Wandel durch Beständigkeit: Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428493852, 9783428093854

Der Titel "Wandel durch Beständigkeit" beschreibt das Leitmotiv der deutschlandpolitischen Forschung von Jens

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Wandel durch Beständigkeit: Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428493852, 9783428093854

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KICK / WEINGARZ / BARTOSCH (Hrsg.)

Wandel durch Beständigkeit

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 102

Wandel durch Beständigkeit Studien zur deutschen und internationalen Politik

Jens Hacker zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Karl G. Kick, Stephan Weingarz und Ulrich Bartosch

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wandel durch Beständigkeit : Studien zur deutschen und internationalen Politik ; Jens Hacker zum 65. Geburtstag / hrsg. von Karl G. Kick ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 102) ISBN 3-428-09385-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09385-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Im Bewußtsein seiner Verantwortung

vor Gott und den Menschen,

von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und WürttembergHohenzollern, um dem staatlichen Leben fir eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch fir jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Präambel des Grundgesetzes (1949)

Im Bewußtsein seiner Verantwortung

vor Gott und den Menschen,

von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk. Präambel des Grundgesetzes (1990)

Vorwort Die Präambel des Grundgesetzes in ihrem Bestand und Wandel kann geradezu als leitende Idee dem wissenschaftlichen Wirken von Jens Hacker vorangestellt werden. Die bewußte Verantwortung des Wissenschaftlers, im politischen Diskurs den dort formulierten Verfassungsauftrag Gewicht und Stimme zu geben, hat er immer angenommen. Daß der politische Status quo dem Wandel unterliegen werde, daß dafür der Bestand rechtlicher Rahmenstrategien und Garantien als Voraussetzung zu erhalten sei, stand für Hacker außer Zweifel. Ebenso unzweifelhaft war für ihn, daß ein Wandel zur Einheit, der zusammenwachsen läßt, was zusammengehört, keine rückwärtsgerichtete Entwicklung bedeuten muß und darf. Allen Tendenzen zu einer isolierten deutschen Politik, die Einheit in Freiheit mit nationalem Machtgewinn gleichsetzen zu wollen, erteilt Hacker eine Absage. Die atlantische Bindung eines integrierten Europas entspricht für ihn den modernen politischen Entwicklungen und Anforderungen. So ging es Jens Hacker nie um die Wiederherstellung der nationalen Einheit um ihrer selbst willen. Die Gestaltung seiner politischen Ordnung erlaubt es dem deutschen Volk, in demokratischer Selbstbestimmung seine Geschicke zu lenken und „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Damit ist der Kern von Jens Hackers wissenschaftlicher und politischer Grundhaltung benannt. Von diesem Zentrum aus erschließt sich ein breites, sowohl in seinen Inhalten wie nach seinen methodischen Ansätzen vielfaltiges Forschungs- und Lehrgebiet. Es verbindet die Disziplinen Völkerrecht, Internationale Politik und Zeitgeschichte, aber auch Innenpolitik und Vergleichende Regierungslehre. In seinen Forschungen hat sich Jens Hacker vor allem mit Fragen im Schnittpunkt von Recht und Politik beschäftigt. Die Spaltung Deutschlands war Ergebnis der politischen Entwicklungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber die rechtlichen Vereinbarungen der alliierten Mächte bildeten die Voraussetzungen für die Möglichkeit der deutschen Einheit. An diesen Rechtsgrundlagen festhalten hieß, der Politik die Instrumente bereitzustellen für eine friedliche Aufhebung der Teilung, so wie es im Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag" vom 12. September 1990 geschehen ist. Wie die Einigung vollzogen werden könne, hat auch Jens Hacker nicht vorausgesehen. Freilich hat er diese Frage als bestehende Aufgabe der Deutschlandforschung nie aufgeben wollen. Das tatsächliche Ende des Ost-West-

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Vorwort

Konflikts mußte auch ihn überraschen. Gleichwohl hatte er sich der Analyse der politisch-militärischen Rahmenbedingungen der DDR gewidmet, innerhalb derer ein Wandel geschehen müßte. Die historische Entstehung, die politische Entwicklung und die rechtlichen Strukturen des Herrschaftssystems im Ostblock bildeten das zweite große Forschungsfeld Hackers. Dabei begriff er „Ostblock" als geographische und wesensmäßige Umschreibung einer singulären Erscheinung, nicht als Pendant zu einer analogen Struktur im Westen. In vielen seiner Vorlesungen und Seminaren hat Hacker sich mit dem ,westlichen4, liberal-demokratischen Verfassungsstaat des Bonner Grundgesetzes beschäftigt: in systematischer, in vergleichender und in verfassungshistorischer Hinsicht; und er hat damit das normative Ziel einer Einheit in Freiheit konkretisiert, nämlich die freiheitliche Republik, die den Grundsätzen der Demokratie, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie darüber hinaus des Bundesstaates verpflichtet ist. Am 3. Oktober 1990 wurde mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland der Auftrag des Grundgesetzes erfüllt; mit diesem Wandel wurde auch die Präambel geändert. Der Auftrag, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", bleibt bestehen. Die Gestaltung einer internationalen Ordnung in Europa und in der Welt, die Freiheit und Frieden sichert, wird nach aller Veränderung Jens Hacker weiterhin beschäftigen. „Wandel durch Beständigkeit", wie wir diese Festschrift überschrieben haben, will nicht nur auf jene deutschlandpolitische Programmatik verweisen, die der Jubilar mit kämpferischer Leidenschaft vertreten hat, sondern damit kann sein wissenschaftliches Werk insgesamt gekennzeichnet werden. Die Beiträge dieses Bandes spiegeln die Vielfalt des wissenschaftlichen Interesses wider, das Jens Hacker in Forschung und Lehre vertritt. Die Herausgeber dieses Bandes haben bei Jens Hacker studiert, ebenso diejenigen, die bei der Erstellung des Bandes geholfen haben: allen voran Marion Schulte-Beckhausen, die uns als sachverständige Lektorin wertvolle Hilfe leistete, sowie die studentischen Hilfskräfte Yvonne Hempel und Stefan Sellmaier. Frau Hildegard Meinhard hat uns als Sekretärin nach Kräften unterstützt. Die Herausgeber danken allen für die engagierte Zusammenarbeit. Besonderer Dank ergeht an alle beteiligten Autoren für ihre Beiträge und an den Leiter des Verlages Duncker & Humblot, Prof. Dr. Norbert Simon, für die Übernahme des Bandes in das Programm des Verlages. Mit der Vorlage dieser Festschrift gratulieren alle Mitwirkenden Herrn Professor Dr. Jens Hacker zu seinem 65. Geburtstag. Sie wünschen ihm persönliches Wohlergehen und alles Gute für seine weitere wissenschaftliche Arbeit. Regensburg, im Juli 1998

Karl G. Kick, Stephan Weingarz, Ulrich Bartosch

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Blick nach vorne Theo Waigel Deutschlands neue internationale Rolle

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Form und Transformation politischer Systeme Wjatscheslaw Daschiischew „Der rasenden Fahrt in den Abgrund mußte Einhalt geboten werden". Aus der Geschichte des neuen Denkens in der Sowjetunion vor der Perestroika ... Siegfried

Mampel

Zur Perversion der Menschenrechte in der ehemaligen DDR. Ein Nachtrag .. Michael Wolffsohn Papa ante portas Manfred

27

53

75

Wilke

Der Historiker und die Politik. Alexander Fischer als Sachverständiges Mitglied der Bundestags-Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"

79

Eckart Klein Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

101

Stephan Weingarz Transformation und Integration. Zur Parallelität und Interdependenz zweier Prozesse in Deutschland Jeffrey

117

Herf

Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germany s

133

10

Inhaltsverzeichnis

Eckhard Jesse Antiextremistischer Konsens. Von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart

151

Tilman Mayer Ist die Totalitarismustheorie gescheitert?

171

Jürgen Domes Aspekte des Maoismus als politisches System in China

191

Die Staaten im Umbruch der internationalen Beziehungen Gernot Gutmann Standortprobleme der Industrieländer vor dem Hintergrund der Globalisierung. Das Beispiel Deutschlands

217

Clemens Kauffmann Revisionismus oder Zukunftsfähigkeit? Optionen deutscher Japanpolitik

233

Anneli Ute Gabanyi Rumänien und die NATO

261

Erhard Cziomer Einige Aspekte der Sicherheitspolitik Polens in den neunziger Jahren

287

Milan Hauner Tschechen und Deutsche in Mitteleuropa

301

Dieter Blumenwitz Die tschechisch-liechtensteinischen Beziehungen. Ein anhaltender Konflikt in Mitteleuropa 347 Rupert Hofmann „Kirchenasyl" und ziviler Ungehorsam

363

Franz Eibl Die deutsch-französischen Konsultationen vom 3./4. Juli 1964 und de Gaulles „Angebot" einer nuklearen Zusammenarbeit

389

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen und Perspektiven der internationalen Ordnung Winfried

Becker

Ausprägungen der Europaidee in der katholischen Publizistik des 19. und 20. Jahrhunderts 411 Karl G. Kick Die internationalen Beziehungen im politischen Denken Hermann Hellers Wilfried

439

Fiedler

„Soundly based in international law". Die Erklärung der Westmächte vom 14. und 16. Februar 1996 zum „Potsdamer Abkommen" und die Reform der Völkerrechtsordnung 455 Dietrich Murswiek Peaceful change - ein derivatives Völkerrechtsprinzip

477

Boris Meissner Sicherheit und Kooperation im Ostseeraum Christian

495

Weimer

„Mitteleuropa". Ein komplexer und ambivalenter politischer Terminus und die kontroverse Diskussion über ihn in den achtziger und neunziger Jahren ... 507 Ulrich Bartosch Die Verkehrung des Utopischen. Der Atomare Realismus als Antwort auf die globale Bedrohung 531 Hyong-Kon Han Die grenzüberschreitende Luftverschmutzung im Völkerrecht

557

Epilog: Blick zurück Guido Knopp Zeitgeschichte im Fernsehen. Warum Geschichte im Fernsehen?

573

Schriftenverzeichnis Jens Hacker

581

Autorenverzeichnis

593

Prolog: Blick nach vorne

Deutschlands neue internationale Rolle Von Theo Waigel An der Schwelle zum 21. Jahrhundert kommt der Frage nach der neuen internationalen Rolle Deutschlands und den außenpolitischen Interessensschwerpunkten unseres Landes in verändertem Umfeld zukunftsweisende Bedeutung zu. Gefordert sind der Mut zum Abschied vom alten Denken, das Hinterfragen bewährter Gewohnheiten und die Suche nach neuen Horizonten. Politischer Führung sind freilich auch Grenzen gesetzt, die zu erkennen zum klaren Gestaltungsauftrag des Politikers gehört. Otto von Bismarck formulierte dazu ebenso scharfsinnig wie treffend: „Der Staatsmann gleicht einem Wanderer im Walde, der die Richtung seines Marsches kennt, nicht aber den Punkt, an dem er aus dem Forste heraustreten wird." I . Außenpolitik als globale Gestaltungsaufgabe

Außenpolitik ist immer weniger eine Angelegenheit, die in nationalstaatlichen Kategorien begriffen werden kann. Auch das klassische Ressortdenken hat ausgedient. Vielfältige Vernetzung kennzeichnet heute die Außenpolitik. Sie umfaßt neben traditionellen auswärtigen Beziehungen auch europäische und internationale Finanzpolitik, Außenhandels- und Wirtschaftspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, Sicherheits- und Abrüstungspolitik. Zu dieser Konzeption einer „ganzheitlichen Außenpolitik" zählen ebenso die Politik in und mit regionalen und internationalen Organisationen, das engmaschige Netz bilateraler Beziehungen sowie die Auswärtige Kulturpolitik. Bei der Außenpolitik Deutschlands handelt es sich um eine globale Gestaltungsaufgabe. Weitblick und Kraft zur Gestaltung sind gefordert, um unserem Auftrag, zum Wohl des deutschen Volkes beizutragen, zu entsprechen. In anderen Staaten zählt der Satz, Außenpolitik diene vor allem der Verwirklichung der nationalen Interessen, zum parteiübergreifenden Konsens und bedarf nicht der Erklärung. In Deutschland, bei der Linken zumal, steht bereits der Begriff der deutschen Interessen unter der Herrschaft des Verdachts. Die Formulierung wohlverstandener eigener Interessen zählt indes zu den Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen Außenpolitik. Berechenbarkeit und Schlüssigkeit deutscher Außenpolitik hängen von zwei Bestimmungsfaktoren

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ab: Von der klaren Definition und von der verantwortungsbewußten Umsetzung unserer wertegebundenen Interessen. Π . Außenpolitische Interessenschwerpunkte Deutschlands

An den Grundorientierungen deutscher Außenpolitik hat sich nichts geändert. Auch das vereinte Deutschland bleibt politisch, wirtschaftlich und geistig durch seine Verfassung, durch institutionelle Verflechtung und das Lebensgefühl seiner Menschen fest im Westen verankert. Jens Hacker unterstreicht diesen Tatbestand in seinem 1995 erschienenen Buch „Integration und Verantwortung - Deutschland als europäischer Sicherheitspartner" mit der Feststellung: „Deutschland ist unter politischen und kulturellen Aspekten im Westen verankert und hat mit dafür zu sorgen, daß die europäisch-amerikanische Partnerschaft auch in Zukunft erhalten bleibt. " Aus unserer Westbindung, geographischen Lage und historischen Erfahrung ergeben sich drei Interessenschwerpunkte deutscher Außenpolitik: 1. die Werte-, Friedens-, Stabilitäts- und Wohlstandsgemeinschaft der Europäischen Nation zu festigen und sie schrittweise noch Osten zu erweitern; 2. die engen und vertrauensvollen transatlantischen Bindungen mit den USA und Kanada zu pflegen und zu vertiefen; 3. der weltweiten Verantwortung Deutschlands und Europas für Frieden, Stabilität und Entwicklung gemeinsam mit unseren Partnern gerecht zu werden. Zwei mörderische Kriege lehren uns, daß die Sicherung des Friedens in Freiheit die wichtigste Aufgabe deutscher Politik bleiben muß. Wenn Deutschland heute zum ersten Mal in diesem Jahrhundert auf der Seite der Gewinner der Geschichte steht, dann verdankt es dies verantwortungsbewußter Außenpolitik sowie der Aussöhnung und Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Unser Land ist heute Motor der Neuordnung Europas und unterhält zu all seinen Nachbarn freundschaftliche Beziehungen. L Europa als Chance und politisches Schlüsselprojekt Das Schlüsselprojekt Europa erteilt uns einen klaren Auftrag: Frieden und Freiheit auf dem gesamten Kontinent dauerhaft zu bewahren sowie den Wohlstand und die soziale Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Grundlage dafür ist und bleibt die zielstrebige Fortführung des europäischen Integrationsprozesses und der Ausbau der transatlantischen Partnerschaft. Die historischen Gipfelentscheidungen von Madrid, Amsterdam und Paris haben 1997

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die Weichen für die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung des 21. Jahrhunderts gestellt. Das europäische Einigungswerk und das Atlantische Bündnis haben sich in den vergangenen 50 Jahren als die erfolgreichste Freiheits- und Friedensbewegung aller Zeiten erwiesen. Deutschland wird tatkräftig daran mitwirken, daß sie weiterhin diese Vorreiterrolle wahrnehmen können. Die Zukunft Europas hängt unwiderruflich vom Bekenntnis zur gemeinsamen Verantwortung ab, die wiederum im Erbe der europäischen Nationen als einer wertgebundenen Gemeinschaft wurzelt. Diese ist durch Aufklärung und Christentum begründet worden. Die Zugehörigkeit zu einer Rechts- und Wertegemeinschaft wirkt identitätsstiftend, wobei die entscheidende Bindungswirkung aus dem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl erwächst. Auch in Zukunft werden sich die Menschen in Barcelona als Spanier und Katalanen, die in Brest als Franzosen und Bretonen, die in Pressburg als Slowaken und die in München als Deutsche und Bayern fühlen. Nur allmählich wird sich das herausbilden, was der tschechische Präsident Vaclav Havel in seiner Rede im April 1997 im Deutschen Bundestag historisch vorausgreifend als „europäische Heimat" bezeichnet hat - „nämlich das Bewußtsein, daß wir miteinander eine gemeinsame Heimat der Gedanken, Werte und Ideale teilen". Der Föderalismus als Strukturprinzip liefert den Bauplan für einen lebendigen und handlungsfähigen europäischen Staatenverbund, in dem - alle Nationen ihre Identität bewahren; - die Vielfalt der kulturellen Traditionen und regionalen Besonderheiten gesichert ist und - die Kompetenzverteilung strikt dem Subsidiaritätsprinzip folgt, nach dem die höhere Ebene Kompetenzen nur dann erhält, wenn die niedrigeren Ebenen zur Problemlösung effektiv nicht in der Lage sind. Zur zügigen Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses gibt es keine verantwortbare und erfolgversprechende Alternative. Die Zahl der politischen und ökonomischen Herausforderungen, die mit den Mitteln nationalstaatlicher Politik nicht mehr effizient gelöst werden können, nimmt zu - von der Umweltpolitik über die Wirtschafts- und Währungspolitik bis hin zur Steuerung der Wanderungsbewegungen und zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität. Ohne wirtschaftliche Koordination und Kooperation können sich unsere Volkswirtschaften im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr behaupten. In einer multipolaren Weltordnung wird Europa sein politisches und ökonomisches Gewicht nur stärken können, wenn es seine Kräfte wirksam bündelt und 2 Festschrift Hacker

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mit einer kraftvollen Stimme spricht. Es liegt im ureigenen Interesse Deutschlands, dazu einen maßgeblichen Beitrag zu leisten. Nur die politische Einigung wird es - in den Worten von Franz Josef Strauß - ermöglichen, daß „Europa im kommenden Jahrhundert die Rolle des handelnden Subjekts und nicht die des behandelten Objekts spielen wird". Die Globalisierung konfrontiert die gesamte Politik mit neuen Aufgaben und Herausforderungen. Globalisierung bedeutet, daß die neue Weltordnung im Kern eine Weltwirtschaftsordnung ist, in der die Öffnung der Märkte für Güter, Dienstleistungen und Kapital immer rascher voranschreitet. Wir sollten den Prozeß der Globalisierung als historische Chance begreifen. Deutschland kann zu den Gewinnern der neuen Zeit zählen, wenn wir unsere Tugenden ausspielen. Dazu gehören Innovationsfreude, Pioniergeist, Fleiß und Gründlichkeit. Der Wettbewerb des 21. Jahrhunderts wird sich als ein Wettbewerb zwischen Wirtschaftsräumen vollziehen: - Nordamerika mit seinen knapp 380 Millionen Verbrauchern und einem 18 Prozent-Anteil am Welthandel verfügt über den Dollar als führende Reservewährung. - Mit der Hälfte der Weltbevölkerung wird Asien im Jahr 2000 ein Drittel des Weltsozialprodukts erwirtschaften. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist die zukunftsweisende Antwort Europas auf die Globalisierung. Mit einem stabilen Euro als Grundstein und dem Willen zur Gemeinsamkeit haben 370 Millionen Europäer mit einem Sozialprodukt von über sieben Billionen Dollar und derzeit 43 Prozent Anteil am Welthandel gute Aussichten, sich in diesem härter werdenden Wettbewerb zu behaupten. Der Exportweltmeister Deutschland, in dem jeder dritte Arbeitsplatz von der Ausfuhr abhängt, wird von einem stabilen Euro erheblich profitieren. Eine gemeinsame Währung erhöht die Preistransparenz und schaltet das Wechselkursrisiko aus. Daneben profitieren alle von den gefestigten makroökonomischen Rahmenbedingungen dank der beeindruckenden Konvergenzfortschritte in der EU: Die durchschnittliche Inflationsrate und die langfristigen Zinsen in ganz Europa liegen nahe bei historischen Tiefpunkten; dies stärkt die Investitionskraft und fördert damit Wachstum und Arbeitsplätze. In Europa ist heute eine Stabilitätskultur erreicht, wie es sie seit den Anfängen der europäischen Integration noch nie gegeben hat. Bei der Amsterdamer Regierungskonferenz im Juni 1997 wurden die drei Säulen der Stabilität des Euro bestätigt:

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- Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank; - Stabilitätspakt für solide Haushaltspolitik; - Strikte und dauerhafte Erfüllung der Konvergenzkriterien. Die Stabilitätswährung Euro liegt im ureigenen deutschen Interesse. Mit einer dauerhaft stabilen Gemeinschaftswährung ist Deutschland zusammen mit seinen EU-Partnern für den globalen Wettbewerb gerüstet. Ein Scheitern des Euro würde Europas Glaubwürdigkeit in der Welt schwer beschädigen. Die EU-Erweiterung wird mehr Kraft in Anspruch nehmen als alle bisherigen europäischen Vorhaben. Vor einer Erweiterung muß deshalb nicht nur die Währungsunion begonnen haben, es müssen auch die für 1999 vorgesehenen Reformen der Agrar-, Struktur- und Finanzpolitik der EU vereinbart sein. Weiterhin ist eine institutionelle Reform notwendig, die die EU in die Lage versetzt, in einem größeren Kreis von Mitgliedstaaten ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu erhalten. Bei der künftigen Finanzierung des EU-Haushalts von 2000-2006 muß das Übermaß der deutschen Belastung vermindert werden. Es ist nicht gut für Deutschland, wenn unser Land weiterhin etwa 60 % aller Nettoleistungen an den gemeinsamen Haushalt tragen muß. Wir denken an die Einführung einer Kappungsgrenze. Im Jahr 1997 zahlt die Bundesrepublik 22 Mrd. DM mehr in die Brüsseler Gemeinschaftskasse ein, als sie von dort in Form von Rückflüssen vor allem bei Agrar- und Strukturhilfen zurückerhält. Es besteht begründete Zuversicht, daß bis 1999 eine neue, für alle EU-Partner akzeptable Finanzierungsformel erzielt wird. Wenn die EU ihre Interessen zur Geltung bringen will, muß sie ihre außenund sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken und nach außen geschlossen auftreten. Der Vertrag von Amsterdam hat dabei wichtige Fortschritte gebracht: Mehrheitsentscheidungen bei Durchführungsbeschlüssen, die Berufung eines Generalsekretärs für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Einrichtung einer Planungs- und Frühwarneinheit, die dem Generalsekretär zuarbeitet. 2. Die NATO und die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft Politische Stabilität ist ohne die Garantie militärischer Sicherheit nicht zu gewinnen. Die NATO ist das erfolgreichste Bündnis der Geschichte, aber auch sie durchläuft eine Periode tiefgreifender Veränderungen. Krisenbewältigung, Stabilitätstransfer, Vertrauensbildung und Kooperation werden in Zukunft eine größere Rolle spielen, die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung bleibt jedoch weiterhin unverändert.

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Die Zusammenarbeit von NATO und 20 Nicht-NATO-Staaten beim SFOREinsatz in Bosnien-Herzegowina unterstreicht den neuen Geist der Zusammenarbeit in Europa. Unsere Nachbarn im Osten erfahren dort ganz konkret die Wirklichkeit der neuen NATO. Auch Rußland und die Ukraine sind mit ihren Soldaten maßgeblich beteiligt. Die militärische Absicherung des Friedens in Bosnien-Herzegowina ist ein Erfolg. Die Bundeswehr beteiligt sich im Rahmen des SFOR-Einsatzes an Wiederaufbauprojekten, die die Rückführung von Kriegsflüchtlingen erleichtern sollen. Unsere Soldaten leisten gemeinsam mit ihren Partnern Dienst für den Frieden und sind weder Mörder noch Rechtsradikale. Die Friedensarbeit der 3000 deutschen Soldaten findet überall hohe Anerkennung, bei Bosniern, Kroaten, Serben und nicht zuletzt bei den SFOR-Kontingenten anderer Staaten. Besonders beeindruckend ist die gelassene Souveränität, mit der die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllt. Deutschland ist bereit, sich an einer neuen Friedenstruppe zu beteiligen, wenn das Mandat für die SFOR Mitte 1998 ausläuft. Der Aufbau der staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen in BosnienHerzegowina schreitet voran. Es gibt aber immer noch zu viel Obstruktion. Die internationale Gemeinschaft hat deshalb eine härtere Gangart eingeschlagen: Hilfe nur an Gutwillige und Sanktionen bei Verweigerung. Es ist offenkundig: Der eigentliche Anreiz zu einem stabilen und dauerhaften Frieden geht vom wirtschaftlichen Fortschritt aus. Eine tragfähige Friedensregelung für den Balkan, die künftige Entwicklung Rußlands, sein Platz in Europa sowie die Strukturreform und Öffnung der NATO - dies sind Fragen, die den unauflöslichen Sachzusammenhang von europäischer Sicherheit und amerikanischem Engagement verdeutlichen. Gerade weil die Zukunftsfragen des 21. Jahrhunderts sich auch weiterhin - wenn auch nicht ausschließlich - in Europa entscheiden, kann ein vollständiger Rückzug aus Europa nicht im Interesse der USA liegen. Bewährte Bindungen und alte Bekenntnisse bedürfen in Zeiten raschen Wandels jedoch neuer Begründungen. Die Erfolge der Vergangenheit eignen sich nicht als Ruhekissen, sonst droht die Gefahr, daß wir unsere Zukunft verschlafen. Deutschland ist Amerika zu besonderem Dank verpflichtet. Die Vereinigten Staaten standen bei entscheidenden Weichenstellungen der deutschen Nachkriegsgeschichte an unserer Seite: - beim Wiederaufbau unseres zerstörten Landes; - bei der Errichtung unserer freiheitlichen Demokratie; - bei der Einbindung der Bundesrepublik als gleichberechtigter Staat in die Völkergemeinschaft sowie - bei der Wiedergewinnung der Deutschen Einheit in Freiheit.

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Es war Präsident Reagan, der durch seine entschlossene Politik den Weg zur Vereinigung Deutschlands und zur nuklearen Abrüstung geebnet hat. Präsident Bush hat wie kein zweiter in der Welt zur Deutschen Einheit gestanden. Es ist Präsident Clinton, der große Hoffnungen in Deutschland als führenden Partner bei der Wahrung von Frieden, Sicherheit und Stabilität setzt. Die menschlichen Bindungen, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, bilden das Fundament, um die europäisch-atlantischen Beziehungen auch in Zukunft eng und vertrauensvoll zu gestalten. Sie müssen jedoch von Generation zu Generation neu erworben und gepflegt werden. Heute geht es darum, die Freundschaft zu stärken, die bestehenden Strukturen zu verbessern und dem Dialog zwischen Europa und Amerika neue, wegweisende Impulse zu geben: auf dem Gebiet des Handels genauso wie bei der Hochtechnologie, in Wissenschaft und Kultur ebenso wie bei der wehrtechnischen Zusammenarbeit. Wir werden die Vereinigten Staaten nur dann in Europa halten können, wenn wir ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich von einem Teil ihrer Lasten zu befreien, und wenn es uns gelingt, ihnen zu erklären, daß ihr Engagement in und für Europa in ihrem eigenen Interesse liegt. Die wichtigste Voraussetzung dafür bildet ein politisch handlungsfähiges Europa, denn häufiger als bisher werden Situationen auftreten, in denen die USA ihren europäischen Partnern die Führung überlassen. Gleichberechtigte Partnerschaft ist der Schlüssel für das künftige transatlantische Verhältnis. 3. Die globale Mitverantwortung

Deutschlands

Wer an der Schwelle zum 21. Jahrhundert über Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum nachdenkt, kann und darf nicht mehr nur auf unsere unmittelbare Nachbarschaft blicken. Geographische Distanz ist ein Faktor von sinkender Bedeutung in einer zusammenwachsenden Welt. Die Welt rückt zusammen - durch neue Transportmittel, Internet und weltweite Investitionen. Zu den Zukunftsfragen deutscher Außenpolitik gehören zunehmend Themen, die bisher kaum Gegenstand internationaler Zusammenarbeit waren. So erfordern Umwelt- und Ressourcenschutz, das rapide Wachstum der Weltbevölkerung, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologie, politischer Fundamentalismus und internationaler Terrorismus bis hin zur grenzüberschreitenden Migration überzeugende Problemlösungen der Staatengemeinschaft und der internationalen Organisationen. Frieden, Sicherheit und Stabilität sind heute unteilbar. Dieses Bewußtsein für die globale Mitverantwortung Deutschlands muß in unserer Bevölkerung noch wachsen.

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Theo Waigel

Die Vereinten Nationen sind ein wichtiger Handlungsrahmen deutscher Außenpolitik. Die Mitgliedstaaten der UN sind gefordert, das Instrumentarium der Weltorganisation zur vorbeugenden Diplomatie zu stärken. Dazu zählen insbesondere Bemühungen zur Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte, wirtschaftliche und soziale Stabilisierung durch Armutsbekämpfung, Aus- und Fortbildung sowie Demokratisierungshilfen. Deutschland ist als drittgrößter Beitragszahler daran interessiert, an einer Reform der Vereinten Nationen und des Weltsicherheitsrats an Haupt und Gliedern mitzuwirken. Dabei gilt es u. a. bürokratischen Wildwuchs zu beschneiden, eine größere Beitragsgerechtigkeit zu erreichen und die Voraussetzungen für eine Konzentration auf ihren eigentlichen Auftrag der Wahrung des Weltfriedens zu schaffen. Die Vereinten Nationen sind ein Weltforum, dem 185 Staaten angehören. Nirgendwo wird die Menschheit in ihren Gegensätzen und Spannungen in ähnlicher Form zusammengeführt, nirgendwo ist das Bewußtsein für die Eine Welt als faktische Schicksalsgemeinschaft der Erdbewohner ausgeprägter als im Glashaus am East River. Im UN-Sicherheitsrat werden wichtige Entscheidungen über Frieden und Sicherheit in der Welt getroffen. Deutschland ist zu einem gleichberechtigten Mitwirken im Weltsicherheitsrat bereit. Das deutsche Interesse an Sicherheit und Stabilität, vor allem in unserer europäischen Nachbarschaft, das wirtschaftliche Interesse an freiem Welthandel und offenen Märkten und die Verantwortung eines souveränen Mitglieds der Staatengemeinschaft, zum Frieden in der Welt und zur Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten beizutragen, bilden die Konstanten unserer außenpolitischen Ziele. Als Handlungsrahmen bleiben im wesentlichen die Bündnissysteme und internationalen Organisationen, in denen heute deutsche Außenpolitik mitgestaltet wird: EU, NATO, WEU, OSZE, Europarat und UN. Deutschland muß bereit sein, den vereinbarten Rechts- und Verhaltensnormen der internationalen Gemeinschaft notfalls auch durch den Einsatz militärischer Mittel Geltung zu verschaffen, der politisch und moralisch insbesondere dann gerechtfertigt ist, wenn Menschen schutzlos der Gewalt von Aggressoren ausgeliefert sind. Maßgebend ist der politische Wille, gemeinsam mit unseren Partnern an friedenserhaltenden und -schaffenden Maßnahmen auf der Grundlage einer Einzelfallentscheidung des Deutschen Bundestages teilzunehmen. Dabei wird jeweils zu prüfen sein, wie mittelbar oder unmittelbar Deutschland von einem Konflikt betroffen ist. Das gemeinsame Interesse aller demokratischen Staaten an der Erhaltung der Normen und Standards des Völkerrechts wird aber eine deutsche Beteiligung an derartigen Einsätzen nicht auf den europäischen und auf den an Europa angrenzenden Raum begrenzen las-

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sen, wie die Beteiligung der Bundeswehr an den UN-Friedensmissionen in Kambodscha und Somalia gezeigt hat. Ausschlaggebend für die Einzelfallentscheidung muß weiterhin sein, ob ein präzises Mandat und klare Kommandostrukturen gegeben und die militärischen Mittel zur Erfüllung der politischen Zielsetzung ausreichen oder geeignet sind. Ob und in welchem Umfang sich die Bundeswehr an einer Friedensmission beteiligen sollte, wird schließlich von den eigenen militärischen Möglichkeiten sowie der Abwägung der militärischen Risiken und Folgen eines solchen Einsatzes abhängen. Wenn Deutschland sich dieser schwierigen Aufgabe nicht verweigert, dann wird es auch Verständnis bei seinen Partnern finden, falls es sich nach einer Einzelfallprüfung gegen eine Teilnahme entscheiden sollte. Dringender denn je bedarf deutsche Außenpolitik kultureller Vermittler, die in der Welt für unsere Wertvorstellungen eintreten und unsere Visionen darstellen. Deutschland versteht seine Auswärtige Kulturpolitik nicht als einseitigen „Kulturexport", sondern als Austausch, partnerschaftliche Zusammenarbeit und Dialog mit anderen Kulturen. Sie muß demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien vermitteln und darauf achten, daß diese als Maßstab für Projekte und die Zusammenarbeit mit Partnern im Ausland dienen. Auswärtige Kulturpolitik hat sich zu einem bedeutsamen Faktor der Konfliktvorbeugung und der Standortpolitik entwickelt. Sie ist Zukunftssicherung, weil das Ansehen Deutschlands als Kulturnation über die Bemühungen um Frieden und Stabilität sowie über die Chancen im globalen Wettbewerb um Produktions-, Forschungs- und Investitionsstandorte mitentscheidet. Das Verständnis für die Bedeutung von Außenpolitik als Standortfaktor muß bei den Deutschen noch wachsen. Dabei geht es nicht nur darum, eingeschlagene Wege erfolgreich weiterzugehen. Ebenso kommt es darauf an, daß unsere Auslandsmissionen die deutsche Industrie bei der Erschließung neuer Märkte unterstützen, die Bundeswehr weiterhin personell und materiell auf ihren erweiterten Friedenssicherungsauftrag eingestellt, die deutsche Mitwirkung bei den multilateralen Organisationen gestärkt und unser Anteil an Mitarbeitern bei internationalen Organisationen erhöht wird. Durch ihre außenpolitische Gestaltungskompetenz und ihre politische Durchsetzungskraft haben CDU und CSU seit ihrer Gründung die wegweisenden Entscheidungen der deutschen Außenpolitik - Westintegration, Wiederbewaffnung, europäische Integration, Wiederherstellung der deutschen Einheit, stärkere Zusammenarbeit mit Osteuropa und Übernahme globaler Verantwortung - maßgeblich mitbestimmt und bleibende Verdienste um ihr Land erworben.

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Theo Waigel

Klarheit, Berechenbarkeit und die Ausrichtung an wertegebundenen Interessen sind die wichtigsten Orientierungsmaßstäbe einer schlüssigen Außenpolitik. Außenpolitik ist seit jeher Identitätsausweis christdemokratischer und christlich-sozialer Politik in Deutschland. Wir fühlen uns dieser Tradition besonders verpflichtet. Europa hat in diesem Jahrhundert viel Leid und Schrecken erlebt, aber an seinem Ende viel gewonnen. Deutschland stellt sich der ehrgeizigen Aufgabe, mit seinen Partnern eine erfolgreiche Zukunft zu gestalten und die gemeinsamen Interessen an Freiheit, Frieden und Fortschritt zu verwirklichen.

Form und Transformation politischer Systeme

Der rasenden Fahrt in den Abgrund mußte Einhalt geboten werden 44 Aus der Geschichte des neuen Denkens in der Sowjetunion vor der Perestroika

Von Wjatscheslaw Daschitschew

Die inkompetente Politik des Kreml und ihre Kritiker

Die Worte von Michail Gorbatschow, die zum Titel des Aufsatzes gewählt wurden, bezogen sich auf die Periode nach 1985, als in der Sowjetunion tiefgreifende Reformen und das Umdenken in der herrschenden staatlichen Ideologie und den Grundsatzfragen der Innen- und Außenpolitik begannen1. Aber für diejenigen, die unvoreingenommen, kompetent und ehrlich die Lage der Sowjetunion bewerten konnten, war es schon gegen Ende der 70er Jahre klar, daß die Breshnew-Führung das Land wirtschaftlich, innen- und außenpolitisch in eine Sackgasse in steigendem Tempo trieb. Es galt also schon lange vor der Perestroika, diesem gefahrlichen Abgleiten in den Abgrund politischen Realismus und politische Vernunft entgegenzusetzen, um das Schlimmste zu vermeiden. Als Vorreiter in der kritischen Auseinandersetzung mit der überholten politischen Praxis der damaligen sowjetischen Führung traten vor allem wissenschaftliche akademische Kreise auf. Ihre Verdienste in der Hervorbringung neuer außenpolitischer Ideen und Konzepte vor der Wende in der Sowjetunion 1985 würdigte Gorbatschow in seinem obenzitierten Buch über das neue Denken: „Als man Anfang der achtziger Jahre die herangereiften Probleme in der Sowjetunion zu untersuchen begann, widmete man auch dem internationalen Bereich große Aufmerksamkeit. Umfangreiches, interessantes Material kam aus den Forschungszentren (z.B. dem Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen, dem Institut für die USA und Kanada, dem Institut für

1 Michail Gorbatschow, Wladim Sagladin, Anatoli Tschernjajew, im Zeitalter der Globalisierung, München 1997, S. 12.

Das neue Denken

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Wjatscheslaw Daschitschew

die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems u. a.). Einzelne Wissenschaftler und Fachleute der Außenpolitik steuerten ihre Überlegungen bei" 2 . Gewissenhafte und verantwortungsbewußte Wissenschaftler konnten damals viel offener und wahrheitsgetreuer als offizielle, an ihren Posten gebundene Vertreter des Partei- und Staatsapparats ihre Meinung über die klägliche und gefahrliche Situation des Landes im außenpolitischen Bereich äußern. Aber selbst von ihnen erforderte dies einen großen Mut. Die durch das totalitäre System bedingte Einengung des Spielraumes der freien Meinungsäußerung wirkte sich katastrophal auf die Politik der Regierung und den Fortschritt der Gesellschaft aus. Jede neue Idee wurde auf ihre Kompatibilität mit der Macht der regierenden Elite und ihren ideologischen Dogmen geprüft. So sperrten die kommunistischen Herrscher den Weg zur Innovation in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und bereiteten auf diese Weise den Boden für die Stagnation des Landes und für ihren eigenen Untergang. Die damals gängige Redensart lautete: „Jede Initiative ist strafbar." Und die meisten - von Mitgliedern des Politbüros der Partei bis zum einfachen Bürger - lebten nach diesem Motto. In jedem steckte ein seit Stalins Zeiten eingefleischter Angstund Gehorsamsreflex. Kennzeichnend dafür ist ein Vorfall, den ich selbst erlebt habe. Anfang der 60er Jahre, als ich Redakteur der Zeitschrift für Militärgeschichte war, wurde ich eines Tages mit der Vorbereitung eines Leitartikels für Marschall Golikow - den damaligen Chef des politischen Hauptamtes der sowjetischen Streitkräfte - beauftragt. Bei der Anweisung über den Inhalt des Artikels sagte Golikow zu mir: „Meine Hauptforderung - keine neuen Ideen! Alles muß den Parteibeschlüssen entsprechen." Vor diesem Hintergrund kann man die wahre geschichtliche Größe von Michail Gorbatschow, der den Mut hatte, sich gegen die Parteidogmen aufzulehnen, besser einschätzen. Anfang der 80er Jahre blieb die Atmosphäre im Lande alles andere als günstig für die Hervorbringung neuer Ideen, obwohl sich Gewitterwolken über der Parteiherrschaft wegen der Stagnation des Systems schon dicht zusammenzogen. Sehr anschaulich dafür ist ein Zeugnis von Alexander Jakowlew - dem Mann, der ein besonderes Fingerspitzengefühl für die Lage der damaligen sowjetischen Gesellschaft hatte: „Das vor dem Anbruch der Perestroika bei uns herrschende Klima möchte ich anhand eines konkreten Beispiels verständlich machen. 1984 - ich war damals noch Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen - hatte die Staatliche Plankommission eine prognostische Studie über die Entwicklung der UdSSR bis zum Jahre 2000 bei uns angefordert. Das Institut übernahm den Auftrag, ... in dessen Ergebnis ein neunzig Seiten umfassendes Papier mit niederschmetternden Schlußfolgerungen entstand. Wenn die Methoden beibehalten würden, 2

Ebenda.

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nach denen die sowjetische Wirtschaft arbeitete - diese dirigistischen, zentralistischen, nach einem Plan ausgerichteten Methoden, kurz, das seit jeher praktizierte Modell - , dann würde unser Land auf das Niveau der wirtschaftlich zweitrangigen Länder am Ende des Jahrhunderts vielleicht sogar auf das der armen Länder der Dritten Welt zurückfallen. Obwohl wir nichts Aufregendes in unserem Gutachten vorgebracht hatten, gaben wir doch zu verstehen, daß eine drastische Veränderung des Wirtschaftssystems vonnöten war. Wir schlugen ein Entwicklungsmodell vor, das den Betrieben finanzielle Autonomie und Entscheidungsfreiheit gewähren sollte, damit endlich die Zwangsjacke des Zentralismus abgelegt oder der Dirigismus wenigstens auf ein Minimum reduziert werden könnte. Wir wollten der Zentralmacht nur noch die Planung der großen Entwicklungslinien zugestehen, und dieses Leitungsprinzip sollte dann auch für alle Republiken und Gebiete gelten. Das war für die damalige Zeit reine Ketzerei. Übrigens schlugen wir auch vor, gemischte Betriebe einzuführen, und zwar nicht nur in Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern oder der Dritten Welt, sondern auch mit westlichen Ländern. Wir sahen darin die einzige Möglichkeit, die Sowjetunion an der internationalen Arbeitsteilung sowie am Austausch von Kapital und Investitionen usw. zu beteiligen. " Die Reaktion der Machthaber auf dieses Gutachten war stürmisch. Gosplan, der vom Institut einen optimistischen Bericht erwartete, wies diese Studie „mit Wut" zurück. Vom ZK wurde den Autoren für ihre Ketzerei eine schwere Rüge erteilt. Aber für manche endete die alternative Denkweise mit schlimmeren Folgen. „Man erklärte das Institut für revisionistisch, und es hatte von da an unter vielfachen, jedesmal anderen Verfolgungen zu leiden. In erster Konsequenz bedeutete das, daß der Apparat aus allem und jedem eine antisowjetische Sache zurechtzimmerte, wie in den guten alten Zeiten. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter wurden verhaftet, mehrere Forscher aus der Partei ausgeschlossen, andere wiederum mußten das Institut verlassen. Reisen ins Ausland - besonders für die begabtesten Forscher - wurden eingeschränkt ... Es war eine sehr gefahrliche Zeit. Über das Land brach eine neue Welle von Verfolgungen herein. Überall gab es plötzlich »Affären 4." Eine davon betraf vierundzwanzig Moskauer, alles Mitglieder von Forschungsinstituten. Doch glücklicherweise kam es nicht mehr zu den üblichen Konsequenzen dank der Veränderung an der Spitze der KPdSU im März 1985. Die herrschende Clique um Tschernenko hatte nicht mehr die Zeit, dem Land eine neue bleierne Glocke überzustülpen"3.

3

A. Jakowlew,

Offener Schluß, S. 22-24.

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Der ideologisch bedingte sowjetische Messianismus und Expansionismus, die Perversion der Arroganz der Supermacht im außenpolitischen Denken der damaligen sowjetischen Führung standen in einem tiefen Gegensatz zu den wahren nationalen Interessen der Sowjetunion, zur Friedenssicherung und der internationalen Zusammenarbeit. Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre führten sie zu einer extremen Verschlechterung der außenpolitischen Lage des Landes nach allen Seiten. Das Verhältnis zwischen Ost und West war durch eine extreme Verschärfung der Beziehungen gekennzeichnet, die an die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges erinnerten. Schuld daran war die Breshnew-Führung. Sie brachte die Entspannungspolitik durch ihr Vorgehen in der Dritten Welt und die Hochrüstung zum Scheitern. Ihr Streben, mit allen potentiellen Gegnern militärisch gleichzuziehen und ihnen sogar überlegen zu sein, drohte, das Land zu ruinieren. Die Militärausgaben der Sowjetunion wurden innerhalb von wenigen Jahren in eine nie dagewesene Höhe geschraubt und erreichten Anfang der 80er Jahre 25 bis 30 Prozent des Bruttosozialprodukts. 4 Das war das Fünf- bis Sechsfache dessen, was die USA und die europäischen NATOStaaten für diese Zwecke aufwendeten - ein riesiger Preis, den sowjetische Bürger für die Breshnew'sche Doktrin der „strategischen Parität" zahlen mußten. Prekär war die Lage für die Sowjetunion auch im sozialistischen Weltsystem. Die Spannungen und Konflikte zwischen ihr und einzelnen sozialistischen Ländern, die schon in den 60er und 70er Jahre zutage traten, nahmen zu. Im September 1979 schrieb ich in einem Gutachten an das ZK: „Im allgemeinen gesehen sind diese Konflikte ein Ergebnis der Entwicklung und Ansammlung der politischen Gegensätze innerhalb des sozialistischen Weltsystems. Die Offenbarung dieser Gegensätze wuchsen ständig und wurden komplizierter. Von Streitigkeiten und Reibungen in ideologischen, nationalen und territorialen Fragen kam es zu militärischen Zusammenstößen und Kriegen zwischen den sozialistischen Ländern. Der Ursprung dieser Gegensätze liegt in der Sphäre der Beziehungen der Sowjetunion mit China, Jugoslawien, Albanien, Rumänien und der Koreanischen Volksdemokratischen Republik. Obwohl diese Gegensätze in jedem konkreten Fall ihre deutliche landeseigene Färbung, unterschiedliches Maß und Charakter der Einwirkung auf die Lage innerhalb des sozialistischen Weltsystems sowie auf das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West in der internationalen Arena haben, ist es nicht schwer festzustellen, daß alle genannten Länder eines gemeinsam haben, und zwar das Streben, den Ansprüchen der sowjetischen Führung auf die Rolle eines leitenden Zentrums im sozialistischen Weltsystem und in der kommunistischen Bewegung zu widerstehen und dem »sowjetischen Hegemonismus4 der 4

M. Gorbatschow (Anm. 1), S. 13.

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»sowjetischen Expansion4» den Plänen der Unterwerfung aller sozialistischen Länder der »sowjetischen Kontrolle4 entgegenzuwirken. In diesem Hauptpunkt kommen politische Positionen der genannten Länder nicht nur mit der Plattform einer Reihe von kommunistischen Parteien Westeuropas, sondern auch mit der Politik des Westens in Berührung. In dem gemeinsamen Widerstand gegenüber der Sowjetunion entsteht immer öfters und auf einer immer breiteren Grundlage das Zusammenwirken Chinas, Jugoslawiens und Rumäniens untereinander sowie mit den Westmächten445. Zwischen den regierenden Eliten der Sowjetunion und der meisten WPStaaten kam es Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre auch zu politischen Gegensätzen und Reibungen. Den letzteren fiel es nicht leicht, sich mit dem Scheitern der Entspannungspolitik, mit einer neuen wirtschaftlichen Bürde im Zusammenhang mit dem wachsenden Rüstungswettlauf und mit der Eingebundenheit in das marode sowjetische Wirtschaftssystem abzufinden. Die Politik der sowjetischen Führung in der Dritten Welt brachte auch keine politischen und wirtschaftlichen Dividenden. Es war von Seiten der Kremlherrscher töricht zu denken, die Entspannung in Europa auf der Grundlage des in der Helsinki-Akte der KSZE verankerten Nachkriegsstatus quo, als die Tinte der Unterschriften unter dieser Akte noch nicht trocken war, mit der Mitte der 70er Jahre entfesselten sowjetischen Offensive in der Dritten Welt versöhnen zu können. Diese Offensive wurde nach Worten des damaligen englischen Botschafters in Moskau J. Killik „zum Requiem für Detente44. Im Ergebnis hat sich die globale Konfrontation der Sowjetunion mit dem Westen, Japan und China noch mehr verschärft, was die Kräfte der Sowjetunion bei weitem übertraf und enorme Ressourcen von der Lösung der dringend anfalligen Aufgaben im Inneren des Landes ablenkte. Alle diese Mängel und Fehler der sowjetischen Außenpolitik konnte man mit bloßem Auge sehen. Sie wurden auch zum Gegenstand der bilateralen und multilateralen Diskussionen auf den Konferenzen und Symposien der Institute der WP-Länder, die sich mit den außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Problemen befaßten. In dem von mir dem ZK am 11. 06. 1979 vorgelegten Bericht über die Ergebnisse des sowjetisch-ungarischen Symposiums zum Thema „Einige Fragen der Beziehungen der Länder zweier Systeme in Europa44 hieß es unter anderem: „In den nächsten fünf Jahren darf man sich nicht ausschließlich auf die relative Stabilität des strategischen Gleichgewichts verlassen. Balance of power in Europa wird in der absehbaren Zukunft von anderen Faktoren abhängen: von der wirtschaftlichen Entwicklung, der Effektivität des RGW und der EG, von der Fähigkeit ihrer zivilen Wirtschaft, Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. In diesem Zusammenhang wurden von 5

Aus meinem persönlichen Archiv.

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den Teilnehmern des Symposiums alarmierende Tendenzen hervorgehoben: die steigende Rückständigkeit der Länder der Gemeinschaft gegenüber dem Westen in der Effizienz der Produktion, die Verwundbarkeit ihrer Positionen an Ressourcen wie Getreide und Lebensmittel, niedriges Tempo des technologischen Fortschritts, ungenügende Einwirkung der sozialistischen Integration auf die Stärkung ihrer wirtschaftlichen Positionen ... Außerdem unterstrichen sie, daß die Fortsetzung der Konfliktbeziehungen zwischen den Ländern der Gemeinschaft und China sowie der Zusammenstoß der Interessen des Westens und der sozialistischen Länder in der Dritten Welt eine weitere Ablenkung großer Ressourcen von der europäischen außenpolitischen Richtung erfordern wird, obwohl diese Richtung für das Schicksal des Sozialismus ausschlaggebend ist." 6 Auf dem Symposium wurde das sowjetische Modell der Entwicklung der Länder der Dritten Welt, in dem man das Schwergewicht auf die Industrialisierung dieser Länder legte, stark kritisiert. „Die Verwirklichung dieses Modells", so der Bericht an das ZK, „ist mit der weiteren Senkung des ohnehin niedrigen Lebensstandards der Bevölkerung dieser Länder verbunden. Daraus folgt eine weitere Verschärfung der globalen Ernährungslage und die Forderung an die sozialistischen Staaten, die Massenlieferungen von Lebensmitteln zu erhöhen. Dieses Modell verliert gegenüber dem sozialdemokratischen Entwicklungskonzepts, das der Förderung der Landwirtschaft und der leichten Industrie, der Schaffung einer hinlänglichen Verpflegungs- und Rohstoffbasis, der Arbeitsplatzbeschaffüng, der Verbesserung des Gesundheits- und Schulwesens den Vorzug gibt. Dieses Konzept verstärkt prowestliche Stimmungen der Entwicklungsländer. Seine Ausstrahlungskraft ist offensichtlich. Es wäre sinnvoll, die Möglichkeiten für die Erweiterung der Zusammenarbeit mit dem Westen und den Entwicklungsländern in diesen Bereichen auf trilateralen Grundlage zu finden. Das könnte sich auch auf die gesamteuropäische Zusammenarbeit positiv auswirken".7 Die Wege aus der schwierigen Lage, in der sich die RGW- und WP-Staaten befanden, sahen die meisten Teilnehmer des Symposiums: - in der Rückkehr zur politischen und besonders militärischen Entspannung, was die Herstellung eines gegenseitig annehmbaren politischen modus vivendi mit dem Westen voraussetzte; - in der Ausarbeitung eines klaren Konzepts der Politik in der Dritten Welt, das den Interessen der Stärkung der Gemeinschaft nicht widersprechen könnte; - in der Suche nach der Normalisierung der Beziehungen mit China. 6 7

Aus meinem persönlichen Archiv. Ebenda.

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Das ist nur ein Beispiel, das verdeutlicht, daß es an vernünftigen außenpolitischen Ideen, die an die sowjetische Führung herangebracht wurden, nicht mangelte. Nur das Ergebnis war zu gering.

Koordinator eines internationalen Forscherteams

Mitte 1974 verabschiedeten die Zentralkomitees der regierenden Parteien der Warschauer-Pakt-Staaten auf Initiative Moskaus einen Beschluß über die Schaffung eines ständigen internationalen Teams, bestehend aus den Fachkräften der Akademien der Wissenschaften und der Institute der Außenministerien dieser Länder. Das Team wurde mit der Ausarbeitung von Problemen der Ost-West-Beziehungen in Europa im politischen, wirtschaftlichen und militärstrategischen Bereich beauftragt. Die Ergebnisse der gemeinsamen Forschung mit entsprechenden konkreten Empfehlungen für die Außenpolitik der Länder des Warschauer Paktes sollten den zuständigen ZKs vorgelegt werden. Als Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme am Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems der Akademie der Wissenschaften (1991 umbenannt in Institut für internationale wirtschaftliche und politische Studien) wurde ich zum Koordinator der Forschungsarbeit im Rahmen dieses vertraulichen Projektes (Codename „Stern") ernannt. Unter den Teilnehmern des Projektes waren angesehene Politologen und Wirtschaftswissenschaftler wie G. Gyovai, G. Isik Hedri, L. Kiss aus Ungarn, W. Hänisch, W. Spröte, K. Monntag aus der DDR, A. Rotfels, J. Simonides, M. Dobroczinski, B. Rychlovski aus Polen, Z. Zanew, B. Dimowa, N. Zarewski aus Bulgarien, O. Bogomolow, I. Orlik, N. Schmeljew und A. Bykow aus der Sowjetunion. Die Institute der Akademie der Wissenschaften erfüllten damals eine wichtige Funktion als Berater der sowjetischen Führung. Im Unterschied zum Institut für die Weltwirtschaft und internationale Beziehungen und zum USAInstitut, die für die Erforschung der westlichen Politik und der Wirtschaft zuständig waren, befaßte sich mein Institut mit der Wirtschaft, Politik und der sozial-politischen Lage der ehemaligen sozialistischen Länder. Das erlaubte mir, einen gründlichen Einblick in die Politik und die Entwicklungstendenzen dieser Länder zu gewinnen und daraus wichtige Schlußfolgerungen zu ziehen. Dem Direktor des Instituts, Professor Oleg Bogomolow, gelang es, höchst qualifizierte und begabte Politologen und Wirtschaftswissenschaftler zusammenzufassen, die liberale politische und wirtschaftliche Ansichten vertraten und ziemlich kritisch der damaligen Außenpolitik der sowjetischen Führung gegenüberstanden. Aus ihren Kreisen kamen später namhafte Praktiker und Theoretiker der Reformen unter Gorbatschow. Ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen, kann man sagen, daß das Forscherteam des Bogomolow-Instituts viele Ideen und Konzepte der Innen- und Außenpolitik entwickelt hatte, die 3 Festschrift Hacker

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seit 1985 bei der Umgestaltung des Landes verwirklicht wurden und wesentlich dazu beitrugen, die alten Dogmen der sowjetischen Staatsideologie und Politik zu stürzen. Ende der 70er /Anfang der 80er Jahre fiel das Institut beim ZK unter Breshnew und Tschernenko wegen seiner von der offiziellen politischen Linie abweichenden Meinungen und Ansichten in Ungnade. Die „Betonköpfe" im ZK, besonders in der Abteilung des damals berüchtigten Hardliners Trapesnikow, die die Wissenschaft überwachte, nannten unsere Mitarbeiter verächtlich „Liberale" und „Märktler", weil sie die ineffiziente Zentralplanungswirtschaft durch die marktwirtschaftlichen Reformen umgestalten wollten. Natürlich durften neue Ideen damals der Öffentlichkeit nicht durch die Medien zugänglich gemacht werden. Vor allem galt dies für die kritischen Ansichten über außenpolitische Probleme. Der einzige Kanal dafür waren vertrauliche Gutachten, die für den internen Gebrauch in den höchsten Gremien der Macht bestimmt waren. Es erforderte aber großen Mut, um selbst in diesen Gutachten die Wahrheit zu sagen, die der Führung nicht gefallen konnte. Unter denen, die in der internationalen Abteilung und in der Abteilung der sozialistischen Länder des ZK für neue Ideen Verständnis hatten und sie tolerierten, müssen viele Konsultanten des ZK mit guten Worten erwähnt werden. Zu ihnen gehörten vor allem Anatolij Tschernjaew, Georgij Schachnasarow (beide wurden später zu Beratern von Michail Gorbatschow), Wadim Sagladin, Nikolai Schischlin, Nikolai Kolikow u.a. Sie berieten Politbüromitglieder, verfaßten Reden für den Generalsekretär und andere Prominente, bereiteten wichtige außenpolitische Beschlüsse und Maßnahmen vor (Beratungen, Zusammentreffen, Sitzungen auf hoher Ebene). Die Mitarbeiter unseres Instituts standen mit ihnen im ständigen Kontakt bei der Lösung vieler außenpolitischer Fragen, die auf der Tagesordnung standen. Sie machten auf mich den Eindruck von Menschen mit einer gründlichen Ausbildung, tiefen Kenntnissen und außergewöhnlichen Fähigkeiten. Im Vergleich zu den meisten Diplomaten im Außenministerium, wo der Geist von Gromyko herrschte, schienen sie mir, Freidenker zu sein. Die reale Macht lag aber nicht bei ihnen, sondern bei den meist starrsinnigen Mitgliedern des Politbüros und des Sekretariats des ZK. Unter Gorbatschow haben sie jedoch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Umgestaltung der sowjetischen Außenpolitik gespielt. Die Bildung des Forschungsteams der multilateralen wissenschaftlichen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder - des Projekts „Stern" - ist in hohem Maße von diesen ZK-Konsultanten veranlaßt worden. Mit diesem Projekt verfolgten sie das Ziel, die verhältnismäßig unabhängige und ungebundene akademische Forschungsebene auszunutzen, um sich durch Gutachten der Fachleute über nationale Interessen der Mitgliedsländer des WP in ihrem Ver-

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hältnis zu Westeuropa besser informieren zu lassen und diese Interessen in der gemeinsamen Politik effektiver abstimmen zu können. Ein bedeutender Antrieb dazu war auch die ständig wachsende Divergenz der Interessen innerhalb des WP und des RGW. Sie drohte, zu einer Gefahr für den Zusammenhalt beider Blöcke zu werden. An dem Projekt „Stern" beteiligten sich zunächst nur Warschauer-PaktStaaten mit Ausnahme Rumäniens, dessen Führung dazu neigte, sich von den gemeinsamen Maßnahmen im Rahmen des WP möglichst fernzuhalten. Über die Nichtbeteiligung Rumäniens war man in Moskau sogar froh im Hinblick auf zahlreiche Fälle, in denen rumänische Vertreter die Informationen über interne WP-Angelegenheiten dem Westen zukommen ließen. Ende 1977 wurde der Kreis der Beteiligten auf die RGW-Länder ausgedehnt. Dementsprechend änderten sich auch die Forschungsaufgaben des Teams. Von nun an wurden nicht nur europäische Angelegenheiten, sondern auch globale politische und wirtschaftliche Probleme behandelt. Ungewollt öffnete das Moskauer ZK mit der Schaffung dieses internationalen Teams einen wichtigen Kanal für die Kritik an der damaligen Politik der kommunistischen Orthodoxen in der Sowjetunion und in anderen WP- und RGW-Ländern. Besonders zeichneten sich ungarische und polnische Mitglieder des Teams durch unorthodoxe Denkweise aus. Sie waren sich sehr wohl im klaren über die im WP und im RGW herrschenden Ungereimtheiten und Hemmnisse für eine gesunde Entwicklung und strebten danach, ihr Bestes zu tun, um diese Ungereimtheiten und Hemmnisse wegzuschaffen und für die Außenpolitik und die Wirtschaftsbeziehungen einzelner Mitgliedsländer zum Westen mehr Spielraum zu erlangen. Die Tätigkeit des „Stern"-Teams dauerte von 1974 bis 1984. In dieser Zeit wurden vier große Problemkreise erforscht und als außenpolitische Studien den ZKs unterbreitet: - Probleme der Wechselbeziehungen der Staaten von zwei politischen Systemen in Europa in den 1970er Jahren (1977); - Die Länder der sozialistischen Gemeinschaft und die Umgestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen (1979); - Langfristige Strategie der Wirtschaftsbeziehungen der RGW-Länder gegenüber den Staaten des anderen politischen Systems (1982); - Aktuelle Probleme der Politik der Länder der sozialistischen Gemeinschaft gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten in den 80er Jahren (1984). Im Laufe der Arbeit an diesen Themen wurden den Auftraggebern zahlreiche interne Berichte über akute außenpolitische und außenwirtschaftliche Fragen unterbreitet, die nationale Standpunkte einzelner Länder widerspiegelten. 3*

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Die Sitzungen des Teams wurden rotationsweise in den Hauptstädten der WPund RGW-Länder abgehalten. Es gelang mir, auf diesen Sitzungen eine ungebundene, freizügige und vertrauensvolle Atmosphäre bei der Besprechung von sehr heiklen außenpolitischen Problemen zu schaffen. Die Hauptforderung an die zu erarbeitenden Studienpapiere war Sachlichkeit, eine nüchterne Analyse der Lage und der Perspektiven der Entwicklung, frei von ideologischen Verzerrungen und von der Angst, irgendwie mit der offiziellen Linie der Politik in Widerspruch zu kommen. Nicht in allen Fällen gelang es, das zu erreichen. Die neuen, manchmal ketzerischen Ideen und Schlußfolgerungen „koexistierten friedlich" in dem Text der Studie mit alten Klischees und spezifischen Redewendungen, die das Gehör der Obrigkeit erquicken könnten. Das Projekt „Stern-4"

Einen besonderen Platz in der Arbeit an dem Projekt „Stern" nimmt die vierte Studie ein. Sie wurde Mitte 1982 in Angriff genommen und Anfang 1984 als eine für den Dienstgebrauch bestimmte Broschüre in 100 Exemplaren gedruckt und an die ZKs der beteiligten Länder - Bulgarien, Ungarn, die DDR, Kuba, Mongolei, Polen, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion - verschickt8. Mit dem Projekt „Stern-4" ist in meinem Gedächtnis eine Episode verbunden, die auf mich einen starken Eindruck machte. Die erste Sitzung der mit der Ausarbeitung des Projekts beauftragten multilateralen Forschergruppe wurde in Potsdam im Herbst 1982 durchgeführt. Die deutschen Gastgeber überraschten die Teilnehmer der Gruppe, indem sie uns das Hotel des historischen Gebäudes Cäcilienhof, wo das Potsdammer Abkommen unterzeichnet worden war, zum Wohnen und zur Arbeit zur Verfügung stellten. Einige Tage vor dem Beginn der Sitzung kam ich als „Vorhut" nach Potsdam, um die Tages- und Geschäftsordnung der Sitzung mit meinen deutschen Kollegen zu besprechen und abzustimmen. Mein Verhandlungspartner war der stellvertretende Direktor des Potsdamer Instituts für internationale Beziehungen Prof. Dr. Werner Hänisch. Er war von Anfang an ein aktiver Teilnehmer des Forschungsprojekts „Stern-4" und genoß bei den Kollegen großes Ansehen. Wir besprachen mit ihm gründlich den Plan unserer Tagung und einigten uns sehr schnell auf das Arbeitsverfahren der Sitzung. Während unserer Gespräche fragte er mich, ob ich mir die Berliner Mauer, die nicht weit vom Cäcilienhof 8 Aktuelle Probleme der Außenpolitik der Länder der sozialistischen Gemeinschaft gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten in den 80er Jahren. Für den Dienstgebrauch. Problemkommission der multilateralen wissenschaftlichen Zusammenarbeit der Akademien der Wissenschaften zur Forschung der Fragen der Wechselbeziehungen der Staaten von zwei sozio-politischen Systemen, Moskau 1984 (auf Russisch, im folgenden zitiert als: Projekt „Stern").

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verlief, ansehen möchte. Dies war für mich natürlich interessant. So gingen wir nach der Arbeit durch den schönen Park zur Mauer. Vor mir entstand ein trostloses Bild - die schmerzhafte Narbe des Kalten Krieges, die die Stadt in zwei Teile trennte. Es schien mir, als ob ein unbarmherziges Messer den lebendigen Körper des deutschen Volkes entzweigeschnitten hätte. Diese Trennungslinie war ein schreckliches Symbol der Herrschaft des Totalitarismus. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sich die Russen fühlen würden, wenn Deutschland und Japan gesiegt und die Grenze ihrer Herrschaftssphären mitten durch Moskau hätten verlaufen lassen. Das wäre eine fürchterliche Tragödie für die Russen. Und warum mußte das deutsche Volk unter dieser Spaltung leiden? Die Spaltung, die das Land, seine Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und vor allem die Familien, Bekannten, Freunde, Menschen teilte? Könnten die Ideen, Ideologien oder politische Lehren, wie schön sie auch sein möchten, als Rechtfertigung für diese Brutalität dienen? Und welche Vorteile hatte die Sowjetunion von der deutschen Teilung? Die schwere Bürde des Kalten Krieges, der Hochrüstung, der Militarisierung des Landes? Der niedrige Wohlstand ihrer Bevölkerung? Die unzulässige Rückständigkeit der zivilen Wirtschaft? Der Teufelskreis der imperialen Gewaltpolitik? Als ich von diesen düsteren Gedanken zu mir kam und mich nach Werner Hänisch umwandte, der inzwischen auf die Mauer schaute, fiel mir auf, wie traurig sein Gesicht war. Das hat mich zutiefst erschüttert. Schweigsam gingen wir zum Cäcilienhof zurück, jeder in seine Gedanken vertieft. Ein weiteres Mal konnte ich mich davon überzeugen, wie unmenschlich und verderblich die Spaltung Deutschlands und des Kontinents für die Deutschen, für die Russen und für alle Europäer war. Die Bestandsaufnahme der Studie „Stern-4" war in ihren Schlußfolgerungen sehr radikal. Es gelang mir, eine Menge „unkonventioneller" Ideen in unseren Arbeitspapieren durchzusetzen. Dafür gab es gewichtige Gründe: die Breshnew-Führung führte mit ihrer abenteuerlichen Politik das eigene Land und ihre WP-Partner in eine schwierige Lage. Die Stationierung der SS-20Raketen, der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, die dadurch heraufbeschworene Untergrabung der Entspannung und die gefahrliche Verstärkung des Wettrüstens hatten eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen und außenpolitischen Lage der WP-Länder zur Folge, die ohnehin politisch und wirtschaftlich auf dem Trockenen saßen. Polen wurde von einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise erschüttert. Die anderen WP-Länder standen unmittelbar davor. Die außenpolitischen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und ihren Warschauer-Pakt-Partnern spitzten sich zusehends zu. Die letzteren, besonders Polen und Ungarn, hatten ein großes Interesse an der Fortsetzung und der Vertiefung der Detente. Die Bevölkerung der DDR war durch die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen und der amerikanischen Pershing sehr beunruhigt. Die Honnecker-Führung konnte

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das nicht außer acht lassen. In der polnischen und ungarischen Presse mangelte es nicht an Erklärungen und Artikeln hochkarätiger Politiker mit einer gedämpften Kritik am sowjetischen Vorgehen in der Dritten Welt und den zweifelhaften Maßnahmen der sowjetischen Führung im militärischen Bereich. Das alles bewegte mich als Leiter des Projekts, die brisantesten Fragen der sowjetischen Politik auf die Tagesordnung der Forschung zu setzen und sie möglichst offen und unumwunden der Führung darzulegen. Das Konzept und die Gliederung der Studie wurden auf der Sitzung des Forschungsteams in Sofia am 6. und 7. Juli 1982 besprochen und angenommen. In meinem Rechenschaftsbericht über die Ergebnisse der multilateralen Vorbereitungsarbeit zum Projekt „Stern-4", der am 27. Juli 1982 an Juri Andropow geschickt wurde, hieß es unter anderem: „Eine prinzipiell wichtigere Rolle als in den 70er Jahren kommt der Abstimmung der Aufgaben unserer Globalpolitik mit den realen inneren Ressourcen und Möglichkeiten ihrer Durchsetzung zu, besonders in der Region der Entwicklungsländer ... Wir ließen uns durch eine übermäßig akzentuierte Lösung der außenpolitischen Aufgaben zum Schaden der inneren Stärkung der sozialistischen Gemeinschaft hinreißen. Allzu große Hoffnungen setzte man auf das militärische Gleichgewicht, während die Bedeutung des allgemeinen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisses, das ausschlaggebend ist, unterschätzt wurde. Im Ergebnis entstand ein Mißverhältnis zwischen dem militärischen und wirtschaftlichen Gleichgewicht in der Auseinandersetzung der Länder zweier Systeme. Das kann schwerwiegende Folgen haben - die Zerstörung des allgemeinen Kräftegleichgewichts zum Nachteil der Gemeinschaft. Die Symptome zeichneten sich schon ab.... Die Entspannungspolitik wurde nicht zu Maßnahmen zur Verbesserung des Wirtschaftsmechanismus und zur spürbaren Steigerung der Effizienz und der Qualität von Industrie und Landwirtschaft genutzt. 80 Milliarden Dollar westlicher Kredite führten nicht nur zu keinem technologischen Schwung und zu keinem Fortschritt der sozialistischen Länder, sondern wurden zu einer schweren Last für ihre Wirtschaft. Der veraltete Wirtschaftsmechanismus erlaubte nicht, diese Kredite zu nutzen. Wenn wir 200 Milliarden Dollar ausgeliehen hätten, wäre das Resultat dasselbe, wenn nicht schlechter gewesen. " Die Schlußfolgerung lautete: die Sowjetunion und andere sozialistische Länder brauchen tiefgreifende wirtschaftliche Reformen, um den Weg einer intensiven wirtschaftlichen Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf neue Technologien zu betreten. Nach unseren Schätzungen könnte die Transformation der Wirtschaft etwa 10-15 Jahre dauern. In dieser Periode müßten günstige außenpolitische Bedingungen für die Reformen geschaffen werden. Anderenfalls werde die wirtschaftliche Grundlage der Außenpolitik der Sowjetunion und ihrer Partner verhängnisvoll gefährdet und unterminiert.

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Im Bericht wurde die damals weit verbreitete These, derzufolge der Anteil der RGW-Länder an der Weltproduktion 33 % betrug, für inkorrekt und für die Planung der Außenpolitik irreführend befunden. Wir haben darauf hingewiesen, daß diese Größenordnung in Wirklichkeit zwischen 15 bis 20 % liegt. Die wichtigste Aufgabe der Außenpolitik der WP-Länder für die 80er Jahre sahen die Teilnehmer der Sitzung in Sofia in der Suche nach den Wegen zur Rückkehr zur Detente, zur Minderung des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druckes der USA und ihrer Verbündeten auf die sozialistische Gemeinschaft. Dafür wäre aus unserer Sicht eine neue Formel der Entspannung notwendig, die den Interessen beider Seiten und ihrer Achtung strikt Rechnung trug und stabile Grundlagen für einen modus vivendi in den OstWest-Beziehungen schaffen konnte. „Ausschlaggebend dafür", so der Bericht, „ist die Bereitschaft, das Können und die Kunst, die Gegensätze zwischen Ost und West im politischen Bereich zu lösen und Kompromisse zu schließen. Wenn das gelingt, dann kann man mit den Vereinbarungen im Bereich der Reduzierung der militärischen Konfrontation, der Abrüstung und der Beseitigung der Kriegsgefahr, der Minderung des wirtschaftlichen Druckes auf sozialistische Länder rechnen. Deswegen ist es wichtig, Hauptgebiete der politischen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und ihren WP- und RGW-Partnern einerseits, und den Westmächten und ihren Verbündeten andererseits den Charakter und die Schärfe dieser Gegensätze, die Rolle der objektiven Faktoren und der subjektiven Ansichten, die Fehlschläge und Fehlkalkulationen bei ihrer Entwicklung festzustellen. Das würde erlauben zu klären, inwieweit sie langfristig sind, geschwächt, ausgeglichen oder überhaupt beseitigt werden können. Es ist auch notwendig, klare Vorstellungen über unsere eigenen national-staatlichen Interessen im Rahmen der sozialistischen Entwicklung zu gewinnen und herauszufinden, welche außenpolitische Ziele in unseren Kräften stehen und für die Realisierung unserer nationalen Interessen zweckmäßig sind. Es kommt darauf an, eine realistische Prioritätenordnung für unsere Politik zu schaffen unter Berücksichtigung: a) der Bedürfnisse der inneren Entwicklung der sozialistischen Gemeinschaft und b) einer neuen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräftekonstellation in der internationalen Arena." Besonders hervorgehoben wurden im Bericht die negativen Auswirkungen der Politik der Sowjetunion in der Dritten Welt: „Die Entspannungspolitik, der gesamte Komplex der Wechselbeziehungen zwischen den Ländern des WP und der NATO erwiesen sich, den Erfahrungen der 70er Jahre zufolge, in einem engen Zusammenhang mit deren Aktivitäten in der Zone der Entwicklungsländer. In den 80er Jahren wird dieser Zusammenhang noch stärker ausgeprägt. Im Hinblick darauf ist es von Bedeutung, die Einstellung der Länder der Gemeinschaft zu militärischen, territorialen und nationalen Konflikten sowohl zwischen den Entwicklungsländern, als auch innerhalb einzelner von

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ihnen neuzubewerten. Unter dem neuen Blickwinkel sind auch die Waffenlieferungen an die Entwicklungsländer zu betrachteten. Alle diese Fragen müssen unter Berücksichtigung des Kerninteresses, der Stärkung der Länder der sozialistischen Gemeinschaft, gelöst werden. In der Perspektive kommt es darauf an, die Rolle einer normalen diplomatischen Praxis und partnerschaftlicher Beziehungen zu den Entwicklungsländern zu steigern... In den 80er Jahren und auf weite Sicht gewinnen die indirekte Einwirkung und der Demonstrationseffekt der Erfolge oder Mißerfolge der sozialistischen Gemeinschaft für diese Länder in der wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Entwicklung stark an Bedeutung." So wurde die verderbliche politische und militärische Praxis der Sowjetunion in Angola, Äthiopien, Jemen, Mocambique und Afghanistan, die zur Unterminierung der Entspannung und zur Verschärfung der Ost-West-Konfrontation führten, bloßgestellt. Die auf der Sitzung in Sofia geäußerten Ideen und Überlegungen wiesen die Richtung für die Forschungsarbeit an dem Projekt „Stern-4". In den Mittelpunkt stellten wir vor allem folgende Fragen: die Grundzüge der Weltentwicklung, die Dynamik des Wandels des Kräftegleichgewichts und der Kräftekonstellation in der internationalen Arena, die Tendenzen der Politik des Westens gegenüber den WP- und RGW-Ländern, die Rolle der Entwicklungsländer und solcher Faktoren wie der technologische Fortschritt, Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelprobleme in den Ost-West-Beziehungen. Behandelt wurden die prioritären Richtungen der Außenpolitik der sozialistischen Länder, die Möglichkeiten und Bedingungen des Abbaus der politischen Spannungen in den Beziehungen zum Westen, Schritte zur Beseitigung der Kriegsgefahr und zur Herabsetzung des Niveaus der militärischen Konfrontation, der Stand und die Perspektiven der Entwicklung der wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Beziehungen zum Westen u.a. Besonders hervorgehoben wurden die dringende Notwendigkeit einer Verbesserung der inneren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Gemeinschaft und die Wichtigkeit, das Schwergewicht der staatlichen Aktivitäten der sowjetischen Führung von der Außenpoltik und von der Konfrontation mit dem Westen ins Innere des Landes zu verlagern, um wenigstens die angehäuften politischen und wirtschaftlichen Mißstände zu beseitigen. In der Studie fehlte es nicht an einer Kritik der außenpolitischen Dogmen und der außenpolitischen Fehleinschätzung, die dem Volk und dem Land ganz unnötige materielle und ideelle Leiden enormen Ausmaßes aufluden. Das Ost-West-Kräfteverhältnis im Visier

Ausschlaggebend für die Situation und die Perspektiven der Ost-West-Konfrontation war eine richtige Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen

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denrivalisierenden Mächten. Die damals in der sowjetischen Praxis geübte Einschätzung gab eine falsche Vorstellung davon, wieweit die von der sowjetischen Führung gesteckten außenpolitischen Ziele in der globalen Auseinandersetzung mit dem Westen den realen materiellen Möglichkeiten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten entsprachen. Gewöhnlich gebrauchte man für diese Einschätzung die Begriffe „das Kräfteverhältnis zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus in der Weltarena" oder „das Verhältnis zwischen den Ländern von zwei sozio-politischen Systemen". Diese Begriffe waren Reste von Stalins Theorie über die „Reserven der Weltrevolution", die nach seiner Meinung die nationale Befreiungsbewegung in den Kolonien und die kommunistische und Arbeiterbewegung in den Metropolen bildeten. Hinzu kam die Bewegung für Frieden und Abrüstung in den westlichen Ländern, die teilweise aus Moskau gesteuert wurde. Es war nicht schwer, die Haltlosigkeit dieser irreführenden, für die Politik und die Strategie gefährlichen Methode bloßzulegen. Davon zeugt folgender Auszug aus der Studie: „Die sozio-politische Struktur der modernen Welt ist durch eine äußerst große Komplexität, die Farbigkeit und die Ungleichartigkeit gekennzeichnet. Im Rahmen beider Weltsysteme sind einige Machtzentren mit den sie bildenden Staatengruppen sowie Zwischenzonen entstanden. Der Übergang von der bipolaren Struktur zum multipolaren Modell wurde zu einer der Haupttendenzen der Weltentwicklung in der Nachkriegsperiode. Diese Tendenz bleibt offensichtlich in der Perspektive erhalten. Dabei kann man den Niedergang der Rolle einiger der existierenden und die Herausbildung neuer Machtzentren nicht ausschließen. Bei der Bewertung des Kräfteverhältnisses muß man davon ausgehen, daß die Auseinandersetzung von zwei Systemen in der internationalen Arena vor allem der Kampf zwischen den Staaten und deren Bündnissen ist, der Kampf, dessen Ausgang hauptsächlich durch den Einsatz der nationalen Ressourcen jeder Art entschieden wird. Zu den Faktoren, die bei der Einschätzung des Kräfteverhältnisses berücksichtigt werden müssen, gehören vor allem wirtschaftliche und militärische Potentiale der Seiten, die durch Natur- und Menschenressourcen abgesichert sind, das technologische Niveau der Produktion, der Grad der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung als Grundlage der sozial-politischen Stabilität. Durch den Vergleich dieser wichtigsten Parameter und durch die Bewertung ihres möglichen Wandels kann man auf weite Sicht die zu erwartende Dynamik des Wandels des Kräfteverhältnisses zwischen verschiedenen Zentren und Staaten zweier politischer Systeme feststellen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß es im Rahmen des sozialistischen Systems Kräfte gibt, die gegenüber WP-Ländern freundlich sind, Kräfte, die bedingt neutral genannt werden können (Jugoslawien, Nordkorea) und solche,

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die sich unfreundlich verhalten (China, Albanien). Die künftige Haltung Chinas scheint ziemlich unbestimmt zu sein. Aber es ist vollkommen klar, daß es auch weiterhin als selbständige Macht auftreten wird, die außerhalb der sozialistischen Gemeinschaft bleibt... Die multipolare Struktur der modernen Welt stellt die Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus ganz neu. Offensichtlich wäre es im Prinzip möglich, die Gesamtheit der Länder des sozialistisches Systems mit allen nichtsozialistischen Staaten unter militärischen, wirtschaftlichen und anderen Kriterien zu vergleichen. Aber die Ergebnisse solch eines Vergleichs der Systeme, die aus Machtzentren mit ganz unterschiedlichen Interessen bestehen, würden das reale Kräfteverhältnis kaum widerspiegeln. Eine bessere Vorstellung davon kann man erhalten, wenn man alle RGW-Länder (oder deren europäischen Teil) mit OECD-Ländern oder mit drei führenden westlichen Zentren (USA, EG, Japan) wirtschaftlich vergleicht. Im militärischen Bereich kommen dabei die WP-Länder und die NATO-Länder zusammen mit Japan und China in Betracht... Letztlich ist für die Klärung der Perspektiven einer Auseinandersetzung zwischen zwei Systemen der Vergleich der materiellen Ressourcen der WP-Staaten und der ihnen direkt oder indirekt widerstehenden Mächte ausschlaggebend. " 9 Wie sah dieser Vergleich damals aus? Einige grundlegende Angaben aus der Studie mögen dies erläutern: Gemessen an dem Bruttoinlandprodukt übertrafen die drei genannten Machtzentren des Westens die europäischen RGW-Länder Ende der 70er Jahre etwa um das dreifache, dabei die USA um das l,5fache, die EG-Länder um das l,2fache. Nach dem Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung waren die OECD-Länder den europäischen RGW-Staaten durchschnittlich um das 2fache, die USA sogar um das 3fache überlegen. Kennzeichnend für die materiellen Möglichkeiten der europäischen RGWLänder war ihr Anteil am Weltbruttoinlandsprodukt. Im Jahre 1980 verteilte es sich wie folgt: die Sowjetunion und europäische RGW-Länder 15,3 %, die OECD -Länder 65 %, darunter die USA 23 %, die EG 17 %, Japan 8 %. Besonders wichtig für den Vergleich der politischen Machtpotentiale war die technologische Stärke. Der Westen hatte technologisch einenriesigen Vorsprung. Die Studie stellte fest: „Obwohl es den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft gelang, faszinierende Erfolge zu erzielen und in einzelnen Sektoren der Wissenschaft und ihrer Anwendung (vor allem im militärischen Bereich und in der Luft- und Weltraumforschung) auf Weltniveau zu gelangen, bleibt der technologische ,Gap' zugunsten des Westens an vielen Arten der 9

Projekt „Stern", S. 19-21.

