDICATIUO ET CONDITIONALISYLLOGISMO., 109.A169,27-170,17 QUID SIT DIFFINITIO. (Einschub am Anfang des Abschnitts), 121.A177,17-178,19 DE ARGUMENTIS., IV.7.A188,11-189,9 QUE SIT NATURA RERUM . ET CONSEQUENTIA RATIONUM. und 28.A202,16-26 MALOS ETSINUMQUAM MORERENTUR . INFELICISSIMOS FORE. (Einschub am Ende des Abschnitts) Die eingeschobenen Abschnitte III.124.A181,26 — 182.15 DE UARIETATE TRANSACTE DISPUTATION IS. und IV.56.A230,14-231,11 QUESTIONES HUIUSQUARTILIBRI. ET QUIADHUC SEQUITUR QUINTI. AD QUAM PARTEM PHILOSOPHIAE PERTINEANT. fassen das Verfahren zusammen, ohne zur Theoretik beizutragen, genauso wie der Einschub V.1.A232,3—18 mitten im Abschnitt REUOCATUR PHILOSOPHIA A PROPOSITA DISPUTATIONE. Befaßt sich die Rhetorik mit dem Menschen und den ihn betreffenden Fragen — que,stiones ciuiles, die iudiciale, demonstratiuum und deliberatiuum durchnehmen, so kommt es der Disputation auf die Dinge und die damit verbundenen Fragen — que,stiones philosophier — an, die physicum, efhicum bzw. morale und diuinum bzw. theologicum untersuchen. Den philosophischen Fragen gilt der oben erwähnte Abschnitt 11.40. DE PARTIBUS PHILOSOPHIAE.
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Man disputiert mit den drei Instrumenten der Dialektik — dem Argument, dem Syllogismus und der Definition, wie Notker III. 109.A169,28-170,1 meint: Hier ist umnenne . dâ^ dijfinito óuh éigert instrumentum ist philosophorum . ad disputandum . sâmo-so argumentum ist. ünde syllogismus. Mit tien drin düohta in . dâ^ uuir âllero dingoliches sîn irrihtenne . ünde da% ander âl unguis si . âne dâ^ uns argumentando . ratiocinando . diffiniendo geuuâret uuérde. 60. A140,16 —19 ist die Rede von weiteren Mitteln: Alle dispvtationes . hâbent irò fésti . in argumentis . ünde in sjllogismis ! ünde in diffinitionibus . ünde nób tânne in exemplis maiorum . et in auctoritate diuina. Argumenta Gleich im ersten Abschnitt des ersten Buches 1.1.A7,16—18 kommt Notker auf ein Argument in Boethius' Text: Qui cecidit . non erat ille stabili gradu. Ter dóh îo uiel. fasto nestûont ! übe er fasto stüonde . sô neui[e]le er. Argumentum a repugnantibus. Répugnant enim stare et cadere. Er verweist zuletzt V.20.A250,13 —16 auf ein Argument: Sed ex conuenientibus et necessariis causis. Nübe fóne dara-^üo léitendên dingen . ünde nôt-mâchigên. Also argumentum ist ex conuenientibus . et necessariis. Primus homo . quia non habuit patrem aut matrem . non est genitus. Insgesamt kommen 68 Verweise auf Argumente in Notkers Kommentar zur ,Consolatio' vor, u. zw. argumentum a toto (3 Belege), a parte (4), a nota bzw. etjmologia (3), a coniugatis (3), a genere (1), a specie (kein Beleg), a simili bzw. similitudine (2), a dissimili bzw. differenza (3), a contrariis (13), ab antecedentibus (1), a consequentibus (1), ab adiunctis (2), a repugnantibus (7), a causa bzw. ab efficientia (11), ab e f f e c t u bzw. euentu (9) und a comparatione (5). Die beiden Überschriften 11.25.A72,24/25 ARGUMENTATUR NON ESSE BEA TITUDINEM IN PRESENTI FELICITATE, und III.28.A119,14-16 PROBANDUM DICIT ARGUMENTIS . AN PER HAEC QUINQUE . QUOD DESIDERATUR UALEAT ADIPISCI. legen Argumentation an den Tag.
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Syllogismi bzw. Ratiocinationes Boethius' Genesung ist jetzt so weit vorgeschritten, daß Philosophia an den Syllogismus (lat. ratiocinatio) herangehen kann, der noch anspruchsvoller ist als das Argument, wozu Notker 111.15.A114,27 — 29: Föne diu ist argumentvm inperfectus syllogismus. Fölle-rücchest tu ad tria membra . so ist i^f611er syllogismus. 60.A140,20-27 heißt es: Nöh tänne ist kuissera . däs> uns ratio syllogismorum öuget . tdnne argumentorum . uudnda sümelichiu argumenta sint probabilia . dd^ chit kloublichiu . diu mügen uuilön uuäriu sin . uuilön lükkiu . dnderiu sint necessaria . td^ chit pe note uuäriu . aber syllogismi . die netriegent neheinest . übe si legitime geuuorht sint . pe diu habet si [Philosophia] die nöh näh gespdret . ad ualidiorem disputationem. Und 78.AI 55,25 - 2 9 : Un^ si in lerta mit argumentis . ünde mit exemplis . so uuds tiu reda liehtera . uuända si imo nü geben uuile ualidiora remedia . be diu habet si in nü beständen yuo dien argumentis . mit syllogismis . tie meist kemügen . beidiu . iöh in disputando dialectice . iöh in suadendo rhetorice. Um seinen Schülern beizubringen, was man mit dem Syllogismus anfangen kann, schob Notker III. 15.AI 14,5 —29 eine Erläuterung am Anfang des Abschnitts QUANTA SIT UIS SYLLOGISMI. ein. Der eingeschobene Abschnitt 78.A154,7-155,29 DE PREDICATIUO ET CONDITIONALI SYLLOGISMO. läßt sich auch als Unterrichtsthema auffassen. Schon die von Notker stammenden Überschriften im dritten und vierten Buch lassen die Schüler erkennen, welche Abschnitte einen Syllogismus aufweisen. Ein prädikativer Syllogismus besteht z. B. aus zwei sumpta und einer illatio. Die Überschrift SUMPTUM [PRIMUM], kommt siebenmal (Ill.ömal, IV. 1 mal; so z.B. III.75.A153.25) vor. SUMPTUM [SECUNDUM], und ILLATIO. begegnen ebenfalls je siebenmal (z.B. III.76. AI53,29 SUMPTUM. und 77.A154.1 ILLATIO.). Zweimal besagt ITEM, einen prädikativen Syllogismus (III.116.A174,2 und IV. 17. AI 94,8). Die drei Glieder eines hypothetischen bzw. konditionalen Syllogismus sind nun propositio, assumptio und conclusio. Also sind die Überschriften PROPOSITIO., ASSUMPTIO. und CONCLUSIO. je viermal (III. und IV. je 2mal) belegt, so z.B. 111.12.AI 13,28 PROPOSITIO., 13. AI 14,1 ASSUMPTIO. und 14. AI 14,3 CONCLUSIO. 111.44. A129,5 —15 umfaßt der mit CONCLUSIO. beschriftete Abschnitt alle
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Glieder eines konditionalen Syllogismus. ITEM, besagt dreimal CONCLUSIO. (z. B. III.39.A125.19) V.40.A267,3/4 steht die Überschrift SI IN HUNC MODUM SYLLOGISMUS NECTATUR . QUO MO DO EUADENDUS SIT., womit Notker einen konditionalen Syllogismus meint. Was den Originaltext mit Notkers Übersetzung und Deutung anbelangt, so redet Notker schon I.3.A8,17 —20 von dem prädikativen Syllogismus bei der Auslegung des vorangegangenen Textes in Zeile 13 — 15: Vestes erant perfecta tenuissimis filis . subtili artificio . indissolubili materia. Iro uuät uuäs Meine . ünde uuähe . ünde festes ke^ivges ... Tä^ si ueste sint . td^ mäcböt tiu uuärheit. So mären sumptis urnriu inlatio folget . so nemäg tdra-um'dere nioman nieht ketüon. Föne diu ist io in uuärheite festi. IV.12.A193,2 —4 erklärt Notker, daß conclusio auch collectio bzw. confectio bzw. illatio heißen kann. Er nennt Martianus Capeila, als er 21.AI 98,7/8 auf eine confinis conclusio . grece simplerasma (*sjmperasma-, dazu MC, IV. De arte dialectica §407.197,21/22) aufmerksam macht. Die Schüler hören 28.A202,22 — 26 von argumentationes . sophysticq, die Syllogismen und Argumente einschließen, wobei Notker auf Cicero (De inventione 1,48,89/90) verweist. V.14.A243,20 bezeichnet er einen Schluß als falsch. Definitiones Die Definition (bei Notker diffinitio) setzen Boethius und Notker seltener ein als das Argument und den Syllogismus. I.29.A38,19—23 übernimmt Notker von Boethius die Begriffsbestimmung homo = rationale animal . atque mortale, die er Aristoteles (siehe King 1972,1.1.B4,8 —13) zuschreibt. Der Abschnitt III.4.A111,22-112,2 DIFFINITIO. definiert beatitudo, ahd. säligheit. Nobilitas wird 49.AI34,15 —18 in beiden Sprachen näher bestimmt. Der kurze Abschnitt 108.A169.24-26 DIFFINITIO BONI. geht dem Theoretischen in Notkers Exkurs 109.A169,27 —170,17 am Anfang des Abschnitts QUID SIT DIFFINITIO. voran. Der Klosterlehrer gibt in diesem die Definition von animal an, stellt die diffinitio der descriptio gegenüber und verweist auf Ciceros Topica (V,26.—VI,29.) sowie auf Victorinus. 122.A179,1 ersetzt er diffinitio durch tiu %eigunga bei der Auslegung von summum bonum. Die Definition von beatitudo kommt IV.2.A184,18-21 wieder an die Reihe.
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Rhetorica sine potentia disputandi? Minime. In Anlehnung an Kassiodor, Isidor von Sevilla und Alkuin bezeichnet Notker Rhetorik II.10.A54,22/23,24-26,28-55,1 als die zweite der sieben freien Künste: Rhetorica ist ein dero Septem liberalium artium . da^ chit tero siben büohlisto ... Tero sibeno ist grammatica diu erista . diu ünsih leret rectiloquium . dd^ chit rehto sprechen ... Tiu dnderiu ist rhetorica . tiu ünsih ferror leitet . uuända st gibet uns tia gesprächi . dero man in dinge bedarf . ünde in sprächo . ünde so-uuar dehein einünga ist gemeinero dürfto. Aus dem eingeschobenen Abschnitt QUID
SIT
RHETORICA.
Bei Martianus Capeila und im der Münchener Fassung von Notkers Rhetorik vorangegangenen „Katechismus" (Clm.4621,fol.47r,l — 56r,16; Piper I, S. 623 — 642) steht Rhetorik dagegen hinter Dialektik an dritter Stelle. Wie hätte sich der redenäre bzw. ding-män überhaupt in der Versammlung und vor Gericht durchsetzen können, ohne der Disputation mächtig zu sein? Rhetorik und Dialektik überschneiden sich bei Boethius und Notker, so dieser II.27.A76,17 —19: Töh sülen mir dd^ chiesen . da% si [Philosophia] hertön beginnet peidiu tüon . iöh disputare . iöh suadere. Der eingeschobene Abschnitt 49.A103,17-104,26 ITEM STILUM CONERTI A DISPUTANDO AD SUADENDUM. verfolgt diese Abwechslung. Bald redet Philosophia — eigentlich der Autor Boethius — rhetorisch zu, bald disputiert sie bzw. er philosophisch, freilich ebenso sehr wie Paulus, der nach Lukas in der Apostelgeschichte (19,8) disputans et suadens de regno dei gewesen sei, wie Notker es 49.A104,22 —26 ausdrückt. Der Rhetoriker verfügt über die diffinitio als den vierten der status legales (II.12.A56,30—57,9) gegenüber der oben dargestellten diffinitio als Instrument der Disputation. Notker bringt 12.A57,9 —13 die ratiocinatio als den fünften status legalis vor, obschon wir diese schon früher als Mittel der Disputation kennengelernt haben. Wir lesen III.78.A155,28/29 von syllogismis . tie meist kemügen . beidiu . iöh in disputando dialectice . iöh in suadendo rhetorice. IV.27.A201,5 —7 ist die Rede vom rhetoricussyllogismus, der diffusior ist als der syllogismus dialecticus, der contractior sein soll. Der Beleg 11.25. A74,7/8: So getan argumentatio . heilet in rhetorica comprehensio . tä^ chit keuängeni ist oben im zweiten Teil dieser Studie als rhetorische Bezeichnung schon vorgekommen.
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Zu den Quellenangaben bei Notker Zur Rhetorik und auch zur Disputation zitiert Notker bzw. verweist er auf Cicero, manchmal aber nennt er die einschlägige Schrift nicht. De inventione begegnet dreimal: II.49. AI04,6/7 (Tén únderskéit lêret únsih cicero .), IV.28.A202,25/26 (jone cicerone in rhetoricis) und V.16.A246,30 (dá% lêret únsih cicero in rhetoricis dicens.). Drei Belege gehen Tópica an: II.5.A46,16 (Tés káb cicero súslih exemplum.), III.109.A170,2/3 (uuánda cicero lêret in topicis quatuor modos .) und IV.7.Al 88,24 (sô cicero chít in topicis .). Bei Notker heißt der Auetor [anonymus] ad Herennium Cicero: II.7.A49,20 (Cicero ad herennium) und 58.A58,25 (Also cicero säget.). Mit II.10.A55,16 (sô cicero chît .) ist De optimo genere oratorum gemeint, während Notker 40.A88.9 ausdrücklich De offieiis nennt. Gelegentlich weist er auf sämtliche Werke Ciceros zur Rhetorik hin, so 1.31. A41,6 (Föne dien sélbên chád cicero .) — dieser Vermerk stammt aus Remigius' Kommentar — und II.14.A61,12 —14 (tés sínt ciceronis pûoh fól . diu er de arte rhetorica gescriben habet. Sallusts Bericht De Catilinae coniuratione wird II.39.A87,4/5 (Also úmbe ciceronem fäor .) zur Nennung Ciceros benutzt. Zweimal führt Boethius, und sich ihm anschließend Notker, Cicero an, u. zw. II.45.A98,17,19 (Aetate denique marci tullii ... Cicero saget .) — De re publica — und V.17.A247,13/14 (Marcoque tullio uehementer agit ata ... Unde fóne cicerone gnûog ketríbeníu) — De divinatione. Cicero wird V.24.A253,10/11 An démo nomine homo ... an piatone . cicerone . soerate) und 44.A269,19/20 (sô plato ist . únde cicero . únde állíu indiuidua) im Sinne von Aristoteles' individuum genannt; siehe dazu 44.A269,23/24 (Dâs^ lêret in cathegoriis aristotiles.). Oben wurde zur Definition der Rhetoriker Victorinus III.109.A170,3/4 als Gewährsmann genannt. Es seien in diesem Zusammenhang die Verdienste unseres Jubilars Stefan Sonderegger um Notker den Deutschen überhaupt und um dessen Rhetorik insbesondere — vor allem um Cicero bei Notker — erwähnt. Seine Beiträge zur Forschung über diese Themen werden unten im Literaturverzeichnis aufgeführt. Für seine Ausführungen über Cicero in Notkers Bearbeitung der ,Consolado' bin ich ihm sehr verbunden. Wir freuen uns alle darauf, einmal seine Verdeutschung von Notkers Abhandlung De arte rhetorica lesen zu können. Wegen der Disputation greift Notker auch zu Aristoteles, selbstverständlich von Boethius latinisiert und kommentiert; siehe dazu King 1972 und 1975. In einem früheren Paragraphen wurde V.44.A269,23/24 zitiert. Zu Categoriae siehe auch 1.29.A38,22/23 (also aristotiles chît.), II.5.A47,16 (uuánda aristotiles chit.), V.12.A241.1/2 (ERRANTIUM RATIO ALIA
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MANIFESTATUR RAT IONE . SUMPTA EX CA THEGORIIS ARISTOTELIS.) und 24.A254,9/10 (Tännän sdgeta aristotiles in cathegoriis .). Es geht um Periermenias bzw. De interpretatione III.78. AI 55,1 (Sid enuntiatio ist . so aristotiles chit in periermeniis .) und V.41.A267,22 — 24 (EXPLANATIO EIUSDEM SENTENTIE • EX HOC QUOD DUZ NECESSITATES SUNT . UT IN PERIERMENIIS ARISTOTELIS LEGITUR.). Boethius' größerer Kommentar zur Schrift De interpretatione wird IV.39.A212,13/14 (boetius ... in tertio libro secunde, editionis . periermeniarum) genannt. Auf Aristoteles' Topica wird III.121.A177,20/21 (Dero ajfectorum sint föne aristotile sedecim geißlet .) verwiesen; IV.41.A216,5 (also aristotiles lerta .) bezieht sich auf Analytica priora. Notkers Berufung auf Martianus Capella, De arte dialectica an der Stelle IV.21.A198,7/8 wurde oben unter der Rubrik Sjllogismi bzw. Ratiocinationes verzeichnet.
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PETER OCHSENBEIN,
St. Gallen
Notker Balbulus deutsch
Die Mitbrüder im St. Galler Konvent dürften Notker I. (um 840 — 912) bereits zu seinen Lebzeiten bewundert haben 1 . Er war ihr wortmächtigster Dichter und ein Gelehrter, der sie in der Bewertung des Wissens führte. Nach seinem Tod wurde er ihr Fürsprecher bei Gott, genoß bald die kultische Verehrung eines Hausheiligen und wurde ihnen Vorbild benediktinischen Lebens 2 . Diese Einschätzung verblieb im Gedächtnis des Konvents und hielt sich, gestützt durch die alljährliche Memoria an seinem Todestag am 6. April, mehr oder weniger ungebrochen bis zur Auflösung der Gemeinschaft im Jahre 1805. Ein früher Widerhall seiner durch orale Tradition lebendigen Gegenwart über den Tod hinaus findet sich in den von Ekkehart IV. um 1040 verfaßten ,Casus sancti Galli' (in den Kapiteln 2 — 7, 33 — 37 und insbesondere 41—46.)3 Für eine von St. Gallen aus in Rom angestrengte, dann freilich wegen politischer Umstände nicht erfolgte Heiligsprechung entstand um 1230 die ,Vita Notkeri Balbuli' 4 . Eine Beatifikation kam erst 1513 zustande, vollzogen durch den hierzu ermächtigten Diözesanbischof von Konstanz. Außerhalb der St. Galler Klostermauern war Notker Balbulus vornehmlich als Dichter von Sequenzen bekannt. Wenn auch die meisten seiner Alleluia-Prosen anonym überliefert wurden, erscheint sein Name als Dichter und Schöpfer in erstaunlich vielen liturgischen Gesangshandschriften 5 . Mindestens ein Dutzend seiner über 40 Sequenzen, im unter' Zu Leben und Werk Notkers vgl. jetzt: H. F. Haefele, Notker I. von St. Gallen, in: Verfasserlexikon 6, Sp. 1187 — 1210. — von den Steinen, Notker der Dichter, Darstellungsband, 3 1 - 8 0 . - Duft, Die Abtei St. Gallen, Bd. 2, 1 2 7 - 1 4 7 . 2 P. Ochsenbein und K. Schmuki, St. Galler Heilige. Handschriften und Drucke aus dem 8 . - 1 8 . Jahrhundert, St. Gallen 1988, 3 7 - 4 0 . 3 Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, hg. u. übersetzt v. H. F. Haefele, Darmstadt 1980 ( = Ausgewählte Quellen zur dt. Gesch. des Mittelalters 10), 1 8 - 3 0 , 7 6 - 8 6 u. 92-104. 4 Lechner, Vita Notkeri Balbuli, 170 — 176; P. Stotz, ,Notkar Balbulus', in: Verfasserlexikon 6, Sp. 1185 f. 5 Vgl. von den Steinen, Notker der Dichter, Editionsband, 160—213.
Nother Balbulus deutsch
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gegangenen ,Liber hymnorum' als Widmungsexemplar im Jahr 884 für Bischof Liutward von Vercelli zusammengefaßt, erklangen bis zur Reformation bzw. bis zur liturgischen Reform durch das Konzil von Trient (1545 — 1563) alljährlich in den Festgottesdiensten der abendländisch-lateinischen Kirche. In einer vor 1500 öfters gedruckten lateinischen Erklärung damals gebräuchlicher Sequenzen figurieren — freilich ohne Verfassernamen — 16 der echten Gesänge Notkers 6 . Auch im Galluskloster galt er als der Sequenzendichter schlechthin. Im Nekrolog des Kapiteloffiziumsbuches zum 6. April versah eine spätere Hand den ursprünglichen Eintrag Obitus Notkeri magistri, um den Verstorbenen von den weiteren Trägern gleichen Namens zu unterscheiden, mit dem Nachsatz: qui sequentias composuit1. Die beiden im 11. Jahrhundert wohl im Gallusskriptorium geschaffenen Autorenbilder zu Notkers Sequenzensammlung belegen eindringlich, daß der St. Galler Mönch in der Bewertung seiner engeren Nachwelt zu den verehrenswerten Verkündern des Wortes Gottes aufgestiegen und deshalb einer Darstellung wie der der Evangelisten und Kirchenväter würdig war: Sanxerat iste puer haec orbi carmina Notker8. Im krassen Gegensatz zur kultischen Verehrung Notkers I. im Galluskloster und zur liturgischen Lebendigkeit seiner Sequenzen bis zum Ausgang des Mittelalters steht die äußerst bescheidene Aneignung seines Werkes in deutscher Sprache. Wenige seiner lateinischen Texte sind in 6
Tit.: Expositio
hymnorum.
Textus sequentiarium cum optimo commento; g e m ä ß L. Hain,
R e p e r t o r i u m b i b l i o g r a p h i c u m in q u o libri o m n e s ab arte t y p o g r a p h i c a i n v e n t a usque ad a n n u m M D typis expressi, v o l . I, Stuttgart 1 8 2 6 , Nr. 6 7 7 9 — 6 7 9 4 in 1 5 D r u c k e n . F o l g e n d e 1 7 N o t k e r - H y m n e n sind hier unter den ü b e r 50 Sequenzen k o m m e n t i e r t : zu Weihnachten: Natus ante saecula, z u m hl. Stephan: Hatte concordi famulatu,
zum EvangeChristo, zu Epiphanie: Festa Christi, zu Lichtmeß: Concentu parili, zu Ostern: Laudes salvatori, z u m O s t e r m i t t w o c h : Agnipaschalis esu, zu H i m m e l f a h r t : Summi triumphum regis, zu Pfingsten: Sancti spiritus assit nobis gratia, z u m hl. J o h a n n e s d e m Täufer: Sancti baptistae, zu den A p o s t e l f ü r s t e n Peter u n d Paul: Petre summe Christi pastor, z u m hl. Laurentius: Laurenti, David magni martyr, zu H i m m e l f a h r t Mariens: Congaudent angelorum chori, zu Mariä G e b u r t : Stirpe, Maria, regia, z u m K i r c h w e i h f e s t : Psallat ecclesia, zu A l l e r h e i l i g e n : Omnes sancti Seraphim, zu den A p o s t e l n : Cläre sanetorum senatus. listen J o h a n n e s : Johannes,Jesu
1
St. Gallen, Stiftsbibliothek, C o d . Sang. 9 1 5 , p. 3 1 3 . — Z u r Handschrift vgl. J o h a n n e A u t e n r i e t h , D e r C o d e x Sangallensis 9 1 5 . Ein Beitrag zur E r f o r s c h u n g der K a p i t e l o f f i ziumsbücher, in: Landesgeschichte u n d Geistesgeschichte. Festschrift f ü r O t t o H e r d i n g z u m 65. G e b u r t s t a g , Stuttgart 1 9 7 7 , 4 2 — 5 5 .
8
D i e beiden A u t o r e n b i l d e r (1. in einem Sequentiar aus M i n d e n , u m 1 0 2 5 :
Krakau,
Biblioteka Jagiellonska, Cod. theol. lat. quart. 11 (Berlin), fol. 1 4 4 t ; 2. herausgelöstes Einzelblatt aus Cod. Sang. 3 7 6 , u m 1 0 7 0 : Zürich, Staatsarchiv, S a m m e l m a p p e A G 1 9 X X X V ) sind farbig w i e d e r g e g e b e n und erklärt bei D u f t , D i e A b t e i St. G a l l e n 1, A b b . 1 6 u. 1 7 u. S. 2 5 2 f. — Vgl. auch Berschin, E r e m u s u n d Insula, A b b . 1 5 u. 16. u. S. 1 3 3 .
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Peter Ochsenbein
spätmittelalterlicher Zeit in unsere Volkssprache übersetzt worden, wenige Passagen aus seinen Schriften haben die spätere deutsche Literatur beeinflußt, wohl noch am intensivsten die Darstellung Karls des Großen durch die anonym überlieferten ,Gesta Karoli Magni'. Eine gründliche Rezeptionsgeschichte für die spätmittelalterliche Zeit steht noch aus. Dennoch läßt sich schon jetzt feststellen, daß sie sich — sieht man von deutschsprachigen Texten und Hinweisen über Notker Balbulus ab — auf sehr wenige Zeugnisse beschränkt. Die bislang Bekannten seien hier kurz vorgestellt: 1. Von Notkers Sequenzen ist lediglich eine einzige gleich dreimal ins Deutsche übertragen worden: die auf die Mater-Melodie gedichtete Prose ,Congaudent angelorum chori' zum Fest Mariä Himmelfahrt: a) Vom Freiburger Pfarrer und späteren Dekan Heinrich Laufenberg vermutlich vor 14349. Seine wohl von ihm eigenhändig geschriebene Handschrift mit gegen 100 zumeist geistlichen Liedern (Cod. B 121 4°) ist im Jahre 1870 in Straßburg verbrannt. Erhalten hat sich von den Liedern lediglich eine Abschrift von Philipp Wackernagel (1800—1877) und seine Veröffentlichung dieser Texte im zweiten Band seiner Sammlung ,Das deutsche Kirchenlied'. Während der Berliner Hymnologe von einzelnen Liedern Laufenbergs auch die Melodie transkribierte, unterließ er dies offensichtlich für die deutsche Bearbeitung der Notkerschen Sequenz. Aus dem gedruckten Text ist jedoch deutlich erkennbar, daß Laufenberg die lateinische Vorlage so für das Deutsche bearbeitete, daß die vorgegebene Mater-Melodie bewahrt werden sollte 10 . Denn der Aufbau der Doppelstrophigkeit mit jeweils gleicher Verszahl — jedoch nicht immer identischer Silbenzahl — wird streng eingehalten. Wie der uns erhaltene Text mit der in spätmittelalterlicher Überlieferung keineswegs festen Mater-Melodie zu verbinden ist, läßt sich nur vermuten. b) Vom Basler Kartäuser Ludwig Moser um 1500. Seine deutsche Bearbeitung, in drei Handschriften überliefert, ist in Notkers Heimatkloster 9
10
Zu Leben und Werk Laufenbergs vgl. jetzt: B. Wachinger, Laufenberg, Heinrich, in: Verfasserlexikon 5, Sp. 614—625. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied 2, 584 f. (Nr. 762). — Zum Aufbau und zur Melodieüberlieferung der verbrannten Straßburger Handschrift vgl. B. Wachinger, Notizen zu den Liedern Heinrich Laufenbergs, in: Medium aevum deutsch. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, Tübingen 1979, 3 4 7 - 3 8 5 , bes. 3 5 1 - 3 6 1 u. 3 8 1 - 3 8 5 . — Zur Ubersetzungsleistung Laufenbergs (im Vergleich mit der des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein) vgl. Bärenthaler, Übersetzen im deutschen Spätmittelalter, bes. 5 2 - 5 9 ; 244 u. 2 6 1 - 2 6 4 .