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Produktion bestehen. Zu Zeit entsprechen weniger als 1/5 aller in den RGWLändern erzeugten Maschinen und Ausrüstung dem Weltstandard. Unangemessen gering ist der Anteil der RGW-Länder an den Lieferungen von Ausrüstung und Anlagen auf den Weltmarkt. In den 70er Jahren ging er sichtbar zurück und betrug 1980 nur 2,3 %. Während die europäischen RGW-Länder in der Ausfuhr von Maschinen und Ausrüstung in den Westen Anfang dieses Jahrzehnts den Entwicklungsländern ungefähr um 15 % nachstanden, vergrößerte sich der Rückstand 1980 um das 4fache. Als direkte Folge des technologischen ,Gaps' und des überholten Wirtschaftsmechanismus, der den Bedürfnissen der weltweiten Wirtschaftsentwicklung nicht entsprach, entstand ein wesentlicher Rückstand der RGW-Länder gegenüber dem Westen in der Arbeitsproduktivität und der Effizienz der Produktion. So übertrafen die USA die europäischen RGW-Länder nach dieser Kennziffer um das 2,5fache, die EG-Staaten um das l,7fache. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre betrug der Gesamtverbrauch pro Kopf der Bevölkerung in der Sowjetunion nur 36 % des amerikanischen, darunter an Ernährungsmitteln 54 %, an Textilien 41 %, an Wahren von langer Nutzung 13 %, an Wohnfläche 20 %." 10 In der Studie wurde darauf hingewiesen, daß sich die wirtschaftliche und technologische Rückstand der Sowjetunion gegenüber westlichen Ländern künftig noch mehr vergrößern werde. Denn die Wachstumsraten der sowjetischen Produktion, besonders in zivilen Wirtschaftsbereichen, sanken von Jahr zu Jahr. In den 50er Jahren betrugen sie 9,5 %, in den 60er Jahren 6,7%, in den 70ern 4,5 %, Anfang der 80er Jahre schon etwa 3 %.11 Das war auch in anderen RGW-Ländern der Fall. In diesem Zusammenhang konstatierten wir: „Der Rückgang des Wirtschaftswachstums der RGW-Länder, der Verlust der Dynamik ihrer Wirtschaftsentwicklung, der von vielen Faktoren bedingt ist, wirkt sich nachteilig auf das Kräfteverhältnis zwischen ihnen und den westlichen Ländern aus. Besonders schwerwiegende Folgen solcher Entwicklung sind für die Zukunft zu erwarten." 12 Daraus ergab sich für den Leser der Studie, mit welch untauglichen und unzulänglichen Mitteln die sowjetische Führung ihre globale Politik betrieb. Das verletzte gefahrlich alle Normen der politischen Vernunft.

10

Projekt „Stern", S. 25-26. Ebenda, S. 140. Das waren offizielle statistische Angaben. Nach der Zählung einiger russischer Wirtschaftswissenschaftler sahen diese Daten anders aus: 19611965: 4,4 %, 1966-1970: 4,1 %, 1971-1975: 3,2 %, 1976-1980: 1,0 %, 1981-1985: 0,6 % (W. Seljunin / G. Kanin,. Lukawaja zifra. Nowj mir, 2/1987, S.94-95). 1 E b e n d a , S. 2 . 11

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Die unnötige Bürde der Konfrontation und der Hochrüstung

Die messianische Herrschaftspolitik der Sowjetunion, die zum Kalten Krieg und zum weltweiten Rüstungswettlauf führte, kostete der Menschheit enorme unproduktive Aufwendung von Ressourcen und finanziellen Mitteln. Von 1949 bis 1980 nahmen die militärischen Weltausgaben von 125 auf 560 Milliarden Dollar zu. Dies machte 6 % des Weltbruttoinlandproduktes aus. Zum Vergleich: in der Zwischenkriegszeit hat dieser Anteil 3 % nicht überstiegen. Dabei war das Welt-BIP damals deutlich niedriger als 1980. Seit 1980 ging die Kurve der militärischen Weltausgaben schroff nach oben. Im Jahre 1982 erreichten sie das Niveau von etwa 750 Milliarden Dollar, d.h. 7 % Zuwachs im Vergleich zur durchschnittlichen Wachstumsrate von 2 % in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Das hing unmittelbar mit der wachsenden sowjetischen Expansion in dieser Zeit zusammen. Von den globalen Militärausgaben entfielen 1979 auf die NATO etwa 43,0 % und auf den WP 26,4 %. Die finanzielle Last für die Sowjetunion war dabei unvergleichlich höher als die der USA. Der amerikanische Anteil an den Militärausgsben der NATO betrug 1982 54%, während sich der entsprechende Anteil der Sowjetunion im WP auf annähernd 90% belief. 13 Wie schwer die militärische Belastung der Sowjetunion 1982 war, zeigen die Angaben über die Anteile der Militärausgaben an dem Bruttoinlandprodukt. Für die Sowjetunion betrug dieser Anteil ungefähr 10-15 %, 14 für die USA dagegen 5,2 %, für England 4,9 %, für Frankreich 4,0 %, für die Bundesrepublik 3,3$ und für Japan weniger als 1 %. 15 Die vergleichende Analyse ließ keinen Zweifel daran, daß es für die sowjetische Führung keine Chance gab, die Auseinandersetzung mit dem Westen längere Zeit durchzustehen, und daß es dringend notwendig war, einen annehmbaren Ausweg aus dieser verzweifelten Lage, in die das Land gestürzt wurde, zu finden. 16 Jahrzehntelang versuchten die sowjetischen Herrscher, dieses Problem nur im militärischen Bereich durch die Abrüstungsgespräche

13

Ebenda, S. 31-32. Dieser Anteil wurde in der Studie zu niedrig bewertet. In dem zitierten Buch von Michail Gorbatschow über das neue Denken werden andere Zahlen genannt: 25 bis 30%. 14

15

Ebenda, S. 32-33. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Zusammenhalt und die Erweiterung der „Sphäre des Sozialismus" der Sowjetunion auch im nichtmilitärischen Bereich nach Schätzungen meines Instituts enorme finanzielle Mittel und Ressourcen kosteten: zum Beispiel die DDR etwa 3 Milliarden, Kuba 4 Müliarden, Vietnam 2,5 Milliarden jährlich. Die Lieferungen der Waffen an die Länder der Dritten Welt verschlangen jedes Jahr Dutzende von Milliarden Dollar. 16

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und Vereinbarungen mit den USA und ihren Partnern zu lösen. Das brachte einige Teilerfolge und Erleichterungen durch Rüstungsbeschränkungen. Aber der irrsinnige militärische Wettlauf setzte sich fort. Neues Herangehen an die Probleme der Abrüstung

Die Studie „Stern-4" unterbreitete eine Reihe neuer unkonventioneller Ratschläge und Konzepte zur Abrüstung. Unter anderem wurde darauf hingewiesen: „Eine radikale Reduzierung der militärischen Konfrontation und einen Abbau des Wettrüstens kann man nur durch den Ausgleich der fundamentalen politischen Interessen im Verhältnis der Länder der NATO und des WP erzielen. Das bedeutet aber durchaus nicht, daß Ost-West-Verhandlungen zwecks der Schließung von Abkommen in Teilbereichen der Abrüstung selbst bei fehlender Ausgeglichenheit der gegenseitigen politischen Interessen auszuschließen sind [...] In der gegenwärtigen riskanten Lage treten Maßnahmen zwischen der NATO und dem WP zur Verhinderung und zur Vorbeugung eines Überraschungsangriffs, der Entstehung von Konfliktsituationen bis hin zum Krieg, besonders durch Zufall oder durch Fehlkalkulation, aus menschlichem Versagen oder einer unkontrollierbaren Entwicklung der Situation in den Vordergrund unserer möglichen Initiative. Eine dieser Maßnahmen könnte die Schaffung einer ständigen Kontaktgruppe der Stäbe und der Sekretariate des WP und der NATO sein. Diese Kontaktgruppe wäre berufen, laufende Fragen der Sicherheit beider Bündnisse operativ zu lösen, nötigenfalls Experten in etwaigen Fällen zu berufen sowie die Stellungnahme der Seiten und gemeinsames Handeln abzustimmen, um die gegenseitige Sicherheit zu stärken und die entstehenden Streitfragen zu schlichten. Allein die Tatsache der Schaffung einer solchen Gruppe trüge wesentlich zur Steigerung des Vertrauens und der Berechenbarkeit in den Beziehungen der Länder der NATO und des WP bei. Dies könnte den Boden für breitere und detaillierte Abkommen zwischen den Bündnissen über die gegenseitige Sicherheit allmählich vorbereiten." 17 Unter anderen denkbaren Maßnahmen in dieser Richtung nannte die Studie: - die weitere Präzisierung der Bedingungen und Forderungen für Abkommen zwischen der NATO und dem WP über den gegenseitigen Nichtangriff, die Nichtanwendung der Gewalt gegeneinander und gegen die Drittländer, und zwar gegen die Nichtpaktgebundene (das bezog sich vor allem auf die Länder der Dritten Welt);

17

Ebenda, S. 172.

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- die weitere Ausarbeitung der gegenseitigen Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens (Ankündigung von Manövern und Übungen, Truppen- und Waffenverschiebungen, Austausch von Beobachtern bei militärischen Übungen, Austausch von Militärdeligationen, Verbesserung der Bedingungen für die Inspektionen vor Ort usw.); - die Ausarbeitung und die Anwendung gemeinsamer Maßnahmen zur Vorbeugung gefahrlicher Zwischenfälle, falscher Alarme und fehlerhafter Signale für die Militärstrukturen; - die Schaffung eines „heißen Drahts" unmittelbar zwischen den Oberbefehlshabern und Stabschefs der NATO und des WP. Für 1982 und 1983, als die Ost-West-Spannung noch im Zenit stand und die sowjetische Führung die NATO als Sinnbild der größten Gefahr für Sowjetrußland und seine Verbündeten deutete, sahen diese Vorschläge geradezu „revolutionär" aus. Erst in der Umbruchszeit von Gorbatschow hat man ihre dringende Notwendigkeit endlich anerkannt und sich zu eigen gemacht. Zum ersten Mal wurden in der Studie dar Irrtum und der Schaden der Doktrin der „strategischen Parität" für die Sowjetunion vor Augen geführt. Diese Lieblingsdoktrin Breshnews, der immer zu scheinheiligen „Erfolgen" und hohlen Demonstrationseffekten neigte, hat die sowjetische Propaganda so hingestellt, als ob sie die größte außenpolitische Leistung der Parteiführung und ein Beweis für unerschöpfliche Möglichkeiten der Sowjetunion sei, die im Rüstungswettlauf mit dem Westen ohne weiteres gleichziehen könne. In Wirklichkeit ließ sie das Land unter ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen und Kräfteverhältnissen in einen hoffnungslosen Zermürbungskrieg mit den USA und ihren Verbündeten hineingleiten. Durch Steigerung der Rüstung, insbesondere im Bereich neuer Technologien für die Angriffs- und Verteidigungswaffen sowie für die Raketenabwehr, konnten die USA die Sowjetunion in altbewährter Zermürbungsstrategie ausbluten und sich „totrüsten" lassen. Die Studie empfahl, statt der Doktrin der „strategischen Parität" das „Konzept der Hinlänglichkeit" anzunehmen, was erlauben könnte, die Stärke und die Qualität der Streitkräfte der WP-Länder mit den Erfordernissen ihrer militärischen und politischen Sicherheit in Einklang zu bringen, ihre Wirtschaft zu entlasten und so den USA und der NATO die Möglichkeit zu nehmen, der Sowjetunion ihren Willen aufzuzwingen. 18 Der Übergang der sowjetischen Führung zum „Konzept der Hinlänglichkeit" hätte größere Chancen geschaffen, die Abrüstungs- und Sicherheitsverhandlungen aus der Sackgasse herauszuführen, in der sie jahrzehntelang steckten. Der Versuch, das Problem der Abrüstung in Europa radikal zu lösen, scheiterte nicht nur an politisch-ideologischen Hindernissen, sondern 1

Ebenda, S 1 7 .

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auch an der mehrfachen Überlegenheit des Warschauer Paktes an Landstreitkräften. Dies war den Fachleuten ganz klar. Aber sowjetische Führung wollte es nicht zugestehen. Deswegen waren die meisten sowjetischen Vorschläge zur Verminderung der militärischen Gefahr und zur Stärkung der Sicherheit in Europa - wie zum Beispiel der Abzug der taktischen und Mittelstreckenraketen vom Kontinent, der Verzicht auf den nuklearen Erstschlag, die Schaffung von atomfreien Zonen usw. - im Wesentlichen Propaganda. Der Westen setzte der Überlegenheit der Sowjetunion an konventionellen Streitkräften nukleare Waffen entgegen. Damit war es aussichtslos, in der Abrüstung zu einem radikalen Durchbruch zu kommen. Das schadete nicht nur den Interessen des Friedens und der Sicherheit in Europa, sondern den vitalen Interessen und Bedürfnissen der Sowjetunion. Wozu brauchte sie eine mehrfache Überlegenheit an konventionellen Kräften? Konnte sie sich nicht mit dem Gleichgewicht begnügen, das ohnehin für ihre Wirtschaft eine enorme Belastung war? In diesem Zusammenhang hob die Studie hervor: „Bestimmte Voraussetzungen für die Schaffung solcher Gleichheit wurden schon bei den Wiener Verhandlungen behandelt. Deswegen braucht man nicht bei Null zu beginnen. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß in der NATO in den letzten Jahren die Tendenz wuchs, die konventionellen Truppen des Bündnisses so zu verstärken, daß sie fähig wären, sowohl Verteidigungs- als auch Offensivaufgaben mit großangelegten Zielen zu erfüllen... Für eine starke konventionelle Verteidigung plädierte mehrfach die Eurogruppe der NATO, die Führung der Bundeswehr und das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik Deutschland sowie militärische Kreise anderer NATO-Länder. Auch der »RogersPlan4 geht in diese Richtung, also kann diese Idee auch für Washington im Laufe der Zeit große Anziehungskraft gewinnen, denn ihre Realisierung würde erlauben, die Militärausgaben auf die Europäer verstärkt abzuwälzen und zugleich die ,Schwelle der Sicherheit4 der USA zu erhöhen. Die europäischen Länder könnten um den Preis der Erhöhung ihres personellen und finanziellen Beitrags zur NATO, der für die Verstärkung der konventionellen Truppen notwendig ist, eine größere Sicherheit vor der nuklearen Kriegsgefahr erreichen. In diesem Fall könnten erhöhte Militärausgaben die vitalen Interessen der westeuropäischen Länder voll rechtfertigen. Unter Berücksichtigung all dessen hat eine neue Initiative der WP-Staaten über die Realisierung der ,Nullvariante4 in der nuklearen Abrüstung in Europa, die im untrennbaren Zusammenhang mit dem Gleichgewicht der konventionellen Kräfte hinsichtlich der Personal- und Waffenstärke steht, mehr Chancen. Sie kann mit Unterstützung in NATO-Kreisen und mit einer günstigen Reaktion in der Öffentlichkeit Westeuropas rechnen... Dieser Vorschlag würde bei positiver Aufnahme im Westen anderen Seite erlauben, die militärische Konfrontation zwischen den Großmächten zu mindern und das Vertrauen in Europa zu stärken, vor allem aber den Abzug der amerikanischen Mittelstreckenraketen vom

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europäischen Kontinent zu begünstigen ... Das Vorangehen in dieser, wie es scheint, zentralen Richtung der Minderung der militärischen Spannung zwischen Ost und West würde die Suche nach den gemeinsamen Lösungen im Bereich der Beschränkung und Reduzierung der strategischen Rüstung der USA und der Sowjetunion erleichtern. Ferner ist zu hoffen, daß so andere nukleare Mächte und Regionen allmählich in die Prozesse der nuklearen Abrüstung hineingezogen würden." 19 Diese Vorschläge stießen bei der damaligen sowjetischen Führung auf taube Ohren. Erst in der Gorbatschow-Ära wurden die realen Daten über die unnötige mehrfache Überlegenheit der konventionellen Streitkräfte des WP, besonders an Panzern, bekannt. Diese Überlegenheit drückte wie Blei auf die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft. Sie hatte einmal Sinn für die Sowjetunion in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als Stalin versuchte, der atomaren Macht der USA riesige Landstreitkräfte entgegenzustellen. Bis 1950 hielt er mehr als 8 Millionen Mann unter der Waffe. In den 70er und 80er Jahren, als zwischen dem Westen und der Sowjetunion ein relatives Gleichgewicht an nuklearen Waffen hergestellt worden war und der Krieg seine Bedeutung als rationales Mittel der Erreichung politischer Ziele verloren hatte, änderte sich die Funktion der Landstreitkräfte gründlich. Die damalige Kremlführung wollte das nicht einsehen und tat nichts, um das Land von der Last der irreal großen Landstreitkräfte zu befreien. Die ausschlaggebende Bedeutung des politischen Ausgleichs

Im Projekt „Stern-4" wurden vor allem die politischen Grundlagen der Außenpolitik der sowjetischen Führung kritisch untersucht. „Die Sphäre der politischen Beziehungen ist für die Gestaltung des gesamten Komplexes des Verhältnisses zwischen den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft und den Staaten des kapitalistischen Westens ausschlaggebend. Davon, wie es um die politischen Ost-West-Beziehungen steht, hängen Krieg und Frieden, die Möglichkeiten der Abrüstung, die Bedingungen der Wirtschaftsbeziehungen u.a. ab. Denn der Krieg, das Wettrüsten und alle Arten des Druckes - im militärischen, wirtschaftlichen, technologischen, außenpolitischen, propagandistisch-psychologischen Bereich - sind die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie sind Folgen und Resultate der Austragung der politischen Gegensätze. Für die Lösung fundamentaler Probleme der Beziehungen der Staaten zweier Systeme - der Beseitigung der Gefahr eines nuklearen Krieges, der Rüstungsbegrenzung, der Sicherstellung stabiler Grundlagen der friedlichen Koexistenz - ist es vor allem erforderlich, politische Ursachen dieser Erscheinungen zu beseitigen, d.h. Wege zu finden, um die Gegensätze und 19

Ebenda, S. 175-177.

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Widersprüche überwinden und vernünftige politische Kompromisse schließen zu können. " 2 0 Aber was erforderte der Ausgleich der politischen Interessen? Wie konnte er realisiert werden? Was konnte damals den Westen bewegen, sich von der Konfrontation abzukehren? Wo lagen die Grenzen des politischen Ausgleichs für die sowjetische Führung und fiir die NATO-Länder? Das waren entscheidende Fragen, die auf ihre Lösung warteten. Um die Voraussetzungen für den politischen Ausgleich zu schaffen, war es vor allem notwendig, die Theorie des Klassenkampfes, die der sowjetischen messianischen Expansion als Rechtfertigung diente, ihres Nimbus zu berauben. In der Studie wurde davon ausgegangen, daß im Atomzeitalter das Dogma vom Klassenkampf in der Außenpolitik zu einer gefahrlichen Perversion führte, die die Existenz der Menschheit bedrohte.21 Um diese These zu bekräftigen und für die Parteiführung überzeugender zu machen, wurde, wie gewöhnlich in solchen Fällen, auf Lenin verwiesen, der hervorgehoben hatte, daß „die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung über den Interessen des Proletariats stehen."22 Diese pragmatische Kritik wurde zum Auftakt einer späteren Entideologisierung der sowjetischen Außenpolitik. Sie führte zur Anerkennung der in der internationalen Gemeinschaft geltenden völkerrechtlichen und moralischen Grundwerte. Die Studie plädierte dafür, seitens der Sowjetunion den Charakter, die Methoden, die Maßstäbe und die Ausrichtung der außenpolitischen Auseinandersetzung mit den Grundforderungen unserer Zeit in Einklang zu bringen, und zwar mit der Vorbeugung einer nuklearen Katastrophe und der Sicherstellung der stabilen Grundlagen der friedlichen Koexistenz und der Zusammenarbeit der Länder zweier Systeme.23 Das bedeutete konkret die Neubewertung der Grundlagen, des Inhalts, der Ziele der sowjetischen Außenpolitik und ihre Einordnung in den Rahmen des anerkannten internationalen Völkerrechts. Es war auch wichtig, mit der veralteten außenpolitischen Praxis von Stalin und seiner Nachfolger aufzuräumen, „Gegensätze zwischen den Imperialisten zu schüren und auszuspielen", und zu einer verantwortungsvollen und kooperativen friedens- und sicherheitsstiftenden Politik überzugehen. „Die größten Chancen in der gegenwärtigen Situation", so die Studie, „verheißt nicht das Ausspielen der Gegensätze zwischen den USA und Westeuropa, überhaupt zwischen den westlichen Ländern, sondern reale Initiativen und konkrete 20 21 22 23

Ebenda, S. Ebenda, S. W. Lenin, Ebenda, S.

4 Festschrift Hacker

159-160. 169-170. Bd. 4, S. 220. 160-161.

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Schritte, die im Westen vitales Interesse für die Wiederaufnahme der allseitigen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen Ländern der Gemeinschaft erwecken könnten."24 Ein Ausgleich der politischen Interessen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten hing von vielen objektiven und subjektiven Faktoren ab. Unter ihnen wurden in der Studie genannt: - die Ziele und Prioritäten der Außenpolitik und der Charakter ihrer Realisierung; - die enge Verbundenheit der Außenpolitik mit der inneren Entwicklung (sozio-politische Gesellschaftsordnung, die Rolle der regierenden Eliten, die Besonderheiten ihrer Führung, das Gewicht der nationalen Traditionen und ihrer Entwicklung, die politische Kultur, der Zustand der Wirtschaft, die natürlichen Ressourcen, der Charakter der außenpolitischen Beschlußfassung usw.); - der Einfluß der Ideologie; - die Bündnisbeziehungen mit ihren Verpflichtungen; - der Einfluß der Handlungen in der Region der Entwicklungsländer auf die Ost-West-Beziehungen; - die Einwirkung der globalen Probleme; - die Bedeutung des internationalen und innenpolitischen Ansehens. Wie konnte man diese auf den ersten Blick so unvereinbaren Faktoren auf einen für die NATO- und WP-Länder gemeinsamen Nenner bringen? Man mußte vor allem die wichtigsten Aspekte der Wechselbeziehungen vor Augen haben. In der Perspektive der 80er Jahre haben sich aus der Sicht der Studie folgende Richtungslinien angedeutet: - der Verzicht auf Gewaltanwendung; - die Achtung der gegenseitigen national-staatlichen Interessen; - die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und in die inneren Angelegenheiten der Drittländer; - die Nichtanwendung von Gewalt gegen Drittländer, sei es in den bilateralen Bündnisbeziehungen in der NATO oder im WP sowie Nichtpaktgebundene und Neutrale; - der Verzicht auf einseitige Vorteile; - die Nichtbeeinträchtigung gegenseitiger Interessen; Ebenda, S. 157.

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- die Gewährleistung der gleichen Sicherheit; - die Zurückhaltung in der Außenpolitik; - eine rasche Beseitigung der internationalen Konfliktsituationen, wo immer sie auch entstehen; - ständige politische Konsultationen. Die Anerkennung und die Einhaltung dieser Prinzipien im internationalen Geschehen konnten zur Wiederaufnahme der Entspannungspolitik auf beiden Seiten und zur allmählichen Wiederherstellung des Vertrauens in den OstWest-Beziehungen führen. Von besonderer Bedeutung war die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Drittländer und die Nichtanwendung der Gewalt innerhalb der beiden Bündnisse. Das berührte in der Außenpolitik der Sowjetunion unmittelbar die „Breshnew-Doktrin". Zusammenfassend stellte die Studie die Frage: „Inwieweit kann damit gerechnet werden, daß die regierenden Kreise der USA und der westeuropäischen Länder auf die Anerkennung dieser Prinzipien, auf ihre Einhaltung und auf eine gründliche Ausbalancierung der politischen Interessen mit den WPLändern eingehen?" Die Antwort lautete: „In der gegenwärtigen Situation kann man seitens der USA eine Lösung der grundlegenden Probleme der OstWest-Wechselbeziehungen auf der Grundlage des internationalen politischen Status quo nach dem Stand der 70er Jahre nicht erwarten. Die Einstellung der westeuropäischen Verbündeten der USA zu dieser Frage kann nicht so kompromißlos sein, obwohl auch sie als Vorbedingung zur Wiederherstellung normaler Beziehungen mit der Sowjetunion und anderen WP-Staaten eine Reihe von politischen und militärischen Forderungen stellen ... Wenn es gelingt, neue Kompromisse zwischen den Ländern der NATO und des WP unter Berücksichtigung der oben angeführten international anerkannten Verhaltensregeln zu finden, besonders gegenüber der Dritten Welt, kann man langfristig auf die Schaffung stabilerer Grundlagen einer friedlichen Koexistenz und auf die Rückkehr zu einer neuen Phase dauerhafterer Entspannungspolitik hoffen." 25 Unmißverständlich wurde also darauf hingewiesen, daß ein Ende der OstWest-Konfrontation und der Hochrüstung nicht möglich war, solange die von Stalin nach dem zweiten Weltkrieg gewaltsam erzwungene Ordnung in Europa existiert. Diese Ordnung war vor allem durch die Spaltung des Kontinents und Deutschlands unter sowjetischer Vorherrschaft in Osteuropa bestimmt. Wie konnte man diesen Zustand überwinden? Anfang 1980 schien das auf weite Sicht nicht möglich. Damals kam es lediglich darauf an, die feindseligen OstWest-Beziehungen zu entschärfen und zu einer neuen Etappe der Detente 25

4*

Ebenda, S. 168-169.

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überzugehen. Aus meiner Sicht mußte nach Lösungen gesucht werden, wie die fundamentalen politischen Interessen der Länder Europas ausgeglichen werden konnten, um den Kalten Krieg zu beenden. Das Endergebnis der Studie paßte kaum in die gewohnte Wahrnehmung der Parteioligarchen. Es wurde mit vielen neuen Ideen versehen, die ich schon 1982 in meinen Gutachten an Andropow dargelegt hatte. Unsere deutschen Kollegen brachten ihre Besorgnis zum Ausdruck, die Honnecker-Führung werde die Studie in der vorgeschlagenen Fassung nicht akzeptieren und kaum jemand würde wagen, dem Sekretariat des ZK der SED das Dokument zu unterbreiten. Darauf wurde ein Verfahren angeboten und angenommen: jede nationale Forschergruppe erstellt auf Grund der gemeinsamen Studie ihre eigene Zusammenfassung und legt sie ihrer Führung vor. Die Studie selbst könne aber als Arbeitsmaterial für ZK-Mitarbeiter dienen. Bei den Hardlinern im ZK der KPdSU rief das Projekt „Stern-4" einen starken Unmut hervor, besonders bei dem Sekretär des ZK und dem Chef der Abteilung „Sozialistische Länder" Konstantin Russakow, der zu den engsten Gefährten von Breshnew gehörte. Das führte letzten Endes zur Auflösung des internationalen Forscherteams und zum Untergang des „Sterns" in der dunklen Ära Tschernenkos, die die kurze Vorreformzeit des Neubesinnens und der wagen Erneuerung unter Andropow ablöste. Zweifelsohne hinterließ die Studie eine tiefe Spur im Bewußtsein derer, die sich mit ihr vertraut machten. Sogar aus dem sowjetischen Verteidigungsministerium erreichten mich positive Urteile von denjenigen, die die Dinge richtig auffassen und begreifen konnten. Im Laufe der Perestroika von Gorbatschow wurden viele Ideen aus dem Gedankengut des Projekts „Stern" in die Praxis umgesetzt.

Zur Perversion der Menschenrechte in der ehemaligen DDR Ein Nachtrag

Von Siegfried Mampel Die Verletzung der Menschenrechte in der ehemaligen DDR ist eine Tatsache, die nicht einmal von den Ewiggestrigen im Osten Deutschlands und anderswo geleugnet wird. Dieser Sachverhalt bestand auch fort, nachdem die DDR die Internationale Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische Rechte (IPBPR)1 ratifiziert 2 und auch deren Inkrafttreten am 3. Januar 1976 verkündet hatte3. Ebenso blieb im wesentlichen ohne Folgen, daß die ehemalige DDR als gleichberechtigter Partner schon an der Vorbereitung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ab 1972 teilgenommen4 und ebenso wie alle anderen Teilnehmerstaaten in Ziffer VII des Prinzipienkatalogs der am 1. August 1975 unterzeichneten Schlußakte der KSZE5 versprochen hatte, daß sie auf dem Gebiete der Menschenrechte 1 Das Vertragswerk, dessen chinesischer, englischer, französischer, russischer und spanischer Text gleichermaßen authentisch ist, wird in englischer Sprache „International Covenant on Civü and Political Rights44 bezeichnet. In der Bundesrepublik Deutschland lautet der amtliche Sprachgebrauch „Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte44, abgekürzt IPBPR. Umgangssprachlich wird aber auch statt „Pakt44 „Konvention44 gesetzt. (Dazu: Gottfried Zieger, Die Konvention der UN über die zivilen und politischen Rechte, in: Zieger / Brunner / Mampel / Ermacora, Die Ausübung staatlicher Gewalt in Ost und West nach Inkrafttreten der UN-Konvention über zivile und politische Rechte, Band 6 der von der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission hrsg. Reihe „Rechtsstaat in der Bewährung 44, Heidelberg / Karlsruhe 1978, S. 13 ff., hier S. 21). In der ehemaligen DDR dagegen lautete die Übersetzung, wie im Text angegeben. Der Begriff „Civil Rights44 wird mit „zivile Rechte44 wiedergegeben, da „bürgerlich 44 mit „bourgeois44 gleichgesetzt war und daher nach kommunistischem Sprachgebrauch die Zugehörigkeit zu einer Ausbeuterklasse bedeutet. 2

Bekanntmachung über die Ratifikation der Internationalen Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivüe und politische Rechte vom 14. Januar 1974 (Gbl./DDR II, S. 57). 3 Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Internationalen Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische Rechte vom 1. März 1976 (GBl./DDR II, S. 108). 4 Peter Jochen Winters , Die Außenpolitik der DDR, in: Handbuch der deutschen Außenpolitik, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, München / Zürich 1975, S. 809.

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und Grundfreiheiten in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln und ihre Verpflichtungen erfüllen wolle, wie diese in den internationalen Erklärungen festgelegt sind. Über den Umgang der ehemaligen DDR mit diesen Verpflichtungen ist im Westen Deutschlands bereits wissenschaftlich publiziert worden, und der Deutsche Bundestag hatte sich damit beschäftigt. Die Öffnung der Archive der untergegangenen DDR machte es möglich, die damaligen Betrachtungen und Analysen durch bisher geheimgehaltene Unterlagen aus dem Osten Deutschlands zu ergänzen. Es geht dabei vor allem um die innerstaatliche Wirksamkeit der eingegangenen Verpflichtungen aus dem IPBPR und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die judizielle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Der Jubilar, der sich stets als ein unbeugsamer Verfechter der Totalitarismuskonzeption und damit Verteidiger der Menschenrechte sowie als Kenner internationaler Beziehungen erwiesen hat, kann wohl nicht besser als durch einen Nachtrag zu den Erkenntnissen und deren gleichzeitiger Auffrischung geehrt werden. So soll gleichzeitig ein Betrag zur Aufarbeitung der Geschichte Deutschlands während seiner Spaltung geleistet werden. In der ehemaligen DDR war Rechtsgrundlage der Ratifikation des IPBPR die zur Zeit seiner Ratifizierung geltenden Erlasse des Staatsrates vom 30. Januar 19616. Die völkerrechtliche Bindung an ihn wurde niemals bestritten. Bereits vor dem Inkraftreten des IPBPR hatte die DDR am 12. November 1973, also kurz nach der Ratifikation durch sie, einen Report über die „Verwirklichung der Konvention über zivile und politische Rechte" für den Zeitraum von Juni 1968 bis Juni 1971 an die UNO gegeben. Am 11. Dezember 1973 schrieb der stellvertretende Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Ewald Moldt, an den Staatssekretär im Ministerium der Justiz, Dr. Hans, dieser sei „dort mit Interesse aufgenommen worden". 7 5 Hans Georg Lehmann, Deutschland-Chronik 1945-1992, in: Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 332, Bonn 1995, S. 247; Text veröffentlicht auch als Seminarmaterial des Gesamtdeutschen Instituts - Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben. 6 Erlaß des Staatsrats der DDR über den Abschluß und die Kündigung von internationalen Verträgen der DDR vom 30. Januar 1961 (GBl./DDR I S. 5). 7 BArchPDP 1 SE 1506. Den Hinweis auf die hier interessierenden Akten des Ministeriums für Justiz der ehemaligen DDR verdanke ich der Schrift von Roland Braukmann, Amnesty international als Feindobjekt der DDR, Band 3 der Schriftenreihe des Landesbeauftragten Berlin für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin 1996. Sie wurden durch eigene Einsichtnahme bestätigt und dabei ergänzendes Material gefunden.

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Die DDR hatte an den Arbeiten des nach Teil IV IPBPR gebildeten Menschenrechtskomitees teilgenommen. So hatte sie diesem dreimal über den Generalsekretär der UNO (1978/88, 1984 und 1988) Berichte gemäß Art. 40 IPBPR über die von ihr getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der im IPBPR anerkannten Rechte und über den bei der Wahrnehmung jener Rechte erzielten Fortschritt diesem übermittelt. Der aus der ehemaligen DDR stammende Völkerrechtler Bernhard Graefrath war von 1977 bis 1986 „in seiner persönlichen Eigenschaft" und „mit hohem moralischen Wert und anerkannter Kompetenz auf dem Gebiet der Menschenrechte" (Art. 28 Abs. 2 und 3 IPBPR) auf Vorschlag der DDR gewähltes Mitglied des Menschenrechtskomitees (Art. 29 IPBPR). Ob die Ratifikation des IPBPR durch den Vorsitzenden des Staatsrates auch dessen Transformation in innerstaatliches Recht bewirkte, ist strittig. In der ehemaligen DDR wurde sie offiziell verneint.8 In der alten Bundesrepublik war die Meinung geteilt.9 Der Verfasser dieses Beitrages hält an seiner Meinung fest, daß der IPBPR durch die Ratifikation durch den Vorsitzenden des Staatsrates in innerstaatliches Recht transformiert worden war. 10 Er konnte sich dabei auf eine Stimme aus der DDR berufen. In der vor allem für die Verbreitung im Ausland bestimmten DDR-Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik" hieß es 1976 im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des IPBPR, damit sei eine breite Palette von für den Menschen unabdingbarer Rechte und Pflichten aus dem Stadium unverbindlicher Erklärungen in konkrete Verpflichtungen der Vertragsparteien untereinander sowie gegenüber ihren Bürgern (Hervorhebung durch den Verf.) überführt worden.11 Nach Art. 2 Abs. 2 IPBPR ist jeder Teilnehmerstaat verpflichtet, „im Einklang mit den in seiner Verfassung vorgesehenen Verfahren und den Bestimmungen dieser Konvention die notwendigen Schritte zu unternehmen, um solche gesetzgeberischen und andere Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um den in dieser Konvention anerkannten Rechten Wirksamkeit zu ver8

Z. B. Erich Buchholz / Günther Weiland, Der Fall Weinhold - eine Kette von Rechtsbrüchen der BRD-Justiz, in: Neue Justiz 1977, S. 22; Bernhard Graefrath, Zu internationalen Aspekten der Menschenrechtskonvention, Neue Justiz 1978, S. 319 ff., hier S. 331. 9 So hatte Herwig Koggemann (Grenzübertritt und Strafrechtsanwendung in beiden deutschen Staaten, Zeitschrift für Rechtspolitik, 1977, S. 243 ff., hier S. 247) die innerstaatliche Wirksamkeit verneint. 10 Siegfried Mampel, Bemerkungen zum Bericht der DDR an das Menschenrechtskomittee der Vereinten Nationen, in: Recht in Ost und West (ROW) 4/1978, S. 149 ff.; ders., Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1982, Art. 19, Rz 42/43 = 3. Auflage Goldbach 1977. 11 Hans Gruber, Zum U NO-Menschenrechts tag 1976, in: Deutsche Außenpolitik 1976, S. 1801 ff., hierS. 1811 f.

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leihen". Das ist nicht erforderlich, „wo dies nicht durch die bereits getroffenen gesetzgeberischen Maßnahmen vorgesehen ist". Die Verfassung der ehemaligen DDR in der vor dem 7. Oktober 1974 geltenden Fassung12 bestimmte zur Zeit der Ratifizierung des IPBPR in Art. 66 Abs. 1 Sätze 2 und 3, daß der Staatsrat über den Abschluß von Staatsverträgen zu entscheiden hatte und sie vom Vorsitzenden des Staatsrats zu ratifizieren waren. Der Schwerpunkt der auswärtigen Gewalt lag also beim Staatsrat und dessen Vorsitzenden,13 im Gegensatz zur Rechtslage nach der Novelle von 1974, von der ab dem Staatsrat und seinem Vorsitzenden nur noch „ein gewisser Anteil" an der Ausübung der auswärtigen Gewalt geblieben war. Nicht geändert hatte sich allerdings, daß der Staatsrat in der totalitären SEDDiktatur unter der Suprematie der SED14 stand, was bereits vor 1968 der Fall gewesen war. 15 Die Volkskammer war nach dem durch die Novelle von 1974 unveränderten Art. 51 nur insoweit an der auswärtigen Gewalt beteiligt, als sie Staatsverträge und andere völkerrechtliche Verträge zu bestätigen hatte, „soweit durch sie Gesetze der Volkskammer geändert" wurden. Anders wurde aber die Stellung des Staatsrates; denn nach Art. 66 Abs. 1 S. 1 n. F. nahm der Staatsrat als Organ der Volkskammer nur noch die Aufgaben war, die ihm durch die Verfassung und die Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer übertragen waren. Dazu gehörte auch die Ratifizierung von Staatsverträgen und anderen völkerrechtlichen Verträgen, für die sie vorgesehen war (Art. 66 Abs. 2 Satz 2 n. F.).

12 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1978 (GBl./DDR I S. 199); mit dem Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl./DDR I S. 425) wurde diese revidiert und die Verfassung in der revidierten Fassung verkündet (GBL/DDR 1974 I S. 432). 13 Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, 1. Aufl. Frankfurt am Main 1972, Art. 66 Erl. 3 (S. 906). 14 Der Begriff wurde eingeführt, um zu verdeutlichen, daß die SED herrschte und nicht führte, wie es nach Art. 1 DDR-Verfassung von 1968/1972 bis zum Gesetz über die Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 1. Dezember 1989 (GBl./DDR I S. 265) zu sein schien. „Der Begriff meint die Stellung der kommunistischen Partei im autokratisch-totalitären Herrschaftssystem... 44 Aus heutiger Sicht hieße es treffender „bürokratisch-totalitäres Herrschaftssystem"; ihr Kennzeichen ist vor allem die Begründung eines Machtmonopols für die kommunistische Partei unter Ausschaltung der Konkurrenz aller anderen politischen Kräfte. Siehe: Siegfried Mampel, Herrschaftssystem und Verfassungsstruktur in Mitteldeutschland. Bd. V in der Reihe „Abhandlungen zum Ostrecht", Köln 1978, S. 71. 15 Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (Anm. 13), Art. 66, Rz. 42.

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An der Notwendigkeit der Transformation für die Wirksamkeit des Vertragsvölkerrecht für den innerstaatlichen Bereich wurde auch in der DDR festgehalten.16 Strittig war, ob diese Transformation allein der Volkskammer vorbehalten war. Es ist weiterhin die Ansicht zu vertreten, daß Art. 66 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von 1968 in der Fassung vor der Novelle 1974 und die daraus folgende Praxis den Ausschlag gab. Danach hatte der Staatsrat als Organ der Volkskammer zwischen deren Tagungen alle grundsätzlichen Aufgaben wahrzunehmen, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergaben. Der Staatsrat handelte für die Volkskammer. Er war ihr Substitut ohne Beschränkungen, auch was internationale Verträge angeht. Dafür ist der Beweis schon früher erbracht worden.17 Nunmehr konnte ein neuer Nachweis für die geschilderte Staatspraxis der DDR entdeckt werden, der sich auch für einen kritischen Beobachter im Rahmen der Verfassung hielt. Er ist so evident, daß nur zu bedauern ist, daß er bisher auch dem Verfasser dieses Beitrags entgangen war und erst bei den Vorarbeiten dazu gefunden wurde. Es handelt sich dabei um die Staatsverträge, die die DDR mit anderen Ostblockstaaten zur Regelung von Fragen einer doppelten Staatsangehörigkeit abgeschlossen hatte. Der erste derartige Vertrag kam mit der damaligen UdSSR zustande. Er war am 11. April 1969 in Ost-Berlin abgeschlossen worden. Durch Gesetz der Volkskammer wurde er am 24. September 1969 bestätigt. 18 Diese Bestätigung war nach Art. 51 der Verfassung geboten. Denn er griff in das Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsbürgerschaftsgesetz) vom 20. Februar 196719 ein. Es war nämlich insofern eine lex specialis zu diesem, weil das Staatsbürgerschaftsgesetz den Verlust der Staatsbürgerschaft nur durch Entlassung, Widerruf der Verleihung und Aberkennung kannte. Der Vertrag mit der UdSSR sah aber auch den Verlust der Staatsbürgerschaft durch Option zugunsten der Staatsbürgerschaft der UdSSR oder im Falle der Nichtausübung der Option bei Wohnsitz in der UdSSR und bei Wohnsitz in dritten Staaten auf Grund des Wohnsitzes in der UdSSR vor der Ausreise nach Fristablauf vor. 20 Einige Monate später, nämlich am 17. Dezember 1969, hatte die DDR einen entsprechenden Vertrag mit Ungarn abgeschlossen. Dieser entsprach im wesentlichen

16 Johannes Kirsten, Zum Problem der Transformation sozialistischer völkerrechtlicher Normen, Staat und Recht 1970, S. 1992 ff., hier S. 1998 f. 17 Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 16), Art. 51, Rz. 9. 18 GBl./DDR II, S. 207. 19 GB1./DDR I, S. 265. 20 Gesamtdeutsches Institut - Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, Rechtsentwicklungsbericht für Mitteldeutschland (Oktober/November 1969), in: Recht in Ost und West 1/1970, S. 27 ff., hier S. 28.

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dem mit der UdSSR abgeschlossen Vertrag. Auch er kannte das dem Staatsbürgerschaftsgesetz unbekannte Optionsrecht, war also ebenfalls eine lex specialis zu diesem. Dieser Vertrag war aber nicht der Volkskammer zur Bestätigung vorgelegt worden. Vielmehr wurde bekanntgegeben, daß der Vorsitzende des Staatsrates diesen am 1. April 1970 ratifiziert hatte. Gleichzeitig wurde der Vertrag veröffentlicht. 21 Weitere Verträge zur Regelung von Fragen der doppelten Staatsbürgerschaft folgten mit Bulgarien (1972), mit der damaligen CSSR (1973), mit Polen (1975), mit der Mongolischen Volksrepublik (1977) sowie mit Rumänien (1979). Auch sie wurden lediglich von Vorsitzenden des Staatsrates bzw. nach der Verfassungsänderung von 1974 vom Staatsrat ratifiziert und ihre Texte im Gesetzblatt veröffentlicht. 22 Alle diese Verträge unterschieden sich zwar im Aufbau, aber nicht im Inhalt vom Vertrag mit der UdSSR. Auch sie enthielten als leges speciales zum Staatsbürgerschaftsgesetz das Optionsrecht. Diese durch den Vorsitzenden des Staatsrats oder nach 1974 vom Staatsrat ratifizierten Verträge waren innerstaatlich wirksam geworden.23 Es kann auch nicht geltend gemacht werden, daß bereits durch § 3 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz die Verträge mit den genannten kleinen Ostblockstaaten innerstaatlich wirksam geworden wären. Danach fanden zwar Regelungen zu Fragen der Staatsbürgerschaft, die in zwischenstaatlichen Vereinbarungen der DDR mit anderen Staaten getroffen wurden, Anwendung. Offenbar war damit aber mit

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Bekanntmachung vom 6. April 1970 (GBl./DDR I, S. 23). Bekanntmachungen vom 3. März 1972 (GBl./DDR I, S. 81), vom 3. Dezember 1973 (GBl. II, S. 273), vom 2. Februar 1972 (GBl./DDR II, S. 102, vom 5. Juli 1977 (GBl./DDR II, S. 275), vom 9. Februar 1980 (GBl./DDR II, S. 49). 23 Gerhard Riege vertrat zwar im Lehrbuch „Staatsrecht der DDR", 2., vollständig überarbeitete Aufl., Berlin (Ost) 1984, S. 173 (in der 1. Aufl. Berlin (Ost) 1977, S. 170/171) die Auffassung, ein Vertrag zur Vermeidung von doppelter Staatsbürgerschaft könne nur „Aussagen für die Beziehungen der jeweiligen Partnerstaaten haben". Mit ihnen würden keine generellen neuen Erwerbs- und Verlustgründe in das Staatsbürgerschaftsrecht der DDR eingeführt. Das ist unrichtig, wie sich aus Rieges Ausführungen a.a.O., S. 172 ergibt. Dort heißt es, die andere Staatsbürgerschaft, also je nach Option auch die der DDR, erlischt zu dem Zeitpunkt, zu dem die Optionserklärung bei der zuständigen Behörde eingegangen sei bzw. ihr gegenüber abgegeben würde. Das ist nichts anderes als der Eintritt eines Verlustes. Die drei Verlustgründe des Staatsbürgerschaftsgesetzes (Entlassung, Aberkennung und Widerruf der Verleihung, § 9 a.a.O.) haben, wie auch Riege hervorhebt (S. 168), eines gemeinsam: „Der Verlust der DDR-Staatsbürgerschaft ist stets von der rechtlich entscheidenden Mitwirkung eines Bevollmächtigten des Staatsorgans abhängig." Die Option unterscheidet sich von den anderen Verlustgründen dadurch, daß sie nicht entscheidend von einem Staatsorgan abhängig ist. Ein solches wirkt nur als Empfanger der Optionserklärung mit. Ob Riege zu seiner widersprüchlichen Ansicht gebracht worden ist, um die innerstaatliche Wirkung einer Ratifikation durch den Vorsitzenden des Staatsrats bzw. durch den Staatsrat selbst in der Frage des IPBPR veraeinen zu können, muß offen bleiben, kann aber nicht ausgeschlossen werden. 22

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§ 3 Abs. 3 a.a.O. keine generelle Transformation von Verträgen zur Vermeidung doppelter Staatsbürgerschaft gemeint. Das zeigt die Gestaltung des Verfahrens bei der Transformation des Vertrages mit der UdSSR. Denn dabei wurde das durch Art. 51 DDR-Verfassung für Verträge, durch die Gesetze der Volkskammer geändert wurden, vorgeschriebene Verfahren der Transformation durch Gesetz angewendet. Das wäre nicht erforderlich gewesen, wenn von einer Transformation aufgrund des § 3 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz ausgegangen wäre. Deshalb ist dafür zu halten, daß auch die Verträge mit den anderen Ostblockstaaten eine Transformation erfuhren, allerdings nicht durch die Volkskammer, sondern durch den Vorsitzenden des Staatsrats bzw. durch den Staatsrat selbst. Als Ergebnis ist festzustellen: Es war zur Zeit der Ratifikation des IPBPR durch den Vorsitzenden des Staatsrats (1974) gängige und durch die Verfassung gedeckte Staatspraxis der ehemaligen DDR geworden, mit ihr und ihrer Bekanntgabe sowie der anschließenden Veröffentlichung des Textes eines Staatsvertrages diesen nicht nur völkerrechtlich verbindlich zu machen, sondern ihn auch in den innerstaatlichen Bereich zu transformieren. Warum sollte das hinsichtlich des IPBPR anders sein? Es kann auch nicht geltend gemacht werden, daß die Partei- und Staatsführung der DDR nicht den Willen gehabt hätten, daß der IPBPR innerstaatlich wirksam würde. Denn es ist dafür zu halten, daß das Händeln von Staatsorganen maßgebend zu sein hat, nicht aber ihr nicht erkennbarer Willen. Nachdem zuvor schon mehrfach, wie dargestellt, völkerrechtliche Verträge nach Ratifikation durch den Vorsitzenden des Staatsrates innerstaatliche Wirksamkeit erlangt hatten, so die erwähnten Verträge zur Regelung von Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit mit Ungarn, Bulgarien und anderen kleineren Staaten kann sich niemand darauf berufen, daß das hinsichtlich des IPBPR nicht der Fall gewesen wäre. Entscheidend ist die Promulgation nicht irgendwo in der Presse oder in elektronischen Medien, sondern in einem amtlichen Veröffentlichungsorgan, nämlich dem Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik. Dabei spielt es keine Rolle, daß die Verkündung in dessen Teil II vorgenommen worden war. 24 Auch im Teil II wurden allgemein verbindliche Normenwerke promulgiert. Schon früher wurde darauf hingewiesen, daß die Bekanntmachung der Ratifizierung mit gleichzeitiger Veröffentlichung des Vertragstextes im Gesetzblatt, aus denen sich Rechte des einzelnen ableiten lassen, dann auf 24 Ab 1. Januar 1973, also zur Zeit der Ratifikation des IPBPR, galt die Verordnung über das Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. August 1972 (GBl./DDR II, S. 571). Danach enthielt der Teil I die Gesetze und andere allgemeinverbindliche Rechtsvorschriften mit Ausnahme völkerrechtlicher Verträge. Im Teil II wurden die völkerrechtlichen Verträge veröffentlicht.

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ein Täuschungsmanöver herauslaufen würde, wenn damit nicht eine innerstaatliche Bindung der Staatsmacht kundgetan werden sollte.25 Freilich wird von PDS-Juristen, die schon früher in der DDR rechtswissenschaftlich tätig waren und von denen einer sich sogar trotz seiner marxistischleninistischen Grundhaltung kritisch gegenüber der SED-Parteilinie geäußert hatte,26 die innerstaatliche Wirksamkeit des IPBPR bestritten.27 Sie meinen, nach dem in der DDR üblichen Transformationsverfahren hätte es für den IPBPR an einer entsprechenden Feststellung im „Transformationsgesetz" gefehlt. Dabei scheuen sie sich nicht, sich in Gegensatz zur amtlichen Lehrmeinung in der ehemaligen DDR zu setzen. Schon in der 1. Auflage des für die Aus- und Weiterbildung an den Universitäten und Hochschulen der DDR (als einzigem) anerkannten Lehrbuch „Staatsrecht der DDR" hieß es: „Bestimmte völkerrechtliche Verträge bedürfen der Ratifikation durch den Staatsrat, um als innerstaatliches Recht Gültigkeit zu erlangen."28 In der 2. Auflage 29 wird das Lehrbuch zwar zurückhaltender. Es wird darin erklärt, die Ratifikation wäre eine Form der Zustimmung zum Vertrag und damit die Voraussetzung seines Inkrafttretens, auch die Bekanntmachung eines Vertragsabschlusses oder eines Beitritts der DDR zu einem völkerrechtlichen Vertrag durch das zuständige Organ wäre nicht als Transformation zu werten gewesen. Jedoch schweigt es sich darüber aus, welche Bedeutung die Veröffentlichung des Textes eines Vertrages im Gesetzblatt im Zusammenhang mit einer Ratifikation gehabt habe. Nur hinsichtlich von Abkommen innerhalb des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wird auf die Bedeutung einer Promulgation im Gesetzblatt eingegangen. Hier wird anerkannt, daß sie durch die Veröffentlichung im Gesetzblatt wirksam geworden wären. Zur Begründung wird ausgeführt, daß „dem Charakter der sozialistischen Kooperationsbeziehungen gemäß" hätte auch die Transformation von Völkerrecht in innerstaatliches Recht eine neue Qualität und auch neue rechtliche Ausdrucksformen. Deshalb wären „in anderen Fällen internationale vertragliche Normenkomplexe insgesamt" und unverändert in das innerstaatliche Recht übernommen worden. Diese Übernahme - in der Theorie des internationalen Wirtschaftsrechts meist als „Rezeption" bezeichnet - wären in der DDR entsprechend den staatsrechtlichen Regeln im Gesetzblatt veröffentlicht worden.30

25 Beispiele sind genannt bei Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 51, Rz. 9. 26 Ebd., Alt. 2 R z . 11. 27 Uwe-Jens Heuer / Michael Schumann, Wo verläuft die Grenze zwischen DDRRecht und -Unrecht, in: Frankfurter Rundschau vom 26. Oktober 1992. 28 Siehe Anm. 23, hier S. 497 f. 29 Siehe Anm. 23, hier S. 90 ff. 30 Wie Anm. 23, hier S. 92.

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Damit wurde eine Staatspraxis eingeräumt, die nur hinsichtlich von Vereinbarungen innerhalb des RGW hätte geübt werden dürfen. Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Damit wird nämlich behauptet, daß ein Staat bei der Transformation unterschiedlich hätte verfahren dürfen. Das widerspricht der Rechtssicherheit. Entscheidend für die Widerlegung der Ansichten der PDS-Juristen ist indessen, daß weder in der 1., noch in der 2. Auflage des Staatsrechtslehrbuches die Meinung vertreten wird, daß es zur innerstaatlichen Wirksamkeit eines völkerrechtlichen Vertrages einer diesbezüglichen Feststellung bei der Veröffentlichung im Gesetzblatt hätte geben müssen. Damit zeigt sich, daß die PDS-Juristen, wie sie es in der DDR gelernt und gelehrt hatten, in Verteidigung von DDR-Unrecht parteilich argumentieren. Sollten trotzdem noch Zweifel an der Wirkung für den innerstaatlichen Bereich der ehemaligen DDR bestehen, müßte ein weiterer Grund diese beseitigen. Die DDR-Verfassung von 1968/1974 kannte nämlich außer der Transformation völkerrechtlicher Verträge in innerstaatliches Recht durch einen, unter Umständen aus mehreren Abschnitten bestehenden Einzelakt, die generelle Transformation der „allgemein anerkannten, dem Frieden und dem friedlichen Zusammenleben der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts" (Art. 8 Abs. 1). Schon 1982 wurde vom Verfasser die Ansicht vertreten, daß die IPBPR über diese Verfassungsnorm in das innerstaatliche Recht der ehemaligen DDR transformiert worden ist und das die Ratifikation durch den Vorsitzenden des Staatsrates deshalb eigentlich nur deklaratorischen Charakter gehabt hätte.31 Durch die jetzt mögliche Einsicht in die Archive der ehemaligen DDR, freilich mit Ausnahme der Akten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, wurde bekannt, daß diese zutreffende Ansicht auch im Ministerium der Justiz, das für die Berichterstattung an das Menschenrechtskomitee zuständig war, ernsthaft erwogen wurde. In einem Entwurf für den ersten periodischen Bericht an das Menschenrechtskomitee, vom Generalsekretär der UNO am 8. November 1976 angefordert, wurden nämlich zur Frage der Transformation in innerstaatliches Recht zwei Varianten vertreten. 32 Nach der ersten Variante war der IPBPR nicht Bestandteil des innerstaatlichen Rechts geworden. Dann hieß es weiter: "Mit der Ratifizierung erwuchs aber in Übereinstimmung mit Artikel 8 der Verfassung - wonach die allgemein anerkannten, dem Frieden und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts für die Staatsmacht und jeden Bürger verbindlich sind - den Staatsorganen die Aufgabe, ständig zu überprüfen und zu gewährleisten, daß die Gesetzgebung der Republik mit der Konvention in 31 32

Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 19, Rz. 43. BArchP DP 1 SE 1606 MdJ Bestand Heilborn.

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Einklang steht. " Nach dieser Variante wären aus dem IPBPR nur den Staatsorganen der DDR die Pflicht zum Handeln entstanden. Völkerrechtlich verbindlich wurde diese Pflicht aber durch Art. 2 IPBPR. Wozu dazu Art. 8 Abs. 1 der Verfassung bemüht wurde, ist unklar. Denn dieser regelt, welches Völkerrecht generell zum innerstaatlichen Recht wird, also keines besonderen Transformationsakts bedarf, und bezieht sich nicht auf die nur völkerrechtliche Verbindlichkeit. Das ergibt sich aus seinen Wortlaut, demzufolge die genannten Regeln des Völkerrechts „für die Staatsmacht und die Bürger" verbindlich sind. Nach der zweiten Variante sollte der IPBPR (die Konvention) mit der Ratifizierung und Veröffentlichung im Gesetzblatt der DDR Bestandteil des innerstaatlichen Rechts der DDR geworden sein. Das entspräche dem Art. 8 der Verfassung. Hinzugefügt war: „Dort, wo eine bisher in der Realität noch nicht entstandene neue Frage auftreten sollte, die durch die Rechtsvorschriften der DDR noch nicht geregelt ist, spricht nichts dagegen, die Bestimmungen der ratifizierten Konvention als Auslegungsmaxime des geregelten Grundrechts zugrunde zu legen. Daß in der Konvention niedergelegte zivile und politische Rechte deswegen nicht ausgeübt werden können, weil es an einer entsprechenden Rechtsvorschrift fehlt, kann in der DDR nicht eintreten. " Die zweite Variante entspricht annähernd der vom Autor vertretenen Ansicht. Allerdings bestand keine vollständige Übereinstimmung. Denn der IPBPR verheißt einige Rechte, die die DDR-Verfassung nicht kannte. Diese waren: - das Auswanderungsrecht (Art. 12 Abs. 2 IPBPR), - das Recht auf freie Information (Art. 19 Abs. 2 IPBPR), - das Recht auf Schutz der Intimsphäre, das über den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hinausgeht, darunter vor allem das nicht in der DDRVerfassung enthaltenen Recht auf Schutz der Korrespondenz (des Briefgeheimnisses) (Art. 17 IPBPR).33 Wie diese durch Interpretation der Grundrechtsartikel in der DDR-Verfassung rechtswirksam gemacht werden sollten, muß das Geheimnisses der Entwurfsverfasser bleiben. Es kann davon ausgegangen werden, daß ohnehin nur an eine Beachtung der Grundrechte im Sinne der marxistisch-leninistischen Interpretation gedacht war. Aber es zeigte doch einen Anflug von Mut, überhaupt eine Anwendung des Art. 8 Abs. 1 der Verfassung in Erwägung zu ziehen, wenn auch in der ersten Variante in einer dem Wortlaut widersprechenden Sinne. Der Bericht vom 28.

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Siegfried

Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 19, Rz. 42.

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Juni 1977 enthielt sich einer Stellungnahme zur Frage der Transformation. Indessen waren sich die Verantwortlichen bewußt, daß bei der mündlichen Erörterung des Berichts vor dem Menschenrechtskomitee der DDR-Vertreter deswegen befragt werden könnte. Deshalb erschien es angezeigt, Vorsorge zu treffen. Eine Verfügung des Abteilungsleiters im Ministerium der Justiz, Hans Heilborn, vom 29. Dezember 1977 enthielt den Entwurf eines Schreibens an den stellvertretenden Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Ewald Moldt. Sie war mit der Bitte um Unterschrift an den Staatssekretär im Ministerium der Justiz, Herbert Kern, gerichtet. Darin hieß es: „Nach Meinung von Professor Graefrath ist es aber unerläßlich, zur dringenden Frage Stellung zu nehmen, ob mit der Ratifikation und dem Inkrafttreten der Konvention deren Bestimmungen unmittelbare Bestandteile des innerstaatlichen Rechts geworden sind. Diese Stellungnahme ist im zweiten Entwurf auf Seite 6 in zwei Varianten vertreten worden. "

Die Ansicht von Graefrath wog schwer. War dieser doch das von der DDR vorgeschlagenen Mitglied des Menschenrechtskomitees. Er wußte daher, welche Fragen seiner Kollegen aus Ländern mit freiheitlicher, demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassung zu erwarten waren. Der Brief ging offensichtlich, wie vorgeschlagen, mit der Unterschrift Kerns heraus. Denn für das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten schlug Moldt mit Schreiben vom 13. Januar 1978 an Staatssekretär Kern folgende Formulierung für die mündliche Berichterstattung vor: „Gemäß Artikel 8 der Verfassung der DDR sind die allgemein anerkannten, dem Frieden und der friedlichen Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts auch innerstaatlich verbindlich. Aus multilateralen völkerrechtlichen Verträgen - das gilt auch für die Internationale Konvention über zivile und politische Rechte - erwachsen nicht unmittelbare Rechte und Pflichten für den einzelnen Bürger. Die Staatsorgane gewährleisten jedoch, daß die Rechtsvorschriften der DDR in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Konvention stehen. " 3 5

Zu vermerken ist, daß in diesem Vorschlag Art. 8 Abs. 1 der DDR-Verfassung nicht genau zitiert wird. Denn die Worte „sind für die Staatsmacht und jeden Bürger verbindlich" sind durch „innerstaatlich verbindlich" ersetzt. Der genaue Wortlaut der genannten Verfassungsnorm sollte offenbar vermieden werden, damit bei den Mitgliedern des Menschenrechtskomitees nicht die Vorstellung erweckt würde, mittels einer generellen Transformation von Regeln des Völkerrechts gemäß Artikel 8 a.a.O. wären Rechte von Bürgern entstanden. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten argumentierte auch, gelinde gesagt, oberflächlich. Denn es ist nicht richtig, daß aus multilateralen 34 35

BArchP DP 1 SE 0188 (MdJ HA III 7412 - II 870/77. BArchP DP 1 SE 0188.

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Verträgen niemals für die einzelnen Bürger Rechte und Pflichten erwachsen. Wenn nämlich solche Verträge Regeln des Völkerrechts aufführen, welche Art. 8 Abs. 1 DDR-Verfassung nennt, sind diese innerstaatlich bindend. Die 2. Auflage des Lehrbuches „Staatsrecht der DDR" hält sogar die Grundprinzipien der Schlußakte von Helsinki36 aufgrund des Art. 8 Abs. 1 für transfor37

miert. So mit fragwürdigen Argumenten ausgerüstet, begab sich Heilborn nach Genf. Vor der mündlichen Berichterstattung der DDR vor dem Menschenrechtskomitee durch Heilbora in Genf am 27., 30. und 31. Januar 1978 fand dort eine Besprechung statt, die von der Ständigen Vertretung der DDR bei der UNO organisiert war. An dieser nahmen außer Heilborn und einigen DDR-Diplomaten bezeichnenderweise der von der DDR als Mitglied des Komitees benannte Graefrath sowie unter Leitung des Genossen Movchan, dem von der UdSSR nominierten Mitglied des Menschenrechtskomitees, drei „sowjetische Genossen" teil, 38 was zeigt, in welchem Ausmaß die UdSSR Einfluß auf die DDR nahm, getreu den Verfassungssätzen in Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2, denen zufolge die DDR „ewig und unwiderruflich" mit der UdSSR verbündet war und das „ewige und brüderliche Bündnis" dem Volk der DDR das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens garantieren sollte. Bei dieser Zusammenkunft wurde offensichtlich u. a. festlegt, daß die vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten vorgeschlagene Formulierung von Heilborn vorgetragen werden sollte. Denn im amtlichen Protokoll der Sitzung vom 27. Januar 197839 heißt es bei der Wiedergabe der Ausführungen von Heilborn: „57. According to article 8 of the Constitution, the generally accepted rules of international law serving peace und peaceful cooperation were also binding at the domestic law. Although the rights and obligations of individual citizens were not directly generated by multilateral international treaties, such as the Coventant, States organs in his country ensured that domestic laws und regulations were in keeping with the provisions of that instrument.44

Bei der Erörterung des Berichts von Heilborn griffen einige Mitglieder des Komitees die Frage der generellen Transmission von Völkerrecht des IPBPR in innerstaatliches Recht auf. Dabei wurde indessen die These der DDR, der zufolge der IPBPR nach Art. 8 der DDR-Verfassung nicht transformiert sein sollte, nicht vertieft.

36 37 38 39

Wie Anm. 5. Wie Anm. 23, hier S. 91. BArchP DP 1506, Bd. II, S. 2. Distr. GENERAL CCPR/C/SR 65 vom 31. Januar 1978.

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So heißt es im amtlichen Protokoll der Sitzung vom 30. Januar 197840 zu den Ausführungen des Komiteemitglieds Prado Vallejo: „45. He was pleased to note that article 8 of the Constitution of the German Democratic Republik embodied the principle that the generally accepted rules of international law and peaceful co-operation among peopels were regarded as obligations for the state."

Offenbar hatte er die Ausführungen Heilborns so verstanden, daß auch der IPBPR durch Artikel 8 der DDR-Verfassung in innerstaatliches Recht transformiert worden ist. Ansonsten hätte er wohl das Verb „please" nicht gebraucht. Ähnlich hat sich das Komiteemitglied Koulishev geäußert. Zu seinen Ausführungen heißt es im Protokoll derselben Sitzung: „71. [...] In his view, any method or system used by a State to integrate the provisions of the Covenant in its domestic legal order was acceptable, on condition that the end result was the full implementation of those provisions. In that connection, article 8 of the Constitution of the German Demokratie Republic contained a very interesting provision which recognised the mandatory nature for the state of the generally accepted rules of international law in the fields covered by the Covenant."

In seinem Bericht über die Berichterstattung vor dem Menschenrechtskomitee am 27., 30. und 31. Januar 1978 zog Heilborn zu diesem Punkt folgendes Resümee:41 „Zum Problem der Transformation habe ich darauf hingewiesen, daß nicht der Mechanismus, wie die Konvention in innerstaatliches Recht umgesetzt wird, entscheidend ist, sondern daß unserer Auffassung nach die Realität das Kriterium darstellt, inwieweit die Konvention im innerstaatlichen Recht verwirklicht wird, und in der Praxis der Gesetzgebung zum Nutzen der Gesellschaft und der Bürger wirkt. "

Das Primat der Politik der SED-Führung vor nach den Maßstäben des Rechts angestellten Überlegungen ist auch in der Transmissionsfrage evident. Wenn auch ein direkter Einfluß des Politbüros oder der zuständigen Abteilung beim ZK der SED nicht nachweisbar ist, sorgte doch der vorauseilende Gehorsam dafür, daß die Berichterstattung auf Parteilinie blieb. Obwohl im DDR-Ministerium der Justiz erwogen worden war, daß aufgrund des Art. 8 der DDR-Verfassung der IPBPR innerstaatliches Recht der DDR geworden war, setzte sich die Ansicht von seiner nur völkerrechtlichen Bindung durch und wurde in Genf vertreten. Erörtert wurde in Genf nur die generelle Transformation durch Artikel 8 der DDR-Verfassung, nicht aber durch Ratifikation und Verkündung im Ge-

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Distr. GENERAL CCPR/C/SR 67 vom 1. Februar 1978. BArchP DP 1506 Band II, S. 5.

5 Festschrift Hacker

Siegfried Mampel

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setzblatt. Die DDR-Vertreter hatten keine Veranlassung auf das für sie heikle Problem einzugehen und den Mitgliedern des Menschenrechtskomitees, auch den deutschsprachigen, war die hier geschilderte Rechtslage und Staatspraxis dazu offensichtlich nicht bekannt. Es ist also dafür zu halten, daß der IPBPR für die DDR nicht nur völkerrechtlich bindend, sondern auch innerstaatlich wirksam war. Die Bürger hätten sich auf ihn berufen können, und die Staatsorgane der DDR sich an ihn halten müssen. Bis zum Untergang der DDR konnte sich freilich niemand innerhalb ihres Machtbereichs darauf berufen. Nur die Wissenschaft außerhalb konnte auf diese Rechtslage hinweisen.42 Das darf aber kein Hindernis dafür sein, die innerstaatliche Geltung des IPBPR für die ehemalige DDR nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland geltend zu machen. Zum einen ist sie für die judizielle Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit von Belang. Wenn nämlich der IPBPR für die DDR auch innerstaatlich wirksam geworden war, ist ein Handeln, das dessen Bestimmungen verletzte, nach deren positivem Recht rechtswidrig. Ein Rückgriff auf die nicht einmal völkerrechtlich verbindliche „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vom 10. Dezember 194843 oder naturrechtliche Vorstellungen ist nicht notwendig. Zum anderen ist sie ein weiteres eklatantes Beispiel dafür, wie die Inhaber der politischen Macht in der ehemaligen DDR mit dem von ihnen selbst gesetzten Recht umgingen und trägt so auch zur historischen Aufarbeitung bei, indem auch durch die Verletzung des IPBPR als innerstaatliches Recht die Charakterisierung der ehemaligen DDR als Unrechtsstaat bestätigt wird, von der manche nichts wissen wollen. Bemäntelt wurde die Ansicht vor der innerstaatlichen Unwirksamkeit des IPBPR mit der Behauptung, in der DDR seien die Bestimmungen des IPBPR in Verfassung und einfacher Gesetzgebung verwirklicht. Dabei befleißigte man sich einer Interpretation des IPBPR im Sinne der marxistischleninistischen Grundrechtskonzeption.44 Dabei hatte bereits 1976 Hans Gruber 45 auf den Kompromißcharakter des IPGPRF hingewiesen, bei dem sich Staaten mit unterschiedlicher staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung auf einen gemeinsamen Text geeinigt hätten. Dabei hatte er eingeräumt, dieser Kompromiß hätte aus marxistisch-leninistischer Sicht zu Mängeln geführt. Wegen des Kompromißcharakters des IPBPR ist er strikt nach seinem Text zu interpretieren. 42

Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 19, Rz. 43. Resolution 217 A (III) der Generalversammlung; deutscher Text in: Friedrich Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Frankfurt am Main / München 1967, Bd. I, S. 917. 44 Siegfried Mampel, Bemerkungen zum Bericht der DDR an das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen (Anm. 11), hier S. 150. 45 Wie Anm. 11. 43

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Bereits vor der Berichterstattung der DDR vor dem Menschenrechtskomitee ist darauf verwiesen worden, daß es angesichts des Kompromißcharakters des IPBPR auf die Struktur der einzelnen Bestimmungen ankommt, die bürgerliche und politische Rechte verheißen.46 Dabei wurde gezeigt, daß die Art. 12 (Recht auf freie Bewegung und freie Bestimmung des Aufenthaltsortes, Auswanderungsrecht), 19 (Meinungsfreiheit), 21 (Versammlungsfreiheit) sowie 22 (Vereinigungsfreiheit) gleiche Strukturen haben, mögen sie auch unterschiedlich formuliert sein. Zunächst wird ein Menschenrecht bestimmt, wobei es hier dahingestellt sein kann, ob das konstitutiv oder nur deklaratorisch gemeint ist. Dann schließen sich ein Satz oder Sätze an, die etwas enthalten, was oft vor allem in populistischen Betrachtungen übersehen wird. Denn die Menschenrechte gelten ebensowenig wie die verfassungsrechtlichen Grundrechte nicht schrankenlos.47 Auch der IPBPR läßt Beschränkungen zu. Diese sind im allgemeinen in Sätzen enthalten, die auf die Formulierung des Menschenrechts folgen. Für die Art. 12, 19, 21 und 22 IPBPR ist das schon früher dargestellt worden. 48 Schrankenlose Menschenrechte bilden die Ausnahme, so wenn nach Art. 7 IPBPR niemand der Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden oder nach Art. 8 Abs. 1 und 2 niemand in Sklaverei oder in Leibeigenschaft gehalten werden darf. Selbst das Recht auf Leben in Art. 6 Abs. 1 IPBPR ist nur gegen willkürliche Tötungen geschützt. Das bedeutet, daß es Fälle geben kann, in denen die Tötung eines Menschen zulässig sein kann. Man denke an Notwehr oder Notstand, aber in äußersten Notfällen an den Waffengebrauch durch die Polizei oder anderer staatlicher Sicherungskräfte. Indessen ist zu beachten: Stets sind die Schranken eines Menschenrechts im Verhältnis zu ihm die Ausnahme von der Regel. Ferner gilt für Beschränkung stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Übermaßverbot. 49 Wenn, wie festgestellt ist, in der DDR der IPBPR auch innerstaatliche Wirksamkeit hatte, so ist es unerläßlich zu prüfen, ob die ehemalige DDR in zulässiger Weise die Menschenrechte eingeschränkt hat.

46 Siegfried Mampel, Verwirklichung der politischen Menschenrechte in der einfachen Gesetzgebung der DDR ?, in: Zieger / Brunner / Mampel / Ermacora (Anm. 1), hier S. 65 ff. 47 Zu den Schranken der Grundrechte, insbesondere Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 2., neubearb. und vermehrte Aufl. von Friedrich Klein, unveränderter Nachdruck, Berlin / Frankfurt am Main 1966, mit der Überschrift „XV. Die Schranken der Grundrechte", S 120 ff., ferner: Ingo von Münch, in: GrundgesetzKommentar (Hrsg. Ingo von Münch), 2., neubearb. Aufl., München 1981, Vorbemerkungen zu Art. 1-19, „Begrenzungen der Grundrechte", Rdnr. 48-62, Rdnr. 52. 48 Siegfried Mampel, Verwirklichung der politischen Menschenrechte (Anm. 46), S. 66f

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Ingo von Münch (Anm. 39), Rdnr. 55. 5=

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Der Vertreter der DDR befaßte sich bei der mündlichen Erörterung des DDR-Berichts vor dem Menschenrechtskomitee im Januar 1978 in Beantwortung diesbezüglicher Fragen mit diesem Problem und rühmte sich in seinem ersten zusammenfassenden Kurzbericht über die Berichterstattung dessen mit dem Satz:50 „3. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Gewährleistung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit im Sinne der Verfassung auf dem Mandat der übereinstimmenden Mehrheit unserer Bevölkerung beruht, Ausdruck unserer Volks Souveränität und Selbstbestimmung und damit identisch mit unserem ordre public (Hervorhebung durch den Verfasser) ist."

Über das, was der ordre public in der DDR für die genannten Freiheiten bedeutete, gibt die DDR-Verfassung Auskunft. Sie wurden nämlich nur zugesagt, „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß [Art. 27 für die Meinungsfreiheit], im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung [Art. 28 für die Versammlungsfreiheit] und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung" [Art. 29 für die Vereinigungsfreiheit]. Der für den Charakter der DDR-Verfassung entscheidende Grundsatz in Art. 1 Abs. 1 enthielt die konstitutionelle Festlegung der „Führung durch die Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei", in kritischer Sicht die Suprematie der SED als Bezeichnung für die Stellung dieser Partei in der totalitären SED-Diktatur. 51 Das Machtmonopol der SED, gewährleistet durch den Verfassungssatz über die Unantastbarkeit des „Bündnisses" der Arbeiterklasse mit den Genossenschaftsbauern und den anderen Schichten des Volkes, durch das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln, das nicht nur Grundlage der Volkswirtschaft dort (Art. 9 Abs. 1), sondern vor allem Machtbasis der Diktatur als fast ausschließlicher Arbeitgeber war, sowie durch die Leitung und Planung aller Lebensbereiche (Art. 2 Abs. 2), hatte auch das Primat der SED-Politik über das Recht, also dessen totale Instrumentalisierung, zur Folge. Die verfassungsmäßige Beschränkung der Grundrechte durch das Primat der SED-Politik ist eine Perversion. Die Konzeption von Grundrechten beruht geistesgeschichtlich, wie nicht besonders dargetan zu werden braucht, auf der Forderung, den Menschen allgemein oder auch nur den Bürgern eines Staates Rechte gegen diesen zu verbürgen. Wurden solche Rechte nur innerhalb der Schranken gewährt, die durch einen Volkswillen gezogen sind, der in Wirklichkeit der Willen einer mit Machtmonopol ausgestatteten Partei war, hatten sie keine Substanz. In der Antwort der sozial-liberalen Bundesregierung auf zwei Große Anfragen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Anwendung der

50 51

BArchP DP 1 SE 1506 Band II, S. 6. Wie Anm. 15.

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Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen vom 20. September 1979 hieß es:52 „Nach dem Menschenrechts- und Grundrechts Verständnis der DDR gewähren die Grundrechte jedoch keine individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staate, sondern umschreiben die weltanschaulich zweckgebundenen Mitwirkungsrechte und pflichten der Bürger. Die Wahrnehmung dieser Rechte und Pflichten wird zwar jedem Bürger formal zuerkannt, steht jedoch unter dem generellen Vorbehalt der Suprematie der marxistisch-leninistischen Partei. In der Praxis differenziert die DDR gemäß dieser weltanschaulichen Zweckbindung der Grundrechte. Mit dieser Praxis entspricht die DDR zwar der eigenen Verfassung, nicht jedoch der Zielsetzung der Pakte."

Wenn darin von Zielsetzung der Pakte die Rede ist, so ist offensichtlich lediglich an die völkerrechtliche Bindung der Pakte gedacht. Die Frage der innerstaatlichen Bindung für die DDR wird nicht erwähnt, entweder weil das wegen der damals verfolgten Entspannungspolitik nicht opportun erschien oder weil es damals bis zur Wiedervereinigung 1990 nicht möglich war, juristische Konsequenzen aus den Verletzungen des IPBPR als innerstaatlich wirksamen Rechts zu ziehen. Ein Charakteristikum des Umgangs der totalitären SED-Diktatur mit den Menschenrechten war, daß ihre Vertreter stets behaupteten, sie würden in ihrem Machtbereich eingehalten. Basis dieser Behauptung war die von der allgemeinen Auffassung abweichende spezielle marxistisch-leninistische Grundrechtskonzeption. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zur NS-Diktatur zu erkennen. Diese kannte keine Menschenrechte, mißachtete die Grundrechte. Das Ergebnis unterschied sich freilich allenfalls in der Intensität und dem Ausmaß der Verletzungen. Selbst wenn die in der Verfassung verheissenen Grundrechte als sozialistische Persönlichkeitsrechte firmieren 53 und später sogar als subjektive Rechte54 bezeichnet wurden, ändert das an der Perversion nichts, vor allem, weil es in der DDR keinen ausreichenden Rechtsschutz, insbesondere keine Verfassungsgerichtsbarkeit55 und auch keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab.56 Außerdem hätten eine Verfassungs- und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit auch nur dann einen wirksamen Rechtsschutz gegen staatliche Eingriffe in Rechte der Bürger haben können, wenn sie in ihrer Rechtsprechung unabhän52 Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1981, Reihe II, Bd. 7, S. 440, hier S. 461. 53 Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 19, Rz. 12-16. 54 Ebd., Rz. 21-28. 55 Ebd.,Rz. 27. 56 In nur einigen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten waren die ordentlichen Gerichte zuständig, Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 92, Rz. 10.

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gig gewesen wären. Eine solche war durch Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPBPR vorgeschrieben und damit auch für die DDR innerstaatlich bindend. Indessen gab der Vertreter der DDR dem Satz über die Unabhängigkeit der Richter in ihrer Rechtsprechung in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 IPBPR vor dem Menschenrechtskomitee eine Deutung, wie sie auch schon für Art. 96 Abs. 1 DDR-Verfassung offizielle Lesart war, nämlich im Sinne einer Unabhängigkeit nur im Rahmen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung, die eine richterliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Bestimmungen ablehnte und nicht ausschloß, daß die unter der Suprematie der DDR stehende Gesellschaftsorganisation in die richterliche Tätigkeit eingreift. 57 So berichtete Heilborn dem Ministerium der Justiz über seine Anhörung als Vertreter der DDR im Januar auf Anfragen nach einer Verfassungsgerichtsbarkeit und der Unabhängigkeit der Richter vor dem Menschenrechtskomitee folgendes:58 „4. Ich habe begründet, daß in der DDR die Volksvertretung das höchste staatliche Gremium ist und deshalb alle von ihr erteüten Mandate, auch für den Präsidenten und Richter des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt nicht dazu führen können, daß es Institutionen gibt, die das Recht haben, über Beschlüsse der Volksvertretungen zu entscheiden. 5. Ich habe unseren Standpunkt zur Unabhängigkeit der Richter in ihrer Rechtsprechung dargestellt und auch begründet, weshalb es nicht Sache des Richters sein kann, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu überprüfen. Auf einen kritischen Einwand, warum die Richter bei uns nicht lebenslang gewählt sind, wurde darauf hingewiesen, daß das unsere innerstaatliche Angelegenheit ist, zu der wir die Auffassung vertreten, daß ein Richter ein Mandat durch die Volksvertretung besitzen muß, die den Volkswillen aus der letzten Wahl der Volksvertretung repräsentiert."

Deutlicher konnte vor einem internationalen Gremium nicht gegezeigt werden, daß durch die Notwendigkeit einer Wiederwahl die Willfahrigkeit der Richter gegenüber dem Willen der Volksvertretung sichergestellt werden sollte. Verschwiegen wurde freilich von Heilbronn, daß durch die Wahlgesetze und die Wahlpraxis eine Zusammensetzung der Volksvertretungen durch die SED-Führung gewährleistet war, daß der „Willen des Volkes" und seiner Vertretung in Wirklichkeit der Willen der SED-Führung war. 59 Das bedeutete nichts anderes, als daß die proklamierte Unabhängigkeit der Richter in Wirklichkeit eine ständige Abhängigkeit der Richter von der SED-Führung war, die vor allem mittels einer ideologischen Indoktrination in der Richterausbil-

57 58 59

Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 96, Rz. 4. BArchP DP SE 1506 Band II, S. 6. Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 22, Rz. 49.

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dung60, durch einen vorauseilenden Gehorsam und nicht selten durch Einzelanweisungen sichergestellt war. In den einfachen Gesetzen zur Ausfüllung der Verfassungsbestimmungen wurde, wie bereits schon in der Vergangenheit festgestellt, dem Mangel am Substanz der in der DDR-Verfassung verheissenen Grundrechte rechtstechnisch dadurch Rechnung getragen, daß eine Erlaubnispflicht verfügt wurde, so für die freie Meinungsäußerung durch Massenkommunikationsmittel, für Vereinigungen sowie Veranstaltungen mit Ausnahmen vor allen für Vereinigungen und Veranstaltungen staatlicher oder solcher Institutionen, die als gesellschaftliche ohnehin unter der Kontrolle der SED standen, sowie für die Ausreise.61 Die Gewährung von Grundrechten wurde zur Ausnahme von der Regel. Die Pervertierung der Grundrechte wurde in der einfachen Gesetzgebung bestätigt. Außerdem wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung durch rigorose Bestimmungen des politischen Strafrechts und einer entsprechenden Praxis der Gerichte verletzt.6 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot wurden gröblich verletzt. In der erwähnten Antwort der sozial-liberalen Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Verletzung weiterer Bestimmungen des IPBPR genannt, so des Rechts auf Leben (Art. 6 Abs. 1 IPBPR) durch das Regime an der innerdeutschen Demarkationslinie, des Rechts auf menschenwürdige Behandlung (Art. 7 und 10 a.a.O.) in den Untersuchungs- und Haftanstalten der DDR, des Rechts auf Auswanderung und der Freizügigkeit innerhalb der DDR (Art. 12), das Recht auf fairen Prozeß (Art. 14 a.a.O.), des Schutzes der Privatsphäre (Art. 17 a.a.O.) sowie des Rechts auf Familie (Art. 23, 24 a.a.O.).63 Damit wurde vor allem die Praxis der Staatsorgane der DDR gegeißelt. Freilich hatte die sozial-liberale Bundesregierung dabei versäumt, auf die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit aufmerksam zu machen, das die Verfassungswirklichkeit der ehemaligen DDR nachhaltig beeinflußt hatte. Das war schon damals nicht unbekannt,64 freilich in ganzem Umfang erst nach der Zeitenwende mit Öffnung dessen Akten offenbar, bis zum Griff auf das Denken der gewaltunterworfenen Men-

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Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Art. 96, Rz. 9. Siegfried Mampel (Anm. 1), S. 70-76. 62 Siehe vor allem: Karl W. Fricke, Politik und Justiz in der DDR, 2. Aufl. Köln 1990; Zur politischen Strafrechtssprechung des Obersten Gerichts der DDR, Heidelberg 1994; Kein Recht gebrochen ? Das MfS und die politische StraQustiz der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Β 40/94, S. 24 ff. 63 Wie Anm. 44, hier S. 466 ff. 64 Siegfried Mampel, Verfassungskommentar (Anm. 13), Präambel, Rz. 43. 61

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Siegfried Mampel

sehen unter Verletzung des in Art. 18 IPBPR verankerten Rechts auf Gedanken und Gewissensfreiheit. 65 Die sozial-liberale Bundesregierung hatte in ihrer Antwort auf die zwar im Einklang mit der DDR-Verfassung, aber im Widerspruch zu den Bestimmungen des IPBPR stehenden Beschränkungen in der einfachen Gesetzgebung aufgeführt und gezeigt, daß diese, als Ausnahmen zugelassen, nach ihr die Regel waren. So verletzten nicht nur die Praxis der Staatsorgane der ehemaligen DDR, sondern schon die Verfassung und die einfache Gesetzgebung in der ehemaligen DDR Bestimmungen des IPBPR und damit nach Artikel 8 Abs. 1 der DDR-Verfassung nicht nur jeden Bürger, sondern vor allem auch die Staatsmacht bindendes Recht. Obwohl die Vertreter der ehemaligen DDR vom ersten Bericht 1977/1978 das Menschenrechtskomitee davon zu überzeugen versuchten, Verfassung, einfache Gesetzgebung und Praxis ständen im Einklang mit dem IPBPR, hatte das Ministerium der Justiz nach der jeweiligen Berichterstattung Überlegungen angestellt, welche Veränderungen in der einfachen Gesetzgebung, ja vielleicht auch im Grundrechtsteil der Verfassung vorgenommen werden sollten, um in Zukunft unangenehme Fragen von Mitgliedern der Menschenrechtskommission zu vermeiden. Einige Änderungen wurden auch vorgenommen. So wurde das Grenzregime 1982 durch Gesetz statt zuvor durch Verordnung geregelt, ohne daß freilich damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaß verbot Beachtung gefunden hätten.66 Die Todesstrafe wurde abgeschafft. 67 Beim Obersten Gericht wurde ein Großer Senat gebildet, der Rechtsmittelinstanz gegen erstinstanzliche Urteile dieses Gerichts wurde. 68 Darunter fällt auch die schon erwähnte Erweiterung der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte auf einige enumerativ bezeichnete Verwaltungsstreitigkeiten.69 Für die Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland, darunter wurde

65 Siegfried Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heüslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Band 50 der Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1996. 66 Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. März 1982 (GBl./DDR I, S. 197). 67 Gesetz zur Änderung straf- und Strafverfahrens rechtlicher Bestimmungen (4. Strafrechtsänderungsgesetz) vom 18. Dezember 1987 (GBl./DDR I, S. 301). 68 Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung vom 18. Dezember 1987 (GBl./DDR I, S. 302). 69 Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14. November 1988 (GBl./DDR I, S. 372).

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auch die Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) verstanden, wurden 70

Erleichterungen geschaffen. Aber so bedeutsam diese im Einzelfall waren, betrafen sie doch aufs Ganze gesehen nur Marginalien. Das Machtmonopol und das, was die DDR-Machthaber als der ordre public der DDR betrachteten, blieb davon unberührt. Den Untergang der DDR konnten sie nicht aufhalten. Immerhin zeigt das doch, daß auch die DDR in gewissen Ausmaße lernfahig war. Sicher war der Beweggrund für die Rechtsänderungen vor allem ihr Drängen nach Prestigegewinn im Ausland. Aber, wenn im Ministerium der Justiz die innerstaatliche Wirksamkeit des IPBPR als Alternative für möglich gehalten wurde und damit der Politik insoweit nicht das Primat eingeräumt wurde, so ist es angebracht, im vereinigten Deutschland darauf zu achten, daß die DDR aufgrund ihrer Verfassung innerstaatlich an den IPBPR gebunden war, wenn man nicht schon davon ausgeht, daß die Ratifikation durch den Vorsitzenden des Staatsrates und die Promulgation im Gesetzblatt eine innerstaatliche Bindung geschaffen hatte.71

70 Verordnung über die Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland vom 30. November 1988 (GBl./DDR I, S. 271). 71 In der zur Zeit der Abfassung dieses Beitrages in der mündlich vorgetragenen Begründung des Urteüs des Landgerichts Berlin im sogenannten „Politbüro "-Prozeß wird zur Frage der DDR-innerstaatlichen Bindung des IPBPR nicht Stellung genommen. Es heißt lediglich, daß die Militärs und die Grenztruppen bei der Sicherung der Grenze stets „befehlsgetreu" das Primat der Politik beachtet hätten. (Pressemitteüung des Senats Verwaltung der Justiz, Berlin, Nr. 103/97, S. 5) und daß mit der Zweideutigkeit des Grenzgesetzes die menschenrechtswidrige Praxis mit dem Mantel des Rechts verhüllt werden sollte.

Papa ante portas Von Michael Wolffsohn

Papa ante portas! Stasi und Staatsführung der DDR dachten im Frühjahr 1979 dabei nicht an Loriots Filmkomödie, sondern an schwer verdauliche politische Kost. Eigentlich war diese Kost religiös, aber sie drohte politisch zu wirken: Vom 2. bis zum 10. Juni 1979 reist der „polnische Papst" Johannes Paul II. erstmals als oberster Hirte der Welt-Katholiken in seine Heimat. Der erste Papstbesuch in einem sozialistischen Land, aus dem der Pontifex sogar noch stammte, bedeutete natürlich „eine Vermischung religiöser, politischer und nationaler Interessen."1 Denn Johannes Paul II. „kommt als Papst, Pole und Antikommunist".2 Die Stasi-Maulwürfe fürchteten Schlimmes: Eine Zusammenarbeit des „Imperialismus" mit der katholischen und der „jüdischen Weltmacht", an die DDR-Verantwortliche fest glaubten, gegen die Welt des real existierenden Sozialismus. Noch später waren die wackeren Stasi-Mannen aus der Normannenstraße noch weiser. Aus „italienischen Kirchenkreisen" erfuhren sie Genaueres über diese seltsame Verschwörung: Sogar der polnische Kardinal Wyszynski machte sich, lesen wir, kurz vor seinem Tod Sorgen über „einen großen Teil" der oppositionellen „Solidarnosc"-Intelligenz im damals noch sozialistischen Polen. Die polnischen Abweichler verfügten „über weitreichende Verbindungen in Westeuropa und in den USA." 3 Noch viel schlimmer: „Die engsten Verbindungen" bestanden „mit dem internationalen Zionismus."4 Von der Existenz einer „jüdischen Weltmacht" waren die politisch Verantwortlichen der DDR-Führung von Ulbricht bis Honecker stets überzeugt. Dies habe ich in meinem Buch „Die Deutschland-Akte" (3. Auflage 1997) dokumentiert.

1 Reise des Papst Johannes Paul II in die VR-P, BStU, MfS, HA XX/4-2487, Blatt 25. 2 Reise des Papst (sie), a.a.O., Blatt 29. 3 Abteüung X, Berlin (Ost), 12. 6. 1981, Übersetzung aus dem Russischen, Informantin der Sicherheitsorgane der UVR über die Rolle des Zionismus und der katholischen Kirche in der Tätigkeit von „Solidarnosc", BStU, MfS, HA XX/4-408. 4 Ebd.

Michael Wolffsohn

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In der Stasi-Zentrale meinte man im Juni 1981 zu wissen, daß sogar Johannes Paul II. die vermeintlichen Querverbindungen zwischen der polnischen Opposition und dem „internationalen Zionismus" nicht paßten: „Kompetente Repräsentanten des Vatikans, darunter auch der Papst, sind überzeugt davon, daß die nach Polen gelangten Instruktionen von den Zionisten ausgehen und daß bei ihrer Übermittlung neben den USA und Israel auch die polnischen Emigranten in Westeuropa eine bedeutende Rolle spielen."5 Eine solche Verjudung der katholischen Kirche sowie ganz Polens wollte die brave Stasi verhindern. Zunächst aber galt es im Frühjahr 1979, die schädlichen Einflüsse des Papstes einzudämmen. Schon die Analyse der Enzyklika „Redemptor Hominis" vom 4. März 1979 ergab für die Stasi eindeutig: Die „traditionelle katholische Lehre" und „straffe klerikale Disziplin" hielt Johannes Paul II. für den besten „Gegenpol gegenüber der weiteren Verbreitung der Idee des Sozialismus und der atheistischen Umwelt."6 Sie sei ein „Langzeitprogramm" im ideologischen Kampf. 7 „Zur Verhinderung feindlicher Aktivitäten und der rechtzeitigen Einleitung politisch-operativer Maßnahmen" mobilisierte das MfS seine inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Man fürchtete, daß sich DDR-Bürger mit dem Papst-Bazillus infizieren könnten. Ein detaillierter Einsatzplan wurde für die Ims entwickelt.8 24 fuhren nach Polen.9 Die fleißigen IM-Maulwürfe sollten zunächst herausfinden, wie viele DDRler des Papstes wegen ins östliche Nachbarland reisen wollten. Dem Mißbrauch für feindliche Zwecke" sowie „Provokationen während der Reise" sollte präventiv entgegengewirkt werden. Die Ein- und Ausreise zwischen den beiden gar nicht so brüderlichen, doch sozialistischen Staaten wurde während des Papstbesuches noch intensiver als sonst kontrolliert. Daß „geplante Aktivitäten feindlicher Elemente" aufgedeckt werden sollten, versteht sich von selbst. Stasi-Chef Mielke persönlich oder seinem Stellvertreter Mittag sollten hierüber „sofort" informiert werden.10 Mit „den polnischen Genossen" koordinierte man den Kampf gegen die Verschwörung am 11. Mai 1979.11 Ganz ausschalten wollte man freilich die katholische Kirche Polens nicht. Der „Genosse Kakol begrüßt, daß die Kirche Einfluß nimmt gegen das Sau5

Ebd. BStU, MfS, HA XX/4- 2209, Blatt 40. 7 A.a.O., Blatt 46. 8 Informationen der BV zum Einsatz, 23. 5. 1979, MfS, HA XX/4-2484, Blatt 5. 9 HA XX/4-2487, Blatt 114. 10 BStU, MfS, HA XX/4-2487, ohne Datum, Blatt 8. 11 MfS, BStU, HA XX/4-2487, Blatt 18. 6

Papa ante portas

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fen, auf den Fleiß der Menschen und die Sauberkeit."12 Aber „Forderungen" wie zum Beispiel den „Zutritt zu den Massenmedien" gingen doch erheblich zu weit.13 Den rund 6 Prozent katholischen DDR-Bürgern und ebenso der ansonsten eher artigen katholischen Führung im eigenen Lande mißtraute man: „Auch die KK (Katholische Kirche) in der DDR wird auf dieser Welle des Enthusiasmus und der Euphorie in gewissem Sinne mitschwimmen (auch ohne es zuzugeben)."14 Die Sorgen über die Kirchenoberen waren überflüssig. Manche gaben ihr Bestes, um die DDR-Katholiken in Quarantäne zu lassen: Bischof Schaffran aus Meißen setzte „sich persönlich" dafür ein, „daß katholische Christen von einer Reise nach Polen absehen, um der VR Polen keine Schwierigkeiten zu bereiten."15 Aufatmend stellte man in der Bezirksverwaltung der Stasi Dresdens fest, es gebe „keine Hinweise, daß größere Gruppen nach Polen fahren." 16 In Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) wußte man, daß die „Leitung des Bistums Meißen vor einer Massenbewegung katholischer Gläubiger während der Zeit des Aufenthaltes des Papstes in der VR Polen" sogar „gewarnt" hatte.17 „Konflikte mit staatlichen Organen" fürchteten die frommen Männer.18 Besonders rücksichtsvoll waren „einige katholische Pfarrer", die nicht nur wußten, daß sie den Papst ohnehin kaum zu Gesicht bekämen, sondern „auf die Interessen und Probleme des polnischen Volkes ... Rücksicht nehmen" wollten.19 Sie dachten an die „Versorgungssituation und die Nachwirkungen der Hochwasserkatastrophe des Frühjahres". 20 Praktiziertes Christentum: Nächstenliebe, Nachbarnliebe. Bischof Schaffran aus Meißen selbst ließ sich das Vergnügen freilich so wenig nehmen wie Kardinal Bengsch aus Berlin, Bischof Aufderbeck (Erfurt) und Weihbischof Huhn aus Görlitz. 21 Nicht alle Schäfchen blieben artig: „Es wird jedoch Personen geben, die individuell versuchen werden, den Papst zu sehen und die Strapazen einer solchen Reise auf sich zu nehmen."22 Hatte etwa doch die „jüdische Weltverschwörung" die katholische Basis angestachelt. 12

MfS, HA XX/$-2487, Blatt 18. Ebd. 14 Reise des Papst, a.a.O., Blatt 30. 15 Bezirksverwaltung Dresden, Information Papstbesuch, 31. 5. 1979, HA XX/42487, Blatt 107. 16 Dresden, ebd. 17 HA XX/4-2487, Blatt 111. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 MfS, XX/4-2487, Blatt 111. 22 Ebd. 13

Der Historiker und die Politik Alexander Fischer als Sachverständiges Mitglied der Bundestags-Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"1

Von Manfred Wilke 1. Der Bundestag und die Geschichte der zweiten Diktatur

Der Bedeutungswandel eines Satzes von Robert Havemann aus dem Jahre 1978 soll den Perspektivenwechsel verdeutlichen, der 1990 durch die deutsche Einheit im Blick auf die Geschichte der DDR eingetreten ist. Havemann befand sich damals unter Hausarrest. Diese Schikane sollte auch dazu dienen, ihn zum Verlassen der DDR zu bewegen. Er lehnte es ab, in den Westen zu gehen, und verband seine Weigerung mit einer trotzigen Prognose: „Ich denke ja gar nicht daran, die DDR zu verlassen, wo man wirklich auf Schritt und Tritt beobachten kann, wie das Regime allen Kredit verliert und schon verloren hat, und es eigentlich nur noch weniger äußerer Anstöße und Ereignisse bedarf, um das Politbüro zum Teufel zu jagen."2 Diese Zeilen standen in dem Manuskript des Buches „Robert Havemann - Ein deutscher Kommunist". Der Satz erschien damals als Ausdruck eines isolierten und zornigen Wunschdenkens, bar jeden Realitätssinnes. Im vermeintlich wohlverstandenen Interesse seines Autors wurde im Verlag diskutiert, diese Zeilen zu streichen. 1989 erwies sich dieser vergessene Satz als zutreffende Prognose. Der „Sozialismus in einem halben Land",3 wie der hochgeschätzte DDR-Forscher Dietrich Staritz verständnisvoll formuliert hat, war am Ende. Deutschland er-

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Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf einem Symposium zu Ehren von Alexander Fischer über dessen Arbeit als Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission gehalten hat, das am 1. November 1996 im Dresdener HannahArendt-Institut stattfand und deren Beiträge bislang nicht publiziert wurden. 2 Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblick und Perspektiven aus der Isolation, hrsg. von Manfred Wilke, Reinbek 1978, S. 29. 3 Dietrich Staritz: Sozialismus in einem halben Land. Zur Programmatik und Politik der KPD/SED in der Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der DDR, Berlin 1976.

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lebte die erste friedliche, unblutige und erfolgreiche demokratische Revolution seiner Geschichte. Das sowjetische Imperium erodierte, und die deutsche Vereinigung kehrte auf die Tagesordnung der Weltpolitik zurück. Die Bundesrepublik bestand 1990 ihre Bewährungsprobe als demokratischer Kernstaat der Deutschen. Die Westbindung der Bundesrepublik und das Bündnis mit den Vereinigten Staaten gehörten zu den unabdingbaren außenpolitischen Voraussetzungen für die Vereinigung in Frieden und Freiheit. Das intellektuelle Klima in der Bundesrepublik beherrschten am Vorabend der friedlichen Revolution in der DDR Positionen wie die von Theo Sommer, Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit", der am 22. September 1989 in seinem Blatt lapidar feststellte: „Die deutsche Frage ist nicht aktuell".4 Solche Auffassungen wurden gestützt durch den vorherrschenden Trend in der bundesrepublikanischen DDR-Forschung, der von der Teilung Deutschlands als unabänderlichem Schicksal ausging. Die Analyse der Verhältnisse im kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands sollte den dort geltenden systemimmanenten Maßstäben der regierenden SED folgen und sich nicht normativ an den Maßstäben einer freiheitlich, demokratisch, rechts- und sozialstaatlich und pluralistisch organisierten Gesellschaft orientieren. Wissenschaftler und Politiker, die daran festhielten, daß die deutsche Nation fortbesteht und nur durch den Verlauf der Geschichte gezwungen war, in zwei Staaten zu leben, galten als realitätsfern und ihre Position als politisch illusionär. 1978 schlossen sich Wissenschaftler in der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) zusammen, die sich gegen die Dominanz dieser Position, die vornehmlich in der politikwissenschaftlichen DDR-Forschung vertreten wurde, zur Wehr setzen wollten. Die ersten Sprecher der GfD waren Dr. Jens Hacker, Diplom-Volkswirtin Maria Haendcke-Hoppe und Prof. Dr. Siegfried Mampel.5 Vorsitzender der Fachgruppe Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft wurde der Osthistoriker Prof. Dr. Alexander Fischer. Er gehörte zu den Historikern, die weder daran glaubten, daß die Geschichte der deutschen Nation 1945 endete, noch bereit waren, die Möglichkeiten der deutschen Einheit auszuschließen. Er kannte die weltpolitische Konstellation, auf der die deutsche Teilung beruhte und die sein Kölner Historikerkollege Andreas Hillgruber mit den Sätzen umriß: „Die »Demarkationslinien4, die die Machtbereiche von Ost und West voneinander trennen und Deutschland teilen, sind die selben, die damals abgesteckt wurden. Damit sind zugleich auch die Deutschen selbst noch immer mit einer seit 1945 im Grundsätzlichen unveränder4 Wolfgang Jäger / Ingeborg Villinger: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg i. Br. 1997, S. 30. 5 Vgl. Karl Eckart /Jens Hacker / Siegfried Mampel: Die deutsche Wiedervereinigung - Wunsch und Wirklichkeit. Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998.

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ten Lage und der daraus erwachsenden schwierigen, wohl noch auf sehr lange Zeit unlösbaren Aufgabe konfrontiert, einen Weg zur Verwirklichung ihres Rechts auf Selbstbestimmung im Rahmen einer die Interessen der Groß- und Weltmächte ebenso wie die der Nachbarn Deutschlands berücksichtigenden vernünftigen und gerechten europäischen Friedensordnung zu finden." 6 1989/90 fanden die Deutschen schneller als erwartet diesen Weg zur Einheit. 1991, ein Jahr nach der deutschen Einheit, wuchs die Einsicht, daß eine öffentliche Verhandlung über die zweite Diktatur und ihren Platz in der Teilungsgeschichte nach 1945 unausweichlich ist für die politische Kultur im vereinten Deutschland. Eine der Konsequenzen dieser öffentlichen Debatte um Geschichte und Folgen der SED-Diktatur war die Einsetzung einer EnqueteKommission zu dieser Frage durch den Deutschen Bundestag im Frühjahr 1992. „Einmalig für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war das Unterfangen, daß ein deutsches Parlament sich selber die Aufgabe der »Vergangenheitsbewältigung4 stellte."7 Dieser Kommission gehörte Fischer als sachverständiges Mitglied an, und er setzte sich in dieser Funktion bewußt dem Spannungsverhältnis zwischen politischer Aufgabenstellung der Kommission und dem eigenen Selbstverständnis als Historiker aus. Der Kommission gelang es in relativ kurzer Zeit, sehr viele Quellen zur SED-Diktatur und zur deutschen Teilungsgeschichte zu erschließen. Viele Beobachter sehen hierin ihr wichtigstes Verdienst. Die vorliegenden 18 Bände, in denen der Bundestag die Materialien der Enquete-Kommission8 veröffentlichte, erweisen sich schon heute als Fundgrube für die zeitgeschichtliche Forschung und die Lehre an den Hochschulen. Bei dieser wissenschaftlichen und publizistischen Würdigung tritt aber ausgerechnet die politische Bedeutung dieser umfassenden Textsammlung in den Hintergrund: Die Enquete-Kommission war ein Instrument der parlamentarischen Geschichtspolitik des ersten gesamtdeutschen Bundestages im Vereinigungsprozeß! Es war diese politische Aufgabenstellung, die das Spannungsfeld für den Historiker Fischer schuf, in dem er seine Arbeit als Sachverständiger ausübte. Er litt oft unter der Art, wie Politiker mit historischen Fakten umgingen und ihre Komplexität vereinfach6 Andreas Hillgruber: Deutsche Geschichte 1945-1986. Die „deutsche Frage" in der Weltpolitik, 7. Auflage, Stuttgart 1989, S. 147. 7 Dirk Hansen: Befreiung durch Erinnerung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" des Deutschen Bundestages, in: Deutsche Studien, Vierteljahreshefte der Ost-Akademie e.V. Lüneburg, Heft 125, X X X I I . Jahrgang, März/Juli 1995, S. 71. 8 Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), 9 Bände in 18 Teübänden, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995 (künftig zitiert als: Materialien).

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ten, wenn es die Zuspitzung des politischen Urteils erforderte. Dies führte bei ihm zu inneren Konflikten, die in seinem Wissenschaftsverständnis wurzelten. Für die Arbeit der Kommission waren diese Widersprüche produktiv, sie führten zu kritischen Einwänden und beharrlichem Widerspruch. Er tat dies, gerade weil die geschichtspolitischen Intentionen der demokratischen Parteien im Bundestag seinen eigenen Überzeugungen entsprachen. Mehr noch, für den Patrioten Fischer war es eine Ehre, die er zugleich als seine Pflicht empfand, sein Wissen und sein historisches Urteil in den Dienst dieser Kommission zu stellen. Schließlich ging es um eine erste umfassende Bestandsaufnahme der SED-Diktatur aus gesamtdeutscher Perspektive. Diese Aufgabe bot dem Historiker die Chance, in dieser Kommission ein ehrgeiziges Ziel zu verfolgen: Er wollte zu präzisen Kernaussagen über die DDR beitragen, die tragfähig sein sollten für eine künftige demokratische Nationalgeschichte der deutschen Teilung und ihrer Überwindung. 2. Die Enquete-Kommission und ihre Aufgabe

Eine Enquete-Kommission soll nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages dem Parlament helfen, umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe zu untersuchen, um dem Bundestag Empfehlungen für seine politischen Entscheidungen zu geben. Nimmt man die Handlungsempfehlungen, die die Kommission für das Parlament erarbeiten sollte als Maßstab für ein Urteil über ihre Arbeit, so muß man feststellen: In dieser Hinsicht hat der Bundestag von seinem Instrument wenig Nutzen gehabt! Die Rehabilitierungs- und Wiedergutmachungsgesetze für die Opfer der SED-Diktatur wurden ebenso wie das Stasi-Unterlagengesetz noch vor Einsetzung der Kommission verabschiedet. Die zentrale Weichenstellung für die öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED-Diktatur nach 1989 war die Öffnung der Stasi-Akten, und diese Entscheidung traf die erste frei gewählte Volkskammer der DDR. Was also blieb der Kommission nach ihrer Konstituierung 1992 noch zu tun? Es ging vor allem um die Aufklärung über die SED-Herrschaft, ihre Entstehung, die Strukturen, ihre Mechanismen und um eine Bewertung dieser Diktatur. Der erste gesamtdeutsche Bundestag verhandelte mit dieser Enquete-Kommission über die DDR als dem untergegangenen Staat der deutschen Teilungsgeschichte und urteilte über sein politisches System. Ein typisches Wesensmerkmal von Enquete-Kommissionen ist ihre Zusammensetzung. Mitglieder sind Abgeordnete und mit Stimmrecht ausgestattete externe Sachverständige, die auf Vorschlag der Fraktionen und Gruppen vom Bundestag berufen werden. Die Initiative zur Einsetzung dieser Kommission zur SED-Diktatur ging von ostdeutschen Abgeordneten aus, die aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR kamen und die im Bundestag unterschiedlichen Parteien angehörten.

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Aber die Intention der Kommission war eine gesamtdeutsche. Trotzdem waren auf Seiten der insgesamt 32 Abgeordneten, die ihr als ordentliche Mitglieder oder Stellvertreter angehörten, die „gelernten DDR-Bürger" überproportional vertreten. Anders sah die Sache bei den elf Sachverständigen aus, hier kamen sieben aus dem Westen und vier aus den neuen Bundesländern. Den gesamtdeutschen Auftrag der Kommission betonte besonders der Einsetzungsantrag der Regierungskoalition,9 während sich die Anträge von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen sehr stark auf die Geschichte der SED-Diktatur konzentrierten.10 Die unterschiedlichen Akzente hinsichtlich der Aufgabenstellung der Kommission spiegelten somit die unterschiedlichen west- oder ostdeutschen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Teilung und Diktatur getreulich wider, die ebenfalls von der Kommission thematisiert werden sollten. Es galt aber, die Geschichte der Spaltung als nationales Schicksal der Deutschen zu begreifen und darzustellen, sollte die Arbeit der Kommission der inneren Vereinigung im Geist von Freiheit und Demokratie dienen. Nur wenige Mitglieder der Kommission waren in der Lage, geprägt durch das eigene Lebensschicksal und den damit verbundenen „doppelten Filmen" im Kopf eine integrative Perspektive der Teilungsgeschichte zu entwickeln. Diese Aufgabe übernahmen im wesentlichen die Sachverständigen, unter denen es einige gab, die über einen solchen „doppelten Film" verfügten und die diese Perspektive immer wieder zur Geltung brachten. Um meine These zu belegen, will ich exemplarisch auf die Lebenswege von zwei Sachverständigen, Hermann Weber und Karl Wilhelm Fricke, eingehen: Weber stammt aus Mannheim, absolvierte einen der ersten Lehrgänge der Parteihochschule der SED in Kleinmachnow, war langjähriger FDJ-Funktionär in Westdeutschland und brach im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 mit der KPD. 11 Er war sich der gesamtdeutschen Dimension der SEDDiktatur ebenso bewußt wie Karl Wilhelm Fricke, der 1955 von der Stasi aus Westberlin verschleppt wurde und vier Jahre Bautzen hinter sich bringen mußte. Für ihn war nach seiner Entlassung in den Westen die journalistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR, der SED und der „deutschen Frage" zur Lebensaufgabe geworden. Die von ihm geleitete OstWest-Redaktion im Kölner Deutschlandfunk wurde vom MfS als eine der wichtigsten Zentralen der „ideologischen Diversion" eingeschätzt.12

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Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 18. Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 3 ff. 11 Vgl. Horst Krüger (Hg.): Das Ende einer Utopie. Hingabe und Selbstbefreiung früherer Kommunisten, Ölten und Freiburg i. Br. 1963, S. 111 ff., besonders S. 131. 12 Vgl. Karl-Wilhelm Fricke: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, 3., durchgesehene, erweiterte Auflage, Berlin 1996. 10

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Die Enquete-Kommission konzentrierte sich in ihrer Arbeit auf sechs Themenfelder. Es waren dies: 1. Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung. 2. Rolle und Bedeutung der Ideologie. 3. Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat. 4. Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen. 5. Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur. 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands. Ferner wurden für die Themen „Staatssicherheit", „Seilschaften" und „Archive" eigene Arbeitsgruppen eingerichtet. Für viele Mitglieder der Kommission besaß themenfeldübergreifend ein Anliegen Priorität: Die Geschichte von Verfolgung, Opposition und Widerstand gegen die SED-Herrschaft sollte in Grundzügen dargelegt und in ihrer Bedeutung für die demokratische Tradition der Deutschen gewürdigt werden. Im Zusammenhang mit dieser Geschichte mahnte die Kommission Handlungsbedarf für Staat und Gesellschaft an und forderte: „Dem Leiden der Opfer der SED-Diktatur, die ihren Widerstand und ihre Opposition mit dem Leben oder mit langjährigen Freiheitsstrafen bezahlen mußten, ist durch äußere Zeichen - Erinnerungs- oder Gedenktafeln, Gedenksteine - Genugtuung zu verschaffen. Das System der politischen Verfolgung in der SBZ/DDR muß an dafür geeigneten zentralen Orten dokumentiert und darüber hinaus der Öffentlichkeit vermittelt werden. Die Tatsache, daß es Tatorte nationalsozialistischen und kommunistischen Terrors gibt (z.B. Sachsenhausen, Buchenwald, Bautzen, Brandenburg, Gedenkstätte Münchener Platz in Dresden), sollten keine »Aufrechnung 4 oder Gleichsetzung auslösen. Es muß daran erinnert werden, daß unter den Opfern des kommunistischen Terrors auch Verfolgte des Nationalsozialismus waren." 13 Damit formulierte die Kommission einen für den innerdeutschen Diktaturenvergleich wichtigen Grundsatz, die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes sollten nicht verharmlost oder gar gegen die der Kommunisten aufgerechnet werden. Umgekehrt darf es keine Bagatellisierung des kommunistischen Terrors geben. Auch in diesem Zusammenhang unterschied Fischer die Bedeutung sowjetischer Entscheidungen für die Geschichte der SBZ/DDR, schließlich war es die Besatzungsmacht, die die nationalsozialistischen Konzentrationslager Bu-

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Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 6 7 .

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chenwald und Sachsenhausen als Speziallager von 1945 bis 1950 nutzte.14 Der erste Satz des Abschlußberichts der Kommission hält diesen Aspekt der SBZ/DDR-Wirklichkeit fest: „Wesentliche Grundlage der über 40jährigen SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der sowjetischen und deutschen Kommunisten.4415 3. Die Öffnung der MfS-Akten und die Einsetzung der Enquete-Kommission

Warum entschied sich der Bundestag überhaupt, eine Enquete-Kommission zur Geschichte der SED-Diktatur 1992 einzusetzen, deren Ergebnis heute vorwiegend auf ihren wissenschaftlichen Ertrag reduziert wird, der in knapp zwei Jahren zustande kam. In dieser Zeit führte die Kommission 44 öffentliche Anhörungen durch, sie hörte 327 Wissenschaftler und Zeitzeugen an und holte 148 wissenschaftliche Gutachten (Expertisen) ein. 16 Die Gründe für die Einsetzung sind im Verlauf des Vereinigungsprozesses zu suchen. 1989/90 waren der Sturz der SED-Diktatur und die Überwindung der Teilung des Landes die Hauptaufgaben der praktischen Politik. Weder die Bundesregierung noch die Parteien und auch nicht der Bundestag hatten Sinn

14 „Die in sowjetischen Akten für diesen Lagertypus gebrauchte Bezeichnung ,Spez. Lager 4 ist als »Speziallager4 und ,Sonderlager' übersetzt worden. Der hier benutzte Begriff »Speziallager4 umschreibt eine Lagerart, die es in dieser Form zuvor nicht gab und für die aus allen Lagerformen Elemente übernommen wurden: Die Speziallager waren Schweigelager, d.h. die Insassen hatten keinerlei Verbindung zu ihren Angehörigen. Die Inhaftierten waren ohne Urteü auf unbestimmte Zeit eingeliefert worden und sahen nach einer Verurteüung durch ein sowjetisches Militärtribunal (SMT) in der Regel einer lebenslangen Haft entgegen. Fast alle Strafaussprüche lauteten auf ,25 Jahre Arbeitslager 4 oder ein mehrfaches. Die zeitweise an Vernichtungswillen erinnernde Minimalverpflegung war in Verbindung mit engster Zusammenlegung, schlechtesten hygienischen Verhältnissen, völliger Beschäftigungslosigkeit und Unterbindung geistiger Betätigung sowie völliger Isolierung von der Außenwelt und der Ungewißheit über das weitere eigene Schicksal eine das Massensterben auslösende Mischung. In dieser Darstellung werden nicht die unmittelbar nach der Besetzung im Bereich der fünf Sowjetarmeen unterhaltenen provisorischen Lager und Gefängnisse in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches, Süd-Ostpreußen, DanzigWestpreußen und im Wartheland berücksichtigt, die meist nur kurze Zeit bestanden. Hier wurden Deutsche, vor allem Frauen, eingesperrt, um sie zur Arbeit an Ort und Stelle einzusetzen oder in die Sowjetunion zu deportieren. Im NKWD MWD-Jargon hießen sie »Mobilisierte Kontingente4, im Gegensatz zu den Häftlingen in den Speziallagera, die ,Spezialkontingente4 genannt wurden. 44 Gerhard Finn: Die Speziallager der sowjetischen Besatzungsmacht 1945-1950, in: Materialien, a.a.O., Bd. IV, S. 360 f. 15 Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 208. 16 Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 193.

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und Zeit für den zeitgeschichtlichen Umgang mit der deutschen Teilung. Aber die Geschichte der DDR war ebenso wenig vergangen wie die der Teilung, sie lebte in den Menschen und prägte den Vereinigungsprozeß. Von den Folgen der SED-Diktatur war das Land unterschiedlich betroffenen: In den neuen Bundesländern galten nun die Normen und Regeln der westlichen Gesellschaft, für die Westdeutschen dagegen kam es zu keinen vergleichbaren qualitativen Veränderungen ihrer Lebensumstände. Ein erster grundlegender politischer Konflikt um den Umgang mit der SED-Geschichte entzündete sich im Sommer 1990 im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Regierungen. Beide Seiten bekundeten ihre Absicht, in diesem Vertrag eine restriktive Nutzung der Unterlagen des MfS festzulegen. In den Einigungsvertrag sollte eine Bestimmung aufgenommen werden, daß die Unterlagen der Staatssicherheit dem westdeutschen Bundesarchiv überstellt werden sollten und eine endgültige Regelung ihres Zugangs für die Opfer der Repression und die wissenschaftliche Forschung dem künftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen werden sollte. Als diese Absicht bekannt wurde, besetzten Bürgerrechtler Räume in der früheren Zentrale der Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße, um die Öffnung der MfS-Akten zu erzwingen, die im Verlauf der friedlichen Revolution durch spontan entstandene Bürgerkomitees vor der bereits befohlenen Vernichtung gerettet wurden. Die Volkskammer beschloß ein Gesetz, nach dem die Unterlagen des MfS auf dem Gebiet der DDR zu verbleiben haben und geöffnet werden sollen. Im September 1990 einigten sich beide Regierungen auf eine Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag, in der dem gesamtdeutschen Bundestag aufgetragen wurde, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die den betroffenen Opfern ein Auskunftsrecht über den Inhalt der vom MfS über sie angelegten Akten einräumt und die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS der DDR sicherstellen sollte. Mit dieser Bestimmung des Einigungsvertrages setzten die Bürgerrechtler in den letzten Tagen der DDR auch die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur als geschichtspolitischen Beitrag zum Vereinigungsprozeß durch. Die Öffnung der Stasi-Akten17 war in gewissem Sinn 17 Dieter Krüger schreibt in seinem Artikel über die Archivgesetzgebung im Zusammenhang mit der Öffnung der Stasi-Akten: „Diese Überzeugung der Bürgerrechtsbewegung fand Eingang in einen Gesetzentwurf, den die christlich-liberale Regierungskoalition und die Sozialdemokraten gemeinsam trugen. Danach sollten Forschungsstellen einschließlich Träger der politischen Bildung Zugang zu Stasi-Unterlagen erhalten. Ahnlich wie im Bundesarchivgesetz war für Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Ämter und Amtsträger in Ausübung ihres Amtes ein verminderter Schutz ihrer persönlichen Belange vorgesehen. ... Daß die PDS in der abschließenden Lesung vom 14. November 1991 durch das Gesetz den »bisherigen, von Sieger- und teilweise Rachementalität geprägten Umgang mit der DDR-Vergangenheit4 bekräftigt sah, war nur konsequent." Dieter Krüger: Zeitgeschichtsschrei-

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die Vorentscheidung für die Einsetzung der Enquete-Kommission. Die Öffnung der Akten des MfS war für die Opposition in der DDR im Vereinigungsprozeß nicht nur ein Akt der gesellschaftlichen Selbstbefreiung, er diente auch der Sicherung der gewonnenen Demokratie vor nichtenttarnten Offizieren des MfS oder seinen Inoffiziellen Mitarbeitern in Parteien, Verwaltungen, Medien, Schulen und Universitäten. Die Öffnung der Akten ermöglichte es, solche konspirativ operierenden Beziehungsgeflechte der totalitären Machtstrukturen der Diktatur auch noch im Nachhinein aufzudecken und vertuschte Verbrechen des Regimes aufzuklären. Am 2. Januar 1992 nahm die Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)" ihre Tätigkeit auf. Wollte bis 1989 das MfS wissen: „Wer ist wer in der DDR?", so wollten jetzt viele Menschen wissen: „Wer war unter unseren Familienangehörigen, Freunden, Kollegen und Bekannten ein Spitzel, was hat er wie berichtet und warum hat er das getan?" Die Akteneinsicht trug zur Selbstbefreiung der Gesellschaft von der Atmosphäre der Lüge und des organisierten Mißtrauens bei, die eine direkte Folge der flächendeckenden Überwachung der DDR-Gesellschaft durch das MfS war. Zugleich offenbarte die Debatte um die Aktenöffnung aber auch eine zentrale Asymmetrie in der Frage des Umgangs mit der Geschichte der SED-Diktatur zwischen den West- und Ostdeutschen. Im Westen wurde der Stellenwert der gesellschaftlichen Selbstaufklärung durch Akteneinsicht nur schwer verstanden. Viele Politiker dort fürchteten, mit den MfS-Akten würde eine Büchse der Pandora geöffnet und diese Unterlagen könnten das politisch-moralische Klima in Deutschland dauerhaft vergiften. Für die verantwortlichen Politiker im Westen besaßen die Stasi-Akten zu diesem Zeitpunkt aber bereits eine ganz besonders brisante Dimension im Blick auf die Stabilität des gesamtdeutschen Parteiensystems, namentlich im Osten. Noch vor der Volkskammerwahl im März 1990 wurde ein junger Hoffnungsträger des demokratischen Neubeginns in der DDR, der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, Vorsitzender des „Demokratischen Aufbruchs", als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS enttarnt. Seiner Demaskierung folgte die des Vorsitzenden der im Herbst 1989 in der DDR gegründeten Sozialdemokratischen Partei, Ibrahim Böhme. Im März 1991 wurden gegen den einzigen demokratisch gewählten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maiziere (CDU), ebenfalls Vorwürfe erhoben, er habe als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS gearbeitet. Der von Wolfgang Schäuble vorgelegte Abschlußbericht über die Ermittlungen gegen de Maiziere konnte die Anschuldigungen nicht bung und informelle Selbstbestimmung. Archivgesetzgebung im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Verwaltung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 9/1997, S. 810 f.

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völlig entkräften, im Dezember 1991 legte der stellvertretende Vorsitzende der CDU deshalb sein Bundestagsmandat nieder und zog sich aus der Politik zurück. Schließlich wurden unmittelbar nach Öffnung der Stasi-Akten die Kontakte des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe zum MfS aus seiner Zeit als Jurist im Dienst der evangelischen Kirche bekannt, das ihn als „IM Sekretär" führte. Gerade in der Auseinandersetzung um den brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe ging es aber nicht allein um das politische Überleben des damals einzigen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten im Osten, sondern auch um die Rolle der evangelischen Kirchen in der deutschen Teilungsgeschichte. Die Kontroverse um die Öffnung der Stasi-Unterlagen, die Aufnahme der Arbeit der neu errichteten Bundesbehörde für die Verwaltung der Akten des MfS und die skandalträchtige Enttarnung der genannten Politiker als Inoffizielle Mitarbeiter des MfS gehörten zu den Faktoren, die den Bundestag veranlaß ten, sich als oberster Gesetzgeber des Landes mit dieser „Vergangenheitsbewältigung" zu befassen. Am 17. Juni 1994 hat die Kommission dem Bundestag ihren Abschlußbericht vorgelegt. Dessen wichtigste Ergebnisse wurden in einer parteiübergreifenden Entschließung zusammengefaßt, mit der das Parlament zugleich sein Urteil über das politische System der DDR und seinen Platz in der deutschen Geschichte abgab. Allein die SED-Nachfolgepartei PDS stimmte gegen diese Entschließung, in der es heißt: „Der Deutsche Bundestag hat mit der Einsetzung dieser Enquete-Kommission am 12. März 1992 ein politisches Zeichen gesetzt. Er hat deutlich gemacht und unterstreicht dies auch heute, daß die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft und ein Thema der publizistischen Diskussion, sondern ein bedeutsamer politischer Beitrag zur inneren Einheit Deutschlands ist. Die Erarbeitung einer historisch fundierten Beurteilung zu Ursache und Strukturen der zweiten Diktatur in Deutschland gehört nicht nur zur Bewältigung der Folgen der SED-Herrschaft und der Teilung Deutschlands, sondern ist zugleich eine grundlegende ständige Aufgabe bei dem Bemühen um die Weiterentwicklung der demokratischen politischen Kultur im wiedervereinigten Deutschland."18 In diesen Sätzen wird noch einmal die politische Aufgabe unterstrichen, die das Parlament für die Enquete-Kommission beschloß. Die bedeutsamsten Ergebnisse sind in der Entschließung aufgeführt, um das Urteil des Parlaments über die Diktatur zu begründen, das die politische Kultur der Demokratie in Deutschland festigen soll: - Der SED-Staat war eine Diktatur. Die äußere Stabilität der DDR über vier Jahrzehnte hatte die Existenzgarantie der Sowjetunion zur Voraussetzung. Materialien, a.a.O., Bd. I, S.

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- Die SED als diktatorische Staatspartei trug die Hauptverantwortung für das Unrecht, das Menschen in diesem System erlitten. - Das Ministerium für Staatssicherheit war nach innen als „Schild und Schwert der Partei" das zentrale repressive Machtinstrument der SED. - Die der SED-Diktatur unterworfenen Menschen haben den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt. - Flucht aus der SBZ/DDR, Opposition gegen das Regime und die Volkserhebung vom Juni 1953, die nur unter Einsatz von sowjetischen Streitkräften niedergeworfen werden konnte, gehören zu den demokratischen Traditionen der Deutschen. - Es ist das bleibende Verdienst der Deutschen in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und dem Ostteil von Berlin, daß sie im Herbst 1989 die SED-Diktatur stürzten und damit in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts die Vereinigung Deutschlands ermöglichten. - Die innere Einheit Deutschlands hängt von der Beseitigung der materiellen und immateriellen Folgeschäden ab, die die SED-Herrschaft dem Land hinterlassen hat.19 Die interfraktionelle Entschließung zum Abschlußbericht der EnqueteKommission verwies noch einmal auf ihren geschichtspolitischen Stellenwert im Prozeß der inneren Vereinigung des Landes. Sie bekräftigte das Credo demokratischer Politik in Deutschland, das im Westen seit 1945 galt: „Nie wieder Krieg von deutschem Boden, nie wieder Diktatur auf deutschem Bo20

den!" Die grundlegende Konsequenz für die zukünftige deutsche Politik, die nach dem Willen des Bundestages auch aus den Erfahrungen mit der SEDDiktatur gezogen werden muß, bestätigt die republikanische Grundüberzeugung, die gerade in Deutschland von überragender Bedeutung bleibt: Zu den geistigen Grundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie gehört „ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärer Konsens".21 4. Der Diktaturenvergleich - zur wissenschaftlichen Bedeutung der Ergebnisse der Kommission

Dem Historiker Fischer ging es in seiner Arbeit als Sachverständiger um tragfahige historische Urteile über die SED-Diktatur und damit über das 19 20 21

Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 781 ff. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 783. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 783.

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Schicksal der gespaltenen deutschen Nation in der bipolaren Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hatte die künftige demokratische Nationalgeschichte der deutschen Teilung und Vereinigung schon im Sinn, zumal sie mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums einherging. Einen der wichtigsten Beiträge für die weitere wissenschaftliche Forschung leistete die Kommission im Hinblick auf den innerdeutschen Diktaturenvergleich. Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert muß sich mit der Erblast zweier Diktaturen auseinandersetzen. Aus einem republikanischen Geschichtsverständnis heraus ist der Diktaturenvergleich mit Blick auf die Teilung zwingend. Ihren Bericht beginnt die Kommission mit dem historischen Zusammenhang beider Diktaturen, und damit benennt sie zugleich den welthistorisch zu nennenden Unterschied zwischen dem „Dritten Reich" und dem SED-Staat: „Die entscheidende Voraussetzung für die Errichtung der kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und damit für die Teilung Deutschlands schuf jedoch die nationalsozialistische Kriegsund Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges [...]. Die deutsche Expansionspolitik zwang die Großmächte Großbritannien, die Sowjetunion und die USA im Jahre 1941 zu jenem ,seltsamen4 Bündnis, dem es schließlich vier Jahre später gelang, den deutschen Aggressor und seine Verbündeten niederzuwerfen. " 2 2 Der alliierte Sieg befreite auch die Deutschen von der nationalsozialistischen Diktatur, aber sie waren nun mehr „den Besatzungsmächten bedingungslos ausgeliefert". 23 Der deutsche Staat wurde aufgelöst, der Alliierte Kontrollrat übernahm die oberste Regierungsgewalt, und das Land wurde zum Objekt der vier Siegermächte. Aus der Einteilung in Besatzungszonen wurde die politische Teilung des Landes. Die Deutschen wurden in die sich entwikkelnde bipolare Weltordnung des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und dem von den Vereinigten Staaten geführten Westen eingeordnet, der Weg in die Zweistaatlichkeit begann. Die Sowjetunion nutzte ihr Siegerrecht, um durch deutsche Kommunisten „ihren Deutschen" in der SBZ eine zweite Diktatur aufzuerlegen. Erst 1989 wurde die sowjetische Existenzgarantie für die DDR zurückgenommen, und die SED-Diktatur konnte gestürzt werden. Im Gegensatz zur Sowjetunion ermöglichten die westlichen Siegermächte den Deutschen in ihren Besatzungszonen einen demokratischen Neuanfang. Der Parlamentarische Rat, der 1948 das Grundgesetz formulierte, konstituierte die Bundesrepublik als Provisorium und demokratischen Kernstaat für alle Deutschen. Es war der 12. Deutsche Bundestag, der die Kommission einsetzte, und sie ging selbstverständlich von der Legitimität der Bundesrepublik als dem demokratischen Kernstaat der Deutschen in der Teilungsgeschichte 22 23

Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 208. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 208.

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aus. Dieses Selbstverständnis zeigte sich in der Behandlung der Deutschlandpolitik der Bundesregierungen, die Kommission debattierte sie aus der Perspektive des grundgesetzlichen Auftrags, das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen durchzusetzen. Geprüft wurde, ob die Politik der verschiedenen Bundesregierungen und die Vorstellungen und Forderungen der jeweiligen Opposition in den Jahren von 1949 bis 1989 dem Ziel der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit dienten oder nicht. Mit dieser Grundfrage verwoben waren die Bewertung der Auseinandersetzungen um die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik, um ihre Westbindung und die Ost- und Entspannungspolitik. Freiheit oder Diktatur, Selbstbestimmung oder Satellitenstatus, das waren in der Teilungsgeschichte die Kernfragen der innerdeutschen Systemauseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur der beiden Kernstaaten Bundesrepublik und DDR. In diesem ordnungspolitischen Konflikt ging es immer wieder um die Frage der individuellen Selbstbestimmung der Deutschen, aber nur in der DDR kam es zu existentiellen Gewissenskonflikten, ob sich der einzelne der Obrigkeit unterwirft oder ob er zu widerständigem Verhalten gegen den totalitären Machtanspruch der sowjetischen und deutschen Kommunisten bereit war. Die Verfolgung von Opposition und Widerstand gehörte ebenso wie die Aufnahme von Flüchtlingen und der Häftlingsfreikauf zu den Themen der innerdeutschen Politik, die sich aus dem diktatorischen Charakter der SED-Herrschaft in der DDR ergaben. Somit besaßen Flucht, Opposition und Widerstand in der DDR große politische Bedeutung für den Zusammenhalt der Nation, den Sturz der SED-Diktatur und die Durchsetzung deutscher Selbstbestimmung. Die zweite Diktatur in Deutschland überwandt niemals ihren Satellitenstatus und war auf einen Teil des Landes beschränkt. Immerhin existierte die DDR insgesamt vier Jahrzehnte, sie wurde 1972 auch von der Bundesrepublik völkerrechtlich anerkannt, und beide deutsche Staaten saßen in den Vereinten Nationen. Der SED gelang es auch, Funktionseliten auszubilden, die sich mit ihrem Staat identifizierten und deren sozialistisches Selbstverständnis die Abgrenzung vom Westen einschloß. Diese Realitäten wurden durch oppositionelles und widerständiges Verhalten, durch Flucht und Ausreise immer wieder in Frage gestellt. Die Opposition gegen diese zweite Diktatur in Deutschland wurde auch legitimiert durch den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, obwohl der unter anderen Bedingungen agieren mußte. Für die Gegner Hitlers gab es keinen zweiten deutschen Staat, in dem ihre Proteste und ihre Verfolgung öffentlich verbreitet wurden, die Nationalsozialisten herrschten uneingeschränkt über Deutschland. Der innerdeutsche Diktaturenvergleich schließt somit historisch den von Opposition und Widerstand gegen die Nationalsozialisten und die Kommunisten ein. Die Kommission selbst diskutierte Opposition und Widerstand vor dem Hintergrund der Widerstandsge-

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schichtsschreibung in der Bundesrepublik und unterstrich die demokratische Grundsatzposition: Opposition und Widerstand gegen beide Diktaturen gehören zu den unaufhebbaren Traditionen der deutschen Republik. Schließlich nahm die Kommission auch Einfluß auf die politische Sprache, indem sie für eine Klarstellung hinsichtlich der politischen Ordnung der DDR sorgte. Vor dem Fall der Berliner Mauer 1989 war es auch in der Bundesrepublik weitgehend unüblich geworden, von der DDR als SED-Diktatur zu sprechen. Zutreffend schreibt Peter Maser: „Wer solch ein Wort in den Mund nahm, mußte sich von den notorisch Gutmeinenden als »Kalter Krieger 4, Entspannungsgegner und ,Antikommunist4 beschimpfen lassen. In gewissen Kreisen der evangelischen Kirchen der Bundesrepublik Deutschland war die Sünde des Antikommunismus zur einzig unvergebbaren erklärt worden. In dieser Hinsicht hat die Enquete-Kommission hier wieder für eine eindeutige Ausdrucksweise gesorgt, und auch bei den Kongressen der Zeithistoriker wird wieder zunehmend präzise benannt, worüber man spricht, wenn es um die politische Ordnung der DDR geht: Die Diktatur der SED!" 24 5. Die Arbeit des Historikers

Alexander Fischer hat an den Ergebnissen der Enquete-Kommission einen bedeutenden Anteil. Das Verhältnis des Historikers zum politischen Auftrag der Kommission war - wie bereits eingangs angedeutet - nicht frei von Spannungen, die er diszipliniert aushielt und die verschiedene Ursachen hatten. Auf einige möchte ich kurz eingehen. Als die Kommission 1992 mit ihrer Arbeit begann, stand die Erschließung der SED-Archive durch die historische Forschung erst am Anfang. Aber jede ernsthafte historische Darstellung der Vergangenheit oder gar ihre Interpretation setzt gesicherte quellengestützte Faktenerhebungen voraus. Genau diese Arbeit war hinsichtlich der SED noch nicht geleistet, und wie weit sich die Moskauer Archive öffnen würden, war nicht absehbar. Hinzu kam der unaufhebbare Zeitdruck, der auf den Mitgliedern der Kommission lastete. Der Historiker, der sein selbstgewähltes Thema bearbeitet, steht dagegen nicht unter einem solchen politisch bedingten Zeitdruck. Die Rahmenbedingungen der Kommission tangieren auch den Inhalt seiner Arbeit, er war an den vom Bundestag beschlossenen Auftrag der Kommission gebunden. Unter Historikern gab es durchaus Vorbehalte gegen die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Bundestages mit diesem Auf24 Peter Maser: Auf dem Weg zur deutschen Einheit: Anmerkungen zur neuen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, in: Gerhard Finn / Frank Hagemann / Peter Maser / Helmut Müller-Enbergs / Günther Wagenlehner / Hermann Wentker: Unrecht überwinden - SED-Diktatur und Widerstand, Aktuelle Fragen der Politik, Heft 38, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 1996, S. 71.

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trag, es gab die Befürchtung, hier würde amtliche Geschichtsschreibung über die DDR erfolgen. Solchen Vorbehalten ist die Kommission in ihrem Abschlußbericht entgegengetreten.25 Fischer und andere Sachverständige waren darauf bedacht, die Bedeutung von Bericht und Ergebnissen der EnqueteKommission für die historische Forschung exakt zu bestimmten und damit einzugrenzen. Unmißverständlich heißt es: „Mit der Vorlage dieses Berichtes an den Deutschen Bundestag am 17. Juni 1994 ist diese Aufarbeitung nicht abzuschließen (die wissenschaftliche historische Forschung ohnehin nicht). Abgesehen von den teilweise kritikwürdigen einseitigen Deutungen von selektiv aus den Expertisen und Anhörungen entnommenen Aussagen, ist die Tiefe und Breite der von der Enquete-Kommission durchgeführten Analysen für eine abrundende Gesamtaussage zum Untersuchungsgegenstand nicht ausreichend."26 Diese selbstkritische Einschätzung ist zugleich die Begründung für die Notwendigkeit weiterer historischer Forschung, die von der „gesamten deutschen Nachkriegsentwicklung, einschließlich der des SED-Regimes",27 ausgehen sollte. Mit der Charakterisierung des Berichts „als einer Zwischenbilanz mit politischer Akzentsetzung"28 wahrten die sachverständigen Historiker in der Kommission auch ihre fachliche Autonomie gegenüber der Politik. Alexander Fischer achtete aber nicht nur auf die grundsätzliche Arbeitsteilung zwischen Politikern und Historikern, er nutzte auch die Möglichkeiten der Kommission zum historischen Erkenntnisgewinn über Strukturen, Mechanismen und Politik des SED-Regimes. Im Rahmen der Anhörung zur „Machthierarchie der SED", die im Januar 1993 im alten Reichsbankgebäude durchgeführt wurde, das die SED jahrzehntelang als Sitz ihres zentralen Parteiapparates nutzte, stand auch die Politik der SED in der polnischen Krise 1980/81 zur Debatte. Die Gelegenheit, Genaueres über die Entscheidungsprozesse in der SED-Führung zu erfahren, schienen günstig, waren doch die früheren Mitglieder des SED-Politbüros Günter Schabowski, Karl Schirdewan und Gerhard Schürer und der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow bereit, als Zeitzeugen der Kommission Auskunft zu geben. Den Osthistoriker Fischer interessierte in diesem Zusammenhang besonders der Zusammenhang zwischen dem Kampf der Solidaraosc in Polen 1980/81 um nationale Selbstbestimmung und gegen das Machtmonopol der Kommunisten und der Reformpolitik von Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Er nutzte seine Frage,

25 „Ohne Zweifel hätte es die Enquete-Kommission überfordert, wenn von ihr eine umfassende Geschichtsschreibung erwartet worden wäre. Dies muß ohnehin Sache der Historiker bleiben." Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 738. 26 Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 736. 27 Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 737. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 1 9 .

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um auf einen Widerspruch zwischen der öffentlichen Wahrnehmung der Ursachen für das Ende der DDR und dem Stand der Forschung hinzuweisen. „Wenn wir uns einmal fragen, wo die Anfänge des Schlamassels liegen, über den wir hier diskutieren, dann würden die Publizistik und ein großer Teil der Öffentlichkeit auf Michail Sergejewitsch Gorbatschow zu sprechen kommen, während in der Forschung auf die entscheidende Rolle Polens zu Beginn der achtziger Jahre verwiesen würde." 29 Manfred Uschner, seinerzeit stellvertretender Abteilungsleiter im ZK-Apparat, bestätigte in seiner Antwort, daß •

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„Polen wirklich an die Nieren ging". Die weitergehende Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Politik der polnischen Opposition und der Reformpolitik Gorbatschows blieb unbeantwortet. Nachfragen über die Debatte im SED-Politbüro über die polnische Krise und Entscheidungen hinsichtlich einer Beteiligung der DDR an einem möglichen Einmarsch der WarschauerPakt-Staaten in das Nachbarland nach dem Muster der CSSR-Intervention von 1968 wurden von Gerhard Schürer, seinerzeit Kandidat des Politbüros, ausreichend beantwortet. An eine Sitzung dieses Gremiums in Strausberg, dem Sitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung, am 2. Dezember 1980, an der er laut Protokoll teilgenommen hat, konnte er sich nicht erinnern. 31 Kurz vor dieser Anhörung hatte der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin Dokumente über die Interventionspolitik der SED gegenüber Polen 1980/81 veröffentlicht, aus denen hervorging, daß die SED-Spitze zur militärischen Gewaltanwendung gegenüber Polen bereit war. 32 Fischer ließ die ausweichende Antwort von Schürer nicht gelten und machte einen nichtprotokollierten Zwischenruf: „Aber die Forschung ist doch schon weiter." In diesem Moment, als der Zeitzeuge Schürer mit den Akten des SED-Politbüros konfrontiert wurde, entstand im Auditorium eine knisternde Atmosphäre. Aber diese Spannung konnte nicht produktiv genutzt werden, um das Thema Polen zu vertiefen, es fehlte die Zeit, und es gab noch andere Fragen an die Zeitzeugen. Aber der Zwischenruf hatte Folgen. Am nächsten Tag bemühte sich Gerhard Schürer, uns vor dem Konferenzsaal zu erläutern, warum ihn sein Gedächtnis im Stich ließ, obwohl er sich erinnern wollte. Seine Erklärung wirft ein bezeichnendes Licht auf die bis zu ihrem Ende stalinistisch geprägten Entscheidungsprozesse im SED-Politbüro, und sie ist geeignet, die Agonie der 29

Materialien, a.a.O., Bd. I M , S. 527. Materialien, a.a.O., Bd. I M , S. 531. 31 Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I M , S. 497 ff. 32 Vgl. Manfred Wilke / Peter Erler / Martin G. Goerner / Michael Kubina / Horst Laude / Hans-Peter Müller: SED-Politbüro und polnische Krise 1980-82. Aus den Protokollen des Politbüros des ZK der SED zu Polen, den innerdeutschen Beziehungen und der Wirtschaftskrise der DDR, 2 Halbbände, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, 3/1993. Vgl. auch: Michael Kubina /Manfred Wilke: Hart und kompromißlos durchgreifen! Die SED kontra Polen 1980/81. Geheimakten der SEDFührung über die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung, Berlin 1995. 30

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SED-Führung 1989 ein Stück weit zu erklären. Schürer berichtete, Politbüromitglieder erhielten selbstverständlich vor der nächsten Sitzung alle Unterlagen, die sie aber nur arbeitsteilig und selektiv bearbeiteten. So konzentrierte er sich auf den Bereich Wirtschaft und die Aufgabe der Staatlichen Plankommission. Die außerhalb seiner Zuständigkeit zu treffenden Entscheidungen nahm er folglich nicht wirklich wahr. Er war also bei einer Entscheidung, in der es um die Interventionspolitik gegen Polen ging, zwar anwesend, aber nicht wirklich in sie involviert. Abstimmungen hat er im Politbüro, dem er von 1973 bis 1989 als Kandidat angehörte, nur zweimal erlebt, einmal, als es 1985 um die Abberufung von Konrad Naumann aus dem Politbüro ging, und zum anderen, als die Entlassung von Erich Honecker, Günter Mittag und Joachim Herrmann 1989 anstand. Die Abstimmungen erfolgten einstimmig.33 Das Politbüro war zwar das oberste Entscheidungszentrum in der Partei, aber es übte seine „kollektive Führung" nicht aus, der Generalsekretär gab „die Linie" vor. Am 7. März 1994 führte der Innenausschuß des Deutschen Bundestages unter Beteiligung der Enquete-Kommission in der Gedenkstätte Sachsenhausen eine Anhörung zur „Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten" durch. Die Behandlung des Themas Gedenkstätte ergab sich aus der Einsicht, daß die Geschichte der totalitären Diktaturen Deutschen, Russen und anderen Völkern in Mittel-, Ost und Südosteuropa eine schwere Hypothek hinterlassen hat. Friedhöfe, Denkmäler und Gedenkstätten mahnen die Nachgeborenen an Völkermord, Krieg, Vertreibung und Verfolgung. Wir müssen uns an das unsagbare Leid und an die Verbrechen erinnern, die im Jahrhundert der Weltkriege und Diktaturen geschahen, wollen wir die Zukunft friedlich miteinander gestalten. Bei dieser Anhörung in Sachsenhausen fiel der Osthistoriker Fischer dadurch auf, daß er an eine Opfergruppe erinnerte, „die aus verschiedenen Gründen, die wiederum eine eigene Untersuchung wert wären, aus dem geschichtlichen Gedächtnis der Deutschen nahezu vollständig gestrichen ist". 34 Er sprach über die ca. 250.000 Opfer aus Ost- und Westpreußen, aus Hinterpommern und Ost-Brandenburg, aus Ober- und Niederschlesien, die in Folge der Eroberung Ostdeutschlands, jenseits von Oder und Neiße, durch die Sowjetarmee 194/45 zwangsdeportiert wurden: „Es sind die ostdeutschen Opfer der von Hitler und seinem »Dritten Reich' verschuldeten Katastrophen von 1945. " 3 5 Seine Frage an die eigene Zunft und die Politik lautete: Wo ist der angemessene Ort des Gedenkens für diese Opfergruppe? Die historische Feldarbeit sollte nach seiner Vorstellung in Kooperation mit russischen Historikern erfolgen, die anfingen, das Schicksal der verschleppten Zwangsar33 34 35

Materialien, a.a.O., Bd. I I . l , S. 517. Materialien, a.a.O., Bd. IX, S. 239. Materialien, a.a.O., Bd. IX, S. 238.

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beiter in Deutschland 1941 bis 1945 zu erforschen. Die Notwendigkeit einer solchen russisch-deutschen Kooperation in der Forschung, um das wechselseitige Leid von solchen Opfergruppen zu erforschen, entsprach seiner Grundüberzeugung: Wir müssen uns gemeinsam erinnern. Diese Position nahm er auch in Rußland ein. Im Juli 1993 fuhr eine Delegation der Enquete-Kommission nach Moskau, um mit russischen Archivdirektoren, Wissenschaftlern, Parlamentsmitgliedern und Regierungsvertretern eine Reihe von Informationsgesprächen über die Bedingungen der Akteneinsicht in russischen Archiven zu führen. 36 Wir besuchten auch das Armeearchiv in Podolsk. Im Gespräch mit zwei freundlichen Obristen der russischen Armee berichtete Fischer über den Stand der Forschung zur Geschichte des 17. Juni 1953. Man wisse auch, daß etwa 20 sowjetische Offiziere und Soldaten erschossen wurden, die sich geweigert hatten, sich gegen Demonstranten und streikende Arbeiter einsetzen zu lassen. Seine Fragen, mit denen er seine Ausführungen abschloß, trafen die russischen Gesprächspartner wie ein Blitz: Gibt es in Ihrem Archiv Akten, die darüber Auskunft geben, wieviele sowjetische Soldaten damals tatsächlich verurteilt wurden, und gibt es eine Liste der Toten? Die Antwort war schroff und abweisend: Über diese Vorgänge habe man keine Akten, man wisse auch nicht genau, wo welche liegen, aber auf jeden Fall könne man diese Akten nicht zur Verfügung stellen. Wenn das vereinte Deutschland es am Ende des Jahrhunderts schafft, in Berlin ein Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953 zu errichten, dann bleibt es unsere Pflicht, auf ihm auch diesen russischen, ukrainischen und baltischen Soldaten zu gedenken, die damals nicht bereit waren, ihre „Unterdrückungspflicht" auszuüben und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Der Osthistoriker Fischer verstand sich als Anwalt von solchen vergessenen Opfergruppen. Es ging ihm dabei nicht nur um von der Forschung zu tilgende „weiße Flecken", er suchte in und jenseits der Katastrophen, die die deutsch-russische Geschichte in diesem Jahrhundert prägten, menschliche Schicksale und Ereignisse, die in einer transnationalen Perspektive die Völker gemeinsam daran erinnern, um sich so den Weg zu einer Zukunft im Geist des gegenseitigen Verstehens zu öffnen. Die Enquete-Kommission organisierte ihre Arbeit in Berichterstattergruppen, die einzelne Themenfelder bearbeiteten. Alexander Fischer war zusammen mit Hermann Weber Einberufer in der Berichterstattergruppe „Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat" und Mitglied der „Arbeitsgruppe Archive". Aber diese Konzentration bedeutete nicht, daß er sich nicht in vielfältiger Form an der Diskussion in anderen Themenfeldern beteiligt hätte, namentlich in zwei hat der Osthistoriker die Diskussio36

Vgl. Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 672 ff.

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nen auch aus seiner eigenen biographischen Erfahrung beeinflußt und umgestaltet. Es waren dies die Themenfelder „Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns" und „Rolle und Selbstverständnis der Kirchen". Hinsichtlich der Geschichte von Opposition und Widerstand gegen die SED-Herrschaft gab es in der Kommission ein Generationenproblem. Abgeordnete wie Rainer Eppelmann, Markus Meckel und Gerd Poppe repräsentierten selbst die Opposition der späten siebziger und achtziger Jahre, zu ihren Vorgängern aus den vierziger bis sechziger Jahren hatten sie wenig Beziehungen. Dies wurde deutlich in der öffentlichen Anhörung zu „Motivationen, Möglichkeiten und Grenzen widerständigen und oppositionellen Verhaltens" in der DDR, die die Kommission in Jena durchführte. Die Stadt war mit Bedacht gewählt. „Jena war nun tatsächlich ein Zentrum stabiler Opposition. Zunächst in der SBZ und dann in der DDR, vor allem in den Jahren von 1947/48 bis gegen Ende der fünfziger Jahre und dann wieder vom Ende der sechziger Jahre bis zum Sturz des SED-Regimes."37 Charakteristisch für die Opposition in der DDR war eine gewisse Diskontinuität zwischen den Generationen, die sie grundsätzlich von der Opposition in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei unterschied. Hier gab es eine ganz andere nationale Kontinuität. Der Wandel in den Zielsetzungen dieser Opposition war auch bedingt durch den Mauerbau 1961, der das Ziel einer deutschen Wiedervereinigung in unabsehbare Ferne verschob und der Opposition in der DDR nur die Perspektive einer Reform des Systems zu eröffnen schien. Mit Thomas Ammer sprach ein Mitglied der Jenaer Opposition. Er gehörte zu dem „Eisenberger Kreis", über den Karl-Wilhelm Fricke schrieb: „An der Universität Jena bildeten im Herbst 1956 / Frühjahr 1957 Studenten mehrerer Fakultäten einen oppositionellen Kreis, der zunächst konspirativ vorging und dann durch seine offene Opposition sogar breiten Einfluß auf die Studenten der Friedrich-Schiller-Universität zu gewinnen vermochte. [...] Zu ihren historischen Vorbildern hatten sich die jungen Menschen unter anderem den Hitler-Attentäter Claus Graf Schenk von Stauffenberg gewählt. " 3 8 Die Studentengruppe agierte konspirativ und geschickt und konnte mehrere Jahre existieren. Schließlich schlug das MfS zu, in insgesamt drei Prozessen beim Bezirksgericht Gera wurde ein Exempel statuiert. 24 Studenten, Schüler und Dozenten wurden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, Thomas Ammer erhielt 15 Jahre Zuchthaus.39 Nach Ammers Vortrag sagte Gerd Poppe, ein Mann, der seit 1968 zur Opposition in der DDR zählte, erstaunt: „Das habe ich alles nicht gewußt!" Der Historiker Fischer war in solchen Momenten der Erkenntnis zufrieden. Er 37 Thomas Ammer: Widerstand und Opposition in Jena, in: Materialien, a.a.O., Bd. VII. 1, S. 129. 38 Karl-Wilhelm Fricke: Opposition und Widerstand in der DDR, Köln 1984, S. 127. 39 Vgl. ebd.