Notker Balbulus deutsch
217
um 1516 zusammen mit der Notation in eine liturgische Handschrift aufgezeichnet und vielleicht am Fest Mariä Himmelfahrt dem St. Galler Volk vorgesungen worden. Dieser Bearbeitung gilt der Hauptteil der folgenden Untersuchung. c) Vom böhmischen Pfarrer Christophorus Hecyrus (Schweiler) vor 1581 im von ihm selbst zusammengestellten und in Prag 1581 gedruckten Gesangbuch „Christliche Gebet über das gantze Jar" 11 . Wie Text und Notation im Gesangbuch belegen, paßt sich die Übersetzung meist monosyllabisch der vorgegebenen Mater-Melodie sehr genau an 12 . 2. Aus Notkers fragmentarisch erhaltenem ,Metrum de vita sancti Galli' liegt vom umfänglichsten Prosa-Teil aus dem ersten Buch, der Predigt des Heiligen nach der Bischofswahl in Konstanz (Sermo S. Galli confessoris domini habitus Constantiae), eine deutsche Übersetzung mit kurzer Vorrede vor. Die einzige Handschrift (St. Gallen, Stiftsarchiv, Bd. 221, fol. l v —23v) wurde 1568 geschrieben. Ob erst damals diese Übersetzung (vielleicht im Kloster St. Gallen) entstand oder ob sie auf eine ältere verlorene Vorlage zurückgeht, wäre zu untersuchen 13 . 3. Die von Notker auf Wunsch Kaiser Karls III. verfaßten, aber unvollendet gebliebenen ,Gesta Karoli Magni Imperatoris', seit dem 12. Jahrhundert zumeist mit Einhards ,Vita Karoli Magni' und den ,Annales qui dicunter Einhardi' anonym überliefert, wurden vom unbekannten Autor der ,Kaiserchronik' herangezogen 14 . Am nachhaltigsten innerhalb der deutschsprachigen Karls-Literatur hat der unbekannte Verfasser der in Augsburg nach 1275 entstandenen ,Prosakaiserchronik' (,Buch der Könige alter e und niuwer e', 2. Teil) die ,Gesta Karoli' benutzt, so für die Geschichte vom „eisernen Karl" (Gesta Karoli II, 17)15. Der Rezeptionsgeschichte der Notkerschen Werke im Spätmittelalter kann die in mehreren deutschen Prosaübertragungen vorhandene und in der volkstümlichen Frömmigkeit vielfach verwendete Prozessionsantiphon ,Media vita in morte sumus' gleich in zweifacher Hinsicht nicht zugerechnet werden. Der lateinische Text entstand wohl erst im 11 12 13 14
15
Baumker, 4 9 f . Gedruckt bei Baumker, 121 f. (Nr. 54). Erster Hinweis bei Berschin, Notkers Metrum, 71 — 121, hier S. 88 Anm. 45. Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen, hg. von H. F. Haefele, Berlin 1959 ( = M G H , Scriptores rerum Germanicarum nova series 12), X X I I I — X X V I I . — Geith, Carolus Magnus, 48 — 83, bes. 80. Geith, Carolus Magnus, 2 0 9 - 2 2 1 u. 244.
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Peter
Ochsenbein
11. Jahrhundert und ist in St. Gallen nicht vor dem 14. Jahrhundert nachweisbar 16 . Von einer angeblichen Autorschaft Notkers und den näheren Umständen seiner Entstehung weiß erst Pater Jodocus Metzler in einer Chronik des Gallusklosters aus dem Jahre 1613 zu berichten 17 . Noch Joachim Cuontz, der seit 1510 sämtliche Gesänge Notkers, echte und unechte, zu dessen Ruhm in sein St. Galler Sequentiar (Cod. Sang. 546) aufnahm, bezeichnet ,Media vita' als Pulcherrima antiphona [...] sanctorum antiquorum monachorum Sanctigallensium nostrorum, nennt aber keinen Verfassernamen 18 . Die offensichtlich von Jodocus Metzler erstmals vollzogene Zuschreibung der Antiphon an Notker Balbulus hielt sich in St. Gallen bis in die Gegenwart. So wird alljährlich am Gallustag (16. Oktober) in der ehemaligen Klosterkirche, jetzt Kathedrale, nach der feierlichen Vesper die lateinische Antiphon von der Choralschola angestimmt. Der hier gewählte Titel als Festgabe auf den Tisch eines Gelehrten, dem die deutschsprachige Überlieferung aus dem Galluskloster während Jahrzehnten ein Hauptthema seines Forschens war, will als Gegensatz zu jenem Buch verstanden sein, dem es die Formulierung verdankt: Kurt Ruh hat mit ,Bonaventura deutsch' für die Germanistik einen Strom erschlossen, in den viele mittelhochdeutsche und mittelniederländische Ubersetzungen, Bearbeitungen und Entlehnungen aus Werken des franziskanischen Scholastikers und Mystikers einmünden. Wie ein Rinnsal nimmt sich dagegen die Rezeptionsgeschichte des karolingischen Mönchs aus St. Gallen aus. Literaturgeschichtliche Gründe für diese so völlig verschiedenartige Wirkungsweise zu finden, fallt nicht schwer. Zwischen Notker und Bonaventura liegt ein halbes Jahrtausend, in dem sich die Rezeptionsbedingungen gründlich verändert, d. h. in mehrfacher Hinsicht erweitert haben: Produktion und Rezipientenkreis sind um ein Vielfaches gewachsen, der lateinischen Ausgangssprache steht nun eine fast ebenbürtige deutsche Ubersetzungssprache mit eigener scholastisch-theologischer Terminologie gegenüber. Alles dies erklärt freilich noch nicht, weshalb man im ausgehenden Mittelalter nicht auf einzelne Werke Notkers zurückgriff und sie in deut16
17
18
Vgl. von den Steinen, Notker der Dichter, Darstellungsband, 497 und W. Lipphardt, ,Media vita in morte sumus' (deutsch), in: Verfasserlexikon 6, Sp. 271—275. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 1408, p. 229 f.: angeblich ex vetustissimis membranis mitgeteilt, „die offenbar vor und nach ihm niemand gesehen hat" (von den Steinen, Notker der Dichter, Darstellungsband, 497). — Zu Metzler vgl. E. Tiefenthaler, P. Jodocus Metzler. Rechtsgelehrter, Chronist und Bibliothekar in St. Gallen, in: Biblos 29 (1980) 1 9 3 - 2 2 0 . St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 546, fol. 352v. — Vgl. Labhardt, Das Sequentiar Cod. 546, 76 (Nr. 335 b).
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deutsch
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scher Bearbeitung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Weshalb hat kein einziger St. Galler Mönch im beginnenden 16. Jahrhundert, als eine Notker-Renaissance einsetzte und 1513 in der Beatifikation des Gefeierten ihren Höhepunkt erlebte, etwa für den Brüderkonvent und die umliegenden Frauenklöster Texte Notkers oder wenigstens die eine oder andere Sequenz in die Volkssprache übersetzt? Ein einziges Zeugnis läßt sich aus dieser Zeit beibringen: Vielleicht vom St. Galler Konventualen Hans Conrad Haller (1486 — 1525) bearbeitet, entstand eine deutschsprachige Fassung jener ,Vita Notkeri Balbuli', die im 13. Jahrhundert dessen Kanonisation in Rom hätte befördern sollen 19 . So sehr die spätmittelalterlichen Gallusmönche ihren Sequenzendichter als Hausheiligen verehrten und die Verbreitung seines Kults kräftig förderten, so wenig kannten sie sein übriges umfangreiches Werk. Die vielen Schriften Notkers, zumeist unvollendet geblieben, gerieten schon bald in Vergessenheit oder wurden öfters anonym weitergegeben 20 . Das für Abtbischof Salomon III. zu dessen Amtseinsetzung verfaßte ,Formelbuch' sowie die beiden ebenfalls für Salomon bestimmten literarischen Lehrbriefe der ,Notatio de viris illustribus' verloren mit der Weiterentwicklung der Ars dictandi und des Schullehrplans seit dem 11. Jahrhundert schnell ihre Aktualität 21 . Dasselbe gilt wohl auch für Notkers gelehrtestes Werk, das ,Martyrologium', dessen Genus sich bereits im 9. Jahrhundert zu wandeln begann 22 . Im frühen 11. Jahrhundert wußte Ekkehart IV. noch vom ,Metrum de vita sancti Galli', von der ,Epistola ad Lantbertum' und von den ,Versus de fungo', aber in seinen ,Casus sancti Galli' erscheint Notker vor allem als der alle überragende Sequenzendichter 23 . Der unbekannte Autor der ,Vita Notkeri Balbuli' kennt nur noch die Sequenzen 24 . So entstand schon im Hochmittelalter „eine Einseitigkeit der Optik, die
19
20 21 22 23
24
Hg. von E.-A. Koeppel, Die Legende des heiligen Notker von Konrad Haller (1522), Göppingen 1983 ( = G A G 359). - Vgl. P. Stotz, .Notker Balbulus', in: Verfasserlexikon 6, Sp. 1 1 8 5 f. (mit weiterer Lit.). Vgl. H. F. Haefele, Notker I., in: Verfasserlexikon 6, Sp. 1205. Ebda., Sp. 1 1 9 4 - 1 1 9 6 . Ebda., Sp. 1 2 0 0 f . Zu Ekkeharts IV. Kenntnis von Notkers ,Metrum' vgl. Berschin, Notkers Metrum, 72 und Ders., Zur Textgestaltung von Notkers Metrum de vita S. Galli, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 27 (1971) 525 — 530. — Zu den ,Versus de fungo' vgl. den von Ekkehart IV. versehenen Kommentar zum Originaltext in Cod. Sang. 621, p. 355. — Zur ,Epistola ad Lantbertum' vgl. Ekkeharts ,Casus sancti Galli', cap. 47. Vgl. Lechner, Vita Notkeri Balbuli, 146.
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lange dominierte und erst in jüngerer Zeit mit der Wiederentdeckung so und so vieler Notkeriana ihre Korrektur erfuhr" 25 . Am augenfälligsten zeigt sie sich in der Uberlieferung der Gallusvita. Obgleich in der öfters abgeschriebenen Dedicatio des ,Liber hymnorum' von Notker als metrum quod de vita sancti Galli elaborare pertinaciter insisto angekündigt, ging in St. Gallen der Originalcodex, dessen Geschichte sich noch bis ins 16. Jahrhundert verfolgen läßt, verloren 26 . Dank der Exzerpte des äbtlichen Hofammans Johannes Hechinger vom Jahre 1464 aus dem Codex unicus läßt sich das kostbare Werk Notkers noch einigermaßen rekonstruieren 27 . Offensichtlich hielten Abt Franz Gaisberg und seine Mönche, welche seit 1509 zum 600jährigen Todestag Notkers ein Sequentiale in Regalfolio mit Hilfe des Augsburger Schreibmeisters Leonhard Wagner und des Buchmalers Nikolaus Bertschi erarbeiteten, es nicht für nötig, das ,Metrum de vita sancti Galli' nochmals abschreiben oder gar verbreiten zu lassen 28 . Das an Martianus Capella und an Boethius' ,De consolatione philosophiae' formal orientierte Werk blieb „immer geistige Kost nur einiger weniger, ein Gewächs wie Eiswein, aus später, fast überzüchteter karolingischer Kultur" 29 . Für die Notkersche Rezeptionsgeschichte umso ertragreicher dürfte deshalb eine genauere Untersuchung der schon genannten deutschen Übersetzung des Sermo sancti Galli im ersten Buch des ,Metrum' ausfallen. Was schließlich das Fehlen von deutschen Bearbeitungen Notkerscher Sequenzen in St. Gallen betrifft, so lag das neben der strengen Befolgung liturgischer und damit lateinischer Usanzen offenbar daran, daß in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts kein St. Galler Mönch befähigt war, solche Gesangstexte einigermaßen adäquat zu übertragen. Für die Prose ,Congaudent angelorum chori' zu einem der Hochfeste St. Gallens holte man sich deshalb eine Bearbeitung aus Basel. Bei unserer Präsentation dieses erhaltenen Materials gehen wir so vor, daß zunächst die lateinische Vorlage (I), sodann die deutsche Bearbeitung Ludwig Mosers in den beiden Basler Handschriften (II), schließlich die Übernahme in St. Gallen und die dort erfolgte musikalische Notation vorgestellt und besprochen werden (III). Der Vergleich zwischen Originaltext und deutscher 25 26
27 28 29
Haefele, Notker I., in: Verfasserlexikon 6, Sp. 1205. Prooemium libri hymnorum, ed. v o n den Steinen, Notker der Dichter, Editionsband, 8 - 1 0 (Zitat: 10). Vgl. Berschin, Notkers Metrum, 73. Vgl. ebda., 74. Ebda., 75.
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Bearbeitung, vornehmlich in der Verbindung mit der musikalischen Vorlage, wird deutlich machen, wie schwierig ein solches Unterfangen war, weshalb die Gallusmönche keine weiteren Versuche in diese Richtung unternommen haben.
I. Das Geheimnis vom Tod Mariens und ihrer Aufnahme in den Himmel, jeweils am 15. August als assumptio Mariae gefeiert, galt in St. Gallen als eines der Hochfeste. Denn die Klosterkirche war seit ihrer ersten Weihe unter dem Gründerabt Otmar (719 — 759) der Gottesmutter, insbesondere dem Heilsgeschehen ihrer Himmelfahrt geweiht. Den heutigen Besucher erinnert daran das monumentale Hochaltarbild von Giovanni Francesco Romanelli (um 1644/45)30. Notker Balbulus sah wahrscheinlich an der Ostchorwand ein karolingisches Gemälde, das in einem unteren Streifen den heiligen Gallus mit dem Bären, im oberen die von Engeln begleitete und in den Himmel auffahrende Jungfrau Maria zeigte 31 . Diese Darstellung dürfte Vorbild für Notkers Freund Tuotilo gewesen sein, der die beiden Szenen um 894 in die eine der beiden Elfenbeintafeln schnitzte, welche als Bucheinband das eigens dafür geschaffene ,Evangelium longum' (Cod. Sang. 53). zieren 32 . Notker schuf seinen Marien-Hymnus vor Tuotilos plastischer Darstellung. Denn er erwähnt in der wohl 883/84 geschriebenen Dedicatio zum ,Liber hymnorum' auch die Mater-Melodie 33 . Auf diese kann er, soweit die Überlieferung von Notkers autenthischen Sequenzen vollständig ist, nur die Prose ,Congaudent chori angelorum' gedichtet haben: 34 30
31
32 33
34
Vgl. W.Vogler, Das Hochaltarbild der St. Galler Stiftskirche. Ein Werk von Giovanni Francesco Romanelli, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 36 (1979) 2 4 7 - 2 5 8 . Vgl. R. Schnyder, in: J. Duft u. R. Schnyder, Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibliothek St. Gallen, Beuron 1984 ( = Kult und Kunst 7), 74. Vgl. ebda., 6 2 - 7 5 und Abb. VII. Prooemium libri hymnorum, ed. von den Steinen, Notker der Dichter, Editionsband, 10: Quod ego audiens, ea quidem quae in ia veniebant, ad liquidum correxi: quae vero in le vel lu, quasi inpossibilia vel attemptare neglexi, cum et illud postea usu facillimum deprehenderim ut testes sunt,Dominus in Sjna et' ,Mater'. Vgl. von den Steinen, Notker der Dichter, Darstellungsband, 299. — Der folgende Text nach von den Steinen, Notker der Dichter, Editionsband, 66, die Gliederung und Numerierung der Strophen nach L. Kunz, Die Textgestalt, 276.
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Peter
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Congaudent angelorum chori gloriosae virgini,
II
2
Quae sine virili commixtione genuit
3
Filium, qui suo mundum cruore medicai.
4
Nam ipsa laetatur, quod caeli iam conspicatur principem
5
In terris cui quondam sugendas virgo mamillas praebuit.
6
Quam Celebris angelis Maria, Jesu mater, creditur,
7
Qui filii illius debitos se cognoscunt famulos.
8
Qua gloria in caelis ista virgo colitur,
9
Quam splendida polo stella maris rutilât, Quae omnium lumen astrorum et hominum atque spirituum genuit.
Quae domino caeli praebuit hospitium sui sanctissimi corporis. III
10
Te, caeli regina, haec plebecula piis concelebrat mentibus:
11
Te cantu melodo super aethera una cum angelis elevat.
12
Te libri, virgo concinunt prophetarum,
13
Te plebes sexus sequitur utriusque,
Chorus iubilat sacerdotum, apostoli Christique martyres praedicant. IV
Vitam diligens virginalem, coelicolas in castimonia aemulans.
14
Ecclesia ergo cuncta, te cordibus teque carminibus venerans,
15
Tibi suam manifestât devotionem,
16
precatu te supplici implorans, Maria,
17
Ut sibi auxilio circa Christum dominum esse digneris per aevum.
W o l f r a m v o n den Steinen hat zu diesem N o t k e r - H y m n u s eine f e i n f ü h l i g e und aspektenreiche Interpretation geliefert, so daß w i r uns auf w e n i g e f ü r den Vergleich mit der deutschen Bearbeitung M o s e r s wichtige Bemerkungen beschränken k ö n n e n 3 5 . Zunächst ist festzuhalten, daß m a n den 35
von den Steinen, Notker der Dichter, Darstellungsband, 299 — 305.
Notker Balbulus deutsch
223
formal wie inhaltlich klar gegliederten Versen nicht ansieht, daß sie streng syllabisch auf eine höchst komplizierte Melodieabfolge, die in den AlleluiaMelismen der sogenannten Mater-Melodie vorgegeben war, gedichtet werden mußten. Jedem vorgegebenen Ton sollte eine Silbe, dem wechselnden Rhythmus der einzelnen Melodiebögen ein rhythmisch gleichartiger Text entsprechen. Das naturgemäße Verhältnis von Wort und Melodie ist hier also auf den Kopf gestellt. Tonale Sequenzenkunst, durch die Tradition vorgegeben, wurde zur Wort- und damit zur Dichtkunst ausgestaltet 36 . Der Mater-Melodie folgend, die im dritten Teil (Strophen 10—13) in Tonhöhe wie musikalischem Ausdruck den Höhepunkt erreicht, gestaltet der Dichter in 17 Strophen (wovon je 6 in Strophe und Antistrophe: Nr. 2 — 13) vier auch inhaltlich in sich geschlossene Gruppen heraus (I —IV): Die Strophengruppen I und II benennen fast sachlich genau das FesttagGeheimnis und die Glaubenswahrheiten, auf denen es gründet: jungfräuliche Mutterschaft für den Erlöser der Welt. Erst die Strophengruppe III redet (mit jeweils gleicheinsetzendem Te) die Gefeierte an und stellt eine Verbindung zu den auf Erden feiernden Gläubigen her (Strophen 10, 11 und 13), bevor dann in der abschließenden Strophengruppe IV Marias Hilfe erfleht wird. In der Struktur der vier Strophengruppen scheint noch der Typus der liturgischen Kollekte in ihrer erweiterten Form durch: Die relativische Prädikation (b), die in der Kollekte auf die Anrede (a) folgt, wird in Notkers Hymnus vertauscht. In beiden steht an letzter Stelle die Bitte für die Gläubigen (c) 37 . So liest und hört sich Notkers Assumptio-Hymnus wie die am Vortag des Festes vom Zelebranten bei der eucharistischen Feier gebetete Collecta post communionem, nun aber nicht an Gott, sondern unmittelbar an die Gefeierte gerichtet: 38
36
Vgl. P. Wagner, Gregorianische Formenlehre. Eine choralische Stilkunde, Leipzig 1921 ( = Einführung in die Gregorianischen Melodien 3), 483 — 486. — H. Husmann, Die St. Galler Sequenztradition bei Notker und Ekkehard, in: Acta Musicologica 26 (1954) 6 — 18, bes. 6 f. u. 11 f. — Ders., Die Alleluia und Sequenzen der Mater-Gruppe, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Wien (Mozartjahr 1956), Köln 1958, 2 7 6 - 2 8 4 (mit der rekonstruierten St. Gallischen Matermelodie: 276).
37
Vgl. J. A. Jungmann, Missarum sollemnia. Eine geschichtliche Erklärung der römischen Messe, I, Wien 5 1962, 479. — H. Rheinfelder, Zum Stil der lateinischen Orationen, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 11 (1931) 2 0 - 3 4 . K . Mohlberg (Hg.), Das fränkische Sacramentarium Gelasianum in alamannischer Überlieferung (Codex Sangall. Nr. 348). St. Galler Sakramentar-Forschungen I, Münster 1939 ( = Liturgiegeschichtliche Quellen 1,2), 169. — Auch im Sacramentarium Rhenaugiense hrsg. von A. Hänggi und A. Schönherr, Fribourg 1970 ( = Spicilegium Fribur-
38
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(a) Omnipotens sempiterne deus, (b) qui terrenis corporibus verbi tui et veritatis, filii tui scilicet unigeniti, per venerabilem ac gloriosam semperque virginem Mariam, inefabile mysterium coniungere voluisti, (c) petimus immensam clementiam tuam, ut quod in eius veneratione disposcimus, te propitiante consequi mereamur. Die Vollkommenheit des Notkerschen Textes in der rhythmischen Angleichung an die vorgegebene Melodie sei hier — wenigstens für die Strophen 1 — 7 — mit Hilfe der Melodie-Transkription Birkners und dem von Kunz analysierten Textrhythmus verdeutlicht. Die beigegebenen Melodiebögen möchten die vollkommene Einheit von vorgegebener Melodie und hinzugedichtetem Text veranschaulichen helfen: 39
!
. /
1) Con-gau-dent
.
.
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• /
2) Quae si - ne vi - ri - li 3) Fi - li - um, qui su - o
.
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.
an - ge - lo - rum
. .
/
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.
/
cho-rì
glo - ri - o - sae
•
'
vir - gi - ni
!
com -mix - ti - o - ne ge - nu - it mun -dum cru - o - re me- di - cat.
! . / . .
.
. !
.
!
4) Nam ip - sa lae - ta - tur, quod cae - li iam con -spi - ca - tur 5) In ter - ris qui quon-dam su - gen - das vir - go ma - mil -las
!
.
6)Quam ce - le - bris 7) Qui fi - li - i
39
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.
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an - ge - Iis il - li - us
/
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Ma - ri - a, de - bi - tos
/
.
.
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. / ! . prin -ci - pem, prae-bu - it.
.
!
Je - su ma - ter ere - di - tur, se cog-nos - cunt fa - mu - los!
gense 15), 181 u n d im ehemaligen St. Galler Sacramentarium triplex, hrsg. von O. Heiming, Münster 1968 ( = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 49), 216. W. von den Steinen (Hg.), Notkers des Dichters (des Stammlers) Hymnenbuch, lateinisch und deutsch. Kleine Ausgabe, vermehrt um 5 Melodien hrsg. von G. Birkner, Bern/München 1960, 91 f. - Kunz, Die Textgestalt, 279 und 281.
Notker Balbulus deutsch
225
II. Der 1442 in Zürich geborene Ludwig Moser wirkte von 1462 bis 1471 als Stadtschreiber in Rheinfelden und trat 1474 in die Kartause St. Margaretenthal in Kleinbasel ein. 1482 bis 1486 Prior der Kartause Ittingen, kehrte er in sein angestammtes Kloster zurück und übersetzte bis zu seinem Tod im Jahre 1510 zahlreiche geistliche Werke ins Deutsche, von denen ein größerer Teil seit 1489 — zunächst bei Johannes Amerbach in Basel, später auch in Augsburg (L. Zeissenmair) und Köln (H. Bungart) — im Druck erschien 40 . Nicht nur für die Laienbrüder seines Ordens bestimmt, sondern für alle, die das latin nit verstanden noch lesen können, sich
deren ouch frdwen und gegen gott
hejl und behaltüsße ir seien genyessen mögen,
versuchen seine Üersetzungen unbedingte Treue zur lateinischen Vorlage zu bewahren: unverenderet des synns und der Worten glich, wie er selbst programmatisch in der Vorrede zu ,Unserer lieben Frauen Spiegel' ankündigt 41 . Unter seinen Übersetzungen findet sich auch über ein Dutzend Hymnen. Zehn davon gingen in den Anhang des Druckes ,Cursz vom sacrament' (erstmals 1497 in Basel) ein, zwei sind nur handschriftlich überliefert: ein 1499 entstandenes Gedicht (in 15 Strophen zu je vier vierhebigen gereimten Versen) auf Elisabeth und Zacharias sowie die Übersetzung von Notkers Assumptio-Sequenz 42 . Beide finden sich in einem in der Basler Kartause entstandenen und auch in dessen Katalogband unter der ursprünglichen Signatur D 80 verzeichneten Sammelband spirituellen Inhalts, der jetzt in der Universitätsbibliothek Basel (Cod. A IX 27) liegt 43 . Beide genannten Texte sind Autographe wie überhaupt ein größerer Teil des Miscellancodex 44 . Wann genau Ludwig Moser die Not40
41
42
43
44
Zu Leben und Werk Mosers vgl. jetzt H. Kraume, Moser, Ludwig, in: Verfasserlexikon 6, Sp. 7 0 5 - 7 1 0 (mit Lit.). Beide Zitate in der Vorrede zu ,Unser lieben Frowen Spiegel', Basel 1506 (bei M. Furter), fol. 4 r , hier zitiert nach Ruh, Bonaventura deutsch, 188 und Kraume, Moser, in: Verfasserlexikon 6, Sp. 709. — Zur Bewertung von Mosers Übersetzungsleistung vgl. die verschiedenen Urteile von Ruh, Bonaventura deutsch, 189—202, und Brecht, Die pseudothomasischen Opuscula, 162 — 166. Die gedruckten zehn Hymnen hrsg. von Haeller, Studien zu Ludwig Moser, 109 — 117 und teilweise bei Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied II, Nr. 1070 — 1073. — ,Von Elizabeth Zacharie' hrsg. von Haeller, Studien zu Ludwig Moser, 49 f. Vgl. die Beschreibungen der Handschrift bei G. Binz, Die Deutschen Handschriften der Öffentlichen Bibliothek der Universität Basel, Bd. 1: Die Handschriften der Abteilung A, Basel 1907, 1 3 3 - 1 3 9 (die beiden Texte als Nr. 16 und 22) und Honemann, Deutsche Literatur, 1 9 8 - 2 0 2 (zu 1 8 9 r - 1 9 0 ' und 2 6 1 ' - 2 6 3 r ) . Vgl. Scarpatetti, Katalog der datierten Handschriften I, Textband, 79 f. (Nr. 212) und Abbildungsband, 149 (Abb. Nr. 367 und 368).
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ker-Sequenz übersetzt hat, läßt sich nicht ermitteln, da seine datierten Teile von 1492 (f. 275 r ) bis 1499 (f. 190r) reichen und einzelne Stücke auch vor 1492 geschrieben sein könnten. Vieles deutet daraufhin, daß die Notker-Übersetzung wie die Elisabeth/Zacharias-Strophen erst kurz vor 1500 entstanden ist. Eine zweite Abschrift von Mosers Notker-Bearbeitung entstand ebenfalls in der Basler Kartause. Um 1517 begann der Konventuale Thomas Kress (gest. 1564) aus Freude am Sammeln und wohl im Auftrag des Priors Hieronymus Zscheckenbürlin ein Cantionale verschiedenster geistlicher Gesänge (Invitatorien, Antiphon, Hymnen, Tropen, Sequenzen) mit Text und gotischer Hufnagelnotation anzufertigen (Basel, UB, Cod. A N II 46) 45 . In den umfangreichen Sequentiarteil (fol. 138v — 196r) nahm Kress auch — ohne Verfassernamen — Notkers ,Congaudent angelorum chori' auf (fol. 171v — 172r) und notierte gleichzeitig über und teilweise unter dem Notensystem die deutsche Übersetzung seines Mitbruders Ludwig Moser, allerdings so, daß die volkssprachliche Fassung sich weder mit dem lateinischen Originaltext noch mit der dazugehörigen Melodienotation in Übereinstimmung bringen läßt 46 . Im folgenden edieren wir Mosers Notker-Bearbeitung nach seinem Autograph (B), wobei die Gliederung der Kola in den einzelnen Strophen der lateinischen Vorlage folgt. Lediglich bei offensichtlichen Verschreibungen ziehen wir die Lesung im Basler Cantionale von Kress (C) heran. In den Lesartenappart, der graphematische und dialektale Varianten nicht berücksichtigt, werden gleich auch die Abweichungen der im folgenden Kapitel genauer vorgestellten St. Galler Handschrift (G) aufgenommen: 47 Der Sequentz von unser frowen hymelschen hochzitt Congaudent angelorum chori in den Worten und noten, als der in der meß gesungen wirt 1
45 46 47
Sich mitfrowen der engel k6r der hochwirdigen jungfrowen,
2
Die on mans benahung mit reyner kuscheit bat geborn
3
Den sun, der mit sinem bluot die weit schon geheilet hat.
4
Nu frowt sy sich hertzlich, das sy in sieht, den fursten der hymelen,
5
Dem sy uff ertrich ettwen ir jungfrowlich brüst sugend verliehen hat.
Labhardt, Das Cantionale, bes. 20—37. Vgl. Labhardt, Das Cantionale, 265. Der Text ist in dieser Form noch nie ediert worden. Haeller, Studien zu Ludwig Moser, 80 f. gibt eine völlig unzureichende Wiedergabe aus der St. Galler Handschrift G.
Nother Balbulus deutsch
227
6
Wie hochgelopt den engein Maria, Jesu müter, gefront wirt,
7
Die sich irs suns bekennen ewig pflichtig und willig diener sin.