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wußte, welchen Anteil die politikwissenschaftliche DDR-Forschung, der vorherrschende Zeitgeist in den bundesrepublikanischen Medien und der Pragmatismus in der Deutschlandpolitik daran hatten, daß die Geschichte dieser Opposition gegen die kommunistische Diktatur vor 1989 verdrängt, vergessen und verschüttet wurde. Für ihn wurde die Diskontinuität in der Oppositionserfahrung zwischen den Generationen vom Westen mitverursacht. Er hat es als seine Pflicht angesehen, diese vor dem Fall der Mauer unauffällig betriebene Auslöschung der Erinnerung an Opposition und Widerstand gegen die Diktatur der SED zu revidieren, waren doch der 17. Juni 1953 und die Opposition gegen die totalitäre Macht der SED für ihn schon vor der friedlichen Revolution von 1989 der eigentliche Beleg für die fortwährende Offenheit der deutschen Frage. Das Themenfeld „Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur" berührte seine Biographie existentiell. Die Verfolgung der Jungen Gemeinde in der DDR durch die SED 1952/53 war tief in sein Gedächtnis eingegraben, war diese Kampagne doch der Auslöser für seine Flucht. Die Aufklärung von Zielen, Strukturen und Methoden der SED-Kirchenpolitik beschäftigte ihn, aber besonders wichtig waren ihm Antworten auf seine Frage nach der christlichen Selbstbehauptung gegenüber der Entchristianisierungspolitik der SED. In diesen Debatten um die „Kirche im Sozialismus" inspirierte ihn immer wieder seine eigene Lebensgeschichte. Erst durch die teilnehmende Beobachtung seiner Arbeit erschloß sich dem Außenstehenden der Zusammenhang von Biographie und Beruf bei Alexander Fischer. Er selbst hat seine eigene Lebenserfahrung in der öffentlichen Argumentation nicht in den Vordergrund gerückt und nur selten auf sie Bezug genommen. Am Ende der Arbeit der Kommission kam es zu keiner Einigung über einen gemeinsamen Text zur Rolle und dem Selbstverständnis der Kirchen in der DDR, es kam sogar zu einer Zerreißprobe. Mitglieder der Fraktion der SPD und zwei ihrer drei Sachverständigen gaben ein Sondervotum zum Bericht ab. Strittig war vor allem die Beurteilung der Erfolge des MfS bei der konspirativen Durchdringung der Kirche und der Rolle und Funktion leitender Kirchenjuristen in der ständigen Zusammenarbeit mit dem MfS. 40 Das Son40 Über den Einsatz der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS innerhalb der Kirche heißt es in dem Bericht: „Die I M wurden auf allen Ebenen in den Kirchen eingesetzt. Besondere Bedeutung kam selbstverständlich solchen I M zu, die in Leitungsfunktionen Zugriff auf interne Informationen hatten, die von der SED bei ihrer differenzierenden Gesprächspolitik verwendet werden konnten. Diese wirkten sich auf kirchliche Entscheidungen und auch auf die Personalpolitik innerhalb der Kirche maßgeblich aus. Besonders interessant war deshalb für das MfS vor allem die Gruppe der leitenden Kirchenjuristen und der kirchlichen Verwaltungsbeamten, bei denen inzwischen eine besonders stark geheimdienstliche Durchdringung nachgewiesen worden ist. Seit Mitte der fünfziger Jahre ist eine ausgedehnte IM-Tätigkeit leitender Kirchen-

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dervotum versuchte, die vorliegenden Erkenntnisse über die SED-Kirchenpolitik und die Erfolge des MfS in der Zusammenarbeit mit Kirchenjuristen zu relativieren. 41 In solchen strittigen Situationen, in denen historische Fakten und ihre Interpretation einer politischen Interessenlage unterworfen wurden, widersprach Alexander Fischer. Solche politischen Auseinandersetzungen um historische Fakten, die für ihn das Fundament seines Urteils als Historiker darstellten, irritierten ihn, er hielt unverrückt an gesicherten historischen Fakten fest und erwartete das auch von anderen. Einen Konflikt mußte Fischer noch einmal am Ende der Kommissionsarbeit durchstehen, als es darum ging, den Bericht termingerecht fertigzustellen. Angesichts vieler noch offener Fragen versuchte Fischer zusammen mit anderen Sachverständigen, einen Weg zu finden, die Abgabe des Abschlußberichts zeitlich zu strecken. Er argumentierte, es sei noch so viel offen, manche Formulierung fragwürdig, und viele Entwürfe der Berichterstattergruppen seien sprachlich noch nicht ausgefeilt. Aber seine Argumente prallten an dem politisch gesetzten Termin ab: Der Bericht mußte am 17. Juni 1994 dem Parlament vorliegen, damit ihn der Bundestag debattieren und annehmen konnte. Spätestens in diesem Moment wurde deutlich, daß die externen Wissenschaftler, die sachverständigen Mitglieder der Kommission, politisch nur einen beratenden Status besaßen. Es galten die Regeln des Parlaments für EnqueteKommissionen und nicht die Verfahren in einer historischen Kommission, und genau darin lag das Spannungsverhältnis, dem sich der Historiker Fischer ausgesetzt hatte. Als die Entscheidung fiel, daß der Bericht fertig werden mußte, hat er sich diszipliniert gefügt. Er nahm sich erneut in die Pflicht, und als eine der letzten Arbeiten seines Lebens redigierte er den vorliegenden Berichtstext gründlich und gab ihm - soweit dies in kurzer Zeit möglich war seinen sprachlichen Schliff. Jeder, der den Abschlußbericht der EnqueteKommission „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" zur Hand nimmt, sollte wissen, die vorliegende Fassung ist an vielen Stellen von Alexander Fischers Stil geprägt.

juristen in fast allen Landeskirchen festzustellen. In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion werden diese Zusammenhänge insbesondere in Verbindung mit dem früheren Konsistorialpräsidenten der Berlin-Brandenburgischen Kirche kontrovers erörtert." (Gemeint ist der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe, SPD). Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 505 f. 41 „Im Mehrheitsvotum ist von einer großen Zahl I M die Rede. Um einen Eindruck zu erhalten, seien einige Zahlen genannt: Für die sächsische Landeskirche nannte Bischof Hempel 1992 gut 20 von 1.050 Pfarrern, von denen bekannt ist, daß sie als I M arbeiteten, unter diesen seien 5 schwerwiegende Fälle. Die Gauck-Behörde teilte 1993 mit, daß von 5.200 von den Kirchen gestellten Anträgen auf Überprüfung 113 kirchliche Mitarbeiter als belastet eingestuft worden seien. Dies macht deutlich, daß das heute vielfach verbreitete Bild einer Stasi-unterwanderten Kirche nicht aufrecht zu erhalten ist." Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 558. *

Ζ wei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung Von Eckart Klein Nur wenige haben die Zeit der Teilung Deutschlands so konstant, aber auch so unbestechlich und unnachgiebig beobachtet und kommentiert wie Jens Hacker\ Dies konnte nicht allen bequem sein, erst recht nicht nachdem die Wiedervereinigung politisch möglich wurde und vollzogen werden konnte. Der Erfolg hatte auf einmal viele Väter; man traute seinen Augen nicht, wer alles zäh und unerschrocken an der großen Aufgabe gearbeitet hatte. Zurechtgerückt wurde diese peinliche Selbstinterpretation jedoch schnell. „Deutsche Irrtümer" nannte Hacker sein zuerst 1992 erschienenes Buch, mit dem - so der Untertitel - „Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen" unbarmherzig beim Namen genannt wurden2. Es war ein sehr notwendiges Buch, das freilich dem Verfasser nicht nur Freunde schaffen konnte. Viele waren ihm aber für dieses mutige Wort dankbar. Der Verfasser dieser Zeilen zählt dazu. I.

Die äußeren Voraussetzungen der Wiedervereinigung Deutschlands wurden durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" vom 19. September 1990 geschaffen 3. Nach der sogenannten OttawaFormel sollten die „externen Aspekte" zwischen den beiden deutschen Staaten

1 Vgl. etwa nur Jens Hacker, Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR, 1974; ders., Deutsche Politik - Politik mit dem Grundvertrag, 1977; ders., Der Ostblock - Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939 - 1980, 1983; ders., SED und nationale Frage, in: Spittmann (Hg.), Die SED in Geschichte und Gegenwart, 1987, S. 43 ff.; ders., Die deutsche Frage aus der Sicht der SPD, in: Blumenwitz / Zieger (Hg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, 1989; ders., Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag, in: Haendcke-Hoppe / Lieser-Triebnigg (Hg.), 40 Jahre innerdeutsche Beziehungen, 1990, S. 33 ff. 2 3

Das Buch erschien in 3. Auflage 1994. BGBl. 1990 II S. 1318.

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und den vier Siegermächten, die „internen Aspekte" zwischen den beiden deutschen Staaten untereinander geklärt werden4. Ungeachtet dieser Aufgabenteilung waren beide Bereiche offenkundig politisch miteinander verzahnt. Vorrangig war die Bereitung des außenpolitischen Terrains. Demgemäß begannen die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen bereits am 5. Mai 1990 - einem für die Wiederherstellung deutscher Souveränität wichtigen Jahrestag5 - in Bonn, setzten sich am 22. Juni 1990 in Berlin (Niederschönhausen) und am 17. Juli 1990 in Paris unter Einbeziehung des polnischen Außenministers fort und konnten am 12. September 1990 durch Unterzeichnung des Vertragstextes abgeschlossen werden6. Im Juli 1990 (14. - 16. 7.) wurde in direktem Gespräch zwischen dem deutschen Bundeskanzler Kohl und dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow der Durchbruch für die nach der Berliner Tagung ins Stocken geratenen Gespräche erzielt, gerade rechtzeitig, um das dritte Treffen in Paris zu einem Erfolg werden zu lassen. Inhalt der deutsch-sowjetischen Übereinkunft war vor allem, daß Deutschland die freie Entscheidung über seine Bündniszugehörigkeit haben und seine Streitkräfte auf eine Personalstärke von 370.000 Mann reduzieren werde7. Der am 18. Mai 1990 unterzeichnete und am 30. Juni 1990 in Kraft getretene Staatsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion8 legte zwar ein wichtiges Fundament für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, hatte diese aber noch nicht selbst zum Gegenstand. Er übte aber politischen Druck auf die Verhandlungspartner im Zwei-plus-Vier-Prozeß aus, die bei längeren Verzögerungen von der Dynamik der Ereignisse überholt zu werden drohten.

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Zur Ottawa-Formel Klaus Stern, Das völkerrechtliche Vertragsgeflecht zur Wiedererlangung der deutschen Souveränität, in: Stern / Schmidt-Bleibtreu (Hg.), Zweiplus-Vier-Vertrag, 1991, S. 3 ff. (21). 5 Am 5. Mai 1955, 12 Uhr mittags, trat der „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten von 1952/54 (BGBl. 1955 II S. 305) in Kraft und verlieh der Bundesrepublik Deutschland - vorbehaltlich der beibehaltenen Alliierten-Rechte und Verantwortlichkeiten für Berlin und Deutschland als Ganzes die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten (Art. 1); vgl. die Proklamation der AH Κ vom 05.05.1955, Amtsblatt AHK, S. 3272. 6

Zur Dramatik der letzten Tage Stern (Anm. 4), S. 26. Näher Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung 1990, Nr. 93, S. 802 ff. Vgl. auch Dietrich Rauschning, Die nationalen und die internationalen Prozeduren zur Herstellung der Staatseinheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 188 Rn. 46 f. 8 BGBl. 1990 II S. 537. 7

Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

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Die Gespräche zum „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag" (EV) begannen am 3. Juli 1990 und machten schnelle Fortschritte 9; auch dies erhöhte den Einigungsdruck auf die Zweiplus-Vier-Parteien. In die Zeit der ersten maßgeblichen Verhandlungsrunde der Fachressorts der Bundesministerien unter Beteiligung von Vertretern der Länder mit den Fachressorts der DDR-Regierung vom 10. bis 20. Juli 1990 fiel die erwähnte deutsch-sowjetische Einigung, die den Boden für den erfolgreichen Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ebnete. Die absehbaren Ergebnisse dieser Verhandlungen konnten daher, soweit erforderlich, in die Beratungen über den Einigungsvertrag miteinbezogen werden. Es war daher unschädlich, daß der Einigungsvertrag früher als der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet wurde (31. August/12. September 1990) und auch in Kraft trat (29. September 1990/15. März 1991)10; letzeres mußte deshalb erfolgen, weil der Zwei-plus-Vier-Vertrag durch das vereinte Deutschland zu ratifizieren war. II.

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag (ZpVV) besteht neben der Präambel aus 10 Artikeln. In der Präambel wird zweimal das Selbstbestimmungsrecht der Völker erwähnt; einmal als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts, zum andern in unmittelbarer Beziehung zu dem deutschen Volk, das „in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen." Diese ausdrückliche Bezugnahme der maßgeblichen Mächte auf das Selbstbestimmungsrecht dient hervorgehoben zu werden, da es deutlich diejenigen widerlegt, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker nur als Instrument des Antikolonialismus nutzen oder jedenfalls im Fall Deutschlands als verbraucht ansehen wollten. Es ist daher wichtig, daß die Wiedervereinigung Deutschlands als Beleg des Selbstbestimmungsrecht anerkannt ist 11 .

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Näher zur Geschichte Bruno Schmidt-Bleibtreu, Der Einigungsvertrag in seiner rechtlichen Gestaltung und Umsetzung, in: Stern / Schmidt-B leibtreu (Hg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag, 1990, S. 57 ff. 10 Die zeitliche Differenz wurde durch die New Yorker Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten vom 01.10.1990 überbrückt; BGBl. 1990 II S. 1331. 11 Vgl. Eckart Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, S. 64 ff.; Helmut Quaritsch, Wiedervereinigung in Selbstbestimmung Recht, Realität, Legitimation, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. VIII, 1995, § 193 Rn. 58 ff.

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Art. 1 bekräftigt die gebietliche Saturiertheit des aus dem gegenwärtigen Territorium der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bestehenden vereinten Deutschlands. In Art. 2 bestätigen beide deutsche Staaten ihre Verpflichtung auf Frieden und den Verzicht auf Aggression. Art. 3 enthält den Verzicht auf ABC-Waffen und die Verpflichtung zur Reduktion der gesamtdeutschen Streitkräfte auf 370.000 Mann. Art. 4 regelt den Status der sowjetischen Truppen in Deutschland bis zu ihrem endgültigen Abzug, Art. 5 die Stationierung anderer ausländischer Streitkräfte in Deutschland. In Art. 6 wird das Recht Deutschlands auf Mitgliedschaft in den Bündnissen seiner Wahl anerkannt. In Art. 7 erklären die Vier Mächte die Beendigung ihrer „Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes" und bestätigen, 45 Jahre nach Kriegsende, die volle Souveränität des vereinten Deutschlands12. Art. 8 sieht die Ratifikation des Vertrages durch die Vier Mächte und das vereinte Deutschland vor. Nach Art. 9 und 10 tritt der Vertrag in Kraft, wenn die letzte Ratifikationsurkunde bei der Regierung der Bundesrepublik Deutschland (Depositar) hinterlegt ist. Authentische Vertragssprachen sind Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Aufmerksam zu machen ist schließlich auf den „Gemeinsamen Brief", den der Bundesminister des Auswärtigen Genscher und der amtierende Außenminister und Ministerpräsident der DDR de Maizière an die Außenminister der Vier Mächte „im Zusammenhang" mit der Unterzeichnung des Vertrages gerichtet haben13. Dabei geht es um die in der nachfolgenden Zeit bis heute für Unruhe und Verwirrung sorgenden Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 - 1949), um den Schutz von Kriegsgräbern und Denkmälern für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft, um den Schutz des Bestandes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie um die Verträge der DDR. In seiner Kürze und Prägnanz handelt es sich um einen meisterlichen Vertrag, der gerade auch aus diesen Gründen und nicht nur seines Inhalts wegen mit dem sogenannten Deutschlandvertrag (DV) von 1952/54 auf eine Stufe gestellt werden kann14. Mit ihm ist ein wesentliches Ziel der Politik der Bun12

Es ist interessant zu sehen, wie in den siebziger Jahren die Neigung vorherrschte, die Vier-Mächte-Rechte kleinzureden, obgleich sie gerade mit der „neuen Ostpolitik" der Regierung Brandt / Scheel zu neuem Leben erweckt wurden; der Zwei-plus-Vier-Vertrag bringt mit ihrem Ende den letzten Triumph dieser Rechte, die aber eben auch Verantwortlichkeiten waren; vgl. dazu Jens Hacker, Diskussionsbeitrag, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteü des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 117 ff. 13

Bulletin 1990, Nr. 109, S. 1156. Dazu Eckart Klein, Aktuelle Bedeutung des Deutschland-Vertrages, Außenpolitik 31 (1980), S. 394 ff.; Wilhelm Grewe, Deutschlandvertrag, in: Weidenfeld / Körte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit, 1996, S. 225 ff. 14

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desrepublik Deutschland erreicht worden, auf dessen Verwirklichung sich die drei Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland in Art. 7 Abs. 2 DV verpflichtet hatten: „Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlichdemokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist." Allerdings muß auch daran erinnert werden, daß dieses Ziel letztlich mit dem Verlust eines Viertels des deutschen Gebietes in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 erkauft wurde 15. Dies war nach den Umständen eine unvermeidliche und richtige Entscheidung. Daß sie viele schmerzen mußte, ist verständlich, und dieses Opfer darf nicht kleingeredet werden. ΠΙ.

1. An zwei Stellen verweist der Zwei-plus-Vier-Vertrag selbst auf die Verfassung des vereinten Deutschlands, was trotz aller der Ottawa-Formel entsprechenden verfahrensmäßigen Trennung der „externen" und der „internen" Aspekte auf den zwischen ihnen bestehenden Zusammenhang aufmerksam macht. Art. 1 Abs. 4 lautet: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, daß die Verfassung des vereinten Deutschlands keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt dementsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind." Die in Satz 1 dieser Vorschrift zitierten „Prinzipien" beziehen sich auf die Aussagen der vorangegangenen Absätze. In Absatz 1 werden der Gebietsstand des vereinten Deutschlands und damit seine Außengrenzen definiert, die mit den zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR identisch sind und die mit Inkrafttreten des Vertrages „endgültig" sein werden. Die Bestätigung dieser Endgültigkeit wird als „wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa" bezeichnet. In Absatz 2 wird die „Bestätigung" der zwischen ihnen bestehenden Grenze durch das vereinte Deutschland und die Republik Polen in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag vorgesehen. In Absatz 3 wird festgestellt, daß das vereinte Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten hat und solche auch in Zukunft nicht erheben wird.

15 Eckart Klein, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 49 (1990), S. 133 ff. (134); Gilbert Gornig, Der Zwei-plus-vier-Vertrag unter besonderer Berücksichtigung grenzbezogener Regelungen, ROW 35 (1991), S. 97 ff. (106).

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Der zweite Verweis auf die Verfassung des vereinten Deutschlands erfolgt in Art. 2 des Vertrages. Nachdem in Satz 1 der Vorschrift die Regierungen der beiden deutschen Staaten ihre Erklärungen bekräftigen, „daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird", wird in Satz 2 festgestellt, daß nach der Verfassung des vereinten Deutschlands „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar" sind. Zusätzlich wird in Satz 3 von beiden deutschen Regierungen erklärt, „daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen." Tatsächlich gibt es im Zusammenhang des Vertragswerks noch eine weitere Inbezugnahme der deutschen Verfassung. In dem bereits erwähnten „Gemeinsamen Brief" teilen die zwei deutschen Außenminister ihren vier Kollegen mit, daß die beiden Regierungen „in den Verhandlungen folgendes dargelegt haben [...] 3. Der Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wird auch im vereinten Deutschland durch die Verfassung geschützt. Sie bietet die Grundlage dafür, daß Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlichdemokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, sowie Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten werden können. Dies betrifft auch Parteien und Vereinigungen mit nationalsozialistischen Zielsetzungen."16 2. Art. 1 Abs. 4 ZpVV verlangt, die Übereinstimmung des deutschen Verfassungsrechts mit den Gebiets-, Grenz- und Saturiertheitsaussagen herzustellen und beizubehalten, die in den vorangehenden Absätzen enthalten sind. Hierzu ist zu vermerken, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in der Tat als „gebietlich unvollständig" verstanden hat; diese im Grundlagenvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts enthaltene Aussage17 bezog sich zwar im geäußerten Kontext auf die DDR, galt jedoch der Sache nach gleichermaßen im Hinblick auf die östlichen Gebiete des Deutschen Reiches, die 1945 unter

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Die in Ziffer 1 des Briefes mitgeteilte „Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990", die sich auf die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 bezieht, hat zwar zu der Einfügung von Art. 143 Abs. 3 GG geführt (Art. 4 Ziff. 5 EV), ist aber weder vom Zwei-plus-Vier-Vertrag noch vom Gemeinsamen Brief gefordert. 17 BVerfGE 36, 1 (28) - Grundvertrag.

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sowjetische oder polnische Verwaltung gekommen waren18. Das Wiedervereinigungsgebot ging territorial von Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 aus19. In dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Ostverträgen ist deutlich darauf hingewiesen worden, daß die Bundesrepublik Deutschland allein (ebensowenig wie die DDR allein), aber auch nicht gemeinsam mit der DDR über diese Gebiete verfügen könne20. Dies konnte erst der freie gesamtdeutsche Souverän leisten, und deshalb ist der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwar noch von den Vertretern beider deutscher Staaten unterzeichnet, aber die Ratifikation ist bewußt dem vereinten Deutschland vorbehalten worden (Art. 8 Abs. 1). In Umsetzung der vertraglichen Verpflichtung nimmt Art. 4 EV die sogenannten beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes vor 21 . Darunter zählen die Neufassungen der Präambel und des Art. 146, die beide den ausdrücklichen Hinweis darauf enthalten, daß das Grundgesetz nach der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte Deutsche Volk gilt 22 . Hiermit und mit der Aufhebung des Art. 23 a. F. GG wird die gebietliche Vollständigkeit der Bundesrepublik Deutschland bestätigt23. Die verfassungsrechtlichen Änderungen gehen, genau gesehen, über die vertraglichen Anforderungen hinaus. Während Art. 1 Abs. 4 ZpVV nur verlangt, daß die gesamtdeutsche Verfassung keine Bestimmung enthalten wird, die mit den im Vertrag genannten Prinzipien unvereinbar sind, schreiben die 18

Dazu BVerfGE 40, 141 (172 ff.); vgl. ferner Eckart Klein, Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-polnischen Verhältnisses, in: De Ecclesia Silesiae, FS zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Apostolischen Visitatur Breslau, 1997, S. 117 ff. 19 Zu dieser vom Bundesverfassungsgericht nie eindeutig geklärten, in der Literatur umstrittenen Frage Eckart Klein, Die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebots, 2. Aufl. 1984; Georg Ress, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, in: Zieger (Hg.), Fünf Jahre Grundvertragsurteü des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 265 ff. (275 f.); ders., Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 11 Rn. 62. 20

BVerfGE 40, 141 (173 ff.). Matthias Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991; Hans H. Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 198 Rn. 23 ff. 22 Die unterschiedliche Schreibweise („Deutsches Volk" in der Präambel und in Art. 1 Abs. 2 GG, „deutsches Volk" in Art. 146 GG - in der alten und neuen Fassung) ist schwer, in den beiden ersten Fällen vielleicht durch ihren deklamatorischfeierlichen Charakter erklärbar; Präambel und Art. 181 WRV verwendeten in beiden Fällen die Großschreibung. 21

23 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG) der diesbezüglichen Änderungen des Grundgesetzes H. H. Klein (Anm. 21), § 198 Rn. 28 f.

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Neufassungen der Präambel und des Art. 146 den vereinbarten Zustand positiv fest 24. Die Verfassungsänderung ist - mit den notwendigen Mehrheiten gemäß Art. 79 Abs. 2 GG - uno actu zusammen mit der Annahme des Einigungsvertrages durch Bundestag und Bundesrat beschlossen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese „paktierte Verfassungsänderung" gebilligt, freilich mit einer so sehr auf Art. 23 a. F. GG zugeschnittenen Begründung25, daß sie wegen des Wegfalls dieser Bestimmung nicht erneut zur Legitimierung eines solchen prinzipiell durchaus bedenklichen Verfahrens herangezogen werden könnte26. An der formellen Änderung des Grundgesetzes waren Organe der DDR naturgemäß nicht beteiligt. Die Aufnahme der Grundgesetzänderungen in den Art. 4 EV bezeichnete aber eine der Voraussetzungen, unter denen der Beitritt gemäß Art. 23 Satz 2 a. F. GG stattfinden sollte. Damit kam die DDR-Regierung der auch an sie gerichteten Aufforderung nach, eine den Vertragsprinzipien nicht widersprechende deutsche Verfassungsrechtslage herzustellen; dies geschah ungeachtet der - von den Vertragsparteien gewollten - Tatsache, daß die DDR mit dem Vollzug der Wiedervereinigung als eigenes Rechtssubjekt erlöschen werde27. 3. Die zweite Inbezugnahme der gesamtdeutschen Verfassung erfolgte im Zusammenhang mit dem Verbot des Angriffskrieges und des militärischen Gewaltverbotes (Art. 2 ZpVV). In beiden Fällen handelt es sich nicht nur um vertragliche Verpflichtungen, sondern auch um inzwischen fest etablierte .

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Normen des allgemeinen Völkerrechts . Insoweit nehmen sie auch in der nationalen Rechtsordnung gemäß Art. 25 GG einen besonderen Rang ein - über den Bundesgesetzen, aber unter der Verfassung selbst29. Sie sind jedoch dar-

24 Dies ist aber eine politisch vernünftige, wenngleich eben nicht vertraglich geforderte Entscheidung gewesen. 25 BVerfGE 82, 316 (320 f.); 84, 90 (118 f.). 26 Η Η. Klein (Anm. 21), § 198 Rn. 25; Eckart Klein, Deutsche Einigung und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Verfassungsrecht im Wandel, FS Heymanns Verlag, 1995, S. 91 ff. (92). Zum Problem auch Klaus Vogel, Gesetzesvorbehalt, Parlamentsvorbehalt und völkerrechtliche Verträge, in: FS für P. Lerche, 1993, S. 95 ff. (100). 27 Die Nichtnennung der DDR als Verpflichtete wäre zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht vertretbar gewesen, da sie ja damals noch existierte; vgl. aber Gornig (Anm. 15), S. 103. 28 Michael Bothe, in: Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 1997, 7. Abschnitt Rn. 8 ff. 29 Hierzu, auch mit Darstellung abweichender Ansichten, Helmut Steinberg er, Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 173 Rn. 49 ff.

Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

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über hinaus durch Art. 26 GG unmittelbar auf der Verfassungsebene angesiedelt, sind also auch verfassungsrechtliche Verpflichtungen; entsprechend werden Verstöße von staatlicher Seite hiergegen als „verfassungswidrig" bezeichnet (Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG). Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG ordnet die Strafbarkeit solcher Verstöße an, ohne jedoch die Strafe selbst zu bestimmen; diesem Verfassungsauftrag ist der deutsche Gesetzgeber im wesentlichen durch §§ 80, 80 a StGB nachgekommen30. Die Erfüllung des Art. 2 ZpVV erforderte also keine zusätzlichen verfassungsrechtlichen Maßnahmen; er ist vielmehr in seinem entscheidenden zweiten Satz offenkundig geradezu am Wortlaut des Art. 26 Abs. 1 GG orientiert. Auch die deutscherseits erfolgte Erklärung, daß es zu einem Einsatz deutscher Waffen nur in Übereinstimmung mit der UN-Charta und der Verfassung kommen werde, bedurfte keiner weiteren Ausführung in der Verfassung. Die im Grundgesetz mitbedachte individuelle und kollektive Selbstverteidigung31 ist ihrerseits durch den Verweis auf die UN-Charta (Art. 51) eindeutig anerkannt. Man darf daran erinnern, daß Art. 3 Abs. 1 DV die generelle Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland enthielt, ihre Politik im Einklang mit den Prinzipien der UN-Charta zu halten, was natürlich insbesondere das Gewaltverbot einschloß32. Damals war die Bundesrepublik Deutschland noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen, und man konnte wohl noch darüber streiten, inwieweit diese vertragliche Norm gewohnheitsrechtlichen Charakter erlangt hatte. Inzwischen ist Deutschland umfassend an die UN-Charta gebunden. Der Verweis auf sie gewönne im Verhältnis der fünf Vertragsparteien33 konstitutive Bedeutung nur, wenn Deutschland aus den Vereinten Nationen austräte oder ausgeschlossen würde 34; gegenüber seinen Vertragspartnern bliebe es vertraglich gebunden. Von seinen Pflichten aus Völkergewohnheitsrecht kann sich ein außerhalb der Vereinten Nationen stehender Staat allerdings ohnehin nicht einseitig, im Falle von ius cogens überhaupt nicht lösen. 4. Die im Gemeinsamen Brief enthaltene Erklärung der beiden deutschen Staaten, daß die freiheitlich-demokratische Grundordnung auch im vereinten Deutschland durch die Verfassung geschützt werde und daß sie die Grundlage für das Verbot politischer Parteien und Vereinigungen bilde, die diese 30 Zu den Zweifeln an der vollständigen Erfüllung des Verfassungsauftrags Rudolf Streinz, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 1996, Art. 26 Rn. 33. 31 Vgl. Art. 24, 25, 87 a, 115 a bis 115 1 GG. 32 Dazu E. Klein (Anm. 14), S. 403 f. 33 Vgl. die Begriffsbestimmung der „Partei" in Art. 1 lit. g W V K 1969. 34 Zu diesen Denkmöglichkeiten Eckart Klein, in: Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 1997, 4. Abschnitt Rn. 76 ff.

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Grundordnung beeinträchtigen oder beseitigen wollen, ist besonders bemerkenswert. Die im Osten und von manchen Gruppen im Westen vielgescholtene und lächerlich gemachte „fdGO" 35 wird ausdrücklich und im positiven Sinn zum Gegenstand einer internationalen Bestandserklärung gemacht. Die „freiheitliche demokratische Grundordnung" ist eine verfassungsrechtlicher Begriff 36, den das Bundesverfassungsgericht so definiert hat: Sie sei eine Ordnung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."37 Diese Definition enthält in der Tat die wesentlichen Merkmale eines der Freiheit seiner Bürger verpflichteten Staates. In allen Zusammenhängen, in denen der Begriff im Grundgesetz auftaucht, wird er als Schutzgut angesehen38, dessen Verteidigung die jeweils angesprochenen Maßnahmen dienen. Daß der Begriff in diesem Sinn auch in dem Gemeinsamen Brief verwendet wird, ergibt sich aus der Wendung, daß der Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung „auch" im vereinten Deutschland durch die Verfassung geschützt wird. Die Anknüpfung an den in der Bundesrepublik Deutschland schon bislang gegebenen Rechtszustand ist damit offenkundig. Da es nach allem um den Fortbestand geltender Verfassungsregeln geht, war verfassungsrechtlich nichts weiter zu veranlassen - ungeachtet der noch offenen Frage der völkerrechtlichen Bedeutung des Gemeinsamen Briefes.

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Hierzu Eckart Klein, Nation und Demokratie. Sachzusammenhänge und deutsche Frage, in: Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland, FS für S. Mampel, 1983, S. 345 ff. (356). 36 Art. 10 Abs. 2, 11 Abs. 1, 18, 21 Abs. 2, 73 Nr. 10 lit. b, 87 a Abs. 4, 91 GG. 37 BVerfGE 2, 1 (12 f.). 38 Jürgen Becker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 167 Rn. 47.

Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

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IV.

Bevor die Bedeutung dieser Vorschriften für die deutsche verfassunggebende Gewalt ermittelt werden kann, ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die oben (III.) geschilderten Inbezugnahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrags auf die Verfassung des vereinten Deutschlands völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen Deutschlands geschaffen haben. 1. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der seine Vertragsparteien - das vereinte Deutschland (Bundesrepublik Deutschland) und die Vier Mächte (Rußland ist als „Fortsetzungsstaat" in die Rechtsstellung der Sowjetunion eingetreten39) - nach Maßgabe seiner Bestimmungen rechtlich verpflichtet. Im Fall des Art. 1 Abs. 4 ZpVV werden die dort enthaltenen deutschen Erklärungen gemäß Abs. 5 von den vier anderen Vertragsparteien förmlich entgegengenommen. Insoweit kann an dem gemeinsamen Vertragswillen ohnedies nicht gezweifelt werden. Entsprechendes ist zwar im Fall des Art. 2 ZpVV nicht geschehen, aber auch hier wird man den vertraglichen Bindungswillen der beteiligten Parteien annehmen müssen; denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß Bestimmungen im operativen Teil eines Vertrages normative Wirkungen haben40. Anhaltspunkte, die auf das Gegenteil hinweisen, sind nicht ersichtlich. 2. Schwieriger ist der Fall, soweit es um die im Gemeinsamen Brief enthaltenen Erklärungen geht. Dabei ist es von Bedeutung, daß der Brief kein Bestandteil des Vertrages ist 41 ; dies ergibt sich schlüssig aus der fehlenden Inbezugnahme durch den Vertragstext selbst. Es entspricht ganz diesem Bild, daß der Gemeinsame Brief nicht gemeinsam mit dem Vertrag im Bundesgesetzblatt, sondern nur im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht wurde42. Überdies weist auch der Wortlaut des Gemeinsamen Briefes auf das Fehlen eines vertraglichen Bindungswillens hin, wenn formuliert ist, daß die beiden deutschen Regierungen den andern beteiligten Außenministern „mitteilen",

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Hierzu Theodor Schweisfurth, Das Recht der Staatensukzession. Die Staatenpraxis der Nachfolge in völkerrechtlichen Verträge, Staats vermögen, Staatsschulden und Archive in den Teüungsfallen Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien, BDGV 35 (1996), S. 49 ff. (66 f.). 40 Vgl. Ait. 26 WVK. 41 Ebenso Dietrich Rauschning, Beendigung der Nachkriegszeit mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, DVB1. 1990, S. 1275 ff. (1284). 42 Bulletin 1990, Nr. 109, S. 1156.

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was sie „in den Verhandlungen" „dargelegt haben"43. Eine originäre völkerrechtliche Bindung ergibt sich daher für Deutschland aus Ziffer 3 des Gemeinsamen Briefes (betr. freiheitlich-demokratische Grundordnung) nicht. Dies heißt nicht, daß der Gemeinsame Brief völkerrechtlich bedeutungslos wäre. Er kann als Kontext im Sinne des Art. 31 Abs. 2 lit. b Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) für die Interpretation der Vertragsbestimmungen Bedeutung gewinnen44. Obwohl ein bestätigendes Antwortschreiben der Außenminister der Vier Mächte fehlt, ist doch der zeitliche Zusammenhang mit dem Abschluß des Vertrages derart 45, daß davon ausgegangen werden kann, daß er in unmittelbarer Verbindung mit dem Abschluß des Vertrages geschrieben und von den anderen Vertragsparteien als Instrument, das auf den Vertrag bezogen ist, akzeptiert wurde. Die damit ermöglichte Interpretationsfunktion des Briefes für die Vertragsbestimmungen selbst ist aber seiner inhaltlichen Aussagen wegen nicht sehr weiterführend. Sachlich könnte Ziffer 3 des Briefes allenfalls am Rande zum rechtlichen Verständnis von Art. 1 und 2 ZpVV beitragen. Wichtiger dürfte sein, daß der Brief eine weitere politische Verbindung zwischen den „internen" und „externen" Aspekten der Wiederherstellung der deutschen Einheit zum Ausdruck bringt. 3. Man könnte sich fragen, ob eine Lösung vom Vertrag, der keine Beendigungsklausel enthält, möglich ist. Dies wäre gewiß im Konsens aller Vertragsparteien zulässig (Art. 54 lit. b WVK). Dann könnte auch die Grenzziehung neu geregelt werden; was die deutsch-polnische Grenze angeht, allerdings nur mit Zustimmung Deutschlands und Polens46.

43 Vgl. auch Karl Doehring, Staatsrechtliche und völkerrechtliche Betrachtungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, in: Eifler / Saame (Hg.), Gegenwart und Vergangenheit deutscher Einheit, 1992, S. 35 ff. (46). 44 Dieter Blumenwitz, Der Vertrag vom 12.09.1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, NJW 1990, S. 3041 ff. (3048); Gornig (Anm. 15), S. 106. - Den im Text gemachten Unterschied übersieht Stern (Anm. 4), S. 31 Fn. 100. 45 Der Gemeinsame Brief ist nicht datiert, aber „im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" geschrieben (Anm. 42). 46 Die Vereinbarung zur „Endgültigkeit" der deutschen Grenzen legt die Grenzen Deutschlands nicht stärker fest, als es durch Grenzverträge auch im übrigen geschieht. Es gibt für den Abschluß eines Grenzvertrages Deutschlands mit einem seiner Nachbarn, sei es zur Vergrößerung oder Verkleinerung oder zum Austausch des Gebietes, gerade kein Mitspracherecht dritter Staaten mehr. Im Zuge der europäischen Integration werden Gebietsverschiebungen innerhalb der EU allerdings ohnehin an politischer Brisanz verlieren, ohne daß Grenzen jedoch völlig überflüssig würden. Dies güt jedenfalls solange, als es sich bei der EU nicht um einen Staat handelt. Vgl. hierzu Eckart Klein, Völker und Grenzen im 20. Jahrhundert, Der Staat 32 (1993), S. 357 ff. (374 ff.).

Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

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Eine (einseitige) Kündigung durch Deutschland erscheint ausgeschlossen; diese Möglichkeit ergibt sich weder aus den Intentionen der Parteien noch aus der Natur des Vertrages 47. Wie der Deutschlandvertrag weist der Zwei-plusVier-Vertrag statusrechtliche Elemente und damit eine besondere Tendenz zu dauerhafter Geltung auf, die nur durch das Zusammenwirken aller Vertragsparteien beseitigt werden kann. Darüber hinaus könnte eine Beendigung des Vertrages der erfolgten Grenzregelung nicht die Grundlage entziehen. Auch die Bindung an das allgemeine Völkerrecht bliebe bestehen. Wegfallen könnte nur die Verpflichtung des vereinten Deutschlands, seine Verfassung im Einklang mit den völkerrechtlichen Pflichten zu gestalten und zu halten. An der völkerrechtlichen Bindung selbst würde dies nichts ändern. Wie bereits ausgeführt, wird man von einem Kündigungsrecht der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht ausgehen können48. V.

Damit stellt sich die Frage, welche Einflüsse von den Artikeln 1 Abs. 4 und 2 ZpVV auf die deutsche Verfassunggebung für die Zukunft ausgehen. Bezogen auf die erstgenannte Bestimmung, aber entsprechendes müßte für Art. 2 gelten, meint Badura: „Die Vertragsklausel des Art. 1 Abs. 4 bedeutet eine fortwährende Beschränkung der deutschen verfassungsändernden Gesetzgebung und der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes (Art. 146 GG)." 4 9 1. Zunächst muß davon ausgegangen werden, daß die völkerrechtliche Beschränkung gewollt ist. Dies wurde bereits ausgeführt und wäre nur zu revidieren, wenn sich ergäbe, daß die übernommene völkerrechtliche Verpflichtung wegen Verstoßes gegen ius cogens unwirksam wäre 50. In Betracht käme insoweit das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes51. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes ist aber nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen, sondern muß sich selbst im Rahmen der völkerrechtlichen Ordnung halten, 47

Hierzu Art. 56 WVK. Es ist, da die anderen Vertragspartner ihre Pflichten erfüllt haben, auch schwerlich vorstellbar, daß das Problem einer mögüchen Reaktion Deutschlands auf Vertragsverletzungen dieser Staaten auftreten könnte (Art. 60 WVK). 49 Peter Badura, Die innerdeutschen Verträge, insbesondere der Einigungsvertrag, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 189 Rn. 27. 50 Vgl. Art. 53, 64 WVK. - Hierzu Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1997, 1. Abschnitt Rn. 13 und 157. 51 Zum ius-cogens-Charakter des Selbstbestimmungsrechts etwa Karl Doehnng, in: Simma (Hg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, 1991, nach Art. 1 Rn. 57 ff. 48

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der es entstammt. Die Akzeptierung von endgültigen Grenzen und die Erklärung gebietlicher Saturiertheit sind ebenso wie die Ablehnung von Gewaltmaßnahmen, die im Widerspruch zur UN-Charta stehen, insbesondere von Angriffskriegen, Bestandteile einer dauerhaften Friedensordnung, deren Sicherung oder Herstellung die wichtigste Aufgabe des heutigen Völkerrechts ist. Diesen Maßgaben Rechnung tragende vertragliche Verpflichtungen verstoßen nicht gegen ius cogens. 2. Ein anderes Problem ist, ob die verfassungsrechtliche Perspektive eine vom Völkerrecht an den Verfassung-(gesetz-)geber herangetragene - und unter völkerrechtlichen Aspekten nicht zu beanstandende - Beschränkung toleriert. Man könnte meinen, daß verfassunggebende Gewalt völlige Freiheit voraussetze. Dies ist aber offenkundig nicht richtig und stimmt weder nach innen noch nach außen. Jede Verfassunggebung will nicht nur eine Ordnung errichten, sondern steht selbst auf dem Boden einer Ordnung,52 die nicht allein von ihrer Entscheidung bestimmt ist. Der Raum freier Entscheidung ist nicht nur politisch beschränkt53. Souveränität ist nicht mehr als potestas absoluta denkbar. Staat und Volk sind Elemente einer internationalen Ordnung; Souveränität und Selbstbestimmungsrecht sind rechtsgebundene Institute54. Bindungen der verfassunggebenden Gewalt stellen daher nicht per se einen Widerspruch in sich dar. Natürlich kann gefragt werden, wie weit solche Bindungen reichen dürfen, ohne die Freiheit der Entscheidung in Unfreiheit zu verkehren. Ein wichtiges Indiz ist gewiß die Freiwilligkeit des Eingehens der Bindung, doch wird nicht jede fortschreitende Entwicklung unbeachtlich sein. Einigermaßen verläßlicher Maßstab für die Feststellung zulässiger Bindung ist aber die Existenz zwingender Normen des Völkerrechts, universeller oder regionaler Provenienz55.

52 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986, S. 26 ff. 53 Vgl. Paul Kirchhof Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 19 Rn. 29 f. 54 Näher Eckart Klein, Staatliche Souveränität im Europa der Gegenwart, WeltTrends Nr. 8, 1995, S. 135 ff. (137 ff.) 55 Dazu zählen jedenfalls auch die elementaren menschenrechtlichen Gewährleistungen. - Vgl. zum Problem insgesamt Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 142 f.; Karl Doehring, Internationale Organisationen und staatliche Souveränität, in: Festgabe für E. Forsthoff, 1967, S. 105 ff. (116 f.).

Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsche Verfassunggebung

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Prüft man unter diesem Gesichtspunkt Art. 1 Abs. 4 und Art. 2 ZpVV, so zeigt sich, daß die Aufnahme von Vertragsbestimmungen, mit denen über den gegenwärtigen Gebietsstand hinaus Anspruch auf weitere Territorien erhoben oder deren Zugehörigkeit zu Deutschland reklamiert und ihr Beitritt ermöglicht würde, über die der verfassunggebenden Gewalt gezogenen Grenzen hinausginge. Entsprechendes gälte für die Aufnahme einer Vorschrift in das Grundgesetz, die - anders als Art. 26 GG - einen Angriffskrieg für zulässig erklären würde. In allen diesen Fällen würde gegen zwingende Rechtssätze verstoßen, die für alle Staaten gelten. Es besteht kein Grund, die verfassunggebende Gewalt für berechtigt zu halten, das für alle Staaten notwendig geltende Recht zu verletzen56. Überschreitungen der Grenzen der verfassunggebenden Gewalt führen wie Überschreitungen der Grenzen, die dem verfassungändernden Gesetzgeber gezogen sind, zu verfassungswidrigen Verfassungsnormen57. Bereits nicht gegen die vertragliche Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 4 ZpVV verstieße hingegen die Aufnahme einer Bestimmung in das Grundgesetz, die Regelungen für den freiwilligen Zusammenschluß oder Beitritt oder eine Gebietszession im Konsens mit einem anderen Staat vorsieht. Die „Endgültigkeit" der Grenzen schließt nicht ihre Veränderbarkeit im Wege vertraglicher Vereinbarung aus58, und für den Verzicht auf Gebietsansprüche gilt entsprechendes. Weiter geht die Verpflichtung in Art. 2 ZpVV, Artikel 26 GG oder eine ihm gleichkommende Bestimmung auf Dauer einen Platz in der Verfassung einzuräumen. Das Verbot der militärischen Gewaltanwendung, insbesondere das Verbot des Angriffskrieges gehören zwar zum völkerrechtlichen ius cogens59 und beschränken so auch den pouvoir constituant , so daß dieser gehindert wäre, einen entsprechenden Erlaubnissatz zu formulieren. Die Aufnahme der Verbotsnorm in die Verfassung geht darüber aber hinaus; zahlreiche Verfassungen der Welt enthalten keine entsprechende Formulierung. Man wird deshalb schließen müssen, daß zwar die Beseitigung des Art. 26 GG einen Verstoß gegen Art. 2 ZpVV darstellen würde, aber nicht als Überschreitung der dem verfassungsändernden Gesetzgeber gezogenen Grenze zu definieren wäre.

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Zutreffend Murswiek (Anm. 55), S. 143. Zu dieser Konstellation BVerfGE 3, 225 (232). Siehe oben in Anm. 46. W. Heinischel von Heinegg, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 170.

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Eckart Klein

VI.

Die Betrachtung sollte am Beispiel des Zwei-plus-Vier-Vertrages, eines der für Deutschland wichtigsten Verträge überhaupt, zeigen, wie Völkerrecht und Verfassungsrecht, wie „innen" und „außen" zusammenhängen und - wenn auch nur in einem bestimmten Bereich - „eins werden". Diese Erkenntnis haben uns der Zweite Weltkrieg und seine Folgen in der Nachkriegszeit gelehrt, die durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag ihren Abschluß gefunden hat.

Transformation und Integration Zur Parallelität und Interdependenz zweier Prozesse in Deutschland

Von Stephan Weingarz Versucht man die deutsche Vereinigung zeitlich zu determinieren, stößt man auf verschiedene Handlungsstränge, die eine eindeutige Aussage erschweren. Staatsrechtlich war die Einheit innerhalb weniger Monate erreicht. Eingeleitet durch den ersten Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 führte der Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zur völkerrechtlichen Auflösung der DDR am 3. Oktober 1990. In völlig anderen Zeitdimensionen spielen sich dagegen zwei Prozesse ab, die die eigentliche - wirtschaftliche, politische und soziale - deutsche Einheit herbeiführen sollen: der Transformationsprozeß in den neuen Bundesländern sowie deren Integration in die Bundesrepublik. Während sich für den Beginn dieser beiden Prozesse relativ feste Zeitpunkte in den Jahren 1989/90 benennen lassen, ist es schwierig, einen Abschlußpunkt der Transformation bzw. Integration in Deutschland zu bestimmen. Im folgenden soll das Verhältnis dieser beiden parallel zueinander ablaufenden Prozesse in der DDR und der Bundesrepublik untersucht werden. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich der Transformations- und der Integrationsprozeß gegenseitig positiv bzw. negativ beeinflussen. Zu diesem Zwecke wird die Interdependenz der beiden Prozesse, insbesondere im Bereich der Ökonomie, untersucht. In einer allgemein gehaltenen Definition läßt sich Transformation als grundlegende Umgestaltung des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Systems eines Staates begreifen. Spezieller gefaßt bedeutet Transformation, vor allem in bezug auf die ehemals sozialistischen Staaten, im politischen System Demokratisierung, im wirtschaftlichen System die Einführung der Marktwirtschaft sowie im Gesellschaftssystem eine Pluralisierung der Interessen1. Die Grundsätzlichkeit der Veränderung drückt sich darin aus, 1 Der Transformationsprozeß zielt demnach auf die fortschreitende soziale Differenzierung des Gesellschaftssystems nach westlichem Muster ab; die verschiedenen Interessen fmden ihre Artikulation in einer Vielzahl von Parteien, Verbänden, Vereinen und Bewegungen. Ähnlich wie das marktwirtschaftliche Modell wird der gesell-

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daß mit der Auflösung der Strukturen des alten Systems sowie dem Aufbau neuer Strukturen die bisherige Systemidentität verloren geht2. Als Charakterisierungsmerkmale von Transformationsprozessen finden sich in der Literatur einerseits der besondere Einfluß von Akteurshandeln, andererseits die beständige Unsicherheit über das Prozeßergebnis. So weist Kloten auf die grundsätzliche Bedeutung zielgerichteten politischen Handelns hin, sowohl als auslösendes Moment für eine Transformation als auch als politischer Gestaltungswille während des Prozesses3. Im Falle des deutschen Transformationsprozesses ist dies von besonderem Belang, da mit dem westdeutschen Ordnungssystem ein klares Referenzmodell vorgegeben war, welches die politischen Akteure innerhalb einer möglichst kurzen Zeitspanne in den neuen Bundesländern umsetzen wollten. Jedoch setzt an diesem Punkt der Aspekt der Unsicherheit über den Prozeßverlauf an; zwar ist den Entscheidungsträgern das anzustrebende Ziel, nicht jedoch die konkret zu ergreifenden Maßnahmen bekannt, die vor dem Hintergrund der speziellen Ausgangssituation in den neuen Bundesländern zur maßstabsgerechten Übertragung bzw. Einführung der einzelnen westdeutschen Ordnungssysteme führen sollen. Auf diese Weise kam es beispielsweise zum unglücklichen Zusammenspiel von Währungsunion und schneller Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Wirtschaft, was als Ergebnis eine weitreichende Deindustrialisierung der neuen Ländern herbeiführte. Neben der Auswahl der angemessenen Transformationsschritte wird Unsicherheit im Prozeßverlauf vor allem durch strategisches Handeln der verschiedenen politischen Akteure verursacht. Damit einher geht die Unkalkulierbarkeit von Entscheidungen, die mangelnde Erwartbarkeit der Handlungen anderer sowie das Unwissen über die Konsequenzen der eigenen Handlungen. Dadurch dominieren Entscheidungsdilemmata und Paradoxien den Transformationsprozeß und bestimmen über Erfolg bzw. Mißerfolg politischer Aktionen4. Der Bedeutung von Akteurshandeln sowie den nichtintendierten Folgen wesentlicher Transformationsschritte kommen in der Frage möglicher Interdependezen zwischen Transformations- und Integrationsprozeß eine besondere Rolle zu.

schaftliche Pluralismus dabei von der Konkurrenz der einzelnen Interessen der Bürger bestimmt. 2

Eberhard Sandschneider, Stabilität und Transformation politischer Systeme. Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Opladen 1995, S. 42. 3 Norbert Kloten, Die Transformation von Wirtschaftsordnungen. Theoretische, phänotypische und politische Aspekte, Tübingen 1991, S. 6. 4 Friedbert W. Rüb, Die Herausbüdung politischer Institutionen in Demokratisierungsprozessen, in: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, S. 111.

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Integration kann sowohl Prozeß als auch Ziel bzw. Ergebnis sein, wobei für die vorliegende Fragestellung lediglich der Prozeßcharakter interessiert. Allgemein läßt sich ein Integrationsprozeß als das Zusammenwachsen bzw. -fügen von zuvor selbständigen Größen zu einer Einheit definieren. Die Integration erfolgt dabei durch (freiwillige oder auch unfreiwillige) Angleichung an vorgegebene Strukturen und Wertmuster und damit durch die Eingliederung in bestehende soziale Systeme5. Wie der Transformationsprozeß beruht Integration auf zielgerichtetem Akteurshandeln. Da es sich bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten um die Verschmelzung zweier über vierzig Jahre getrennter und folglich grundsätzlich verschiedener Systeme handelte, wurde mit dem Beitritt der DDR nach Art. 23 GG nur der formale, staatsrechtliche Akt vollzogen. Der eigentliche Prozeß der Einbeziehung der einzelnen Subsysteme - Ökonomie, Politik und vor allem Gesellschaft - setzte im wesentlichen erst nach dem 3. Oktober 1990 mit dem Ziel der Herstellung der „inneren Einheit" der Bundesrepublik Deutschland ein. Dabei läßt sich die Entwicklung einer integrierten Gesellschaft und die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse auf verschiedene Aspekte beziehen: So ist ein einheitliches Institutionengefüge zu schaffen, das unter anderem sowohl das Rechtssystem, das System der sozialen Sicherung sowie - hinsichtlich der „Zivilgesellschaft" - freie Assoziationen und Interessenverbände umfaßt. Des weiteren ist eine vergleichbare ökonomische Entwicklungsbasis erforderlich, wozu der Ausbau der materiellen Infrastruktur ebenso zu zählen ist wie die Schaffung von Ausbildungs- und Beschäftigungschancen sowie die Herstellung vergleichbarer Besitzverhältnisse. Schließlich muß es zur Ausbildung einer gemeinsamen Identität kommen im Sinne der Akzeptanz eines gemeinsamen Kerns von Grundwerten und der Entstehung einer gemeinsamen politischen Kultur, was gleichgerichtete Zielsetzungen ebenso einschließt wie das Bewußtsein der Gesamtbevölkerung, eine Solidargemeinschaft zu bilden. Erst mit der Erfüllung dieser Kriterien wäre ein Punkt erreicht, an dem sowohl die System- als auch die Sozialintegration als abgeschlossen gelten können.6 Transformation in der DDR

Zum Zeitpunkt, als der innerdeutsche Integrationsprozeß in Gang gesetzt wurde, befand sich der Transformationsprozeß auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in manchen Bereichen bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Legt man für die Beurteilung des Transformationsverlaufs im politischen Sy5 Bernhard Schäfers, Ambivalenzen des Einigungsprozesses: Integration und Differenzierung, in: Gegenwartskunde 1/1996, S. 114. 6 Karl Ulrich Mayer, Von der Transformationstheorie zur Transformation oder umgekehrt?, in: BISS public, Heft 13, Berlin 1994, S. 26 f.

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stem der DDR das Phasenschema von Ο'Donneil / Schmitter zugrunde, wonach die Ablösung eines autoritären Regimes bzw. die Einführung eines demokratischen Systems zumeist dem Dreischritt von Liberalisierung - Demokratisierung - Konsolidierung folgt 7, so ist bereits im März 1990 der Demokratisierungsprozeß mit der Durchführung freier Wahlen zur Volkskammer weitgehend abgeschlossen, nachdem in einer kurzen und sich überstürzenden Liberalisierungsphase das Machtmonopol der SED aufgebrochen worden war. Mit dem Druck der Demonstrationen sowie der starken Abwanderung in die Bundesrepublik war es der Bevölkerung der DDR gelungen, aus dem Status der weitgehenden politischen Unmündigkeit heraus die Bildung von Oppositionsparteien zu legalisieren und eine demokratisch legitimierte Volksvertretung sowie eine daraus hervorgehende Regierung zu wählen. Jedoch entwickelte sich bereits im Wahlkampf die Frage der Vereinigung zum bestimmenden Thema: Die Präferenzhierarchie der Mehrheit der Bevölkerung hatte sich von „Demokratie" zu „nationaler Einheit" verschoben, von eigenständiger Transformation zu transformierender Integration. Der Ansatz einer eigenen Konsolidierungsphase in der DDR, d.h. einer Verfestigung bzw. Weiterentwicklung der in Funktion gesetzten demokratischen Strukturen, 8 findet sich lediglich im Verfassungsentwurf der „Arbeitsgruppe Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches wieder. Dessen Ausarbeitung wurde bereits am 7. Dezember 1989 beschlossen und sollte den krönenden Abschluß der Arbeit des Runden Tisches darstellen.9 Als dieser schließlich am 4. April 1990 der neugewählten Volkskammer vorgelegt wurde, zu einem Zeitpunkt also, als bereits die öffentliche Diskussion um den verfassungsrechtlichen Weg der Vereinigung beider deutscher Staaten sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik entbrannt war, konnte die Ausrichtung des Verfassungsentwurfs nicht mehr die Konsolidierung der erreichten Demokratie der DDR sein. Seine Autoren verstanden ihn nun vielmehr als Ausgangsbasis für die Erarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Die Weigerung der Volkskammer, den Entwurf tiefergehend zu diskutieren, kann einerseits als das Ende des eigenständigen politischen Transformationsprozesses in der 7

Guillermo Ο 'Donne II / Philippe C Schmitter / Laurence Whitehead, Transition from Authoritarian Rule. Tentative Conclusion about Uncertain Democracies, Baltimore u.a. 1986, S. 7 ff. 8 Merkel sieht als wesentlichen Vorgang der demokratischen Konsolidierung die Überführung demokratischer Verhaltensmuster in stabüe Strukturen. Dabei werde über den regelhaften Zugang zu politischen und ökonomischen Ressourcen entschieden, die Zulassung von politischen Akteuren definiert und das Prozedere von politischen Entscheidungen nach verbindlichen Regeln festgelegt. Wolf gang Merkel, Warum brach das SED-Regime zusammen? Der „Fall" (der) DDR im Lichte der Demokratisierungstheorien, in: Ulrike Liebert, Wolfgang Merkel (Hrsg.), Die Politik zur Deutschen Einheit. Probleme - Strategien - Kontroversen, Opladen 1991, S. 45. 9 Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, S. 143 ff.

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DDR betrachtet werden, andererseits aber auch als die endgültige Verschiebung der Akteursebene innerhalb der jungen Demokratie der DDR, vom nicht explizit legitimierten Zentralen Runden Tisch als Übergangsinstitution zur nunmehr frei gewählten Volkskammer, die über die Ablehnung des Entwurfs ihre Autonomie als Verfassungsgeber gewahrt sehen wollte. 10 Es ist die Besonderheit der deutschen Transformation ab Frühjahr 1990, daß - durch die Aufnahme des sich transformierenden Systems der DDR in die Bundesrepublik - der Prozeß der Transformation mit dem der Integration gekoppelt ist. Fragt man nach einem kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Prozessen, so zeigt sich, daß der Erfolg des Transformationsprozesses, vor allem im Bereich der Demokratisierung, den Integrationsprozeß erst ermöglicht hat. Der Machtverfall der SED als ein wichtiges Transformationsergebnis fand seinen ausdrucksvollen Niederschlag im Fall der Berliner Mauer; damit wiederum wurde in der Geschichte das Fenster zur deutschen Einheit für alle erkennbar geöffnet. Gleichzeitig dreht sich die Richtung der Beeinflussung zwischen den beiden Prozessen um. Das in der Volkskammerwahl gefällte Votum für die Integration in die Bundesrepublik war gleichzeitig und vor allem die Entscheidung für die im Vergleich zu anderen ehemals sozialistischen Ländern schnelle und „sichere" Transformation in dem Sinn, als daß der angestrebte Zielzustand klar vorgegeben war und leicht auf das Gebiet der DDR übertragbar erschien. Damit löste sich die DDR aus dem Kreis der mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten und entschied sich für einen mit keinem bisherigen Transformationsverlauf vergleichbaren Weg. So läßt sich der eine Prozeß in Zustandekommen und Verlauf aus dem anderen ableiten. Dem Transformationsprozeß kommt dabei in erster Linie die vorbereitende Rolle zu, da durch die Umformung der sozialistisch geprägten Strukturen der DDR das Trennende der beiden Systeme aufgehoben wird und eine Integration, die die Gleichläufigkeit der zu integrierenden Bereiche voraussetzt, erst ermöglicht. Die wechselseitige Beeinflussung der Prozesse fand jedoch nicht nur in der Endphase der DDR und zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung statt, sondern läßt sich auch in den Folgejahren nachweisen. Neben den sich gegenseitig fördernden Wirkungszusammenhängen kommt es aber auch zu negativen Korrelationen zwischen Transformation und Integra10 War der Zentrale Runde Tisch eine Übergangsinstitution auf dem Weg zu freien Wahlen und damit zur Demokratie, so kam der neu zu wählenden Volkskammer im März 1990 ebenfalls der Charakter einer Übergangsinstitution zu, diesmal auf dem Weg zur deutschen Einheit. Mit der Zustimmung Gorbatschows im Februar 1990 wurde die Überwindung der deutschen Teüung greifbare Realität, wodurch sowohl die Aufgaben als auch die Lebensdauer des ersten frei gewählten Parlaments der DDR vorgezeichnet war: Es mußte über die kommenden Schritte zur Vereinigung abstimmen und letzlich die DDR durch Integration auflösen. Dieter Korger, Einigungsprozeß, in: Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1996, S. 238.

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tion, insbesondere im Bereich der Ökonomie. Weitgehend im wirtschaftlichen Bereich läßt sich auch für die anderen ehemals sozialistischen Staaten der Zusammenhang zwischen diesen beiden Prozessen untersuchen, wobei wiederum die Besonderheit des Weges, den die Bevölkerung der DDR eingeschlagen hat, deutlich wird. Die Relation Transformation - Integration in den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten

Obwohl auf einer anderen Ebene anzusiedeln, existiert auch für die ehemaligen sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa ein inhaltlicher Bezug zwischen Transformations- und Integrationsprozeß. Der Transformationsprozeß führte in Reformländern wie Polen, Ungarn und Tschechien zur weitgehenden Aufgabe des vom Sozialismus geprägten politischen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Systems. Mit unterschiedlichem Erfolg werden seit Anfang der 90er Jahre eine Vielzahl von Ansätzen zum Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild in diesen Staaten verfolgt. Das Gelingen der Transformation in den einzelnen Ländern ist für diese im Hinblick auf eine mögliche Integration in die - derzeit noch rein westlich zusammengesetzte - Europäische Union von besonderem Belang11. Die europäische Integration zielt dabei zwar nicht auf die Einheitlichkeit12 der beteiligten Staaten ab, jedoch auf die möglichst weitgehende Angleichung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen. Im Juni 1993 verknüpften die im Europäischen Rat in Kopenhagen versammelten Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten einen Beitritt vor allem mit zwei Forderungen: Zum einen sollen die Aspiranten ein stabiles institutionelles Gefüge als Garantie für eine demokratische rechtsstaatliche Ordnung vorweisen können und die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz der Minderheiten sicherstellen. Zum anderen haben sie eine funktionsfähige Marktwirtschaft aufzuweisen, welche dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standhalten kann.13 Der erfolgreiche Abschluß der 11

Spätestens zum Zeitpunkt der Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien in die EU bzw. die NATO sollte die begriffliche Einteüung in östliche und westliche Länder als Allegorie des Ost-West-Konflikts überholt sein. 12 In einem Staatenverbund kann das Ziel der Integration nie die generelle Vereinheitlichung der beteüigten Staaten sein. Während in der Bundesrepublik als einem geschlossenen Staatssystem eine weitgehende Strukturidentität innerhalb der Bundesländer herbeigeführt werden muß, wird auf europäischer Ebene eine weitgehende Kompatibilität der Strukturen angestrebt, wobei wesentliche strukturelle Grundmuster in den jeweiligen Staaten wie der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland bzw. die Rolle der Monarchie in Großbritannien nicht in Frage gestellt wird. 13 Klaus-Dieter Frankenberg er / Michael Stabenow, Frieden, Demokratie und Wohlstand jetzt auch für Mittel- und Osteuropa. Die EU seit der Zeitenwende von 1989, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Dezember 1997, S. 3.

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Transformation erhält auf diese Weise für die Anwärterstaaten die Funktion einer zur Aufnahme mitzubringenden Requisite14. Der Versuchung, in den Bemühungen zur Transformation nachzulassen, steht die Gefahr gegenüber, die Aussichten auf Hilfe durch die westlichen Länder sowie die Möglichkeit auf einen Beitritt zur EU zu verringern. Das Verhältnis der beiden Prozesse zueinander stellt sich im Falle der mittel· und osteuropäischen Staaten somit nicht als ein Ineinandergreifen und damit eine Vermischung, sondern als eine von Seiten der EU deutlich nacheinander angeordnete Abfolge von Transformation und Integration dar. 15 Die ins Auge gefaßten Beitrittstermine zwischen 2003 und der Mitte des nächsten Jahrzehnts implizieren die Annahme eines erfolgreichen Abschlusses des derzeit noch laufenden Transformationsprozesses, was sich nicht zuletzt an der Auswahl der derzeit am weitesten fortgeschrittenen Anwärterstaaten für die erste Erweiterungsrunde ablesen läßt. Aus einem pointiert europaorientierten Blickwinkel kann auch der deutsche Vereinigungsprozeß und dabei insbesondere die wirtschaftliche Integration der ehemaligen DDR mit ihren ökonomisch rückständigen Gebieten als ein Teil der europäischen Integration betrachtet werden. Die unter nationalem Vorzeichen stattfindene Zusammenführung der verschiedenen Entwicklungsniveaus in Deutschland ist in diesem Sinne nur ein vorgezogener Schritt des größeren, sich auf Mittel- und Osteuropa beziehenden Integrationsprozesses der EU. 16 Der Bereich der Ökonomie im deutschen Transformations- und Integrationsprozeß

Einen besonderen Verlauf nimmt das Wechselspiel der beiden Prozesse im Bereich der Wirtschaft in der DDR bzw. den neuen Bundesländern. Einerseits findet sich in der Ökonomie die stärkste Interdependenz zwischen dem Prozeß der Transformation und dem der Integration, andererseits dreht sich im Vergleich zum politischen Bereich der Kausalzusammenhang um.

14

Klaus v. Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt am Main 1994, S. 86. Die sicherheitspolitisch-militärische Integration in Form der Osterweiterung der NATO geht der politisch-wirtschaftlichen Integration in die EU zeitlich voraus, nicht zuletzt aufgrund der Interessen der USA am Aufbau einer neuen Sicherheitsstruktur in Europa, die die früheren Warschauer-Pakt-Staaten miteinschließt. So ist - falls bei der Ratifizierung der Beitrittsverträge in den einzelnen NATO-Mitgliedsstaaten keine Schwierigkeiten auftreten - mit der Aufnahme Polens, Ungarns und Tschechiens bereits im April 1999 zu rechnen, anläßlich der Feier zum 50jährigen Bestehen der NATO. Vgl. auch Erhard Cziomer in diesem Band. 15

16 Franz Peter Lang, Integration und Transformation. Essays zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Osteuropa, Essen 1996, S. 7.

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Spätestens der Sturz Honeckers löste in der DDR sowohl in der SED als auch im Lager der Oppositionsparteien Bemühungen um die Reform des sozialistischen Systems aus. Verspätet, aber doch mit der gleichen Intensität wie andere ehemals sozialistischen Bruderstaaten suchte Ministerpräsident Hans Modrow, einen wirtschaftlichen Transformationsprozeß in Gang zu setzen. Dabei lassen sich in dem vom Ministerrat eingeschlagenen Reformkurs zwei Phasen und damit zwei verschiedene Reformkonzeptionen unterscheiden. Bei seiner Amtsübernahme war sich der Ministerpräsident der angespannten Situation in der DDR bewußt, gleichwohl verfolgte er das Ziel der Fortexistenz der DDR in einem neu definierten Verhältnis zur Bundesrepublik, wobei ihm eine Vertragsgemeinschaft als neue Grundlage vorschwebte.17 Die in dieser Phase entwickelten Reformen sind von den Ansätzen zu unterscheiden, die von der Regierung Modrow ab Beginn 1990 vorgelegt wurden und die bereits unter der Erwartung einer früher oder später eintretenden Vereinigung mit der Bundesrepublik konzipiert wurden. Entsprechend lassen sich die Reformmaßnahmen aufteilen in solche, die auf eine Stabilisierung der DDR und damit Sicherung der Eigenstaatlichkeit hinauslaufen sollten und solchen, die die Transformation des ökonomischen Systems der DDR einleiten sollten, um die eigene Position im zu erwartenden Einigungsprozeß möglichst zu stärken. Zuständig für das Wirtschaftskonzept der Regierung Modrow war die ehemalige Rektorin der Hochschule für Ökonomie Christa Luft. Nach ihren Vorstellungen sollten innerhalb eines Zeitraumes von bis zu drei Jahren marktwirtschaftliche Steuerungselemente weitgehend die zentrale staatliche Planung ersetzen. Damit waren die (unverhofft) an die Macht gekommenen Reformer in der SED bereit, den neben der Eigentumsordnung wesentlichen Wesenszug eines planwirtschaftlichen Systems zugunsten der Effizienz einer Marktallokation aufzugeben. 18 Die Umsetzung der wirtschaftlichen Liberalisierung gestaltete sich jedoch äußerst langatmig, nicht zuletzt, da sich der Druck der Bevölkung in erster Linie auf den politischen Bereich konzentrierte, konkrete Forderungen wie beispielsweise nach Preisfreigabe oder Gewerbefreiheit weniger in der DDR als von Westdeutschland aus erhoben wurden. Darüber hinaus bestand im Bereich der Ökonomie kein ausdrücklicher Interessengegensatz, da auch die am Runden Tisch vertretenden Oppositionsparteien anfangs einer bedingungslosen Übernahme des westdeutschen Wirtschaftssystems zurückhaltend gegenüberstanden, was sich nicht zuletzt in der Gründung der

17 Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin / Frankfurt am Main, 1994, S. 30. 18 Christa Luft, Grundzüge der Wirtschaftsreform in der DDR. Vortrag vor der Jahreshauptversammlung der Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf am 16. Januar 1990, S. 2.

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Treuhandanstalt zum Erhalt des Volkseigentums für die Bürger der DDR in den letzten Wochen der Regierung Modrow ausdrückt.19 Die Reformansätze der Regierung Modrow basierten in ihrer zeitlichen Anlage sowie in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf der gegebenen Wirtschaftslage der DDR, die bekanntlich von niedriger Produktivität, veraltetem Kapitalstock und vor allem immenser Devisenknappheit gekennzeichnet war, womit der Handlungsspielraum für Reformen in vielerlei Hinsicht eng begrenzt war. Die Reformer der DDR befanden sich damit in der gleichen Ausgangslage wie andere mittel- und osteuropäische Transformationsländer, vor allem als sich abzeichnete, daß die Bereitschaft der Bundesrepublik, eine fortbestehende DDR finanziell zu unterstützen, gering war. Entsprechend suchte Modrow eine Abfolge von Transformationsschritten, die durch langsamen Wandel weiterhin eine stabile wirtschaftliche Lage garantieren sollte, nach dem Motto „Reformen - zügig, aber nicht überhastet"20. So erschienen der Regierung Modrow die Einführung eines freien Preismechnismus, einer freien Konvertibilität der Mark der DDR sowie die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung innerhalb von drei Jahren als äußerst gewagtes Unterfangen 21, 19 So forderte der Zentrale Runde Tisch bezüglich der Herstellung der juristischen und ökonomischen Eingenverantwortlichkeit der Wirtschaftseinheiten auf seiner Sitzung vom 3. Januar 1990, daß bei internationalen Kapitalbeteiligungen - wozu auch Kapitalgeber aus der Bundesrepublik gerechnet wurden - eine Fremdbestimmung, d.h. ein Eigentumsanteü von über 49 %, auszuschließen sei. Helmut Herles / Ewald Rose, Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn 1990, S. 39. Die Übereinstimmung mit dem wirtschaftlichen Reformprogramm der Regierung Modrow wurde auch auf der Sitzung vom 5. Februar 1990 sichtbar, als das vorgelegte Material als Grundlage zur Durchführung der Wirtschaftsreform positiv eingeschätzt wurde und lediglich im Bereich der sozialen Sicherung sowie der ökologischen Ausrichtung konkretere Bestimmungen gefordert wurden. Ebenda, S. 105. Schließlich wurde am 26. Februar 1990 die Regierung und die Volkskammer aufgefordert, zur Sicherung der Rechte und Besitzstände der Bürger der DDR die Arbeit an der Umwandlung der Rechtsform der volkseigenen Betriebe zu beschleunigen. Ebenda, S. 222. 20 Regierungserklärung von Ministerpräsident Hans Modrow, „Diese Regierung wird eine Regierung des Volkes und der Arbeit sein", in: Neues Deutschland vom 18. November 1989. 21 Insgesamt betrachtet sah das Reformkonzept der Regierung Modrow den langfristigen kompletten Umbau der DDR-Wirtschaft zu einer „sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft unter staatlich regulierten Rahmenbedingungen" vor, die nach Durchführung eines breiten Maßnahmenkatalogs ab 1993 funktionsfähig sein sollte. Für 1990 als Stabilisierungsphase war ein vorsichtiger Beginn des Transformationsprozesses vorgesehen unter Beibehaltung grundlegender bisheriger Strukturen, wie beispielsweise staatlicher Plan- und Büanzaufgaben. Die unternehmerische Selbständigkeit sollte zuerst in acht Industriekombinaten erprobt werden, wobei daneben schon die Neugründung privater Unternehmen betrieben werden sollte. Erst in den folgenden Jahren sollten deutlichere Schritte des staatlichen Rückzugs aus der Wirtschaft wie die Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols, eine allgemeine betriebliche Selbständigkeit sowie eine Steuer-, Tarif- und Rentenreform jeweils unter dem Aspekt der StabÜität durchgeführt werden.

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wollte man nicht die gleichen wirtschaftlichen Transformationsprobleme herbeiführen, mit denen Reformländer wie Polen, Ungarn oder die UdSSR konfrontiert wurden, nachdem diese auf Reformkurs gegangen waren.22 Aus diesen Gründen war der wirtschaftliche Transformationsprozeß zum Zeitpunkt der auf März 1990 vorgezogenen Volkskammerwahlen kaum über die Schaffung erster rechtlicher Grundlagen wie der Umwandlung der volkseigenen Betriebe in Kapitalgesellschaften und deren Unterstellung unter die am 1. März 1990 neugegründete Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums oder die Zulassung privater Unternehmensgründungen hinausgekommen. Die neue Phase der wirtschaftlichen Transformation - die maßgeblich von der Bundesrepublik konzipierte Transformation - kündigte sich bereits in den ersten Monaten des Jahres 1990 mit der Diskussion um eine Währungsunion an. Der Eintritt Bonns als politischer Akteur in die Geschehnisse der DDR stellt einen wesentlichen Wendepunkt dar, durch den der endogene Transformationsprozeß der DDR in einen exogenen Prozeß überging, in dem die wesentlichen Entscheidungen nicht mehr innerhalb der Transformationsgesellschaft getroffen, sondern „von außen" gesetzt wurden.23 Nachdem Bundeskanzler Kohl Mitte Februar 1990 der Regierung Modrow eine Währungsunion angeboten hatte, setzten am 27. April bereits die offiziellen Verhandlungen mit der neuen Regierung de Mazière über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der DDR mit der Bundesrepublik ein. Eine eigenständige wirtschaftliche Transformation in der DDR wurde damit endgültig hinfallig. Der zunehmende Einfluß der Bundesrepublik im wirtschaftlichen Transformationsprozeß findet seinen Niederschlag im grundsätzlichen Richtungswechsel in der Frage der Eigentumsordnung. Die Wirtschaftskonzeption Modrows sah in Schlüsselbereichen der Industrie die Aufrechterhaltung des staatlichen Eigentums vor. Im Treuhandgesetz, wie es die Regierung de Mazière der Volkskammer im Juni 1990 zur Abstimmung vorlegte, wurde die Privatisierung aller volkseigenen Betriebe zur neuen Aufgabe und damit zum neuen Schwerpunkt des Transformationsprozesses erhoben. Konkret eingeleitet wurde die exogene Transformationsphase durch die ökonomisch umstrittene, jedoch politisch gewollte Integration der DDR in das bundesrepublikanische Währungsgebiet durch die Währungsunion zum 1. Juli

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Hans Modrow, Aufbruch und Ende, Hamburg 1991, S. 40. Renate Mayntz, Die deutsche Vereinigung als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften, in: BISS public, Heft 13, Berlin 1994, S. 21 f. Die Unterscheidung in eine exogene und eine endogene Transformationsphase entfallt im wirtschaftlichen Bereich, wenn man generalisierend die Währungsunion als Beginn der ökonomischen Transformation in der DDR ansetzt, wie sich dies verschiedentlich in der Literatur findet. 23

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1990, von Klinger als notwendige „Brechstange"24 für die Einleitung der Systemtransformation bezeichnet. Parallel dazu wurde in der DDR jede Art von staatlicher Preisbindung aufgehoben. Klassische ökonomische Probleme eines Transformationsprozesses wie Währungsstabilität und -konvertibilität bzw. die Wiedereinführung der Allokationsfunktion der Preise wurden damit übersprungen. Die Ausdehnung der DM auf das Gebiet der DDR sollte vor allem dem politischen Ziel dienen, den ausreisewilligen DDR-Bürgern ein Stück Bundesrepublik vorab zugänglich zu machen und sowohl in psychologischer als auch in hoheitlicher Hinsicht eine erste unumkehrbare Einbindung der DDR und ihrer Bevölkerung vorzunehmen.25 Mit der Währungsunion verlor die DDR-Regierung ihre währungspolitische Souveränität an die Bundesbank in Frankfurt und war außerdem vertraglich verpflichtet, bei bestimmten wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen zuvor das Einvernehmen mit der Bundesregierung herzustellen. Damit entfielen die letzten Grundlagen für eine mögliche Eigenständigkeit der DDR ebenso wie für eine Konzeption des Dritten Weges; der erste Staatsvertrag stellte einen innerdeutschen „point of no return" 26 dar. Insofern kommt der Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion sowohl im Transformations- als auch im Integrationsprozeß entscheidende Bedeutung zu. Der politisch-integrative Charakter der Währungsunion zeichnete sich bereits deutlich in der Diskussion um die stabilitäts- und gesellschaftspolitisch sinnvolle Umtauschrelation zwischen Mark der DDR und DM ab. Der zu wählende Umtauschkurs tangierte sowohl Interessen in der Bundesrepublik als auch die der DDR-Bürger, so daß es bei diesem ersten gemeinsamen Projekt bereits zum Konflikt kam. In einem bereits innerstaatlich anmutenden politischen Streit standen sich auf der einen Seite die Bevölkerung der DDR mit ihrer Forderung nach einer angemessenen Berücksichtigung ihres Besitzstandes durch einen Umstellungskurs von 1:1, vor allem vertreten durch die Regierung de Mazière27, auf der anderen Seite die Bundesbank gegenüber, die an24

Fred Klinger, Der Transformationsschock. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen nach der „Wende", in: Ralf Altendorf / Eckhard Jesse (Hrsg.), Das wiedervereinigte Deutschland. Zwischenbüanz und Perspektiven, München 1995, S. 187. 25 So brachten beide Vertragsparteien in der Präambel des ersten Staats Vertrags zum Ausdruck, mit der „Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion einen ersten bedeutsamen Schritt in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland" zu unternehmen. Ingo v. Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Stuttgart 1991, S. 213. 26 Jürgen Gros / Peter M. Wagner, Verträge zur deutschen Einheit, in: Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1996, S. 701. 27 „Wir stehen den Wählern gegenüber im Wort." Handelsblatt 66, vom 3. April 1990, S. 7.

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gesichts der von ihr zu diesem Zeitpunkt unerwünschten Ausdehnung der DM auf die DDR versuchte, zumindest über einen Umstellungskurs von 2:1 ihrem primären Ziel der Geldwertstabilität Rechnung zu tragen. Der Regierung Kohl kam die Aufgabe zu, einen Interessenausgleich zu finden. In diesem ersten vereinigungsbedingten Interessenkonflikt verlor die Bundesrepublik in den Augen der DDR-Bevölkerung ihre Rolle als Referenzmodell für die Transformationsausrichtung bzw. als nachbarlicher Ansprechpartner für Unterstützungsmaßnahmen. Vielmehr wurde sie als aufnehmendes System anerkannt, gegenüber dem in Zukunft die eigenen Interessen zu artikulieren waren. Dies wurde besonders deutlich, als am 5. April 1990 Massendemonstrationen gegen eine Währungsumstellung im Verhältnis 2:1 in Ost-Berlin und anderen Städten stattfanden, die sich erstmals an die Adresse Bonn richteten.28 Das im Wahlkampf vorgetragene Integrationsangebot aus dem Westen war bei seinen Adressaten nicht nur angekommen, wie der Sieg der „Allianz für Deutschland" bewies, sondern führte innerhalb weniger Wochen zur Einforderung der ersten Implikationen einer solchen Vereinigung. In ökonomischer Hinsicht hatte die Währungsunion aber auch für den Unternehmenssektor der DDR sowohl einen integrativen als auch transformierenden Aspekt. Durch die gemeinsame Währung wurden die Betriebe in direkte Konkurrenz zur westdeutschen Wirtschaft gesetzt und so zu einer kurzfristigen und radikalen Umwandlung ihrer Strukturen gezwungen, wenn sie im neuen gemeinsamen Markt überleben wollten. Dieser Transformationsdruck war aber von den wenigsten Unternehmen zu bewältigen, zum einen aufgrund des Aufwertungsschocks, zum anderen aufgrund der fehlenden Kompatibilität der planwirtschaftlichen Unternehmensstrukturen mit dem marktwirtschaftlichen Produktionssystem29. Von der Treuhandanstalt als Holding der DDR-Unternehmen erzwang der Absatzeinbruch der Betriebe im Herbst 1990 einen Strategiewechsel in ihrem Privatisierungskonzept; aufgrund der beständig ansteigenden Stützungsleistungen für die Betriebe wurde eine möglichst schnelle Privatisierung der einzelnen Unternehmen zur bestimmen-

28

Deutschland Archiv 1990, S. 811. Klinger sieht als wesentüches Problem der Unternehmensumwandlung die besondere Struktur der planwirtschaftlichen Betriebe. Diese seien bis in die Mikrostrukturen von Arbeitsabläufen und Ausstattungen hinein, bis in die Qualifikationsprofile des Humankapitals auf die Funktionsbedingungen einer Zentralverwaltungswirtschaft ausgerichtet gewesen. Damit sei es weniger technologische Rückständigkeit bzw. unzureichende Absatzchancen für die Erzeugnisse gewesen, die zum Zusammenbruch vieler Betriebe geführt hat, als vielmehr das Problem der Beschäftigungs- und Produktionsstruktur, die grundsätzlich nicht auf marktwirtschaftliche Bedingungen übertragen werden konnte. Klinger, S. 165 (Anm. 23). 29

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den Maxime,30 um so frühzeitig die notwendige Umstellung der Betriebe auf marktwirtschaftlichen Anforderungen auf private Investoren zu übertragen. Die Entscheidung für eine schnelle Privatisierung und ihre Folgen für die Erhaltung von Industriezentren in den neuen Bundesländern werden in der wissenschaftlichen Diskussion bekanntlich höchst unterschiedlich bewertet, wobei eine negative Einschätzung überwiegt. In diesem Sinne leiten sich aus der politisch gewollten Währungsintegration im Sommer 1990 eine Reihe nichtintendierter Folgeentwicklungen im Transformationsprozeß ab, die in ihrer Wirkung bis heute von Bedeutung sind. Das Integrationsinstrumentarium der schnellen Angleichung der ostdeutschen Löhne an westliches Niveau implizierte in gleicher Weise negative Rückwirkungen auf den Transformationsprozeß. Die Vereinigung fand unter dem Vorzeichen der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse statt; als Vision einer scheiternden Integration fungierte das Bild des Niedriglohngebiets „Neue Bundesländer" als verlängerte Werkbänke des Westens. So wurde die Politik einer forcierten Lohnerhöhung gewählt, ohne daß gleichzeitig schon Investitionen in Ostdeuschland stattfanden oder zu erwarten war, daß ein paralleler Produktivitätsanstieg zu erreichen war. 31 Die steigenden Löhne stellten für die noch vorhandene Industrie neben der Währungsunion eine weitere Einschränkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit dar. Zur völligen Angleichung der ostdeutschen Löhne an westdeutsches Tariflohnniveau bis zum Jahr 1994, wie es imrichtungsweisendenMetalltarifvertrag vom März 1991 vereinbart worden war, kam es aufgrund des ausbleibenden wirtschaftlichen Aufschwungs schließlich bis heute nicht. Die Zielkonkurrenz der beiden Prozesse, einheitliche Lebensverhältnisse auf der einen Seite und die Heranführung der ostdeutschen Unternehmen an die Marktwirtschaft auf der anderen, führte aufgrund des zu kurz gewählten Zeithorizonts zur Fehlentwicklung im Transformationsprozeß. Schlußgedanke

Als abschließender Punkt soll die Frage nach dem Ende der beiden Prozesse erneut gestellt werden. Eindeutig ist, daß die Integration der ostdeutschen Gesellschaft in die Bundesrepublik - als das Zusammenwachsen der beiden zuvor getrennten Einheiten - lediglich im Bereich der Systemintegra-

30 Wolfgang Seibel, Das zentralistische Erbe. Die institutionelle Entwicklung der Treuhandanstalt und die Nachhaltigkeit ihrer Auswirkungen auf die bundes staatlichen Verfassungsstrukturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 43-44/94, S. 7. 31 Gerlinde Sinn, Hans-Werner Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, München 1993, S. 195.

9 Festschrift Hacker

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tion als abgeschlossenen gelten kann, die Sozialintegration aber weiterhin als ein teilweise noch ergebnisoffener Prozeß zu sehen ist. Ähnlich schwierig stellt sich die Frage im Bereich der Transformation. Folgt man der allgemeinen Definition von Transformation, die auf die Auflösung der alten Strukturen abzielt, wodurch die Systemidentität verloren geht, so kann die Transformation in den neuen Bundesländern als abgeschlossen gelten. Die Übertragung der westlichen Struktur war so gründlich, daß der Prozeß kritisch auch als Vereinnahmungsprozeß bezeichnet wird, in dem nahezu jede Spur des untergegangenen Staates DDR ausgelöscht wurde. Zieht man als weiteres Kriterium die wirtschaftliche Leitungsfahigkeit des Transformationsgebietes heran, so wäre ein erster Abschluß der Transformation bereits 1993/94 anzusetzen, als die Anpassungskrise der Wirtschaft in Ostdeutschland insofern überwunden war, als daß das Bruttoinlandsprodukt wieder ein Niveau erreicht hatte, wie es die DDR in den letzten Monaten ihres Bestehens planwirtschaftlich hervorgebracht hat32. Stellte der Anschluß an das nun unter marktwirtschaftlichen Bedingungen hervorgebrachte Leistungsniveau der späten DDR die Überwindung des transformationsbedingten Wirtschaftseinbruchs dar, so verweist diese Größe jedoch unter dem Blickwinkel des innerdeutschen Vergleichs auf den weiterbestehenden enormen Abstand zwischen den alten und den neuen Bundesländern, der auch bis 1998 nur geringfügig gemindert werden konnte. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland, losgelöst von westlichen Transferzahlungen, weiterhin nicht in Gang gekommen ist. Wie im politischen Bereich die Konsolidierung der neu etablierten Demokratie einen Teil der Transformation darstellt, so ist eine solche Phase auch für den wirtschaftlichen Bereich von Belang. Über den Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen hinaus ist deren Funktionsfahigkeit im Sinne einer eigendynamischen Entwicklung der Ökonomie herzustellen. Unter diesem Gesichtspunkt kann der wirtschaftliche Transformationsprozeß noch nicht als abgeschlossen gelten. Ahnlich offen erscheint auch der Abschluß der politischen Transformation, wenn Bürklin bezüglich der Ausprägung der politischen Kultur in Ostdeutschland die Frage aufwirft, ob man nicht von „Fragebogendemokraten" 33 sprechen müßte, die einerseits an der Demokratie gemäß ihren Regeln teilnähmen, andererseits jedoch demokratische Werte wie Minderheitenschutz nur bedingt internalisiert hätten. Das westdeutsche demokratische System wird aber auch grundsätzlich von einem großen Anteil ostdeutscher Bundesbürger skeptisch beurteilt. Nur rund 27 Prozent der Ostdeutschen sahen im 32

Klinger 1995, S. 177 (Anm. 23). Wilhelm Bürklin, Die politische Kultur in Ost- und Westdeutschland: Eine Zwischenbilanz, in: Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. 19. Wissenschaftlicher Kongreß der Deutschen Vereiiligung für Politische Wissenschaft, Opladen 1995, S. 17. 33

Transformation und Integration

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Sommer 1997 das westdeutsche politische und wirtschaftliche System als eine gegenüber einer Alternative eines dritten Weges überlegende Staatsform an.34 Die Interdependenz zwischen den beiden Prozessen spielte vor allem in den ersten Jahren der Vereinigung eine entscheidende Rolle, da aufgrund der Umbruchssituation der Gestaltungsrahmen für die politischen Akteure sehr groß war und bei vorhandener Zielkonkurrenz Schwerpunkte gesetzt werden mußten, die in ihren Auswirkungen nicht auf die jeweiligen Teilsysteme begrenzt werden konnten. Somit tritt vor allem in dieser Phase das Phänomen der negativen Korrelation von Transformation und Integration auf. Des weiteren kam in diesen Jahren dem Faktor Zeit eine besondere Bedeutung für die gegenseitige Beeinflussung der beiden Prozesse zu: Der Beschluß einer schnellen staatlichen Intergration implizierte einen forcierten Transformationsprozeß, um die Voraussetzung für die innerdeutsche Einheit zu schaffen. Die Interdependenz der beiden Prozesse blieb jedoch im Entscheidungskalkül der Akteure weitgehend unbeachtet bzw. war aufgrund der Komplexität der Veränderungen schwer zu berücksichtigen. Gut sieben Jahre nach der Vereinigung sind kurzfristige Fortschritte innerhalb der beiden Prozesse nicht mehr möglich, da sich das politische und gesellschaftliche System in der Bundesrepublik der neuen Situation angepaßt hat und damit zumeist den alten Regeln westlicher Politikgestaltung folgt. Davon unabhängig wird sich die weiterhin notwendige Konsolidierung sowohl der Transformation als auch der Integration in Zeiteinheiten abspielen, die eine ganze Generation umfassen können. Die noch anstehende Konsolidierung der Transformation, beispielsweise im Bereich der politischen Kultur in Ostdeutschland, ist nur in einem die gesamte Bundesrepublik umfassenden Prozeß zu erreichen, ebenso wie die Fortentwicklung der ostdeutschen Wirtschaft. Damit wird in Zukunft das Hauptgewicht der Integration zukommen;

34

Renate Köcher, Die Zweifel wachsen in Ost und West. Arbeitslosigkeit und Reformblockaden unterminieren das Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juli 1997, S. 5. Bürklin weist daraufhin, daß die unterschiedliche Einstellung zum System der Bundesrepublik in Ostund Westdeutschland nicht allein auf eine unterschiedliche Sozialisation der Bevölkerung zurückzuführen ist, sondern zum Teü auch auf einem Kompositionsfehler der Umfragen beruht. Vergleicht man nämlich die Systemeinstellungen von Befragten in vergleichbaren Lebenslagen - wobei der Status der „Arbeitslosigkeit" ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal darstellt - so sieht man, daß Personen in gleichen Lebenslagen zu ähnlich Aussagen tendieren. Der große Zahl von Arbeitslosen in den neuen Bundesländern führt demnach zu einem - im Vergleich zum Westen - unverhälnismäßig größeren Anteü von systemkritischem Potential in Ostdeutschland, dessen Bestand aber stark von der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern abhängt (Vortrag Wilhelm Bürklins auf der Jubüäumsveranstaltung zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung am 19. - 20. März 1998 in Berlin). 9*

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nur durch die weiterführende Einbindung kann es zu einer abschließenden Konsolidierung der verschiedenen Transfomationsbereiche kommen. Zu fragen ist, wann oder ob je der Punkt erreicht wird, an dem teilungsbelastete Begriffe wie alte und neue Bundesländer, Ost- und Westdeutschland durch das Bild einer neuen Bundesrepublik abgelöst werden, in der beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern geographisch als nördliches und nicht als östliches Bundesland eingeordnet wird, in öffentlichen Umfragen die „Meinung Ost" nicht mehr gesondert neben dem Bundesergebnis ausgewiesen wird bzw. der Status des Transformationslandes als erste Assoziation für die fünf Länder entfällt.

Divided Memory The Nazi Past in the Two Germanys

By Jeffrey Herf The following remarks draw on my study Divided Memory: The Nazi Past in the Two GermanysIn Divided Memory , I trace German political interpretation and then memory of the Nazi era and its crimes from the 1930s up to the establishment of a national day of remembrance for the victims of National Socialism in January 1996. My focus is on the publicly articulated views of the most prominent national political figures regarding anti-Jewish persecution and the Holocaust, especially during the late 1940s and early 1950s when these leaders helped to shape the political culture of the two postwar German states. The postwar decade is also important because it is then that we see most clearly the discontinuities but also the continuities that connect German political traditions defeated in 1933 to the shaping of political memory after 1945. At a time when historians are justifiably drawing attention to the malleability of discourse and the use and abuse of history in the service of contemporary expediencies, I want to recall the remarkable endurance and autonomous impact of political and intellectual traditions. Public memory of Nazism and the Holocaust was the result of both short term interests and political calculation as well as of the capacity of inherited traditions to offer meaning in an era of catastrophe. I am interested in explaining two elements of postwar German political memory of the Nazi past and the crimes of the Nazi era. First, I think we need to explain why, given the degree of support for Nazism in German society, there was any public memory of its crimes at all. Second, I want to examine how and why memory divided in the way that it did. Why was the memory of the Holocaust repressed in "anti-fascist" East Germany and why did it find a place in the era often called one of political and economic restoration in West Germany. My examination of these issues focuses on the actions and beliefs of the most prominent national political figures in the period from the anti-Nazi emigration of the 1930s and 1940s up through the aftermath of German unification in the 1990s. 1

Jeffrey Mass. 1997.

Herf,

Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys, Cambridge,

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Our received picture of postwar Germany as an era of forgetfiilness and repression of the difficult past is, on the whole, correct. However, the research on which this project rests leads us to a much greater understanding of how and why "the Jewish question" and everything associated with the memory of the Holocaust, was repressed in East Germany and why these issues came more to the fore in West Germany. To understand how and when the memory of the Holocaust entered into German political discourse we must look beyond the dominating figures of Adenauer and Ulbricht, and instead examine the partly successful efforts of the democratic left and liberals in West Germany, especially Kurt Schumacher and Theodor Heuss, and to the completely failed attempts by dissident Communists in East Germany, notably Paul Merker. The necessary but not sufficient condition for the emergence of some, rather than no memory at all of the crimes of the Nazi past in postwar German politics was Allied military victory and then by the Nuremberg era trials and denazification procedures. Despite their shortcomings, the Allied occupation policies in both the Soviet and Western zones prevented a Nazi revival. Yet the emergence of a distinctively German political memory of Nazism and it crimes was also due to what I have called multiple restorations of past defeated German political traditions. These multiple restorations were brought about by a generation of non- and anti-Nazi German politicians who re-entered political life in 1945. Because the Nazi regime lasted only twelve years, the leaders of Weimar's non- and anti-Nazi parties were alive and vigorous in 1945. All of the leading political figures of early postwar political life in West and East Germany came of political age between 1900 and 1930. They experienced Nazism, World War II, and the Holocaust in their mature, not their young and formative years. Konrad Adenauer, (1876-1967) the leader of postwar Christian Democracy and Chancellor of the Federal Republic of Germany from 1949 to 1963, had been Mayor of Cologne from 1917 to 1933. Kurt Schumacher (1895-1952) the leader of postwar Social Democracy, served as a member of the Reichstag in the Weimar Republic. Theodor Heuss (1884-1963), the first President of the Federal Republic worked as a journalist, professor of politics, and was active in liberal politics in the Weimar years as well. Ernst Reuter (18891953), the Mayor of West Berlin during the crucial early years of the Cold War, had been a Social Democratic politician in Weimar; after being held a prisoner in a Nazi concentration camp, he went into political exile in Ankara, Turkey. The Communist leadership in East Germany also came of political age before 1933 and drew on an intact German political tradition. Walter Ulbricht (1893-1973), the effective head of the East German government was born in 1894. Otto Grotewohl (1894-1964), co-chair of the Socialist Unity Party, and Wilhelm Pieck (1876-1960), a comrade and friend of Rosa Luxembourg and first President of the German Democratic Republic were

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born in 1894 and 1987 respectively. Paul Merker (1894-1969), a leading figure of the German Communist Party since 1920 whose unsuccessful efforts to raise the Jewish question in East Berlin led to his political downfall in 1950 was also bora in 1894. From May 6, 1945, two days before the Nazi surrender, until his death at the age of fifty-seven on August 20, 1952, Kurt Schumacher, urged his fellow Germans to face the Nazi past. Of all the German political leaders, he was the first to emphatically support Wiedergutmachung or restitution to the Jewish survivors of the Holocaust, and to urge close and warm relations with the new state of Israel. A democratic socialist, Schumacher believed overcoming the Nazi past meant breaking with German capitalism. Though indebted to Marxist analyses of Nazism, Schumacher knew that Nazism had been more than a plot by a small group of capitalists and Nazi leaders, that is, that Nazism had a mass base of support, that the Germans fought for Hitler to the bitter end, and that the Nazi regime was destroyed only as a result of Allied arms. He rejected the idea of a collective guilt of the German people because by extending guilt to a whole people both neglected the anti-Nazi resistance, and helped those who had committed crimes escape justice. If all were guilty, none were responsible. Yet Schumacher was blunt in his criticism of German passivity in the face of Nazi criminality. In 1945 he said that the Germans knew what was taking place in their midst. They "saw with their own eyes, with what common bestiality, the Nazis tortured, robbed, and hunted the Jews. Not only did they remain silent, but they would have preferred that Germany had won the Second World War thus guaranteeing them peace and quiet and also a small profit. " They had believed in dictatorship and violence, and thus were occupied by others after 1945. "This political insight," he said was "the precondition for a spiritual-intellectual and moral repentance and change. " In his postwar speeches, Schumacher supported removal of former Nazis from positions of power and influence, continuation of war crimes trials, payment of financial restitution to Jews, and honesty about the Nazi past. In the election of 1949, the West Germans opted instead for Adenauer's very different view of the relationship between democratization, and the Nazi past. Schumacher's postwar statements drew on personal conviction combined with enduring solidarity between German Social Democrats and German Jews. These solidarities had their origins in pre-Nazi Germany, and continued during the Nazi era. Schumacher was the first German politician to be invited to the United States after 1945. The invitation came from the Jewish Labor Committee, an umbrella organization representing 500,000 members of the labor movement in New York city, as well as from leaders of the AF of L such as William Green and especially David Dubinsky. In September and October 1947, Schumacher traveled to New York and San Francisco. In San

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Francisco, he spoke at the annual meeting of the AF of L. He repeated his support for restitution to Jewish survivors. He was the first nationally prominent German politician to take this position. Bonds formed in New York city between Social Democratic exiles, and American Jewish labor leaders during the Nazi era endured after 1945. In West Germany, the core of support for the arguments of Jewish survivors came from the social democratic left, a political force which for a variety of reasons remained a minority, opposition party in the crucial postwar years. More than any other figure, founding Chancellor Konrad Adenauer shaped West German policy towards the Nazi past. Adenauer, though not a hero of the anti-Nazi resistance, opposed the Nazis and had been briefly imprisoned by the Gestapo. His wife's early death after the war at the age of 57 stemmed from her two suicide attempts due to her despair over having divulged information about his whereabouts in a Gestapo interrogation. Adenauer believed that Nazism was the result of deep ills in German history and society: above all Prussian authoritarianism; authoritarian statist traditions and the weakness of the individualism; the "materialist world view of Marxism" which eroded religious faith and fostered nihilism; and an ideology of racial superiority which filled the vacuum left by the erosion of the dignity of all human beings grounded in Christian natural right. For Adenauer, a political leader of the Catholic Zentrum party of the Weimar era, the antidote to these ills was democracy resting on the basis of Christian natural right, and the belief in the dignity and value of every individual the flowed from it. However, However, Adenauer did not examine the role of Christianity in the history of European anti-Semitism. Adenauer's pessimism about the breadth and depth of Nazism within German history and society did not lead him to adopt the pose of the avenging angel. Rather, his view of the depth of Nazi support led him to pursue a strategy of democratization by integration of former and hopefully disillusioned followers of Nazism. As early as spring and summer 1946, when the Nuremberg Trial were still going on and thousands of suspects had yet to be charged, Adenauer repeatedly told audiences in his election speeches in the British zone of occupation that "wt finally (endlich) should leave in peace the followers, those who did not oppress others, who did not enrich themselves, and who broke no laws." For Adenauer, liberal democracy in post-Nazi Germany could not be established against the will of the majority. More accurately, he did not want to risk offending the will of crucial minorities who could make the difference between electoral victory and defeat. Equating the fortunes of the CDU with the fate of democracy per se, Adenauer's strategy gave a de facto veto on aggressive postwar judicial procedures to the West German "amnesty lobby" of the 1950s. As the German historian Norbert Frei has detailed in his recently published work Vergangenheitspolitik , a very high

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price in the form of the delay and denial of justice resulted from Adenauer's political strategy. Within these limits, Adenauer took a clear and unchanging position in favor of offering restitution payments to Jewish survivors and to the state of Israel. He publicly declared his willingness to do so in the Bundestag in September 1951, and pushed the restitution agreement through in the face of considerable opposition within his own party. Yet here again, it is important to recall the role of the democratic left. Without the support of Schumacher and the left, Adenauer could not have attained the restitution agreement. Though Adenauer supported the Wiedergutmachung agreement with Israel and Jewish survivors, he also restored pension rights to former members of the Wehrmacht and Nazi regime. In his contact with American High Commissioner John J. McCloy, he pleaded for amnesty and leniency towards those who had already been convicted of crimes by the Allies in the occupation period. Integration of ex-Nazi Germans took priority over justice. When Theodor Adorno in 1959 said that repression of the Nazi past was far less the product of unconscious processes or deficient memory than it was "the product of an all too wide awake consciousness" he captured the actual practice of the Adenauer years. "In the house of the hangman," he continued, "it is best not to talk about the rope. " In the Adenauer era those who won national elections in the Federal Republic and had a democratic mandate opposed a vigorous program of justice for past crimes and supported a program of premature and undeserved amnesty. This tension between justice and democratization is both a major theme of postwar West German history, as well as of the transition from dictatorship to democracy in 20th century in general. The distinctive West German government tradition of remembering the crimes of the Nazi past began as elite tradition that sounded a soft dissonant note in the larger West German silence. It was inaugurated by Theodor Heuss, the first President of the Federal Republic. He used the office of President to publicly remember the crimes of the Nazi era, and to define the office as a repository of the nation's conscience and memory. To his critics, he was the cultured veneer of the Adenauer restoration, and an advocate of eloquent memory separated from politically consequential justice. Yet in speeches about German history, extensive private correspondence with Jewish survivors, resistance veterans, and West German, and foreign intellectuals, Heuss began an elite tradition of political recollection that would eventually contribute to broader public discussion and action. He could have done much more. Others in his position would have, and later did do, much less. Heuss delivered his most important speech regarding the Nazi past at memorial ceremonies held at the former Nazi concentration camp at Bergen-Belsen on November 29-30, 1952. Officials of the Federal Republic, many governments, and representatives of Jewish organizations gathered to dedicate a

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memorial to those persecuted at the Nazi concentration camp at Bergen-Belsen. The ceremonies were a decidedly Western event which reflected the realities of the Cold War and divided memory. Attending were government representatives from Britain, the United States, Denmark, Belgium, the Netherlands, Switzerland, Sweden, France, Yugoslavia, Israel, and the Jewish communities in Germany, Europe, and the United States. None of the Communist states were represented. Nahum Goldman, spoke on behalf of the World Jewish Congress.2 He described the destruction of European Jewry in detail and recalled "the millions who found their tragic end in Auschwitz, Treblinka, Dachau, and in Warsaw, and Vilna and Bialistock and in countless other places.3 In this very Western ceremony at the height of the Cold War, Goldman drew attention to the Eastern geography of the Holocaust. In so doing, he implicitly pointed out that the geography of memory did not coincide with the fault lines of the Cold War in the West. The Holocaust had largely taken place in a part of Europe that during the Cold War was "behind the Iron Curtain." Goldman's recounting of the Holocaust inevitably called to mind German aggression on the Eastern Front during World War II, an invasion which eventually led to the presence of the Red Army in the center of Europe in May 1945. This was an uncomfortable and inconvenient recollection of causality when Western memory of World War II often gave short shrift to the Eastern Front, not to mention the wartime alliance with the Soviet Union. Some have claimed that memory of the Holocaust was "used" to reinforce West German conservatism. In the 1950s, though such memory in the Federal Republic did not fit well into the discourse of the Cold War. Heuss's speech in Bergen-Belsen, "Diese Scham nimmt uns niemand ab" was the most extensive Statement to that date of national West German reflection on the mass murder of European Jewry. It was broadcast on radio, and the subject of reports in the West German press, especially the liberal press.4 Heuss took issue with those who sought to avoid the crimes of the Nazi past by pointing to alleged misdeeds of others. "Mir scheint, der Tugendtarif, mit dem die Völker sich selber ausstaffieren, ist eine verderbliche und banale Angelegenheit. Er gefährdet das klare, anständige Vaterlandsgefiihl, das jeden, der bewußt in seiner Geschichte steht, tragen wird, das dem, der die großen Dinge sieht, Stolz und Sicherheit geben mag, ihn darum 2

"Heuss weiht Mahnmal in Belsen ein. Der Bundespräsident gedenkt der Opfer des ehemaligen Kz," in: Frankfurter Rundschau, 1. Dezember 1952, p. 1. 3 Ibid., pp 1-2. 4 Theodor Heuss, "Diese Scham nimmt uns niemand ab," in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 189, 1. Dezember 1952, pp. 165556. An abridged version appeared as "Das Mahnmal" in: Theodor Heuss, Die Grossen Reden: Der Staatsmann, Tübingen 1965, pp. 224-230. Also see Bundesarchiv Koblenz, NL Heuss Β 122, 2082.

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aber nicht in die Dumpfheit einer pharisäerhaften Selbstgewißheit verführen darf. Gewalttätigkeit und Unrecht sind keine Dinge die man für eine wechselseitige Kompensation gebrauchen soll und darf. Denn sie tragen die böse Gefahr in sich, im seeüschen Bewußtsein sich zu kumulieren... " 5

Heuss evoked a patriotism self-confident enough to honestly face an evil past rather than seek to balance the past crimes by pointing to Communist misdeeds. Heuss placed the language of patriotism in the service of memory rather than avoidance and resentment. For Heuss, the moral imperative to remember the past was not a burden imposed by the occupiers and victors but a legacy passed on by German history. In "No one will lift this shame from us," Heuss placed the discourse of fatherland, patriotism, honor, courage, and morality in the service of memory of the Nazi past. For him, memory, not avoidance, of a difficult past was a matter of national honor. True, memory alone was no substitute for timely justice. Nevertheless, by 1953 public memory of the Holocaust had become a part of official West German political culture. As in West so in East Germany the memory of the Holocaust was profoundly influenced by past political convictions. Those convictions included a Marxist orthodoxy which placed the Jewish question on the margins of the class struggle, viewed anti-Semitism as merely a tool to divided the working class, and fascism as a product of capitalism. Worse, many Communists, beginning with Marx himself identified Jews with hated capitalism, while Stalin, in his canonical 1913 essay on the national question, denied that the Jews were a nation, not to mention a persecuted nation. Yet, especially under the extreme pressures of World War II, even Communism in its totalitarian displayed latitude regarding the Jewish question. Under the pressure of the Nazi attack on "Jewish Bolshevism" wartime Communist sympathy for the oppressed at times extended to persecuted Jewry. Moreover, and very importantly, during World War II, many Communists nurtured hopes that shared experience of persecution and struggle on the Eastern Front in World War II would lead to a turn away from Communist orthodoxy regarding Jewish matters. Yet after 1945, and especially after 1948, the power of the dominant traditions of German and European Communist orthodoxy were reinforced by the shifting power political interests of the Soviet Union. The result was the repression of the memory of the Holocaust for the entire postwar period and the end of those hopes for a Communist-Jewish rapprochement which had flickered during the war and Holocaust. The dominant German Communist views expressed above found a home in Moscow during the war were expressed immediately after the war, in Walter 5

Ibid.

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Ulbricht's canonical Legende vom Deutschen Sozialismus . Ulbricht stressed the memory of Soviet suffering, heroism, redemption and victory while he marginalized the memory of the Jewish catastrophe. The wartime radio addresses and propaganda efforts of the German Communist exiles in wartime Moscow shed important and intriguing insights into the connection between memory and dictatorship. Spokesman of the National Committee for a Free Germany, such as Wilhelm Pieck, along with Ulbricht the leading figure of the German Communist exile in Moscow, and the writer Erich Weinert, urged German soldiers and citizens to turn against the Nazi political leaders and generals. As these repeated and increasingly desperate pleas failed to result in a German revolution against Nazism, a tone of bitterness and rage against the German people is unmistakable in the exiles' statements. For these returning exiles memory of the Nazi past, its crimes, and of the absence of an anti-Nazi German revolt reinforced their already powerful Communist bred suspicions of liberal democracy. As one can see from their "Appeal to the German People" in June of 1945, memory of the past for the Communists was memory of their past rejection by the German people. Hence they were inclined to dictatorship both because they were Communists but also because they were German Communists who harbored deep suspicions of a dangerous people. Alongside professions of faith in a new democracy, the Communists' memory of Nazi crimes and aggression reinforced already existing inclinations to impose dictatorial rule. A minority view among the Communists found expression in the Western, specifically in the Mexican exile, where one of the most important chapters in the history of German memory occurred. In wartime Mexico City, the Jewish question moved from the periphery to the center of the struggle against Nazism. Paul Merker (1894-1969) was it leading exponent. The Doctor's Plot in Moscow in 1949, and the Slansky trial in Prague in 1952 have entered into the major narratives of postwar European history. 6 Before 1989, the Merker affair, and the anti-cosmopolitan and anti-Jewish purge of 1949 to 1956 in East Germany was either forgotten or remained largely unknown outside the circles of quietly dissenting historians in the former DDR, Jewish emigres from the East Germany, and East German experts in West Germany.7 Docu6 On the Jews, Communism and anti-Semitism after 1945 in Europe see Francois Fejto, Les Juifs et l'Antisemitisem dans les Pays Communistes, Paris 1960; German edition, Judentum und Kommunismus in Osteuropa, Wien / Frankfurt am Main / Zürich 1967. On the Jewish question and East German Communists see the essays by Olaf Groehler and Mario Kessler in Jürgen Kocka, ed., Historische DDR-Forschung: Aufsätze und Studien, Berlin 1994. 7

On the Merker case see Karl Wilhelm Fricke, Warten auf Gerechtigkeit: Kommunistische Säuberungen und Rehabüitierungen, Bericht und Dokumentation, Köln 1971; ders., Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968, Bericht und Dokumentation, Köln 1979; Rudi Beckerl / Karl Wil-

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ments from the recently opened archives of the SED and of the East German Ministry of State Security, the Stasi, indicate that the Merker case and the anti-cosmopolitan purge of winter 1952/53 were the decisive turning points in the history of the Jewish question in East Germany. They constituted the decisive blow to hopes for a distinctively East German Communist confrontation with the Jewish catastrophe, for East German restitution to Jewish survivors, for close relations with Israel, or for continuation of wartime solidarities into the postwar era.8 In Mexican emigration, Merker, who was not Jewish, together with Jewish Communists including Otto Katz, Rudolf Feistmann, and Leo Zuckermann conducted the most extensive discussion of the Jewish question in the history of German Communism.9 Merker was the only member of the German Communist Party Politburo in Mexico City. From fall 1942 to December 1945, he was a leading figure of the Bewegung Freies Deutschland . He contributed regularly to Freies Deutschland , the bi-weekly journal of the German Communists in Mexico City, assumed responsibility for its general political line. In contrast to the writings of the Moscow group, Merker's books and essays on Nazism, and World War II placed anti-Semitism and the Jewish catastrophe at the center of the anti-fascist struggle. In essays such as "Antisemitismus und wir" 1 0 he stressed the commonality of the interests of Jews and Communists, supported restitution for the Jewish survivors, and expressed understanding for the growth of Jewish national feeling and the desire for a Jewish state. He envisaged a postwar Germany with a restored Jewish community. He supported practical, financial assistance to help bring this result about. He also pointed to differences between the persecution of Jews and of Communists. The former were persecuted because of who they were and thus had the same right as did "all of the nations Hitler invaded and oppressed. " The latter were persecuted because of what they believed and did. They had voluntarily taken up the struggle against the Nazis and thus could helm Fricke, "Auf Weisung des Politbüros: Aus den Geheimprozeßakten des Obersten DDR-Gerichts, Teü III: Der Fall Paul Merker," (Hamburg: Deutschlandfunk, Zur Diskussion/ Geschichte Aktuell, January 10, 1992); George Hermann Hodos, Schauprozesse: Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1954, Frankfurt am Main 1988. 8 On East German historians and the Jewish question, see Helmut Eschwege, Fremd unter meinesgleichen: Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991. On East Germany and Israel see Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen, 1983. 9 On this see Jeffrey Herf, "German Communism, the Discourse of 'Antifascist Resistance,' and the Jewish Catastrophe," in: Michael Geyer / John W. Boyer, eds. Resistance Against the Third Reich: 1933-1990, Chicago 1994, pp. 257-94; and especially Fritz Pohle, Das Mexikanische Exil, Stuttgart 1986. 10 Paul Merker, "Antisemitismus und wir," Freies Deutschland 1, No. 12 (October 1942), pp. 9-11.

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not "expect material compensation for the sacrifices that result." For the Communists, he argued, victory over Nazism was more than adequate compensation. Merker was supported in his efforts by Leo Zuckermann, another member of the KPD, who was Jewish. When Merker and Zuckermann returned to East Berlin in 1946 and 1947 they brought with them the concern for Jewish matters which had flourished in Mexican exile. They argued within the emerging Communist government in favor of Wiedergutmachung , close relations with Israel, and an anti-fascist discourse which made ample room for the Jewish catastrophe. In bitter political and bureaucratic disputes within the emergent Communist governing apparatus, Merker argued for placing the claims of the Jewish victims on the same - elevated - moral and political level as those of former Communist "antifascist resistance ^/zg/zters. " n Stalin however believed that Communist emigres returning from the West to the Soviet bloc after 1945 were a dangerous source of subversive ideas about democracy, and probably harbored lingering sympathies for the counterparts of his own wartime "Western Alliance," with the "Anglo-American imperialists," Roosevelt and Churchill. In East Germany, the attack on the West and the association of Jews with capitalism in East Germany overlapped with older anti-Western currents in German nationalism.12 Memory of the Holocaust also carried with it memories of Stalins' own now quite embarassing "Western Alliance" with the United States and Great Britain. In both East and West, the forgetting of the Holocaust was an integral aspect of the forgetting of the full dimensions of the Second World War. In August 1950, Merker was expelled from the Central Committee and the SED due to espionage accusations stemming from his wartime contact with Noel H. Field, an American leftist, perhaps also a Communist, who helped him and others escape from Vichy to Mexico City. According to the denunciation, Merker, and his associates in France and Mexico had erroneously "imagined that the goal of American, English and French imperialism consisted in the liberation of Europe from fascism. " In asserting that Britain and the United States were motivated more by a desire to create an anti-Soviet bulwark in Europe than to the "liberation of Europe from fascism" the Field denunciation projected the antagonisms of the Cold War back into the war years. Zuckermann, who in 1949 and 1950, was chief of East German President Wilhelm Pieck's office, resigned under pressure to take a position 11 See SAPMO-BA, ZPA, Sekretariat Lehmann IV/2027/29-33 (Wiedergutmachung gegenüber den Verfolgten des Naziregimes, 1945-1950). 12 For an interpretation that goes even further and equates modern Communism and Marxism with these older resentments see the chapters on Germany and Russia in Liah Greenfeld, Nationalism: Five Paths to Modernity, Cambridge, MA. 1992.

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teaching law at the "Walter Ulbricht" academy in law and international affairs at Potsdam. The Noel Field Affair in 1950 and Merker's expulsion from the SED was only the beginning of the anti-cosmopolitan purge in East Germany. Merker's fate was sealed by the outcome of the show trial against Rudolf Slansky and other high ranking Communist, mostly Jewish, defendants in Prague in November 1952. On December 3, 1952, four days after Stasi agents arrested Paul Merker in Berlin, Rudolf Slansky, the second most powerful figure in the Czech Communist party and government; Otto Fischl, the former Czech ambassador to East Germany, and Merker's friend and former Mexico City comrade, Otto Katz (Andre Simone), were among the eleven, mostly Jewish defendants to be executed in Prague by hanging. In the trial, confessions of extremely dubious origins from the accused included accusations that Merker was linked to the Slansky defendants in an international conspiracy to destroy Communism in Eastern and Central Europe. On December 20, 1952, with the publication of "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky " the Communist Party leaders in East Germany struck the decisive blow against Merker. 13 The author of the statement, Herman Matern, denounced a vast espionage conspiracy of American imperialists, Zionists, Jewish capitalists, and some members of the Communist parties, such as Slansky. Matera's 1952 denunciation rested on an old anti-Semitic stereotype, namely the pejorative connection between the Jews and capitalism. In Mexico, Matern argued, Merker defended "the interests of Zionist monopoly capitalists." Merker was a "subject of the USA financial oligarchy who called for compensation for Jewish property in order to facilitate the penetration of USA finance capital into (postwar, JH) Germany. This is the real basis of his (Merker's) Zionism. Merker's support for restitution concerned "above all...wealthy Jewish economic emigrants." With such arguments, Matern retrospectively reinterpreted the wartime cooperation and solidarity between some German Communists in the West emigration, on the one hand, and with German-Jewish emigrants, American Jewish and non-Jewish Communists, leftists, and liberals, on the other hand, into an enormous and powerful international conspiracy of American imperialists, and Jewish capitalists. "Lessons from the Trial against the Slansky Conspiracy Center" presented the old international Jewish conspiracy, this time, in a Communist discourse. In Matera's statement, the Jews ceased to be "victims 13

Sigrid Meuschel, "Die nationale Frage zwischen Antifaschismus, Sozialismus und Antizionismus," in Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt am Main 1992, pp. 101-16. On the Weimar Right and the West, see among much else, Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, New York 1984.

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of fascism. " Instead they emerge as the active and powerful perpetrators of a international and anti-German conspiracy. Once again, a German government attacked the Jews as cosmopolitans, rather than true members of the nation. Once again, German nationalists, this time of a Communist variant, defined themselves in opposition to a Western, capitalist, international, liberal, Jewish conspiracy.14 December/January 1952-1953 was the turning point in the history of the Jewish question in East Germany. In January and February 1953, fear spread through the tiny East German Jewish community and among the Jewish members of the Communist Party, all of whom were now potential targets of espionage accusations. Hundreds fled to the West. East German Communists who knew Merker and who agreed with his views on the Jewish question understood the dangers of continuing to remain in the DDR. Leo Zuckermann and his family fled to West Berlin in January 1953.15 In December 1952, the SED Central Committee demanded that the leaders of the Jewish communities in East Germany make a public statement to the effect that: the Joint Distribution Committee, which was sending relief supplies to Jews in Germany, was a tool of American espionage; Zionism was the same as fascism and Israeli President Ben Gurion was an agent of American imperialism; American justice is criminal because it condemned the Rosenbergs to death; restitution for the injustice done to the Jews amounts to exploitation of the German people; and agreeing to denounce the restitution agreement between West Germany and Israel. 16 Julius Meyer, the head of the organized Jewish Community in East Berlin, and Leo Löwenkopf, the chairman of the organized Jewish community in Dresden, both of whom were SED party members, decided to flee. They did so, in Meyer's words due to "fear of a repetition of the pogrom of 1938." The arrest of Merker, followed by the flight of Zuckermann, Löwenkopf and Meyer eliminated from the East German political scene the leading advocates for Jewish interests within the East German Communist party and government.17

14 "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky," Dokumente der Sozialistische Einheitspartei, Band IV, (East) Berlin 1954, pp. 199-219. 15 See Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, Frankfurt am Main 1992, pp 101-116. 16 "Moskauer Antizionismus in der DDR: Interview mit geflüchteten Leiter der Jüduschen Gemeinde der Sowjetzone," Die Neue Zeitung (January 24, 1953). 17 Meyer contrasted Hitler's racially motivated persecution to the purely political motives behind the SED anti-Jewish measures. He saw four grounds for the purge: gain sympathy among the Arab countries; break the links between Jews in the Soviet zone and friends and relatives in the West; use the Jews as a scapegoat for economic problems; and exclude potential critics of Ulbricht's policies, ibid. Also see Walter Sullivan , "Jewish Fugitives Reveal Pressures By East Germans: Eight Leaders Say

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There were non-religious, genuinely non-Jewish-Jews who survived the purge and later played significant roles in the East German government. The case of Alexander Abusch, a leading cultural functionary of the East German regime, illustrates how those who have been cast into the wilderness could crawl their way back to redemption and salvation. In December 1950, Abusch, had been relieved of all his party functions in part because, as the Central Party Control Commission put it, as the editor of Freies Deutschland in Mexico City "he published Merker's false views on the question of Jewish emigration," on the nationalities question, and on restitution toward the Jews.18 In his exchanges with officials of the Control Commission, Abusch insisted that, though bora into a Jewish family, he had no interest at all in Jewish matters.19 He also testified against Merker to the Zentralparteikontrollkommission or ZPKK (Central Party Control Commission, hereafter Control Commission) and the Stasi, and in the secret political trial of 1955. The entry or, as the case may be, re-entry ticket into the East German political elite for those Jews who remained or recovered prominent positions in the SED, such as Abusch, entailed saying little or nothing publicly about the murder of European Jewry, accepting without protest the Soviet bloc diplomatic attack on Israel, and focusing anti-fascist energies on attacking developments in West Germany. As of December-January 1953, it was now clear that inadequacies and silences concerning the Jewish question in East Germany were no longer only a result of the inadequacies of Marxist-Leninist theories of fascism and anti-fascism. At this point at the latest, East German Communists, Jews and non-Jews, understood that sympathy for the Jews as expressed by Merker was not only "incorrect." It was dangerous.20 The political survival of non-Jewish Jews such as Abusch or Albert Norden, the head of the East German office charged with propaganda offensives against West Germany, is historically important beyond the drama of courage, opportunism and survival under dictatorship. For both Abusch and Norden illustrate a chapter in the history of German-Jewish assimilation as radical if

They Were Asked to Back Slansky Case and Denounce Zionism," New York Times (February 8, 1953), pp. 1 and 13. 18 See "Betr.: Alexander Abusch, Berlin," (December 11, 1950) SAPMO-BA, ZPA ZPKK IV 2/4/111, p. 54. 19 See Alexander Abusch, "Ergänzungen zu meinen Mündlichen Aussagen vom 10. 11. 1950," pp. 42-45, and "Skizze der innerparteilichen politischen Diskussionen in Mexiko 1942/45," pp. 47-51 in SAPMO-BA, ZPA ZPKK IV 2/4/111. 20 A full discussion of "non-Jewish Jews" in the East German government must include discussion of Albert Norden. In no other East German Communist's work does the contrast between celebration of a Communist variant of "the German nation" coincide so sharply with refusal to raise the Jewish question. See Albert Norden, Um die Nation (East) Berlin 1952. 10 Festschrift Hacker

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not more so than any of the much more familiar episodes of the much studied 19th and early 20th century. Indeed, if one wishes to speak of a dialectic of enlightenment, a rage of rationality against the stubborn particular which refuses to succumb then it seems to me appropriate to see this dialectic at work in the Communist suppression of the particulars of the Jewish question. Both Abusch and Norden presented the GDR as the representative of a progressive Germany, a fully enlightened nation in which there was no more room for what they regarded as religious obscurantism of any kind. The power of Communist tradition and a reading of German national identity reinforced one another to marginalize Jewish concerns. Merker was imprisoned in East Berlin from December 1952 to January 1956. During that time he was interrogated by agents of the Stasi and by Soviet NKVD agents. His Stasi file comprises over a thousand typed and handwritten pages.21 In an eerie echo of the famous question of the House UnAmerican Activities Committee, he was repeatedlv asked if he had been or "was a member of Jewish-Zionist organizations."2 According to the conversations Merker had with his cellmate, who was a Stasi informant during the early months of his imprisonment in winter and spring 1953, the NKVD and Stasi agents threatened to kill him, and made threats against his family. They told him that his 1942 article, "Antisemitism and Us," showed that he was a "Judenknecht ." They ridiculed him as "the king of the Jews," as one who "had been bought by the Jews" and whose intention was to "sell the DDR off to the Jews."23 Again and again they probed into his contact with and assistance from Jews, both Communists and non-Communists, during the French and Mexican emigration for further evidence of his participation in an espionage conspiracy. Merker was tried in the East German Supreme Court in March 1955. The trial remained a secret until the collapse of the DDR in 1989 and the opening of access to the archives of the Oberste Gericht , which had been transferred to the Stasi archives. On March 30, 1955, the judges of the East German Supreme Court sentenced Merker to eight years in prison. 24 The court's verdict, 21 For the Merker file see BStU MfS Archiv No. 192/56, Untersuchungsvorgang über Paul Merker No. 294/52, Band I—III; and BSTU, pp. 000156-000410. 22 See "Vernehmungsprotokoll des Häftlings, Merker, Paul Friedrich," (March 3, 1953) BStU MfS Archiv Nr. 192/56 Untersuchungsvorgang Nr. 294/52 Paul Merker, Band II, p. 000122. 23 Paul Merker, "An die Zentrale Kontrollkommission des ZK. der SED: Stellungnahme zur Judenfrage," op. cit., p. 1. 24 The records of the political trials in the East German Oberste Gericht were placed in the Stasi files. For the court's judgement in Merker's case, see "Oberstes Gericht der Deutschen Demokratischen Republik I. Strafsenat I Zst. (I) 1/55: Im Namen des Volkes in der Strafsache gegen den Kellner Paul Merker," (March 29-30,

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which is reprinted in the original German in the fall 1994 issue of the Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte , closely followed the political indictment Matern had voiced in December 1952. The court explained Merker's engagement on behalf of the Jewish people as a result of corrupting Jewish influences. In Mexico, according to the court, Merker's base in the emigration did not lie in "the political but rather on the racial emigration" especially "emigrant, capitalist, Jewish circles." The court saw in Merker's views on Jewish related matters as proof of his involvement in an international, anticommunist, espionage conspiracy. In placing the link between Jews, capitalism, and financial corruption at its core, the verdict stands alongside the Matern's denunciation of December 1952 as an important document of postwar East German anti-Semitism. Ten months later, on January 27, 1956, shortly before Khrushchev's Secret Speech and a period of de-Stalinization, Merker was released from prison. In July 1956, Ulbricht wrote elliptically to Merker that "the reexamination undertaken under new points of view led to the conclusion that the accusations made against you in the most important matters were of a political nature and do not justify judicial prosecution."25 Yet Merker's request for a full political rehabilitation and return to a leading position in the party and government was unsuccessful. The same court that had convicted him, now declared him innocent of all charges.26 Though released from prison, Ulbricht's letter had made clear that Merker's views remained politically incorrect. The SED archives reveal further evidence that the "political reasons" for Merker's downfall were centered on the Jewish question. Upon his release, and in response to his efforts at full political rehabilitation, the Central Party Control Commission, the Party Control Commission asked Merker to write a statement responding to the accusations made by Matern and the Central Committee against him in December 1952. On June 1, 1956, Merker submitted a remarkable thirty-eight page statement on his "position on the Jewish question."27 He wrote that his Soviet and German interrogators were con-

1955), BStU M.f.S, Untersuchungsvorgang Nr. 294/52 Band III, Archiv Nr. 192/56, pp. 000138-000152. 25 "Walter Ulbricht to Paul Merker, July 31, 1956," SAPMO-BA, ZPA NL Paul Merker 102/27, p. 84. 26 "Oberstes Gericht der Deutschen Demokratischen Republik 1. Strafsenat 1 Zst (I) 1/55, In der Strafsache gegen Merker, Paul Friedrich," (July 13, 1956)," BStU, MfS. Untersuchungsvorgang No. 294/52 Merker, Paul Band III Archiv No. 192/56,

p. 000206.

27 Paul Merker, "An die Zentrale Kontrollkommission des ZK. der SED: Stellungnahme zur Judenfrage," (June 1, 1956) Stiftung Archiv für Parteiein und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv or SAPMO-BA, ZPA NL Paul Merker 102/27, p. 16.

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vinced he must have been an agent for the United States, Israel, or "Zionist organizations" because he had taken such a strong position on the Jewish question during World War II. They found no evidence that he was Jewish. Why they reasoned, would any non-Jewish German Communist pay so much attention to the Jewish question unless he was an agent of American imperialists, or Zionists and Jewish capitalists? Merker responded as follows: "Ich bin weder Jude noch Zionist - ein Verbrechen wäre wohl keines von beiden, ich hatte nie die Absicht nach Palästina zu fliehen, auch habe ich die Bestrebungen des Zionismus nicht unterstützt. Ich habe in den oben zitierten Äusserungen lediglich die Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß, nachdem die Juden durch den Hitlerfaschismus ausgeplündert, auf das tiefste beleidigt, aus ihre Heimatländern vertrieben und Millionen von ihnen, nur weü sie Juden waren, ermordert worden sind, zwischen den Juden verschiedenen Länder das Gefühl engster Verbundenheit und das Sehnen nach einem eigenen, jüdischen Lande entstanden ist. Und weiter, daß besonders wir Deutschen, daß sich der Hitlerfaschismus unter uns herausgebüdet hat und es uns nicht gelungen war, durch Atktionen der werktätigen Massen die Errichtung seiner Herrschaft und damit sein Verbrechen zu verhindern, diese Gefühl der Juden, das der Ausdruck der aufs tiefste Beleidigten und Empörten war und das ich als Stärkung des jüdischen Nationalgefühls bezeichnete, nicht ignorieren oder bekämpfen dürfen. " 2 8

He recalled Soviet support for Israel, as well as the opposition of "English and American imperialism." "No one," Merker wrote, "will want to claim that the Soviet government was an 'agent of American imperialism.'" 29 What made Paul Merker such a difficult man for the Central Committee to deal with was his insistence that his views on the Jewish question had everything to do with his long-held beliefs as a German Communist. He noted the contributions of Jews, including Marx and Rosa Luxembourg, to German Communism. He recalled the American Jewish Communists in New York and Chicago who had fought for racial equality in the United States, and the German Jews in Berlin who hid him in their apartments when he was in the Communist underground in 1934.30 He stressed that German socialists had done too little to connect the fight against anti-Semitism to the struggle for democracy in Germany. In short, his statement gave to Ulbricht, Matern and the other members of the Central Committee clear evidence that despite arrest and imprisonment, he had not changed his politically incorrect views on the Jewish question. Merker never played a prominent political role again in East Germany. Zuckermann quietly practice law in Mexico City. 28

Ibid., p. 16. Ibid., p. 18. 30 Historians of American Communism have examined the impact of foreign Communists, and Soviet influence on the American party. The Merker case suggests that it would be valuable to examine how American society, and its multi-ethnicity, influenced the views of the Communists who came here. 29

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Three factors contributed to the suppression of the Jewish question in East Germany: Marxist-Leninism and its universalist rationalist currents had little room for any tradition which insisted on a particular identity that competed with the primacy of the proletariat. In the Cold War, the older anti-Western legacies of the German Sonderweg found new expression in the Marxist-Leninist ideological assaults on the West. These assaults also evoked older antiSemitic currents within German nationalism, evident in the conspiracy theories of the early 1950s regarding the power of the Jews. It is long overdue that we plainly state though the record of East German persecution of the Jews pales into insignificance compared to that of the Nazi regime, the important moral and historical point is that such a record exists at all - and existed in the decade following the Holocaust. Here is the more appropriate place to include a chapter on the dialectic of enlightenment in modern German history. Though the memory of the Holocaust emerged in the Federal Republic, the famous power of the Jews was never so potent as to connect memory with justice. Nor were the most adamant advocates of the memory of the Holocaust clever conservatives eager to furnish West Germany's reputation by bringing up the Holocaust and offering financial restitution. On the contrary, we should pay more attention to the for too long unappreciated role played by liberals and Social Democrats in bringing these issues to the fore. The West German experience indicated, the claims of memory of the Jewish catastrophe were not much stronger than the pangs of conscience of that minority of Germans who like Schumacher and Heuss articulated "collective shame. " In the early years of the Adenauer's Federal Republic, daring more democracy meant seeking less justice, and speaking less, not more, about the destruction of European Jewry. In West Germany, the memory of the destruction of European Jewry entered into national political discourse above all because liberals, Social Democrats, and a few atypical moderate conservatives placed moral considerations above electoral expediency. In neither in West or in East Germany, did the Holocaust fit into anyone's happy narrative of victory and redemption. Nor, as Goldmann's speech in Bergen-Belsen indicated, did the memory of the Holocaust fit the provincial and divided memory of the Cold War in the West. In both West and East, forgetting and repressing the memory of the Jewish catastrophe was inseparable from forgetting the full dimensions of World War II in the West and East, and as well as the embarrassing fact that Cold War enemies had just recently been anti-Nazi allies. Nevertheless, and despite the great shortcomings in the matter of judicial confrontation with the Nazi past, the leaders of the Bonn Republic, in the Heussian tradition, made acceptance of this burden of German history a key element of national self-definition. Conversely, despite years of anti-fascist discourse, the East German regime repressed the memory of the Jewish catastrophe and then moved on to anti-Zionist, at times anti-

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Semitic ideology and policy, both at home and in the Middle East. The Communist normalcy that was established in the anti-cosmopolitan purge of winter 1952-1953 remained intact until 1989. The consequences of multiple restorations and the postwar division of memory remained intact until April 1990 when in its first act the short lived East German parliament acknowledged East German responsibility for assuming the burden of the Nazi past. There was a striking historical symmetry to the parliament's action. Just as the suppression of the memory of the Jewish catastrophe accompanied the consolidation of the East German dictatorship, so memory's return accompanied the return of democratic political life in Eastern Germany. In recent years, historians have drawn attention to the use and misuse of the past to serve current political purposes. In the history of divided memory there was no shortage of such cynicism and expediency. Yet the autonomous weight of political traditions and belief counted for much more in the shaping of postwar memory than our cynical era tends to acknowledge.

Antiextremistischer Konsens Von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart

Von Eckhard Jesse

1. Problemstellung

Wohl kaum ein Thema findet angesichts der doppelten diktatorischen Vergangenheit Deutschlands in der politischen Publizistik so viel Aufmerksamkeit wie der politische Extremismus - und doch gibt es erstaunliche Informationslücken wie Fehldeutungen. Bekenntnis überlagert mitunter Kenntnis bei diesem Thema. Das fangt bereits bei der Terminologie an (denkt man an den irreführenden Begriff des „Radikalenerlasses") und endet nicht bei der politischen Instrumentalisierung (denkt man an die hurtige Verwendung des Extremismusvorwurfes) . Dieser Beitrag will nach knappen Hinweisen zur Terminologie einen Überblick zum Verhältnis des demokratischen Verfassungsstaates zu seinem Antipoden geben, dem politischen Extremismus - bezogen auf die erste und die zweite deutsche Demokratie. Es folgt ein kurzer Vergleich. Abschließend wird - auch mit Blick auf das Ausland - die Leitfrage zu beantworten gesucht, wie es mit dem antiextremistischen Konsens in der Bundesrepublik bestellt ist - mehr als fünfzig Jahre nach dem blutigen Untergang des Nationalsozialismus und knapp ein Jahrzehnt nach der friedlichen Revolution in der DDR. Ist die Ablehnung aller antidemokratischen Gruppierungen Gemeingut der gesellschaftlich tragenden Kräfte? Oder besteht eine „Erosion der Abgrenzung"1 zwischen den Verfechtern des demokratischen Verfassungsstaates und seinen Verächtern?

1 Dieser Terminus geht zurück auf den Buchtitel von Wolf gang Rudzio. Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1978. Der Begriff ist in der Folge auf den anderen Randbereich übertragen worden. Vgl. etwa Armin PfahlTraughber, Brücken zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus, in: Wolfgang Kowalsky /Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbüanz, Opladen 1994, S. 160, 163; ders., Rechtsextremismus. Eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, 2. Aufl., Bonn 1995, S. 272.

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Der politische Extremismus und der demokratische Verfassungsstaat in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland werden jeweils auf drei zentrale Aspekte bezogen - die Stärke, den Wandel und mögliche Asymmetrien zwischen rechts und links. Im Vordergrund steht dabei verständlicherweise die zweite deutsche Demokratie, und hier wiederum das vereinigte Deutschland, im Kern eine erweiterte Bundesrepublik. Die Überlegungen zur Demokratie und zum politischen Extremismus beschränken sich ausschließlich auf die staatliche Ebene und die der Parteien, klammern also andere Bereiche aus, wie etwa die öffentliche Meinung und das intellektuelle Milieu, ebenso die Frage nach dem Gefahrenpotential des politischen Extremismus.2 Zu den wichtigsten Indikatoren gehören neben Wahlerfolgen u.a. der organisatorische Einfluß, die ideologisch-programmatische Attraktivität, die Frage des Handlungsstils - strenge Legalitätsorientierung versus aktivistische Militanz - , die Höhe des extremistischen Einstellungspotentials sowie Infiltrationsmöglichkeiten. Es fehlen auch Begründungen, wieso es sich bei den genannten Parteien tatsächlich um solche des politischen Extremismus handelt.3 2. Terminologie

Als extremistisch gelten jene, die sich gegen Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaates wenden. Um eine Partei oder eine Vereinigung als extrem einzustufen, muß diese nicht Gewalt anwenden oder propagieren. Viele extremistische Gruppierungen befleißigen sich strikter Legalitätstaktik, distanzieren sich gar von Gewalt. Rechts- und Linksextremismus sind die beiden Hauptformen. Vielfache Unterscheidungen sind nicht nur möglich, sondern auch nötig.4 Der demokratische Verfassungsstaat kann von rechts und von links gefährdet werden. Ein antiextremistischer Grundkonsens ist in der Wissenschaft und der Publizistik durchaus nicht die Regel, wie es Antworten auf Definitionsfragen erhellen. Ein Beispiel: In einem dickleibigen und anerkannten Parteien2

Vgl. Uwe Backes /Eckhard Jesse, Extremistische Gefahrenpotentiale im demokratischen Verfassungsstaat. Am Beispiel der ersten und der zweiten deutschen Demokratie, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 3, Bonn 1991, S. 7-32. 3 Dies ist an anderer Stelle häufig geschehen. Vgl. u.a. dies., Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996; Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus. Westliche Demokratien Europas im Vergleich, in: Steffen Kailitz/Eckhard Jesse (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 127-168. 4 Vgl. für Einzelheiten Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.

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Handbuch zur Bundesrepublik Deutschland von bald 3.000 Seiten hat der Herausgeber Richard Stöss verschiedene Typologisierungsversuche unternommen und dabei u.a. zwischen „antidemokratischen" und „antikapitalistischen" Parteien unterschieden. Als „antidemokratisch" firmieren rechtsextremistische Parteien, als „antikapitalistisch" jene, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf ihr Panier geschrieben haben.5 „Antikapitalistische" Parteien können damit per definitionem nicht antidemokratisch sein. Das ist ein Beispiel für eine doppelbödige Vorgehensweise, für die Überlagerung antiextremistischer Interpretationen durch antifaschistische - für Forschung und Publizistik leider nicht ganz untypisch. Derselbe Autor hält „die Frage der Verfassungsfeindlichkeit der PDS gegenwärtig für nachrangig"6, bestand jedoch stets darauf, daß die der „Republikaner" schnell festgeschrieben wird. Die manchmal, nicht nur von ganz links oder von ganz rechts aufgestellte Behauptung vom „Extremismus der Mitte" oder vom „Liberalextremismus" ist in sich widersprüchlich, auch wenn ein juste milieu zuweilen Selbstgerechtigkeit fördert. Ihren rationalen Kern hat sie in der Forschung insofern, als Autoren wie Seymour M. Lipset vom „Extremismus der Mitte" wegen der überproportionalen Unterstützung des Mittelstandes für die Nationalsozialisten sprachen. Eine andere Frage ist, ob es einen politischen Extremismus gibt, der sich Zuschreibungen wie „rechts" und „links" entzieht und etwa religiös motivierter Art ist.8 Für den Gebrauch der Oberbegriffe Rechts- und Linksextremismus spricht ungeachtet dessen viel: Erstens kommt damit die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates zum Ausdruck, zweitens die spezifische Richtung, drittens erlaubt der Terminus weitere Differenzierungen, und viertens signalisiert er die Existenz einer anderen Variante des politischen Extremismus. Wer politisch sehr weit rechts steht oder eine normative Einordnung scheut, spricht hingegen - scheinbar unverfänglich - vom „rechten" bzw. „linken" Lager. Das ebnet den Unterschied zwischen „extremistisch" und „demokratisch" ein, suggeriert außerdem eine Einheitlichkeit rechter wie linker Ideologien und

5 Vgl. Richard Stöss, Einleitung: Struktur und Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik. Eine Theorie, in: Ders. (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1990, Bd. 1, Opladen 1983, insbes. S. 295-309. 6 So Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte - Organisation Wähler - Konkurrenten, Opladen 1996, S. 13. 7 Vgl. Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik. Entwicklung Ursachen - Gegenmaßnahmen, Opladen 1989; ders., Die „Republikaner". Woher sie kommen - Was sie wollen - Wer sie wählt - Was zu tun ist, Köln 1990. 8 Vgl. dazu den Band von Hans-Gerd Jaschke, Fundamentalismus in Deutschland. Gottesstreiter und politischer Extremismus bedrohen die Gesellschaft, Hamburg 1998.

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Strategien. Kennzeichend für das extremistische Umfeld ist vielmehr organisatorische und ideologische Zersplitterung. Der Begriff des demokratischen Verfassungsstaates ist angemessener als der Terminus „Demokratie44. Kommt doch auf diese Weise zum Ausdruck, daß der demokratische Verfassungsstaat ein komplexes Gebilde ist, das demokratische Elemente (z.B. die Volkssouveränität und die Gleichheit) ebenso einschließt wie konstitutionelle (z.B. den Rechtsstaat und den Minderheitenschutz).9 Die demokratischen und die konstitutionellen Prinzipien decken sich nicht, stehen vielmehr in einem gewissen Spannungsverhältnis. Beide werden benötigt. Die Verabsolutierung des einen Prinzips auf Kosten des anderen bringt den demokratischen Verfassungsstaat aus dem Gleichgewicht. Der Begriff „antiextremistischer Konsens44 erscheint aus zwei Gründen überzeugender als der des „antitotalitären Konsenses44, der gleichwohl verbreiteter ist 10 . Zum einen sollte man den Begriff „totalitär 44 nur für spezifische antidemokratische Richtungen an der Macht gebrauchen; zum anderen suggeriert „totalitär 44 eine derart aggressive Haltung, die in der heutigen Zeit selbst bei extremistischen Kräften kaum noch anzutreffen ist. Gewiß geht der antiextremistische Konsens nicht völlig im demokratischen Konsens auf. Dieser ist mehr als jener. Insofern ist der Hinweis darauf wichtig, daß demokratische Parteien mehr miteinander verbindet als die Ablehnung des politischen Extremismus.11 Gleichwohl findet der Begriff „antiextremistischer Konsens44 Verwendung. Dieser eignet angesichts der pejorativen Konnotation von „extremistisch44 weniger zum Mißbrauch als das Allerweltswort „demokratisch44. Wer hingegen vom „antifaschistischen 44 oder „antikommunistischen44 Konsens spricht, läßt erkennen, daß ihm nicht an der Unterscheidung von Extremismus und Demokratie liegt.

9 Vgl. Uwe Backes, Liberalismus und Demokratie. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Bayreuth 1996 (noch ungedruckte politikwissenschaftliche Habilitationsschrift). 10 Vgl. etwa das berühmte Diktum von Jürgen Habermas: „Heute kann sich zum ersten Mal ein antitotalitärer Konsens bilden, der diesen Namen verdient, weil er nicht selektiv ist." So ders., Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden deutschen Diktaturen für den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. IX, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, S. 690. 11 Erfolgt die Ablehnung des politischen Extremismus in einer rabiaten Weise, kann sogar der antiextremistische Konsens durch Überreaktion Schaden erleiden. So ist das jakobinische Diktum „keine Freiheit den Feinden der Freiheit" für den demokratischen Verfassungsstaat kein hehrer Grundsatz.

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3. Weimarer Republik

3.1. Politischer Extremismus In der Weimarer Republik war der politische Extremismus in den verschiedensten Facetten stets eine Gefahr für die ungefestigte Republik. Anfangs sagte die extreme Linke wie die extreme Rechte der Republik den Kampf durch Aufstandsversuche an. Die KPD steigerte sich mit den Reichstagswahlen von 1928 kontinuierlich - von 10,6 Prozent (1928) über 13,1 (1930) und 14,3 (erste Reichstagswahl 1932) bis auf 16,9 Prozent (zweite Reichstagswahl 1932). Sie war damit eine machtvolle Bewegung, zumal in der Endzeit, reichte jedoch niemals an den Anteil der als „sozialfaschistisch" diffamierten Sozialdemokratie heran. Die NS-Bewegung schlug nach dem Scheitern ihres Putsches 1923 - stärker als die von der Sowjetunion abhängigen Kommunisten12 - eine Art Legalitätstaktik ein - begünstigt durch konservative gesellschaftliche Kräfte, die Hitlers totalitäre Dynamik zu zähmen suchten und damit verhängnisvoll unterschätzten. Zugleich haben auch Kommunisten durch ihre Militanz und ihre Propaganda einen Anteil an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie „als freiwillig-unfreiwillige Komplizen der antidemokratischen Revolution".13 Der Stimmenanteil der NSDAP schnellte bei der Reiçhstagswahl 1930 von bisher 2,6 Prozent auf 18,3 Prozent, 1932 bei der ersten Wahl sogar auf 37,3 Prozent. Hitler kam allerdings zu einem Zeitpunkt zur Macht, als viele meinten, seine Bewegung habe den Höhepunkt überschritten. (Schließlich war der Stimmenanteil bei der zweiten Reichstagswahl auf 33,1 Prozent gefallen.) Intrigen und Eifersüchteleien ebneten ihm den Weg zur Macht14, der zugleich den Weg in den Krieg bedeutete. Der politische Extremismus - auch die Deutschnationale Volkspartei muß für die Anfangs- und Endzeit der ersten deutschen Demokratie als Anti-System-Partei apostrophiert werden15 - war, stellt man bloß auf Wahlen und nicht auf andere Faktoren ab, strategisch in einer überaus komfortablen Position. Die Weimarer Koalition (SPD, Zentrum und DDP) hatte ihre Mehrheit 12 Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stabilisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1969; eine andere Intepretation bietet, unter Berücksichtigung sozialgeschichtlicher Zugänge: Klaus Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996. 13 So Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas 1917-1945, Frankfurt a.M. u.a. 1976, S. 39. 14 Vgl. Henry Ashby Turner jr., Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1997. 15 Vgl. exemplarisch Christiane Trippe, Konservative Verfassungspolitik 19181923. Die DNVP als Opposition in Reich und Ländern, Düsseldorf 1995.

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bereits bei der ersten Reichstagswahl 1920 verspielt; und bei den zwei Reichstagswahlen 1932 verfugten NSDAP und KPD über eine - wenn auch negative - Mehrheit von 50 Prozent der Stimmen. Der „uniformierte Reichstag" 16 ließ nicht lange auf sich warten. Der Wandel zeigte sich in dem folgenden Befund, der cum grano salis gilt: Mit der Verschlechterung der ökonomischen Situation stieg auch der Stimmenanteil extremistischer Gruppierungen bei Wahlen an. Allerdings fiel die Zunahme ungleichgewichtig aus. Die extreme Rechte profitierte davon deutlich mehr als die extreme Linke. War diese anfangs stärker als jene, kehrte sich das Verhältnis später um. 3.2. Demokratischer

Verfassungsstaat

Ein relativistisches, formales Demokratieverständnis ließ es seinerzeit nicht zu, der propagandistischen Unterminierung der demokratischen Ordnung eine geistig-politische Auseinandersetzung im demokratischen Sinne entgegenzusetzen. So äußerte der SPD-Minister David bei den Verfassungsberatungen gegenüber den Rechtsparteien: „[Die Verfassung ...] gibt Ihnen die Möglichkeit, auf legalem Wege die Umgestaltung in Ihrem Sinne zu erreichen, vorausgesetzt, daß Sie die erforderliche Mehrheit des Volkes für Ihre Anschauungen gewinnen. Damit entfallt jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden ... Die Bahn ist frei für jede gesetzlich friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie." 17 So entfiel in der Tat „jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden" für den politischen Extremismus, aber keineswegs, was damals viele übersahen, das Erfordernis einer effektiven Sicherung der Verfassung und ihrer tragenden Elemente. Zwei Entwicklungen trafen zusammen, die in ihrer brisanten Kombination den Niedergang des demokratischen Verfassungsstaates begünstigten: einerseits die Verabsolutierung der als alleinige Quelle demokratischer Legitimation geltenden Volkssouveränität, die unter keinen Umständen eingeschränkt werden dürfe. Der rousseauistisch inspirierte Glaube an die ursprüngliche Güte der Menschennatur galt als derart fest, daß man Schutzmaßnahmen nicht für erwägenswert hielt. Andererseits das Aufkommen extremistischer Bestrebungen in einer Massengesellschaft, die der Demokratie mit deren eigenen Mitteln zu Leibe rückten, auf einen gewaltsamen Sturz des „Systems" verzichteten, jedoch in ihrer Propaganda ihm mit brutaler Deutlichkeit den 16 Vgl. Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933-1945, Düsseldorf 1992. 17 Zitiert nach Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930, Tübingen 1963, S. 10.

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Kampf ansagten. Das schrankenlose Freiheitsverständnis stieß auf einen machiavellistisch orientierten Extremismus, der die Demokratie nicht mit Gewalt aus den Angeln zu heben versuchte, sondern sich geschickt den neuen Bedingungen anpaßte. So sprach Hitler 1930 vor dem Leipziger Reichswehrprozeß seine berühmten Worte: „Wenn die Bewegung in ihrem legalen Kampf siegt, wird ein deutscher Staatsgerichtshof kommen, und der November von 1918 wird seine Sühne finden, und es werden auch Köpfe rollen." 18 Vielfach ist davon die Rede, die Weimarer Republik sei „auf dem rechten Auge" blind gewesen. Das trifft auf eine Reihe staatlicher Repräsentanten wahrlich zu. Die mangelnde Abwehrbereitschaft des Staates beruhte jedoch wesentlich auch darauf, daß einer Auseinandersetzung gegenüber Parteien, die sich der Methoden des Systems bedienten, enge Grenzen gesetzt waren. Was die Erosion der Abgrenzung zwischen demokratischen und antidemokratischen Parteien angeht, so lag das Manko mehr auf dem rechten als auf dem linken Spektrum. Waren die Übergänge rechts fließend, so lehnte die SPD nicht nur die NSDAP19, sondern auch die KPD entschieden ab20 - ohne Wenn und Aber. Allerdings hat es zuweilen eine gewisse Kooperation gegeben. Das bekannteste Beispiel ist der Volksentscheid über die entschädigungslose Fürstenenteignung im Jahre 1926.21 „Die Folgen für die parlamentarische Republik waren, alles in allem genommen, eher negativ."22 4. Bundesrepublik Deutschland

4.1. Politischer Extremismus Im Dritten Reich mußten Mitglieder der KPD, die sich bereits in den zwanziger Jahren an der Sowjetunion orientierte, aufgrund ihrer Wider18 Zitiert nach Karlheinz Dederke, Reich und Republik. Deutschland 1917-1933, 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 222. 19 Vgl. Wolfram Pyta, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989. 20 Vgl. Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, 2. Aufl., Berlin / Bonn 1985; ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1985; ders., Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987. 21 Vgl. Ulrich Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926. Die Vermögensauseinandersetzung mit den depossedierten Landesherren als Problem der deutschen Innenpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Preußen. Düsseldorf 1978. 22 Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität (Anm. 20), S. 289.

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standsaktivitäten einen hohen Blutzoll entrichten.23 Dieser moralische Bonus wurde von der KPD aufgrund ihrer SED-Abhängigkeit nach 1945 schnell verspielt. Sie war im Bundesparlament und in den Landesparlamenten bald isoliert. 24 Das rechtlich einwandfreie, politisch umstrittene Verbot im Jahre 1956 durch das Bundesverfassungsgericht setzte den Schlußpunkt unter eine dahinsiechende Partei, die in ihrem Programm von 1952 zum revolutionären Sturz des Adenauer-Regime aufgerufen hatte. Die Bundesrepublik war in der Folge ohne eine kommunistische Partei.25 Mit der Studentenbewegung liberalisierte sich das politische Klima. Davon profitierte auch der Kommunismus sowjetischer Couleur. 26 Da das KPD-Verbot nicht aufzuheben war, kam es im Herbst 1968 zur „Neukonstituierung" einer kommunistischen Partei.27 An ihrer Gründung hatte die Bundesregierung der Großen Koalition ebenso viel Interesse wie der Kommunismus, wenn auch aus anderen Gründen. So wollte man den anrüchigen Vergleich mit den Diktaturen Spanien und Portugal loswerden, wo kommunistische Parteien verboten waren. Zudem gab es mit der NPD auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine Partei, die im Ausland für viel Aufregung sorgte. Die Deutsche Kommunistische Partei wurde faktisch die Nachfolgeorganisation der KPD. Ihre Wahlerfolge in den siebziger und achtziger Jahren fielen bescheiden aus: Auf drei Wähler kamen zwei Mitglieder! Nun darf nicht der Schluß von den mageren Wahlresultaten auf die Einflußlosigkeit der DKP in den siebziger und achtziger Jahren gezogen werden. Dank geschickter Bündnisstrategie war es ihr gelungen, in gesellschaftlichen Teilbereichen Einfluß zu erlangen. Das gilt etwa für einige Einzelgewerkschaften, in denen gegen die DKP kaum eine wichtige Entscheidung durchzu-

23 Vgl. zusammenfassend Hermann Weber, Kommunismus in Deutschland, Darmstadt 1983; für die Zeit des Nationaisozialismus: Horst Duhnke, Die KPD 1933-1945, Köln 1972. 24 Vgl. die freilich einseitige Studie von Jens Ulrich Klocksin, Kommunisten im Parlament. Die KPD in Regierungen und Parlamenten der westdeutschen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland (1945-1956), 2. Aufl., Bonn 1994. 25 Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf den Sowjetkommunismus und seine Nachfolger, lassen also andere linksextremistische Strömungen, etwa die „KGruppen", außer acht. 26 Die häufig verwendete Bezeichnung „orthodoxer Kommunismus" wird nicht verwendet. Schließlich ist der chinesische Kommunismus mindestens ebenso „orthodox" (gewesen) wie der sowjetische, zumal er diesem eigens „Entartung" vorgeworfen hat. 27 Vgl. Wilhelm Mensing, Nehmen oder Annehmen. Die verbotene KPD auf der Suche nach politischer Teilhabe, Zürich/Osnabrück 1989; ders., Wir wollen unsere Kommunisten wieder haben ... Demokratische Starthilfen für die Gründung der DKP, Zürich/Osnabrück 1989.

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setzen war. 28 Die in den fünfziger Jahren noch selbstverständliche Abgrenzung zwischen der demokratischen und der extremistischen Linken funktionierte nicht mehr. So versuchte die DKP die Friedensbewegung für ihre Interessen einzuspannen. Insbesondere bei der Kampagne gegen die „Berufsverbote" verstand sie es, in weiten Teilen der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, die Schutzmaßnahmen des Staates höhlten die Liberalität aus. Die kommunistisch dominierte Initiative „Weg mit den Berufsverboten" erwies sich aufgrund ihrer Betriebsamkeit auch im Ausland als außerordentlich erfolgreich. Vielen ihrer Unterstellungen zum „Duckmäusertum" und zur „Gesinnungsschnüffelei" wurde Glauben geschenkt. Charakteristisch für die Bündnispolitik der DKP war die Strategie des Antifaschismus: Selbstverständlich erschienen nur „Berufsverbote" gegen die Linke als kritikwürdig. Dem Staat wurde geradezu die Duldung von Rechtsextremisten im öffentlichen Dienst vorgeworfen. Der von der DKP angestrebte antifaschistische Konsens war jedenfalls in Teilen intellektueller Eliten nicht ganz einflußlos 29, weniger allerdings bei politischen Entscheidungsträgern. Die Geschichte vom „Aufstieg und Niedergang des deutschen Kommunismus"30 ist eine Geschichte seiner Abhängigkeit von der Sowjetunion. Die enge Anbindung an die DDR machte Stärke und Schwäche des Kommunismus zugleich aus. Die Stärke zeigte sich in der finanziellen, organisatorischen und ideologischen Unterstützung. Aber das Negativbeispiel der DDR wiederum schreckte viele ab. Insofern mußte die DKP immer bemüht sein, selber nicht so stark in Erscheinung zu treten. Das schwächte notwendigerweise die eigene Durchschlagskraft. Die Krise der DKP in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde nicht durch die starke Anbindung an die Sowjetunion ausgelöst, sondern gerade umgekehrt durch eine gewisse Abwendung von ihr. Denn Gorbatschows im Namen von Glasnost und Perestroika eingeleitete Reformpolitik fand nicht die volle Unterstützung der DKP- wie der SED-Spitze. Innerhalb der DKP bildeten sich mit den „Traditionalisten" und den „Erneuerern" zwei Linien heraus. Als das SED-Regime im „deutschen Herbst" 1989 in eine existentielle Krise geriet, vergrößerte sich auch die der DKP.

28 Vgl. Manfred Wilke, Einheitsgewerkschaft zwischen demokratischem und antifaschistischem Bündnis, Melle 1985. 29 Die zum Teü unkritische Einordnung der DDR in den siebziger und achtziger Jahren ist hierzu ein Pendant gewesen. Vgl. dazu pointiert Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin/Frankfurt a.M. 1992. 30 So Hermann Weber, Aufstieg und Niedergang des deutschen Kommunismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beüage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 40/91, S. 25-39.

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Was der Verfassungsschutz immer wieder gesagt hatte, erwies sich als richtig: Die DKP war finanziell von der SED abhängig. Gleiches galt für Organisationen wie die Deutsche Friedens-Union oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten in der Bundesrepublik Deutschland, die nach außen hin einen unabhängigen Eindruck zu erwecken suchten. Bei manchen Verlagen sah dies nicht anders aus. „Das plötzliche Versiegen ihrer Geldquellen hat die DKP-Finanzbuchhalter sicher überrascht. Drei Tage vor seinem Rücktritt hatte Erich Honecker noch den , Finanzplan der DKP für das Jahr 1990' abgesegnet, der 67,9 Millionen Westmark für die Bruderpartei vorsah. Doch der Gang der Ereignisse machte der Bruderhilfe einen Strich durch die Rechnung. [...] Ab Anfang Dezember waren die Kassen der DKP leer, und es folgte ein Zusammenbruch auf der ganzen Linie." 31 Die Ereignisse überschlugen sich.32 Das galt zumal für die DDR. Aus der SED war binnen kurzem die SED/PDS, schließlich die PDS, noch vor den Wahlen am 18. März, hervorgegangen.33 Gewiß ist die PDS heute überwiegend keine kommunistische Partei mehr 34, die „kommunistische Plattform" spielt kaum noch eine nennenswerte Rolle. Aber wer daraus die Schlußfolgerung zu ziehen geneigt ist, sie sei auch keine extremistische Partei mehr, dürfte einem Irrtum unterliegen. Die PDS verficht einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und „real-existierendem Sozialismus"35, betreibt keine angemessene Vergangenheitsbewältigung und ist in den alten Bundesländern von militanten linksextremistischen Sektierern z.T. aus der ehemaligen „K-Gruppen"-Szene beherrscht. 36

31 Peter Schutt, Die Musik bestimmt, wer bezahlt. Wie die SED die westdeutsche „Bruderpartei" DKP finanziell gesteuert hat, in: Deutschland Archiv 22 (1990), S. 1724. 32 Vgl. detailliert Patrick Moreau, Der westdeutsche Kommunismus in der Krise ideologische Auseinandersetzungen und Etappen des organisatorischen Verfalls, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Köln 1990, S. 170-206. 33 Vgl. u.a. Siegfried Suckut/Dietrich S ta ritz, Alte Heimat oder neue Linke? Das SED-Erbe und die PDS-Erben, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch. Parteiensystem und Wählerverhalten in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern, Opladen 1994, S. 169-191. 34 In diesem Sinne Manfred Wilke, Ist die „Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) noch eine kommunistische Partei?, in: Politische Studien 41 (1990), S. 695-705. 35 Vgl. Gregor Gysi (Hrsg.), Wir brauchen einen dritten Weg. Selbstverständnis und Programm der PDS, Hamburg 1990. 36 Zur unterschiedlichen Einschätzung der PDS vgl. einerseits Gero Neugebauer/ Richard Stöss (Anm. 6); andererseits Patrick Moreau / Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996.