8
Wie hoch ern in hymeln diß jungfrow gezieret wirt, die dem herren der hymeln geben hat inwonung irs allerheiligisten kuschen libs.
9
Wie uberluchtend der merstern glantzet im hymel, der das liecht aller Sternen und der menschen und geisten so schon wirdiclichen geboren hat.
10
Dich kunigin der hymeln diß demutig volck mit andechtigem hertzen lobet,
11
Mit singen und mit fröiden dich mit allen engein über die hymel uff füret.
12
Dich, jungfrow, singend alle propheten bucher, der chor froid jufet unser priester, die apostel und Christus martirer dich loben.
13
Dich alles volcks man, frowen flißig nachvolgend, die das jungfrowlich leben habend, hymels fursten in kuscher liebe sich gesellend.
B C G N
= = = =
14
Darumb die kristenlich kirchen dich mit hertzen, dich mit lobgesang allzyt eret,
15
Dir offenbart sy flißiclich ir groß andacht
16
Mit demutigem betten, dich flehend, Maria,
17
Daz du in hilff bewysest by Cristo unserm herren in zyt und in allen noten. Amen.
Basel, UB, Msc. A IX 27, Bl. 261'-261 v Basel, UB, Msc. A N II 46, Bl. 17V-172' St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 546, Bl. 1* Notkeri Hymnus in assumptione sanctae Mariae (ed. von den Steinen, Notker der Dichter, Editionsband, 66)
Inc.: In Solemp[nitate] Assumptionis Gloriosae Virginis Mariae Sequitur C Congaudent angelorum versus beati N[otkeri] frater Ludowicus Moser magister arcium Cartusianus Basilee infferioris] G 2 hat geborn\von Moser korr. aus: geborn hat B hat geborn C hatt geboren G 3 mit]fehlt G 4 frowt\korrigiert aus frowend G 6 cngc\n]fehlt C wirt]2?C hat G 8 in hymeln BC im himel G in coelis N diß]5C die G ista N 9 aller]_SC allen G und mentschen G 10 hymelen C himlen G lobent C 11 und mit]BC in G 12 singend]**«'/ korrekturversion sanc G propheten] CG proheten B bucher B fröid Jufed C iubiliert G priestern G Christi martirer G 13
228
Peter
Ochsenbein
Dich]_SC nachträglich\D'\\ch korrigiert aus Dir G 15 sy]BC sich G 16 flehend]BC anriiffend G nach Amen] alleluia in eternum G
sich\mit Korrekturversion dir G 17 du in]BC du ir G sibi N
Ludwig Moser versuchte in seiner Übersetzung offensichtlich zwei Prinzipien zu befolgen: 1. Der deutsche Text sollte sangbar sein und dabei den monosyllabischen Charakter der Vorlage getreut bewahren. Dies setzt jedoch voraus, daß die Anzahl der Wortsilben möglichst genau mit der der vorgegebenen Melodietöne übereinstimmt. 2. Seinem Übersetzungsprinzip unverenderet des synns und der Worten glich getreu, hielt er sich meist streng an die lateinische Vorlage. Nicht zuletzt deshalb verzichtete er auf jegliche Reimbindungen. Dieses fast sklavische Kleben an der Vorlage und das eher handwerkliche als künstlerische Sprachvermögen haben einen allenfalls mittelmäßigen Text hervorgebracht. Ohne Kenntnis der Vorlage bleibt dieser an einzelnen Stellen unverständlich und ist syntaktisch mangelhaft. Am offensichtlichsten zeigt sich dies in Strophe 13, die durchgängig — selbst im eingeschobenen Relativsatz — als Partizipialkonstruktion gebildet wird, den Partizipien diligens und aemulans folgend. Das in den Strophen 10—13 einsetzende Te gibt Moser genau mit Dich wieder und nimmt dabei den Kasusfehler in Strophe 13: Dich [...] nachvolgend für korrektes Dir [...] nachvolgend in Kauf. Der Akkusativ-Gebrauch von lat. sequi wirkt hier auf das Interpretament nachvolgen so stark ein, daß selbst der St. Galler Abschreiber das in die Feder geflossene Dir in das originale Dich rückgängig macht. Attributsgenitive stellt Moser gerne dem Bestimmungsort voran: 1 der engel kör, 2 mans benahung, 12 propheten bucher, 13 alles volcks man, frowen. Einmal jedoch setzt er beide Teile, der lateinischen Sperrung folgend, soweit auseinander, daß die syntaktische Verbindung selbst beim Lesen kaum mehr erkennbar ist: 12 der chor froidjufwet unser priester. So sehr sich Moser an die Vorlage hält und mit seinem Satzbau die lateinische Syntax nachbildet (z. B. Strophe 1 und 12), ist er, um die vorgegebene Silbenzahl zu erreichen, gezwungen, seinen Text mit Partikeln und Epitheta anzureichern: 2 mit reyner kuscheit, 3 schon, 7 ewig [...] und willig, 9 so schon wirdiclichen, 13 flißig, 14 all^yt, 15 groß. Selbst wenn man Mosers Übertragung an seinen eigenen Übersetzungsprinzipien mißt, Lorbeeren für seine Notker-Sequenz können ihm kaum verliehen werden. Die Mittelmäßigkeit seines Talents wird umso deutlicher, wenn man seinen Text mit dem des Heinrich Laufenberg vergleicht. Gewiß hält sich Laufenberg nicht so genau an die Vorlage, aber wie gekonnt, elegant und aus einem Guß ist seine Übertragung gelungen: 48 48
Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied 2, 584 f. (Nr. 762).
Notker Balbulus deutsch 1
229
Sich fröwent der engel schar mit der edlen megde frölich gar,
2
Die one mannes sat gar kusch und rein geboren hat
3
Einen sun, der uns hat mit sinem blüt gearzenat.
4
Nun fröwt si sich sere, daz si siht den himel fursten so here,
5
Dem si hie vor auf erden ze sugend ir kusche brüst lies werden.
8
Mit grossem lob in hymel wirt die maget nun geert, Die dem herren himels gab behut ein herberg gut irs helgen kuschen libs unversert.
9
Wie schinet si glenzend als der meres Sterne clar, die aller weit liehte himels höh der menschen ouch und aller engel herren gebar.
10
Dich, himels künegin, lobt dis völkelin mit milter sinnen andehtikeit.
11
Dich mit süssem gsange in himels clange erhöhet der engel würdikeit.
12
Die bücher, maget, dir alle prophecyen und schar der priester lob dir schryend, apostoli und alle marterer kündent dich.
13
Dir volget nach volke aller menschen künne, migtliches lebens hand sy minne, der himel kind in kuschi woltend si glichen sich.
14
Die crystenheit sunder alle us herzen grünt dich lobet mit gedihtes schalle.
15
Dir zeiget si ir begirde durch dine würde, und bittet dich demütlich, du reine Maria, daz du ir hilf wellest sin vor Cristo dem kinde din here nun und yemer mere.
16
17
Mosers Übersetzungen lateinischer Prosatexte mögen durchaus ihre Qualitäten haben 49 , für seine Notker-Übertragung freilich gilt das Urteil von Kurt Ruh: „Kein Künstler spricht aus diesen Übertragungen, auch kein sprachbegabtes Talent, wohl aber ist Moser ein tüchtiger Handwerksmeister. Als solcher vermag er Wacker-Durchschnittliches zu leisten, wenn es um praktisch-aszetische oder gemüthafte Inhalte geht." 50
49 50
Vgl. Brecht, Die pseudothomasischen Opuscula, 164—166. Ruh, Bonaventura deutsch, 190.
230
Peter Ochsenbein
III. So wie der Basler Kartäuser Thomas Kress aus zahlreichen Handschriften und Frühdrucken eine Anthologie liturgischer Gesänge verschiedenster Herkunft und Funktion schuf, erarbeitete der St. Galler Konventuale und secundus cantor Joachim Cuontz (gest. 1515) eine voluminöse Tropen- und Sequenzensammlung (Cod. Sang. 546). Erstmals für St. Gallen hielt er die dazugehörigen und bislang lediglich linienlos neumierten Melodien auf Notenlinien fest, wobei er auf fremde Notationen zurückgreifen mußte, weil der liturgische Gesang in St. Gallen zwischenzeitlich nicht mehr in vollem Umfang gepflegt worden war 51 . Dieses Gesangsrepertorium, in dessen Zentrum die Sequenzen Notkers, die Tropen Tuotilos, aber auch weiteres St. Gallisches Eigengut stehen, sollte in dreifacher Hinsicht Vorbildcharakter haben: Es wurde zu einer Grundlage für die von Abt Franz Gaisberg (1505—1529) angestrebte Liturgiereform im Gallusmünster. Zugleich war es Entwurf und Vorlage für das schon genannte, mit fremder Hilfe prachtvoll ausgestattete Sequentiale in Regalfolio, von dem nur noch wenige Blätter erhalten sind 52 . Schließlich sollte es Zeugnis ablegen für die ehemalige dichterische Größe St. Gallens und so gleichzeitig auch die Beatifikation Notkers befördern. Dem Gesangsrepertorium (mit Ordinarium missae [fol. 30r —83r] und Sequentiarium [fol. 83v —405']) sind mehrere ebenfalls von Joachim Cuontz geschriebene Lagen und Einzelblätter vorgeheftet, welche die Sammlung mit weiteren Hymnen, Sequenzen, Tropen und Antiphonen ergänzen sollen 53 . Unter diesen finden sich auch zwei um 1500 in Basel bzw. Pforzheim entstandene Einblattdrucke, enthaltend zwei Mariensequenzen, getütst durch Sebasianum Brant und mit Noten versehen: auf fol. l v das bekannte ,Verbum bonum et suave', auf fol. 29v die von Hermann von Reichenau zum Fest Mariä Himmelfahrt gedichtete Sequenz ,Ave praeclara maris Stella'54. Die leergebliebene Rückseite des Pforzheimer 51
52
53
54
Labhardt, Das Sequentiar Cod. 546, Textband, 263 — 266. — Zu Joachim Cuontz vgl. Marxer, Zur spätmittelalterlichen Choralgeschichte St. Gallens, 91 — 100; Labhardt, Textband, 36 f. Vgl. Duft, Gesangbücher vom 9. bis zum 18. Jahrhundert, in: Duft, Die Abtei, Bd. I, 124 und Berschin, Notkers Metrum, 74 Anm. 13. Zum Inhalt der vorgehefteten Nachträge vgl. Marxer, Zur spätmittelalterlichen Choralgeschichte St. Gallens, 27 — 33. Vgl. T. Wilhelmi, Sebastian-Brant-Bibliographie, Bern 1990 ( = Arbeiten zur mittleren Deutschen Literatur und Sprache 18/3), 196 f. (Nr. 592) und 129 (Nr. 384). - Text der Brant-Übersetzung bei Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied 2, 889 (Nr. 1101) und 1098 f. (Nr. 1333).
231
Notker Balbulus deutsch
Druckes ,Verbum bonum et suave' bildet heute die erste Seite des Gesangsrepertoriums ( = fol. l r ) 5 5 . Auf sie schrieb Joachim Cuontz Mosers Notker-Übersetzung und versah sie mit der gotischen Notenschrift (Hufnagelnotation) im Fünf-Linien-System. Der Titel über dem ersten von insgesamt 14 Notensystemen nennt die Vorlage und den Ubersetzer: Congaudent angelorum versus beati N\otkert\ frater Ludowicus Moser magister arcium Cartusianus Basilee in\ferioris\. Da Notker bereits als beatus gekennzeichnet ist, könnte diese Niederschrift nach der Seligsprechung des Dichters (4. Oktober 1513) entstanden sein. Die Wiedergabe aus dem St. Galler Sequentiar folgt im Text genau der Vorlage, die Melodienotation ist vom ursprünglichen C-Schlüssel in den G-Schlüssel transponiert und damit mit der Transkription Birkners vergleichbar. Da der rechte Rand der ersten beiden Blätter stark beschädigt und erst bei der Restaurierung 1955 wieder angefasert wurde, mußten der verloren gegangene Text nach der Basler Handschrift B, die Melodie mit Hilfe der Gegenstrophe ergänzt werden. Die insgesamt acht Ergänzungen sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.
Sich mit fro - wend
[2] -
fro - wen,
Die
der
on
eng - len
chör
der
hoch - wir - di - gen
iunck
mans be - na - hung mit rain - ner kunsch - hait [3]
hatt
ge - bo - ren
Den
sun, der
si - nem
blut
die
weit schon
[41
Nun frowt
sich, den fur - sten der
rieh
55
ir
sy
sich hertz - lieh, [5]
hi - mi - ien,
iunck-fr6 - lieh brtfst su - gend ver -
Dem
Ii -
das
sy
ir
hen
hat.
sy
in
uff
ert
" [6]
Wie
Blatt 1 besteht nicht, wie Marxer, Zur spätmittelalterlichen Choralgeschichte St. Gallens, 28, meint, aus zwei unterschiedlichen Einblattdrucken, sondern ist ein aus Mariagebet und Sequenz bestehender Druck in Folioformat, der später in zwei Teile zerfiel.
232
Peter Ochsenbein
hoch
ge - lopt
den
front hat.
eng - len
Die
sich
Ma -
irs
ri
suns
-
a,
be -
J h e - su
k e n - net
mu -
e -
wig
ter
pflich -
tig
181-
f r o w ge - zie - ret
- n u n g irs
wirt,
al -
t e n d der m e r - s t e r n
Die
dem
he - ren
der
him - len
ler - hail -gi - sten kiln - s c h e n libs.
glan-tzet |_im
u n d m e n - t s c h e n und gai-sten
so
hi - mei,
Der
schon wir -dik
ge - ben
Wie
daz
- Ii - chen
u -
hat
ber
in
lu'ch -
liecht al - len ster - neu
ge - b o - ren
hatt.
M r . Dich
k u n - gin
der
him -len r111
gem her-tzen
lo - bet.
len eng - len
ti - ber
gend al - le
s t e r n , die
les
1 4
die
stel
de
h a - b e n t , hi - mels f ü r -sten
n
sin - gen
uf -
b d - cher,
u n d C h r i - sti
- mfl - tig volck mit
-
him - ein
v o l k , m a n und f r o - w e n , flis - sig
le - ben f
Mit
p r o - p h e - ten
a - po -
dis
—
in
f r ó - den
f u - ret.
der c h o r
dich
Dich
iu -
m a r - ti - rer
dich
nach- vol- gent,
in k ü n - s c h e r
an - dech - ti
-
al -
lo - b e n t .
- be
al
i u n c k - f r o w sin-
bi - liert
die
lie
mit
daz
ler prie-
Dir al -
iunck-fròw-lich
sich
ge - sei - lent,
L
Da -
rum
die chri - sten -lieh
kil - c h e n dich
mit
her-tzen, dich
mit
lob - ge
Notker Balbulus deutsch
sang all - zit
e
a,
du
ren
Das
in
zit
-
und
ret.
ir
Dir
hilf
in
of - fen - bart
be - wy
al
-
len
- sest
n6 -
by
233
sich
flis - sik - lieh
Chri - sto
ten.
ir
un - serm
A -
gros
he -
men
Im St. Galler Text fallt zunächst die fehlerhafte Überlieferung auf: in Strophe 3 ist die zum Verständnis notwendige Präposition mit weggefallen. Die aktive Umwandlung von 6 gefront wirt zu gefront hat macht keinen Sinn, ebenso wenig der Kasuswechsel in 9 von aller zu allen. Als Schreibfehler ist wohl 15 sich statt sy anzusehen, als Verbesserung vielleicht 17 ir statt in (in der lateinischen Vorlage bezieht sich sibi auf die in 14 genannte ecclesiä). Wie weit die St. Galler Version 12 iubiliert gegenüber froid jufed und 16 anrüffend gegenüber flehend auf eigenwillige Änderung des Schreibers Cuontz zurückgehen oder bereits in der verlorenen Vorlage gestanden haben, läßt sich kaum mehr eruieren. Offensichtlich setzte sich der Abschreiber mit dem Text auseinander, wie die nachgetragenen Korrekturen zeigen. Nicht korrektes 4 frowend verbessert er in frowt.56 Uber 12 singend bringt Cuontz die Version sanc an: die präteritale Form soll die Abgeschlossenheit des Alten Testaments kennzeichnen, der Wechsel des Numerus allerdings bleibt unverständlich, genau so wie die über 13 sich gesetzte Version dir. Stand dem Abschreiber Cuontz nur der deutsche Text zur Verfügung oder konnte er auch für die Melodie auf eine (Basler?) Notation zurückgreifen? Als er die deutsche Sequenz kopierte, lag die Notation zum Notkerschen Originaltext bereits auf fol. 189r v vor. Hier trug er, nachdem er die deutsche Abschrift vollendet hatte, zu Beginn des Congaudent angelorum chori die Verweisnotiz ein: Require teutonicam sequentiam sie cantandam. Daß er allerdings diese Notation zum Vorbild nahm, ist wenig wahrscheinlich. Zwar stimmen die beiden Melodien weitgehend überein, aber sechs signifikante Abweichungen legen nahe, daß Cuontz für Mosers 56
Zum ursprünglichen frowend gehört nur ein einziger Ton, was daraufhin deutet, daß Cuontz die Notation nicht selbst erschlossen hat, sondern von einer Vorlage ausging.
234
Peter
Ochsenbein
Übersetzung eine andere Vorlage als die Notation von fol. 189r v benützte 57 . Wo im deutschen Text eine Silbe zuviel erscheint, wird diese Schwierigkeit durch Repetition desselben Tons behoben 58 . Außer der unterschiedlichen Anzahl von Tonsilben innerhalb der Strophenpaare fallen auch Unterschiede in der Melodieführung auf 59 . Wem die Mater-Melodie der Notkerschen Sequenz vertraut war, erkannte sie — trotz der Abweichungen — sogleich an der Tonfolge der deutschen Sequenz wieder. Wer allerdings eine genaue rhythmische Übereinstimmung in Wortakzent und Phrasierung erwartet, wird arg enttäuscht. Denn die schwierige Kunst, die feststehende Melodie mit einem Text in Rhythmus und Phrasierung in Übereinstimmung zu bringen, wurde von Notker vollkommen beherrscht. Ludwig Moser dürfte dieses Konvenienzprinzip nicht mehr genau gekannt und somit gar nicht beherrscht haben. Die bei ihm öfters eintretende Verschiebung von melodischem und Wortakzent bewirkt, daß der Gesang zu ,holpern' beginnt. Übereinstimmung und Divergenz der beiden Akzentebenen sind in der oben vorgestellten Transkription durch die beiden Akzentsetzungen verdeutlicht: Die Akzente über den Noten bezeichnen den dem lateinischen Text und der Melodie zugrundeliegenden Rhythmus, während die Akzente über der Moserschen Übersetzung dem Gesetz der deutschen Wortbetonung folgen. Abschließend sei gefragt, welche Funktion der Moserschen NotkerÜbersetzung in St. Gallen zukam. War sie nur für private Frömmigkeit gedacht oder hatte sie gar eine liturgische Aufgabe zu erfüllen? Daß die deutsche Version im Hochamt zu Mariä Himmelfahrt den lateinischen Originaltext ersetzte, ist kaum anzunehmen. Die liturgischen Formen, so vielfältig und überwuchernd sie unmittelbar vor der Reformation geworden waren, blieben fast ausschließlich auf die Kirchensprache beschränkt. Das spätmittelalterliche deutsche Kirchenlied, wie Janota jetzt auch gut belegt hat, ist in der heiligen Messe eine Randerscheinung 60 . So steht etwa in der Crailsheimer Schulordnung von 1480, das Volk habe an Christi 57
10 und 11: (demü-)tig bzw. (al-)len: e statt f; 12 und 13: (a-)po-(stef) bzw. fnr-(sten):
e statt
f; 14: her-(t%en)\ e statt f; 15: an-{dach)\ e statt f. — Die Transkription Birkners weicht gegenüber den beiden hier untersuchten St. Galler Notationen besonders in den Strophen 13 — 17 stark ab. 58
8 der hi-rnel und 9 (al-)len Sternen: d-d-c gegenüber ce-li bzw. lu-men\ d-c; 13 nach-vol-gent\ g-g-d gegenüber (utri-~)us-que\ g-d.
59
Tonhöhe: 8 irs: e gegenüber 9 schon-, d (die lateinische Version hat jeweils d); Divergenz der Tonsilben: 1. Strophe 2 mit 15 Silben gegenüber Strophe 3 mit 13 Silben; 2. Strophe 8, 2. Teil mit 22 Silben gegenüber Strophe 9, 2. Teil mit 23 Silben. Janota, Studien, bes. 77 — 84.
60
Notker Balbulus
deutsch
235
Himmelfahrt, während vorne im Chor die Notkersche Festsequenz ,Summi triumphum' erklinge, das Lied Christ fuer gen himelj was sendt er uns herwider zu singen 61 . Dieses dem vielgesungenen Christ ist erstanden nachgebildete Lied hatte also als Gemeindelied liturgisch lediglich Begleitcharakter. Wir haben kein Zeugnis, von wem und bei welcher Gelegenheit Mosers ,Sich mitfrowend der englen chör' im Gallusmünster gesungen wurde. Den einzigen Hinweis gibt der Überlieferungsträger selbst, das St. Galler Sequentiar (Cod. Sang. 546), dem zwar im Blick auf den prachtvollen Band in Regalfolio lediglich Entwurf- und Vorlagecharakter zukam, das aber wohl auch, wie zahlreiche Einträge belegen, zeitweise in der Liturgie Verwendung fand. Spuren einer liturgischen Benutzung auf der Überlieferungsseite der Moserschen Bearbeitung (fol. l r ) lassen sich nicht feststellen. Einen kleinen Hinweis jedoch, daß aus diesem Band deutschsprachige Übertragungen tatsächlich gesungen wurden, gibt der in das Sequentiar miteingeheftete Einblattdruck mit Brants Bearbeitung der Sequenz ,Ave praeclara maris Stella': Die gedruckten Hufnagelnoten sind an einzelnen Stellen mit brauner Tinte korrigiert. Ob Cuontz diese Änderungen vor der Niederschrift des lateinischen Originaltextes (fol. 276 r —21T) anbrachte und somit den Einblattdruck als Quelle für die Notation gebrauchte oder ob er den Einblattdruck nach dem bereits vorliegenden lateinischen Originaltext korrigierte, vermag ich nicht sicher zu entscheiden. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist die Beobachtung, daß Cuontz gegen Ende der deutschen Sequenz in roter Tinte die Rubrik: \dr\ü mal anbrachte, was offensichtlich den Hinweis im lateinischen Originaltext: Tres benevociferati scolares trina vice cantant omnibus genu flexis aufnimmt. Solange keine weiteren Zeugnisse bekannt werden, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob unsere deutsche Notker-Bearbeitung in St. Gallen liturgische Bedeutung hatte. Die Frage, ausschließlich vom liturgiegeschichtlichen Standpunkt aus gestellt, scheint mir weniger bedeutungsvoll zu sein als die Tatsache, daß im St. Galler Sequentiar zumindest eine volkssprachliche Bearbeitung mit Notation vorlag. Denn daß sie als Lobpreis auf die Gottesmutter gesungen werden sollte, lag gewiß in der Intention des Kopisten. Wenn eine spätere Rezeption nicht nachweisbar ist, so lag das nicht nur an der Übersetzung Mosers, sondern auch daran, daß sämtliche Sequenzen Notkers seit der Liturgiereform durch das Konzil 61
Item circa alia festa resurrecctionis ascenssionis et corporis Christi habentur plures canciones convenientes cum sequencjs [...] Item circa sequenciam de ascensione ,Summ i triumphum etc.' canitur wlgaris prosa: ,Christi fuer gen himel [...] (zitiert nach Janota, Studien, 203 f.).
236
Peter
Ochsenbein
von Trient nicht mehr gesungen werden durften. Ein wichtiger Schatz religiöser Literatur und Frömmigkeit verschwand somit aus dem Gottesdienst und dem christlichen Geistesleben. Die Hoffnung, daß die liturgische Erneuerungsbewegung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch ein Ohr für Notkers Sequenzen haben könnte, hat sich nicht mehr erfüllt. Notker Balbulus, nach dem Urteil von den Steinen's „einer der wenigen großen Dichter zwischen dem Evangelium und Dante" und „der einzige aus dem Boden der heutigen Schweiz, der einmal, und immerhin für sechs Jahrhunderte, universale Geltung gewann", ist nur noch einem kleinen Kreis von Mediävisten, zumeist lediglich aus Fachinteresse, bekannt62.
BIBLIOGRAPHIE
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Notker Balbulus deutsch
237
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REINER HILDEBRANDT,
Marburg
Uuillechomö! Ekkehards IV. beliebte Grußformel* Das ,Summarium Heinrici' ist erst nach dem Erscheinen einer kritischen Textausgabe (1974 und 1982)1 in seinem vollen Wert erkannt worden. Es ist ein beeindruckendes Zeitdokument praktizierter Zweisprachigkeit im 11. Jahrhundert auf dem Sektor der enzyklopädischen Artes-Literatur. Der Zuschnitt für den Elementarunterricht als Wissensvermittlung hinsichtlich der belebten, unbelebten und menschengestalteten Welt im Rahmen klösterlicher Pädagogik ist unverkennbar. Zwar konnte bisher weder Genaueres über den Verfasser, noch über Abfassungszeit und -ort ermittelt werden, aber immerhin gibt es hinsichtlich der Lokalisierung einen konkreten Bezug zur Stadt Worms und hinsichtlich der Terminierung einen Spielraum von 80 Jahren (1020 — 1100), innerhalb dessen durchaus eine längere Phase als Abfassungszeit denkbar ist 2 . Nur eine Reihe indirekter Anhaltspunkte stützt bisher alle diese Vermutungen. Auch der Inhalt dieses Beitrags wird hier nur einen kleinen, wenn auch beziehungsreichen Baustein hinzufügen. Es handelt sich um den Nachweis einer wortwörtlichen Anleihe des SummariumVerfassers bei Ekkehard IV. von St. Gallen. Zur Überprüfung dieser Aussage ist es nötig, die diesbezügliche St. Gallener Handschrift in Augenschein zu nehmen, die deshalb hier als Faksimile reproduziert ist. Damit wird gleichzeitig deutlich, wie zwiespältig und ungenau Informationen aus zweiter Hand, nämlich aus Steinmeyers Sammlung der althochdeutschen Glossen, sein können 3 . * Für wertvolle Beratung danke ich Dieter Lührmann, Marburg (Theologie), Monika Rener, Marburg und Peter Stotz, Zürich (Mittellateinische Philologie). 1 Summarium Heinrici, Textkritische Ausgabe, hg. v o n R. Hildebrandt, 2 Bde, Berlin/ N e w Y o r k 1 9 7 4 und 1 9 8 2 ( = Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der Germanischen Völker, Neue Folge, hg. v o n St. Sonderegger, 61 und 78). 2 Über Näheres vergleiche man meinen Artikel ,Summarium Heinrici' in ,Die deutsche Literatur des Mittelalters — Verfasserlexikon', 2. A u f l . , Bd. 8, erscheint in K ü r z e . 3 Die entsprechenden Stellen finden sich in ,Die althochdeutschen Glossen', gesammelt und bearbeitet v o n E. Steinmeyer und E. Sievers, Bd. 2 (1882, unveränderter Nachdruck Dublin/Zürich 1969), S. 326 f. und S. 159.
Uuillechomol
Ekkehards IV. beliebte
239
Grußformel
Es handelt sich erstens um den Codex Sangallensis 159 und den darin befindlichen Brief 20 des Hieronymus an Papst Damasus mit der Abhandlung ,Quid vox osanna significet juxta hebraicum fontem'. Da der Codex Randglossen enthält, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Ekkehard stammen 4 , kann er als dessen Handexemplar gelten. Die für unsere Frage entscheidende Stelle mit lateinischen und deutschen Glossen von Ekkehard hat Steinmeyer in folgender Weise exzerpiert und dargeboten 5 : In hebreo legitur. anna. adonai. osianna. anna. adonai. aslyena. baruc. abba. basen. adonai. Quasi barbarus (Hs. barh) dicat uuöla herro. heile gnadigo ( ) osianna salua 6. quasi dicas heilö. aut Uuillechomö.
Wie ein Vergleich mit der Handschrift zeigt, fand die besondere Anordnung der Glossen zum Text bei Steinmeyer keinerlei Beachtung, und vor allem fehlt auch der wichtige interlineare lateinische Zwischentext. Ein älteres Exzerpt von H. Hattemer war da gegenüber Steinmeyer in den Angaben zum Schriftbild sehr viel genauer 6 : In hebreo legitur. anna. adonai. osianna. anna. adonai. aslyena. baruc. abba. basen. adonai. Hierzu drei Glossen:
1) eine zwischenzeilige: 6 domine. salua gratiose.
o domine. prosperare.
benedictvs
et c{t'\
2) am obern rande: Quasi barbarice dicat uuöla herro. heile gnadigo; 3) am seitenrande: osianna salua o. quasi dicas heilo. aut Uuillechomö.
Es ist nun aber gerade der lateinische Zwischentext von Ekkehards Hand (Hattemer 1), der seine darauf folgende deutsche Glossierung überhaupt erst verständlich macht: die hebräisch-lateinische Wort-für-Wort-Glossierung der ersten Textzeile ergibt ein von zweimaligem anna adonai / 6 domine eingerahmtes osianna / salua gratiose. Das ist Ekkehards neue Interpretation von osianna, die, wenn man den unmittelbar vorausgehenden lateinischen Psalmentext des Hieronymus vergleicht, das dortige o domine saluum me fac ganz offensichtlich ablösen sollte. Der volle Wortlaut aus Psalm 117 (Luther 118, 25 — 26) erscheint im vorausgehenden Hieronymustext 4
Vgl. dazu H. F. Haefele ,Ekkehard IV. von St. Gallen', in: ,Die deutsche Literatur des Mittelalters - Verfasserlexikon', 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Spalte 4 5 5 - 4 6 5 . - St. Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen ( = Bibliotheca Sangallensis Bd. 6), St. Gallen/ Sigmaringen 1970, S. 1 1 9 - 1 2 3 .
5
A.a.O., S. 326, Zeile 28, 53, 54; S. 327, Zeile 1 - 3 . H. Hattemer, Denkmahle des MAs. St. Gallen's altdeutsche Sprachschaetze, 3 Bde, St. Gallen 1 8 4 4 - 1 8 4 9 ; hier Bd. 1, S. 256.
6
240
Reiner
Hildebrandt
(Seite 71 der Handschrift) als: o domine. saluum me fac. o domine. bene prosperare. benedictus qui uenit in nomine domini. Weil dieser Text unmittelbar vorausging, konnte Ekkehard seine weitere lateinische Glossierung auch mit et cetera abkürzen, was zugleich besagt, daß er Hieronymus nur in einer bestimmten Hinsicht, offensichtlich in neutestamentlich-augustinischem Geiste, korrigieren wollte. Implizit bot dabei das o domine keine Schwierigkeiten. Diese Anrede war nahtlos vom alttestamentlichen Gott auf Christus übertragbar, das saluum me fac dagegen klang Ekkehard offensichtlich zu sehr als von jüdischer Glaubensgerechtigkeit geprägt, deshalb korrigierte er hier explizit unter dem Gedanken christlichen Heilsgeschehens aus Gnade: salva gratiose! Ein Verb salvare, zu dem dieser Imperativ salva gehört, war im klassischen Latein noch nicht vertreten, es kam erst auf christlichem Hintergrund zur Geltung, als nämlich das entsprechende Substantiv salvator zum vornehmsten Beinamen für Christus geworden war; ein Wort, das seine Bedeutungsanalogien im griechischen CTGOTTIP (vgl. untenCTCÖCTCDV6 F | ! ) und im altdeutschen heilant\heliant hat! Ekkehards Adverb gratiose und dessen Verdeutschung gnadigo ist also Ausdruck seiner ureigensten Theologie. Wenn daher ein Zeitgenosse Ekkehards — der Verfasser des Summarium Heinrici nämlich — beide Glossenzeilen (die vom Seitenrand und die vom Oberrand) von ihm wortwörtlich übernimmt, wie gleich zu zeigen sein wird, dann kann er sie nur aus Ekkehards Originalcodex abgeschrieben haben. Bei Ekkehards langem Aufenthalt in Mainz ist dies eine naheliegende Schlußfolgerung, wenn man den Verfasser des Summarium ganz in der Nähe, in Lorsch oder Worms, möglicherweise aber auch in Würzburg anzusiedeln geneigt ist. Mit dem vorausgehenden vollen Wortlaut zum Stichwort Osama, der wie der ganze übrige Text des Kap. 19 von Buch II des Summarium aus fortlaufenden Isidorexzerpten besteht, erscheint die Stelle als 7 : Osanna in alterius lingue significatione transire in toto non potest. Osi enim salvißca interpretatur; anna interiectio est, quasi dicas heilo aut ü>illichomo, quasi barbarus dicat wola herro heile gnadigo.
Man sieht, daß der Summarium-Verfasser nicht nur salva gratiose, sondern auch die lateinische Entsprechung zu wola herro, nämlich o domine (anna adonaj) unterschlagen hat. Daraus ist zu folgern, daß er von Ekkehard abhängig sein muß. Ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden ist wegen eben dieser fehlenden Zwischenglieder im Summarium ausgeschlossen. 7
Summarium Heinrici, Bd. 1, S. 113, Zeile 1354—1357.
Uuillechomo!
Ekkehards
IV. beliebte
Grußformel
241
Nun birgt aber Ekkehards erste deutsche Glossenzeile (die vom Seitenrand) noch ein zweites Problem, dem H. Beckers in folgender Weise Ausdruck verliehen hat 8 : „Ekkehard schließt sich den Erklärungen des Hieronymus nur insofern an, als er zunächst einen dem lat. Imperativ salvifica bzw. salva entsprechenden ahd. Imperativ heile verwendet; dann aber geht er zum Adverb hello über und fügt diesem noch den den Sinn des hebr. Ausdrucks völlig verfehlenden ahd. Begrüßungsruf uuillechomo hinzu."
Zunächst vermag man dieses Urteil des völligen Verfehlens im Ausdruck nicht ganz nachzuvollziehen, sofern man Ekkehard zugesteht, daß er den Imperativ salva! sicherlich in engster semantischer Berührung mit dem alltäglich gebrauchten Imperativischen Begrüßungswort salve! gesehen hat, und letzteres ist ja durchaus adäquat mit willechomo einzudeutschen! Aber: das von Beckers formulierte Problem ist in Wahrheit ein Scheinproblem und beruht auf falscher Textinterpretation. Es handelt sich nämlich nicht um ein Adverb heilo, sondern um die synkopiert imperativische oder aber substantivisch/adjektivische Form heil mit einer angefügten (epithetischen) Interjektionspartikel -6. Die Akzentsetzungen bei Ekkehard heilo aut uuillechomo im Anschluß an die freistehende lat. Interjektion salua 6 lassen dies zweifelsfrei erscheinen. Auch der Summarium-Verfasser hat es eindeutig in diesem Sinn gesehen und mit Isidor sogar explizit formuliert: anna interiectio est, quasi dicas heilo aut willichomo, d. h. anna entspricht als Interjektion einem deutschen -o wie in heilo oder willichomo, wobei sicherlich das im hebräischen osianna ebenfalls epithetische -anna als Parallele empfunden wurde. Vielleicht war der zeitgenössische Sprachgebrauch nicht so allgemein auf dieses nachgestellte -o als Interjektion eingestellt, so daß es ein speziell Ekkehardsches Anliegen sein mochte, dieses -o zu propagieren. Anders ist es nicht zu verstehen, daß er noch ein zweitesmal auf diesem -o insistiert. Gemeint ist seine von Steinmeyer ebenfalls wieder unvollständig wiedergegebene Glosse im weiteren Hieronymustext (vgl. Faksimile zweite Spalte). Dort heißt es: anna [...] esse coniunctionem siue interiectionem. quae apudgrecosponitur AFFECECIN QCANNAI. Diese griechischen Großbuchstaben hat Ekkehard interlinear in folgende lat. Buchstabenreihe umgesetzt: 8
H. Beckers, Ein Kapitel aus der Geschichte der frühen deutschen Kirchensprache: Die Wiedergabe von „Hosianna" in der alt-, mittel- und frühneuhochdeutschen Literatur bis hin zu Martin Luther, in: Integrale Linguistik. Festschrift für Helmut Gipper, Amsterdam 1979, S. 405—431; hier S. 415. — Zu vergleichen ist auch Kl. Stroebe, Altgermanische Grußformen, in: Beitr. zur Gesch. der dt. Sprache und Lit. 37 (1912), S. 1 7 3 - 2 1 2 , hier S. 190f.
242
Reiner
Hildebrandt
ape se sin o san ne und dann erläutert er: si o9 apud teutones uuillechomo. Er stellt damit ganz bewußt eine Parallelität her zwischen dem, was apud grecos und dem, was apud teutones als Interjektion gebräuchlich ist. Im Deutschen soll es das -6 in uuillechomo sein, d. h. das Endungs-o wird als Interjektionspartikel aufgefaßt. Merkwürdig an dieser Stelle ist jedoch das Griechische. Ekkehard tut so — auch mit seiner lateinischen Umschrift — als hätte diese Buchstabenfolge noch einen Sinn. In Wirklichkeit aber liegt hier eine Textverderbnis dritten Grades vor, die anhand des Textapparates im CSEL schrittweise nachvollzogen werden kann 10 . Ausgangspunkt ist der exakte Text des Pariser Codex: AH et est AÜEC& AT7ECEC AFfECEC
in IN in IN
CfiCON AH ßCANNAI QCANAI QCANAI
(Paris lat. 1868) (Turicensis Augiensis 41) (Coloniensis 35) (Carolisruhensis Aug. 105 und Vaticanus 355/356)
Man sieht, daß das zweimalige AH des Pariser Codex (5r) et est in acöaov 8r|), d. h. die beispielhafte griechische Interjektion, in den anderen Codices verschrieben ist; und auch das acöaov wurde gewaltsam in ein coaccvvoa, also in vermeintlich Hebräisches zurückverwandelt. Damit war der Text für Ekkehard nicht mehr auf die Gleichung acöaov Sri — salva 6 = heil-6 ausgerichtet, so daß er als Beispielwort für eine nachgestellte Interjektion ohne weiteres auch sein willichomo wählen konnte. Es gibt noch eine dritte Glosse mit beiden Wörtern bei Ekkehard, diesmal in seinem ,Liber benedictionum' der St. Gallener Hs. 393, S. 18 9
10
Steinmeyer a.a.O. S. 327, Zeile 4 f. liest hier fälschlich und gegen Hattemer (a.a.O.) nicht si o, sondern sie und löst die vermeintliche Kürzel zu sicut auf! — Er hat darin übrigens einen frühen Vorgänger in dem Schreiber bzw. Glossator eines von Hartwig Mayer, Althochdeutsche Glossen: Nachträge, Toronto und Heidelberg 1974, S. 131 bekannt gemachten Schaffhausener Codex aus dem 12. Jahrhundert, u. a. mit Hieronymustext, der wegen der Übernahme eben unserer Ekkehardschen Glossen vielleicht eine Abschrift des Ekkehardschen St. Gallener Codex darstellt. Ob Mayer das sicut richtig gelesen hat, müßte allerdings noch nachgeprüft werden. Er bietet folgende Exzerpte: (O Domine saluum me f a c ) sicut apud teutones willechomo (ist die Zuordnung zu diesem lat. Text richtig?) und (anna adony osianna) vel osianna salua o quasi dicas heilo. aut willichomo. Quasi barbarus dicat wolla herro heile gnadigo. — Der Vollständigkeit halber sei hier noch angeführt, daß der Text des Summarium ebenfalls eine Weitervermittlung erfuhr, indem er in den ,Hortus deliciarum' der Herrad aufgenommen wurde. Er lautet dort (nach Steinmeyer Bd. 3, S. 414, 72 — 74): Osanna interiectio quasi dicas heilo aut ivillecome quasi barbarus dicat wola herre heile gnade. Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, Vol. 54, S. Evsebii Hieronymi opera, Wien/Leipzig 1910, S. 131.
Uuillechomo!
Ekkehards IV. beliebte
Grußformel
243
(vgl. das Faksimile) 11 . In der achten Zeile seines hexametrischen Gedichtes ,In natale domini' heißt es: Despoton infanti. sit Osanna Chereque tonanti, und über den drei letzten Wörtern stehen die Verdeutschungen: uuillichomo heil herro. Bei Chere dürfte es sich um griech. x a 'P E handeln, so daß wir eine doppelte, mit -que verbundene Grußformel vor uns haben. Der Effekt der Zeile sollte offensichtlich in der Mischung der drei heiligen Sprachen liegen, wobei Ekkehard sein formfehlerhaftes despoton sogar selbst noch lateinisch glossierte mit vel et augusto. Auch die Zuordnung von uuillichomo zu osanna und heil herro zu chere dürfte nicht auf wortinhaltlich exakte Entsprechungen abgezielt haben, sondern sollte nur die beiden im Deutschen vorherrschenden Begrüßungsformeln benennen. Immerhin hat Ekkehard aber auch hier seine aus Hieronymus gewonnene Erkenntnis, daß es sich bei -anna um eine Interjektion handelt, fürs Deutsche mit der oEndung bei willichomo wiederum realisieren wollen. Daß er bei heil (heil herro) dagegen auf ein -o verzichtete, ist unter diesem Aspekt nur folgerichtig. Dennoch bleibt prinzipiell zu erwägen, ob der Ansatz eines spätahd. Adjektivs auf -o: willikomo, wie ihn z. B. W. Braune 12 offenbar als Vorläufer für mhd. will(e)kome (neben willekom und willekomen)n bietet, nicht doch eine gewisse Berechtigung hat, selbst wenn als tatsächliche Belege nur die Ekkehardschen und der von ihm abhängige Beleg im Summarium Heinrici (dort in vier Textzeugen, den Hss. ABCV) vorhanden sind. Man müßte dann Ekkehard ambivalent interpretieren in dem Sinne, daß er die akzentuierte o-Endung mit Sicherheit als Interjektion verstanden wissen wollte, eine daneben mögliche, nicht akzentuierte o-Endung jedoch als bloße Adjektivendung ebenfalls gelten lassen mochte. Aber im Grunde spricht nichts für ein solches ursprüngliches Adjektiv, das dann zu den nur spärlich vertretenen wa-fwo-Stämmen gehört haben müßte. Vielversprechender scheint dagegen der Versuch eines substantivischen Ansatzes zu sein, der im altengl. Beleg wilcuma ,Ankömmling nach dem Willen, erwünschter Gast' 14 vorliegen soll und dem die nur zweimal belegte spätahd. (eher wohl altsächs.) Form uuillicumo im Gedicht ,De Heinrico' 15 entspricht. Schwache Maskulina als Komposita dieser Art gab es mit dem gleichen Grundwort (-quemo, -kumo, -komo) durchaus in " Steinmeyer a.a.O. S. 159, Zeile 13 f. 12 W. Braune/E. A. Ebbinghaus, Althochdeutsches Lesebuch, 16. Aufl., S. 254 (wtlli-cumo). 13 M. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, S. 890. 14 F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Auflage (1989), S. 793. 15 Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, hg. von E. v. Steinmeyer, 3. Aufl., Dublin/Zürich 1971, S. 1 1 0 - 1 1 4 .
244
Reiner Hildebrandt '
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C o d e x S a n g a l l e n s i s 159, p. 72
Uuillechomo! Ekkehards IV. beliebte Grußformel
245
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gürteltüben
erpü(w)en,
611 j\2gepü(ive)t:geschou(we)t,
ü, z. B. 1757/58 vröü(we)t:
lüt(e),
und nur selten von mhd. ¿'¿und SA 190/91 vröüden : giiden. Diese Reime
können nur mittelbairisch erklärt werden, wobei sich mit Hilfe von Reliktlandschaften, wie dem oberösterreichischen Inn-, Hausruck- und Mühlviertel, und einzelnen Relikten auch im übrigen Mittelbairischen nachweisen läßt, daß die Monophthongierung zu ä in den ländlichbäuerlichen Dialekten einst auch die neuen, aus mhd. i — ü — ü entstandenen Diphthonge erfaßte 21 . So heißt es in den genannten oberösterreichischen Gebieten ,sei', gäd ,gibt' (mhd. git), lad ,liegt' (mhd. Iii), äv ,auf, bä ,Bauch', dä(b)m ,Taube', hafm ,Haufen', %amv ,säumen', räd ,abgeholzte Stelle im Wald' (mhd. rüte), wie khäv ,Kauf, ä ,auch', glä(b)m ,glauben', dafm ,taufen', drämv ,träumen'. Wenn allerdings bei Kurzmann danach mögliche Reime von mhd. / — ü — ü untereinander und mit mhd. CB und ä fehlen, dann könnte dies unter Einschluß von mhd. ou und öü auf ambivalente Realisierung teils als Monophthong ä und teils als beibehaltene herrensprachliche Diphthonge ai — au hinweisen, die ja die 21
Vgl. Wiesinger (1970), Bd. 1, S. 79.
370
Peter Wiesinger
neuen Monophthonge für mhd. / — ü — ü und mhd. öü und teilweise auch für mhd. ou wieder verdrängt haben. Auf jeden Fall sind die Reime mhd. ou : ü und mhd. öü : ü aus dialektgeographischer Sicht nur mittelbairisch möglich, denn ihre Entsprechungen bleiben im Südbairischen stets als Monophthong und Diphthong getrennt. Bezüglich der ¿-Laute reimt Kurzmann einerseits mhd. e und e in offener Silbe, z. B. 2203/04 geben
: heben,
4231/32 legen : siegen,
was dem mittelbai-
rischen Zusammenfall in geschlossenes e und dem südmittelbairischen in den Diphthong p entspricht, z. B. he(b)mjhqi(b)m ,heben', ge(b)mlggi(b)m ,geben', nicht aber der heute allerdings erst im oberen Murtal und in der Mittelsteiermark einsetzenden südbairischen Trennung als Diphthong p und Monophthong Andererseits bindet Kurzmann mhd. e und e vor h, r, l u n d in E i n z e l w ö r t e r n , z. B. 4553/54 %ßhen : gesehen, 771/72 eren : begeren, 737/38 swert: geleret, M O 3/4 sel(e)
361/62 her : ler(e), : snel, 32/32 het(e) :
stet, die mittel- und südmittelbairisch als offenes ( bzw. vor / als q gleichlauten, z. B. %Jxd ,sehen', d^pcD ,Zehe', v) ,her', li(o) ,Lehre', h^d,hätte', ^d^d ,steht', ^nq(l) .schnell', ^Q(I) ,Seele'. Da im Südbairischen mhd. e generell und mhd. e vor h zu fallend diphthongiert wird, z. B. %ßivd ,steht', d^goxi) ,Zehe', %£vxtj ,sehen', mhd. e aber sonst monophthongisch als i erhalten bleibt, z. B. b£d ,hätte', scheidet hier südbairisches Verhalten weitgehend aus. Hinsichtlich der a- und o-Laute korrespondiert Kurzmanns Reimverhalten in seiner Gesamtheit mit keiner der beteiligten bairischen Dialektlandschaften und Sprachschichten, so daß wohl ähnlich wie bei mhd. i — ü — ü und mhd. ou — öü mit ambivalenten Realisierungen zu rechnen ist. Vor Plosiven und Frikativen reimt Kurzmann ä : a (siehe oben) und ä : o, z. B. 21/22 got:
hat, 673/74 got:
spät(e),
1327/28 h o f : s c h ä f ( e ) , A A h o f :
gräv(e). Während südmittelbairisch heute ä + o und a als qu und q auftreten, z. B. blqu^n ,blasen', hqu^n ,Hose', wq%n ,Wasen', stehen sich mittelbairisch ä + a und o als q und ö und südbairisch als q und qu gegenüber, also blq^n, wq%n, hö^njhqu^n. Da das mittelbairische Verhalten der Herrensprache entspricht und die Reime von ä + a von dorther eine lange literatursprachliche Tradition besitzen, scheint Kurzmann dort anzuknüpfen, was ihre Realisierung als q nahe legt. Dagegen entsprechen die Reime von ä : o zwar dem Südmittelbairischen mit qu, doch deuten mittelbairische Randlandschaften wie das nordöstliche niederösterreichische Weinviertel, ein sich vom Salzburger Tennen- und Flachgau über das oberösterreichische Innviertel bis Südböhmen hinziehender Streifen und der Bayerische Wald mit zahlreichen ¿"-Resten für mhd. ä sowie die in weiten mittelbairischen Gebieten geltende Reliktlautung ,Schaf mit dem mhd. o entsprechen-
Reflexe gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen
371
den geschlossenen ö nicht nur auf einst weitere ländlich-bäuerliche Verbreitung der Lautung 6 im Mittelbairischen, sondern auch auf die entsprechende ambivalente Realisierung ö\qu bei Kurzmann. Hier kann auch der Reim SA 569/70 rät : vart angeführt werden, der als einziger unmittelbar auf das Südmittelbairische des südöstlichen Niederösterreichs und der Oststeiermark verweist, wo es nicht nur rqud ,Rat', sondern bei rSchwund auch bqud ,Bart' heißt 22 . Wenn Kurzmann hingegen vor Nasal mhd. ä : o und a : o reimt, z. B. 6815/16 ü^genomen : chämen, AA dan : schon(e), dann ist dies als Monophthong oder Diphthong im gesamten Mittel- und Südmittelbairischen möglich, z. B. %bq\%bqü ,Span', mqjmqü ,Mann', Iqjlqü ,Lohn', während das Südbairische ausscheidet, wo der fallende Diphthong für mhd. o heute allerdings erst im oberen Murtal und in der Mittelsteiermark einsetzt, z. B. lob ,Lohn'. Dagegen besteht für die Reime von mhd. ä : o im Auslaut, z. B. 1543/44 da : also, SO 395/ 96 also : anderswä, in allen beteiligten Dialektlandschaften eine gemeinsame, mhd. o entsprechende Realisierung mittelbairisch als 5 und südmittelbairisch und südbairisch als qu, z. B. ^öj^qu ,so', wo\wqu ,wo'. Schließlich gibt es bezüglich der Reime von mhd. a : o, ä : o und o : o vor r, z. B. 1595/ 96 vor : tar, 775/76 garten : Worten, 77/78 varen : geboren, 529/30 wor(d)en : gevaren, SA 625/26 wären : geboren, AA %oren : ören, eine gemeinsame Realisierung älter als q, jünger als qv nur im Südbairischen und auf Grund des Einflusses der Herrensprache im Mittelbairischen, z. B. gq(v) ,gar', jq(v) ,Jahr', dq(o) ,Tor', volq(v)n ,verloren', gvq(o)n ,gefahren', während im Südmittelbairischen und damit einstens auch in den ländlich-bäuerlichen Dialekten des Mittelbairischen Lautidentität ebenfalls als q oder qv nur vor rn besteht, sonst aber mhd. a und ä als qu oder uv von mhd. o und ö als q oder qa unterschieden sind, z. B. gqujguo ,gar', jqu\juD ,Jahr', dq(v) ,Tor'. So mögen hier entweder je nach Position ebenfalls ambivalente Realisierung oder herrensprachliche Einheitlichkeit gelten. Alle anderen mhd. Vokale reimt Kurzmann nur unter sich, so daß unterschiedliche Realisierungen je nach Landschaft und Sprachschicht möglich sind. Dies gilt auch für den scheinbaren Reim von mhd. ei und i SO 51/52 geist : bewis(e)t, weil das kirchensprachliche Wort Geist im gesamten Bairischen den mhd. i entsprechenden Diphthong ai aufweist. Daß jedoch tatsächlich mit ambivalenten Aussprachen zu rechnen ist, zeigen einzelne phonetische Direktanzeigen und Hyperkorrektismen in den Schreibungen. So spiegelt sich die ländlich-bäuerliche Realisierung von mhd. ei als qo bzw. vor Nasalen in der Steiermark auch als uv in den Schreibungen 1888 chüen ,kein' und 8460 vnchlüen ,nicht klein' und als herrensprachliches ä in den hyperkorrekten ey-Schreibungen 77 lejdt für 22
Vgl. Glattauer (1978), S. 50 f.
372
Peter Wiesinger
mhd. lat ,läßt' und 2245 monejd für spätmhd. monät,Monat', während das a in 7902 vrtal,Urteil' entweder herrensprachliches ä oder bäuerliches, aus qv hervorgegangenes q (süd- und südmittelbairisch uotql) anzeigen kann. Naturgemäß nur wenige Reflexe gesprochener Sprache liefern die Reimverhältnisse bezüglich des Konsonantismus. So gilt wegen der Reime von mhd. s und % im Auslaut, z. B. 29/30 was : ha729/30 hüs : bereits die lautgleiche alveolare Realisierung s wie heute, z. B. haig^ ,Haus', ,aus'. Wenn in bezug auf die mhd. Auslautverhärtung etymologisches d: t, z. B. 2967/68 missetät
: phad,
2659/60 ward
: vart,
und g : kch, z. B. 5144/45
gesang : dankch, 6995/96 lang : chrankch reimen, dann werden sie sowohl auf Grund der Schreibungen als auch der Dialektverhältnisse mit den oben beschriebenen neuen Quantitätsregelungen unterschiedlich zu beurteilen sein. Mittelbairisch gilt heute in beiden Positionen Langvokal + Lenis, z. B. dqd ,Tat', bvqd ,Pfad', Iqy ,lang', grqrj ,krank', südbairisch aber werden die Velare als Iqüij : kxrquykx unterschieden. Berücksichtigt man die übereinstimmenden Affrikatenschreibungen 5144/45 gefannkch : dann kch, 6995/96 lannkch : chrannkch und erinnert sich resthafter Auslautverhärtungen vom Typus lq(ü)ijkx ,lang' im Südbairischen besonders von Kärnten 23 , dann wird man auch bei Kurzmann mit einem längeren Fortbestand der bairischen ¿-Verhärtung zur Affrikata kx rechnen dürfen. Hier kann der gesamtbairische Zusammenfall von in- und auslautendem mhd. h mit mhd. ch angeschlossen werden, das heute südbairisch als x fortbesteht, mittel- und südmittelbairisch aber ursprünglich schwand und unter herrensprachlichem Einfluß teilweise restituiert wurde. So reimt Kurzmann 3563/64 lihen : riehen, 905/06 siech : vih(e), die wohl wie im Südbairischen laixq ,leihen' de raixtj ,die Reichen' lauten. Während einzelne phonetische Direktanzeigen auf die mittelbairische Konsonantenschwächung hinweisen, wie z. B. 5488 geliden, 4019 töder, macht Kurzmann im Reim davon nicht Gebrauch. Dagegen greift er den weitverbreiteten dSchwund in der inlautenden Lautverbindung rdauf, z. B. 1309/10 wer(dJen : geren,
521/22 wer(d)en
: leren,
563/64 wor(d)en
: geboren,
529/30 wor(d)en
:
gevaren. Während solche Reime mit werden überall rein sind, z. B. mittelbairisch w((v)n ,werden', l((v)n ,lehren', sind sie es mit wq(v)n ,geworden' nur mittelbairisch, nicht aber süd- und südmittelbairisch, wo mit gwqvtn der ahd. grammatische Wechsel fortlebt 24 . Bei den Nasalen spiegelt sich in den Reimen der auch dialektal in einzelnen Beispielen vorhandene Übergang von auslautendem mhd. m in n, z. B. 913/14 man : priitegam, SA 793/94 swam : ran, wobei dialektal überall Vernäselung des Konsonanten 23 24
Vgl. Kranzmayer (1956), S. 79. Vgl. Glattauer (1978), S. 95.
Reflexe gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen
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eintrat, z. B. mittelbairisch braldjgQ ,Bräutigam'. Damit verbunden ist das Verhalten der Verba pura, die Kurzmann auf Wörter mit lexemschließenSie besitzen dialektal mitteldem -n reimt, z. B. 1451/52 grüen : plüe(je)n. und südmittelbairisch ebenfalls Lautidentität, z. B. grgv ,grün', blfö .blühen', ,säen', während südbairisch mit blevn\blivn, %än ein neues Infinitivmorphem als blüenen, sänen antrat 25 . Faßt man die Ergebnisse der Reimanalyse hinsichtlich der gesprochenen Sprache zusammen, dann ergibt sich auf dem Hintergrund der möglichen beteiligten Dialektgebiete des Mittelbairischen, Südmittelbairischen und Südbairischen und der von Wien aus bestimmten überregionalen Herrensprache, daß sich Kurzmann im Lautstand nicht südbairisch, sondern in spezifischen Eigenheiten mittelbairisch verhält, wie sie heute besonders in dem ja als konservatives Mittelbairisch anzusprechenden Südmittelbairischen noch anzutreffen sind. Nur der Reim SA 569/70 rät: vart verweist unmittelbar ins Südmittelbairische des südöstlichen Niederösterreichs und der Oststeiermark. Auf diesem dreifachen Hintergrund lassen sich aber sprachsoziologische Unterschiede beobachten, indem teilweise mit ambivalenten Realisierungen einerseits nach den ländlich-bäuerlichen und da heute besonders südmittelbairisch geltenden Gegebenheiten und andererseits nach herrensprachlichen, heute mittelbairischen Gewohnheiten zu rechnen ist. Mit dieser Ambivalenz steht Kurzmann nicht allein, sondern fügt sich in den Kreis seiner dichtenden Zeitgenossen, die sich bei Wahrung ihrer sprachlichen Individualität und jeweiligen landschaftlichen Herkunft alle mehr oder minder an der soziologisch höherschichtigen, überregionalen Herrensprache ausrichten. Wie sehr Kurzmann jedoch sichtlich am mündlichen Vortrag seiner Dichtungen interessiert war, zeigt sich daran, daß er im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen optische, bloß nach den Schreibgewohnheiten reine Reime zur Gänze vermeidet 26 . Umso mehr darf man über die phonetische Ebene hinaus auch auf den weiteren Ebenen im beengten Rahmen einer Literatursprache Reflexe der gesprochenen Sprache erwarten.