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Immerhin hat sich die PDS - ungeachtet ihrer offenkundig mangelnden Glaubwürdigkeit - aufgrund von teils unvermeidbaren, teils vermeidbaren Problemen im Vereinigungsprozeß in gewisser Weise als Anwalt von DDRBürgern zu profilieren vermocht, wiewohl ihre Wählerschaft, die sich von der sozialistischen Vergangenheit nur schwer zu lösen versteht37, weniger von der Arbeitslosigkeit betroffen ist. Der Terminus „Partei der Besserverdienenden", gegen den die PDS bei ihren Attacken gegen die Liberalen so höhnisch zu Felde zieht, ist als Charakterisierung der Postkommunisten so unzutreffend nicht. Die Stabilisierung der PDS dürfte auch auf das sogenannte „Magdeburger Modell" von 1994 zurückzuführen sein. In den Augen vieler ist sie damit aufgewertet worden. Das gilt auch für die „Erfurter Erklärung", in der sich Intellektuelle und Politiker unterschiedlicher Richtungen für eine Kooperation von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS aussprechen.38 War nach 1945 der Kommunismus zunächst aufgewertet, so schien der Rechtsextremismus durch die Monstrosität der NS-Verbrechen ein für allemal diskreditiert. Aber das Verbot der NSDAP bedeutete kein Ende des Rechtsextremismus. Die im Oktober 1949 gegründete Sozialistische Reichspartei verfocht eine Variante des völkisch-nationalistischen Rechtsextremismus mit partiell national- und Sozialrevolutionären Zügen. Ihre Wahlerfolge - sie erreichte bei den Landtagswahlen im Mai 1951 in Niedersachsen 11,0 Prozent, bei den Wahlen zur bremischen Bürgerschaft im Oktober desselben Jahres 7,7 Prozent - waren nur ein Strohfeuer. Das Bundesverfassungsgericht stellte bald nach seiner Konstituierung einen Verbotsantrag, und kein Jahr danach - im Oktober 1952 - war der Spuk vorbei. Die Partei, die niemals eine feste Organisationsstruktur hatte aufbauen können, wurde verboten. Ungeachtet der antisemitischen Ausrichtung der Partei ging ein Teil der Wählerschaft - viele hatten noch nicht wieder eine „bürgerliche Existenz" - auf Protestverhalten zurück. Konnte die Deutsche Reichspartei bei Bundestagswahlen niemals reüssieren (der Stimmenanteil lag bei den Wahlen 1953 bis 1961 zwischen 0,8 und 1,1 Prozent), so war das mit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands anders, die sich im Jahre 1964 aus der DRP gebildet hatte. Zwischen 1966 und 1968, als eine Rezession die Bundesrepublik heimsuchte - die Zahl von 500.000 Arbeitslosen nimmt sich heute nahezu idyllisch aus - , zog die NPD in die Landesparlamente von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein. Nach den 37 Vgl. Christian von Ditfurth, Ostalgie oder linke Alternative. Meine Reise durch die PDS, Köln 1998. 38 Vgl. zur Kritik Uta Stolle, Unter den Talaren der Muff aus vielen Antifa-Jahren, in: M U T , Nr. 1/1998, S. 72-77; Eckhard Jesse, SPD and PDS Relationships, in: German Politics 6 (1997), Nr. 3, S. 89-102.

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Osterunruhen 1968 im Gefolge des militanten Studentenprotests gegen den Mordanschlag auf Rudi Dutschke erreichte die Partei mit 9,8 Prozent in Baden-Württemberg ihr bestes Ergebnis, scheiterte jedoch bei der Bundestagswahl 1969 mit 4,3 Prozent der Stimmen an der Fünfprozenthürde. Der Abstieg der Partei - sie hatte Ende der sechziger Jahre 30.000 Mitglieder - glich in seinem Tempo ihrem Aufstieg, wenngleich weniger kraß als bei der SRP. Der charismatische Vorsitzende Adolf von Thadden, bereits Mitglied im ersten Deutschen Bundestag, gab den Vorsitz 1971 ab. Die NPD verkörperte stärker eine besitzbürgerliche Variante des Rechtsextremismus.39 Es dauerte eine längere Zeit, ehe wieder eine dezidierte Rechtspartei von sich reden machte, die „Phantom-Partei" Gerhard Freys, die DVU, einmal außer acht gelassen. Die Partei der „Republikaner" (REP) zog, noch vor dem tektonischen Umbruch in der DDR, im Jahre 1989 in das Abgeordnetenhaus von Berlin (7,5 Prozent) ebenso ein wie im selben Jahr ins Europäische Parlament (7,1, Prozent).40 Sie war 1983 als Rechtsabspaltung von der CSU entstanden - als Protest gegen den von Franz Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredit an die DDR. Der Zusammenbruch der DDR und die sich anschließende Wiedervereinigung führten zu einem überraschenden Ergebnis: Die Partei, die so entschieden national eingestellt war und die deutsche Einheit propagiert hatte, vermochte von ihr nicht zu profitieren. Es waren gerade Wähler der REP, die aufgrund einer wohlstandschauvinistischen Einstellung über die hohe Zahl der Übersiedler und die Kosten der Einheit nicht sonderlich erbaut waren. Immerhin errang die Partei bei den baden-württembergischen Landtagswahlen im Frühjahr 1992 10,9 Prozent der Stimmen. Sie zog vier Jahre mit 8,9 Prozent wieder in den Landtag ein. Dies war zuvor noch keiner anderen Rechtsaußenpartei gelungen. Innerparteiliche Fehden kennzeichneten die Entwicklung der Partei. Zunächst - 1990 - schloß Franz Schönhuber eine Gruppe um Harald Neubauer wegen rechtsextremistischer Tendenzen aus der Partei aus; später - 1994 - wurde Schönhuber selber abgewählt. Er verließ daraufhin die Partei, weil sie nicht bereit sei, mit den anderen Parteien des „rechten Lagers" gemeinsame Sache zu machen41. Trotz verschiedener Versuche ist es den „Republikanern" unter dem betont brav auftretenden Rolf Schlierer nicht gelungen, aus der rechtsextremistischen Subkultur hinaus zu gelangen.

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Vgl. etwa Lutz Niethammer, Angepaßter Faschismus. Politische Praxis der NPD, Frankfurt a.M. 1969. 40 Zur Geschichte und Ideologie der Partei vgl. u.a. Hans-Gerd Jaschke, Die „Republikaner". Profile einer Rechtsaußen-Partei, 2. Aufl., Bonn/Berlin 1993. 41 Vgl. - je nach Perspektive - die Abrechnung und Rechtfertigung von Franz Schönhuber, In Acht und Bann. Politische Inquisition in Deutschland, Berg am See 1995.

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Ein Vergleich der drei Rechtsaußenparteien fördert folgenden Befund zutage:42 Die Erfolge der SRP waren die höchsten, obwohl ihr nur ein kurzes Dasein beschieden war. Hingegen zeigt sich die Partei der REP stärker konsolidiert. Stimmengewinne für diese Partei sind offenkundig weniger auf ein Protestvotum zurückzuführen 43, als dies bei der SRP und der NPD der Fall gewesen ist. Die SRP war eine Partei des Nordens, die REP sind eine Partei des Südens, während die NPD ihre Erfolge in den spezifischen Regionen erringen konnte. Interessanterweise hatten die dezidierten Rechtsparteien immer dann die größten Erfolge, wenn die Volkspartei der rechten Mitte - die Union - die Bundesregierung stellte. Offenbar war ihre Integrationskraft nicht stark genug, um ein „Ausfransen" am rechten Rand verhindern zu können. „Wirtschaftliche Rezession, kultureller Umbruch und politische Erosion" verbanden sich „zu einer Gemengelage, die Teile des Wählerpotentials von den Bonner Volksparteien ablöste"44. In gewisser Weise kann von jeweils drei Wellen die Rede sein.45 Rechtsaußen ist dies offenkundig: die Wahlerfolge der SRP zu Anfang der fünfziger Jahre, die der NPD Ende der sechziger, die der REP in den neunziger Jahren. Linksaußen ist die Abgrenzung schwieriger. Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre war die KPD von Bedeutung, in den neunziger Jahren ist es die PDS. Das wäre ein Zweiphasenmodell. Von drei Wellen ließe sich sprechen, wenn man nicht auf die Wahlerfolge schaute, statt dessen den Einfluß der DKP in gesellschaftlichen Teilbereichen berücksichtigte oder die Auffächerung des Linksextremismus im Gefolge der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Die Erfolge von Rechtsaußenparteien sind weitaus stärker von Stimmungen abhängig; das linke Pendant, gefestigter und ideologisch stärker strukturiert, hat ein stabileres Wählerreservoir, wenngleich dem die beträchtlichen Zugewinne der PDS etwas widerstreiten. Hatte sie 1990 in den jungen Bundesländern bei der ersten gemeinsamen Bundestagswahl 11,1 Prozent der Stimmen erhalten, so waren es vier Jahre später 19,8 Prozent. Eine weitere und nicht gering zu schätzende Parallele: Die extremistische Intensität ließ von Welle zu Welle nach. Die REP und - mit Abstrichen - die 42 Vgl. ausführlicher Eckhard Jesse, Rechtsextremistische Parteien in Deutschland 1945 bis 1995. Ein Vergleich zwischen der SRP, der NPD und den REP, in: Historische Mitteilungen 9 (1996), S. 189-202. 43 Vgl. Jürgen W. Falter, Wer wählt rechts? Die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien im vereinigten Deutschland, München 1994. 44 Eckard Fas eher, Modernisierter Rechtsextremismus? Ein Vergleich der Parteigründungsprozesse der NPD und der Republikaner in den 60er und 80er Jahren, Berlin 1994, S XI. 45 Vgl. Ekkart Zimmermann/Thomas Saalfeld , The Three Waves of West German Right-Wing Extremism, in: Peter H. Merkl/Leonard Weinberg (Hrsg.), Encounters with the Contemporary Radical Right, Boulder 1993, S. 50-74.

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PDS unterlassen militante Aktionen gegen den demokratischen Verfassungsstaat. Sie sind gemäßigter als die NPD und die DKP in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren. Diese wiederum erscheinen nach Argumentation und Auftreten gemäßigter als SRP und KPD in den fünfziger Jahren. Offenbar bleibt Flügelparteien, die Erfolg haben wollen, nichts anderes übrig. Außerdem - und das ist weniger ein taktischer Aspekt - scheinen auch sie gelernt zu haben. 4.2. Demokratischer

Verfassungsstaat

Die Konzeption der streitbaren Demokratie ist kennzeichnend für das Grundgesetz. Sie will die Hilflosigkeit des Weimarer Typs überwinden. Ihr zentraler Gedanke ist die Vorverlagerung des Demokratieschutzes in den Bereich des legalen politischen Handelns. Der demokratische Verfassungsstaat soll sich seiner Gegner nicht erst erwehren können, wenn diese Strafgesetze übertreten. Die Legalitätstaktik von Extremisten bedarf in dieser Sicht einer Illegitimierungsstrategie des demokratischen Verfassungsstaates. 46 Diese Schutzkonzeption zeigt sich einerseits in der Wertgebundenheit (laut Art. 79, Abs. 3 GG dürfen bestimmte Prinzipien auch durch eine noch so große Mehrheit nicht geändert werden), andererseits in der Abwehrbereitschaft: Art. 9, Abs. 2 GG ermöglicht das Vereinigungsverbot, Art. 18 GG die Verwirkung bestimmter Grundrechte Art. 21, Abs. 2 GG das Parteienverbot, Art. 33, Abs. 4 und 5 GG schreiben das öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis für die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse vor - und damit die Notwendigkeit der Verfassungstreue für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Die Praxis der streitbaren Demokratie ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Massiv wurde von diesem Instrumentarium in den fünfziger Jahren Gebrauch gemacht - gegen rechts und links gleichermaßen. Davon legen die beiden Parteiverbote gegen die SRP und die KPD ebenso Zeugnis ab wie die zahlreichen Vereinigungsverbote. Später, zumal nach dem Vereinsgesetz von 1964, setzte ein Wandel ein. Das Opportunitätsprinzip löste allmählich das Legalitätsprinzip ab. Hinfort galt der Grundsatz: Was nicht verboten ist, muß keineswegs demokratisch sein. Der Streit um den 1972 eingeführten Extremistenbeschluß47 - die Geschichte dieses Beschlusses war die Geschichte seiner 46

Vgl. u.a. Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie. Theorie, Praxis und Herausforderungen in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1981; HansGerd Jaschke, Streitbare Demokratie und innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991. 47 Kritisch zu dieser Schutzmaßnahme des Staates Gerard Braunthal, Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der „Radikalenerlaß" von 1972 und die Folgen, Marburg 1992.

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beständigen Rücknahme - zeigte in mancherlei Hinsicht, daß das Opportunitätsgebot in eine Art Wertrelativismus überzugehen schien, ein Abschied von der Konzeption der streitbaren Demokratie sich anzubahnen begann. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille: Was die rechte und linke Variante des Extremismus betrifft, ist eine gewisse Asymmetrie augenfällig - auch nach der deutschen Vereinigung. Gegen die extreme Rechte wird adminstrativ vorgegangen, nicht jedoch gegenüber der extremen Linken. Seit dem Inkrafttreten des Vereinsgesetzes wurde keine linkextreme deutsche Organisation mehr verboten, hingegen deren zehn aus dem rechtsextremistischen Milieu (u.a. die „Volkssozialistische Bewegung/Partei der Arbeit" Friedhelm Busses, die „Wiking-Jugend" und, zuletzt, die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei"). Die Verbote gegen solche Organisationen sind zwar rechtlich einwandfrei, politisch aber wohl nicht unbedingt zweckmäßig. Sie haben vor allem eine symbolische Bedeutung und verschaffen Politikern ein Alibi im In- und Ausland, entschieden insbesondere gegen den Neonationalsozialismus vorgegangen zu sein - als gäbe es daran einen begründeten Zweifel. Es ist eine Paradoxic: Die Verbote sind gegen Gruppierungen praktiziert worden, über deren unzweideutige Ablehnung sich ohnehin alle einig wissen. Sie haben zumal bei jenen heftige Kritik hervorgerufen, für die ein Eingreifen des Staates erst dann angezeigt ist, wenn ein Verstoß gegen Strafgesetze vorliegt. 48 Auch der engagierte Anhänger einer streitbaren Demokratie muß bezweifeln, ob die beantragte Aberkennung von Grundrechten für Exponenten (rechts-)extremistischer Organisationen gemäß Art. 18 GG effizient und liberal erscheint. Die bisherigen vier Anträge auf Verwirkung der Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht - gegen Otto-Ernst Remer 1952 und Gerhard Frey 1969 sowie 1992 gegen den Thüringer Thomas Dienel, den Chef der „Deutsch-Nationalen Partei", und den Hessen Heinz Reisz, den Landesvorsitzenden der „Gesinnungsgemeinschaft Neue Front", - führten zu keinem Erfolg. Das Strafrecht sollte in der Tat ausreichen. Kritikwürdig ist zweierlei: einerseits der massive Gebrauch der institutionellen Vorkehrungen gegen den Rechtsextremismus, andererseits die vielfach fehlende argumentative Auseinandersetzung mit dem Pendant von links. Ein antiextremistisches Demokratieverständnis kann damit auf der Strecke bleiben. Offenkundig mangelt es an Äquidistanz. Die Bundesrepublik Deutsch-

48 Vgl. die Einwände gegenüber dem Konzept der streitbaren Demokratie - und nicht nur der Praxis - bei Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Mit zwei Exkursen von Alexander Molter und Wolf gang Stenke, Reinbek bei Hamburg 1995. Gleichwohl lassen sich die Autoren ein „antifaschistisches" Hintertürchen offen. Sie plädieren - als „eine nachholende Ächtung des Nazismus" (ebd., S. 317) - für ein Verbot jener Parteien, die an die Ziele der NSDAP anknüpfen.

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land übernimmt damit tendenziell die in Frankreich bestehende Demokratiekonzeption, bezogen auf die extreme Linke, Frankreich hingegen tendenziell die im Grundgesetz verankerte Schutzkonzeption der streitbaren Demokratie, bezogen auf die extreme Rechte.49 Auf diese Weise kommt es - etwa bei der europaweiten Rassismusbekämpfung im Europäischen Parlament - zu einer Angleichung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Der springende Punkt ist die Haltung zur PDS, die in Bayern als linksextremistisch gilt, in Brandenburg vom Verfassungsschutzbericht überhaupt nicht erwähnt wird, also dort als „normale" Partei firmiert, um nur den Spannungsbogen zu verdeutlichen. Die SPD will in Sachsen-Anhalt am „Magdeburger Modell" festhalten, also auf die Tolerierung durch die PDS setzen und unter keinen Umständen eine Große Koalition eingehen, selbst wenn das Bündnis 90/Die Grünen nicht wieder in den Landtag zurückkehren sollte. Die bisherige Kooperation habe sich bewährt. Mit den Worten des Ministerpräsidenten Reinhard Höppner: „Es war einfach so, daß wir bei bestimmten Projekten sowohl mit der CDU als auch mit der PDS geredet haben. Bei der CDU konnte man sich nie darauf verlassen, daß Zusagen eingehalten werden; bei der PDS konnte man das immer." 50 Was gut für das Land sei, stelle jedoch für den Bund keine angemessene Alternative dar. Das Dilemma dieser Argumentation: Wenn die PDS tatsächlich eine „normale Partei" ist, warum wird sie dann als Koalitionspartner nicht ganz in die Verantwortung einbezogen? Ist sie aber - nicht nur angesichts ihrer Vergangenheit - keine demokratische Partei, warum wird sie dann als eine Art Mehrheitsbeschaffer in das politische System integriert? Wieso kommt im Bund nicht in Frage, was in Magdeburg als rechtens gilt? Ist die PDS in Sachsen-Anhalt weniger extremistisch ausgerichtet? Oder sind machtpolitische Überlegungen maßgebend? Die Befürworter der „Erfurter Erklärung" von 1997 jedenfalls differenzierten nicht zwischen dem Bund und den Bundesländern. Die Union kann mit Recht ins Feld führen, an dem Grundsatz, mit keiner demokratisch unzuverlässigen Partei zu paktieren, konsequent festgehalten zu haben - etwa 1968 und 1992, als in Baden-Württemberg jeweils eine Große Koalition gebildet wurde. Eine Kooperation mit der NPD bzw. den REP stand niemals zur Debatte. Statt dessen wurden 1992 Sondierungsgespräche mit den Grünen geführt. Aber die Union muß sich fragen lassen, ob sie die antiextremistische Strategie konsequent handhabt. Bereits im Jahre 1994 war man nicht

49 Vgl. Isabelle Canu, Verteidigung der Demokratie in Deutschland und Frankreich. Ein Vergleich des Umgangs mit politischem Extremismus vor dem Hintergrund der europäischen Integration, Opladen 1997. 50 „Eine große Koalition schließe ich definitiv aus." Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt will sich lieber von der PDS tolerieren lassen, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. März 1998.

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zur Aufstellung gemeinsamer Wahlkreiskandidaten bereit, um Direktmandate der PDS zu verhindern. Und auch 1998 sieht es nicht danach aus. Zugegeben: Eine solche Strategie ist nicht unbedingt effektiv und in mancher Hinsicht problematisch. Doch wäre sie eine Möglichkeit, glaubwürdig darzutun, daß man interessiert daran ist, den Einzug der PDS ins Bundesparlament zu verhindern und dafür machtpolitische Gesichtspunkte hintanstellt. 5. Vergleich zwischen den beiden Demokratien

In der Weimarer Republik war der politische Extremismus der einen wie der anderen Seite nicht nur weitaus größer, sondern auch aggressiver. Es fehlte angesichts der obrigkeitlichen Belastungen an einer demokratischen politischen Kultur, wie sie sich in der zweiten deutschen Demokratie allmählich herausgebildet hat.51 Zudem sind hier mit der Konzeption der streitbaren Demokratie, wenn auch mittlerweile abgeschwächte, Schutzvorkehrungen getroffen worden, die es in Weimar nicht gab. Alles das - und noch mehr spricht für die Bundesrepublik Deutschland. Die Unterschiede überwiegen demnach deutlich die Parallelen. Der Vergleich zwischen der Weimarer Republik und der Bundesrepublkik Deutschland soll nicht überstrapaziert werden, zumal unter der hinlänglich bekannten Frage („Ist Bonn bzw. Berlin doch Weimar?"), der ungeachtet aller Warnungen eine ebenso hinlänglich bekannte Antwort folgt („Bonn bzw. Berlin ist nicht Weimar"). Die Konstellationen sind in mannigfaltiger Weise unterschiedlich. Doch sollte eine Lehre fortgelten: Es verbietet sich eine Koalition, ein Bündnis, eine Kooperation - oder wie immer man die Zusammenarbeit nennen mag - zwischen einer demokratischen Partei und einer Gruppierung, der dieses Epitheton nicht zugestanden werden kann. Im Gegensatz zur Weimarer Republik gibt es in der Bundesrepublik Deutschland auf vielen Gebieten eine Erosion der Abgrenzung zwischen den linken demokratischen und linken antidemokratischen Gruppierungen, nicht auf dem Spektrum rechts der Mitte. 52 Der demokratische Konservatismus hat seine bittere Lektion gelernt, auch wenn vielfach das Gegenteil behauptet wird. 53

51

Vgl. beispielsweise Martin und Sylvia Grebenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur Politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München 1993; ders., Politische Legitimität in Deutschland, Gütersloh 1997. 52

Vgl. Eckhard Jesse, Fließende Grenzen zum Rechtsextremismus? Zur Debatte über Brückenspektren, Grauzonen, Vernetzungen und Scharniere am rechten Rand Mythos und Realität, in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996, S. 514-529.

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Innerhalb weniger Jahre ist eine Verschiebung des Koordinatensystems eingetreten, was die Einordnung der PDS betrifft, ohne daß dieser Wandel auf den Wandel der Partei zurückgeht. Nichts verdeutlicht die fulminante Veränderung besser als die folgende Paradoxie: Im Jahre 1990 hätte niemand damit gerechnet, daß sich eine Legislaturperiode später eine demokratische Partei von der PDS tolerieren läßt. Und heute rechnet wohl niemand damit, daß nach dem 27. September in Mecklenburg-Vorpommern (der Tag der Landtagswahl ist der Tag der Bundestagswahl) die SPD mit der PDS keine Koalition bildet. Dieses „Schweriner Modell" stellte eine Fortentwicklung des „Magdeburger Modells" dar - und damit eine stärkere Aushöhlung des antiextremistischen Konsenses. 6. Resümee

Zum Schluß mag ein Blick auf die Regierungswechsel im Ausland geworfen werden, zumal unter Berücksichtigung des antiextremistischen Konsenses: Vor einem Jahr sind in einigen großen westeuropäischen Demokratien die bürgerlichen Regierungen durch Wahlen abgelöst worden - in Italien (April 1996), Großbritannien (Anfang Mai 1997) und in Frankreich (Ende Mai 1997). Präzedenzfalle für die Bundesrepublik Deutschland? Weder im ersten noch im zweiten Wahlgang konnte in Frankreich die Linke mehr Stimmen erreichen als die Rechte. Gleichwohl war der Verlierer nach Stimmen der Sieger nach Mandaten. Dieses Paradoxon liegt wesentlich darin begründet, daß die rechtsextremistische Front National - sie erhielt im ersten Wahlgang 15,1 Prozent der Stimmen - im zweiten Wahlgang nicht an Bündnissen der demokratischen Rechten (der UDF und dem RPR) beteiligt war, hingegen die kaum reformierte linksextremistische Kommunistische Partei - sie kam auf 9,7 Prozent - an solchen der Linken. Von einem antiextremistischen Konsens kann in Frankreich daher keine Rede sein. Die zu Recht rigorose Abgrenzung gegenüber rechtsaußen - ungeachtet gewisser Auflockerungstendenzen bei den Regionalwahlen im März 199854 - geht mit einer konsequenten Einbindung von linksaußen einher. Der antifaschistische Grundkonsens von 1945 ist durch 1989 nicht erschüttert worden. 53 Vgl. etwa zahlreiche Beiträge in den folgenden Bänden: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996; ders. (Hrsg.), Antifa Reader. Antifaschistisches Handbuch und Ratgeber, Berlin 1996. 54 Fünf Repräsentanten der UDF waren dank der Unterstützung durch die Front National zu Präsidenten in den Regionen gewählt worden. In der Folge wurde dieses Bündnis von den Parteien der rechten Mitte heftig kritisiert, gar als „Teufelspakt" apostrophiert. Vgl. Jacqueline Hénard y Zittern nach dem Teufelspakt. Die Wackelpolitik gegenüber dem Fornt National stürzt Frankreichs Parteien in eine tiefe Krise, in: Die Zeit vom 26. März 1998.

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Hingegen hat in Großbritannien die gemäßigter gewordene Labour Party unter Tony Blair nach 18 Jahren die konservative Regierung in einer „Erdrutschwahl 44 dank der Dynamik der relativen Mehrheitswahl abgelöst, ohne daß es der Unterstützung durch extremistische Parteien bedurfte, wohl aber einer Reihe schmerzlicher Wahlniederlagen. Es gilt nämlich auch das Gegenteil des bekannten Diktums: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Das Beispiel Italiens ist in der Mitte zwischen Frankreich und Großbritannien angesiedelt. Zum ersten Mal seit 1945 wurde im Jahre 1996 eine MitteRechts-Regierung durch ein linkes Parteienbündnis abgelöst. Ihm gehört keine extremistische Kraft an. Aber mit der 1991 gegründeten „Rifondazione Comunista44, die immerhin 8,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte, kam es zu Wahlabsprachen, um keine Stimmen zu verschenken. Da dem Linksbündnis in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit fehlt, ist es obendrein auf die Tolerierung durch die Altkommunisten angewiesen. Weder der „französische Weg44 (Koalition unter Einschluß einer antidemokratischen Partei) - ein zukünftiges „Schweriner Modell44 - noch der „italienische Weg44 (Tolerierung durch eine antidemokratische Partei) - eine Art „Magdeburger Modell44 - ist hinlänglich vertretbar. Es bleibt der „britische Weg44! Was gegen die Partei der Republikaner unverbrüchlich gilt, muß auch gegen die PDS eingehalten werden - strikte Abgrenzung. Der Unterschied zwischen demokratischen und extremistischen Positionen sollte den zwischen linken und rechten überlagern. Diese Lehre aus dem Menetekel der ersten deutschen Demokratie ist nicht überholt. Der antiextremistische Konsens - er muß von den Verfassungspatrioten nicht nur beschworen, sondern auch praktiziert werden.

Ist die Totalitarismustheorie gescheitert? Von Tilman Mayer „Das Ende einer Reihe von politischen Gebilden Osteuropas, die unter dem Verdacht des Totalitarismus standen und stehen, bietet... die Chance, mit Blick auf den Aufstieg und Fall dieses Herrschaftstypus bestimmte Annahmen zu prüfen, Theorien über die Stabilität des Totalitarismus zu falsifizieren und Indikatoren für seinen Zusammenbruch ausfindig zu machen. Warum also gerade jetzt - in einer vergleichsweise privilegierten historischen Situation - den Totalitarismusbegriff über Bord werfen, wo doch wie nie zuvor die Möglichkeit zu komparatistischen Studien seiner geschichtlich abgeschlossenen Erscheinungsformen gegeben ist?" Norbert Kapferer vom Dresdner Institut für Totalitarismusforschung 1 stellt diese Frage sicher zu Recht. Er fahrt fort: „Das ausgehende 20. Jahrhundert gestattet nunmehr den Rückblick auf seine politischen, ökonomischen und kulturellen Eigentümlichkeiten, zu denen das Phänomen des Totalitarismus gehört. Die Totalitarismustheorien waren einst angetreten, um einen neuen Typus von Herrschafts- und Machtkonzentration, eine gesteigerte Form von Führerdiktatur, Personenkult, Massenpropaganda, geistiger Gleichschaltung, polizeilichem Terror, wie sie sich zunächst in drei Varianten - Italien, Sowjetunion, Deutschland - zeigten, auf einen Begriff zu bringen" Doch wenig später heißt es anstelle des Auf-einen-Begriff-Bringens: „Dieses Nichtidentische in einem Begriff festzuhalten, kennzeichnet die dialektische (!) Struktur eines kritischen (!) Totalitarismusverständnisses". Ohne weiteres ist also offensichtlich der Sachverhalt nicht darzulegen. Der Bonner Politikwissenschaftler Karl-Dietrich Bracher hat das 20. Jahrhundert als ein „Jahrhundert des Totalitarismus" bezeichnet2. Fast 75 Jahre hat der Totalitarismus das 20. Jahrhundert geprägt, in erster Linie in * Der Beitrage geht aus einem Habilitationsvortragsskript vom Dezember 1997 hervor. 1 Das Institut belegt mit seiner Existenz die Bedeutung der Theorie, deren Institutionalisierung sie im Forschungszusammenhang darstellt. Deshalb kommt es auf ihre Publikationen, wie zitiert, an. 2 Karl-Dietrich Bracher: Das 20. Jahrhundert als das Zeitalter der ideologischen Auseinandersetzung zwischen demokratischen und totalitären Systemen (1987), in: Eckard Jesse (Hrsg): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 137

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Gestalt der Sowjetunion. Entsprechend der Lebensdauer der Totalitarismen wird man die sog. Totalitarismustheorie als die politisch bestimmende Theorie des 20. Jahrhunderts bezeichnen können - auch wenn damit keine dialektische Abhängigkeit von historischen Analyseobjekten verbunden sein darf. Zeitgeschichtlich gesehen leben wir noch immer im langen Schatten des Totalitarismus und seiner Hypotheken. Stärker als das totalitäre Denken war, jedenfalls retrospektiv gesehen, das demokratische. Als beherrschende politische Theorie allerdings ist die Totalitarismustheorie noch keineswegs überall anerkannt, geschweige denn rechtzeitig identifiziert worden3. Im übrigen gibt es aktuell noch Staaten, die zumindest totalitäre Züge aufweisen (Nordkorea, VR China, Kambodscha). Andere Staaten, wie etwa Israel, werden von Staatsführern bedroht, die totalitäre Energien entfalten. Der Totalitarismus mag aus Europa, seiner Geburtsstätte, verschwunden sein, könnte aber eines Tages nochmals auf Europa zurückwirken, z.B. atomar. Wie immer die Gegenwart zu sehen ist, bleibt die totalitäre Herrschaftsform mit der zentralen politikwissenschaftlichen Frage verknüpft, was politische Herrschaft ausmacht4. Deshalb sind auch besonders Politikwissenschaftler mit dem Thema von Anfang an befaßt 5, so mit der Frage nach der Qualität von Herrschaft, die innerhalb der Politikwissenschaft in klassischer Perspektive der Ideengeschichte normativ beantwortet wird, weshalb auch anstelle von Theorie von Ansätzen, Modellen, Begriffen usw. gesprochen werden kann. Eine sozialwissenschaftliche vergleichende Totalitarismustheorie 6 dagegen ist noch nicht weit gediehen. Abzulehnen ist innerhalb der Politikwissen3 Im Sinne von Hans J. Lietzmann darf es allerdings nicht zu einer „naiven" Alternative von Totalitarismus und Demokratie kommen, weü historisch-genetisch gesehen, wie er aufzeigt, im klassischen Ansatz eher totalitäre versus konstitutionelle Diktaturen verglichen wurden: Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie, in: Alfons Söllner et al. (Hrsg): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 191. In systematischer Hinsicht bleibt es beim Vergleich der Herrschaftsformen; ähnlich Theo Schiller: Politische Soziologie, in: Arno Mohr (Hrsg): Grundzüge der Politikwissenschaft, München 1997, S. 417 und S. 432-434. 4 Wilhelm Hennis: Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit, in ders.: Politik und praktische Phüosophie, Stuttgart 1977, S. 176 ff.; Peter Graf Kielmansegg: Krise der Totalitarismustheorie? (1974), in: Jesse 1996, S. 296; Martin Grebenhagen: Der Totalitarismusbegriff in der Regimenlehre (1968), in ders.: Von Potsdam nach Bonn, München 1986. 5 Welchen Einflüssen auch sie in ihrer Zeit ausgesetzt waren zeigt eindrucksvoll der Aufsatz Lietzmanns (Anm. 3); zu Hannah Arendt und Martin Heidegger vgl. das sensible Portrait von Brigitte Seebacher-Brandt, in: Büder und Zeiten (FAZ) vom 6. 2. 1993, S. 1-2. 6 Tilman Mayer: Probleme einer nachkommunistischen Gesellschaft, in: Diktaturen im 20. Jahrhundert - der Fall DDR, hrsg. von Heiner Timmermann, Berlin 1996, S. 17-35.

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schaft die historiographische Reduktion der Totalitarismustheorie auf die bloße Wiedergabe der historischen Ereignisse. Eine notwendigerweise komplexe Theorie, die Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus und Spätformen dieser Denkstrukturen erfassen können muß, hat als größtes Problem zunächst zu lösen, einen Überblick über disparates Denken herzustellen. Auch muß die Substanz des Vergleichs gegeben sein, die ja über unterschiedliche Zeiten, Systeme und Völker sich zu erstrecken hat. Das Erfordernis, differenzieren zu können, ergibt sich somit der Sache nach und daraus entstand auch die Debatte um Einheitlichkeit oder Differenzierbarkeit totalitärer Herrschaft. Entsprechend ist es wiederum der Herrschaftscharakter, der diskutiert wird und nicht so sehr die eher bekannte, wenn auch archivbedingt ständig auffrischbare Geschichte der Totalitarismen oder der Totalitarismustheorie, zumal letztere bekanntlich in ersten Ansätzen schon 1923, im Faschismus, entstanden ist.7 Schon damals, noch in den zwanziger Jahren, gab es bereits die ersten Bemühungen, Vergleiche anzustellen zwischen den neuen Herrschaftsformen in Italien und Rußland. Die Gegensätzlichkeit der politischen Ausrichtung der Regime behinderte nicht die Erkenntnis der augenscheinlichen Gemeinsamkeiten der Herrschaftsformen. Die These lautet also, daß zumindest implizit und vergleichsbedingend die Unterschiede im Beobachtungsphänomen totalitärer Herrschaft fast von Anfang an gesehen wurden8. Im übrigen ist es richtig, was Graf Kielmansegg postuliert, daß nur danach „sinnvoll gefragt werden kann, ob das Totalitarismus-Konzept ein in der Wirklichkeit vorfindbares, unterscheidbares, relevantes Phänomen zutreffend eingrenzt und ob es fruchtbare Anstöße für die theoretische Erfassung des Phänomens gibt." (Kielmannsegg, S. 293). Dieser Anspruch ist aufrechtzuerhalten. Gleichwohl wird man in zeitgeschichtlichem Kontext sagen können, daß aus dem verständlichen Abwehrinteresse heraus, gegenüber der bedrohlichen Entwicklung totalitärer Herrschaftsformen in Europa, das Bestreben, die Einheitlichkeit, das Gemeinsame in der Bedrohung herauszuarbeiten, vorherrschte: das vielbeschworene sog. Sechspunktesyndrom9 von Carl Joachim Friedrich und Zbignew Brzezinski: militärisch, missionarische Ideologie und 7

Jens Petersen: Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: H. Maier (Hrsg.): Totalitarismus und politische Religionen, Paderborn 1996, S. 15 ff. 8 Vgl. Petersen a.a.O.; Luigi Sturzo: Das bolschewistische Rußland und das faschistische Italien, in ders.: Italien und der Faschismus, Köln 1926; Erwin von Beckerath: Fascismus und Bolschewismus, in: Volk und Reich der Deutschen, Bd. 3, Berlin 1929, S. 134 ff.; Waldemar Gurian: Fascismus und Bolschewismus, in: Das Heilige Feuer, 15, 1927/28, S. 197 ff., vgl. zu Gurian auch den Aufsatz von Heinz Härten bei Söllner 1997, S. 25 ff. (Anm. 3). 9 Eckard Jesse: Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen, in: Jesse: 1996, S. 14.

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Propaganda, antipluralistische Volks- bzw. Einheitspartei, Geheimpolizei als Sicherheitsinstrument der Nomenklatura, Terror, Waffenmonopol 10, Wirtschaftslenkung. Diesem Ansatz hat man, vielleicht mit einigem Recht, seinen Blockcharakter vorgeworfen, daß eine Einheitlichkeit mehr vorgetäuscht würde als sie real vorhanden gewesen sei. Vor diesem Hintergrund sind Ansätze zu einer einfacheren Definitorik verständlich, wie etwa der Satz: „Eine Gesellschaft ist totalitär, wenn in ihr der Pluralismus kriminalisiert wird" (Agnes Heller 11), oder der Satz des SU-Experten Martin Malia: „Totalitarismus ist ein Phänomen der pervertierten Massendemokratien im zwanzigsten Jahrhundert, gekennzeichnet durch den Primat einer von Ideologie angetriebenen Politik über die sozialen Kräfte." 12 Malia erteilt damit auch denjenigen Ansätzen bewußt eine Abfuhr, die Lenins Machtergreifung hauptsächlich aus sozialen und ökonomischen Umständen der russischen Gesellschaft heraus erklären wollen - eine wichtige Kritik, die die Selbständigkeit und Wirkung des neuen Herrschaftstyps unterstreicht. Wir wollen jedoch die Kritik am gesamten Totalitarismusansatz nehmen13 und fassen sie deshalb in folgenden Punkten zusammen.

sehr ernst

Im Kern, so heißt es, handele es sich nur um eine Beschäftigung mit den Regimen Stalins und Hitlers 14, also mit historisch abgeschlossenen Epochen; andere Zeiten seien viel weniger erfaßt oder mit dem Friedrich/BrzezinskiModell nicht erfaßbar. Dieses letztere, aber auch das Werk Hannah Arendts, sei zu monolithisch, zu statisch, zu sehr auf unwandelbare Verhältnisse angelegt, daß es regelrecht die Wirklichkeit verzeichnet, denn es genüge nicht zu sagen, die Systeme seien basically alike. Darüber hinaus sei eine zu stark auf Terror angelegte Analyseabsicht zu erkennen. Das alte Friedrich/BrzezinskiModell täusche aber ein einheitliches Gebilde nur vor.

10 Dieses Kriterium dürfte als unbrauchbar gelten angesichts der Entwicklung der europäischen Staatstradition seit der Überwindung des Fehderechts. 11 Zit. nach Klaus Schroeder: Totalitarismustheorien. Begründung und Kritik, Berlin ( = Forschungsverbund SED-Staat), 1994, S. 19. 12 Totalitarismus und Sowjetologie, in: Transit, Heft 9, Sommer 1995, S. 126. Vgl. aber unten (Anm. 25) den Hinweis auf Eric Hoffer, der schreibt, „daß der Führer selbst nicht die Bedingungen schaffen kann, die eine Massenbewegung möglich machen. Er kann keine Bedingung aus dem Nichts schaffen ..." Seine weiteren Ausführungen (S: 96) werden von uns noch aufgegriffen. 13 Deshalb sei insbesondere auf die vehemente Kritik verwiesen von Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfangen bis heute, Darmstadt 1997, etwa S. 80 ff über die amerikanischen Revisionisten. 14 So Pierre Bouretz, in: Söllner 1997 (Anm. 3), S. 224.

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Schließlich mangle es auch an der Vorhersagekraft, etwa mit Blick auf das Ende, speziell Gorbatschows15, dessen Aufkommen von der entsprechenden Theorie nicht erwartet wurde. Im übrigen merke man dem erwähnten klassischen Ansatz an, daß er nur ein Instrument des Kalten Krieges und nur gegen die Sowjetunion gerichtet gewesen sei, also auf banalen antikommunistischen Vorurteilen beruhe (Wippermann u.a.). Und schließlich könne die Theorie nicht die Singularität des Holocaust erklären. Um die Singularitätsthese ist zuletzt durch die Publikation des „Livre noire du communisme" ein Streit entstanden, der allerdings den Kritikern des Totalitarismus-Konzepts schon durch den Nachweis der erschlagenden Quantität von Verbrechen im kommunistischen Machtbereich Probleme bereitet. Manche der Kritikpunkte sind sicherlich zu Recht erhoben worden16, andere nicht, zumal, wie betont, bereits in den zwanziger Jahren konstruktive, wenig dogmatische Ansätze erarbeitet worden waren - allerdings bei geringer Beachtung in der Öffentlichkeit einer dürftigen Zeit. Andererseits unterscheidet Hannah Arendt bereits nach Prozessen des Aufbaus totalitärer Macht. Nur von C. J. Friedrich auszugehen wäre also unzureichend. Oder: schon 1946 spricht Walter Petwaidics von einer „autoritären Anarchie" 17; Ernst Fraenkel spricht schon 1941 den sog. Doppelstaatscharakter an18 usw. Daneben ist aber auch zu sehen - und zwar von den Kritikern der Totalitarismustheorie in erster Linie - , daß es in der sog. Entspannungsphase (in der aber ein NATO-Nachrüstungsbeschluß gefaßt werden mußte angesichts der Hochrüstungspolitik des Breshnew-Regimes, welches letztere überdies, erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Invasion in Afghanistan 19 de facto expansionistische Politik betrieb in der sog. Entspannungsära) politisch und wissenschaftlich und so auch politikwissenschaftlich absolut inkorrekt blieb,

15 Tilman Mayer: Warum es zur Wiedervereinigungschance kam, in: Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel (Hrsg): Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD), Berlin 1998, S. 238 ff. 16 Zusätzliche instruktive Erörterungen finden sich bei Graf Kielmansegg (1974) und Karl Graf Ballestrem, jetzt abgedruckt bei Jesse 1996 (Anm. 9). 17 Vgl. Hinweise bei Manfred Funke: Erfahrung und Aktualität des Totalitarismus - Zur definitorischen Sicherung eines umstrittenen Begriffs moderner Herrschaftslehre, in: Konrad Low (Hrsg.): Totalitarismus contra Freiheit, München 1988, S. 54; Konrad Low: Marx, Engels und das Erbe, in: Politische Meinung 339, Februar 1998, S. 11 ff. 18 Vgl. auch die Impulse für eine Totalitarismustheorie bei Siegfried Mampel, in: Low 1988. 19 Vgl. die Erwähnung Afghanistans in diesem Zusammenhang bei Manfred Funke: Braune und rote Diktaturen - Zwei Seiten einer Medaille?: Historikerstreit und Totalitarismustheorie (1988), in: Jesse 1996, S. 156.

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die Totalitarismustheorie ernst zu nehmen, sich auf sie überhaupt einzulassen. Die Sozialpsychologie20 der Konsonanz mit einer fremden Macht ist noch zu schreiben, die Botmäßigkeit auch mancher sog. bürgerlicher, an sich in Universitäten unabhängiger wissenschaftlicher Instanzen, darf in einer Demokratie nicht dem Vergessen anheimfallen; sie ist Teil des Themas, denn die Totalitarismustheorie sollte zum Scheitern gebracht, bewußt diskreditiert werden. Umsomehr sind diejenigen zu loben, die nicht irritierbar waren - wiederum ein weites Spektrum von Persönlichkeiten, die keineswegs nur übereinstimmende Positionen vertraten. 21 Im Gegensatz zu den Kritikern der Totalitarismustheorie, die oft apologetisch anmutend einen humanitären Kern des (auch sowjetischen) Sozialismus gerettet oder reserviert wissen wollten22, sei doch ein gewisses Unbehagen konstatiert, wo es um die Verteidigimg des Totalitarismusbegriffs um jeden Preis geht. Dieses Unbehagen gebiert die Frage nach Alternativen, skizziert seien.

wovon nun vier

Um die Faschismustheorie ist es ruhig geworden. Ihr Gegenstand, der historisch untergegangene23 Faschismus, war in den 70er Jahren ideologisch ausgedehnt worden, derart, daß im Zuge von neomarxistischen Ansätzen in den Gesellschaftswissenschaften westliche Systeme24, darunter das bundesdeutsche, dem Verdacht ausgesetzt wurden, faschistisch zu sein oder werden zu wollen. Die Faschismustheoretiker waren insofern manchmal fast schon ein 20 Zu Ansätzen und Vorarbeiten dazu siehe Fritz Süllwold: Das Bewältigungssyndrom, in: Politische Meinung 338, Januar 1998, S. 25-35 (vgl. Anm. 59 und 61). 21 Dafür spricht z.B. eine (Leserbrief-)Debatte zwischen Jens Hacker und KarlDietrich Bracher in der FAZ vom 24. 10., 30. 10., 11. 11. und 20. 11. 1997. 22 So ganz betont Erhard Eppler: Die Totalitarismustheorie und ihre Wirkung im Verhältnis zur Sowjetunion, in: Frieden mit der Sowjetunion, hrsg. von D. Goldschmidt, Gütersloh 1989, S. 514: „humanistischer Pfahl im Fleisch des Kommunismus", S. 517 heißt es, daß die Totalitarismustheorie „dem Frieden im Weg steht" usw. usf. (s. Anm. 61). 23 Anders Walter Laqueur: Faschismus - Gestern, heute, morgen, Berlin 1997, vgl. dazu Rezension in der Deutschen Tagespost vom 20. 12. 1997. 24 „Infolge der Art, wie sie ihre technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige Industriegesellschaft zum Totalitären. Denn »totalitär* ist nicht nur eine theoretische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nicht-terroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. Sie beugt so dem Aufkommen einer wirklichen Opposition gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteüungssystem, das sich mit einem »Pluralismus' von Parteien, Zeitungen, ausgleichenden Mächten etc. durchaus verträgt." Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied / Berlin 1974 ( = 64. Tausend), S. 23.

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Teil des Totalitarismusphänomens. Linkstotalitäre Systeme wurden ignoriert. Bracher ordnet die Theorie „als ideologisches Produkt der Marxismus-Renaissance der 68er"-Jahre ein und aus linker Sicht kritisiert Kraushaar sehr einleuchtend (Jesse 1996, S. 145). Sehr brauchbar, sinnvoll und weiterführend waren und sind die Aufsätze von Juan Linz, der die implizit schon länger vorgenommene Unterscheidung von autoritärer und totalitärer Herrschaft explizierte. Übersehen wurde eine vielleicht als sozialpsychologisch-phänomenologisch zu bezeichnende, gleichzeitig mit Arendts Werk in den USA publizierte Studie über die „Pathologie des Parteigängers" 25, die auch inspirierend für die Beschäftigung mit dem Totalitarismus wirken kann. Von Hans Maier wurde in den 90er Jahren26 der ältere Ansatz Eric Voegelins (1938) aktualisiert, nachdem totalitäres Denken auch in Terminologie, Formen, Ritualen religiöser Kategorien widergespiegelt werden kann. Augenfällig 27 sind zunächst schon die Rituale: Umzüge (vor der Feldherrnhalle oder auf dem Roten Platz), pompöse Inszenierungen wie etwa die Nürnberger Reichsparteitage, die Ehrungen der „Blutfahne", Mystizismen wie Blut, Rasse, Erde, Vorsehung (auch symbolisch) Ausdruck zu verleihen, die Rede vom „Meldegänger Gottes", die Grußgestik, das Charisma der Führer usw. Kirchensoziologisch könnte die „reine Lehre" angeführt werden, heilige Bücher, das neue Ketzertum, inquisitionsartige Verfolgungen, Dissidenten, Renegaten, Apostaten, Proselyten usw. Schließlich wäre kirchengeschichtlich die Negation der Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Macht, von Kult und Politik anzuführen. Hans Maier verweist auf eine Bemerkung Hermann Hellers: „Der Staat kann nur totalitär werden, wenn er wieder Staat und Kirche in einem wird, welche Rückkehr zur Antike aber nur möglich ist durch eine radikale Absage an das Christentum." (S. 126). Im Zentrum von Maiers Ansatz dürfte folgende Feststellung stehen: „Für all dies ist der Begriff der »politischen Religion4 eine vielleicht unzulängliche, aber doch vorläufig - wie ich meine - unentbehrliche Kennzeichnung. Erinnert er doch daran, daß sich Religion nicht beliebig aus der Gesellschaft vertreiben läßt, daß sie, wo es 25

Eric Hoffer: Der Fanatiker, dt.: Reinbek 1965. Vgl. u.a. die Aufsatzsammlungen „Totalitarismus und Politische Religionen", 2 Bde, Paderborn 1996 und 1997 und verschiedene Aufsätze Maiers. Wilhelm Hennis (Anm. 4) spricht von „politischen Ideologien, die sich zu politischen Religionen verhärten." Über den Zusammenhang von Religion, Weltbild und ideologischen Systemen siehe auch Eugen Lemberg: Anthropologie der ideologischen Systeme, Weinheim 1977, S. 17 und früher schon: Ideologie und Gesellschaft. Eine Theorie der ideologischen Systeme, Stuttgart 1971. 27 Hans Maier: „Totalitarismus" und „Politische Religionen". Konzepte des Kulturvergleichs, in: Jesse 1996, S. 124 ff; ders: Verführung und Massenrausch, in: Politische Meinung 333, August 1997, S. 55 ff. 26

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versucht wird, in oft unberechenbarer, pervertierter Gestalt zurückkommt. Insofern sind die modernen Totalitarismen auch ein Lehrstück über rechte und falsche Aufklärung - ein Appell von der schlecht informierten an eine besser zu informierende Moderne." 8 Die weiterführenden Ansätze beanspruchen für sich aber nicht, als regelrechte Alternativen interpretiert zu werden, wie z.B. die Titel der Forschungsprojekte und Publikationen der Münchner Forschungsgruppe schon signalisieren. Sie belegen aber, daß dem Konzept noch immer neue Seiten abgerungen werden können. Ebenso, wie auf diese Fortentwicklungen nicht mehr verzichtet werden sollte, seien im folgenden drei neue theoretische Überlegungen angestellt und vorgeschlagen, die das Untersuchungsobjekt weiterentwickeln könnten, um den Vorwurf des Scheiterns29 zu entkräften. Zum ersten dürfte das personale Element zu betonen eine notwendige Komplettierung der Theoriebausteine sein. Es ist unerläßlich bei der Beurteilung von Parteiführungen und Parteiführern, von Machtergreifungsstilen, von allen Führungsfragen der Diktaturen 30 in Friedens- wie in Kriegszeiten. Wie erwähnt, Gorbatschow als Stichwort 31, ist es auch ein Erklärungsmoment bei der - unbeabsichtigten - Beendigung spättotalitärer Herrschaft. Auch der Personenkult ist z. T. ein Beleg für diese These, zum Teil nur, weil auch außerhalb der unmittelbaren Parteispitze Personalfragen wichtig sein können. Das personale Element spielt selbstverständlich auch in anderen Herrschaftsformen eine erhebliche Rolle und es hat seine Tradition, die über die Regenten- und Fürstenspiegelliteratur 32 bis hin etwa zur Tradition der plutarchischen Doppelbiographien, aktualisiert von Alan Bullock am Beispiel Stalin/Hitler, zurückverfolgt werden mag. Insgesamt gesehen kann das personale Element ein Stück weit als Gegenkonzept verstanden werden i. S. Malias (s. o.) zur überschätzten Rolle der So28

Hans Maier: »Politische Religionen4 - Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, in: ders. 1997, S. 310. 29 Vgl. insbesondere die entsprechenden Einwände von Hans Mommsen, die hier berücksichtigt werden, etwa in den Aufsatzsammlungen von Maier und Jesse und darüber hinaus. 30 Erhard Stölting: Charismatische Aspekte des politische Führertums. Das Beispiel Stalins, in: Richard Faber (Hrsg): Politische Religion - religiöse Politik, Würzburg 1997. 31 Siehe das bemerkenswerte Zitat Bernard Lewins aus dem Jahr 1977 im Aufsatz von G. Bence / S. M. Lipseî: Der wohlfundierte Irrtum. Die Sowjetologie und das Ende des Kommunismus, in: Transit 1995, S. 109. 32 Hans-Otto Mühleisen / Theo Stammen / Michael Philipp (Hrsg.): Fürstenspiegel der frühen Neuzeit ( = Bibliothek des deutschen Staatsdenkens), Frankfurt/M 1997.

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zialgeschichte in der Totalitarismusforschung, ohne deshalb die überholte Geschichtsschreibung als die Taten großer Männer reaktivieren zu wollen. Aber auch die Eliteforschung weist auf die sog. opinion leaders hin, deren Wirkung mehr Aufmerksamkeit verdient, wiederum reflektiert vor der (Über-)Betonung gesellschaftlicher Einflußfaktoren. Sehr zu Unrecht vernachlässigt wird die elementare Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Entstehung totalitärer Herrschaft und in der Folge die Geburtsfunktion des Krieges und des Kriegserlebnisses schlechthin. Der Erste Weltkrieg galt George Kennan als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" und Lenin hatte ihn zuvor schon gelobt als den „größten Regisseur der Weltgeschichte".33 Der Krieg ist die Geburtsstunde und Prägephase aller Totalitaristen der ersten Generation34. Aus der Kriegserfahrung sind die in Deutschland so genannten Gewaltregime entstanden, zu denen Aufmärsche, Uniformierungen, Freund-Feind-Denken gehören und aus dieser Erfahrung entspringt der Terror, dessen geistige Vorgeschichte erst nach dieser Zivilisationskatastrophe aktualisiert wird. Der Erste Weltkrieg ermutigte gewaltbreite Kräfte, 35 ihrerseits Krieg mit anderen Mitteln, aber jetzt innerstaatlich, durchzusetzen, bürgerlich-zivile Gewaltentrennungen zu beenden, das gesellschaftliche Leben zu militarisieren. Krieg ist ein systematischer Bestandteil des zu erklärenden Phänomens und von kausaler Bedeutung. Die Kriegsbereitschaft der monarchisch-autokratischen Kräfte 36 vor dem ersten Weltkrieg 37 rief noch gewaltbereitere Kräfte auf 33 Lenin-Werke, Moskau 1958 ff., Bd. 31, S. 13 zit. nach Leonid Luks, in: Jesse 1996, S. 371, ein besonders empfehlenswerter Aufsatz. Vgl. ebd. Solschenyzin- und Patocka-Zitate (S. 409 f.) nach J. Rupnik; Ernst Nolte: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen, München 1968, S. 16/17. 34 Der Satz möge bedeuten, daß keiner der Totalitaristen der Vorläufer ("Nexus") des anderen ist, sondern daß sie gleich-ursprünglich, individuell entstanden sind, auch wenn die Machtergreifungszeitpunkte zeitlich weit gestreut sind und so der Eindruck einer Sukzession entsteht. 35 Deren Stunde schon lange gekommen zu sein schien oder erwartet wurde, wie Marx und Engels über Jahrzehnte spekulierten, vgl Low (Anm. 17) und Heinrich August Winkler: Die Revolution als Gegenrevolution, in: FAZ vom 7. 11. 1997. „Daß es auch ohne den Ersten Weltkrieg zur Revolution der Bolschewiki gekommen wäre, darf man wohl ausschließen. " (ebd.). 36 Das nationale und das demokratische Prinzip der Französischen Revolution von 1789 war im 19. Jahrhundert noch zu schwach gebheben in den dynastisch agglomerierten Vielvölkerstaaten. Die Wirkungslosigkeit der beiden Prinzipien besonders in Deutschland und Österreich-Ungarn ließ den Hohenzollern, Habsburgern, Romanows viel zu lange Zeit für ihre überkomenen Lösungsmodelle. Totalitäre Kräfte nutzten die Krise und die Macht und Selbstbestimmung der Nationen und Demokratien wurde auf Jahrzehnte, z. T. bis 1989/91, verschüttet. Mit dieser posttotalitären Last sind insbesondere die osteuropäischen Länder befrachtet.

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den Plan, die in den Zwischenkriegsjahren eine autoritäre und totalitäre Welle in Europa begünstigten. Deshalb ist nach dieser Analyse der Zweite Weltkrieg die logische Konsequenz des Ersten. Für die Totalitarismusforschung hat diese neue Akzentsetzung auf Krieg und Gewalt zur Folge, daß die Totalitarismustheorie nicht allein aus der Demokratietheorie als Widerpart abgeleitet werden kann - mit der Konsequenz der Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft - , sondern auch die staatswissenschaftliche bzw. rechtliche Staatszwecklehre mit ihrem Ziel der innerstaatlichen Friedenssicherung heranzuziehen ist, denn die innerstaatliche Friedenspflicht war im Prozeß der Machtursurpation zerstört worden. Die innenpolitische Feinderklärung von kulturellen oder sozialen Bevölkerungsgruppen durch Bolschewisten/Kommunisten und Nationalsozialisten zerstörte die Friedensordnung - wie immer ansatzweise sie z. B. im zaristischen Rußland bestanden haben mag. Insofern ist auch die Zivilgesellschaft stärker als Oppositionskategorie zum Totalitarismusbegriff heranzuziehen. Für diesen Interpretationsansatz sprechen auch die Putschversuche in St. Petersburg 1917, Rom 1922 und München 1923, von denen bekanntlich zwei gelangen. Weiter ist mit dem Ansatz auch sehr gut die Bereitschaft totalitärer Regime unterschiedlicher Phasen zur Hochrüstungspolitik verknüpfbar, oder die Bereitschaft und Fähigkeit (bis zum Juni 1989 in Peking) zur Niederschlagung von Volksaufständen 38, desgleichen die militärisch-polizeiliche Ausrichtung, ja Mobilisierung der politischen Trägergruppen: Schutzstaffeln, Sturmabteilungen, Gestapo, dzierzynskistische Truppenaushebungen, Squadre d'azione, Eiserae Garde etc. Weitere Stichworte wie die Jüngersche Formel vom Kampf als innerem Erlebnis oder die trotzkistische Formel von der - antibürgerlichen, antirechtsstaatlichen - permanenten Revolution wie die Mobilisierung einer Kulturrevolution später von Mao gegen den Zusammenbruch des chinesischen Kommunismus sind anzuführen. Im übrigen ist die elementare Bedeutung der Gewalt als tragendes Moment der politischen Kultur des Totalitarismus zu nennen - „Politik im Zustand der 37

Für diesen Zeitraum gilt der Satz von Karl Otto Hondrich: „Nicht im Krieg, im Frieden (...) sind die Ursachen für die Entzweiung zu suchen, die zum Kampf führt", Lehrmeister Krieg, Reinbek 1992, S. 52. Das gilt auch für die über siebzig Jahre konservierten nationalen Konflikte. 38 Zur eindrucksvollen Vergegenwärtigung einer dieser Aufstände sei die journalistische Dokumentation zum Ungarnaufstand empfohlen, hrsg. vom Free Europe Commitee: Die Volkserhebung in Ungarn. 23. Oktober 1956 - 4. November 1956. Eine Chronologie der Ereignisse im Spiegel ungarischer Rundfunkmeldungen, München o. J. (1956). - Zur oben empfohlenen Zivilgesellschaft vgl. jetzt den schönen Beitrag von Wolf gang Merkel und Hans-Joachim Lauth: Systemwechsel und Zivilgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte vom 30. 1. 1998, S. 3 ff.

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Mobilmachung" - , die z. T. offen bekundet wird, wenn Lenin etwa ohne Camouflage die bolschewistische Diktatur als „eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist" 39 , preist. Schließlich ist auch die Gewaltlegitimation durch den Marxismus / Leninismus in der Vormachtergreifungsphase zu erwähnen: der auch als Begründung, in Rußland unmittelbar vom Kapitalismus zum Sozialismus sich katapultieren zu wollen diente und zwar bewerkstelligt über die deutlich angekündigte Diktatur des bzw. de facto über das Proletariat und was man darunter verstand. Zusammenfassend läßt sich zu diesem, meiner Ansicht nach essentiellen Baustein der Totalitarismusforschung sagen, daß Krieg bzw. ein latenter oder manifester Bellizismus nach innen und außen die pulsierende Quelle der kriminellen Energie der Totalitaristen aller Länder gewesen ist. Es gab für sie eine Pädagogik des Krieges, Lernen aus bellizöser Vorteilnahme, Lernen aus gegenseitiger Beobachtung40 - unabhängig von zustimmenden oder ablehnenden Haltungen zum Krieg. Auch die zweite Generation der Totalitaristen bleibt interventionsfahig auf dieser Linie. Erst die dritte Generation gewinnt Distanz - bis hin zur Distanz zu allem Gewalt-Denken (Gorbatschow): was das Ende der Regime bedeutet, weil, so die Argumentation hier, die Regime von Anfang an nur gewaltfundiert sich behaupteten, die öffentliche Meinung nicht auf ihrer Seite hatten und deshalb stets zu Wahlmanipulationen greifen mußten. Ein dritter, kultureller Faktor wäre als weiteres Supplement anzuführen, wenn, wie eingangs vorgeschlagen, über den europäischen Horizont hinaus39 Zitiert nach Hans Maier: Totalitäre Herrschaft - neubesehen, in: Th. Nipperdey / A. Doering-Manteuffel / H.-U. Thamer (Hrsg): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte, Berlin 1993, S. 234. - „Politik im Zustand der Mobilmachung", so Hans Maier: Voraussetzung und Durchbruch totalitärer Politik im 20. Jahrhundert, in: Klaus-Dieter Henke (Hrsg.): Die Verführungskraft des Totalitären ( = Berichte und Studien Nr. 12 des HAIT der T U Dresden), Dresden 1997, S. 14. 40 Gegenseitige Beobachtung und Krieg als katalysatorisches Ereignis unterschiedlich denkender Totalitaristen besagt, daß es eine wenig ergiebige Diskussion ist im Gleise von Nolte und Furet, die Aufeinanderfolge, wie ich meine, der Drillingsgeburt zu sezieren. Nur der Erste Weltkrieg machte totalitäre „Lösungen" lange schwelender und anstehender und virulenter politischer Fragen und Weltanschauungspositionen möglich. Verwandtschaft und Nähe der Ausgeburten sind ebenso deutlich wie die spätere Bruderkriegskonstellation. Inter-se-Vergleiche sind zwingend angebracht; sie zeigen deutliche Unterschiede der Nahverwandten. - Zum gegenseitigen Beobachten und Plagiieren vgl. Karin Wielands Aufsatz über Ruth Fischer, in: Söllner (Anm. 3), S. 117 ff, S. 125.

Eine geistesgeschichtlich interessantes Thema bestünde darin zu fragen, ob der Erste Weltkrieg im beschriebenen Sinne auch die Stunde der posthistoire - lange vor Fukuyama - ist nach der Vorstellung Arnold Gehlens über die kulturellen Kristallisationen. (Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 322-325).

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geblickt werden soll. Dabei ist an Formen asiatischer Despotien zu denken41; oder an Herrschaftstraditionen Ostasiens, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Mit dieser Supplementierung der Totalitarismustheorie „essentials" totalitärer Herrschaft erweitert.

wurden die

Im Folgenden soll in einem zweiten Theorieabschnitt eine zeitliche Differenzierung im totalitären Herrschaftstyp herausgearbeitet werden, womit die Totalitarismustheorie ihre Dynamik unter Beweis stellen kann. Mit anderen Worten, wir überarbeiten das Konzept bezüglich des Einwandes, zu monolithisch zu sein, Wandel nicht erklären zu können. Ich schlage hier deshalb eine komparative Typologie totalitärer Entwicklungsphasen vor, die die Verlaufsformen des totalitären Energiepotentials im 20. Jahrhundert aufzeigt. Bildhaft-plastisch formuliert handelt es sich um eine Art politischen Vulkanismus. Typologie totalitärer

Entwicklungsphasen

Vorläuferphase bis zum I. Weltkrieg Erster Weltkrieg: Geburts- und Kristallisationsphase Aufbauphase (20er Jahre) Ultratotalitäre Phase, ca. 1930-1953/56 Spättotalitäre Phase, 1956-1989 Posttotalitäre Phase nach 1989/91

Zur Erläuterung sei angeführt, daß alle Phasen in sich und im internationalen Vergleich weiter differenzierbar sind. So könnte in der spättotalitären Phase etwa, in der Sowjetunion bis ca. 1985 eine poststalinistische Phase darstellbar sein. Die Typologie läßt mithin die These zu, daß sich die Regime in sich wandelten, ohne daß sich allerdings der totalitäre Gesamtcharakter än-

41 Karl August Wittfogel: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Frankfurt 1977 (1. Aufl. 1957). Bemerkenswert ist die Unterschätzung der totalitären Energien Mao Tse-tungs bei Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. 3, Totale Herrschaft, Frankfurt 1975, S. 10 f., Vorwort, in welchem sie 1966 auch die Sowjetunion „im strengen Sinn des Wortes nicht mehr totalitär nennen mag" (S. 24).

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derte42. Auch in der SU Gorbatschows wurden Gewaltlösungen noch 1989 vorgeschlagen, um z.B. die DDR zu halten. Auch in der VR China der Epoche Dengs wäre die Gewaltlösung vom Juni 1989 nicht ohne weiteres zu erwarten gewesen. Der Vulkan schien erloschen zu sein. Der makropolitische Vergleich auf der Zeitschiene legt das erwähnte Bild eines vulkanartigen Ausbruchs nahe, der sich in der Sowjetunion nach den eruptiven 20er, 30er und 40er Jahren langsam abschwächte, aber dennoch nicht auszuschließen war. Die Typologie stellt ein prozessorales Modell der primären totalitären Regime dar, aus denen und durch die weitere Systeme im Zeitablauf entstanden sind. Die Typologie offenbart phasenspezifische Unterschiede der Machtausübung. Die totalitäre Energie der Stalin- oder Hitlerära ist eine andere als die zu Zeiten Honeckers. Diese notwendigen Unterscheidungen lassen dann auch einen ansonsten nicht ohne weiteres möglichen Vergleich der beiden Diktaturen auf deutschem Boden zu. Schließlich legt die Typologie die Interpretation nahe, daß mit ihr - Stichwort „spättotalitär" - schon Erklärungen und Hypothesen verknüpft werden können. So hatte die frühe DDR der fünfziger Jahre sicherlich stalinistische Statur, während die DDR der achtziger Jahre in ihrem polizeistaatlichen Repressionstypus43 wohl eher spättotalitärer Provenienz war. Damit ist zugleich, methodologisch gesehen, eine Modellreihe totalitärer Regime44 aufgebaut. 42

Vgl. auch Bracher (1987), a.a.O., S. 148. Zur polizeistaatlichen Repression in der DDR: H. Knabe: „Weiche" Formen der Verfolgung in der DDR. Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker, in: DA 5/97, S. 709-719; Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur, Bonn 1997; Karl Wilhelm Fricke: Das Ministerium für Staatssicherheit als Herrschaftsinstrument der SED - Kontinuität und Wandel, Ms/Referat Enquete-Kommission vom 15. 1. 1993; Siegfried Mampel: Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996. 44 Jens Hacker kommt das Verdienst zu, das Scheitern der immanenten Systeminterpretation der Ludz-Schule und ihrer Adepten aufgezeigt und ihr die Verantwortung zuzuschreiben, die real existierende Diktatur der DDR camoufliert zu haben. Ludz hat die Totalitarismustheorie entzahnt und so für die DDR ungefährlich gemacht, z.B. mit folgenden Sätzen: „Eine sich wandelnde Gesellschaft jedoch, in der Terror und Zwang zwar vorhanden sind, jeweils aber einen anderen Stellenwert einnehmen, ist offenbar weder mit dem Ideal- noch mit dem Durchschnittstypus ,totalitäres System4 adäquat zu fassen." (Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaften, in: B. Seidel / S. Jenkner (Hrsg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 2. A. 1974, S. 541). Wippermann, ein unverdächtiger Zeuge dabei, weist auf Sontheimer / Bleek, Dähn, Staritz, Glaeßner hin, die diese These übernommen hätten (S.37). Wippermann erwähnt dort auch die „allerdings extrem polemische Kritik der alten DDR-Forschung" durch Klaus Schroeder / Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status Quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannung, Berlin 1992; 43

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Im Ergebnis kann an der Vergleichbarkeit totalitärer Systeme prinzipiell festgehalten werden, die einzelnen Systeme und Bewegungen werden über die Typologie in sich phasenspezifisch sortiert, z.B. die SU zwischen 1917 und 1991. Und schließlich trägt die Typologie zu einer gewissen Historisierung bei. Meines Erachtens ist es unerläßlich, in einem dritten Theorieabschnitt die bereits oben angedeutete systematische Differenzierung nun nicht mehr auf der sog. Zeitschiene, sondern innerhalb des Herrschaftstyps vorzunehmen45, d.h. es soll in einer abschließenden Gliederung besonders auf die Unterschiede innerhalb des Totalitarismusmodells von Herrschaft eingegangen werden. Mindestens acht Differenzierungspunkte lassen sich nennen, die synchron, diachron und interkulturell angewandt werden können. Differenzierungen

innerhalb totalitärer

Herrschaftsformen

1. Dauer; Wandlungsformen 2. Reichweite der totalitären Durchdringung der Gesellschaft 3. Ausmaß der verbrecherischen Energien: Terror; Opfer; Entstehung von Dissidenz 4. Konsistenz der totalitären Ideologien: theoretische Begründungen, simulierte Einheitlichkeit, Finalität 5. Intensität ideologischer Mobilisierung 6. Formen der Herrschaftsstruktur: monokratisch, polykratisch, doppelstaatlich, nomenklatural, dyarchisch u.a.m. 7. Expansionismus und Risikobereitschaft; Überdehnungsgefahr 8. Filiationsfahigkeit und Satellitenbildung, Revolutionsexport

Dazu einige Bemerkungen und Erläuterungen: 1. Die Regime hatten sehr unterschiedliche Lebensdauer, was zu berücksichtigen ist im Vergleich etwa der deutschen Diktaturen: die länger währende

bezeichnend für Wippermanns Traktat heißt es S. 101, Anm. 32, das Buch (Schroeder / Staadt) sei „geradezu denunziatorisch" wirkend. Zur Vernetzung und Schulbüdung der Τ ota\itansm\is-Kritiker - in Berlin bezeichnenderweise - vgl. H. Buchstein (Söllner 1997, S. 239 - 266). Vgl. auch oben die Anm. zu E. Eppler. Erstaunlich unabhängig und offen auch der „Tageszeitungs"-Beitrag vom 20. 10. 1995: 68er im Dienste der Diktatoren, von Falco Werkentin, S. 12-13. 45 Vgl. dazu insbesondere auch Ian Kershaw (1994), Jesse 1996, S, 213 ff.

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hat Wandlungsformen erlebt, die kürzer dauernde eher nicht, es sei denn, man unterscheidet zwischen Kriegs- und Friedenszeiten des Dritten Reiches. 2. Die Reichweite der totalitären Durchdringung der Gesellschaft ist im Dritten Reich, z.B. in der Friedensphase, weniger stark als in der gleichzeitig existierenden SU. Entsprechend hat es im Dritten Reich Raum für eine Widerstandsbewegung gegeben, die es in dieser Form nicht in der DDR und schon gar nicht in der Sowjetunion gab. 3. Das Ausmaß der verbrecherischen Energie unterschied z.B. DDR und UdSSR. In der DDR hat es nie einen stalinistischen Massenterror 47 gegeben, dafür entstand sie zu spät. Auch über die Opferzahlen lassen sich Unterschiede belegen. Dissidenz ist ein Kennzeichen spättotalitärer Regime, die aber, um es nochmals zu betonen, immer noch als totalitär i. S. von Agnes Heller bezeichnet werden müssen. Stichworte wie „autoritär" oder „bürokratisch", wenn sie anstelle von „totalitär" angeführt werden, können unzulässig verharmlosend wirken und das totalitäre Potential dieser Regime Mittel- und Osteuropas unterschätzen.48 Das Franco-Regime mag eher als nur noch autoritär tituliert werden. Widerstand i. S. bewaffneter Opposition kennzeichnet - bisheriger Kenntnisstand - mehr rechtstotalitäre Regime in Kriegszeiten. Ein Stephan Bandera hatte in der Ukraine nur eine kurze (militärische) Chance der Entfaltung. 4. Natürlich unterscheidet sich die Konsistenz totalitärer Ideologien etwa bezüglich des ideologischen Begründungsaufwandes, besonders wenn man an den Marxismus denkt. Auch über den Ansatz der Politischen Religionen kann dieser Punkt erläutert werden. Der Nationalsozialismus als ideelles Produkt läßt sich jedenfalls im Vergleich zum Sozialismus nur im Zusammenhang mit dem personalen Element, „Hitlers Weltanschauung" (E. Jäckel)49, darstellen, ansonsten müßten Rosenberg, Hess, Himmler usw. ernster genommen worden sein oder das NSDAP-Parteiprogramm als Herrschaftsdokument Bedeutung haben. Im rechtstotalitären Weltanschauungsbereich ist eher von Weltan46 Ulrike Poppe / Reiner Eckart / Rko-Sascha Kowalczuk (Hrsg): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995; Detlev Pollack / Dieter Rinck (Hrsg): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970- 1989, Frankfurt 1997 (vgl. dazu Rezension von Clemens Vollnhals in der SZ v. 24. 1. 1998, S. 10); Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997. 47 Vgl. dazu Hermann Weber: Terrorherrschaft. Bemerkungen zu den stalinistischen Parteisäuberungen, in: Deutschland Archiv 31, Heft 1, 1998, S. 37 ff. 48 „Der Spät-Totalitarismus in kommunistischen Systemen ist trotz Anfechtung der Ideologie noch immer mächtig genug, jede Opposition von Dissidenten zu ersticken, wenn das gerade zweckmäßig erscheint." K.-D. Bracher, in: Low 1988, S. 24; vgl. ebd. Funke, S. 56. 49 H. Buchheim: Totalitäre Herrschaft, München 1962, S. 30 u. S. 41.

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schaung als von Ideologie auszugehen. Eine Einheit ergibt sich allerdings eher populistisch in der Propaganda, die ansonsten doch eher simuliert wirkt. Ebenso wie die Konsistenz läßt sich - trivial, aber differenzierungswichtig - die unterschiedliche Finalität der Totalitarismen benennen ("Volksgemeinschaft"; „klassenlose Gesellschaft"). Linkstotalitäre Parteien sind - mutativ - noch immer oder bereits wieder in politischen Kulturen mancher Demokratien nachweisbar und scheinen sich adaptiv-moderat erhalten zu können50 5. Die Intensität der ideologischen Mobilisierung ist im nationalsozialistischen Deutschland, aufgrund der erwähnten populistischen Tendenzen anfangs jedenfalls größer (Ian Kershaw) gewesen als in der DDR, da der Sozialismus deutlich als Import und Oktroi empfunden wurde 51; entsprechend fand ein gewisses Arrangement mit ihm erst viel später statt, das auch erfolgen mußte, weil außenpolitisch keine Veränderungschance sich abzeichnete. Die „permanente Revolution" (S. Neumann)52 war mehr ein Kennzeichen ultratotalitärer Phasen. 6. Die totalitären Herrschaftsformen sind über ein weites Spektrum gespreizt. Das NS-System wird als polykratisch charakterisiert, früher bereits auch als doppelstaatlich. Die SU kennt eine nomenklaturale, aber auch eine stärker zugespitzt monokratische Herrschaft unter Stalin. Der italienische Typus, dyarchisch, ist durch die monarchische Mitregentschaft ausgezeichnet. Jeweils ist natürlich die stabilisierende Rolle aller Sicherheitskräfte zu sehen. 7. Das NS-System ist von Anfang an (im Aufbruch das Ziel) durch seinen Expansionismus geprägt, weshalb die Nation als Basis des Regimes auf längere Sicht nicht tragfahig geblieben wäre, zumal bereits in der Rassenideologie prinzipiell über das Nationale hinaus gedacht wurde. Militärisch-expansiv, so wie auf jeden Fall das Dritte Reich von Erfolg zu Erfolg vorwärtseilend und voluntaristisch angelegt war, war andererseits die Sowjetunion allenfalls zeitweise; entsprechend ist sie nicht von Überdehnungen ihrer großen Eroberungen geplagt, wohl aber das vielfrontige Dritte Reich ganz intensiv. Das maßlose Größenwachstum der Einflußsphäre gab es sowjetischerseits auch

50 Die erstaunliche Überlebensfahigkeit kommunistischer und postkommunistischer Parteien in Westeuropa legt der Band „Der Kommunismus in Westeuropa. Niedergang oder Mutation?" offen, hrsg. von Patrick Moreau, Marc Lazar, Gerhard Hirscher, München 1998. 51 E. Jesse formuliert dazu: „Das Dritte Reich wurde von innen gestützt und von außen gestürzt, die DDR - gerade umgekehrt - von außen gestützt und von innen gestürzt" (in: H. Maier 1996, S. 282). 52 In vielen Punkten schließe ich mich Neumanns Werk an, dem Alfons Söllner (Anm. 3, S. 53 ff.) ein Denkmal gesetzt hat.