III. Reflexe gesprochener Sprache in den Flexiven Da Kurzmanns Flexive anhand der handschriftlichen Überlieferung schon 1913/14 von Ludwig Gauby beschrieben wurden, seien hier nur jene wenigen spezifischen Erscheinungen herausgegriffen, die vom normalen 25
Vgl. W i e s i n g e r (1989), S. 18 ff.
26
Z u m o p t i s c h e n R e i m vgl. W i e s i n g e r (1976), S. 150 f.
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schriftlichen Formengebrauch abweichen und bei Übereinstimmung mit den rezenten dialektalen Verhältnissen mit Sicherheit als Reflexe der gesprochenen Sprache zu werten sind. Obwohl eine phonetisch bedingte Assimilation, darf hier die Verschmelzung des Morphems -t der Verbalkonjugation in der 3. Person Singular und der 2. Person Plural des Präsens Indikativ mit vorangehendem lexemschließendem b und g zu p und k im Südmittelbairischen und Südbairischen genannt werden, z. B. draip ,er treibt', %'da{k ,er steigt', draips ,ihr treibt', %da[ks ,ihr steigt' 27 . Bei Kurzmann begegnet zwar nur 2400 ir hab ,ihr habt' doch bestätigt das häufige 347, 2369, 4594 u. 6. hawpp ,Haupt' und 7784 hauppman ,Hauptmann' deutlich den Rückgriff auf die gesprochene Sprache. Die 3. Person Plural Indikativ Präsens der starken und schwachen Verben tritt in Kurzmanns Werken in der Mehrzahl der Fälle noch mit dem eigenen Morphem -ent auf, z. B. 1065 lawffent, 1069 treibent, 1244, 1769, 2532 u. ö. bedewtent, 2524 machent. Seltener begegnen Beispiele mit dem mit der 1. Person Plural und dem Infinitiv übereinstimmenden Morphem -en, z. B. 3319 werden, 3548 phlegen, 3549 fprechen, 2345 lifpen. Bei oftmals vorkommenden Wörtern wie wellen und haben wechseln beide Formen, z. B. 1515, 2345, 2887 u. ö. wellent und 233, 2591, 2813 u. ö. wellen, 1865, 4155, 4660 u. ö. habent und 306, 518, 1514 u. ö. haben. Beide Morpheme bestätigen auch die Reime, z. B. 1665/66 örient : verftennt, 2333/34 wellen : Lteilen (Inf.), 2443/44 haben : gaben (Prät.); 2471/72 haben : begaben (Inf.). Obwohl sich die Aufgabe von -ent zugunsten von -en in den östlichen mittelbairischen und in den südmittelbairischen Dialekten bis in die Mittelsteiermark von Wien aus erst seit dem 18./19. Jh. vollzog 28 , reichen die Anfänge, wie frühneuhochdeutsche Texte zeigen, bis ins ausgehende 14. Jh. zurück und werden wohl auf die Herrensprache zurückgehen. Mit seinem wechselnden Gebrauch wird daher Kurzmann hier in ambivalenter Weise sowohl aus der gesprochenen Sprache der höheren als auch der niedrigeren Sozialschicht schöpfen. Wegen der Aufgabe des einfachen Präteritums im Indikativ bestehen solche Formen heute nur mehr im Konjunktiv II. Während die schriftliche Überlieferung seit dem Mittelhochdeutschen bloß eine einheitliche Bildung für alle drei ahd. schwachen Verbalklassen erkennen läßt und sich diese Einheitlichkeit im überwiegenden Teil der frnhd. Texte fortsetzt, zeigen die mittelbairischen Dialekte bereits im Indikativ Präsens teilweise 27 28
Vgl. Wiesinger (1989), S. 35 und 42. Vgl. Wiesinger (1989), S. 45 ff.
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Sprache im
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Unterschiede, je nach der Zugehörigkeit zur 1. und 2. ahd. Klasse 29 . Von der 2. Klasse wurde auch die Bildung des schwachen Konjunktivs übernommen und verallgemeinert, so daß es überall du mqyp^d ,du machtest', mqxod ,er machte' heißt 30 . Zwar gibt es bei Kurzmann keine derartigen Belege für den Konjunktiv II, wohl aber für das ja im Schrifttum stets lebendig gebliebene indikativische Präteritum, wobei die dialektale helle a-Aussprache wie für mhd. ä und CB alternierend mit a/aje/e wiedergegeben wird. So heißt es 8836 auch machaft den Magnificat-, SA 300 das f y nicht fragat nach den lachen, 8415 da\ w'erat wol ein halbes jar\ 5831 dew chlag, dew weret hundert jar\ 6527/28 ein witib, dew dyenät got pey nacht vnd tag, 5342 dem er do dyenet frue vnd ipat. Einen zusammengehörigen Komplex bilden die im Mittelhochdeutschen und in der nhd. Schriftsprache getrennten Morpheme -m und -n im Dativ und Akkusativ Singular des maskulinen Personalpronomens im/in, des bestimmten Artikels, Demonstrativ- und Relativpronomens dem/den und des stark flektierten Adjektivs als -emj-en sowie das Morphem -m für den Dativ Singular der entsprechenden neutralen Formen. Diese Morpheme fielen bei Unbetontheit in weiten Teilen des Bairischen in n zusammen. So heißt es mittelbairisch z. B 31 . des duad 'n niks ,das tut ihm nichts', i siach 'n scho" ,ich sehe ihn schon', gib's 'n Buam ,gib es dem Buben', trag 'n Säg wecka ,trag den Sack weg', des ghead sein Buam ,das gehört seinem Buben', frag sein Buam ,frage seinen Buben'. Wird aber das Personalpronomen mehr oder minder betont, so gilt sowohl für den Dativ als auch für den Akkusativ die Dativform eam ,ihm', z. B. ea gibt's eam ,er gibt es ihm', ea schaugd af eam ,er schaut auf ihn' 32 . Dieses dialektale Verhalten konkurriert nun bei Kurzmann dahin gehend, daß es bei weitgehender Beibehaltung getrennter Formen teilweise zu Verwechslungen kommt. So heißt es z. B. 4181 da% t'et jn ,ihm' aiif dermaffen we; 4228/30 den lieben jefüm f y do namen vnd vnc^ücht vil mit jn ,ihm' begunden\ 5547 dew weyl f y im ,ihn' getragen hat-, 5703/05 dew müeffen mit in ,ihm' ewichleichen prynnen-, 691/92 wenn f y jn dem ,den' tempel i f t getragen-, 931/32 darnach cham ein chnab, dem ,den' felben man der jiinkckfrawn gab-, 987/89 der tueren, dem ,den' jm got felber hat gemachet-, 3535/36 f y triben in den ,dem' tempel da^, da% 29 30 31
32
Vgl. Wiesinger (1989), S. 28 f. Vgl. Wiesinger (1989), S. 57 ff. Es genügt im folgenden für dialektale Beispiele statt einer phonetischen eine literarische Transkription. Dabei bezeichnet in bezug auf a der Schriftsprache a das helle a und ä offenes Q. Eine Erläuterung und mögliche Erklärung dieser Erscheinungen bietet bereits Nagl (1886), S. 85 und 115, am Beispiel des Südmittelbairischen im südöstlichen Niederösterreich.
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in von got verpoten wat^, 2560 der [elbig den , d e m ' Bechen fprach\ 1337/38 der diener jm gedacht, ob got biet feinem .seinen' weg volbracht\ 5542/45 jeder menfch fchol bedenkchen irem ,ihren' im'ert%en\ 720 da% ichol auf deinen , d e i n e m ' allter Iten\ 1315/16 er ward rüeffen an den lieben got in gueten , g u t e m ' wan.
Nur wenige spezifische Reflexe gesprochener Sprache sind bei der Substantivflexion festzustellen. Längst ist nämlich zu Kurzmanns Zeit im Bairischen die i-Apokope durchgeführt, so daß es im Singular der starken Maskulina und Neutra keine Unterscheidung mehr zwischen Nominativ und Dativ gibt und auch die schwachen Maskulina und Neutra und die starken Feminina im Nominativ Singular morphemlos sind, Neustrukturierungen der Flexion, die mit den dialektalen Verhältnissen übereinstimmen. Wenn Kurzmann allerdings im Nominativ Singular zwischen apokopiertem 4992, 5021 der weingart und 447, 751, 777 u. ö. der garten mit Übertragung des -en aus den obliquen Kasus unterscheidet, so entspricht dieser Formenunterschied ebenfalls dem heutigen Dialektgebrauch, z. B. im Südmittelbairischen mit allgemeinem do gqudn\guvdn ,der Garten' und im Weinbaugebiet des Burgenlandes dv wäl(x)vd ,der Weingarten' 33 , und muß in der gesprochenen Sprache schon zu Kurzmanns Zeit vollzogen gewesen sein. Dagegen lautet der einzig bei Kurzmann belegte parallele Fall mit der Übertragung des -en auf den Nominativ Singular bei den schwachen Feminina 7298, 7327 dew jungen heute nur in verkehrsoffenen mittelbairischen Gegenden de d^uyo ,die Zunge' und gilt in konservativen Gebieten wie dem Südmittelbairischen immer noch apokopiertes de d^uy34. Bezüglich der Pluralbildung kann die Ausdehnung des Morphems -er auf die im Mittelhochdeutschen im Nominativ/Akkusativ Singular und Plural gleichlautenden starken Neutra als Reflex der gesprochenen Sprache gewertet werden. So heißt es bei Kurzmann wie im heutigen Dialekt z. B. 260, 2221, 2233 u. ö. chinder, 1218, 1538, 1559 lawber, 328, 3428 chlajder, 1067, 5115 lieder, 4676 holc^er, 2686 püecher, 461 Wörter, 5814 greber, w o b e i
die drei erstgenannten Beispiele bereits im Mittelhochdeutschen teilweise den Plural auf -er bilden 35 . Neben chinder kommt aber auch noch der morphemlose ältere Plural 2719, 2755, 6155 u. ö. dew chind vor. Umgekehrt steht nur einmaligem 115 wejber 118, 276, 1089 u. ö. wejb gegenüber. Auch das Maskulinum got bildet den Plural stets als 112, 2037, 2295 u. ö. götter, was im Mittelhochdeutschen nur teilweise der Fall ist. Schließlich sind bei den Genera der Substantive kaum Besonderheiten zu beobachten, denn Kurzmanns Abweichungen gegenüber der nhd. 33 34 35
Vgl. Glattauer (1978), S. 50, und Resch (1980), S, 172. Vgl. die unterschiedlichen Formen bei Glattauer (1978), S. 25, und Eiselt (1950), S. 130. Vgl. Paul/Wiehl/Grosse (1989), § 180, Anm. 2.
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Schriftsprache stimmen mit dem mittelhochdeutschen Gebrauch und zumindest mit den Verhältnissen in den konservativen bairischen Dialekten überein. So heißt es z. B. 6930 der angel ,die Türangel', 1633 dew fchös ,der Schoß', 7323 das paw ,der Bau', 6422 da% chot ,der Kot', SA 653 das phadt und spezifisch mittelbairisch 1288 das^ thaw ,der Tau'. Dagegen deutet der bei Kurzmann schwankende Genusgebrauch von seltenem 1864 das und häufigerem 2182, 8937 der lön ,der Lohn' trotz des Vorkommens beider Genera im Mittelhochdeutschen auf eine in der gesprochenen Sprache im Vollzug befindliche Durchsetzung des heute weithin geläufigen Maskulinums, so daß das Neutrum nur mehr im oberösterreichischen Innviertel und in Teilen von Tirol und in einzelnen Komposita wie Fuhrlohn und Mächerlohn auch noch im südöstlichen und nördlichen Niederösterreich vorkommt 3 6 . Wenn im Gegensatz zu dem im Dialekt noch weitverbreiteten Neutrum Alter/Altar bei Kurzmann stets nur maskulines 720, 1503, 4977, 8874 der allter gilt, so wird hier und bei der lön als Quelle des maskulinen Genus die Herrensprache ausschlaggebend sein, was man dann auch für die im Gegensatz zum ländlich-bäuerlichen Dialekt stehende, obgenannte Nominativform dew jungen wird annehmen dürfen. So läßt sich auch in der Flexionsmorphologie eine doppelte Abhängigkeit Kurzmanns von der gesprochenen Sprache, nämlich einerseits von den ländlich-bäuerlichen Gewohnheiten und andererseits von der Herrensprache beobachten, wenn auch viel undeutlicher als beim Lautstand der Reime.
IV. Reflexe gesprochener Sprache in der Morphologie In der Wortbildung konkurrieren bei Kurzmann beim Diminutiv, in der Komposition der Lokaladverbien und bei den verbalen er-Präfigierungen die sprachsoziologisch verschiedenen Formen bzw. Bildungen der Schreibsprache, die als gehobene Formen vielleicht auch der Herrensprache angehören, und die mit dem Dialekt übereinstimmenden Formen der gesprochenen Sprache. Das im Oberdeutschen mit dem Suffix mhd. -Itn gebildete Diminutiv besteht über das Frühneuhochdeutsche bis heute als schriftsprachliches 36
Soweit nicht die betreffenden Beispiele bereits im W B Ö bearbeitet sind, verdanke ich die entsprechenden Angaben Dr. Ingeborg Geyer und Dr. Erika K ü h n aus den Sammlungen zum W B Ö an der Kommision für Mundartkunde und Namenforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Ferner ist Schmeller (1872/77) zu vergleichen.
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-lein fort und bildet im Bairisch-Frühneuhochdeutschen die übliche Schreibform. Dagegen wurde das Suffix in den mittelbairischen Dialekten zu -/ reduziert 37 , so daß es Kindl,kleines Kind', Wirml,Würmlein', Kit^l .Zicklein', Kammerl,Kämmerlein', Faßl ,Faß' (ohne Diminutivcharakter) heißt. Bei Kurzmann begegnen 845, 1729, 2189 u. ö. chindel, 6263 wiirmel, 5744 chit^el, 1077 chämerl, 1377 väffel, 3127 vingerl,Fingerring', 1884 lebel ,kleiner Löwe', 5446 pöllc^el ,Pfeil', 8410 notel ,Melodie'. Ihnen stehen teilweise Schreibformen auf -lein gegenüber, so 1094, 1719, 2239 u. ö. chindlein, 3183 vingerlein, von denen allerdings das letztere und noch 1094 chindlein reimbedingt sind, und ausschließlich 168, 369 töchtterlein ,Töchterlein' und 1079 [älterlein .kleiner Psalter'. Die zusammengesetzten Richtungsadverbien werden im Oberdeutschen nicht nur im Vergleich zum Mitteldeutschen und zur nhd. Schriftsprache mit umgestellten Gliedern gebildet, sondern sie werden auch auf dem ersten Glied betont 38 . Es heißt daher dialektal im mittelbairischen Osten auffi .hinauf, auffa ,herauf, außi ,hinaus', außa ,heraus', äwi .hinab', äwa ,herab'. Entsprechend gebraucht Kurzmann anfangsbetontes 10, 610, 638 u. ö. auf hin, 6774, 8386 aüffher, 3897 ausbin, 2304, 6254 ausher, 323, 1305, 2227 u. ö. abbin, 5460, 6025, 7164 u. ö. abher. Ihnen stehen aber endbetontes 1494, 2606, 5036 hinauf, 1658 hinaus, 730 heraus, 7909 hinab, 2410 herab gegenüber. Ein verwandter Gegensatz besteht bei der verbalen er-Präfigierung, die vor allem im Bairischen und im Ostmitteldeutschen gegenüber der nhd. Schriftsprache dialektal mit der- erfolgt 39 , z.B. mittelbairisch dafäh(r)n ,erfahren', daschlägn ,erschlagen', dakenna .erkennen', dapärma .erbarmen'. Dementsprechend überwiegen in Kurzmanns „Speculum" die Bildungen mit der-, z. B. 647, 868, 1397 u. ö. derfaren, 742, 921, 2359 u. ö. derflagen, 72, 1698, 2127 u. ö. derchennen, 8404, 8740 derparmen, 6247 derMeinen .erscheinen', 295, 356, 360 u. ö. der^aigen ,dartun, erweisen', 503, 2631, 4633 u. ö. aufdercharen .auserkoren', 1290, 3526, 4093 u. ö. aufderwellet ,auserwählt'. Ihnen stehen viel seltener Bildungen mit bloßem er- gegenüber, z. B. 850, 1096, 4550 erchennen, 3112 erparmen, 1672 ericheinen, 1239, 1760, 2825 er^aigen, 1235, 1436, 1552 u. ö. auferwellden. Das „Soliloquium", das Kurzmanns Mitbruder Heinrich Schäbel überliefert und dessen Neuberger Abschrift besonders autornah ist, zeigt umgekehrt mit 6 er-Bildungen (41 ergrunden, 185 ercham, 199 erfterben, 345 er^aygen, 359, 365 er[fanden) und nur 4 der-Bildungen (217 derloien, 320 derichell, 355 au^derwellten, 353 37 38 39
Vgl. Wrede (1908), S. 116ff., und Weinhold (1867), S. 242ff. Vgl. Hinderling (1980). Vgl. Ahldén (1953).
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Sprache im
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dericheyri) ein leichtes Überwiegen der ^-Bildungen. Zieht man schließlich Kurzmanns eigenes Schreib verhalten im Codex MS 1258 der Grazer Universitätsbibliothek mit etwa 300 deutschen Wörtern heran, die als Interpretamente in Form von Einzelwörtern, Syntagmen und ganzen Sätzen in lateinische Predigten eingestreut sind, so finden sich dort ausschließlich ¿r-Bildungen: erget^et, erliten, erhört, erparmet. Da besonders in Wien jene Schreiber, die sich der neutral-bairischen Schreibform bedienen und damit Erscheinungen der ländlich-bäuerlichen Dialekte meiden, frBildungen gebrauchen, liegt hier zumindest ein schreibsoziologischer Unterschied vor, sollte es sich bei er- nicht um das Präfix der Herrensprache handeln. Ob Kurzmann der- tatsächlich gemieden hat, wie es nach dem Autograph den Anschein hat, und dieses in den Textüberlieferungen seiner Dichtungen dann auf die Schreiber zurückgehen würde, muß offenbleiben. Auf jeden Fall aber verkörpert das Präfix der- einen Reflex der gesprochenen Sprache. Schließlich kann hier noch als eine allerdings phonetische Erscheinung der gesprochenen Sprache das heute im Bairischen zu -at entwickelte Adjektivsuffix mhd. -eht genannt werden, z. B. mittelbairisch bat^at,naßweich', bärtat ,bärtig', das bei Kurzmann ebenfalls als -at auftritt: 4763, 8136 torat ,töricht, dumm'.
V. Reflexe gesprochener Sprache in der Syntax Angesichts der Stilisierung der geschriebenen Sprache im allgemeinen und der Verssprache im besonderen, stellt sich die Frage, inwieweit im Bereich der Syntax als einer ohnehin relativ offenen sprachlichen Strukturebene überhaupt Reflexe gesprochener Sprache festzumachen sind. So glaubt z. B. Siegfried Grosse, in mittelhochdeutschen Epen bloß einzelne Abhängigkeiten vom Gesprochenen sicher erfassen zu können, wie in Anredeformen und Interjektionen der direkten Rede, in sematisch bedingten Inkongruenzen, in Satzverkürzungen und Anakoluthen sowie im Gebrauch der Anaphora und der Deixis 40 . Dagegen geht Stefan Sonderegger am Beispiel des Nibelungenliedes wesentlich weiter, wenn er im Zusammenhang mit der mündlichen Tradition dieser Dichtung in den Kurzsätzen der direkten Rede überhaupt unmittelbare Niederschläge der Alltagssprache vermutet und diese dann auch auf Grund ihrer Inhalte in verschiedene Bedeutungsgruppen der gesprochenen Sprache gliedert 41 . Dabei werden 40 41
Grosse (1985). Sonderegger (1981).
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als charakteristische volkssprachliche Satzmuster besonders die Anaphora, Mehrfachnegationen, die freie Wortstellung nominaler Bezugswörter und die Konstruktion apo koinu angesehen. Da Kurzmanns Werke freie Versübertragungen lateinischer Vorlagen sind und nur biblische Personen sprechen, wird man im Gegensatz zur ritterlichen und damit zeitgenössischen Gesellschaft des Nibelungenliedes in Verbindung mit der zeitgenössischen Gestaltung des biblischen Geschehens sowohl in der direkten Rede als auch im erzählenden Text nur mit Reflexen syntaktischer Einzelerscheinungen und in Kurzsätzen insbesondere der direkten Rede auch mit Satzmustern der Alltagssprache rechnen dürfen. Wie schon eingangs gesagt, wird man in methodischer Hinsicht vor allem dann in solchen und weiteren Erscheinungen Reflexe der gesprochenen Sprache erkennen dürfen, wenn diese Bildungsweisen selber oder ihre Strukturmuster in den heutigen Dialekten weiterbestehen, wobei sie durchaus schon auf das Mittelhochdeutsche zurückgehen können42. So behandeln wir im folgenden besonders jene syntaktischen Erscheinungen, die auf diese Weise mit Sicherheit als Reflexe der gesprochenen Sprache ermittelt werden können. Eine beliebte syntaktische Erscheinung der heutigen bairischen Dialekte ist die Hervorhebung des Subjekts oder Objekts durch Spitzenstellung bei Ausklammerung aus dem Satzverband mit anschließender Wiederaufnahme durch das Demonstrativpronomen als Platzhalter in der betreffenden syntaktischen Position, wobei eine dazwischen geschaltene Pause die Hervorhebung noch verstärkt. Diese Konstruktion trägt in der Grammatik nicht immer eine Bezeichnung und wird teilweise Anaphora oder recht anschaulich „mise en relief' genannt43. Sie kommt bereits im Mittelhochdeutschen vor, hat sich aber in der geschriebenen Sprache wegen ihrer Redundanz nie behauptet44. Beispiele aus dem südbairischen Dialekt der Weststeiermark sind hier und im folgenden etwa 45 : da Roußknecht, dea is souwiasou mea a Ghoamer ,Der Roßknecht, der ist sowieso mehr ein Ge-
42
43 44
45
Zum Vorkommen einer Reihe der im folgenden behandelten Erscheinungen bereits im Mittelhochdeutschen vgl. die betreffenden Abschnitte bei Behaghel (1923/32). So z. B. Grosse (1985), S. 1188, bzw. Sonderegger (1981), S. 372. Wenn diese Erscheinung auch v o n nhd. Grammatiken übergangen wird, so begegnet sie trotzdem da und dort auch schriftsprachlich, v o r allem in der Lyrik. Ein diesbezüglich schönes Beispiel bietet das Gedicht „Wanderlust" des Schwaben Justinus Kerner v o n 1825: „Die Vögel, die kennen sein väterlich Haus, / Die Blumen, die pflanzt er der Liebe zum Strauß, / Und Liebe, die folgt ihm, sie geht ihm zur Hand: / So wird ihm die Heimat das fernste Land." Es handelt sich dabei um Beispiele aus jenen weststeirischen Sagen, die Kainz (1986) in ihrer originalen dialektalen Gestalt und Syntax wiedergibt. Dabei vereinfache und systematisiere ich etwas die Transkription.
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heimer', da Hans, dea wits schä" mächn ,der Hans, der wird's schon machen', na a stoanälta Adla, dea hitt'n gwißt ,nur ein steinalter Adler, der hätte ihn gewußt'. Kurzmann macht von der Anaphora sowohl in der direkten Rede als auch im erzählenden Text reichlich Gebrauch, z. B. 1369/70 „Mein hertdas i f t mir rain beliben", 3319 „Dein feind, dew werden dich frören", 263 fein frewnt, die wurden in verfmehen, 403 dye tocbtter, die gewann ein chind, 459/60 der fluecb, der cham in einen fegen, wenn got, der wart jm fnell begegen, 1279/80 das vel, da% ward des thawes vol, 4255 da% Chalb, da% würden f y an pitten, 5267 fein friicht, dew fcholt man werffen hin. Hier kann unter den verschiedenen Möglichkeiten der Deixis die Fortführung eines Subjekts oder Objekts des vorangegangenen Satzes durch das Demonstrativpronomen im folgenden Satz angeschlossen werden, z. B. weststeirisch er brauchat nur an guldanan Becher. Den kriagg er ,er bräuchte nur einen goldenen Becher. Den kriegt er', si hat alle iahre Edlstoana in an finstan Wald vastrat. D'ei sutt a ysoumm suachn ,Sie hat alle ihre Edelsteine in einem finstern Wald verstreut. Die sollte er zusammensuchen'. Auch Kurzmann nützt diese Form der Deixis, z. B. 944/45 vnd got von himel wa^ mit in. Der ward von in mit lob geeret\ 980/82 ein tiiren was in hayden lannt. Der was fo veftichleichgepawet, das ...; 995/97 der wachter i f t allain nur got. Der hat die veind hindan getriben\ 2251/53 f y legt ir liebes chind dar jn vnd warff es auf da% waffer hin: das ward do fwymmen hin und her, 2290/92 ... recht als her jer 'emias fchraib. Dew weil der in Egippto wa%, do fagt er... Ein im Dialekt geläufiger verwandter Gebrauch des Demonstrativpronomens bzw. des ihm entsprechenden bestimmten Artikels ist seine Setzung vor Personennamen, z. B. weststeirisch da Hans frägg eam ,Der Hans fragt ihn', hänts 'n Hans einiglegg ,haben sie den Hans hineingelegt', dei Kati geat fuscht ,die Kathi geht fort', sagg a da Kati ,sagt er zu der Kathi'. In gleicher Weise heißt es bei Kurzmann, z. B. 109 der Salamon was weys vnd chlueg, 1109 der Gabriel hin wider fprach, 2752/53 den daniel er jm nam. Der daniel gie fröleich mit, 7462 feht, alfo dew Maria tet, 1284 vnd f e y der Marie wenkchen. Der gesprochenen Sprache eigen sind auch semantisch bedingte Inkongruenzen. Sie treten einerseits ein zwischen grammatikalischem Genus und natürlichem Sexus, z. B. weststeirisch deis Weibl muaß a Währsägaran gweidn sei". Si hat sich gleich auskeimt ,Dieses W e i b l e i n muß eine Wahrsagerin gewesen sein. Sie hat sich gleich ausgekannt'. Ebenso heißt es bei Kurzmann 95/96 das i f t ein vngetrewes weib, dye ä f f t verderbet fei vnd leib. Andererseits begegnen Inkongruezen im Numerus, z. B. 3629/33 Her Moyfes hat gelehriben da\, do er in einer wüeftüng fas^ mit allem volkch von jfrahel, do müeft er leyden g r o f f e n quel, wenn nichtes heten f y e f f e n ; 3275/77
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Der w e i f f a g vns bedewtet wol dew p h a f f h a i t , dew do ir chinder fchullen leren-, 3353/55 ein g r ö f f e w menig all gebannt ward nider praitten ir gewannt. Sy würden auch dew eilt abflahen. Während in der geschriebenen Sprache stets auf vollständige Sätze geachtet wird, neigt man im dialektalen Erzählen oft zur Auslassung von Hilfsverben und von pronominalen Subjekten. So kann man z. B. im Weststeirischen ohne Hilfsverb sagen: ä f t is a eini ba da Ställti und 'n Mist sämp di Vicha a u f g f ä ß t und außiglart ,danach ist er hinein bei der Stalltüre und [hat] den Mist mitsamt die Viecher aufgefaßt und hinausgeleert'; ea äwa is sit^n blibn und nix gsägg und nix deit ,er aber ist sitzen geblieben und [hat] nichts gesagt und nichts gedeutet'; sands keimm, alle Amasn und auf sei" Ghoaß fleißi di gän^e Nacht gsuacht und richti alle Reaf und Perln gfundn ,Sind sie gekommen, alle Ameisen und [haben] auf sein Geheiß fleißig die ganze Nacht gesucht und richtig alle Reifen und Perlen gefunden'; er si deinkt, di Hint miant jou wen ghen, und er richti mit sei mitgritten ,er sich denkt, die Hunde müssen ja wem gehören, und er [ist] richtig mit sie mitgeritten'. Gelegentlich finden sich solche Auslassungen des Hilfsverbs auch bei Kurzmann, z. B. 2769/71 den vber wandt her jefus christ mit feinem vafiten vnd vns domit ein pilld gegeben. Seltener ist im Dialekt die Auslassung des pronominalen Subjekts, z. B. Da Baua hat si schean bedankt und eam gsägg: „Muaßt schä" aufpassn, daß da koana auskimmp". Is hoamgäng, Gaschtn in di Mühl äwifian. Hat's Sacklpackt und wia das as a f n Buggl aufihep, kimmp eam schä" da erschte aus ,Der Bauer hat sich schön bedankt und zu ihm gesagt: „Mußt schon aufpassen, daß dir keiner auskommt." [Er] Ist heimgegangen, Gerste in die Mühle hinabführen. [Er] hat das Säckchen gepackt und wie er das auf den Buckel hinauf hebt, kommt ihm schon der erste aus'. Bei Kurzmann kommen solche wohl mit der gesprochenen Sprache verbundene pronominale Subjektauslassungen allerdings nur in Nebensätzen vor, z. B. 985/86 auch macht jm nyem gefchaden ^war, hallt nür wie chlain i f t , vmb ein har ,Auch konnte ihm wahrlich niemand, wie klein [er] auch ist, nur im geringsten schaden'; 235/36 vnd i f t in vil, fo geben dar, wenn es in fünden wirt für war ,Und besitzen sie viel, so mögen [sie es] hergeben, denn es wird ihnen wirklich angerechnet'. Während im Mittelhochdeutschen die Mehrfachnegation gebräuchlich war, wurde sie zwar im frühneuhochdeutschen Schrifttum abgebaut, hielt sich aber in der gesprochenen Sprache bis heute. So heißt es z. B. in den weststeirischen Dialekten 46 , z. B. ma sieht nix netta ,man sieht nichts nicht'; das wiari da nia net sägn ,das werde ich dir nie nicht sagen'; i häns ninascht net gfundn ,ich habe es nirgends nicht gefunden', neamp nix 46
Vgl. Hutterer/Kainz/Walcher (1987), S. 126.
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sägn .niemand nichts sagen'. Auch Kurzmann meidet sichtlich die Mehrfachnegation, z. B. 572/73 das Tör ward nymmer auf getan vnd törit es nyem gerüeren an, wenn es t^war nyemant was gernain\ 585 vnd nyemant es dergriinden mag, 439/40 das nicht es mag in in g e f l i e f f e n , auch niemant mag in aufgeÜieiien. Teilweise aber läßt Kurzmann die Mehrfachnegation der gesprochenen Sprache einfließen, z. B. 1541/42 dye gert wa% nienich vnbeckannt vnd auch mit nichtew nicht gepannt\ 1801 sy treybet niemant nicht hin dan\ 906/07 da^ viech, da^ fich %war nichtes nicht veritet. Über diese als Reflexe der gesprochenen Sprache zu bewertenden syntaktischen Einzelerscheinungen hinaus, werden sich wahrscheinlich in Kurzsätzen überhaupt Satzmuster gesprochener Sprache niederschlagen und das insbesondere in der bei Kurzmann allerdings nicht häufigen direkten Rede. Dabei wird man sowohl in isolierten Kurzsätzen als auch als Hauptsätzen von Satzgefügen wie überhaupt in kurzen Satzgefügen mit obligatorischem Nebensatz und in aus zwei Kurzsätzen bestehenden Satzreihen Strukturmuster der gesprochenen Sprache erkennen dürfen. Solche Sätze werden aber angesichts der Verssprache nur dann als Reflexe der gesprochenen Sprache gelten dürfen, wenn ihre Wortstellung den heutigen Dialekten entspricht und damit metrisch bedingte Veränderungen ausgeschaltet werden können. In der direkten Rede dominieren bei Kurzmann imperativische selbständige oder integrierte Kurzsätze. Gänzlich natürliche Wortstellung mit heute noch dialektal möglichen Satzmustern zeigen folgende Beispiele. Rein imperativisch mit der 2. Person Singular oder Plural des Vollverbs sind: 366 Hör, joachim, mein red vernyml 964 Mein liebew frewndin, chüm mir! 1091 Nw furcht dir nicht, got i f t mit dir! 1419 O got, nü tue dein himel auff ... 1427 Ertyaig dein parmung, lieber herre ... 2893 Ge hin, dü pö[er fathanas! 3125 Get, pringt mir her dew erften ftöl ... 3132 Get, pringt vns her ein giitew fpeys ... 5143 Got vater, nym dew fchuld in ab! 6675 Nw trinkch genüeg vnd mach dich vol... 6677 Nw trinkch vnd mach dich vol vnd fat ... 7705 Nempt ewrew 1wert vnd get mit mir ... 7785 Nw la von deinem ftreit ... 7870 C^eüch aus das [wert vnd tot mich gar ... 7909 Nü la dich an dem fayl hin ab! 8031 O Chünegin, pitt, wa% du willd ... Eine Verbindung von Imperativ und synthetischem Imperativersatz mit fchullen oder bloß letzteres zeigen in der direkten Rede folgende selbständige oder integrierte Kurzsätze: 767 Hör, töchter, du fcholt folgen mir ... 3478 Siech du [chollt nicht lennger peiten ... 5042 Get hin, ir fchüllt da% lannt verfpehen; 1187 Dw [chollt [ey nemmen der ee ... 1189 Dw [chollt auch nicht von ir entrinnen ... 1191 Das [cholt du nennen jeßi chriit ... 1419 Dw [chollt dein hymel nyder naigen ... 2563 Dü [chollt hin v>u dem jordan laüffen ... 7905/06 Du [cholt hin fliehen vnd dich von deinem haws hin Riehen.
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Wenn solche imperativischen Kurzsät2e der direkten Rede wahrscheinlich Strukturmuster der gesprochenen Sprache aufweisen, so werden sie es auch als häufig begegnende und zum Teil sich wiederholende adhorative Satzgefüge mit Objektsatz im erzählenden Text, wo sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers bzw. Lesers wachhalten bzw. wecken sollen. Beispiele sind etwa: 430 Hört, Nw wil ich ein anders fagen; 1510 Nw höret einen andern [in! 1534 Nw merkchet, was ge[ehriben ftet; 2242 Nw merkehet, wa^ ich tagen wil; 2514 Noch höret, wa^ ich tagen wil; 3024 Nw merkchet, wa% ich tagen fchol; 3580 Nw hört, wa\ ich euch tagen tchol; 3733 Nw merkchet, was wir tagen müetten; 6252 Nw hört, wa% wir nü fagen wellen-, 340 Nw tchullt ir hören, wa£ ich fchreib; 418 Nw tchullt ir hören, was man litt-, 708 Nw tchüllt ir hören, was ich tag; 1470 Nw tchullt ir hören, wa% wir tagen; 2154 Nw tchullt ir hören, was ich meld; 3043 nw tchullt ir hören, was getchach; 5383 Nü tchüllt ir hören, wa% ich predig. Mag das fast durchwegs einleitende nw metrisch bedingt erscheinen, so belehrt die mittelalterliche Predigt, daß es damals durchaus mit der Aufforderung verbunden war. So heißt es z. B. bei Berthold von Regensburg immer wieder Nü hoeret und Nü seht'". Weitere selbständige Kurzsätze oder als Teile von Satzgefügen oder Satzreihen in direkten Reden sind in Übereinstimmung mit den heutigen dialektalen Satzstrukturen folgende Einfachsätze, Satzgefüge oder Satzreihen: 1335 Ich wil hallt tchepphen deinem viech ... 1369/70 Mein hert%, das i f t mir rain beliben, vnd potew gier hab ich vertriben; 2995/96 Dein tund, dew find dir gar vergeben, nw gee hin in da% ewig leben! 3035/36 Ich hab nicht recht getan, ich pin ein gar vilpöfer man; 3249/52 Dü halt nicht recht getan ... Dw haft ein groffew fünd gewarcht vnd götes aiigen nicht gefarcht; 3259/60 Dein fünd, dew hat dir got vergeben, vnd du beleihe ft pey dem leben; 3319 Dein feind, dew werden dich %eftören ... 6555 ... wa% du nü wild, da% tue mit mir ... 7376 Es get mir gar vneben; 7702 Ich hab mein trew verloren; 7704 Ich wil mich an dem man \'war rechen; 8468 Der dienft i f t mir ein liebew gab; 8506 ... jeh wil dir hallt nicht widerften. Auch kurze direkte und indirekte Fragesätze der direkten Rede entsprechen in ihren Strukturen der heutigen gesprochenen Sprache, z. B. 1145 Ey, wie i f t da% nü ^uegegangen ... 1425 Wie lanng wil du dich aufenthallten? 1698 Nw tagt vns, ob ir in derchennt; 3911 Wen füechet ir? 4410 Sag mir, ob du ein kündigk p i f t ... 4444 Wie fchol dem je tu chrift gefchechen? 5796 Ir jüden, wa^ wellt ir nu rechen? Beide zuletzt genannten Satzgruppen der direkten Rede finden ihre Gegenstücke im erzählenden Text, wie z. B. die schon oben behandelten 47
Vgl. z. B. Pfeiffer/Strobl (1880), 52: „Von dem Wege der Erbarmherzigkeit" mit zehnmaligem nü seht und dreimaligem nü hoeret.
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Sätze mit Anaphora zeigen. Ja selbst in manchen längeren Satzgefügen des erzählenden Textes mögen sich syntaktische Strukturen der gesprochenen Sprache spiegeln wie z. B. in der sprichtwortartigen Aussage 266/67 Wer pfennig hat, do get man mit, vnd wer nicht hat, den lät man gen, oder in der im Perfekt gehaltenen, mit Mehrfachnegationen versehenen, parataktischen Schilderung von Marias sittsamem Gebaren, das dem losen Verhalten der weiblichen Jugend entgegengestellt wird: 1153/56 Sy i f t nicht an den tannt£ gegangen vnd hat [ich nyenit vberfangen mit trinkchen vnd mit vbereffen vnd auch an nichtew nicht vergeffen. Das letztgenannte Beispiel vermag bereits von den unmittelbaren syntaktischen Erscheinungen als Reflexen gesprochener Sprache überleiten zur Frage, welche stilistischen Charakteristika volkstümlichen Erzählens sich in Kurzmanns Text niederschlagen. Ein solches Charakteristikum, das heute noch das dialektale Erzählen bestimmt, ist die Parataxe. Dabei werden entweder mehrere Sätze mit und quasi zu einer längeren Periode verbunden oder und dient überhaupt als satzeinleitende Konjunktion, z. B. weststeirisch: Und richti währ hänts as eam ä f t außagebn. Und da Eidlhäns di Bauantochta packt und hoam iarn Väta. Und nächa hänts Hoa^at gm acht und da Eidlhäns is Baua gwattn ,Und richtig wahr haben sie es ihm danach herausgegeben. Und der Erlenhans [hat] die Bauerntochter gepackt und [ist] heim zu ihrem Vater. U n d nachher haben sie Hochzeit gemacht und der Erlenhans ist Bauer geworden'; Da We %iacht si und sie keimmant auf die Alm und die Sunn breinnt hoaß und es war völli %an vaduschtn ,Der Weg zieht sich und sie kommen auf die Alm u n d die Sonne brennt heiß u n d es wäre völlig zum Verdursten'. Vergleichbare Parataxen gebraucht auch Kurzmann, wie schon das obgenannte Beispiel 1153/56 und auch die folgenden zeigen: 871/76 Do müeft f y jn egipten fliehen vnd auch jn frömdew lannd hinziehen. Vnd wär f y dann allain gegangen, man biet ir es nicht wol verfangen. Vnd dart^ue war ir auch berait her josepht, als ich hab gefait ... 1588/94 Domit ich mag da% wol geleren, da% vnfer fraw recht gannc% vnd gar an allew gaylüng was fürwar. Vnd auch in seji mit nichtew cham der menfchleich vnd der mändleich fam. Vnd doch von jr her körnen i f t der wellt ein haylant, jefus chrift. Die Mündlichkeit der Parataxe bestätigt besonders die direkte Rede 3125/29 „Get, pringt mir her dew e'rften ftöl, mein Chind ich domit chlaidern ichol. Vnd pringt mir auch ein vingerl her, domit ich auch mein chind fchön er. Vnd gebt jm fchüech feinen fHessen ...". Satzeinleitende Beispiele von vnd, die in bezug auf die vorangegangenen Äußerungen die Funktion einer Deixis haben, sind u. a.: 3137/40 Secht, alfo i f t der tat gefchehen, dew aüflegüng fchull wir anfehen. Vnd fprich ich da% von bereden wol, das nyemant nicht vertagen fchol ... 1207/12 Wir lefen in der wibel das ..., als wie ein püfeh gar haitter
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pran. Vnd in dem piifch erfchain jm got, der allew dinkch befchaffen hat*8. Solches vnd steht auch gerne vor zusammenfassend-folgerndem darumb, 2. B. 2994/94 ... vnd [pracb ir ein Tue f f es wort: „Dein [und, dew find dir gar vergeben, nw gee hin in da^ ewig leben!" Vnd darümb njem vertagen fchol, wie wol er i f t der fänden vol. Schließlich leitet zusammenfassendes vnd oft auch die Schlußformel am Ende eines Abschnittes ein, z. B. 3005/06 Vnd wil ich de% ein vrchünd Tagen, das do ge ich ach vor allten tagen. Für das volkstümliche bairisch-österreichische Erzählen ist weiters der häufige Gebrauch der je nach Beispiel ,eben, nun einmal, freilich' bedeutenden Partikel hält charakteristisch 49 . So heißt es in den südbairischen Dialekttexten aus der Weststeiermark z. B. Da Teifl tuat eam den Gfälln und mißt hält ama eini ,Der Teufel tut ihm den Gefallen und mißt halt einmal hinein'; ... und hat hält ba alle Halian vasprouchn, neamp nix %an sägn'... und hat halt bei allen Heiligen versprochen, niemandem nichts zu sagen'; Dou da^öühlt hält da Häns weita, wia's mit n'fälschn Reita gäng is ,da erzählt halt der Hans weiter, wie es mit dem falschen Reiter gegangen ist'. Auch Kurzmann verwendet die Partikel halt immer wieder, z. B. 909/11 Secht, wie gar werd dy chanfchafft i f t , das f e j hallt niemant chan erftoren! 1335 „Jch will hallt fchepphen deinem viech"; 1505/07 So werden vnfer pannt gebrochen vnd auch der feint gar fer geftöchen, das er hallt mues von vns hinfliehen-, 2018/19 Wenn f y was alfo dyemüetig, das ich hallt wärleich pilleich fwig. 3595/97 Er mües nach jr 'en willen piieffen vnd werden in hallt dart^üe müeffen, da% er fich hallt mües fuder Riehen. Wie die Beispiele zeigen, tritt die Partikel im erzählenden Text und in der direkten Rede gleichermaßen auf. Wie die verschiedenen, mit den gegenwärtigen Dialekten korrespondierenden Beispiele zeigen, entspricht Kurznfanns Aufgreifen syntaktischer Erscheinungen der gesprochenen Sprache ganz seinem stilistischen Streben nach einer schlichten Ausdrucksweise.
VI. Reflexe gesprochener Sprache im Wortschatz Bezüglich des frühneuhochdeutschen Wortschatzes des 14./15. Jhs. haben vor allem Werner Besch am Beispiel der sehr zahlreichen lokalisierbaren Überlieferung der „Vierundzwanzig Alten" des in Basel tätigen Otto von 48
O b w o h l derartiges satzeinleitendes et ,und' bereits die Vulgata kennt und auch die deutschen Bibelübersetzungen d a v o n G e b r a u c h machen, handelt es sich bei K u r z m a n n auf G r u n d dieser auch dialektal gebräuchlichen Erscheinung w o h l kaum u m E i n f l u ß der biblischen Sprache.
49
Vgl. Schmeller, Bd. 1, Sp. 1 0 9 7 ff.
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Passau und Konrad Kunze am ähnlich gelagerten Beispiel der ebenfalls am alemannischen Oberrhein verdeutschten „Legenda aurea" gezeigt, daß die landschaftliche Heteronymie, wie sie insbesondere zwischen verschiedenen Großraumdialekten auftritt, sich auch schreibsprachlich sehr deutlich niederschlägt, indem die Schreiber bei Übernahme eines Werkes von einer Sprachlandschaft in eine andere mit dem Schreibusus auch die landschaftsfremden Ausdrücke ihrer Vorlage vielfach gegen die eigenen Bezeichnungen auswechseln 50 . Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, daß damals der spezifische regionale Wortschatz in den einzelnen Sprachlandschaften fest verankert war und wohl ohne soziologische Unterschiede in allgemeinem Gebrauch stand. Es kann daher nicht überraschen, daß auch Kurzmann sowohl die gängigen bairischen Wortformen als auch die üblichen bairischen Ausdrücke verwendet. Dabei dürfen jene Wortformen und Wörter als typisch bairisch gelten, die schon im Mittelhochdeutschen des 12./13. Jhs. oder erst ab dem 14. Jh. bloß im bairischen Sprachraum (und teilweise auch noch in den anschließenden alemannischen und ostfränkischen Grenzräumen) belegt sind und dort heute noch dialektal gelten, wobei freilich zum Teil jüngere Neuerungen räumliche Einengungen meist auf konservative Gebiete mit sich gebracht haben. Unter diesem doppelten zeitlichen Bezug dürfen daher von Kurzmann gebrauchte typisch bairische Wortformen und Wörter auch dann als Reflexe der gesprochenen Alltagssprache seiner Zeit gelten, wenn sie heute nicht mehr in seinem südbairisch-südmittelbairischen Herkunfts- und Wirkungsbereich des südöstlichen Niederösterreichs und der Ost- und nördlichen Obersteiermark anzutreffen sind. Ohne Vollständigkeit erstreben zu wollen und ohne auf das heute oftmals räumlich beschränkte Vorkommen einzugehen 51 , handelt es sich bei Kurzmann um folgende lexikalische Erscheinungen. Typisch bairische Wortformen mit sogenannten „Kennlautungen" sind in alphabetischer Reihenfolge: 123, 131, SO 19, 91 afer ,aber'; 6446 anweigen ,versuchen', 7850 anweigung ,Versuchung'; 2088, 2091, 6672 emmer ,Eimer', 25, 31, 129, 158 hetjhiet ,hatte/hätte'; 181 holer .Holunder'; in ,ein' z. B. in 335, 2251 darin ,darein, hinein', 1074 inlaffen ,einlassen', 2984, 3224 ingen ,eingehen'; 6323 jndert ,irgendwo', 1926, 2059, SO 120 nyndert .nirgend, keinesfalls'; 6219 lakcb ,Lacke'; 4890, 7867 [chamen ,sich schämen'; 6001 fcheff,Schiff, 6009 fchefflawt,Schifferleute'; 4273 fchiech ,häßlich'; 2927, 2950, 6378 ^enndt 50 51
Besch (1967), S. 1 3 4 f f . ; Kunze (1989); Williams (1990). Zum Vergleich werden herangezogen für das Mittelhochdeutsche Lexer (1872/78) und für die rezenten bairischen Dialekte das W B Ö , die Sammlungen zum W B Ö , Schmeller (1872/77), Lexer (1862), Unger-Khull (1903) und Schatz (1955/56).
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,Zähne'. Zum typisch bairischen Wortschatz bei Kurzmann zählen: 4782 angienen .schreiend anklagen'; 753 annt fein .schmerzlich, übel zumute sein'; 4259 annt tuen .Schmerz bereiten'; 7387, 7389, 7391 a f f e i c b ,Gefäß, Geschirr'; 1280 aufreiden ,auswringen'; 4499 (be)grapeln ,(be)tasten' (hier ,belästigen'); 1584 pellc^en ,pfropfen'; 8022 pbrengen ,bedrängen, bedrükken'; 4977 preis, 4916 weinpress ,Weinpresse'; 1348 chan ,Ehefrau', 886 chanlewt,Eheleute', 895, 899, 909 chanfchaft .Ehestand'; 1454 chlauben .Obst pflücken'; 4924 v e f f e n (mhd. vehsen) .ernten'; 3447, 4983 fleyfchakcher ,Fleischhacker, Metzger'; 5712 dengyckelauftreiben ,verhöhnen, verspotten'; 3102, SA 880 len ,weich'; 1915 fcbeibig, 1875, 1911 gefcheibet .rund, gerundet'; 4232, 6472, 8530 [pir^en ,spucken', 4267, 4272, SO 289 verfpirc^en .ausspucken'; 3084, 3087 trebern .Abfälle'; 6131 weyt^ .Fegefeuer' (nur historisch); 5878 %aher ,Träne'52. Höchstens ein einziges Beispiel verkörpert im „Speculum" ähnlich den Reimverhältnissen einen Lokalausdruck, nämlich laichen ,lecken' in 6855/56 ein falc^ feül ward bannt aus ir vnd laicbent feji dew wilden tier mit Bezug auf die Frau des Loth. Will man nicht mangels weiterer historischer und rezenter Belege an einen Zusammenhang mit altnordisch sleikia .lecken' (mit j-mobile) denken, dann bietet sich bloß ein Zusammenhang mit mhd. leichen, ,sein Spiel mit jemandem treiben, foppen, täuschen, betrügen', das Kurzmann in der herkömmlichen Bedeutung auch 4044 und 6352 gebraucht. Berücksichtigt man aber, daß bloß im südöstlichen Niederösterreich und in der Oststeiermark als dem mutmaßlichen Herkunftsgebiet Kurzmanns das sonst mit der mhd. Bedeutung weiterlebende dialektale loacha in spezifischer Weise ,dem Hund das Fressen hineinnötigen' und ,ein anderes Tier beim Fressen abdrängen' bedeutet, dann lassen sich diese neuen, mit Nahrungsaufnahme verbundenen Bedeutungen durchaus aus .foppen, täuschen' herleiten. Die Konnotation der Täuschung schwingt wohl auch bei Kurzmann mit im Sinne von „die wilden Tiere lecken diese Salzsäule, als ob sie ein gewöhnlicher Salzstein wäre" 53 . Im Wortschatz Kurzmanns spiegelt sich auch das Klosterleben. So gehören zu diesem die Zeiten des täglichen mönchischen Stundengebetes, die 5323, 8620 tag^eit, mit 8545 prejmc^eit, 8567 tert^eit, 6764 u. ö. metten%eit, 7459, 8606 nonc^eit, 8583 fechft^eit, 292, 3863 velperftundt und 8497 52
53
Ein Teil dieser Kennlautungen und Kennwörter wird auch von Kranzmayer (1950), S. 36 ff., bei Ottokar aus der Gaal nachgewiesen. Diese Überlegungen würden sich erübrigen, wenn man das überlieferte laichent als Verschreibung für laichet ansehen und damit die Stelle mit „sogleich wurde aus ihr eine Salzsäule, und sie täuschte die wilden Tiere" übersetzen könnte. Aber in der lateinischen Vorlage heißt es in Ubereinstimmung mit der überlieferten deutschen Ubersetzung eindeutig Uxor Loth, respiciens, versa est in tapidem, et ferae deserti et bestiae lambunt eandem.
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complett^eit, wobei die aus dem Lateinischen übernommenen Stundenbezeichnungen natürlich wesentlich älter sind, aber ihre Komposition mit -%eit erst in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. eintrat 54 . Ferner gehören zur klösterlichen Sprache 4051 pet% ,Kuß' (aus lat. pax, -eis ,Friedenskuß), 766 [alter ,Psalter', 8451 chlaws ,Mönchsklause' und wahrscheinlich auch 3125, 3171, 5592 ftol .festliches Gewand' (aus lat. stola ,Stola des Priesters, Meßgewand') und 8410 notel ,Melodie'. Möglicherweise spiegeln 1135 Chriioitinus für den Kirchenlehrer Chrysostomus und einmal auftretendes 455 Babalam für richtiges 1165 Balaam klostersprachliche Verballhornungen 55 . Aus der gesprochenen Sprache der Zeit stammen wohl auch einige Doppelbezeichnungen. Als echte Synonyme wird man bloß ansehen dürfen das oberdeutsch verbreitete 607 wendelftain und das bairische 629 fnekch ,Wendeltreppe', wofür man heute noch in Osterreich Schneckenstiege sagt, sowie älteres 633 thaugenleich und jüngeres 609, 1175, 6563, 6909 haimleich .heimlich'. Dagegen spiegeln 2935 he'rtter ,Hirt' und 3219 hallter ,Hüter' einen noch heute üblichen Tätigkeitsunterschied. Während nämlich der Herter größere Tierherden berufsmäßig über längere Zeit hin betreut, treibt der Halter Stalltiere bloß für einige Stunden auf die Weide. Auffällig ist schließlich das auch im Wiener laienkatechetischen Schrifttum jener Zeit herrschende Nebeneinander von priefter und phaffe56, wozu bei Kurzmann noch pharrer kommt. Kurzmann bezeichnet als priefter Christus (1571, 3850), Aaron (1547), Melchisedech (3845, 3847) sowie die jüdischen und die heidnischen Tempelpriester (1980, 1998, 2507 - 2327, 2725, 2749), spricht im selben Zusammenhang von 1553 priefterSchaft ,priesterliches Amt' und 5475 priefterwat ,priesterliches Gewand' und bezieht dasselbe 8765, 8789 priefter auch auf einen verstorbenen Geistlichen, der eine Marienvision hatte. Dagegen werden phaffen sowohl gelehrte Priester (4637) als auch die ihre Pflichten verletzenden zeitgenössischen Geistlichen (3232) genannt, die einerseits als 3276 phaffhait zusammengefaßt und andererseits auch noch als 3223 pharrer bezeichnet werden. Dabei wirkt zwar noch das oberdeutsche p h a f f e als neutrale Bezeichnung des Weltgeistlichen nach, wird aber doch schon negativ auf den tadelnswerten Geistlichen mit schlechtem Lebenswandel bezogen, während der vorbildliche, pflichtgetreue Gottesdiener ein priefter ist. Sollte sich hier in Verbindung mit den seit den letzten Jahrzehnten des 14. Jhs. aufkommenden kirchlichen Reformgedanken bereits jener Bezeichnungswechsel vollzie54 55 56
Vgl. die jeweiligen Belege bei Lexer (1872/78). Auch in Konrads „Geistlicher Gemahelschaft" begegnet 1299 Chriioitinus. Vgl. z. B. Rudolf (1969) und die Zusammenstellung bei Baptist-Hlawatsch (1980), S. 300.
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hen, den man allgemein erst den Auswirkungen der um ein Jahrhundert jüngeren Reformation Luthers zuschreibt 57 ? Obwohl pharrer die Amtsbezeichnung für den Vorsteher einer christlichen Gemeinde ist, weist Kurzmanns Gebrauch schon auf die heute volkstümliche Bezeichnung für jeden Weltgeistlichen hin. VII. Ergebnisse Der um 1400 dichtende steirische Zisterziensermönch Andreas Kurzmann entscheidet sich im Rahmen der damals in Wien diskutierten Frage, ob man bei Übersetzungen aus dem Lateinischen den vom Deutschen abweichenden Sprachbau der Vorlage in Form der aigen deutsch folgen oder sich als gemaine deutsch bloß der Ausdrucksmöglichkeiten der Muttersprache befleißigen soll, zugunsten des natürlichen, einfachen Sprachgebrauches. Dies läßt trotz der durch Metrum und Reim künstlerisch erhöhten und dadurch im Wirlichkeitsbezug beeinträchtigten Verssprache Kurzmanns eine verhältnismäßige Nähe zur volkstümlichen Sprache und damit auch Reflexe gesprochener Sprache vermuten. Sie dürfen für alle sprachlichen Ebenen angenommen werden. Um Reflexe gesprochener Sprache im Medium historischer geschriebener Sprache überhaupt nachweisen zu können, bedarf es geeigneter Methoden. Auf Grund bereits vorliegender Forschungserkenntnisse kann davon ausgegangen werden, daß es im Spätmittelalter im bairisch-österreichischen Sprachraum mindestens eine zweifache soziologische Schichtung der gesprochenen Sprache gab, indem als sprachliche Grundschicht vor allem der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung regional unterschiedliche Dialekte bestanden und diesen die davon abweichende, vom Kulturzentrum Wien abhängige, relativ einheitlich gestaltete „Herrensprache" der höheren Sozialschichten des Adels, des gehobenen städtischen Bürgertums, der höheren Geistlichkeit und der Akademiker gegenüberstand. Vor allem vergleichende Reimuntersuchungen der bairisch-österreichischen Dichtungen des ausgehenden 14. und des beginnenden 15. Jhs. ergaben, daß die Dichter in individuell unterschiedlichem Maß von beiden Sprachschichten, einer regional-heimischen und einer überregional-höheren, Gebrauch machten sowie auch noch einzelne ältere Reimtraditionen fortführten und gelegentlich bloß optische Reime verwendeten. Da bei Kurzmann optische Reime fehlen und die Anzahl dialektaler, in bezug auf das Mittelhochdeutsche scheinbar unreiner Reime hoch ist, wird 57
Vgl. z. B. Erben (1974), S. 531.