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und in größerem Umfang, aber es ließ sich konsolidieren (siehe 8.) und es wurde nicht gegen alle Widerstände durchgesetzt. 8. Nur die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat bis hin zur SBZ/DDR - als Kriegsfolgeprodukt - ihre Filiationsfahigkeit unter Beweis gestellt und ein engeres (Mittel-/Osteuropa) und weiteres, globales Satellitensystem aufgebaut, was Italien nie und Deutschland nur auf fragile Weise gelang - eine geopolitische Konstellation, die die Machtstellung der SU für Jahrzehnte garantierte. Und erst das Herauslösen eines tragenden Satellitenbausteins, der DDR 1989/90, ließ den gesamten, ökonomisch-militärisch bereits erschütterten53 Machtkomplex erodieren. Die Satellitenthese lautet, daß im Zentrum des totalitären Systems sich entweder das Drittes Reich (Hitler) befanden oder die Sowjetunion (Stalin). Darum herum - räumlich, aber auch zeitlich gesehen (SU und Warschauer Pakt-Staaten etwa) - kreisten Planeten, z. T. ferne, aber doch Planeten, wie etwa die DDR. Entsprechend der unterschiedlichen Konsistenz der Ideologien, ist im Falle der SU ein Revolutionsexport bestens, sogar über ihren Tod hinaus, gelungen, was dem Dritten Reich und dem Faschismus in seiner kürzeren Lebenszeit kaum gelang. Im Unterschied zum Sozialismus waren Faschismus und Nationalsozialismus nicht als universalisierbare Ideologien propagiert worden, sondern als machtstaatliche, partikulare Produkte. In Deutschland-Österreich war die NS-Revolution noch dazu mit einem Rassehochmut, auch in Gestalt des Antisemitismus, verbunden, der allenfalls als krude Rassenideologie exportierbar war und an die antisemitischen Vorurteile in vielen Ländern anknüpfen wollte. Sich befreit fühlende Ostvölker wurden rasch belehrt, daß die Wehr- macht und sonstige nachfolgende Truppen keine (inter-)nationale Befreiungsarmeen waren. Die Anwendung dieser um Differenzierung bemühten Ausführungen läßt den Vergleich des ultratotalitären Dritten Reiches mit z.B. der spättotalitären DDR nun eher zu, 54 d. h. die Problematik diachroner Vergleiche, von brachialer (NS) einerseits und subtiler Gewalt (H. Knabe a.a.O.) und struktureller Repression, woraus die weite Topographie des sanften Terrors der DDR entsteht, andererseits, wird komplex erfaßt, ohne daß es zu einer Verharmlosung der DDR kommt angesichts der nur in Genoziden sich auswirkenden ultratotalitären Systeme Hitlers und Stalins.55 Unterschiedliche Systeme56 wer53

Vgl. entsprechende Schriften Hermann von Bergs. Siehe auch den instruktiven Beitrag von G. Heydemann / Ch. Beckmann: Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturvergleichs, in: DA 1/97, S. 12-40. 55 Einem Vergleich DR/DDR ist in Deutschland nicht zu entkommen, zumal man ihn mit den hier vorgeschlagenen Analyseinstrumenten bewältigen kann. Insofern sind Einwände (I. Geiss), es sei nur sinnvoll, die jeweiligen Groß-Totalitarismen zu ver54

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den je spezifisch, aber innerhalb eines gemeinsamen Rahmens dargestellt. Darauf kommt es besonders in Deutschland an. Von einem Scheitern des Totalitarismusmodells ist daher vernünftigerweise nicht mehr zu sprechen57. Über einen derartiger Neuansatz könnte dann weiter zu klären sein, ob der manifeste Radikalislam mit seinen terroristischen Kennzeichen nicht als eine Form totalitärer Herrschaft genauer untersucht werden müßte. Es wäre weiter der Status spätsozialistischer Gesellschaften unserer Tage zu untersuchen und es wäre untersuchungswürdig, inwieweit aus politischen Extremismen58 totalitäre Gefahren wachsen können. Auch das Fortbestehen (ehemals) kommunistischer Parteien nach dem Untergang der schützenden Sowjetunion in Staaten außerhalb des ehemaligen Ostblocks wird zu beobachten sein, wobei an die

gleichen zwar naheliegend, aber unbefriedigend und nicht ausreichend. Die DDR konnte nicht mehr ultratotalitär auftreten und auftrumpfen, wie es auch in der Herbst/Winter-Krise 1989 niemand wagte zu tun, der eiserne Vorhang barg nicht mehr. Die spättotalitären Staaten konnten es sich nicht mehr leisten - Ausnahmen im außerkulturellen asiatischen Raum - , terroristisch vorzugehen. Es bestand ein Zwang zu subtileren Repressionsformen, die auch enorm entwickelt wurden und worunter die Opfer noch heute einsam leiden. Die Aufarbeitung dieser Variante totalitärer Repression ist justiziell jedenfalls so gut wie gescheitert. 56 Zur Unterschiedlichkeit der beiden deutschen Diktaturen, neben der offensichtlichen Differenz bezüglich des Holocaust, trug auch ein Bewußtseinsumstand bei: „Sicher ist aber, daß die Zerschmetterung des deutschen Nationalsozialismus und des japanischen Imperialismus den betroffenen Gesellschaften ein ganz anderes Gesicht gegeben hat. Ohne den Bruch, den der Krieg bewirkt hat, können wir uns die eigene Gesellschaft heute kaum vorstellen. Aber auch Gesellschaften, deren Identität durch den Krieg weniger gebrochen wurde, haben sich nie allein im Guten - lerntheoretisch gesprochen: durch Belohnung - entfaltet, sondern immer auch durch die Strafen des Krieges." K. O. Hondrich, a.a.O., S. 61. 57 Zwei Politiker-Zeugenschaften und ein Zeuge intellektueller Provenienz mögen die Anerkennung der Virulenz totalitärer Systeme und entsprechenden Denkens dokumentieren. Sehr zu Recht weist E. Jesse (1996, S. 9) daraufhin. Am 25. 12. 1991 findet Michael Gorbatschow in seiner TV-Abschiedsrede diese Worte: „Das totalitäre System, das unser Land über lange Zeit die Möglichkeit geraubt hat, aufzublühen und zu gedeihen, ist vernichtet." Und Boris Jelzin sagt gegenüber der US-Fernsehöffentlichkeit am 25. 12. 1991: „Unser Land weiß ihre Unterstützung und Hilfe für die in Gang gesetzte Wirtschaftsreform sowie für unsere Anstrengungen zur Überwindung des totalitären Albtraums zu schätzen, den wir als Erbe mit uns herumschleppen. " Und bei der 76. Anhörung der Enquete-Kommission zum SED-Unrecht am 4. Mai 1994 im Reichstags-Gebäude leistete nun auch Jürgen Habermas dem TotalitarismusKonzept Tribut, wobei er Aufgaben nach rechts und links verteüte: "Wo die Rechten zur Angleichung neigen, wollen die Linken vor allem Unterschiede sehen. Die Linken dürfen sich über die spezifischen Gemeinsamkeiten totalitärer Regime nicht hinwegtäuschen und müssen auf beiden Seiten denselben Maßstab anlegen. Die Rechten dürfen wiederum Unterschiede nicht nivellieren oder herunterspielen." Baden-Baden 1995, Bd. IX, S. 689 (jeweüs eigene Hervorhebung). Vgl. ebenda weitere Stellungnahmen zum Thema. 58

Vgl. dazu die Jahrbücher für Extremismus und Demokratie, 1989 ff.

Ist die Totalitarismustheorie gescheitert?

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oben gegebenen Hinweise auf die Sozialpsychologie und das rückversichernde Schreiben zu erinnern ist. 59 Als Ergebnis läßt sich jedenfalls festhalten, daß von einem starren Theoriegerüst keine Rede mehr sein kann. Längst ist die Berechtigung des Vorwurfs, politische Kampfformel zu sein (wenn je), auf die Kritiker zurückgefallen. Die Erklärungskraft der Totalitarismustheorie der erweiterten Fassung reicht aus, das Jahrhundert des Totalitarismus zu analysieren, wobei die Systemdifferenzierungen in synchroner, diachroner und systematischer Hinsicht vorzunehmen sinnvoll sein dürfte. Substantiieren wir das Ergebnis noch etwas im politikwissenschaftlichen Diskussionszusammenhang, so wird man sagen können, daß die gefestigte Totalitarismustheorie im 20. Jahrhundert auch als Ergänzung zur Demokratietheorie zu verstehen ist. Daraus ließe sich unschwer postulieren, daß die totalitäre Variante von Herrschaft wesentlich stärker beachtet werden müßte. Die totalitäre Versuchung60 hat auch die Demokratien heimgesucht und auch die Wissenschaften erfaßt gehabt61, wie wir sahen. Von daher dürfte es nicht überflüssig sein, ideologiekritisch das Terrain aufzuarbeiten und die Totalitarismustheorie im Kanon der Herrschaftslehre aufzuwerten. 59 Kann von diesem geistigen Klima gesprochen werden , dann können Vergleiche mit noch stärkeren Formen des Zusammenwirkens psychologisch aufklärend sein, etwa mit Jean-Paul Sartres Aussagen von 1945 „Was ist ein Kollaborateur?" Martin Kriele berichtet darüber: „Das entscheidende Faktum sei aber nicht die Tatsache der deutschen Besetzung Frankreichs allein. Entscheidend sei vielmehr, so Sartre, daß die Kollaborateure ,zunächst alle an den deutschen Sieg geglaubt haben!4" Kriele erinnert an die heidnisch-archaische Formel: „wer siegt, hat recht. " Die suggestive Kraft der Geschichtsphilosophie oder der „Verlust der moralisch-politischen Urteilskraft unter der psychologischen Wucht der normativen Kraft des Faktischen ..." sind die noch nicht diskutierten noch gar aufgearbeiteten Hypotheken der Vergangenheit im Westen. Martin Kriele: Das „Recht der Macht". Die normative Kraft des Faktischen und der Friede, in: Kontinent, H. 3/1983, S. 6-17, - eine Schrift, die zu den „essentials" der Totalitarismus- wie der Demokratieforschung zählen muß. 60 Jean-Francois Revel: Die totalitäre Versuchung, Berlin 1976. Vgl. auch die phantasievolle Schrift von Bernard Henri Lévy: L'Idéologie française, Paris 1981, die der allgemein wichtigen Frage nachgeht, warum in Frankreich keine totalitäre Variante eines Totalitarismus entstanden ist, obgleich doch nach Ansicht Lévys alle Voraussetzungen gegeben waren. Vgl. auch oben in Anm. 39 die Schrift K.-D. Henke. 61 Nochmals, belegend zu den Hinweisen in Anm. 59, das Resümee eines OstForschers: „Verblüffend ist aber, daß Liberale und Demokraten (wie Martin Greiffenhagen, Shlomo Avineri u.a.) irgendwelche für den roten Totalitarismus günstigere Nuancen und mildernden Umstände im Vergleich zum braunen Totalitarismus gefunden zu haben glaubten. Hier war der psychologische Druck zu spüren, der in jenen Jahren auf die Wissenschaftler ausgeübt wurde. „Ein scharf-kritisches Wort über den ,real existierenden Sozialismus' zu sagen, kam schlechtem Benehmen gleich." Assen Ignatow: Wer nicht unserer Meinung ist, ist voreingenommen, in: Geistige Welt vom 30. 8. 1997 (eigene Hervorhebung).

Aspekte des Maoismus als politisches System in China* Von Jürgen Domes Was mit China nach der kommunistischen Machtübernahme geschah, hat der deutsch-amerikanische Ostasienwissenschaftler Franz Michael in die folgenden Worte gefaßt: „Unmittelbar nach der Gründung der Volksrepublik wurde die bestehende Rechtsordnung außer Kraft gesetzt. Alle Gesetzbücher und Rechtsinstanzen wurden abgeschafft und nicht wieder ersetzt. Mao hat Zeit seines Lebens keine Gesetzesnormen akzeptiert, selbst nicht kommunistisches Recht, wie es in der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten entwickelt wurde. Die einzige Ausnahme bildeten Texte, welche die neuen politischen Strukturen festlegten, und, im gesellschaftlichen Bereich, das Ehereform-Gesetz zur Regelung eines Aspektes im privaten Leben, für den man Gesetzesvorschriften braucht. Anstelle von Gesetz und Recht setzte Maos neues Regime Massenbewegungen gegen vorgebliche Gegner ein ... die wichtigste Methode war Terror..." 1 Das Ausmaß der Rechtlosigkeit in China unter Mao war in der Tat ohne Beispiel in der ganzen Geschichte des chinesischen Reiches2 und umso bemerkenswerter, als gleichzeitig der Zugriff von Herrschaft auf Chinas Menschen eine Intensität annahm, die ebenfalls ohne ein geschichtliches Vorbild war. Der kaiserliche Staat hatte seine Kontrollstrukturen nie über die Ebene der Landkreise hinaus entwickelt, der republikanische Staat der Nationalisten war viel zu schwach geblieben, um alle Landesteile wenigstens bis zu dieser Ebene unter seine Kontrolle nehmen zu können. Auf dem Höhepunkt ihrer Machtentfaltung auf dem chinesischen Festland kontrollierte die Kuomintang im Sommer 1937 lediglich 24,5 Prozent des Landes mit ungefähr 66 Prozent * Für Jens Hacker, der in den zwei Jahrzehnten vor 1990 den sogenannten Experten in Wissenschaft und Medien der Bundesrepublik Deutschland unnachgiebig widersprach und immer wieder auf die grundlegende Instabilität des Regimes in der DDR hinwies. 1 Franz Michael, China Through the Ages. History of a Civilization, Boulder / London 1986, S. 211. 2 Vgl. auch Laszlo Ladany, Law and Legality in China. The Testament of a Chinawatcher, London 1992, S. 33-78.

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der chinesischen Bevölkerung.3 Unter Mao Tse-tung aber wurde China nicht allein administrativ vereinigt, sondern erstmals in mehr als zweitausend Jahren etablierte eine politische Zentralgewalt in China auch auf der Ebene der Großgemeinde und in einigen Landesteilen sogar in den Dörfern ihre Macht. Doch es war nicht ein Staat, der sich in diesem nie zuvor gekannten Ausmaß entfaltete, sondern die nunmehr regierende Kommunistische Partei Chinas (hinfort: KP Chinas). Wie in allen kommunistisch regierten Ländern war der Staat in China zu einem Instrument, einer „Maschine" oder auch einem „Apparat" in den Händen des Proletariats, verkörpert durch dessen sogenannte Avantgarde, also die Partei, geworden.4 Das Politische System Chinas unter Mao sollte in vielerlei Hinsicht demjenigen in der Sowjetunion gleichen, nach dessen Vorbild es organisiert worden war, und auch in vielem den marxistisch-leninistischen Einparteisystemen in Ost-und Südosteuropa ähneln. Gleichwohl wurden darüber hinaus Züge einer Eigenart erkennbar. Diese gaben zwar nicht, wie manche westliche Beobachter behaupteten, der nationalen Besonderheit Chinas Ausdruck, aber zeigten durchaus, welche Formen ein ganz und gar geschichts-und gesellschaftsfremdes Herrschaftssystem in einem Land wie China annehmen konnte. Die nationale Besonderheit Chinas drückte sich, wiederum ähnlich wie in allen anderen ehemals kommunistisch regierten Ländern, am ehesten im Vorgang des Verfalls kommunistischer Herrschaft aus. Die institutionelle Ordnung

Im Rückblick fallt in der Tat als wichtigstes Kennzeichen von Politik und Herrschaft in China unter Mao institutionelle Instabilität ins Auge. Die Herrschaftselite der KP Chinas bewegte sich nur solange im Rahmen ihrer eigenen Statuten und gesetzlichen Normen, wie diese sie nicht an der Durchsetzung ihrer Ziele zu hindern schienen. Die formelle Organisation spielte mit der Ausnahme der Jahre 1954 bis 1957, also von den insgesamt 28 Jahren 23 Jahre lang nur eine untergeordnete Rolle in der Politik. Vier Parteistatute lösten einander in diesen Jahren ab.5 In demselben Zeitraum wurde die provisorische Verfassung von 1949 von zwei endgültigen Verfassungen abge-

3 Jürgen Domes, Vertagte Revolution. Die Politik der Kuomintang in China, 19231937, Berlin 1969, S. 681. 4 Vgl. Vladimir /. Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, Zürich 1902. 5 Das Parteistatut vom 26. September 1956 wurde von einem neuen am 14. April 1969, dieses am 28. August 1973 und das letztere nochmals am 18. August 1978 abgelöst.

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löst, 1954 und 1975, und die letztere 1978, zwei Jahre nach dem Ableben Maos, ersetzt. Von 1956 bis 1977 hielt kein Parteitag seine vorgesehene Frist ein. Das gleiche galt für die vom Parteitag gewählten Zentralkomitees (hinfort: ZK). Das VIII. ZK überschritt seine Amtszeit um fast acht Jahre, das IX. amtierte vier Jahre und fünf Monate und das X. vier Jahre. Die statuarisch vorgesehene Amtszeit betrug fünf Jahre. Der Nationale Volkskongreß (hinfort: NVK) trat in 13 von 23 Jahren, in denen er formell amtierte, nicht zusammen: 1961, 1964, von 1966 bis 1974, 1976 und 1977. Ein Staatsoberhaupt der VR China - Liu Shao-ch'i, dessen Amtszeit offiziell im Januar 1969 endete - wurde im Oktober 1968 von einem von der Verfassung nicht dafür vorgesehenen Organ abgesetzt, nämlich einem ZK-Plenum, das für seinen Teil noch nicht einmal das statutengemäße Quorum aufwies. Im April 1976 ernannte das ebenfalls nach der Verfassung nicht zuständige Politbüro der KP Chinas einen Premierminister, den später vorläufigen Mao-Nachfolger Hua Kuo-feng, und setzte einen Vizepremier, Teng Hsiao-p'ing, ab. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Beobachtungen können wir zunächst vier Stadien im Vorgang der Herausbildung einer Herrschaftsstruktur in der VR China zwischen 1949 und 1977 unterscheiden: Im Laufe des ersten Stadiums von 1949 bis 1954 entstanden unter der Führung einer sogenannten Einheitsfront, an der sich neben der KP Chinas acht nichtkommunistische Parteien beteiligten,6 provisorische Organe einer zentralen Staatsmaschinerie. Die neuen Führer gaben ihre Regierung als eine Koalition aus, um, ähnlich wie in den Länder Osteuropas zwischen 1945 und 1953, die Herausbildung einer Einparteiherrschaft zu verschleiern. Diese Strategie sah unter dem von Mao propagierten Schlagwort „Neue Demokratie" eine Zusammenarbeit mit dem „Kleinbürgertum" und der „nationalen Bourgeoisie", also dem städtischen Großbürgertum und namentlich den Unternehmern, vor, solange die Kommunisten diese zur Konsolidierung ihrer Macht benötigten, und damit von vorn herein die souveräne Beendigung der Koalition durch die Kommunistische Partei zu einem ihr als genehm erscheinenden Zeitpunkt. Die nichtkommunistischen Koalitionspartner hatten sich dem Führungsanspruch dieser Partei von vorn herein zu unterwerfen und schon im Winter 1950/51 mußten sie auch die Beschränkung ihrer politischen Arbeit hinnehmen. Es wurde ihnen untersagt, sich zusammenzuschließen, Jugend- und Stu-

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Zur Geschichte und Struktur der nichtkommunistischen Einheitsfrontparteien vgl.: Lyman P. VanSlyke, Enemies and Friends. The United Front In Chinese Communist History, Stanford CA 1967, S. 208-219. 13 Festschrift Hacker

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dentenorganisationen zu bilden und Mitgliederwerbung unter Arbeitern, Bauern, Soldaten oder Kadern des Staatsverwaltungsapparates zu betreiben. Das zweite Stadium setzte mit der Verabschiedung einer endgültigen Verfassung am 20. September 1954 ein und dauerte offiziell bis 1975 an.7 Tatsächlich endete es aber bereits im Jahre 1966. Die Verfassung bezeichnete den NVK als das höchste Organ der Staatsmacht. Seine Mitglieder wurden indirekt, durch die Volkskongresse auf der Ebene der Provinzen und diesen gleichgestellten Verwaltungseinheiten auf vier Jahre gewählt und traten einmal im Jahr zu einer Sitzungsperiode zusammen. Dem NVK war alle gesetzgeberische Gewalt zugeschrieben. Er entschied auch über die Wirtschaftspläne und den Staatshaushalt. Das Staatsoberhaupt, der Vorsitzende der VR China, hatte, vom NVK gewählt, vorwiegend zeremonielle Aufgaben wahrzunehmen. In seiner ex officio-Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates war er gleichzeitig aber Oberkommandierender der Streitkräfte. Schließlich war er auch Vorsitzender der Obersten Staatskonferenz, eines Organs, das nach der Verfassung aus dem Vorsitzenden der VR China,,dem Vizevorsitzenden, dem Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des NVK, dem Premierminister und anderen Personen bestand, die der Vorsitzende der VR China zu seinen Sitzungen einzuladen wünschte. Von 1956 und 1965 sollte dieses Organ die Schaltstelle zwischen Partei und Staat in der VR China bilden.8 Zwischen den jährlichen Plenartagungen des NVK, die gewöhnlich zehn Tage dauerten, nahm der Ständige Ausschuß des NVK die Funktion dieses Organs wahr, der mit der Zustimmung des Staatsoberhauptes die Minister und Kommissionsvorsitzenden des Staatsrates ernannte und entließ. Der Staatsrat leitete den Staatsverwaltungsapparat an. Von September 1954 bis zu seinem Tode im Januar 1976 stand Chou En-lai als Premierminister dem Staatsrat vor, der zusammen mit den Vizepremiers - insgesamt zehn im Jahre 1954 und 16 in den Jahren 1959 und 1965 - ein inneres Kabinett bildete. Das Plenum des Staatsrates, das nur selten zusammenzutreten pflegte, umfaßte demgegenüber 40 Personen im Jahre 1954, 48 im Jahre 1959, 55 im

7 Chung-hua jen-min kung-he-kuo hisen-fa (Die Verfassung der Volksrepublik China), Peking 1954, englische Übersetzung in: Chen Jian, China's Road to the Korean War. The Making of the Sino-American Confrontation, New York 1967, S. 7592. 8 Von September 1954 bis April 1959 war Mao Staatsoberhaupt. Er wurde von Liu Shao-ch'i abgelöst, an dessen Stelle von Oktober 1968 bis Januar 1975 der Vizevorsitzende der VR China, Tung Pi-wu, in zeremoniellen Angelegenheiten fungierte.

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Jahre 1965 und am Vorabend der sogenannten „Kulturrevolution" im Frühjahr 1966 sogar 58 Mitglieder. Der Erste und Zweite NVK von 1954 beziehungsweise 1958/59 bestanden jeweils aus 1.226 Mitgliedern, von denen 986 die administrativen Einheiten auf der Provinzebene repräsentierten, 150 die nationalen Minderheiten, 60 die Streitkräfte und 30 die Überseechinesen. Der Dritte NVK von 1964 umfaßte 3.040 Delegierte, von denen 2.587 die administrativen Einheiten oder Provinzen, 300 die nationalen Minderheiten, 120 die Streitkräfte und wiederum 30 die Überseechinesen vertraten. Diese riesige Vertretungskörperschaft tagte nur ein einziges Mal: Vom 20. Dezember 1964 bis zum 4. Januar 1965. Dann begann mit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution", in deren Verlauf der Parteiapparat der KP Chinas ebenso wie der Staatsverwaltungsapparat zusammenbrachen, das dritte Stadium im Vorgang der Herausbildung einer institutionellen Ordnung. Es dauerte von 1966 bis 1969 und wurde im wesentlichen charakerisiert durch die Ersetzung der bisherigen Institutionen in Partei und Staat durch informelle, fluktuierende und irreguläre Strukturen sowie deren wachsende Beherrschung durch die Streitkräfte, die sogenannte Volksbefreiungsarmee (hinfort: VBA). Das vierte Stadium begann im Frühjahr 1969 mit dem schrittweisen Wiederaufbau von Partei- und Staatsapparat, der erst mit dem XI. Parteitag der KP Chinas im August 1977 abgeschlossen war. Der IX. Parteitag (1. bis 15. April 1969), dessen Delegierte nicht gewählt, sondern von der Führung um Mao Tse-tung und Lin Piao ernannt worden waren, hatte eine neues Parteistatut angenommen und mit diesem sowohl die „Ideen Mao Tse-tungs" neben dem Marxismus-Leninismus in das theoretische Gebäude der Partei aufgenommen als auch, im Gegensatz zu der Praxis fast aller anderen kommunistischen Regierungsparteien, Mao Tse-tung namentlich als Vorsitzenden der Partei auf Lebenszeit festgeschrieben. Darüber hinaus nannte es den Vizevorsitzenden, Verteidigungsminister Marschall Lin Piao, als den Nachfolger Maos.9 Auf diese Weise ratifizierte der Parteitag den Sieg Maos und seiner engsten Mitarbeiter über die gegnerische Fraktion in der Krise der „Kulturrevolution" und die führende Rolle, die das Militär im Laufe der Auseinandersetzungen in den Jahren 1967 und 1968 auf der politischen Szene gewonnen hatte. 85 der 170 Vollmitglieder des neuen ZK, also genau die Hälfte der Mitglieder dieses Gremiums, waren Vertreter der VBA.

9 Englischer Text des Statuts in: New China News Agency, London (hinfort: NCNA), Nr. 4102, 29. April 1969. Chinesischer Text in: Jen-min Jih-pao, Peking (hinfort: JMJP), 15. April 1969.

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Die siegreiche Fraktion brach jedoch bald auseinander. Der Sturz Lin Piaos am 12. September 1971 ebenete den Weg für die Einberufung des Vierten NVK dreieinhalb Jahre nach dem gewaltsamen Ableben des designierten Nachfolgers Mao Tse-tungs. Der Vierte NVK trat im Januar 1975, zehn Jahre nach dem Dritten, zu seiner ersten und einzigen Plenarsitzung zusammen.10 Die 2.885 Delegierten dieses NVK waren noch nicht einmal direkt gewählt, sondern vielmehr von der Parteizentrale bestellt worden. Am 17. Januar 1975 verabschiedeten sie die zweite (endgültige) Verfassung der VR China, ein sehr kurzes Organisationsstatut mit 30 Artikeln zur Beschreibung von Staatsorganen, die auch formal nichts anderes mehr sein sollten als Ausführungsorgane der Partei. 11 Der NVK blieb nach dieser Verfassung das höchste Staatsorgan, nun allerdings ausdrücklich unter der „Führung der KP Chinas". Er wählte den Premierminister und die übrigen Mitglieder des Staatsrates auf Vorschlag des ZK der KP. Der Parteivorsitzende wurde als oberster Befehlshaber der Streitkräfte bezeichnet. Die neue Verfassung schaffte die Position des individuellen Staatsoberhauptes ab und ersetzte es durch den Ständigen Ausschuß des NVK als kollektives Staatsoberhaupt, welches in zeremonieller Hinsicht von dessen Vorsitzendem verkörpert wurde. Die Amtszeit des NVK wurde auf fünf Jahre verlängert und sein Ständiger Ausschuß, nunmehr ein Gremium mit 167 Mitgliedern, amtierte wiederum zwischen den Sitzungsperioden. In den drei Jahren nach Inkrafttreten der Verfassung kam jedoch keine Sitzung des NVK mehr zustande und der Ständige Ausschuß trat nur viermal zusammen. Nur noch der Staatsrat, ein Organ mit jetzt 39 Mitgliedern, das in seiner Rolle als höchstes Exekutivorgan bestätigt worden war, arbeitete in den letzten Lebensjahren Maos regelmäßig. Nachdem aber Teng Hsiao-p'ing seines Amtes als Vizepremier enthoben und Hua Kuo-feng am 7. April 1976 nach massiven anti-maoistischen Demonstrationen auf dem Platz vor dem Tor zum Himmlischen Frieden (Tienanmen) zum Premierminister ernannt worden war, sollten die Weichen für eine dramatische Wende gestellt sein. 10

Vgl. Jürgen Domes, China after the Cultural Revolution. Politics between two Party Congresses, London 1976, S. 372-375; Lowell Ditlmer, China's Continous Revolution. The Post-Liberation Epoch 1949-1981, Berkeley, CA 1987, S. 200-205; Jean-Luc Domenach / Philippe Richer , La china, vol. 2: De 1971 à nos jours, Paris 1987, S. 373-375; und Yuan-li Wu, Tiananmen to Tiananmen. China unter Communism, 1947-1996. After Delusion and Disillusionment A Nation at a Crossroads, Baltimor 1997, S. 15. 11 „Verfassung der Volksrepublik China", 17. Januar 1975, in: Chung-hua jenmin kung-he-kuo ti-ssu-chieh ch'üan-kuo jen-min tai-piao ta-hui ti-i-tz'u hui-yi wenchien hui-pien (Dokumentensammlung der 1. Sitzung des V. NVK der VR China), Hongkong 1975, S. 31-42.

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Vier Wochen nach dem Tode Mao Tse-tungs am 9. September 1976 verhafteten Soldaten der Zentralen Wachdivison und der Garde des Staatsrates am 6. Oktober den Führungskern der Kulturrevolutionäre: Die Witwe Maos, Frau Chiang Ch'ing, Wan Hung-wen, Chiang Ch'un-ch'iao und Yao Wenyüan, die von nun an nur noch als „Viererbande" (Ssu-jen pang) adressiert wurden.12 Der Staatsstreich und ebenso die Rückkehr Teng Hsiao-p'ings in seine Führungspositionen im Juli 1977 wurden schließlich vom XI. Parteitag der KP Chinas, der vom 12. bis zum 18. August 1977 in Peking tagte, ratifiziert. Der Parteitag verabschiedete ein neues Parteistatut, welches mehr demjenigen von 1956 als dem von 1969 ähnelte. Hua Kuo-feng verlas im übrigen eine siebenstündige Rede, in der er 178 mal Maos Namen erwähnte und als seine Politik ,Maoismus ohne Mao4 proklamierte, aber - ironischer Weise mit der Säuberung ihrer hauptsächlichen Vorkämpfer und der Rehabilitierung Teng Hsiao-p'ings als eines ihrer wichtigsten Angriffsziele - die Kulturrevolution für „siegreich beendet" erklärte. 13 Maos unmittelbarer Nachfolger indizierte auf diese Weise, daß die VR China sich weiterhin auf dem Wege der Normalisierung von Herrschaft und Politik bewegen würde. Massenbewegungen und Terror als Herrschaftsmethoden

Die Kulturrevolution hatte den Höhepunkt einer entwicklungspolitischen Strategie Mao Tse-tungs gebildet, die in Ermangelung einer hinreichenden materiellen Basis zum Aufbau von Sozialismus, wie sie in den Theorien von Marx, Engels und Lenin vorgesehen war, zu Massenkampagnen und Terror griff, um das Bewußtsein der Bevölkerung zu verändern. Selbstverständlich hatte es auch in der Sowjetunion, vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Gründung, Massenbewegungen und Terror gegeben. Doch anders als später in der VR China waren diese Mittel der Herrschaftsausübung nicht dazu bestimmt gewesen, den „Überbau" anstelle der „Basis" zu verändern. Im Hinblick darauf ist es in der Tat gerechtfertigt, nicht allein von einem spezifischen Charakter des Systems Mao Tse-tungs innerhalb des damals sogenannten sozialistischen Lagers, sondern auch von einer traditionalen chinesischen Komponente innerhalb dieses Systems zu sprechen. Die „Massen" 12

Von diesem Staatsstreich erfuhr die Weltöffentlichkeit erstmals aus Hongkonger Zeitungen am 11. Oktober 1976. Erst am 23. Oktober wurde auf einer Massenversammlung auf dem Tienanmen-Platz die Ernennung Hua Kuo-fengs zum Vorsitzenden des ZK der KP Chinas und der Militärkommission des ZK bekannt gegeben. 13 Chung-kuo kung-ch'an-tang ti shih-i-tz'u ch'üan-kuo tai-piao ta-hui wen-chien hui-pien (Dokumentensammlung des XI. Parteitages der KP Chinas), Peking 1977, S. 30.

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(Ch'ün-chung) - nicht im Sinne kollektivistischer Praktiken, sondern vielmehr als Bewußtsein der Verfügbarkeit über eine große Zahl von Menschen haben in China schon in alter Zeit eine große Rolle gespielt. Auch im Denken der vorkommunistischen Modernisierer Chinas spielten sie eine bedeutende Rolle. In der theoretischen Fundierung von Massenbewegungen verbanden sich bei Mao Tse-tung ein aus der rationalen Sicht des 20. Jahrhunderts romantischer Glaube an die Unbesiegbarkeit des in großer Zahl vervielfältigten menschlichen Einzelwillens mit der vermeintlich wissenschaftlich verbrieften Überzeugung, daß die marxistisch-leninistische Partei als die Erfüllungsgehilfin des Geschichtswillens in der Lage sei, die gigantische Macht der „Massen" im Interesse des sozialistischen Aufbaus zu nutzen. In maoistischen Texten findet sich dieses folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Von den Massen - zurück zu den Massen. Auf folgendes kommt es an: die Anschauungen der Massen sorgfältig studieren, diese systematisch zusammenzufassen und zu formulieren, die so entstehenden Ideen zu den Massen zurückzutragen und diese dann so lange zu erläutern und zu popularisieren, bis die Massen sie als ihre eigenen ansehen. " 1 4

Am Anfang einer Massenbewegung stand in der Regel eine Entscheidung der Führungsspitze. Zunächst wurde diese, meist auf einer Serie von zentralen und regionalen Arbeitstagungen, den als zuverlässig geltenden Kadern der Partei vorgetragen und mitunter auf der Basis von Kritik aus deren Reihen auch modifiziert. Dann begann die erste Phase der Massenbewegung. Die Parteikader und die Massenorganisationen wurden angewiesen, den „Willen des Volkes" hervorzurufen. Wichtigste Instrumente waren in dieser Phase Leserbriefaktionen und „spontane" Volksversammlungen, auf denen die in den Leserbriefen zum Ausdruck gebrachte Übereinstimmung zwischen der Führung und der Bevölkerung nochmals verbreitet wurde. Nachdem dieses Verfahren in einer Anzahl von Provinzen mehrfach wiederholt worden war, „kam" die Führung „nicht umhin", den Forderungen der Massen Aufmerksamkeit zu schenken. In der zweiten Phase der Kampagne wurde nun von den leitenden Organen der Partei oder auch des Staates offiziell eine Beratung durchgeführt, und so der Volkswille in Form von Resolutionen und Direktiven „systematisiert". Darauf folgte die dritte und wichtigste Phase, in der die Massenbewegung das ganze Land ergriff. Die Parteiführung teilte ihren Kadern durch die Organisationskanäle des ZK, den Kadern der nichtkommunisti14 Mao Tse-tung, Methoden der Führung, in: Ausgewählte Schriften, Berlin (Ost) 1956, Bd. IV, S. 148. Vgl. hierzu auch die Präambel des Parteistatuts von 1956 bei Peter S. H. Tang, Communist China Today. Domestic and Foreign Policies, Bd. II, New York 1958, S. 114-115.

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sehen Einheitsfrontparteien und der Massenorganisationen durch die Kanäle der Einheitsfrontabteilung beim ZK ihren Willen mit. Sie alle wurden als „Transmissionsriemen" zwischen Führung und Volk eingesetzt. Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Film, Theater und Musikgruppen traten in den Dienst der Aktion. In den Straßenbezirken der Großstädte, in den Kleinstädten und Marktflecken und nicht zuletzt in den Hunderttausenden von Dörfern Chinas wurden Massenversammlungen durchgeführt, die viele Stunden, zuweilen sogar mehrere Tage dauerten. Tausende von Rednern riefen zum Handeln im Sinne der Entscheidungen der Führungsspitze auf. Um auch Widerstrebende zum Handeln zu bewegen, hielten sich auch die Sicherheitsorgane in Bereitschaft. Bis 1965/66 setzte die Führung der KP Chinas ihre Entscheidungen vorwiegend auf diesem Wege innerhalb der Bevölkerung durch. Die Geschichte der VR China, vorwiegend diejenige der innenpolitischen Entwicklung, könnte deshalb geradezu als eine Abfolge von Massenbewegungen geschrieben werden. Von den zahlreichen Kampagnen haben aber die folgenden dreizehn die politische Wirklichkeit Chinas unter Mao Tse-tung in besonderer Weise bestimmt: Die Landreform-Bewegung von 1950 bis 1953 hatte die Ziele: 1. gleiches privates Landeigentum zu schaffen; 2. Kräfte des Widerstandes auf dem Lande zu brechen; und 3. die Bauern unter der Führung der KP Chinas zu organisieren und mobilisieren. Chinas Landbevölkerung wurde in fünf Klassen eingeteilt, deren Kriterien von Provinz zu Provinz, mancherorts sogar von Dorf zu Dorf variierten: Großgrundbesitzer, reiche Bauern, mittlere Bauern, arme Bauern sowie Pächter und Landarbeiter. Das Land, die Häuser und die Gerätschaften der Großgrundbesitzer wurden konfisziert und unter die armen Bauern, Pächter und Landarbeiter aufgeteilt. Viele Großgrundbesitzer wurden hingerichtet beziehungsweise begingen nach schweren Mißhandlungen auf Massenversammlungen Selbstmord. Nach vorsichtigen Schätzungen kamen auf diese Weise 5 Millionen Menschen im Laufe der Landreform-Bewegung ums Leben. 15 Die Ehereform-Bewegung von 1950 bis 1952 sollte der Abschaffung der Polygamie und der Kinderheirat dienen, beides noch weit verbreitete Praktiken in China, vor allem auf dem Lande. Obwohl die Bevölkerung dem neuen Ehegesetz nur widerwillig folgte, bewirkte die Bewegung einen raschen Anstieg der Zahl von Scheidungen. Ebenso aber kam es zu einem dramatischen Anstieg von Selbstmorden unter den von Scheidungen betroffenen Frauen, die oftmals bittere Not leiden mußten, wenn sie nicht gezwungen wurden, Parteikader zu ehelichen. Allein aus der zentral-südlichen Groß region berichtete die Presse für das Jahr 1950 von mehr als 10.000 Selbstmorden.' 6

15 Vgl. Kim, La réform agraire en Chine, in: Quatrième Internationale, Paris, 6. October 1953, S. 30 ff.; und Henry J. Lethbridge, The Peasant and the Communes, Hongkong 1963, S. 198. 16 JMJP, 20. März, 1953.

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Im Zusammenhang mit der Intervention der USA im Korea-Krieg, der Ende Juni 1950 begann, wurde die „Widersteht Amerika, unterstützt Korea" -Kampagne (K'ang mei, yüan ch'ao) eingeleitet, um alle ausländischen Missionare des Landes zu verweisen und die christlichen Kongregationen Führern zu unterstellen, die sich gegenüber der KP China loyal verhielten. Aller Kirchenbesitz wurde konfisziert und die öffentlichen Aktivitäten der Kirchen stark beschränkt. Mitgüeder der früheren Regierungspartei, der Kuomintang, und andere Anhänger des ancien régime, die darauf verzichtet hatten, Chiang Kai-shek nach Taiwan zu folgen oder ihren Frieden mit den Kommunisten früh genug zu machen, um nicht von diesen bestraft zu werden, wurden nunmehr hingerichtet. In den zwölf Monaten zwischen Oktober 1949 und Oktober 1950, wurden in vier der sechs Großregionen, in die China vorübergehend eingeteüt war, 1,176 Millionen Menschen von Massengerichten verurteüt und hingerichtet. Nach offiziellen Angaben aus der zentral-südlichen Großregion trugen sich dort zwischen Januar 1950 und November 1951 322.000 Hinrichtungen zu. 1 7 Von Februar 1951 an nahm die Welle der Hinrichtungen den Charakter einer systematisch organisierten Massenkampagne an. Sie wurde als Bewegung zur „Unterdrückung von Konterrevolutionären" vorangetrieben und führte bis zum Herbst 1952 zur physischen Vernichtung von 2 Millionen Menschen.18 Vom Herbst 1951 bis zum Frühjahr 1953 bekämpfte die sogenannte „Drei AntiBewegung" (San-fan yün-tung) „Korruption, Verschwendung und Bürokratismus", um diejenigen Beamten, denen die Kommunisten nicht trauten, aus ihren Ämtern zu entfernen. Von Januar 1952 bis Ende 1953 organisierte die KP Chinas darüber hinaus eine sogenannte „Fünf Anti-Bewegung" (Wu-fan yün-tung), die sich gegen „Steuerhinterziehung, Betrug, Korruption, Industriespionage und Diebstahl von Staatseigentum" wandte. Im Verlaufe dieser Kampagne wurden etwa 500 Geschäftsleute hingerichtet und 34.000 zu hohen Freiheitsstrafen verurteüt. Mehr als 2.000 Personen begingen Selbstmord.19 Nachdem sie auf diese Weise innerhalb von bemerkenswert kurzer Zeit die führende Rolle der KP Chinas im Lande etabliert, die Wirtschaft auf dem Vorkriegsniveau wiederaufgebaut und grundlegende Sozialreformen durchgeführt hatten, leiteten Mao und seine Mitarbeiter anläßlich des vierten Jahrestages der Gründung der VR China den „Übergang zum Sozialismus" ein. Dieser begann formell mit der Bewegung zur Kollektivierung der Landwirtschaft am 16. Dezember 1953. Aufgrund einer Entscheidung, die Mao gegen erhebliche Bedenken innerhalb der Führungsorgane der Partei durchsetzte, wurde diese Kampagne im Sommer 1955 beschleunigt, so daß die Kollektivierung der Landwirtschaft schon zu Ende 1957, also wesentlich schneller als in der Sowjetunion, abgeschlossen werden konnte. In den Städten begann der Trans-

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Chieh-fang Jih-pao (Befreiungszeitung), Shanghai, 23. Juli 1953; JMJP, 12. Juli 1951; und Nan-fang Jih-pao (Südchinesische Zeitung), Kanton, 18. Oktober 1951. 18 George Paloczi-Horvath, Mao Tse-tung. Emperor of the Blue Ants, London 1962, S. 264. 19 Vgl. Peter S. Tang /Joan A. Maloney, Communist China. The Domestic Scene 1949-1967, South Orange 1967, S. 493; und John Gardner , The Wu-Fan Campaign in Shanghai. A Study in the Consolidation of Urban Control, in: A. Doak Barnett (Hrsg.), Chinese Communist Politics in Action, Seattle 1969, S. 477-593.

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formationsvorgang erst im Laufe des Jahres 1954, war jedoch schon im Januar 1956 abgeschlossen. Im Juni 1955 nahmen Disziplinarmaßnahmen gegen Chinas Intellektuelle die Dimensionen einer neuen Massenkampagne, der Bewegung zur „Unterdrückung von Konterrevolutionären" (Su-ch'ing fan-ke-ming yün-tung; auch: Su-fan yün-tung) an. Intellektuelle, zum überwiegenden Teil Parteüose, aber auch eine Reihe von Parteimitgliedern wie zum Beispiel Hu Feng, ein namhafter Schriftsteller, der erst 1981 rehabilitiert werden sollte, wurden konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt, gedemütigt, inhaftiert, in Arbeitslager verschickt und sogar hingerichtet. Die Zahl der Personen, die im Verlaufe dieser Kampagne als Konterrevolutionäre eingestuft und hingerichtet wurden, belief sich auf 81.000. Weitere 300.000 verloren ihre bürgerlichen Rechte und wurden in Zwangsarbeitslager eingewiesen.20 Zum Jahresende 1955 hatte der Terror unter den Intellektuellen derart um sich gegriffen, daß die Arbeit in den Universitäten und Forschungsinstituten teilweise zum Erliegen kam. 21 Die Parteiführung entschloß sich deshalb im Frühjahr 1956, die Säuberungsmaßnahmen unter den Intellektuellen zu einem Ende zu bringen. In einer Rede am 27. Februar 1957, deren ursprüngliche Fassung der Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich geworden ist, rief Mao Tse-tung Chinas Intellektuelle, unter ihnen vor allem aber die Mitglieder der Einheitsfrontparteien und Parteilose dazu auf, den Arbeitsstil der KP Chinas zu kritisieren. Diese Rede setzte in ihrer revidierten Fassung das Signal für die sogenannte „Hundert Blumen-Kampagne". Mao unterschied zwischen zwei grundlegenden Typen von Widersprüchen, nämlich sogenannten antagonistischen oder Widersprüchen „zwischen uns und dem Feind", welche ausschließlich durch Gewaltanwendung von Seiten der kommunistischen Machthaber gelöst werden konnten, und sogenannten nicht-antagonistischen oder Widersprüchen „im Volk", die von den Opponenten durch Diskussionen gemeinsam zu lösen waren. Die neue Bewegung wurde von Mao eingeleitet als ein Versuch der Lösung von Widersprüchen „im Volk". Doch nach einigen Wochen des schleppenden Verlaufs nahm die Kritik an der Partei unerwartet scharfe Formen an. Diese Wende veranlaßte Mao Tse-tung, die Kampagne abzubrechen. Die Parteiführung leitete nun eine „Erste Kampagne gegen rechte Elemente" (I-tz'u fan-yu yüntung) ein, um die Kritiker, die sie eben noch ermuntert hatte, zu disziplinieren. Nach offiziellen Berichten wurden von Juli bis November 1957 etwa 400 Intellektuelle hingerichtet. Mehr als 11.000 Mitglieder der nichtkommunistischen Einheitsfrontparteien und zusammengenommen zwischen 300.000 und 500.000 Personen büßten ihre bürgerlichen Rechte ein und wurden in Zwangsarbeitslager gebracht. 22 Die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch weit höher gelegen haben, denn nach der Entlassung von ungefähr 80.000 „rechter Elemente" im Jahre 1961/62 nach offiziellen Berichten wurden 1978/79 nach wiederum offiziellen Berichten etwa 926.000 Personen entlassen, die im 20

JMJP, 3. März und 18. Juli 1957. Vgl. dazu Roland Felber, China and the Claim for Democracy, in: Marie-Luise Näth (Hrsg.), Communist China in Retrospect. East European Sinologists Remember the First fifteen Years of the PRC, Frankfurt am Main 1995, S. 102 ff. 22 Zahlen errechnet nach mehreren offiziellen Angaben chinesischer Zeitungen. Vgl.auch Douwe W. Fokkema, Report from Peking. Observations of a Western Diplomat on the Cultural Revolution, London 1965, S. 147, und Jürgen Domes, The Internal Politics of China, 1949-1972, London 1973, S. 86. 21

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Zusammenhang mit der „Hundert Blumen-Kampagne" 20 oder 21 Jahre zuvor inhaftiert worden waren. 23 Die nichtkommunistischen Einheitsfrontparteien konnten sich von diesem Schlag gegen sie nie mehr erholen. Chinas rasche wirtschaftliche Erholung von insgesamt zwölf Jahren Krieg und Bürgerkrieg hatte offensichtlich nicht das sozialistische Bewußtsein der Bevölkerung erhöht. Im Gegenteü, trotz einer bemerkenswerten Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen hatte die Intelligenz, aber auch die städtische Gesellschaft allgemein, das neue poütische System heftig attackiert. Mao Tse-tung zog daraus den Schluß, daß das Bewußtsein der Bevölkerung mit Hilfe politischer Mittel zu schärfen wäre. China sollte anstatt wie die Sowjetunion über Stufen und Phasen in den Sozialismus und Kommunismus zu gelangen, in das vermeintliche Endstadium der Geschichte springen. Dies war die ursprüngliche Idee, die sich mit der sogenannten Politik der „Drei Roten Banner" verband, welche Mao im Laufe des Jahres 1958 vorbereitete. Die wesentlichen Elemente dieser Politik waren Massenarbeit in beispielslosen Ausmaßen, militärische Organisation der Produktion, Anhebung des Kollektivierungsniveaus durch die Einrichtung sogenannter Volkskommunen sowie intensive Indoktrinierungskampagnen. In den zentralen Führungsorganen der Partei traf die neue Politik auf Skepsis. Der Parteivorsitzende versuchte deshalb, diese Organe zu umgehen, indem er eine Reihe von Regionalkonferenzen einberief und regionale Parteiführer auf seine Seite zog. Bereits im April 1958 begannen lokale Kader in einigen Gegenden der Provinz Honan, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zu gigantisch anmutenden Kollektiven, eben Volkskommunen, zusammenzulegen. Ab Mitte Juli tauchten solche Kommunen in nahezu allen Regionen Chinas auf, die von nun an die Basiseinheiten von Verwaltung, Produktion und sozialer Organisation darstellen sollten. Alles Privatland wurde in diesen Einheiten aufgegeben. Auch Häuser, Gärten, Obstbäume und Kleinvieh fielen an das Kollektiv, das schließlich auch alles individuelle Leben ersetzen sollte. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gelang es Mao, auf einer erweiterten Sitzung des Politbüros in dem nordchinesischen Seebad Peitaihe vom 17. bis zum 29. August 1958 die Unterstützung der Führungsorgane der Partei für seine hochfahrenden Pläne zu gewinnen. Bereits am 15. November 1958 meldeten die zentralen Medien der VR China, daß 99 Prozent der Landbevölkerung in 26.578 Kommunen organisiert seien, die im Durchschnitt aus 4.637 Haushalten oder 25.000 Menschen bestünden. Die Kollektivierung war jedoch zu hastig vor sich gegangen. Im übrigen mißachtete das Konzept nicht allein die grundlegenden Werte des menschlichen Lebens, sondern es widersprach auch jeder ökonomischen Rationalität. So rief die Politik der „drei Roten Banner" von Anfang an Chaos in Organisation und Produktion hervor und schon ab November 1958 begannen die Bauern, sich ihr zu widersetzen. Mancherorts kam es sogar zu offenen Revolten. Das 6. Plenum des VIII. ZK der KP Chinas, das vom 28. November bis zum 10. Dezember in Wuhan tagte, mußte erste größere Korrekturen am Volkskommunen-Konzept Maos vornehmen. Der Parteivorsitzende aber reagierte auf diese Korrekturen mit seiner Weigerung, eine zweite Amtszeit als Vorsitzender der VR China zu übernehmen. Sein Nachfolger in dieser Position wurde Liu Shao-ch'i.

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Die Zahl basiert auf Rundfunkmeldungen über Rehabüitierungen in 25 Provinzen zwischen dem 1. Januar 1978 und dem 31. Dezember 1979, die vom Verf. gesammelt wurden.

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Maos Verzicht signalisierte eine tiefe Führungskrise in der KP Chinas. Zu dieser gesellte sich bald auch eine schwere Wirtschaftskrise, die unter der Bezeichnung „Drei Bittere Jahre" (San k'u nien; von 1959 bis 1961) in die Geschichte des Landes eingegangen ist. Die Zahl der Opfer dieser Krise, der größten Hungersnot in der Menschheitsgeschichte, ist bis heute nicht sichergestellt. Ausländische Schätzungen gehen bis zu 75 Millionen Hungertoten, 24 offizielle Quellen der VR China haben im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte von 20 bis 40 Millionen Hungertoten gesprochen,25 inoffizielle von 43 bis 50 Millionen. 26 Unter diesen dramatischen Umständen wurden innerhalb des zentralen zivilen Parteiapparates um Liu Shao-ch'i und Teng Hsiao-p'ing, der damals Generalsekretär des ZK war, zunehmend weitergehende Korrekturen am Volkskommunen-Konzept Maos entwickelt. Bis zum Herbst 1962 entstand auf diese Weise eine geschlossene Alternativstrategie, mit deren Hilfe die Situation stabilisiert und ab 1964 auch ein neues Wirtschaftswachstum erzielt werden konnte. Der Parteivorsitzende hatte sich jedoch nie mit der schrittweisen Verfremdung seiner Strategie, oftmals auch kurz als „Großer Sprung nach vorn" bezeichnet, abfinden können. Er versuchte nun, eine „Sozialistische Erziehungsbewegung" auf dem Lande durchzuführen, um die Kontrolle der Partei über die Landbevölkerung von neuem zu festigen, gleichzeitig aber auch mit der Wiedereinführung der Klassenkategorien der Landreform-Bewegung der Jahre 1950 bis 1953 den Klassenkampf auf dem Lande voranzutreiben und die private Produktion in der Landwirtschaft zu beschränken. Liu, Teng und andere Parteiführer des zivüen Parteiapparates wußten die Kampagne jedoch in eine Bewegung zur Kritik an den Mobilisierungskadern von 1958 umzufunktionieren. Die „Sozialistische Erziehungsbewegung" ebbte somit im Laufe des Jahres 1964 ab, ohne ihre von Mao beabsichtigten Ziele bewirkt zu haben. Mao und der Kreis seiner engsten Mitarbeiter vermochten unterdessen mit Erfolg die VBA zu indoktrinieren und so auf ihre Rolle bei der Einleitung einer weiteren Kampagne, der sogenannten „Großen Proletarischen Kulturrevolution", vorzubereiten. Die VBA sollte für Mao jene Schüler und Studenten mobilisieren und organisieren, die ab Jahresmitte 1966 den Partei- und Staatsapparat attackierten und das Land von neuem ins Chaos stürzten. Die menschlichen ebenso wie die materiellen Kosten der „Kulturrevolution" blieben weniger spektakulär als diejenigen des „Großen Sprungs nach vorn". Gleichwohl wurden mehrere Millionen Menschen gefoltert, verkrüppelt, in den Selbstmord getrieben und erschlagen.

24 Diese Schätzung osteuropäischer Wirtschaftsattachés in Peking in den sechziger Jahren wird von Gerd Anhalt in einem kürzlich von dem Kultursender arte ausgestrahlten Beitrag mit 60 Millionen Hungertoten offenbar nur wenig unterboten. Vgl. Neue Züricher Zeitung, 29. / 30.November 1997, Nr. 278, S. 38 (Rückblick auf Sendungen der Woche: China als Mitesser). 25 Ching-chi Kuan-li, (Wirtschaftsmanagement), Shanghai, Nr. 3/1981, S. 3 und Tsung Chin , Ch'ü-che fa-chan-te sui yüeh (Entwicklung auf verschlungenen Pfaden), ο. Ο 1989, 2. Aufl. 1990, S. 272. 26 Vgl. auch Jasper Becker, Hungry Ghosts. China's Secret Famine, London 1996, der allerdings eine Gesamtzahl von 30 Millionen Hungertoten nennt.

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Das Ausmaß des Terrors, der die VR China von 1965/66 bis 1976 beherrschte, ist kaum zu ermessen. Das Ableben Maos mußte schon deshalb zu einem Wendepunkt in der Politik der Herrschaftselite werden. Maoismus als System: Analyseansätze

Mit der Totalitarismus-Theorie der fünfziger Jahre hat sich vielerorts im Westen die Vorstellung verbunden, daß in „totalitären Staaten" eine außerordentlich effiziente Elite einer schweigenden Bevölkerung mehr oder weniger reibungslos ihren Willen aufzwinge. Diese Vorstellung war zweifellos allzu einfach und, um dieses erkennen zu können, bedurfte es keineswegs erst des Zusammenbruchs der meisten marxistisch-leninistischen Einparteisysteme.27 Die Machtübernahme durch Herrschaftseliten totalitären Typs und ebenso die politische Stabilität ihrer Systeme beruht auf „gesellschaftlichen Koalitionen", was allerdings keineswegs zwangsläufig heißt, daß die Eliten auch zuverlässige Vollstrecker solcher Koalitionen sind oder sich wenigstens als solche verstehen. Überdies sind diese „gesellschaftlichen Koalitionen" deutlich von jenen zu unterscheiden, die Kommunisten als sogenannte Einheitsfronten mehr oder weniger willkürlich schmieden beziehungsweise lösen. Unter „gesellschaftlichen Koalitionen" werden hier lose Bündnisse verstanden, in denen sich die Forderungen und Erwartungen verschiedener Bevölkerungsschichten im Hinblick auf die politische Führung - gemeinhin mehr unausgesprochen und rein faktisch als erklärtermaßen und formell - aufhäufen und miteinander verbinden. Allen Schichten einer jeden Gesellschaft sind solche Forderungen und Erwartungen inhärent. Eliten können nur dann die Macht an sich bringen und bewahren, wenn es ihnen gelingt, auf möglichst viele schichtenspezifische Forderungen und Erwartungen einzugehen und von einem hinreichend großen Ausschnitt der Gesellschaft als „Hoffhungsträger" wahrgenommen zu werden. Unabhängig von dem Willen und womöglich sogar unabhängig von der objektiven Leistung einer politischen Führung können „gesellschaftliche Koalitionen" mithin auch erodieren, nämlich in dem Maße, in dem in der Wahrnehmung einzelner Schichten der Nimbus des Hoffnungsträgers schwindet. Die KP Chinas hatte im Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 den militärischen Sieg über die KMT davontragen können, weil damals eine übermächtige Koalition zwischen den eigenen Basiskadern und der Mehrheit von im wesentlichen fünf sozialen Kräften hinter ihr stand:

27 Vgl. Jürgen Domes, Politische Soziologie der Volksrepublik China, Wiesbaden 1980, S. 225 f.

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- der Industriearbeiter, - der Intellektuellen, - der Oberschüler und Universitätsstudenten, - der Landarbeiter und armen Bauern, sowie - der mittleren Bauern. Bis zur Mitte der fünfziger Jahre hielt diese Koalition zusammen. Sie wurde dann zuerst von den nichtkommunistischen Intellektuellen verlassen, welche die Zielgruppe der repressiven Politik von 1955 gewesen waren und in der „Hundert Blumen-Kampagne" nun ihrerseits heftige Kritik übten. Die KP Chinas konnte diese Intellektuellen zwar im Gegenzug von neuem disziplinieren, aber sie gewann deren Unterstützung bis zum Tode Mao Tse-tungs nie mehr zurück. Nach dem Desaster der Volkskommunen-Bewegung von 1958 zogen sich als zweites die Bauern aus der gesellschaftlichen Koalition der späten vierziger Jahre zurück. Wenn immer die Führung hinfort den Versuch unternahm, nochmals das Kollektivierungsniveau auf dem Lande anzuheben, antworteten Chinas Dörfer mit passivem und gelegentlich auch mit aktivem Widerstand. Infolge dieser bäuerlichen Grundhaltung sah sich die Führung gezwungen, daß ursprüngliche Volkskommunen-Konzept faktisch bis zur Unkenntlichkeit zu reformieren, und scheiterte auch der Versuch der Kulturrevolutionäre zwischen 1969 und 1971, zu dem ursprünglichen Volkskommunen-Konzept zurückzukehren. Die Basiskader der KP Chinas begannen bereits ein Gefühl der Unsicherheit zu entwickeln, als sie nach dem sogenannten „Großen Sprung nach vorn" von der zentralen Führung für die Wirtschaftskrise von 1959/60 verantwortlich gemacht wurden. Ihre Verfolgung durch die maoistischen Massenorganisationen in den Jahren der „Kulturrevolution" von 1966 bis 1969 und die wiederholten Wendungen in der politischen Linie bis 1975 ließen dieses Gefühl der Unsicherheit weiter wachsen und die Motivation, auf die Ansprüche der Herrschaftselite positiv zu reagieren, schwinden. Die festangestellten Industriearbeiter, vor allem diejenigen in den Lohngruppen 5 bis 8, verließen die „gesellschaftliche Koalition" in den Jahren der Kulturrevolution, in denen ihre Privilegien attackiert worden waren. Mao, Lin Piao und ihre engen Mitarbeiter mußten sich in jenen Jahren auf eine ganz andere Koalition sozialer Kräfte verlassen als beim Machtantritt der KP Chinas. Diese Koalition bestand jetzt aus einer Mehrheit von städtischen Schülern, Arbeitern in den niedrigsten Lohnstufen, Saison- und Hilfsarbeitern und Teilen der niedrigsten bäuerlichen Einkommensgruppe. Dieses war eine verhältnismäßig gut organisierte und hochgradig motivierte Koalition, die sich

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jedoch in der Minderheit befand. Sie wurde wiederum von den meisten Schülern verlassen, als die VBA die maoistischen Massenorganisationen zerschlug und die jungen Leute millionenfach zur Feldarbeit aufs Land verschickte.28 1975 konnte die Politik der Kulturrevolutionäre - Gleichheit der Löhne, Anhebung des Kollektivierungsniveaus, Priorität der Indoktrinierung gegenüber fachlichem Wissen und wirtschaftliche Entwicklung durch Mobilisierung und Verzicht auf materielle Lebensqualität - nur noch Unterstützung aus einer Koalition von Saison- und Hilfsarbeitern, Niedriglohnarbeitern, kulturrevolutionären Karrierekadern, den Ärmsten innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung und solchen jungen Leuten beziehen, die aufgund ihrer Beziehungen zur Führungselite von der Landverschickung verschont blieben. In allen anderen Schichten wandte sich die Mehrheit gegen die Politik der Linken, doch die Gründe dafür waren unterschiedlicher Natur und so wurde zunächst keinerlei Koordinierung erkennbar. Das änderte sich erst in den letzten 18 Monaten im Leben Mao Tse-tungs. Mit dem kurzfristig zu erwartenden Ableben des Parteivorsitzenden bildeten sich die Konturen einer neuen, anti-maoistischen Koalition innerhalb der Gesellschaft heraus. Westliche Chinabeobachter, unter ihnen auch eine Reihe wissenschaftlicher Spezialisten, neigten damals der Überzeugung zu, daß die politischen Entscheidungsvorgänge in der VR China im letzten von den Absichten und Handlungen einer einzelnen Person, eben Mao Tse-tung, bestimmt würden. In der Tat kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Mao Tse-tung von 1949 bis zum Frühjahr 1976, als sein Gesundheitszustand sich in dramatischer Weise verschlechterte, unter allen politischen Führern der VR China die bedeutendste Rolle spielte. Doch diese Feststellung ist viel zu oberflächlich, als daß sie zu einer systematischen Analyse politischer Entscheidungsvorgänge in der VR China beitragen könnte. Politische Entscheidungsvorgänge in der Ära Mao Tse-tung verliefen differenzierter als mit der Annahme ihrer Monopolisierung durch eine einzelne Person indiziert wird. Mao war in Wirklichkeit nicht in der Lage, die politischen Entscheidungsvorgänge in der VR China durchweg zu monopolisieren.29 Von 1956 bis 1959, womöglich sogar bis Herbst 1962, wurden wahrscheinlich alle wichtigen Entscheidungen durch Mehrheitsvoten in Plenarsitzungen des ZK getroffen. Auf jeden Fall traf dieses zu für alle Entscheidungen in der Frage, ob und bis zu welchem Ausmaß Maos mobilisatorisches Entwicklungskonzept, 28 Vgl. hierzu: Thomas P. Bernstein, Up to the Mountains and Down to the Villages. The Transfer of Youth from Urban to Rural China, New Haven 1977.

9Q

Vgl. im Einzelnen Jürgen Domes (Anm. 27), S. 187-194.

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die Politik der „Drei Roten Banner" zu revidieren sei - zweifellos die vordringliche Frage in jener Zeit. Die Plenarsitzungen des ZK wurden nach unserer Kenntnis vom Politbüro und anderen Tagungen leitender Kader vorbereitet, den Ausschlag aber gab das ZK selber. In späteren Jahren ging diese Kompetenz auf andere Gremien über, zum Beispiel auf „Nationale Arbeitskonferenzen" oder „Zentrale Arbeitskonferenzen" des Ständigen Ausschusses des Politbüros und auf das Politbüro. Fünf bis sechs Jahre lang wurden in den 26 Jahren kommunistischer Herrschaft unter Mao die wichtigsten Entscheidungen von informellen Organen getroffen. Zwei bis vier Jahre lang hatte das ZK maßgeblichen Anteil an den Entscheidungen. Zehn bis zwölf Jahre lang bildete das Politbüro beziehungsweise der Ständige Ausschuß des Politbüros das politische Entscheidungszentrum. Politik in der VR China vollzog sich als eine Abfolge von Allokationsvorgängen, in deren Verlauf aufgrund von Gruppenbildungen und anderen machtpolitischen Manövern sowohl Leitungspositionen als auch die Berechtigung zur Durchsetzung von Doktrinen als politische Beutegüter unter Mitgliedern sowie Gruppierungen von Mitgliedern der politischen Elite verteilt wurden. Mit der Einleitung der Politik der „Drei Roten Banner" nahmen diese Allokationsvorgänge den Charakter intra-elitärer Konflikte an. Der Fehlschlag des mobilisatorischen Entwicklungskonzeptes Mao Tsetungs 1959/60 wurde gefolgt von einem Konflikt über die Revision dieses Konzeptes, die eine Mehrheit des zivilen Parteiapparates gegen den Willen des Parteivorsitzenden im Winter 1958/59 initiierte und bis zum Herbst 1962 Schritt für Schritt durchgesetzte. Dieser Konflikt erreichte seinen Höhepunkt als „Kulturrevolution". Nach der Lin-Piao-Krise von 1970/71 wurde erneut der Versuch unternommen, die revisionistische Entwicklungsstrategie der frühen sechziger Jahre fortzusetzen. Dagegen aber leitete die kulturrevolutionäre Linke im Frühjahr 1973 mit der Bewegung „zur Kritik an Lin Piao und Konfuzius" (P'i Lin, p'i K'ung yün-tung) eine Gegenoffensive ein. Diese sollte jedoch ihr Ziel verfehlen. Eine zweite Gegenoffensive der Linken begann im Herbst 1975 und hatte zum zweiten Mal die Entfernung Teng Hsiao-p'ings aus seinen Staats- und Parteiämtern im April des darauf folgenden Jahres zum Ergebnis. Doch ein halbes Jahr später wandte sich der militärisch-bürokratische Komplex der VR China gegen die Linke und sorgte dafür, daß das Entwicklungskonzept Maos jetzt zum dritten Male einer Revision unterzogen wurde. Die Dynamik der Gruppenbildung bestimmte also in starkem Maße die Politik in der VR China unter Mao Tse-tung, was Anlaß gibt, diesem Aspekt

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in der Analyse des Maoismus als System besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Grundsätzlich gilt es im Hinblick darauf, drei Typen der Gruppenbildung zu unterscheiden: - Primäre Gruppenbildung als ein persönliches Beziehungsgeflecht, das teils aus strukturellen 30 und teils funktionalen 31 Zusammenhängen resultiert. - Proto-sekundäre Gruppenbildung, die sich aus gemeinsamen Erfahrungen in Zeiten größerer nationaler und internationaler Krisen entwickelt wie zum Beispiel Krieg, Hungersnot, gewaltsame Gesellschaftskonflikte oder auch Auseinandersetzungen innerhalb der Partei mit gewaltsamem Ausgang. Die gemeinsame Erfahrung kann sich auf Karriereaufstieg, Überleben in der Krise oder auch Verfolgung und spätere Rehabilitierung beziehen. - Sekundäre Gruppenbildung als rivalisierende Bündnisse innerhalb intraelitärer Konflikte. Intra-elitäre Konflikte innerhalb der KP Chinas durchliefen in der Regel ein Stadium der Differenzierung, welches seinen Höhepunkt in einer präkritischen Konfrontation hatte, und ein Stadium der Konfliktlösung, das eine kritische Konfrontation herbeiführte. In beiden Stadien agierten die primären Gruppen nicht unabhängig voneinander, sondern versuchten vielmehr Bündnisse zu schließen, in denen sich programmatische und machtpolitische Positionen miteinander verbanden. Allerdings durchliefen diese Bündnisse innerhalb der beiden Stadien einen Wandel. Die sekundären Gruppen bildeten sich auf zweierlei Weise heraus. Sie entstanden zum ersten als latente und kurzfristige Meinungsgruppen in klar umrissenen Streitfragen, die praktische Probleme oder Personalentscheidungen betrafen und auf individuellen oder Entscheidungen einer primären Gruppe ausschließlich im Hinblick auf diese einzelne Kontroverse beruhten. Zum zweiten entwickelten sich mittel- und langfristige Fraktionen oder kohärente Zirkel, die auf alternativen Programmen beruhten und exklusive Führungsansprüche stellten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten der sekundären Gruppenbildung wird deutlicher, wenn wir uns nochmals des Begriffs „Koalition" bedienen, hier jedoch verstanden als politische Koalition innerhalb der Elite. Meinungsgruppen werden mit Hilfe dieses Begriffs definierbar als problembezogene Koalitionen von Einzelnen zum Zwecke einer kurzfristigen Zusammenarbeit. Fraktionen erscheinen demgegenüber als Koalitionen 30 Als „strukturell" sind Zusammenhänge der regionalen Herkunft, formellen Erziehung und organisatorischen Erfahrung zu verstehen. 31 Als „funktional" verstehe ich Zusammenhänge, die sich aufgrund der politischen Interessen funktionaler Subysteme ergeben.

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von Meinungsgruppen und auch Einzelnen, die sich auf Programme berufen und prinziell nicht zeitlich begrenzt sind. Die Verdichtung von Meinungsgruppen zu Fraktionen indizierte offenkundig die Eskalation eines intra-elitären Konflikts, also den Übergang vom Stadium der Differenzierung zu demjenigen der kritischen Konfrontation und Konfliktlösung. Denn solange wie lediglich Meinungsgruppen innerhalb der Elite gegeben waren, blieb der Prozedurkonsens zwischen den divergierenden Kräften innerhalb der formellen Entscheidungsorgane der Partei bestehen, während der Sachkonsens partiell gestört war. Wenn jedoch Fraktionen entstanden, dann war in der Tat auch der Prozedurkonsens zerbrochen. Ein solcher Zusammenbruch des Prozedurkonsenses ging der „Kulturrevolution" voran. Intra-elitäre Konflikte standen nicht allein in der VR China, indes ebenso hier wie in allen anderen vormals kommunistisch regierten Staaten in engem Zusammenhang mit der historischen Ausformung marxistisch-leninistischer Einparteiherrschaft, die in der Perspektive der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 vier Stadien zu umfassen scheint: - Das Stadium charismatischer Herrschaft, - das Stadium transitorischer Herrschaft, - das Stadium institutionalisierter Herrschaft, sowie - das Stadium desintegrierender Herrschaft. Das maoistische System prägte deutlich die beiden ersten dieser vier Stadien aus. Bis 1958 trug die kommunistische Herrschaft in China alle Merkmale des charismatischen Stadiums, das ganz von der Persönlichkeit jenes Führers bestimmt ist, der die Partei an die Macht brachte. In organisatorischer Hinsicht war für dieses Stadium in China wie anderswo die unumstrittene Kontrolle charakteristisch, welche die Partei mehr als eine politische Kraft denn als eine bürokratische Maschine über alle Subsysteme - also den administrativen Apparat, die Streitkräfte, die Institutionen des Wirtschaftsmanagements sowie die gesellschaftlichen Organisationen - ausübte. Intra-elitäre Konflikte äußerten sich in Terminologiedivergenzen und Amtsenthebungen, aber ganz selten auch in Parteiausschlüssen. Physisch liquidiert wurden in der Regel nur Gegner außerhalb der Partei. Die sekundäre Gruppenbildung innerhalb der Elite blieb auf die Erscheinung von Meinungsgruppen beschränkt, aus denen der Parteiführer seine Mehrheiten formierte. Doch ab Herbst 1958 begann die Politik der VR China mit wachsender Konfliktgebundenheit nicht allein den Übergang des Systems in das zweite Stadium anzuzeigen, sondern auch besondere Merkmale der transitorischen 14 Festschrift Hacker

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Herrschaft in Vergleich etwa zu diesem Stadium in der Sowjetunion aufzuweisen. Während die transitorische Herrschaft unter Stalin Alleinherrschaft oder Monokratie bedeutet hatte, nahm sie in China die Form eines transitorischen Krisensystems an. In der Monokratie wurde der politische Entscheidungsvorgang von den Personen in der unmittelbaren Umgebung des Führers bestimmt, der für seinen Teil die bürokratische Konkurrenz unter den Subsystemen manipulierte. Das transitorische Krisensystem war demgegenüber von der Konfrontation zwischen den Mehrheiten und Minderheiten innerhalb der verschiedenen Subsysteme bestimmt. In der Monokratie bildeten Amtsenthebungen, Parteiausschlüsse und zuerst und vor allem großangelegte Säuberungskampagnen einschließlich physischer Liquidierungen innerhalb der Herrschaftselite Konfliktsignale. Im transitorischen Krisensystem wurden Konflikte hingegen von Terminologiedivergenzen, Amtsenthebungen, Parteiausschlüssen und gelegentlich einem offenen Bruch innerhalb der Partei signalisiert. Die physische Vernichtung traf hingegen vorwiegend, obwohl nicht ausschließlich, Parteimitglieder unterhalb der Herrschaftselite. Schließlich wurden in der Monokratie Meinungsgruppen bereits in der Phase ihrer - aus der Sicht des Parteiführers - vermeintlichen oder tatsächlichen Formierung zerschlagen. Die Paranoia des Alleinherrschers schloß die Möglichkeit ihrer Verdichtung zu Fraktionen aus. Vielmehr nahm der Alleinherrscher die Existenz von Fraktionen, die alternative Programme vertraten und exklusive Herrschaftsansprüche stellten, wahr und vernichtete sie mit der Liqudierung von Personen. Das transitorische Krisensystem basierte im Gegensatz dazu auf der Herausbildung von realen Meinungsgruppen und deren Verdichtung zu kohärenten Zirkeln, von denen sich eine Fraktion durchsetzte, um sich alsbald in einem neuen Konfliktzyklus in Meinungsgruppen aufzuspalten. Während sich der früher charismatische Führer auf die Rolle des reinen Legitimators zurückzieht oder auch in diese Rolle gedrängt wird, und eine Anzahl von Parteiführern, sein Ableben erwartend, miteinander um die Nachfolge für ihn ringen, werden politische Initiativen umstritten. Langfristig wirksame Entscheidungen sind kaum noch möglich, der Politikvorgang stagniert. Fraktionalisierung entwickelt sich zu einem Selbstzweck.

Bilanz

Das politische System der VR China unter Mao war zweifellos totalistisch, aber nicht monolithisch. Im Gegensatz zur Doktrin des Marxismus-Leninismus unterlag die Macht einer dauernden Differenzierung aufgrund von innerparteilicher Gruppenbildung und Konfliktaustragung. Es handelte sich bei die-

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ser Differenzierung jedoch keineswegs um eine faktische Pluralisierung. Die Entstehung von Meinungsgruppen und Fraktionen innerhalb der Herrschaftselite brachte keine Entsprechungen zu Parteien, Gewerkschaften und anderen Interessenverbänden in Repräsentativsystemen hervor. Intra-elitäre Gruppen in der VR China unter Mao konkurrierten zunächst innerhalb einer Schicht von vielleicht einer Million erwachsener Personen und dann intensiver noch innerhalb einer Schicht, die ein Tausendstel der Bevölkerung über 18 Jahre umfaßte. In Repräsentativsystemen müssen Parteien und Interessenverbände Mehrheiten für ihre Ideen und Absichten innerhalb der gesamten erwachsenen Bevölkerung gewinnen. Daß alle Parteien und Verbände dieses anstreben, gilt im übrigen als legitim. Weder der Versuch, einem Inhaber der Macht durch Mehrheitsbildung die Führung zu entziehen, noch das Scheitern eines solchen Versuchs wird deshalb geahndet. Dies sind offenbar die bedeutendsten Aspekte, die ein pluralistisches System vom transitorischen Krisensystem unterscheiden. Im Hinblick auf die Bewertung eines politischen Systems ist der Grad der Partizipation jedoch nur ein Kriterium von vielen möglichen, die nicht zuletzt von den persönlichen politischen Prioritäten des Beobachters bestimmt werden. Alle politischen Systeme gleich welchen Typs erbringen jedoch Leistungen in mindestens fünf Hinsichten, die im Zusammenhang mit einer vergleichenden Bewertung ungeachtet individueller Präferenzen als substantiell bezeichnet werden können. Diese sind neben dem Grad der Partizipation: - Veränderung von Strukturen in Richtung auf eine größere Ausgewogenheit des Wohlstands innerhalb einer Gesellschaft, - wirtschaftliche Effektivität, - Verzicht auf physische Gewaltanwendung, - Bewahrung und Pflege kultureller Traditionen, und - Umweltschutz. Wenn wir uns auf diese insgesamt sechs Kriterien bei der Beurteilung des politischen Systems in der VR China unter Mao Tse-tung beschränken, dann scheint dieses System am ehesten im Hinblick auf die Veränderung der sozialen Strukturen zu beeindrucken, die es bis zur Mitte der fünfziger Jahre bewirkte. Für die Kleinbauern und das Landproletariat in den Dörfern ebenso wie für die angestellten Arbeiter in den Städten eröffnete sich in den ersten Jahren nach der kommunistischen Machtübernahme ein erhebliches Maß an Aufwärts-Mobilität. Während die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Einkommen nie wirklich geschlossen wurde und die höheren Kader erhebliche Privilegien genossen, kam es auch innerhalb des städtischen und des ländli14"

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chen Sektors zu mehr sozialer Ausgewogenheit. Darüber hinaus konnte die KP Chinas bis 1965 auch bemerkenswerte Erfolge im Erziehungswesen verbuchen. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wurden diese Erfolge allerdings mutwillig verspielt. Der Fortschritt im Bereich des Gesundheitswesens war mit Sicherheit nie so groß wie er zeitweilig von westlichen Beobachtern dargestellt wurde, doch auch dort gab es mindestens im Vergleich zu der Situation in den vierziger Jahren bedeutende Verbesserungen. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Effektivität des maoistischen Systems muß das Urteil zweischneidig bleiben; denn dem beeindruckenden AufwärtsTrend in der industriellen Entwicklung ebenso wie in der landwirtschaftlichen Produktion von 1950 bis 1958 folgte bis Anfang der sechziger Jahre ein Rückschlag von fast einem halben Jahrhundert. Ein neuer Aufwärts-Trend, der 1964 begann, wurde in den Jahren 1967/68 von der „Kulturrevolution" und einem Rückgang in der industriellen Produktion unterbrochen. Wirtschaftliches Wachstum fand in den Jahren 1969/70, von 1972 bis 1974 und erneut seit Mitte 1977 statt. Die Wirtschaft stagnierte aber von 1971 bis 1975, und die politischen Turbulenzen im Jahre 1976 führten sogar zu einer Rezession. Im Ganzen vergrößerte sich dabei der Abstand in der gesamtwirtschaftlichen Leistung ebenso wie in der Güterversorgung zu den meisten asiatischen Ländern zuungunsten Chinas. Zu Indien blieb er etwa gleich und nur gegenüber Afghanistan, Bangla Desh und Burma erweiterte die VR China ihren Vorsprung. Die materielle Entwicklungseffizienz des maoistischen Systems ließ also viel zu wünschen übrig. Auf diese Tatsache hat denn auch die Parteiführung nach dem Tode Mao Tse-tungs, ab Herbst 1977, wiederholt hingewiesen. Vor allem ist es der KP Chinas unter Mao nicht gelungen, das Problem einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu lösen. Im Gegenteil, von 1960 bis 1962 verursachte ihre Politik eine Hungersnot von beispiellosen Ausmaßen. Wie ausgerechnet die KP Chinas weltweit in den Ruf gelangen konnte, den Hunger besiegt zu haben, hat deshalb in jüngster Zeit zu Recht den einen oder anderen westlichen Beobachter nachdenklich werden lassen.32 In allen Jahren der kommunistischen Herrschaft in China unter Mao Tse-tung blieb die Ernährungslage in Wirklickeit nicht allein in abgelegenen Gegenden des Landes, sondern auch in den großen Städten kritisch und die meisten Grundnahrungsmittel waren die längste Zeit rationiert. Die kommunistische Machtübernahme beendete in China eine Periode von zusammengenommen 150 Jahren, in denen sich Tausende von großen und kleinen Bürgerkriegen und eine Reihe zerstörerischer internationaler Kriege 32

Vgl. Jasper Becker (Anm. 26).

Aspekte des Maoismus als politisches System in China

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zugetragen hatten. Viele westliche Beobachter hielten und manche von ihnen halten auch noch die innere Befriedung und administrative Vereinheitlichung des Landes durch die KP Chinas für eines der größten Verdienste Mao Tsetungs33 und meinten beziehungsweise meinen überdies, daß die Führung der VR China in späteren Jahren nur deshalb wiederholt zu den Waffen griff, weil sie von äußeren Mächten dazu gezwungen wurde, wie im Korea-Krieg von 1950-1953, in der Ta-chen Krise von 1954, der Quemoy-Krise 1958, im Grenzkrieg mit Indien 1962 und in der chinesisch-sowjetischen Kriegskrise von 1969. Doch die Vermutung, unter der Führung Mao Tse-tungs habe sich die Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt im Inneren Chinas ebenso wie nach außen hin erheblich vermindert, erweist sich als unhaltbar. In Wirklichkeit verband sich im Inneren der VR China eine rigorose Einschränkung der politischen Partizipation mit einem hohen Grad an Rechtsunsicherheit und einem nahezu permanenten Einsatz von Gewaltmaßnahmen der Herrschaftselite gegen sogenannte „Feinde des Volkes", der in Zeiten des aktiven Widerstandes von Seiten der Bevölkerung wie vor allem von 1958 bis 1961, 1966 bis 1969 und 1976/77 zu unmittelbar bürgerkriegsähnlichen Krisen führte. Mao war davon überzeugt, daß seine Ziele nur im bewaffneten Kampf durchzusetzen wären und legte es, wie vor allem der chinesische Historiker Chen Jian in jüngster Zeit überzeugend nachgewiesen hat, nicht nur in seiner Innenpolitik, sondern auch in den internationalen Beziehungen auf Konflikte und militärische Konfliktlösungen an.34 Chinas außenpolitische Gewaltbereitschaft nahm unter Mao Tse-tung beispiellose Ausmaße in der modernen Geschichte des Landes an. Was nun die Bewahrung und Pflege kultureller Traditionen betraf, so war Mao persönlich ebenso wenig wie die politische Doktrin, die er vertrat, eine positive Verpflichtung eingegangen. Im Gegenteil, Mao attackierte die Familie als deren moralisches und materielles Fundament, zerstörte die besten dieser Traditionen und zwang Chinas Bevölkerung, um ihres schieren Überlebens willen auf archaische Praktiken zurückzugreifen. 35 Eine ähnliche Feststellung ist im Hinblick auf das Kriterium des Umweltschutzes zu treffen. Der Umweltschutz blieb ganz und gar jenseits der Bereiche, in denen sich das politische System Mao Tse-tungs selbst Ziele setzte. Der chinesische Naturraum wurde jedoch massiv durch die Mangelwirtschaft des Maoismus und keines33 Vgl. dagegen die differenzierte Darstellung von Richard C. Thornton, China. A Political History, 1917-1980, Boulder 1982, S. 127-224. 34 Chen Jian, China's Road to the Korean War. The Making of the Sino-American Confrontation, New York 1994. 35 Vgl. u. a.: Wang Ruowang, Hunger Trilogy, Amonk 1991, S. 63 ff; Jasper Becker (Anm. 26), S. 112-231; und: Harry Wu / Carolyn Wakeman, Bitter Winds. A Memoir of My Years in China's Gulag, New York 1994.