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Kurzmanns Nähe zur gesprochenen Sprache besonders stark sein. Der Nachweis von Reflexen gesprochener Sprache muß kontrastiv mit Hilfe der rezenten Dialekte auf Grund von deren Entwicklungskontinuität geführt werden. Angesichts von Kurzmanns obersteirischem Wirkungsort Neuberg an der Mürz und der Herkunft der damaligen Klosterinsassen aus dessen größerem Umland, nämlich auch noch aus der Oststeiermark und dem heutigen südöstlichen Niederösterreich, das damals bis nördlich von Wiener Neustadt zur Steiermark gehörte, müssen, auch im Hinblick auf seither erfolgte räumliche Verschiebungen der Verbreitung einzelner dialektaler Erscheinungen, mehrere Dialektbereiche zum Vergleich herangezogen werden. Es ist zunächst das Südbairische besonders des Mürztales, an dessen Nordrand Neuberg liegt, wo aber unter starkem mittelbairischem Einfluß mehrere, früher hier gültige Erscheinungen nach Süden zurückgedrängt wurden und heute erst im Murtal und in der Mittelsteiermark anzutreffen sind. Die Oststeiermark, das südöstliche Niederösterreich und das Burgenland bilden das konservative Südmittelbairische, ehe sich nördlich von Wiener Neustadt das eigentliche Mittelbairische anschließt. Während manche einst allgemein gültige mittelbairische Eigenheiten heute zu Relikten in konservativen Randlandschaften geworden sind, so daß diesbezüglich der gesamte mittelbairische Raum im Auge behalten werden muß, spiegelt schließlich der Wiener Stadtdialekt mit manchen Erscheinungen in seinem Umland die Herrensprache. Am leichtesten gelingt der Nachweis gesprochener Sprache mit Hilfe des Reimverhaltens im Lautstand. Hier zeigt sich, daß sich Kurzmann nicht südbairisch ausrichtet, wie es sein Wirkungsort Neuberg vermuten ließe, sondern mittelbairisch, ja in einzelnen speziellen Fällen südmittelbairisch, so daß er wahrscheinlich auch aus dem südöstlichen Niederösterreich oder aus der Oststeiermark stammt. Aber hinsichtlich der Gesamtheit des erschließbaren Lautstandes bindet sich Kurzmann keineswegs ausschließlich an diese Dialektlandschaft, sondern greift auch Herrensprachliches auf. So legen besonders die Reime von mhd. a : ä : o : o und von ou : ü ambivalente Realisierungen nahe. Eine solche doppelte sprachsoziologische Orientierung spiegelt sich auch in der Morphologie. Auf dem Gebiet der Flexionsmorphologie sind beim Verbum besonders die wechselnden Morpheme -ent\-en der 3. Person Plural Indikativ Präsens und beim Substantiv vor allem der neue -ir-Plural des starken Neutrums, die vereinzelte Übertragung von -en der obliquen Kasus auf den Nominativ Singular beim schwachen Maskulinum und Femininum und der teilweise schwankende Genusgebrauch zu nennen. In der Wortbildung herrscht Schwanken beim Diminutiv mit -lein\-l, bei der Gliedfolge der zusammengesetzten Richtungsadverbien und bei der verbalen Präfigierung mit
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er-/der-. Besonders schwierig ist die Feststellung von Reflexen gesprochener Sprache in der Syntax. Als solche dürfen im Vergleich zu rezenten dialektalen Erscheinungen besonders gelten die Anaphora als Voranstellung des dann mit Demonstrativpronomen wiederaufgenommenen Subjekts oder Objekts, die Deixis mit der demonstrativpronominalen Fortführung des Subjekts oder Objekts des vorangehenden Satzes im folgenden, der Artikelgebrauch bei Personennamen, semantisch bedingte Inkongruezen in Genus und Numerus, die Auslassung von Hilfsverben und pronominalen Subjekten sowie die Mehrfachnegation. Als Satzmuster gesprochener Sprache sind sowohl in der direkten Rede als auch im erzählenden Text imperativische Kurzsätze, kurze Aussagesätze und kurze Fragesätze anzusehen. Charakteristische stilistische Erscheinungen volkstümlichen Erzählens sind die Parataxe mit durch und quasi zu einer längeren Periode verbundenen Sätzen wie überhaupt satzeinleitendes und sowie der häufige Gebrauch der Partikel halt. Obwohl ein Teil dieser Erscheinungen schon im Mittelhochdeutschen gilt, legt ihr Fortleben bis in die heutigen Dialekte für Kurzmann nicht literatursprachliche Tradition, sondern Bezug zur gesprochenen Sprache nahe. Im Wortschatz zeigt sich endlich, daß Kurzmann sowohl typisch bairische Wortformen als „Kennlautungen" als auch bloß im Bairischen geläufige Bezeichnungen verwendet, so daß dieser Wortschatz damals fest verankert war und in allgemeinem Gebrauch stand. Insgesamt zeigt sich, daß es mit Hilfe der rezenten Dialekte möglich ist, im dichterischen Werk von Andreas Kurzmann, obwohl es sich dabei um eine durch Metrum und Reim künstlerisch erhöhte Verssprache handelt, eine Menge Reflexe gesprochener Sprache mit zum Teil unterschiedlicher sprachsoziologischer Schichtabhängigkeit nachzuweisen.
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Mainz
Moselfränkische Weistümer des 15. und 16. Jahrhunderts. Funktionale Textgliederung und syntaktischer Stil I. Einleitung Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Edition ländlicher Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem von Christel Krämer und Karl-Heinz Spieß 1 . Es handelt sich dabei um ein bedeutendes Ergebnis der am Institut für geschichtliche Landeskunde der Universität Mainz betriebenen Forschungen. Die von Krämer und Spieß herausgegebenen moselfränkischen Rechtsquellen verdienen — wie das Weistumsprojekt dieses Instituts, an dem die Edition der rheinhessischen Weistümer vorbereitet wird, überhaupt — auch die Aufmerksamkeit der Germanistik. Um dies zu verdeutlichen, soll an sechs Originalweistümern der Edition Krämer/Spieß eine funktionale Textgliederung entworfen und ein erster Schritt zu einer Weistumssyntax gewagt werden. Es steht zu vermuten, daß die Ergebnisse Gültigkeit für die deutschen Weistümer des 15. und 16. Jahrhunderts überhaupt beanspruchen können. II. Zum Weistumsbegriff In der sehr umstrittenen Frage, wie Weistum zu definieren sei, folge ich dem Landeshistoriker und Mitherausgeber der hier im Mittelpunkt stehenden Weistumsedition, Karl-Heinz-Spieß 2 . In der heillosen Verwirrung, die im Laufe der Zeit bei der Verwendung des Wortes Weistum entstanden ist, entscheidet er sich für einen formalen Weistumsbegriff und führt gegen eine rein inhaltliche Definition — wie mir scheint — zu Recht ins Feld, daß die Zeitgenossen sehr wohl wußten, was sie unter einem Weistum verstanden 3 . Und zwar bezeichneten sie eine Rechtsquelle nur 1 2 3
Krämer/Spieß 1986. Vgl. Spieß 1986, S. 1* —26*. Spieß 1986, S. 3*.
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dann als Weistum, wenn die Herrschaft und die Beherrschten beteiligt waren und wenn das Recht in feierlicher Form von allein dazu berechtigten Schöffen am Dingtag „gewiesen" worden war. Unter der „Weisung" hat man zu verstehen: die Feststellung von Rechten und Pflichten sowohl der Dorfgenossenschaft als auch der Herrschaft in einer durch die Förmlichkeit des Versammelns, Fragens und Weisens bestimmten Art und Weise; die Weisung hat nur für einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bezirk Gültigkeit 4 . So kann die Rechtsquelle des Spätmittelalters, die eine Weisung festhält, unter der Bezeichnung Weistum eindeutig von anderen sogenannten ländlichen Rechtsquellen unterschieden werden. Jedoch ist, was die schriftliche Fixierung der Weisung anbelangt, darüber hinaus die Abgrenzung des echten Formweistums vom Weistumsbericht wichtig. Das echte Formweistum muß datiert sein, die handelnden Personen nennen und den Gang der Weisung nachvollziehen. Diesen Anforderungen wird die Fixierung der Weisung in der Form des Notariatsinstruments gerecht. Notariatsinstrumente wurden nach festen Regeln durch einen Notar ausgefertigt, der sie durch einen Unterschriftssatz und ein ihm eigentümliches Notarszeichen beglaubigte 5 . Die von mir zur Untersuchung ausgewählten Weistümer sind dementsprechend alle Notariatsinstrumente. Textlinguistisch muß aber in Betracht gezogen werden, daß es durch die Fixierung der Weisung in der Form eines Notariatsinstruments zu einer Textsortenverschränkung kommt, insofern als das Notariatsinstrument die Niederschrift der Weisung mit spezifisch juristischen Textelementen verbindet. Dazu später mehr. Weistum läßt sich nun unter Einbeziehung des Vorgangs der mündlichen Rechtsweisung definieren als die schriftliche Wiedergabe einer Weisung in der Form eines Notariatsinstruments, das vor Gericht höchste Glaubwürdigkeit besaß. Der Anstoß zur schriftlichen Fixierung einer Weisung ging offenbar immer von der Herrschaft aus. Dementsprechend findet man die Weistümer ausschließlich in den Archiven der Herren. Doch trügt der archivalische Befund: Weistümer befanden sich auch bei der dörflichen Genossenschaft, und zwar meist eingetragen in das Schöffenbuch, das dörfliche Amtsbuch. Doch waren sie dort größeren Gefahren ausgesetzt und gingen eher verloren, als die in den herrschaftlichen Archiven aufbewahrten Texte.
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Zum Verfahren bei der Weisung vgl. Spieß 1986, S. 7* —17*. Brandt 1986, S. 88.
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III. Weistümer in der germanistischen Forschung Sowohl die historische als auch die germanistische Weistumsforschung beginnt mit der umfangreichen Edition von Jacob Grimm. Die sechs Text-Bände erschienen von 1840 bis 1869, wobei Band V (1866) und Band VI (1869) von Richard Schroeder herausgegeben bzw. bearbeitet wurden. Grimms Pionierleistung besteht darin, „über 1500" Weistümer, die er als „herrliches Zeugnis der freien und edlen art unseres eingeborenen rechts" rühmte, entdeckt, gesammelt und damit gesichert zu haben. Von dieser bislang umfangreichsten Einzelsammlung geht bis heute der Anstoß zur Nutzung der Weistümer als ländliche Rechtsquellen und zur Edition weiterer Weistümer, wie die neueste Edition von Krämer und Spieß zeigt, aus 6 . In der germanistischen Forschung zur Wortgeographie, besonders zur Geographie der Rechtswörter, wird Grimms „Weisthümern" auch heute noch repräsentativer Charakter zugebilligt 7 , und Untersuchungen zur historischen Wortgeographie wie die Arbeiten von Ruth Schmidt-Wiegand z. B. zur Wortgeographie von herberge und /egers, zu mark und allmende9 oder zu juchart und morgen10 haben sie zur Grundlage 11 . Auch für die historische Namenforschung sind die Weistümer allgemein, sowohl was die Personennamen als auch was die Ortsnamen anbelangt, materialreiche Quellen 12 . Ein Bild davon kann das rund 60 Seiten starke Namenregister geben, das der Edition von Krämer/Spieß beigegeben ist. Umso erstaunlicher ist die Feststellung von Ruth Schmidt-Wiegand, daß in den historischen Wörterbüchern des Deutschen — das Deutsche Rechtswörterbuch ausgenommen — Weistümer zur Rekonstruktion der Wortgeschichte nur ausnahmsweise herangezogen sind, obwohl so gut wie jedermann Anteil am Kulturwortschatz der Weistümer gehabt hat, und sie von daher eine Breiten- und Tiefenwirkung besaßen13. — Auch in der Erforschung des Frühneuhochdeutschen spielen die Weistümer noch nicht die Rolle, die sie spielen sollten und könnten. Das zeigt folgende einfache Beobachtung. Die fünf ersten Bände, die im Rahmen 6 7 8 9 10 11 12 13
Heitz 1984. Vgl. Schmidt-Wiegand 1986 a, S. 421. Schmidt-Wiegand 1986 a. Schmidt-Wiegand 1981. Schmidt-Wiegand 1989. Vgl. ferner Schmidt-Wiegand 1986 b. Z. B. Bauer 1985, S. 66. Schmidt-Wiegand 1986 a, S. 419.
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des Projekts „Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache (1470—1730)" — einem Unternehmen der Akademie der Wissenschaften der DDR — von 1976—1981 herausgebracht wurden, basieren auf unterschiedlichen Quellencorpora. Während die lexikalisch orientierten Untersuchungen, die Bände II und III, zu ihren Quellen Grimms „Weisthümer", pfalzische, Magdeburger, österreichische, luxemburger Weistümer sowie solche aus der Rheinprovinz zählen, berücksichtigt unter den syntaktisch ausgerichteten Untersuchungen nur W. Admonis Arbeit über die Satzgefüge (Bd. IV) Grimms „Weisthümer" in Auswahl. — Eine ganz unbedeutende Rolle spielen Weistümer im sogenannten Bonner Korpus, der gegenwärtig wohl bedeutendsten Sammlung frühnhd. Quellen 14 ; sie bildet in erster Linie die Textbasis des Projekts „Grammatik des Frühneuhochdeutschen". Unter den 1500 Texten findet sich als Nr. 143815 lediglich der erste Band der „Pfalzischen Weistümer" von 1962. — Das Quellencorpus für das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch von Anderson/Goebel/Reichmann, das seit 1986 erscheint, umfaßt überhaupt nur Ausgabenglossare, Indices, Konkordanzen, zeitgenössische Glossare und sogenannte sekundäre Quellen, darunter allerdings die Glossare von vier Weistums-Editionen 16 . — In der bislang einzigen zusammenfassenden Darstellung der frühnhd. Syntax, in der „Historischen Syntax des Deutschen II", die den viel zu großen Zeitraum von 1300 bis 1750 zu erfassen sucht, verzichtet Robert Peter Ebert auf die Berücksichtigung fachsprachlicher Quellen und damit auch auf Weistümer 17 . Ganz anders verfährt, wie schon gesagt, Wladimir Admoni bei seiner Darstellung der Entwicklung des Satzgefüges zwischen 1470 und 173018. Die Grimmschen „Weisthümer" werden darin unter der Kategorie „Ländliches Gewohnheitsrecht" in drei Zeitabschnitten für die Beschreibung der Satzgefüge ausgewertet. Der Wert der Weistümer als sprachgeschichtliche Quellen des Frühneuhochdeutschen erhellt am leichtesten, wenn wir den Platz der Weistümer im Varietätenspektrum der frühnhd. Sprachperiode bestimmen 19 . Aus den Darlegungen von Karl-Heinz Spieß zum Verfahren bei der Weisung und der Weistumserstellung kann dazu folgendes ermittelt werden 20 . Innerhalb einer Grobgliederung der frühnhd. Textsorten gehört das Weistum, obwohl es von Kästner/Schütz/Schwitalla (1985) nicht erwähnt wird, wie 14 15 16 17 18 19 20
Hoffmann/Wetter 1985. Hoffmann/Wetter 1985, S. 289. Vgl. Anderson/Goebel/Reichmann 1986, S. 4 3 - 4 8 und 221. Ebert 1986, vgl. S. 14 f. Admoni 1980. Vgl. dazu Piirainen 1985; Kästner/Schütz/Schwitalla 1985; Bremer 1985. Spieß 1986, S. 7*—26*.
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das Güterverzeichnis, das Gesetz und der Vertrag zu den Texten der „Alltagswelt", deren dominante Funktion die „Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen zur Sicherung des materiellen und sozialen Lebensvollzugs" ist und zu deren thematischen Affinitäten gehören: „längerfristige Regelung des Sozialwesens; lebens- und gruppengeschichtliche Vergewisserung der Tradition" 21 . Die konstanten Dimensionen der Textsorte Weistum sind: a) das Verschriftetsein, wobei mit einem sprechsprachlichen Textsubstrat gerechnet werden kann. Dieses ergibt sich aus der Mündlichkeit der Weisung, die jedoch durch die Verschriftlichung des Notars überlagert ist. b) Die doppelte fachsprachliche Bindung aufgrund der Weisung von Rechten der Herrschaft durch die Dorfgenossenschaft und einer schriftlichen Fixierung in den strengen Formen des Notariatsinstruments. — Variabel sind beim Weistum die diatopische und die diachronische Dimension. Das heißt mit anderen Worten: Es sind aus verschiedenen Gegenden des deutschen Sprachraums Weistümer, deren Sprache regionale Unterschiede aufweist, überliefert. Dabei ist allerdings zu beachten, daß eine Spannung besteht zwischen der dörflichen Basismundart, in der die Weisung wohl erfolgte, und der schriftlichen Fixierung der Weisung, bei der sich der Notar an einem großräumigen Schreibdialekt, wohl dem seiner „Heimat" orientierte. — Variabel in der diachronischen Dimension heißt, daß die Textsorte Weistum über mehrere Jahrhunderte im Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit vorkommt. So betreffen die hier zur Untersuchung ausgewählten Texte fast genau ein Jahrhundert. Diese diachronische Variation ermöglicht dem Sprachhistoriker die Beobachtung textsortenspezifischen Sprachwandels. Aus den obigen Darlegungen lassen sich unter anderem drei Forschungsdesiderate ableiten. 1. Im Zusammenhang mit der Erforschung der gesprochenen Sprache in den Jahrhunderten ohne Tonträger bieten die Weistümer den Anreiz, die Sprache der mündlichen Weisung aus der schriftlichen Fixierung zu rekonstruieren. Hierbei wären entsprechende Techniken zu entwickeln. Die Notare verhalten sich bei der Wiedergabe der Weisung unterschiedlich. Ein interessantes Beispiel ist folgendes Zitat aus Krämer/Spieß: „... hat der selbe Iacob gesprochen diese wort nachgeschr(ieben) ader der glijchen, doch innen verstentniß des grundes swie nach fulget: Greben Iohan horent 21
Kästner/Schütz/Schwitalla 1985, S. 1356. Vgl. auch Betten 1987, S. 4 6 - 4 8 , w o das Weistum, wenn es Erwähnung fände, zum „Rechtsschrifttum" und damit zur „Weltlichen Sachprosa" gehören würde.
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zu. Uff frage und begird, ir gethan haint von unsers gnedigen herren wegen von Trier, antwerten igh uch ..." 2 2 2. Es fehlt eine spezifische „Weistumssyntax". Sie sollte nicht nur rein sprachwissenschaftliche Interessen verfolgen, sondern sie sollte durch das Herausarbeiten syntaktischer Charakteristika auch das Erschließen und Verstehen der Weistümer grundsätzlich erleichtern und auch zukünftigen Weistumseditoren von Nutzen sein. Eine Weistumssyntax wäre darüber hinaus eine unerläßliche Grundlage für das dritte Forschungsdesiderat. 3. Die Frage nach den Wurzeln der heutigen Juristen- und Behördensprache, deren Schwerverständlichkeit immer wieder angeprangert wird. Nach Siegfried Grosse liegt die Schwerverständlichkeit dieser Texte nämlich nicht in erster Linie am Vokabular, sondern sie ist mit der Syntax verbunden 23 . Bei der Offenlegung der Traditionsstränge müßte auch der noch herauszuarbeitende syntaktische Stil der Weistümer eine Rolle spielen. IV. Zur funktionalen Textgliederung a) Die Texte des Untersuchungskorpus Bei den aus der Edition ländlicher Rechtsquellen von Krämer/ Spieß ausgewählten sechs Weistümern handelt sich um: - Krämer/Spieß Nr. 48 (S. 2 0 1 - 2 0 4 ) = Text A vom Jahre 1459 (Notar aus dem Bistum Trier) - Krämer/Spieß Nr. 13 (S. 4 2 - 5 4 ) = Text B vom Jahre 1468 (Notar aus dem Bistum Trier) - Krämer/Spieß Nr. 1 (S. 2 — 4) = Text C vom Jahre 1476 (Notar aus dem Bistum Trier) - Krämer/Spieß Nr. 25 (S. 1 0 1 - 1 0 5 ) = Text D vom Jahre 1507 (Notar aus dem Bistum Köln) - Krämer/Spieß Nr. 61 (S. 2 6 2 - 2 6 8 ) = Text E vom Jahre 1511 (Notar aus dem Bistum Köln) - Krämer/Spieß Nr. 63 (S. 2 7 0 - 2 7 3 ) = Text F vom Jahre 1552 (Notar aus dem Bistum Münster). Alle sechs Weistümer sind originale Notariatsinstrumente; ihre heutigen Lagerorte sind das Landeshauptarchiv in Koblenz — hier werden die 22 23
Krämer/Spieß 1986, S. 3. Vgl. Grosse 1983.
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Texte A, B, C aufbewahrt — und das Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf, dort liegen die Texte D, E, F. Im Weistum A werden die Rechte des Kurfürsten von Trier und die des Pfalzgrafen bei Rhein in dem Moseldorf Fankel gewiesen. In Weistum B geht es um die Gerechtsame des Kurfürsten von Trier im Moselort Bruttig. Weistum C betrifft das Hochgericht Alflen. Weistum D betrifft die Rechte und Pflichten der bäuerlichen Hofgenossenschaft von Cochem gegenüber der Abtei Brauweiler. Im Weistum E geht es um die Rechte und Pflichten der Abteien Brauweiler und Stablo-Malmedy sowie des Kurfürsten von Trier im Hochgericht Klotten, und im Weistum F werden schließlich die Rechte der Abtei Brauweiler und des kurtrierischen Vogtes zu Klotten beim Vorsitz im Hochgeding und bei der Bestallung der Schöffen gewiesen. Krämer/Spieß befolgen bei ihrer Edition den bei der Edition historischer Texte durch Historiker keineswegs selbstverständlichen Grundsatz der möglichst getreuen Wiedergabe, wobei normalisierende Eingriffe auf ein vertretbares Minimum reduziert wurden. Sie wollen damit ausdrücklich auch sprachwissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Es ist wichtig anzumerken, daß die Zeichensetzung in der Edition in Anlehnung an den heutigen Gebrauch erfolgte. Damit wird hauptsächlich der Zweck verfolgt, dem heutigen Leser das Verstehen der Texte zu erleichtern. Gleichzeitig ist damit, durch die fachkundige Vorsegmentierung durch den Rechtshistoriker, eine wichtige Vorarbeit der syntaktischen Analyse bereits geleistet. b) Funktionale Textsegmente und Indikatoren Wie bei allen Formweistümern besteht der Zweck auch der hier der Analyse zugrundegelegten sechs Notariatsinstrumente darin, eine Weisung in der Form der notariell beglaubigten Urkunde schriftlich zu fixieren. Mit dieser Textfunktion korrespondiert die Aufgliederung der Weistümer in mindestens elf funktionale Textsegmente. Diese können, da sie mit geringen Abweichungen in allen untersuchten Texten in gleichbleibender Reihenfolge vorkommen, als konstitutiv gelten. Teilweise entstammen sie dem klassischen Formenapparat des Diploms 24 ; dazu gehören die Invocatio, die Anrufung Gottes (Textsegment 1), die Promulgatio, die Verkündigungsformel (Textsegment 2), das Actum-et-datum (Textsegment 9) und die Subscriptiones, die Aufführung der Zeugen (Textsegment 10). Spezifika des Notariatsinstruments sind dagegen das Textsegment 8, die 24
Brandt 1986, S. 90 f.
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Beauftragung des Notars, und Textsegment 11, die notarielle Beglaubigung. Als Besonderheiten des Weistums haben wohl zu gelten die Aufführung der Anwesenden (Textsegment 4) und natürlich die die Weisung betreffenden Segmente: die Aufforderung zur Weisung (5) und die wiederholbaren, aufeinander bezogenen Segmente 6 (Beratung der Schöffen) und 7 (Weisung im eigentlichen Sinn). Die Datierung (Textsegment 3) folgt unmittelbar auf die Promulgatio; im klassischen Actum-et-Datum (Textsegment 9) wird nur noch auf sie verwiesen. Die funktionalen Textsegmente sind durch sprachliche Indikatoren ziemlich klar voneinander abgegrenzt. Unter sprachlichen Indikatoren verstehe ich Einzelwörter oder Wortgruppen, die die Teilfunktion des jeweiligen Textsegments im Rahmen der Gesamtfunktion des Weistums meist am Anfang des Segments benennen und die dadurch textgliedernde Wirkung haben. Im Extremfall fallen Indikator und Textsegment zusammen. Dies ist besonders deutlich der Fall bei der Invocatio, die nahezu stereotyp lautet: „In Gottes namen, amen", oder bei der etwas stärker variierten Promulgatio: „Kunt sy allen luden, die dieß offenne instrumente sehent ader horent lesen, das ..." (folgen Datierung und Anwesenheit) (so in Text B von 1468)25. In der mit „Und wand ich N. N. ..." beginnenden Stereotypie der notariellen Beglaubigung (letztes Textsegment) fallen auch hier Indikator und Textsegment zusammen. Im übrigen geht die Stereotypie der Beglaubigung auf die Übersetzung einer lateinischen Formel zurück; die beiden von Kölner Notaren geschriebenen Weistümer unserer Auswahl, die Texte D und E, weisen die lateinische Formel auch noch immer auf. Die anderen Indikatoren sind nur Teile der Textsegmente, fallen also nicht mit ihnen zusammen. Dabei handelt es sich entweder um in allen Texten unseres Corpus gleichbleibende oder nur geringfügig variierende, also stereotype Wortgruppen bzw. Einzelwörter oder um unterschiedliche Formulierungen in den sechs Weistümern. Zur ersten Gruppe, zu den Textsegmenten, die durch stereotype Indikatoren markiert werden, gehören die Datierung, die Anwesenheit, die Beratung der Schöffen, das Actum-et-datum und die Subscriptiones. Datierung und Anwesenheit werden jeweils markiert durch die Präpositionalgruppe „in dem jair/in den jairen ( + Jahreszahl)" bzw. durch die Präpositionalgruppe „in gegenwertickeit" (im Text F wird die Anwesenheit allerdings völlig anders bezeichnet). — Beratung und Actum-et-datum sind erkennbar an jeweils einer Prädikatsgruppe, und zwar „haint sich beraden" für die Beratung (mit geringfügiger Abweichung in Text F) und „sint gescheen" für das 25
Krämer/Spieß 1986, S. 45.
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Actum-et-datum, wobei die von den Notaren des Bistums Köln ausgefertigten Texte D und E das Verbum geschehen schwach flektiert aufweisen: „sint gescheyt" bzw. „synt geschyet". Die Zeugenauflistung wird schließlich durch den als Apposition eine Personennamenreihe abschließenden Indikator „gezugen" markiert. Keine gleichbleibende Indikator-Formulierung findet sich, obwohl die Indikatoren immer Prädikatsgruppen sind, erstaunlicherweise bei der Aufforderung zur Weisung, bei der Weisung im eigentlichen Sinn und bei der Beauftragung des Notars. Als Indikator für die Aufforderung zur Weisung liegen folgende Wendungen vor: „haint begert und gesonnen" (A und E), „ist gesonnen" (B), „hait gebeden" (C), „hait gemaent" (D); Text F weist dieses Textsegment nicht auf. — Das Frage- und AntwortSpiel der Weisung wird wie folgt bezeichnet: „haint sagen laissen, wart gefragt, Hessen antwurten" (A), „haint gewiest, synt gefragt, haint gesagt" (B), „haint doin antworten, hait gesprochen" (C), „haynt geantwort, haynt gewesen, machen yn wyse" (D), „haven gesprochen, wist" (E) und „thun fragen, hait geantwurt" (F). Ebenso uneinheitlich ist die Formulierung, die die Beauftragung des Notars indiziert. Es liegen folgende Ausdrucksweisen vor: „hiesche und forderte von mir" (A), „an mich gesonnen und begert" (in B und ähnlich in E: „van myr gesonnen unnd begert" und F: „von mir begert und gesunnen"), aber „ersucht mich" (C) und „gesan van myr" (D).
V. Zum syntaktischen Stil der Weisung a) Probleme der syntaktischen Analyse am Beispiel Wie wir gesehen haben, sind die Indikatoren — abgesehen von der Invocatio und der Beglaubigung — als Satzteile in die Sätze der Weistumstexte integriert. Bei der syntaktischen Analyse, mit deren Hilfe wir dem syntaktischen Stil der Weistümer auf die Spur kommen wollen, beschränke ich mich hier auf den Text der eigentlichen Weisung — auch im Hinblick darauf, daß der Weisung im Gegensatz zu den anderen Textsegmenten direkt ein sprechsprachliches Textsubstrat zugrundeliegen kann. Die Methode zielt darauf ab, am Elementarsatz (EIS) als Grundeinheit sowohl die Komplexität der Gesamtsätze als auch die Komplexität der Elementarsätze selbst zu „messen". Da ich bei der Analyse von einer prädikatzentrierten Satzgliedsyntax ausgehe, fasse ich unter dem Elementarsatz alle die Syntagmen zusammen, die um ein Prädikat herum konstruiert sind, unabhängig davon, welche hierarchische Stellung ein Ele-
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mentarsatz einnimmt, ob er also Einfachsatz, Hauptsatz, parataktisch oder hypotaktisch (Gliedsatz, Attributsatz) ist. — Der erste Schritt der Analyse besteht darin, in den Gesamtsätzen — das sind die in der Edition zwischen Punkten stehenden Großsyntagmen — die Elementarsätze und ihre Quantität festzustellen. Wenn keine Notwendigkeit bestand, die vorgegebenen Großsyntagmen zu übernehmen, wurden in einigen Fällen auch die Großsyntagmen gegen die Edition in kleinere Syntagmen auflöst. Der zweite Schritt besteht darin, die Satzglieder in den Elementarsätzen und ihre Quantität festzustellen. Dazu ist es notwendig, die Satzglieder zu kategorisieren und sie durch Kategorialsymbole zu repräsentieren. Dies geschieht hier nach der bekannten Methode, die Satzglieder entweder nach der grammatischen Kategorie (z. B. N = Nomen, Pr = Pronomen, P = Prädikat bzw. Verb/Verbgruppe, A = Adverb, Adj = Adjektiv) oder nach der Konstruktion (z. B. IK = Infinitivkonstruktion, GS = Gliedsatz, AtS = Attributsatz) zu klassifizieren. Wo Unterscheidungen notwendig sind, indiziere ich das Kategorialsymbol morphologisch (z. B. Na = Nomen im Akkusativ), funktional (z. B. Prs = ein Pronomen steht als Subjekt) oder semantisch (z. B. A t = temporales Adverb). Die Indizierung ist z. B. dann notwendig, wenn mehrere Nomina oder Nominalgruppen in einem Elementarsatz stehen. Die Komplexität eines Gesamtsatzes oder eines Wortgruppensatzgliedes gebe ich durch Hochzahlen an, z. B. N^ bedeutet: ein Satzglied, dessen Nukleus ein Nomen im Akkusativ ist, umfaßt 4 Wörter. Unter syntaktischem Stil wollen wir entsprechend der linguistischen Stilauffassung 26 das „charakteristische" Vorkommen von Formulierungsmöglichkeiten in einer spezifischen Textgruppe, z. B. in den Weistümern, verstehen. Die Formulierungsmöglichkeiten, die wir im Auge haben, sind die Bauweise des Elementarsatzes aus Satzgliedern und die Bauweise des Gesamtsatzes aus Elementarsätzen. Die Feststellung des charakteristischen Vorkommens setzt die Quantifizierbarkeit der Elementarsatz-Konstruktionen und den Zahlenvergleich voraus. Erst wenn sich für eine bestimmte Konstruktion im Vergleich eine besonders hohe Frequenz nachweisen läßt, kann von einem charakteristischen und damit stiltypischen Vorkommen gesprochen werden. Zunächst soll die oben entworfene Satzanalyse an einem Beispiel demonstriert werden. Es handelt sich um einen Gesamtsatz aus Text C 27 : „Auch sal eyn heymburger gehorsam sin unßerm gnedigen lieben herren von Trier ader den sinen und auch die clock luden zu behoiff und geheisch von siner gnaden wegen." 26 27
Vgl. Sowinski 1972, S. 2 2 - 2 6 . Krämer/Spieß 1986, S. 3.
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„Auch" wird als transphrastischer Konnektor bei der Satzanalyse ignoriert. Der Gesamtsatz umfaßt zwei Elementarsätze, deren Prädikate „sal sin" und „{sal) luden" lauten. Im zweiten Prädikat wird das Finitum „sal" ausgespart, es ist also nicht mehr komplex. Für den Elementarsatz ElS a lautet die Segmentierung in Satzglieder wie folgt: „sal ... sin" = P2, „eyn heymburger" = N 2 , „gehorsam" = Adj, „unßerm gnedigen lieben herren von Trier ader den sinen" = Nj. ElS a besteht aus 4 Satzgliedern ( = EIS»). Für den ElS b lautet sie: „die clock" = N 2 , „luden" = P, „zu behoiff und geheisch" = Nf, „von siner gnaden wegen" = N*. ElS b besteht ebenfalls aus vier Satzgliedern ( = ElSb). „und" ist das sprachliche Zeichen für das parataktische Verhältnis, in dem die beiden Elementarsätze zueinander stehen, d. h. schließlich: der vorgelegte Gesamtsatz ist eine aus zwei Elementarsätzen bestehende Satzreihe. b) Ergebnisse der syntaktischen Analyse Für die Untersuchung der Satzkomplexität wurden die 68 Gesamtsätze der eigentlichen Weisung in den sechs Texten des Untersuchungskorpus mit 168 Elementarsätzen ausgewählt. Die Anteile der einzelnen Texte verteilen sich wie folgt: Text A: 5 Gesamtsätze mit insgesamt 8 Elementarsätzen, Text B: 33 Gesamtsätze mit 80 Elementarsätzen, Text C: 12 Gesamtsätze mit 27 Elementarsätzen, Text D: 12 Gesamtsätze mit 37 Elementarsätzen, Text E: 2 Gesamtsätze mit 5 Elementarsätzen und Text F: 4 Gesamtsätze mit 11 Elementarsätzen. In den Notariatsinstrumenten kann die Weisung der Schöffen sprachlich in dreifacher Weise festgehalten sein. 1. Die Fixierung erfolgt in direkter Rede, z. B. „Wir wysen unsern gnedigen herren von Trier vur eynen rechten grünt herren zu Fanckel.. ." 28 . 2. Die Fixierung erfolgt in Berichtsform, z. B. „Daruff haint ... heymburge, gesworen und gantz gemeynde gewiest eynmundiclich unserm gnedigen herrn von Trier zu Protig ... wasser und weide ,.." 2 9 . Hierbei kann die Weisung auch abhängig gemacht sein von einer Rede-Einleitung, z. B. „... die scheffen ... Hessen antwurten ..., sie weren solichs nit wyse" 30 . In solchen Fällen wurden bei der Stilanalyse der Weisung die Abhängigkeitssignale (Rede-Einleitung, Konjunktion, Konjunktiv) ignoriert. 3. Die Weisung im Notariatsinstrument gibt eine bereits vorliegende Niederschrift der Weisung wieder. Dies ist der Fall in Weistum E, wo es heißt: „Häven ... die ... scheffen yre wissdommen schrifftlichen gedain, 28 29 30
Krämer/Spieß 1986, S. 203. Krämer/Spieß 1986, S. 47. Krämer/Spieß 1986, S. 203.
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in maissen hee nae geschreven volgt ..." 3 1 . Für die Untersuchung des syntaktischen Stils der charakteristischerweise mündlich erfolgten Weisung scheiden derart fixierte, vermutlich aus den dörflichen Schöffen- und Gerichtsbüchern abgeschriebene Weisungen aus leicht einsehbaren Gründen aus 32 . Die Weisung wird in den Texten C und F ganz in direkter Rede wiedergegeben; in den Texten A, B und D teilweise, wobei die Texte A und D nur einen Gesamtsatz, der Text B jedoch 5 Gesamtsätze in direkter Rede aufweisen. Dies sind insgesamt 23 Gesamtsätze. Darunter sind 4 Gesamtsätze identisch mit Elementarsätzen (17%). 19 Gesamtsätze (83%) bestehen aus komplexen Strukturen: 13 aus Satzgefügen (mit 2 oder 3 Elementarsätzen, 57%), 2 aus Satzreihen (mit 2 Elementarsätzen, 9%) und 4 aus Satzperioden (mit 3 — 5 Elementarsätzen, 17%). — Die 53 Elementarsätze weisen folgende Satzgliedmengen auf: 22 Elementarsätze bestehen aus 3 Satzgliedern (42%), 17 aus 4 (32%), 8 aus 5 (15%), 3 aus 2 (6%), 2 aus 7 (4%) und 1 aus 6 Satzgliedern (2%). Mit diesen Zahlen vergleichen wir die syntaktische Gestaltung der Weisungen in Berichtsform: 44 Gesamtsätze; darunter sind 10 Gesamtsätze identisch mit Elementarsätzen (23%). 34 Gesamtsätze (77%) bestehen aus komplexen Strukturen: 17 Satzgefüge (mit 2—5 Elementarsätzen, 39%), 6 Satzreihen (mit 2 — 3 Elementarsätzen, 14%) und 11 Satzperioden (mit 3 — 7 Elementarsätzen, 25%). — Insgesamt liegen in den Weisungen in Berichtsform 114 Elementarsätze vor. Sie weisen folgende Satzgliedmengen auf: 4 Elementarsätze bestehen aus 1 Satzglied (3%), 10 aus 2 Satzgliedern (9%), 34 aus 3 (30%), 30 aus 4 (26%), 23 aus 5 (20%), 11 aus 6 (10%), 1 aus 7 (1%) und 1 aus 9 (1%). Abgesehen davon, daß die Weisungen in Berichtsform in unserem Korpus fast doppelt soviele Gesamtsätze enthalten wie die Weisungen in Zitatform, ergeben sich in der Struktur der Gesamtsätze und in der Struktur der Elementarsätze wider Erwarten rein numerisch zunächst keine wesentlichen Unterschiede. Aus der allgemeinen Kenntnis der heute frei und spontan gesprochenen Sprache würde man in der Zitatwiedergabe der Weisung z. B. wesentlich weniger komplexe Sätze oder wesentlich mehr Elementarsätze mit drei bis fünf Satzgliedern erwarten. Bei den komplexen Sätzen sind die Zahlen eher umgekehrt: 83% bei zitierter Weisung, 77% bei berichteter Weisung. Allerdings sind die Satzperioden bei den berichteten Weisungen mit 25% (gegenüber 17%) wesentlich höher. Bei der Satzglied-Zahl pro Elementarsatz zeichnet sich wenigstens 31 32
Krämer/Spieß 1986, S. 264. Vgl. Spieß 1986, S. 20*.
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die erwartete Tendenz ab: In den Weisungen in Zitatform haben 89% (gegenüber 76%) der Elementarsätze drei bis fünf Satzglieder, und zwar in abnehmender Reihenfolge: mit drei Satzgliedern 42%, mit vier 32%, mit fünf 15%. Nicht so deutlich ist das Gefalle bei den Elementarsätzen der Weisungen in Berichtsform: drei Satzglieder haben 30%, vier 26%, fünf 20%. In diese Reihenfolge passen auch die 10% Elementarsätze mit sechs Satzgliedern. Mehr noch als die Satzkomplexität sind nach heutigen Erkenntnissen syntaktische Sonderformen wie Nachtrag, Parenthese, Ellipse u. ä. für die gesprochene Sprache charakteristisch 33 . Ebenso charakteristisch für unsere Textlage ist es, daß „unkorrekte" syntaktische Sonderformen zwar vorkommen, aber nur in Text D. Es handelt sich um Parenthese 34 und Apokoinu 35 im berichtend wiedergegebenen Teil der Weisung; im zitierten Teil, einer fünfgliedrigen Periode, findet sich ein typisch sprechsprachlicher überflüssiger Neuansatz eines Nebensatzes: „Also geyt dan der heren bode yn die kyrche und luydt eyn clock ..., dat alle die ghene, die dair gehorich synt off zynss gelden, dat sj komen ,.." 3 6 . Diese Beobachtungen lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß sich die sprachliche Form der Weisung in gesprochener Sprache — vorausgesetzt der Notar zitiert sie wortgetreu — von der berichtend wiedergegebenen Weisung wesentlich unterscheidet. Dies könnte darin begründet liegen, daß die Weisung der Schöffen keine spontan gesprochene Sprache war, sondern sich einerseits aus ritualisierten Formeln, andererseits aus im Gedächtnis der Schöffen haftenden Rechtsinhalten zusammensetzte, die der zum Sprecher ausgewählte Schöffe dem juristischen Sprachstil seiner Zeit anzupassen verstand. Geht man jedoch von der Voraussetzung aus, daß der Notar zwar den Rechtsinhalt der Weisung wiedergibt, die sprachliche Form aber, unabhängig davon, ob er zitiert oder berichtet, selbst wählte und der Kommunikation unter Juristen anpaßte, dann bleibt die Frage, wie die Schöffen sprachen, auch unter der dialektologischen Fragestellung (Basisdialekt der Schöffen, Transposition in einen Schreibdialekt durch den Notar) weiter offen. Für diese zweite Möglichkeit spricht die weiter oben schon zitierte 33 34 35 36
Lindgren 1985. Krämer/Spieß 1986, S. 103. Krämer/Spieß 1986, S. 104. Krämer/Spieß 1986, S. 103.
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Bemerkung eines Notars: „... hat der selbe Iacob gesprochen diese wort nachgeschr(ieben) ader der glijchen, doch innen verstentniß des grundes swie fulget .,." 3 7 .
VI. Schluß Fürs erste sind die Ergebnisse im Hinblick auf die Möglichkeiten eines direkten Zugriffs auf das sprechsprachliche Substrat der Weisung oder gar auf die dörfliche Basismundart eher ernüchternd. Wir müssen uns wohl damit abfinden, daß die Notare in der Lage waren, die aus dem Gedächtnis vermutlich in der Dorfmundart durch den Schöffen vorgetragenen Weisungsinhalte dem Stil ihrer juristischen Fachsprache und den Formen ihres Schreibdialekts anzupassen, indem sie vermutlich erst in ihrer Kanzlei ein Notariatsinstrument aufgrund von am Ort der Weisung gemachten Notizen ausfertigten. Dies wird besonders in den Texten D, E und F deutlich, wo die sicherlich moselfränkische Basismundart des Schöffen im Schreibdialekt einer Kölner bzw. Münsteraner Kanzlei wiedergegeben wird. Ob wir der ursprünglichen Sprechform der Weisung durch raffinierte Rekonstruktionstechniken nahekommen können, wage ich zu bezweifeln. Größere Chancen scheinen hinsichtlich der Rekonstruktion des die Weisung begleitenden ritualisierten Dialogs und seiner möglicherweise unterschiedlichen Ausprägungen zu bestehen. Doch ist, um allgemeingültige Aussagen machen zu können, die Untersuchung zahlreicher weiterer Formweistümer notwendig. Auch um die eventuelle Eigenart des syntaktischen Stils der Weisungen benennen zu können, bedarf es der weiteren intensiven Forschung. Zunächst müßten weitere syntaktische Stilmittel der Weisungen, wie die Struktur der Nominalgruppen, die periphrastischen Prädikate, die Serialisierung, die Nebensatzeinleitung u. a. m. 38 , untersucht werden. Dann müßten die Ergebnisse mit dem syntaktischen Stil der eindeutig von Notaren verfaßten Teile der Weistümer und darüber hinaus mit dem syntaktischen Stil anderen notariellen deutschen Schrifttums dieser Zeit verglichen werden, um die Vermutung zu bestätigen, daß uns die verfügbaren Texte im Bereich der Syntax keinen spezifischen Weistumsstil vermitteln, sondern den notariellen, letztlich juristischen Fachstil.
37 38
Krämer/Spieß 1986, S. 3. Vgl. Betten 1987, S. 77 ff.
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Gent
Seb. Heydens Nomenclatura Rerum in Köln Sieht man von einigen Drucken des Voc. Ex Quo (Claes 5, 6, 10, 44, 68, 82) ab, die zwischen 1476 und 1490 aus Kölner Druckereien hervorgegangen sind, spielt die rheinische Metropole und Druckerstadt im ausgehenden 15. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Rolle eines Umschlagplatzes für niederländische frühhumanistische und humanistische Wörterverzeichnisse und Wörterbücher, die der Volkssprache einen Platz einräumen 1 . 1477 wurde in Köln der Teuthonista des Klever Beamten Gert van der Schueren gedruckt; im Gegensatz zu manchem ähnlichen Werk erlebte er keine Neuauflage. Um 1486 druckte Ulrich Zell (sogar dreimal) das kleine, mit volkssprachlichen Interlinearglossen versehene metrische Vokabular Curia Pallacium nach einer Löwener bzw. Deventer Vorlage; von Köln aus wurde es im süddeutschen Raum (Nürnberg, Straßburg, Augsburg, Ulm, Memmingen) verbreitet. Im Jahre 1495 setzt die Überlieferung der Kölner Gemmae und Gemmulae ein; sie war von einem Antwerpener Druck ausgegangen und hat den Vocabularius Ex Quo abgelöst 2 . Johannes Murmellius, ein ostniederländischer Lehrer, der in Deventer studiert hatte und an einer Lateinschule im westfälischen Münster unterrichtete, war der Autor der Pappa puerorum. Dieses aus vier Teilen bestehende Schulbuch, das 1513 erstmals aus der Kölner Officina Quentells hervorging, enthält ein ziemlich umfangreiches systematisches Vokabular mit ostniederländisch-maasländischen Interpretamenten. 1514 wurde die Pappa auch in Deventer gedruckt, wo sie noch mehrere Neuauflagen erlebte, bis das brabantische Antwerpen die ostniederländische Ysselstadt als Druckort ablöste. In Deutschland
1
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Wir kennen aus Köln nur einen Druck der Tersissima Latini eloquij Synonymorum Collectanea des Hieronymus Cingularius (Servaes Krufter 1524); Vgl. Erstdruck: Wittenberg 1513 (Claes 219). Die ältesten deutschen Gemmadrucke erwähnen im Vorwort „mercurialem portum Antverpiensem locum famatissimum". Das Verhältnis zwischen dem Kölner und dem Straßburger Strang ist noch zu untersuchen.
Seb. Heydens Nomenclatura Rerum in Köln
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kannte die Pappa neben einem Lübecker und ein paar Leipziger Drucken, die am alten (niederländischen) Text festhielten, zahlreiche Ausgaben in Köln, nach 1517 unter dem Namen Pappa Nova und in immer stärker ripuarisierter Sprachform. Eine erweiterte hochdeutsche Bearbeitung lieferte der Breisacher Lehrer Gervasius Sopher, dessen Werk 1517 von Adam Petri de Langendorff in Basel gedruckt wurde. Sie kannte Nachdrucke in Straßburg, Zürich, Marburg und Mainz, wo Schöffer bis 1550 noch mehrere Drucke veranstaltete. Der Straßburger Druck wurde zum Ausgangspunkt eines schlesisch-polnischen Uberlieferungszweiges mit Vertretern in Krakau, Breslau und Königsberg. Erst im Jahre 1536 wird erstmals ein ursprünglich aus dem hochdeutschen Sprachgebiet stammendes längeres Wörterverzeichnis in Köln veröffentlicht. Bei Johannes Gymnick erschien ein Druck der Formulae puerilium colloquiorum und der Nomenclatura rerum domesticarum des Nürnberger Lehrers Sebaldus Heyden, dessen Wörterverzeichnis 1530 in der fränkischen Reichsstadt zum ersten Mal gedruckt worden war 3 . Das einzige Exemplar dieses Druckes, das sich vor dem 2. Weltkrieg in der Stadtbibliothek zu Lübeck befand, ist dort nicht mehr vorhanden (Kriegsverlust). Von einem späteren Druck, wahrscheinlich aus dem Anfang des fünften Jahrzehnts des Jahrhunderts, entdeckte Hartmut Beckers/Münster ein Exemplar in der Sammlung des Kölner Bibliophilen H. Th. SchmitzOtto. Diesen Druck hat F. Claes in seinem Bibliographischen Verzeichnis nicht verzeichnen können. Heydens Nomenclatura ist in zwei Fassungen überliefert: einer kurzen Fassung, die wohl der ursprünglichen Form des Vokabulars entspricht, und einer längeren, deren erste Ausgabe der Mainzer Drucker I. Schöffer im Jahre 1534 veröffentlichte (Claes 339) 4 . Auch in diesem Mainzer Druck tritt die Nomenclatura zusammen mit den Schülergesprächen auf. Die 3
F. Claes, Bibliographisches Verzeichnis der deutschen Vokabulare und Wörterbücher, gedruckt bis 1600. Hildesheim New York 1977, Nr. 352; C. Borchling - B. Claussen, Niederdeutsche Bibliographie I. Neumünster 1931, Nr. 1244. W i r danken Herrn Prof. Dr. H. Beckers / Münster und Herrn H. Th. Schmitz-Otto / K ö l n für die uns gebotene Möglichkeit, diesen wahrscheinlich um 1546 entstandenen Druck zu untersuchen. Inzwischen fanden wir in der Universitätsbibliothek Münster ein unvollständiges Exemplar eines späteren wohl in Köln zustandegekommenen Druckes.
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G. A. R. de Smet, Schöffer und die Nomenclatura von S. Heyden. Die Mainzer Bearbeitung v o n 1534, in: In diutscher diute. Festschrift A. van der Lee. A B Ä G 20 (1983), 141 — 154. Über Heydens Nomenclatura vergleiche man die Genter Examensarbeit von M. A. Janssens (RUGent 1982) und die Genter Dissertation Lode De Wildes (1992) mit neuen Ergebnissen über die Frühgeschichte dieses Wörterverzeichnisses.
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Gilbert A. R. de Smet
IN HOC LIBELLO INSVNT / FORMV-/LAE PVERILIVM COLLO-/quiorum autore Sebaldo Heyden. / ALIQVOT SALVTATIO-/num formulae. / ADAGIORVM CENTV-/ria in Germanicam linguam / translata. / DICTIONARIVS RERVM / domesticarum, pueris iuxta neces-/sarius, ac utilis, multo quam antea locupletior. /
IN HOC LIBELLO INSVNT / FORMV-/LAE PVERILIVM / Colloquiorum autore Se-/baldo Heyden. / ALIQVOT SALVTA-/tionum formulae. / ADAGIORVM CENTVRIAE / quatuor, in Germanicam / linguam transla-/tae / DICTIONARIVS RERVM / domesticarum, pueris iuxta ne-/cessarius, ac utilis, a mul-/tis mendis nunc re-/purgatus & / auctus. / Forma declinandi per primam declinationem / cum Vernacula interpretatione.
Coloniae apud Joannem Gymnicum / Anno M.D.XXXVI. /
Coloniae Joannes Aquensis excude-/bat propre Diuum Lupum. /
Die große Ähnlichkeit der Texte auf dem Titelblatt weist darauf hin, daß es sich um dasselbe Werk handelt, zumal da auch die Zusammensetzung des Buches im großen Ganzen übereinstimmt: 16 b Adagiorum centuria
16 b ADAGIORUM CENTURIA Latinogermanica. Decas prima.
25 a Dictionarius Sign. A 8 - G 8 ; 2 Sp., 33 Z.
27 a DICTIONARIVM. Sign. A 8 - G 7 / 8 ; 2 Sp., 32 Z.
Vocabula mensurarum et rei nummariae Autore Philippo Melanchton, die im Kölner Druck fehlen, schließen sich an. Der Mainzer Drucker bzw. sein Mitarbeiter, der für die Bearbeitung verantwortlich war, hat eine Anzahl neuer Kapitel eingefügt und die übrigen Kapitel um mehrere neue Lemmata erweitert, gelegentlich auch gründlicher umgearbeitet. Der Vergleich des Kölner Druckes mit den beiden Versionen der ursprünglich ostfränkischen Nomenclatura weist deutlich aus, daß die längere Fassung dem Kölner Drucker als Vorlage gedient hat: 1. Auf dem Titelblatt klingt in der Angabe multo quam ante locupletior die Mainzer Formulierung innumeris quam antea nominibus tum locupletior, tum castigatior nach;
Seb. Heydens Nomenclatura
Rerum in Köln
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2. Der Kölner Druck enthält bis auf eine längere Strecke in der Mitte des Wörterbuchs alle Kapitel der langen Fassung, also auch die neueingeführten, und zwar in der gleichen Reihenfolge und mit den gleichen Kapitelüberschriften 5 . Zwar sind nicht alle übersetzten Titel übernommen worden, aber die Ubersetzungen beschränken sich auf solche, die auch in der langen Fassung verdeutscht worden waren: Alt: De Deo, Coelo, ac Temporibus. K: Van Godt / himel / vnd tzijden, M: Von Gott / himmel / vnd zeitten; Neu: Nomina Regionum Gibber, Ein hoger hofer. In der hochdeutschen Pappa (Basel 1517) heißt es: Traulus, einer der kein r nennen kan. niet geheel in K scheint auf eine niederländische Quelle 2u deuten.
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durch das Vorkommen zahlreicher Doppeleinträge veranlaßt worden, die der Bearbeiter zu beseitigen bestrebt war. Von den 26 Einträgen des Kapitels 1/asa Coquinaria finden sich 18 in De Culina\ die Vasa Mensaria und Potoria sind bis auf das Lemma Amphora in De Hibernaculo verzeichnet; von 27 Vasa Conservatoria sind 17 auf De Culina (6), De Cubiculo (3), De Cella (3), De Stabulo, De Vestibus mulier um, De Bibliotheca, De Penore und De Hibernaculo (je 1) verteilt. Nur die Hälfte der 26 Instrumenta officinarum haben im Kölner Druck Aufnahme gefunden: 10 davon stehen im Kapitel De Conclavi instrumentario, das mehrere Doppeleinträge enthielt. Es sei darauf hingewiesen, daß der Kölner Bearbeiter das „neue" Kapitel De Fructibus auf ähnliche Weise behandelt hat: es ist vollständig in De Bellarijs (hier allerdings ohne Überschrift) aufgenommen worden. Daß in Köln irgendwie auf die ältere, kürzere Fassung Rücksicht genommen wurde, ergibt sich aus mehreren Stellen unseres Druckes, die eher mit der kürzeren als mit der längeren Fassung übereinstimmen. Wir weisen auf ein paar ins Auge springende Fälle hin. Der Aufbau des Kapitels De Avibus entspricht keineswegs der Anordnung der längeren Fassung, in der die allgemeinen Ausdrücke am Anfang des Kapitels stehen; wie in der Kurzfassung wird das Vogelnamenverzeichnis durch die Reihen Aviarium — Area — Arnes — Viscus am Anfang und Pluma — Rostrum — Ala am Schluß umrahmt; die letztere Reihe ist um die Lemmata aus der längeren Fassung (Christa — ... — Nidulart) erweitert worden. Wie in der kürzeren Fassung fehlt im Kölner Druck das Lemma Foenum in De Stabulo, steht die Gruppe Pecten — Speculum — Auriscalpium (fehlt in L) nach Scabellum in De Cubiculo, wo auch das Lemma Arcula und am Schluß drei Verben (Iacere — Quiescere — Dormire) auftreten. Weiter fallt auf, daß in De Äffinitäte Haeres, Coniunx und Procus, in De Granario Palea und Polenta nicht vorkommen an der Stelle, wo sie in der Mainzer Fassung zu finden sind, und am Schluß des Kapitels auftauchen. Aus dem Vorausgehenden ist schon deutlich geworden, daß der Kölner Druck im Gegensatz zu den vielen Drucken der längeren Fassung sich nicht auf einen Nachdruck seiner Vorlage mit sprachlicher Anpassung an die jeweilige örtliche Druckersprache und mit gelegentlichen Änderungen im Bereich der Interpretamente (Ersatz, Zusätze, Auslassungen) beschränkt. Der Kölner Dictionarius, wie er uns in dem nicht datierten Exemplar einer späteren Ausgabe vorliegt, ist eine regelrechte Bearbeitung der Mainzer Vorlage, wie auch aus einem Vergleich der Makrostruktur einiger Kapitel hervorgeht:
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Seb. Heydens Nomenclatura Rerum in Köln
De Deo, Coelo & Temporibus De Aquis & Terris De Homine et eius partibus De Vestibus virorum Mulierum De Domo De Balneo De Stabulo De varia Suppellectili & instrumentis rusticorum De Latrina De Urbe De Officiis De Civibus
Mainz
Köln
Neu
125 43 209 42 74 25 47 60
135 37 236 50 66 38 48 69
13 4 38 9 11 13 1 9
43 9 42 52 72
42 15 50 53 79
4 6 10 3 14
843
908
121
In den meisten Fällen bildet die Reihenfolge der Lemmata in der längeren Fassung das Grundgerüst der Kapitel. In De Latrina wurden an verschiedenen Stellen sechs neue Lemmata (Forica, Forium, Foriolus — Scapbus — Forire, Meiere) eingefügt. Im ersten Kapitel, De Deo, Coelo