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wegs zum geringsten durch die Kampagnen dieses politischen Systems geschädigt, die ganze Wälder verschlangen, damit beispielsweise minderwertiger Stahl in Kleinhochöfen gekocht und kleine rote Bücher mit Exzerpten aus den Schriften des „Großen Vorsitzenden" erstellt werden konnten . Insgesamt wird man deshalb zu der Feststellung gelangen müssen, daß der Maoismus der Entwicklung Chinas bei weitem mehr geschadet als geholfen hat. Er verzögerte den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt dieses Landes um mindestens zwanzig Jahre. Es bleibt am Ende festzuhalten, daß diese Verzögerung nicht von unbeabsichtigten Fehlern der politischen Entscheidungsträger verursacht worden ist, sondern die Konsequenz der Theorien war, an die Mao und seine Mitstreiter glaubten.

Die Staaten im Umbruch der internationalen Beziehungen

Standortprobleme der Industrieländer vor dem Hintergrund der Globalisierung Das Beispiel Deutschlands

Von Gernot Gutmann

I.

1. Thematisiert man die ökonomische Standortqualität einer bestimmten Region oder eines bestimmten Landes, dann geht es um deren interregionale oder internationale Wettbewerbsfähigkeit auf den Produkt- und Faktormärkten. Will man jedoch für einen konkreten Zeitpunkt oder Zeitraum die Qualität eines bestimmten Landes als Wirtschaftsstandort prüfen, dann benötigt man eine oder mehrere Maßgrößen, mit deren Hilfe sich dann eine Gesamtbeurteilung ableiten läßt. Soweit es sich um die internationale Wettbewerbsfähigkeit ganzer Länder handelt, glaubt man häufig, als solche Maßgröße den Saldo der Leistungsbilanz heranziehen zu können. Dabei geht man von der Überlegung aus, ein Land, dessen Unternehmungen auf den Weltmärkten mehr an Exporterlösen erzielen als sie andererseits für den Import von Waren und Dienstleistungen bezahlen, müsse sehr wohl international wettbewerbsfähig sein. Legt man der Standortbeurteilung dieses Kriterium zugrunde, dann erweist sich z.B. die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren vor der Wiedervereinigung als sehr wettbewerbsfähig, denn der positive Leistungsbilanzsaldo stieg laufend an. Er belief sich 1989 auf 104 Mrd. DM. 1 Erst mit der Wiedervereinigung wurde er erheblich negativ. 1995 hatte er den Wert von 25 Mrd. DM. 2 Mißt man also die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands am Saldo der Leistungsbilanz, dann hat sie sich nach der Wiedervereinigung abrupt und dramatisch verschlechtert, nachdem sie zuvor außerordentlich gut war. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Die wissenschaftliche Diskussion um Standortfragen konzentriert sich heute nämlich nicht mehr allein auf den Leistungsbilanzsaldo als alleiniger Maß1

Vgl. Statistisches Jahrbuch 1991 für das vereinte Deutschland, S. 660. Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1996, S. 39. 2

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große für die Standortqualität eines Landes, sondern man bedient sich mehrfacher Indikatoren. Dabei stößt man freilich auf die schon aus der Theorie des wirtschaftlichen Systemvergleichs bekannten Probleme der Indikatorauswahl, der sinnvollen Definition der Indikatoren und der Gewichtung der Einzelindikatoren bei der Gesamtbeurteilung der Wettbewerbsfähigkeit. 2. Ein zusätzliches Problem für die Analyse der Standortqualität ergibt sich daraus, daß die ausgewählten Indikatoren von einer Vielzahl von Ursachen beeinflußt werden. Ein Teil dieser Ursachen mag seinen Grund im Inland selbst haben, also „hausgemacht" sein, ein anderer Teil dagegen liegt im Ausland, wird also über die Einbettung der nationalen Wirtschaft in die internationale Arbeitsteilung wirksam. Dabei ist meist eine eindeutige Zuordnung des Zustandes der Indikatoren zu diesen beiden Ursachenkomplexen nur schwer oder gar nicht möglich. Für die westeuropäischen Industrieländer - und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland - läßt sich jedoch generell konstatieren, daß sie heute im Vergleich zu zehn bis zwanzig Jahren zuvor einer aus ihrer Sicht dramatischen Veränderung weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Gegebenheiten ausgesetzt sind, die man meist mit dem Stichwort „Globalisierung" umschreibt und die die Standortqualität dieser Länder im Vergleich zu früher ganz außerordentlich beeinflussen und belasten. Diese als „Globalisierung" umschriebene Entwicklung entpuppt sich bei näherem Zusehen als eine dreifache Art gesellschaftlicher Entfaltungen: als Internationalisierung, als Globalisierung im engeren Sinne und als Transnationalisierung. 4 Mit Internationalisierung lassen sich jene Prozesse bezeichnen, „... welche die trennende Bedeutung grenzüberschreitender Handlungen für eine Nationalgesellschaft erhöhen."5 So internationalisieren sich die verschiedensten Bereiche: die Wissenschaft dort, wo die Bedeutung ausländischer Forscher für die nationale Reputation der Wissenschaftler zunimmt, die öffentliche Meinung dort, wo mehr und mehr ausländische Medien im Inland zur Kenntnis kommen, und die Wirtschaft dort, wo die Anteile von Export und Import am nationalen Wirtschaftsprozeß wachsen. Eine Transnationalisierung ereignet sich, „...wo Institutionengefüge und kollektive Akteure entstehen, die die nationalen Rechtsordnungen übersteigen."6 Hier sind zum einen unkündbare 3 Vgl. G. Gutmann, Systemvergleich als Forschungsfeld der Wirtschaftswissenschaft. Definitionen, Kriterien und wissenschaftstheoretische Fundierung: Ein Überblick, in: ders. (Hrsg.), Methoden und Kriterien des Vergleichs von Wirtschaftssystemen (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 18), Berlin 1987, S. 11 ff. 4 Vgl. F.-X. Kaufmann, Was hält die Gesellschaft heute zusammen? In der sich globalisierenden Welt nehmen die Bindungskräfte ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. November 1997, S. 11 f. 5 Ebd.

Standortprobleme der Industrieländer

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völkerrechtliche Verträge zu erwähnen, die einen teilweisen Souveränitätsverzicht mit sich bringen, zum anderen ist aber auch eine Transnationalisierung von Wirtschaftsunternehmen zu beobachten, die sich eine von nationalen Standorten weitgehend unabhängige Struktur und innere Ordnung geben, die es ihnen ermöglicht, für jede ihrer unternehmerischen Aktivitäten den jeweils günstigsten Standort in der Welt zu suchen. Mit Globalisierung im engeren Sinne läßt sich das Entstehen und die Intensivierung einer weltweiten Kommunikationsgemeinschaft bezeichnen. Mit diesen als „Globalisierung" umschriebenen Entwicklungen ist eine gegenüber früher sehr viel intensivere Vernetzung der einzelnen Volkswirtschaften, also eine Intensivierung der weltweiten Arbeitsteilung, verbunden, die einerseits dazu führt, daß das Weltsozialprodukt zunimmt, daß jedoch andererseits der Welthandel schneller wächst als das Weltsozialprodukt und die Direktinvestitionen noch schneller als der Welthandel. Durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems, der vor etwa einem Jahrzehnt in seine entscheidende Phase eintrat, durch die sich geradezu rasant entwickelnden Veränderungen des weltweiten Kommunikations- und Transportwesens und damit einhergehend durch die weltweite Verbreitung technischen und ökonomischen Wissens sehen sich die westeuropäischen Industrieländer - aber auch die USA und Japan - an den Weltmärkten einem Wettbewerb ausgesetzt, den es früher in dieser Form nicht gab und an den sich anzupassen sie gezwungen sind. Dieser Wettbewerb hat zumindest drei Dimensionen. II.

1. Erstens waren bis vor rund 15-20 Jahren die westlichen Industrieländer an vielen Weltmärkten für innovatorische und technisch hochstehende Produkte als Anbietergruppe in der Position eines Quasi-Monopolisten. Zwar machte man sich auf den einzelnen Absatzmärkten untereinander durchaus Konkurrenz. Jedoch waren die Unternehmungen in diesen Staaten vielfach die einzigen, die über das notwendige technisch-ökonomische Wissen verfügten, das die Herstellung von High-tech-Produkten erforderte, und sie waren meist allein im Besitz der erforderlichen Produktionsanlagen. Dies hatte für diese Länder die angenehme Konsequenz, daß die in den Preisen der Güter enthaltenen Arbeits- und Kapitalkosten für die Unternehmungen nur insoweit von Bedeutung waren, als sie die Kosten der Konkurrenten in den anderen Industrieländern nicht oder nicht wesentlich überstiegen. Es konnten daher - dies trifft insbesondere für Deutschland zu - in relativer Friedfertigkeit im Wege von Tarifverhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Verbänden 6

Ebd.

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der Arbeitgeber die meist steigenden Lohnsätze und andere Arbeitsmarktbedingungen ausgehandelt werden, die sich als freiwillig vereinbarte Erhöhungen der Lohnnebenkosten niederschlugen. Hierzu zählten Vereinbarungen über bezahlten Urlaub, über die Gewährung eines zusätzlichen Urlaubsgeldes, über ein 13. Monatsgehalt, über Familienbeihilfen, über billiges Kantinenessen etc. Darüber hinaus war es den politischen Parteien, den Regierungen und den Parlamenten möglich, nach eigenen Vorstellungen über die Zweckmäßigkeit und über das, was man als soziale Gerechtigkeit empfand, ein Gefüge der Staatstätigkeit - also der Staatsaufgaben, der Staatseinnahmen und der Staatsausgaben - sowie ein System der sozialen Sicherung zu gestalten auch dann, wenn die Kosten der Betriebe durch bestimmte Steuern und Sozialabgaben dadurch erhöht wurden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang für Deutschland unter anderem die Steuer auf den Wert des im Unternehmen eingesetzten Gewerbekapitals, die von den Betrieben pflichtgemäß zu bezahlenden Beiträge zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Unfallversicherung, die Lohnfortzahlung seitens der Unternehmungen im Falle der Krankheit von Arbeitnehmern, die Bezahlung von Löhnen an gesetzlich arbeitsfreien Feiertagen und anderes. 2. Inzwischen haben jedoch die wirtschaftenden Menschen in vielen Ländern - insbesondere in Lateinamerika und in Ost- und Südostasien - das frühere Defizit an technisch-ökonomischem Wissen längst überwunden, ja die alten Industrieländer zum Teil darin überflügelt. Diese Länder haben sich in die internationale Arbeitsteilung voll eingefügt. Ein Grund dafür ist, daß ausgefeilte Produktionstechnologien und hohe Produktqualität heute weniger standortgebunden sind als noch vor einigen Jahren. Vor allem die südostasiatischen Länder haben in der Vergangenheit gewaltige Bildungsanstrengungen unternommen. Dort - aber auch in anderen Ländern - werden während der kommenden Jahre relativ starke Jahrgänge ins Berufsleben eintreten, von denen 50-80 v. H. weiterführende Schulen und zwischen 10-30 v. H. Hochschulen und Universitäten besucht haben. Eine Facharbeiterausbildung ist vielerorts im Aufbau. Westeuropa büßt dadurch seinen jahrhundertealten Vorsprung bei der Qualifikation seiner Erwerbsbevölkerung - also bei der Bildung von Humankapital - rapide ein. Alle diese Länder - auch die osteuropäischen Reformstaaten - produzieren heute selbst High-tech-Produkte und dies meist zu wesentlich niedrigeren Kosten. Die Preis- und Qualitätskonkurrenz, der die Unternehmungen in den alten Industrieländern heute ausgesetzt sind, ist daher unvergleichlich härter als früher. Wenn sie nicht in der Lage sind, die Produktqualität permanent zu verbessern, Innovationen hervorzubringen sowie die Preise und die Kosten dieser internationalen Konkurrenz anzupassen, sind sie chancenlos und nicht überlebensfahig.

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3. Hinzu kommt die Revolution im Kommunikationswesen. Neue Produkte und Verfahren sowie neue Ideen werden praktisch über Nacht um die ganze Welt geschickt über Telefon, Fax oder E-mail. Man kann heute im bekannten Silicon Valley zu Beginn eines Jahres eine neue Software herausbringen, und sie wird Wochen danach in Bangalore oder anderswo kopiert, so daß das Tempo, mit der sich Neuerungen ausbreiten, atemberaubend ist. Auch in der Produktion und Montage ist es heutzutage relativ leicht, eine neue Fabrik oder Montagehalle in Jakarta oder Bangkok einzurichten, die lokalen Arbeitnehmer zu schulen und in wenigen Monaten in Produktion zu gehen, ohne daß langandauernde Genehmigungsverfahren dies verhindern. Neue Möglichkeiten eröffnen die modernen Kommunikationsstränge insbesondere den großen Konzernen. War es früher für deren wirtschaftlichen Erfolg erforderlich, alle wichtigen Abteilungen aus Gründen der Kommunikation untereinander möglichst an einem Ort konzentriert zu haben, ist das physische Beisammensein heute nicht mehr notwendig. Telekommunikation wurde billiger und leistungsfähiger, der Informationsaustausch schneller und komfortabler. Es können nun alle über die Welt verstreuten Abteilungen per Datenleitungen an einem Ort gewissermaßen „versammelt" werden, also virtuell beieinander sein. Das ermöglicht es den Konzernen, weltweit die besten Investitionsstandorte für die verschiedenen Unternehmensteile ausfindig zu machen und sich dort niederzulassen. Letzten Endes entwickeln sich heute schon „virtuelle Firmen", die nur noch als rechtliche Gebilde existieren und über Datenleitungen zusammengebunden werden, und dies mitunter nur über begrenzte Zeit, nach der sie sich wieder auflösen und mit anderen Partnern zu einem neuen virtuellen Unternehmen zusammenfinden. 4. Das zweite Feld, auf dem den alten Industrieländern harte Konkurrenz gemacht wird, sind die Faktormärkte, vor allem die Arbeits- und Kapitalmärkte. Vor Jahrzehnten gab es einen nahezu geschlossenen deutschen Arbeitsmarkt, der lediglich insoweit auf der Angebotsseite geöffnet war, als man eine gewisse Anzahl von Gastarbeitern - vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien, aber auch aus der Türkei - ins Land ließ, weil die Nachfrage nach Arbeitskräften extrem hoch war. Im Laufe der Zeit wurde dieser Arbeitsmarkt im Rahmen der Westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft immer internationaler. Heute jedoch ist er sozusagen weltweit geöffnet, weil das Arbeitsangebot in den osteuropäischen Ländern, aber auch in Indien, den Philippinen oder Ländern Lateinamerikas infolge der modernen Kommunikationstechnik und der Beweglichkeit des Geldkapitals mit dem innerdeutschen Arbeitsangebot konkurriert, ohne daß die Arbeitskräfte in diesen Ländern nach Deutschland auszuwandern brauchten. Insbesondere der Fall des eisernen Vorhangs hat den westeuropäischen Industrieländern Billiglohn-Konkurrenz direkt vor der eigenen Haustür beschert. Infolge der erheblich geringeren Lohnkosten von zum Teil weniger als einem Zehntel des deutschen Niveaus - werden die

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mittel- und osteuropäischen Reformstaaten als Produktions-Standorte immer interessanter, vor allem dann, wenn die Produktion arbeitsintensiv und die Technologie standardisiert ist. Der schon erwähnte Zwang zur Kostensenkung nötigt daher viele Unternehmen in den westeuropäischen Industrieländern dazu, Betriebsteile im Heimatland zu schließen und sie durch entsprechende Investitionen im lohnkostengünstigeren Ausland neu zu errichten. Verstärkt wird dies durch die neu entstandenen Absatzperspektiven vor allem auf den asiatischen Märkten. Dies gilt unbeschadet der aktuellen Finanzkrisen in einigen dieser Länder. Dort zeugen nämlich vor allem kapitalintensive Investitionen der alten Industrieländer vom Auslandsengagement großer Industrieunternehmen. Staaten wie die Philippinen, Vietnam und Malaysia gelten als attraktive Investitionsstandorte, weil sie im Vergleich zu den Heimatländern hohe Lohnkostenvorteile und erhebliche Marktchancen versprechen. Staaten wie Hongkong, Taiwan und Singapur sind zwar nicht mehr ausgesprochene Niedriglohnländer, aber sie gelten als strategisch wichtige Handelsstützpunkte, die auch durch Produktionsverlagerungen dorthin aufzubauen und zu stärken sind. Dies alles macht sich längst in einer Schere zwischen unseren Direktinvestitionen im Ausland und den ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland bemerkbar, die sich seit Jahren zuungunsten Deutschlands immer stärker öffnet. So beliefen sich 1995 die deutschen Direktinvestitionen im Ausland auf 48 Mrd. DM. Im gleichen Zeitraum wurden vom Ausland lediglich 14 Mrd. DM Direktinvestitionen in Deutschland vorgenommen. Diese Differenz von 34 Mrd. DM in einem Jahr bedeutet einen erheblichen Verlust für den Zuwachs an Sachkapitalausstattung und damit für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland. 5. Infolge der heute verfügbaren informations- und kommunikationstechnischen Infrastruktur im Geld-, Banken- und Börsenwesen und der Erfindung einer Fülle von Finanzinnovationen ist das in früheren Jahrzehnten relativ im Lande „seßhafte" Geldkapital extrem mobil geworden. Spiegelbildlich zur Globalisierung auf den Produkt- und Faktormärkten ist die rasante Zunahme der weltweiten Finanztransaktionen, deren genauen Umfang wohl niemand kennt. Die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) schätzte kürzlich den tagesdurchschnittlichen Umsatz an den Devisenmärkten dieser Welt auf über 1.200 Mrd. Dollar. Da ein jedes Geschäft, das sich hinter dieser Gesamtsumme verbirgt, zwei oder mehr Teilzahlungen beinhalten kann, ist die Anzahl der täglichen Zahlungsströme immens groß. Was dabei Notenbanken und nationalen Regierungen Kopfzerbrechen verursacht, ist die Tatsache, daß sie es sich - wollen sie nicht Wohlstandsverluste für ihre eigene Bevölkerung provozieren - nicht mehr leisten können, bei ihren Entscheidungen die daraufhin zu erwartenden Reaktionen der Finanzmärkte zu ignorieren. Denn diese beeinflussen erheblich Wechselkurse und Zinsen mit enormen Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur sowie auf Konjunktur, Beschäftigung und

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Geldwert. Es gibt nämlich für die institutionellen Kapitalanleger wie Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und andere Investoren international umfassende Anlagemöglichkeiten in aller Welt. Und die Anleger bewerten unbestechlich und völlig unbeeindruckt von den Vorstellungen der Politiker und der gesellschaftlichen Gruppen über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit und der hierdurch bedingten Belastungen der Betriebe die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in den Standorten im Hinblick auf die mit einer Kapitalzufuhr einzugehenden Risiken und auf die zu erwartende Rentabilität der Kapitalanlagen. 6. Beides, die weltweite Konkurrenz auf den Produktmärkten und auf den Faktormärkten, bewirkt drittens auch, daß die alten Industrieländer einem internationalen Wettbewerb der Institutionen ausgesetzt sind. Es wird den Nationalstaaten in Zukunft nicht mehr möglich sein, Institutionen wie den Staat, die Arbeitsmärkte oder das System der sozialen Sicherung allein nach eigenen Vorstellungen über Funktionalität oder Gerechtigkeit politisch auszugestalten. Da sich alle diese Entscheidungen direkt oder indirekt auf die Rentabilität von Kapitalanlagen auswirken, also die ökonomische Qualität des eigenen Standorts mitbestimmen, unterliegen sie letztlich der unerbittlichen Bewertung durch die internationalen Kapitalanleger. Die Politik wird dazu gezwungen, ihre Entscheidungen so zu treffen, daß sich dadurch das internationale „rating" des Standorts nicht verschlechtert, sondern möglichst verbessert. Aus den genannten Gründen war und ist es für die alten Industrieländer unumgänglich, erhebliche Veränderungen an ihren bisher bestehenden Institutionen vorzunehmen. Bei mehr als einer Milliarde Menschen, die weltweit auf die Arbeitsmärkte drängen und die im Durchschnitt weniger als drei Dollar am Tag verdienen, wird niemand Rücksicht auf die durch bestehende Institutionen bewirkten Privilegien der 250 Millionen Arbeitnehmer in den USA und in der Europäischen Union nehmen, die im Durchschnitt auf 85 Dollar Tagesverdienst kommen. Dies hat man - vor allem in Deutschland - noch nicht zur Genüge zur Kenntnis genommen, was dazu führte, daß „... die politische Auseinandersetzung immer mehr Grabenkämpfen mit befestigten Bunkerstellungen, unbegradigten Frontlinien, vermintem Gelände und nicht zuletzt ritualisierten Gefechtsverläufen [gleicht]. Die Politik scheint festgefahren. Kaum etwas bewegt sich oder läßt sich bewegen. " 7 7. All dieser Umstände muß man sich bewußt bleiben, wenn im folgenden versucht wird, auch auf einige „hausgemachte" Ursachen für gewisse Stand-

7

K. Homann / L Pies , Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: I. Pies / M. Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen 1996, S. 203 ff., hier: S. 204.

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ortschwächen speziell der deutschen Wirtschaft einzugehen.8 Dabei wird von der modernen Standorttheorie, insbesondere von der Michael Porters, ausgegangen,9 der vier die Standortqualität eines Landes bestimmende Faktoren benennt. Es sind dies - die Attraktivität der Faktorausstattung des betrachteten Landes, - die Nachfragebedingungen auf dem heimischen Markt, - das Vorhandensein oder das Fehlen von komplementären und unterstützenden Betrieben für innovative Unternehmungen sowie - das Vorhandensein oder das Fehlen eines wettbewerbsfreundlichen Umfelds. Jedoch gibt es zwischen diesen Gegebenheiten Wechselbeziehungen. Wenn man nämlich jene Einflußfaktoren mit in die Betrachtung einbezieht, welche diese vier die Standortqualität bestimmenden Umstände ihrerseits determinieren, dann zeigt sich ein komplexes Gefüge von sich gegenseitig bedingenden Tatsachen, und die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind keineswegs immer eindeutig. Das bringt es auch mit sich, daß viele der als Indikatoren benutzten Umstände einerseits Standortvö/te/fe und andererseits StandortoöcAteile bewirken, ein Saldo aber schwerlich quantifiziert werden kann.

ffl. 1. Ein wichtiger Umstand, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Standorts mitbestimmt, ist - wie gesagt - dessen Faktorausstattung. Dieser Gedanke spielt schon in der traditionellen Außenhandelstheorie eine wichtige Rolle. Im Rahmen einer Gleichgewichtsanaylse führten Heckscher 10 und Ohlin 11 in Geld gemessene komparative Kostenunterschiede in den miteinander Außenhandel treibenden Staaten nicht nur auf Unterschiede der Nachfragebedingungen in den beteiligten Ländern zurück, sondern auch auf Verschiedenartigkeiten in der relativen Faktorausstattung. Jedoch kommt es bei Porter weniger auf die 8 Vgl. hierzu G. Gutmann, Der Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland Ende der achtziger Jahre, in: K. Eckart / S. Paraskewopoulos (Hrsg.), Der Wirtschaftsstandort Deutschland (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 53), Berlin 1997, S. 9 ff. 9 M. Porter, The Competitive Advantage of Nations, New York 1990. 10 E. Heckscher, The Effect of Foreign Trade on the Distribution of Income, in: H. S. Ellis / L. S. Metzler (Hrsg.), Readings in the Theory of International Trade, 4. Aufl. London 1965, S. 272. 11 B. Ohlin, Interregional and International Trade, 3. Aufl. Cambridge, Mass. 1967.

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quantitative relative Faktorausstattung an als vielmehr auf die Qualität der Faktoren und insbesondere auf die Möglichkeit, das vorhandene Angebot an Arbeit laufend an die sich ständig verändernden Bedürfnisse technologisch führender Unternehmen anzupassen. - Geht man der Frage nach, welche Umstände auf die Qualität des Faktors Arbeit und dessen Nutzung in der Bundesrepublik Deutschland einwirken, dann läßt sich folgendes erkennen. Die Qualität des Produktionsfaktors Arbeit, insbesondere das sogenannte Humankapital, dokumentiert sich unter anderem im Stand der Ausbildung der arbeitenden Menschen, in deren Erfahrung, Arbeitsmotivation, Kooperationsbereitschaft, Lernfähigkeit und Zuverlässigkeit, wobei diese Umstände wiederum von der bestehenden Wirtschaftsordnung, aber auch vom bestehenden Bildungs- und Ausbildungssystem beeinflußt werden. In der Literatur wird darauf hingewiesen, daß viele Arbeitskräfte der Bundesrepublik Deutschland infolge ihres Ausbildungsstandes und des bestehenden Ausbildungssystems zwar vor allem die Fähigkeit besitzen, neue Technologien und Lösungen, die in anderen Ländern gefunden wurden, in bestehende Verfahren und Produkte zu inkorporieren. 12 Offenbar fehlte und fehlt dem Humankapital jedoch vielfach die Qualität, im High-tech-Bereich an der Spitze zu stehen. Dies zeigt sich an der Entwicklung der RCA-Koeffizienten (revealed comparative advantages). Diese drücken aus, ob eine Volkswirtschaft bei der betrachteten Gütergruppe einen über- oder unterdurchschnittlichen Nettoexport bzw. Nettoimport im Vergleich zum gesamten Nettoexport bzw. Nettoimport aufweist. Positive RCA-Werte zeigen komparative Wettbewerbsvorteile, und negative RCA-Werte zeigen komparative Nachteile an. Eine Langfristuntersuchung des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn zeigt,13 daß die RCA-Werte gerade bei den humankapitalintensiven Produktgruppen schon seit Beginn der siebziger Jahre zwar positiv sind, aber permanent abnehmen. Zu diesen Produktgruppen zählen Erzeugnisse der elektronischen Datenverarbeitung, der Unterhaltungselektronik, der Telekommunikationstechnik, der Meß-, Prüfund Kontrollgerätetechnik, medizinische und pharmazeutische Produkte sowie solche der Luft- und Raumfahrttechnik. 2. Neben der Faktorausstattung wird nach Porter die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes - also seine Standortqualität - von den Nachfragebedingungen am heimischen Markt bestimmt. Damit ist freilich nicht das Volumen der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage im keynesianischen Sinne gemeint,

12 Vgl. H.-K. Schneider, Die Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb: Thesen und Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft, in: M. Dierkes / K. Zimmermann (Hrsg.), Wirtschaftsstandort Bundesrepublik. Leistungsfähigkeit und Zukunftsperspektiven, Frankfurt am Main / New York 1990, S. 69 ff., hier: S. 72. 13 Vgl. A. Ottnad / St. Wahl / R. Grünewald, Risse im Fundament. Die deutsche Wirtschaft bis 2005, Berlin / Heidelberg 1995, S. 122 ff. 15 Festschrift Hacker

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das kurzfristig konjunkturell schwanken kann, sondern vielmehr die „Qualität" der Nachfrage. Es sei nämlich zu berücksichtigen, daß eine „repräsentative" Nachfrage entscheidend für die Entwicklung neuer wettbewerbsfähiger Industrien ist. „Repräsentative Nachfrage" ist jene Nachfrage, die sich relativ frühzeitig entwickelt und den Unternehmen sozusagen als Orientierung für ihre künftige Arbeit dient. Hiermit wird ein Problem angesprochen, das in der Markt- und Wettbewerbstheorie als Theorie der Entwicklungsphasen eines Marktes bekannt ist. 14 Porter rekurriert hier auf die Schwierigkeiten der Entwicklungsphase des Marktes, in welcher es für das Unternehmen darum geht, für eine Produktinnovation einen Markt überhaupt erst zu kreieren. Die eigentlichen Anfangsschwierigkeiten der Nachfrageproduktion bestehen nämlich darin, das Mißtrauen und die Skepsis, die dem unbekannten und unerprobten Produkt entgegengebracht werden, zu überwinden. Solange diese Haltung noch allgemein besteht, ist jeder einzelne potentielle Abnehmer zu überzeugen und zu gewinnen. Dies ist in dem heimischen Umfeld des Unternehmens, das eine Produktinnovation kreiert, leichter möglich als in der räumlichen Ferne. Erst nachdem die allgemeine Zurückhaltung gegenüber dem neuen Produkt gefallen und der Durchbruch gelungen ist, öffnet sich der Markt auch international, auf dem es gilt, die sich bietenden Absatzmöglichkeiten zu ergreifen und zu realisieren. An zwei Einflußkomponenten für „repräsentative" Nachfrage in Deutschland ließe sich denken, zumindest dort, wo es sich um die Kreierung von Konsumgutmärkten handelt. Es ist einmal zu vermuten, daß es eine gewisse Relation gibt zwischen der Einkommenshöhe und der Bereitschaft potentieller Käufer, das mit einer „repräsentativen Nachfrage" nach einem neuen Produkt verbundene Risiko einzugehen. Da die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland - im Vergleich zu vielen anderen Ländern - über ein sehr hohes Pro-Kopf-Einkommen verfügen kann, besteht kein Grund zur Annahme, daß die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen so gesehen an besonders schlechten Bedingungen der „repräsentativen Nachfrage" leiden würde. Andererseits ist aber auch nicht zu verkennen, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland seit über einem Jahrzehnt eine gewisse Technologieskepsis - um nicht zu sagen Technologiefeindlichkeit - breit gemacht hat, was häufig zur Zurückhaltung beim Erwerb bestimmter neuer Produkte führt. Besonders groß ist derzeit die Skepsis vieler Menschen gegenüber gentechnisch hergestellten Produkten und gegenüber der Erzeugung nuklearer Energie. Diese Verbraucherskepsis, die sich häufig in strengeren gewerberechtlichen Bestimmungen niederschlägt, bewirkt vielfach, daß deutsche Unternehmen zur Kreierung 14

Vgl. E. Heuß, Allgemeine Markttheorie, Tübingen / Zürich 1965, S. 31.

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neuer Produkte ins Ausland abwandern und ausländische Unternehmen den Standort Deutschland meiden. 3. Ein dritter Standortfaktor, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes mitbestimmt, ist das Vorhandensein oder das Fehlen komplementärer und innovative Unternehmen unterstützender Industrien und zwar solcher, die selbst international wettbewerbsfähig sind. Komplementäre Industrien sind solche, mit denen Unternehmen Aktivitäten teilen oder koordinieren können, wenn sie in Wettbewerb mit Anbietern ihrer eigenen Branchen treten, oder solche, die Produkte herstellen, die zu den eigenen Produkten komplementär sind. Letzteres trifft z.B. im Verhältnis von Computerunternehmen mit Softwarefirmen zu. Solche Aktivitätsteilung kann dabei hinsichtlich der Technologie, des Marketing, der Entwicklung oder des Service erfolgen. - Man wird davon ausgehen dürfen, daß Deutschland eine sehr differenzierte Industrie- und Produktionsstruktur aufweist und daß deshalb grundsätzlich für Innovatoren das Vorhandensein solcher komplementärer und unterstützender Industrien gegeben ist. Negative Effekte auf die Qualität des Standorts Deutschland dürften von hier nicht ausgehen. 4. Der vierte, die Standortqualität mitbestimmende Faktor ist ein wettbewerbsfreundliches Umfeld. Es darf nämlich aufgrund empirischer Studien als gesicherte Erkenntnis gelten, daß nachhaltige Wettbewerbsvorteile am Weltmarkt nur dann entstehen, wenn sich die Anbieter im Wettbewerb auf dem heimischen Markt bewähren mußten. Länder mit führender Weltmarktstellung haben oft starken lokalen Wettbewerb in ihrer Branche. Nun wird sich nicht leicht ein globales Urteil über die Intensität des Wettbewerbs in der deutschen Wirtschaft abgeben lassen. Daß der Wettbewerb in manchen Branchen auch auf den Inlandsmärkten beträchtlich ist, wogegen es in anderen daran mangelt, ist bekannt. Somit ist die Beschaffenheit dieses Standortfaktors teils als positiv und teils als negativ einzuschätzen.

IV.

1. Alle hier kurz erwähnten Einflußfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft werden in ihrer jeweiligen Beschaffenheit maßgeblich geprägt von der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung, denn alle ökonomischen Handlungen von Menschen, die zum beschriebenen Zustand in der Qualität des Produktionsfaktors Arbeit, zur Qualität der „repräsentativen Nachfrage 44, der Funktionsweise „komplementärer und unterstützender Industrien44 sowie zur Qualität des wettbewerblichen Umfeldes führen, sind durch das jeweils bestehende Arrangement institutioneller Gegebenheiten beeinflußt, welche die Wirtschaftsordnung ausmachen. Ändert sich die Beschaffenheit der Wirtschaftsordnung im Ganzen oder in ihren Teilen, dann reagieren die Wirt15'

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schaftssubjekte hierauf, sie passen sich den neuen Umständen an. Hierdurch verändern sich alle jene Indikatoren, welche als Größen zur Beurteilung der Standortqualität herangezogen werden, entweder unmittelbar oder mittelbar. Hier seien nur drei Ordnungselemente herausgegriffen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stark und unmittelbar mit beeinflussen, nämlich die Ordnung des Arbeitsmarktes, die Sozialordnung und die Ordnung der öffentlichen Finanzen. 2. Entsprechend der durch Tarifhoheit gekennzeichneten Arbeitsmarktordnung werden in Deutschland die Lohnsätze, die ein wesentliches Element der Kosten für den Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit sind, grundsätzlich in Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern flächendeckend festgelegt. Solche Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien sind noch weiterführend, als man zunächst vermuten könnte, denn der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann einen Tarifvertrag an den natürlich zunächst nur jene Gewerkschaft und jener Arbeitgeberverband gebunden sind, die ihn abgeschlossen haben - auf Antrag einer der beiden Vertragsparteien und im Einvernehmen mit einem paritätisch besetzten Ausschuß für allgemeinverbindlich erklären. Dies ist bei Hunderten von Tarifverträgen der Fall. Daß hinter den Vertragsverhandlungen letztlich die Drohung von Streiks und Aussperrungen stehen, ist bekannt. Durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit werden die durch einen abgeschlossenen Tarifvertrag bewirkten positiven oder negativen Konsequenzen für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der zunächst betroffenen Unternehmen auf die ganze Branche ausgeweitet, denn die Arbeitskosten dieser zunächst vom Vertrag nicht berührten Unternehmen werden nun auch verändert. Die Arbeitskosten bestimmen aber entscheidend mit über die Chancen nationaler Unternehmen an internationalen Märkten. Freilich muß man - um die Wirkung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu bestimmen - zugleich die Produktivität des Faktors Arbeit mit heranziehen, also nicht nur die Lohnsätze sondern die Lohnstückkosten betrachten. Handeln die Tarifvertragsparteien Veränderungen der Lohnsätze aus, die der prozentualen Veränderung der Arbeitsproduktivität entsprechen, dann bleibt von der Lohnkostenseite her gesehen Preisniveaustabilität bestehen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft wird von daher nicht negativ tangiert. Jedoch handeln die Tarifparteien keineswegs immer nach diesem Grundsatz. Seit Mitte der achtziger Jahre verschlechterte sich die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft jahrelang nicht zuletzt infolge von Lohnsatzsteigerungen, die den Produktivitätszuwachs überstiegen. Inzwischen ist hier jedoch ein Wandel eingetreten. 3. Nun werden die Kosten für den Einsatz des Faktors Arbeit nicht allein durch die von den Tarifjpartnern ausgehandelten Lohnsätze und der geleisteten Arbeitsstunden bestimmt, sondern auch von dem, was man als Lohnnebenko-

Standortprobleme der Industrieländer

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sten oder Personalzusatzkosten bezeichnet. Hierzu zählen einerseits solche Kosten, die - wie Aufwendungen für Urlaub, Verpflegung und andere betriebliche Sozialleistungen - Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Tarifparteien sind oder von den Unternehmungen freiwillig auf sich genommen werden, als auch solche, die durch Regelungen der Sozialgesetzgebung verursacht werden, wie bis vor kurzem unter anderem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Soweit es sich um die gesetzlich verursachten Lohnnebenkosten handelt, sind sie Ergebnis der bestehenden Sozialordnung des Landes. Für Deutschland läßt sich nun konstatieren, daß die Personalzusatzkosten ab 1970 um wesentlich mehr gestiegen sind als die Stundenlöhne und dadurch im internationalen Vergleich eine Spitzenhöhe erreichten. Sie beliefen sich 1996 im produzierenden Gewerbe in Westdeutschland auf 80,7 v. H. der eigentlichen Löhne, in Ostdeutschland auf 71,2 v. H. 1 5 Von hierher ergaben sich zweifellos erhebliche Standortnachteile für die deutsche Wirtschaft, auch wenn man bei Vergleichen mit dem Ausland die jeweiligen Wechselkurse zu den fremden Währungen mit in die Betrachtung einbeziehen muß. 4. Aus der Ordnung der öffentlichen Finanzen in der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich die verschiedenen Steuerarten, von denen einige die Unternehmungen unmittelbar betreffen und daher in die Produktionskosten und in die Preiskalkulation eingehen, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit an den ausländischen Absatzmärkten beeinträchtigt werden kann. Nun sind jedoch Vergleiche der Steuerbelastung in unterschiedlichen Ländern ein äußerst schwieriges und komplexes Unterfangen. In einer Reihe von wissenschaftlichen Analysen kam man zu dem Ergebnis, daß die Unternehmenssteuerbelastung in Deutschland international im Spitzenfeld lag.16 Um Standortnachteile abzubauen, die aus dem bestehenden Steuersystem erwachsen, wäre eine geeignete Reform des Steuerwesens dringend geboten. Derzeit jedoch (Herbst 1997) blockieren sich in dieser Frage die politischen Kräfte in Deutschland in kaum noch nachvollziehbarer Weise. V.

Versucht man, aus der kurzen Betrachtung einiger wichtiger Indikatoren für die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland eine Schlußfolgerung zu ziehen, dann muß diese wohl wie folgt lauten:

15

Vgl. Personalzusatzkosten in der deutschen Wirtschaft, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), IW-Trends. Quartalshefte zur empirischen Wirtschaftsordnung, Nr. 1, Köln 1997, S. 44 ff., hier: S. 48. 16 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen wicklung, Arbeitsplätze im Wettbewerb, Jahresgutachten 1988/89, S. 116.

Ent-

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1. Die grundlegende Problematik, mit der die deutsche Wirtschaft konfrontiert ist, resultiert aus der Notwendigkeit, die Wirtschaftsstruktur an den tiefgreifenden Wandel im internationalen Wettbewerb anzupassen. Mit zunehmender Freizügigkeit für unternehmerische Aktivität und Kapital, vor allem aber mit der weltweiten Verbreitung technischen Wissens und Könnens und der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte in vielen Ländern, schwinden traditionelle Wettbewerbsvorteile deutscher Anbieter dahin. Daß in vielen Teilen der Welt, vor allem in Mittel- und Osteuropa sowie in den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas ein neues Wirtschaftspotential heranwächst, ist grundsätzlich eine erfreuliche Entwicklung. Für die deutsche Wirtschaft liegt darin keineswegs nur eine Bedrohung ihrer bisherigen Marktpositionen, sondern auch die große Chance, an rasch expandierenden neuen Märkten zu partizipieren. Der Bedrohung zu begegnen und die Chancen wahrzunehmen, setzt aber die Fähigkeit zur Umstellung und Anpassung voraus. Soll aber der Herausforderung durch den Standortwettbewerb erfolgreich begegnet werden, so bedarf es grundlegender Änderungen eingefahrener Verhaltensweisen bei den Akteuren der Wirtschaftspolitik, darüber hinaus auch institutioneller Innovationen, die zu veränderten Verhaltensweisen führen. Lohnpolitik vor allem unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung oder Steigerung des Realeinkommens der bereits Beschäftigten zu betreiben, die Staatsausgaben nicht zu reduzieren, sondern über immer höhere Steuern und Abgaben finanzieren zu wollen, in der Sozialpolitik nur noch Besitzstände zu verteidigen und auszubauen, unternehmerische Tätigkeit über Gebühr zu reglementieren und engen Restriktionen zu unterwerfen, das alles ist unter den Bedingungen des weltweiten Wettbewerbs ganz und gar kontraproduktiv. Andere Industrieländer sind uns hier inzwischen erheblich voraus. Irritiert blickt das Ausland derzeit auf die reformunfahig scheinende Bundesrepublik Deutschland mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit, den explodierenden Staatsschulden und überbordenden Sozialkosten und stellt fest, daß die reale deutsche Wirtschaftsordnung zur Nachahmung nicht mehr taugt. Die Deutschen, so sieht es derzeit aus, sind in den Status quo verliebt. Anstatt die Probleme konsequent anzupacken und die Sozialordnung, das Steuersystem und die Ordnung der Arbeitsmärkte sowie Teile des Gewerberechts konsequent umzugestalten, reden die Großen und die Kleinen aus Politik und Wirtschaft unentwegt von Reformen, zeigen sich jedoch handlungsunfähig. Sie zerreden die Steuersenkungen, den wichtigsten Impuls für einen wirtschaftlichen Aufschwung, sperren sich gegen eine jetzt gesetzlich mögliche Änderung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beharren auf einem System der Altersversorgung, das sich längst überlebt hat. Statt in Zukunftstechnologien zu investieren, werden die staatlichen Ausgaben für Bildung und Forschung beschnitten. Dafür fließen Milliardenbeträge als Subventionen in die Werftindu-

Standortprobleme der Industrieländer

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strie, in den Kohlebergbau und in die Landwirtschaft, also in Wirtschaftszweige, die schon lange und unausweichlich zum Absterben verurteilt sind. Viele Politiker, Gewerkschaftler und andere Verbandsvertreter hängen den „guten alten Zeiten" nach und nehmen die veränderte Wirklichkeit kaum zur Kenntnis. 2. Dies alles hat dazu geführt, daß die Qualität des Standorts Deutschland im Vergleich zu anderen der alten Industrieländer - vor allem Großbritannien, den Niederlanden, USA und Japan - erheblich gelitten hat. Diese Länder haben früher begonnen, auf die Herausforderungen der Globalisierung angemessen zu reagieren und ihre Wirtschafts- und Sozialordnung in Teilen erheblich zu verändern. Je rascher man das in Deutschland erkennt und Konsequenzen daraus zieht, um so schneller und besser kann es gelingen, die von der Globalisierung ausgehenden Probleme zu überwinden, und um so größer sind die Chancen, die Vorteile, welche diese bietet, zu nutzen.

Revisionismus oder Zukunftsfähigkeit? Optionen deutscher Japanpolitik

Von Clemens Kauffmann

I.

Die Europäische Gemeinschaft und Japan veröffentlichten zum Abschluß ihres Gipfeltreffens in Den Haag am 18. Juli 1991 eine gemeinsame Erklärung. Darin betonen die Parteien angesichts der wachsenden weltweiten Interdependenz die Notwendigkeit, ihre politische Kooperation in allen Fragen von internationalem Interesse bis hin zu einem gemeinsamen diplomatischen Vorgehen zu intensivieren. Die wirtschafts- und handelspolitischen Gesichtspunkte, die bisher im Vordergrund der Beziehungen standen, nehmen einen vergleichsweise untergeordneten Platz in der Erklärung ein. Sie beschränken sich, neben einem Bekenntnis zur „Förderung des offenen multilateralen Handels", auf den „Verzicht auf protektionistische und einseitige Maßnahmen" sowie auf die Verwirklichung eines ausgewogenen Zugangs zu den jeweiligen Märkten und die Beseitigung der strukturellen Hemmnisse für die Ausweitung des Handels und der Investitionen auf der Grundlage vergleichbarer Chancen1. Nur zwei Monate später hielt der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher eine Ansprache vor der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Bremen, in der er die neue Rolle, die Deutschland und Japan in der künftigen Weltpolitik spielen sollten, und den Rahmen der bilateralen Beziehungen skizzierte. Seiner Ansicht nach war es die „Leitidee" der gemeinsamen Erklärung von Den Haag, „daß beide Seiten eine umfassende, eine im vollen Sinn politische Beziehung begründen wollen," welche die vorherrschende enge Begrenzung auf ökonomische Fragen überschreitet und sich „auf alle anderen Bereiche gemeinsamen Interesses" erstreckt, das heißt auf Sicherheitspolitik und Abrüstung, auf die Lösung regionaler Konflikte, auf Umweltfragen und Kultur. Neben dem „neuen Deutschland", dessen außenpolitisches Gewicht durch die Wiedervereinigung gewachsen war, sei Japan wegen seiner enormen Wirtschaftskraft „zu einer Supermacht neuer Art - einer Supermacht des 21. Jahr1

Bulletin der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, 7/8-1991, S. 113.

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Clemens Kauffmann

hunderts" aufgestiegen2. „Die eine, solidarische Welt," so Genscher, „kann nicht werden, wenn nicht diese beiden Nationen ihr volles Gewicht in die Waagschale werfen. Dies schafft zwischen Deutschland und Japan, die so vieles gemeinsam haben, ein weiteres Band der Gemeinsamkeit. " 3 Genscher forderte dazu auf, auch die bilateralen Beziehungen politisch auszubauen, um der europäisch-japanischen Achse in der Triade mit Amerika diejenige Tragfähigkeit zu verleihen, deren sie bedarf. Er formulierte weitreichende Ziele. Die „globalen Überlebensaufgaben" könnten unlösbar werden, wenn die wirtschaftlichen Kontakte nicht „zur politischen Gemeinschaft" erweitert würden, „in der jede Region als »Partner in der Führung4 ihren vollen Beitrag leistet zum Aufbau einer neuen Welt. " 4 Die weitreichende politische Vision wurde von Genscher im selben Atemzug durch revisionistische Einschübe konterkariert. Er erinnerte daran, daß Japan bereits die erste Gläubigermacht der Welt sei, die erste Industriemacht werden könnte und die erste Forschungs- und Wissenschaftsmacht werden wolle. Er verband dies mit einer Warnung vor „Techno-Nationalismus" und weltpolitischer Instabilität. Damit rückten, entgegen der zunächst erklärten Absicht, die politischen Kontakte intensiver ins Auge zu fassen, die Wirtschaftsbeziehungen wieder in den Vordergrund. Der destabilisierende Faktor liege nämlich in der Struktur und im Ungleichgewicht des bilateralen Außenhandels. Genscher unterstellte Japan, vor allem in den Schlüsselbereichen Automobilindustrie und Informationstechnik eine expansive Strategie zu verfolgen und Kapazitäten aufzubauen, die „den Bedarf des Weltmarkts in seiner Gänze decken können."5 Der angebliche Verdrängungswettbewerb und die scheinbar intendierte Monopolisierung der Schlüsselindustrien würden „in Amerika wie in Europa Furcht" erwecken6. Um ihr gegenzusteuern empfahl 2 Vgl. Hanns W. Maull , Germany and Japan. The New Civilian Powers, in: Foreign Affairs, 69, 1990/91, S. 101: „ours is no longer an international system of superpower hegemony, but one of cooperation and conflict among highly interdependent partners. " 3 Hans-Dietrich Genscher, Europäisch-japanische Zusammenarbeit im Aufbau einer neuen Welt. Rede vor der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Bremen am 13. September 1991, in: Bulletin, Presse und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 101, Bonn, 19. September 1991, S. 801-804, hier S. 801 f. 4 Genscher, Europäisch-japanische Zusammenarbeit (wie Anm. 3), S. 801. Zur „partnership in leadership" war 1989 Europa insgesamt vom amerikanischen Präsidenten George Bush, später auch Japan von seinem Nachfolger Bill Clinton aufgefordert worden; vgl. Konrad Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung. Deutschlands Hochtechnologie-Industrien kämpfen ums Überleben, 2. Auflage, Stuttgart u.a. 1991, S. 357. 5 Genscher, Europäisch-japanische Zusammenarbeit (wie Anm. 3), S. 802. 6 Genscher, Europäisch-japanische Zusammenarbeit (wie Anm. 3), S. 803; vgl. Seitz' Berufung auf Peter Druckers Begriffsbüdung des „gegnerischen Handels", „der nicht nur auf Teilnahme am Weltmarkt abzielte, sondern auf seine Eroberung - ein

Revisionismus oder Zukunftsfähigkeit?

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Genscher, neben der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen die Öffnung des japanischen Marktes durch die „unentbehrliche", „bewußte" und „aufgeschlossene" Kooperation Japans anzustreben. Was man darunter zu verstehen hat, erläutert Genschers Hinweis auf das Halbleiterabkommen von 1986, das der amerikanischen Industrie bis Ende 1992 einen Marktanteil von zwanzig Prozent in Japan garantieren sollte. Nicht etwa der Abbau tarifarer und nicht-tarifarer Handelshemmnisse nach den Regeln des GATT, noch eine protektionistische Handelspolitik könnten zum Erfolg fuhren, sondern „nach einer solchen marktöffnenden Zusammenarbeit [...] sollten wir ebenfalls suchen."7 Genschers Rede trug die Handschrift des ehemaligen Planungschefs im Auswärtigen Amt Konrad Seitz. Der hatte als Leitlinie für die deutsche Außenpolitik die Entwicklung eines „Nordatlantischen Kooperationsraumes" empfohlen, dessen Zweck die Schaffung eines Gegengewichts zur Integration und förmlichen Organisation des pazifischen Wirtschaftsraumes durch Japan und die USA sein sollte8. Der Untergang der europäischen HochtechnologieUnternehmen, den er prophezeite, könnte seiner Ansicht nach nur durch globale Allianzen mit amerikanischen Konzernen und durch kreuzweise Direktinvestitionen verhindert werden. Natürlich müßten gleichzeitig die deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen ausgebaut werden, aber dies könne die deutsche Wirtschaft nicht ohne eine wirksame Flankierung durch die Politik bewerkstelligen. Seitz gab klar zu verstehen: „die deutsche Politik muß dabei endlich begreifen, was die französische und nun auch die amerikanische begriffen haben: daß sich der Ausbau der Zusammenarbeit mit Japan nicht auf der Basis des reinen Freihandels gestalten läßt. Dazu ist Japan zu andersartig." 9 Die Vorschläge von Konrad Seitz entsprechen unter veränderten Vorzeichen dem bipolaren Denkschema der Nachkriegszeit und beziehen gegenüber Japan eine revisionistische Position. Im folgenden soll der Begriff des Revisionismus erläutert (II.), auf einen ideologischen (III.), historischen (IV.) und ökonomischen Hintergrund (V.) zurückgeführt sowie einer kritischen Prüfung unterzogen werden (VI.). Anschließend werden die deutschen Japaninitiativen seit 1993 beleuchtet (VII.) und bewertet (VIII.).

Handel, der die Industrien des Handelspartners zerstörte" (Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung [wie Anm. 4], S. 361). 7 Genscher, Europäisch-japanische Zusammenarbeit (wie Anm. 3), S. 804. 8 Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung (wie Anm. 4), S. 353-359. 9 Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung (wie Anm. 4), S. 360.

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Clemens Kauffmann Π.

Der Begriff des „Revisionismus" ist im Bereich der Japanpolitik relativ klar zu umreißen. Er bedeutet vor allem dreierlei 10. Gemeint ist angesichts chronischer Handelsbilanzdefizite im Warenverkehr mit Japan erstens die Abkehr von der traditionellen Überzeugung, der Kapitalismus würde universalen Regeln gehorchen und überall auf der Welt in gleicher Weise funktionieren 11. Die einzigartige Natur des japanischen Wirtschaftssystems widerspreche der Logik westlicher Modelle12. Nach C. Fred Bergsten vom „Institute for International Economics" in Washington gehört es zur revisionistischen Begründungsstrategie bestimmter außenpolitischer Doktrinen, unüberwindliche kulturelle Divergenzen zwischen Japan und dem Westen zu behaupten13. Revisionisten befürworten zweitens die Restrukturierung der heimischen Wirtschaft und der wirtschaftspolitischen Instrumente. Das Ziel ist, die großen Unternehmen für den globalen Kampf um Innovationen und Marktanteile zu rüsten. In diesem Sinne erwog William R. Nester die Gründung eines DITI (Department of International Trade and Industry) als Gegenstück zum japanischen MITI und schlug vor, es um ein „B-Team" zu ergänzen, das aus „revisionist Japan experts" besteht und die politische Strategie festlegt 14. Um 10 Zu den Revisionisten zählen in Amerika vor allem James Fallows, Clyde V. Prestowitz Jr., Karel van Wolferen und Chalmers Johnson, die man gelegentlich auch als die „Viererbande" bezeichnet. Genannt werden können weiterhin Daniel Burstein, der 1993 seine Position von 1988 allerdings neu bewertet hat, Lee Iacocca, Willam R. Nester oder Theodore White; vgl. Max Otte / William W. Grimes , Die wichtigste Beziehung der Welt. Japans Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, in: Hanns W. Maull (Hrsg.), Japan und Europa: Getrennte Welten? Frankfurt am Main 1993, S. 117-122; Bernhard May, Japan in der Krise? Ökonomische und politische Umwälzungen in Japan als Herausforderung für die Triade, Bonn 1996, S. 48 f., 92-100; Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung (wie Anm. 4), S. 356. 11

Daniel Burstein, Good bye Nippon. Das Ende der japanischen Vorherrschaft, München 1993, S. 62-77, hier 63. Der amerikanische Originaltitel „Turning the Tables: A Machiavellian Strategy for Dealing with Japan" weist deutlicher auf die Absicht des Buches hin. Burstein (ebd. S. 74) fordert eine machiavellistische Strategie, weü Wettbewerbsfähigkeit am Markt nur bedeute „»gewieft 4 und »hart* sein." Jörg Zimmermann, Deutsch-Japanische Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in: H. Mehl / H. Meyer (Hrsg.), Vertraute Fremde, München 1994, S. 148, formuliert aus deutscher Perspektive: „Die Konkurrenzfähigkeit ist heute weniger eine Frage des Könnens als eine Frage des Konkurrierenwollens." 12

Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München und Wien 1996, S. 363: „Alles in allem hat die japanische Wirtschaft nicht so gearbeitet, wie es die vermeintlich universalen Gesetze der westlichen Wirtschaftswissenschaften vorschreiben. " 13 C. Fred Bergsten / Marcus Noland, Reconcilable Differences? United States-Japan Economic Conflict, Washington 1993, S. 7-12. 14 William R. Nester, American Power, the New World Order and the Japanese Challenge, London 1993, S. 423.

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der heimischen Wirtschaft eine „Atempause" für die notwendigen Strukturanpassungen zu verschaffen, müßten drittens die rigiden Mittel des „gelenkten Handels" und das „Prinzip der Reziprozität" zur Anwendung kommen. Unter „gelenktem Handel" ist der gezielte Eingriff einer Regierung in die internationale Wirtschaft zu verstehen, durch den ein bestimmtes Ergebnis im Warenaustausch erzielt werden soll, das unter Marktbedingungen nicht zu erreichen wäre. Das „Prinzip der Reziprozität" impliziert über die Gleichheit der Marktzugangsbedingungen hinaus den politisch herbeigeführten Ausgleich von Handelsströmen15. Das Prinzip der Reziprozität bestimmte traditionell das Verhältnis Frankreichs gegenüber Japan, das nach Paul Kevenhörster „durch ein starkes Mißtrauen" geprägt ist 16 . Handelslenkung und Reziprozität sind Kennzeichen einer „ergebnisorientierten" Handelspolitik, die sich den Regeln des freien Welthandels nicht unterwirft 17. In den Vereinigten Staaten fand die revisionistische Gesinnung, die von den Medien intensiv unterstützt wurde, handgreiflichen Ausdruck im sogenannten „Japan-bashing", das seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, als am 1. Juli 1987 neun Abgeordnete und Senatoren auf den Stufen des Kongresses ein japanisches Radiogerät mit einem Vorschlaghammer zerstörten 18. Einseitige Vorleistungen und Zugeständnisse seitens des Westens würden nicht zum Erfolg führen, da sie von den Asiaten nicht als vertrauensbildende Maßnahmen angenommen, sondern schlichtweg ausgenutzt würden19. Man unterstellte Japan, die Niederlage im pazifischen Krieg nicht verwunden zu haben und seither Genugtuung durch einen Sieg im pazifischen Handel zu suchen20. Die Beziehungen zwischen den USA und Japan waren zwischenzeitlich so verhärtet, daß sich Daniel Burstein 1988 veranlaßt sah, vor einem militärischen Ein-

15

Burstein, Good Bye Nippon (wie Anm. 11), S. 65, 67-71. Paul Kevenhörster, Japan. Außenpolitik im Aufbruch, Opladen 1993, S. 207; ders., Die außenpolitischen Beziehungen zwischen Japan und Europa, in: Maull (Hrsg.), Japan und Europa (wie Anm. 10), S. 271. 17 Die Regierung Clinton hat seit 1994 die ergebnisorientierte Handelspolitik der regelorientierten vorgezogen; vgl. May, Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 64 f. 18 May, Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 94-97, spricht in diesem Zusammenhang passend von „Politikersatz". 19 Huntington, Kampf der Kulturen (wie Anm. 12), S. 367. 20 May , Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 95f.; Theodore H. White, The Danger from Japan, in: The New York Times Magazine, 28. Juli 1985; Nester, American Power (wie Anm. 14), S. 91: „The idea that Japan is locked in a perpetual trade war with the outside world is the spiritual engine of Japanese neomercantilism that single-mindedly drives virtually all Japanese, from the highest minister to the lowest factory worker, to devote themselves to Japan's success." „Since 1945, although Japan's goals remain constant, the means have shifted dramatically from imperialism to neomercantilism." (ebd. S. 112). 16

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griff seitens der USA zu warnen21. Daß Bursteins Warnung nicht der Grundlage entbehrt, belegt der Bericht „Japan 2000: Defcon 1", der 1991 von der CIA in Auftrag gegeben worden sein soll. „Defcon" bezeichnet in der Sprache der Armee „offene militärische Feindseligkeiten."22 In Japan empfand man das „Japan-bashing" als eine unangemessene Form politischen Drucks und reagierte mit zunehmender Ablehnung der USA ("kenbei"23). Wie Meinungsumfragen zeigen, sanken Ansehen und Vertrauen, das die Vereinigten Staaten bei den Japanern genossen, seit Mitte der achtziger Jahre kontinuierlich ab. So entwickelten sich auch auf japanischer Seite revisionistische Positionen24, die sich auf teilweise absurde Theorien über das Japanertum stützen25. Sie konvergieren mit einem bestimmten Selbstverständnis und Kommunikationsstil, der in der japanischen Öffentlichkeit weit verbreitet ist. Auf Kritik, auch nur auf den Verdacht, nicht gemocht zu werden, reagiert man, diesen Eindruck hat Irmela Hijiya-Kirschnereit gewonnen, gelegentlich mit einer Mischung aus Selbstmitleid und Verfolgungswahn 26. Die handelspolitischen Friktionen werden mitunter im Vokabular des „ijime"Problems diskutiert, einem makaberen, seit den achtziger Jahren virulenten Phänomen von Hänseleien und Schikanen, mit denen einzelne Schüler von ihren Klassenkameraden, manchmal unter Beteiligung ihrer Lehrer, in den

21 Burstein, Good Bye Nippon (wie Anm. 11), S. 52; siehe auch George Friedman / Meredith Lebard, The Coming War with Japan, New York 1991. Burstein macht eine Bemerkung, die man bei der Lektüre Huntingtons berücksichtigen sollte: „Nicht ganz unbedenklich ist auch der Umstand, daß die von den Revisionisten vertretenen Ideen immer dann am meisten Gehör finden, wenn sie in den Kontext einer allgemeinen Bedrohung der amerikanischen Vorherrschaft durch Japan gestellt werden" (ebd. S. 66 f.). 22 Otte / Grimes, Die wichtigste Beziehung der Welt (wie Anm. 10), S. 121; vgl. Shintaro Ishihara, Wir sind die Weltmacht. Warum Japan die Zukunft gehört, Bergisch-Gladbach 1992, S. 38. 23 Steven R. Weisman, Kenbei! Japanese Bash Back. They're Tired of Hearing That „America Doesn't Like Us", in: International Herald Tribune, 16.10.1991: „,Kenbei4 is a neologism that has been used only since the beginning of this year, reflecting the pent-up feelings of frustration and criticism of the United States acculmulating for many years on the basis of friction over trade issues, cultural differences and a number of other points of disagreement between the two countries." May , Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 98-100. 24 Vgl. Otte / Grimes, Die wichtigste Beziehung der Welt (wie Anm. 10), S. 117 ff.; Irmela Hijiya-Kirschnereit, Vexierspiegel - einander gegenübergestellt. Zum Japanbild in deutschsprachigen Publikationen und zur japanischen Perspektive. Ein kritischer Literaturbericht, in: Leviathan, 14, 1986, S. 418-451. 25 Beispiele bei Irmela Hijiya-Kirschnereit, Das Ende der Exotik. Zur japanischen Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, Frankfurt am Main 1988, S. 14 ff., 62, 88 f., 203 f. 26 Hijiya-Kirschnereit, Vexierspiegel (wie Anm. 24), S. 446.

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Selbstmord getrieben werden27. Shintaro Ishihara ist sicher, den Handelsstreitigkeiten mit den USA liege ein „bösartiger Rassismus" zugrunde28. Japan sieht sich in diesem Zusammenhang als das Opfer internationaler Kampagnen, deren einzelne Manifestationen, wie die Kritik am Walfang, als Hiebe im Kampf gegen die japanische Kultur verstanden werden. Eine zusätzliche Schwierigkeit bereitet nach Hijiya-Kirschnereit die geringe Bereitschaft bestimmter Kreise, sich auf Kritik sachlich einzulassen, und sich statt dessen einen ausschließlich „emotionalen Reaktionsmodus zu suchen."29 Dabei geht man mit dem Ausland selbst nicht zimperlich um. Einige Japaner halten die amerikanische Politik für großspurig. Sie vermissen eine angemessene Anerkennung japanischer Leistungen und amüsieren sich über Produktivitätsverluste, für die sie einen schlechten Ausbildungsstand der Arbeiterschaft und mangelnde ethnische Homogenität der amerikanischen Bevölkerung verantwortlich machen30. Bei Ishihara wird schließlich der Ruf nach einer grundsätzlich selbstbewußteren Haltung Japans in erster Linie in den Beziehungen zu Amerika laut. Japan müsse seine technologische Überlegenheit in eine neue Konzeption der Außenpolitik übersetzen und der amerikanischen „Überheblichkeit" ein klares „Nein!" entgegensetzen. Nur so könne man nationale Interessen vertreten 31. ΠΙ.

Die revisionistische Doktrin instrumentalisiert unter politischen Vorzeichen eine bestimmte Ideologie von der Einzigartigkeit, der Fremdheit und grundsätzlichen Andersheit der japanischen Kultur 32. Die zur Zeit wohl einflußreichste These ist Samuel P. Huntingtons Vision vom Zusammenprall der Kulturen. Aus amerikanischer Perspektive bescheinigt Huntington dem Verhältnis des Westens zu Japan einen desolaten Zustand. Es sei als gespannt bis gereizt einzustufen. Huntington macht „vor allem die Wirtschaftsbeziehungen" dafür verantwortlich und insbesondere die Entwicklung der Handelsbilanzen33. Die Beziehungen hätten 1991 einen solchen Tiefpunkt erreicht, daß 27

Hijiya-Kirschnereit, Vexierspiegel (wie Anm. 24), S. 443 ff. Ishihara, Wir sind die Weltmacht (wie Anm. 22), S. 49, 208 f. 29 Hijiya-Kirschnereit, Vexierspiegel (wie Anm. 24), S. 449. 30 Otte / Grimes, Die wichtigste Beziehung der Welt (wie Anm. 10), S. 117 ff.; Hijiya-Kirschnereit, Vexierspiegel (wie Anm. 24), S. 445 ff. 31 Ishihara, Wir sind die Weltmacht (wie Anm. 22), S. 38, 67-78. 32 Die Etikettierung als Ideologie fmdet sich in der Huntington-Kritik von Thomas Meyer, Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds, Berlin 1997, S. 69, 72. 28

33 Samuel P. Huntington, Why International Primacy Matters, in: International Security, 17, 1993, S. 81: „Economic primacy matters because economic power is both the most fundamental and the most fungible form of power. "

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Amerikaner und Japaner im gegenseitigen Meinungsbild die Sowjetunion als die größte Gefahr für die eigene Sicherheit abgelöst hätten34. Der Verschlechterung entspreche auf der anderen Seite die wachsende Solidarität unter den asiatischen Staaten, oder, wie Huntington es nennt, die „asiatische Affirmation." 35 In Japan würde die Überzeugung an Kraft gewinnen, daß man mit asiatischen Ländern mehr gemein habe als mit den USA 36 . Die Asiaten, deren wachsendes wirtschaftliches Gewicht ihre Machtposition gestärkt habe, bekräftigten inzwischen „die Überlegenheit ihrer Kultur gegenüber der westlichen Kultur." 37 Der Konflikt mit der amerikanischen Überzeugung von der Gültigkeit, ja „Heiligkeit" westlicher Werte und Institutionen scheint infolgedessen vorprogrammiert 38. Daraus entsteht das für Huntington eigentlich bedrohliche Szenario. Was wäre, wenn Japan das chinesische Hegemoniebedürfnis im pazifischen Raum anerkennen und die Fronten wechseln würde? Die USA könnten in diesem Fall ihre Rolle als die dominierende Macht im Pazifik einbüßen. „Die chinesische Hegemonie wird [...] die USA zwingen, genau das zu akzeptieren, was sie historisch immer zu verhindern suchten: die Beherrschung einer Schlüsselregion der Welt durch eine andere Macht." 39 Der drohende Konflikt hat für Huntington etwas Unausweichliches. Er trägt die Züge des Schicksalhaften. Auf der Suche nach den Ursachen der konfliktträchtigen Entwicklung gelangt Huntington nicht etwa zur Politik, sondern zu „übergeordneten Faktoren." „Die Quellen des Konflikts liegen in

34

Huntington, Kampf der Kulturen (wie Anm. 12), S. 355-358. Ebd., S. 156 f., 163, 164, 166, 207. 36 Ebd., S. 368. 37 Ebd., S. 361; vgl.S. 157f., 162f., 165. 38 Ebd., S. 158, 362, 368. 39 Ebd., S. 385. Huntingtons These findet ihre Fortsetzung in Richard Bernstein / Ross H. Munro, The Coming Conflict with China, New York 1997. Ishihara hatte tatsächlich erwogen, „das globale militärische Gleichgewicht" könne „nachhaltig verschoben werden, wenn Japan beschlösse, seine Computer-Chips nicht mehr an die Vereinigten Staaten, sondern an die Sowjetunion zu verkaufen" (Ishihara, Wir sind die Weltmacht [wie Anm. 22], S. 38). Ronald Reagan und Michaü Gorbatschow hätten die Absurdität ihrer Situation, das heißt ihre gemeinsame Abhängigkeit von der technologischen Überlegenheit Japans, begriffen und aus diesem Grund das Wettrüsten beendet (ebd. S. 38, 209). 1987 sorgte der „ToshibaSkandal" für Schlagzeüen, nachdem bekannt geworden war, daß die Toshiba Machine Tools, Inc. unter Umgehung der Cocom-Exportbestimmungen computergesteuerte Werkzeugmaschinen an die Sowjetunion geliefert hatte, die es den Sowjets ermöglichten, wesentlich leisere U-Boot-Antriebe zu produzieren (siehe Thilo Graf Brockdorff, Deutschland und Japan. Partner und Konkurrenten, in: Wilfried von Bredow/ Thomas Jäger (Hrsg.), Japan, Europa, USA. Weltpolitische Konstellationen der 90er Jahre, Opladen 1994, S. 26; Otte /Grimes, Die wichtigste Beziehung der Welt [wie Anm. 10], S. 129, 138). 35

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fundamentalen Unterschieden in Gesellschaft und Kultur." 40 Die wirtschaftsund handelspolitischen Friktionen tauchen demnach nicht deshalb auf, weil der strategische Pragmatismus der japanischen Ökonomie zu Wettbewerbsvorteilen verholfen hätte, sondern „weil die japanische Gesellschaft auf einzigartige Weise nichtwestlich ist." 41 Im Umkehrschluß müsse man sich auf die Integration eines asiatischen Wirtschaftsraumes vorbereiten, etwa in Gestalt des „East Asian Economic Caucus", bei dem die USA nicht mitmachen dürften, „weil sie kulturell keine Asiaten sind." Huntington gilt es deshalb als ausgemacht, und er bezeichnet dies als die „tiefere Prämisse" ökonomischer Prozesse in Asien: die Wirtschaft folgt der Kultur 42. Seymour Martin Lipset, auf dessen Untersuchungen sich Huntington stützt, hält die Amerikaner und die Japaner für kulturelle Antipoden. Dabei genießen die USA den Rang einer Ausnahmenation, und Japan wird als Unikat betrachtet43. Einzigartig unter den entwickelten Gesellschaften sei die starke Gruppenorientierung der Japaner, die in einem besonderen Kontrast zum Individualismus der Amerikaner stehe44. Dieses Klischee45 stützt sich auf Befragungen, bei denen sich Japaner zu westlichen Mustern und Werten äußern sollten. Man könnte mit Kurt Singer, dem deutschen Nationalökonomen, der zwischen 1931 und 1939 unter schwierigen Bedingungen in Japan lebte, auf das begriffliche Problem aufmerksam machen, das möglicherweise entsteht, wenn man einen Japaner nach gruppenspezifischen und individuellen Handlungsfaktoren befragt. Demnach wäre ein Japaner „nicht nur außerstande, eine vernünftige Antwort zu erteilen, sondern auch abgeneigt, überhaupt die Berechtigung einer solchen Frage anzuerkennen."46 Der japanische Ökonom Yujiro Eguchi läßt in diesem Punkt an seiner Feststellung keine Deutlichkeit vermissen: „Nach Ansicht der Japaner ist es freilich falsch, wenn man ihre Gesellschaft mit dem Begriff der Gruppenmentalität im Unterschied zum Individualismus definieren zu können glaubt [...]." 4 7 Lipset versäumt zu erläutern, ob

40

Huntington, Kampf der Kulturen (wie Anm. 12), S. 361, 362, vgl. 365, 369. Huntington, Kampf der Kulturen (wie Anm. 12), S. 364; vgl. Ishihara, Wir sind die Weltmacht (wie Anm. 22), S. 180. 42 Huntington, Kampf der Kulturen (wie Anm. 12), S. 207. 43 Seymour Martin Lipset, American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York 1996, S. 251. 44 Lipset, American Exeptionalism (wie Anm. 43), S. 217. 45 Vgl. Christoph Deutschmann, Die Individualisierungsthese im theoretischen und historischen Kontext, in: Individualisierung in der japanischen Gesellschaft, Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin (JDZB), Reihe 1, Bd. 14, Berlin 1992, S. 9. 46 Kurt Singer, Spiegel, Schwert und Edelstein. Strukturen des japanischen Lebens, Frankfurt am Main 1991, S. 259. 41

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die Begriffe „Individualismus", „Liberalismus", „Freiheit" und „Gleichheit", die von ihm gelegentlich äquivalent gebraucht werden, für Japaner und Amerikaner dieselbe Bedeutung haben48. Das wäre die Voraussetzung für einen aussagekräftigen Vergleich 49. Huntington und Lipset vermitteln gelegentlich den Eindruck, Klischees im Rahmen einer unscharfen Begrifflichkeit unter Rückgriff auf bekannte Identifikationsmuster politisch zu instrumentalisieren 50. So hält es Lipset unter Hinweis auf die Gruppenorientierung für angemessen, die japanische Wirtschaft als „kommunistischen Kapitalismus" zu beschreiben. Japans Wirtschaftspolitik sei für Amerika wegen ihrer sozialistischen, beinahe radikalen Ausrichtung unannehmbar51. Für Japan sei eine angeblich dauerhafte und relativ starke Linksorientierung im politischen Spektrum und der Sozialpolitik kennzeichnend. Die sich daraus ergebenden gravierenden Unterschiede, erläutert Lipset, „are linked to basic differences in orientation toward individualism and equality [...]." 5 2 Die Botschaft ist klar: Amerika steht für Freiheit und Japan dagegen. Lipset überträgt diese Überzeugung auf die Handelspolitik und kommt zu dem Schluß, daß die offene Gesellschaft Amerikas die Tradition des klassischen Laissez-faire-Liberalismus verkörpere und die globalen Wirtschaftsströme allein der Regulierung durch Marktmechanismen und multilaterale Regimes überlasse53. Die Realität der amerikanischen Japanpolitik dürfte demgegenüber belegen, daß es sich hierbei um einen ebensolchen Mythos handelt wie den von der japanischen Einzigartigkeit.

47 Yujiro Eguchi, Japanische Gruppenmentalität und ökonomische Konflikte, in: Japan und der Westen, Band 2, hrsg. von Constantin von Barloewen und Kai Werhahn-Mees, Frankfurt am Main 1986, S. 183. 48 Lipset, American Exceptionalism (wie Anm 43), S. 255. 49 Deutschmann, Die Individualisierungsthese (wie Anm. 45), S. 11 f.: „Solange aber nicht geklärt ist, was mit dem Schlüsselbegriff der Individualisierung eigentlich gemeint ist, muß die empirische Diagnose - natürlich auch der Vergleich mit Japan ins Leere laufen. " 50 Darauf läuft auch die Kritik hinaus, die Meyer an Huntington geäußert hat; siehe Meyer, Identitätswahn (wie Anm. 32), S. 48, 69, 75, 79 f. 51 Lipset, American Exceptionalism (wie Anm. 43), S. 215 f., 254 („too leftist"). 52 Lipset, American Exceptionalism (wie Anm. 43), S. 255, vgl. 223. 53 Lipset, American Exceptionalism (wie Anm. 43), S. 215, 252; vgl. das Gegenstück (ebd. S. 250, 259), das die angeblich protektionistische Politik Japans auf die Kultur des Rassenbewußtseins und die Mentalität eines geschlossenen Systems zurückführt.

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IV·

Die revisionistische Option der deutschen Japanpolitik kann neben ihrer ideologischen Einordnung vor einem politisch-historischen Hintergrund betrachtet werden. Seitz' Position, die von Genscher 1991 aufgegriffen worden zu sein scheint, war keine Einzelmeinung54. Die revisionistische Grundanschauung, der Austausch mit Japan stoße am Naturell der Japaner auf Grenzen, wurde schon des längeren in der deutschen Öffentlichkeit popularisiert, interessanterweise auch von solchen Medien, die sich, wie der Spiegel und die ZEIT, in anderen Fällen einer multikulturellen Offenheit verpflichtet fühlen 55. Siegfried Quandts Analyse von Dokumentär- und Nachrichtenfilmen aus den Jahren 1989 und 1991/92 kommt zu dem Ergebnis, die deutschen Medien hätten ein zunehmend negatives Japanbild vermittelt und die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Japan und Deutschland im Sinne eines „Haltet sie fern!" betont. Diese Tendenz, die auch in den Print-Medien anzutreffen sei, wäre in ihrer negativen Grundhaltung „tiefgehender als das amerikanische Japan bashing." 56 Thilo Graf Brockdorff wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Japanbild in Deutschland „in bedeutendem Maße durch die Japan-Sicht der Amerikaner geprägt" sei57. Regine Mathias-Pauer hat die Meinungsbildung durch die Medien in einem anderen historischen Kontext untersucht. Als im Jahre 1895 Japan nach dem Sieg über China neben Formosa (Taiwan) und den Pescadoren zunächst auch das Gebiet von Liaotung auf dem mandschurischen Festland zufiel, hatte Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Rußland Japan in der „TripleIntervention" den „freundschaftlichen Rat" erteilt, auf die strategisch wichtige Halbinsel zu verzichten. In der deutschen Öffentlichkeit war der Aufstieg des fernen Landes zuvor mit Interesse und Sympathie verfolgt worden. Ja, man erwog, ob es die militärischen Erfolge nicht rechtfertigen könnten, Japan „in den Kreis der maßgeblichen ,Culturstaaten4" aufzunehmen, zumal es der deutsche General Jacob Meckel war, der den Aufbau der japanischen Armee

54

Vgl. Brockdorff, Deutschland und Japan (wie Anm. 39), S. 20 Anm. 6, S. 24. Elmar Holenstein, Menschliches Selbstverständnis. Ichbewußtsein, Intersubjektive Verantwortung, interkulturelle Verständigung, Frankfurt am Main 1985, S. 105 ff., hat die Fälle als kritische Grundlage seiner Theorie interkultureller Verständigung dokumentiert. 56 Siegfried Quandt, Das Bild Japans und der Japaner im deutschen Fernsehen, in: Das Bild Japans im deutschen Fernsehen. Eine Analyse der wirksamsten Medienbilder, hrsg. vom Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin, Berlin 1993, S. 5-8 (Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin; Reihe 1, Bd. 19). 57 Horst Dieter Schichtet, Zusammenfassung der Tagung, in: Das Bild Japans im deutschen Fernsehen (wie Anm. 56), S. 28. 55

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und ihrer Kommandostrukturen ins Werk gesetzt hatte58. Es bedurfte also eines besonderen Grundes, daß sich die deutsche Politik nun gegen Japan richtete. Im Bonner General-Anzeiger erschien am 6. Mai 1895 unter der Überschrift „Japan als Concurrent" ein Artikel, der eine Begründung geben könnte. Mathias-Pauer faßt den Inhalt folgendermaßen zusammen: „darin werden die Japaner als gefahrlichste Konkurrenten dargestellt, die Chinesen hingegen als gute Kunden. Man betont die ungeheure Wichtigkeit Chinas für den deutschen Markt und schließt mit den Worten: ,Möge es der deutschen Diplomatie gelingen, die drohenden Gewitterwolken zu beseitigen, die sich dort ( = in China) über unserem Handel und unserer Industrie zusammengebraut haben.4"59 Etwa ein Jahr später, am 21. Juni 1896, war in derselben Zeitung zu lesen, „daß man es nicht mit einer verfehlten Politik zu tun habe," wenn man den „schweren Kampf gegen die herrschende Neigung für Japan" aufnehme, weil dies den „wahren Interessen Deutschlands" diene, den „Interessen unseres Handels und unserer Industrie." 60 Nach Josef Kreiner beendete die Politik, die sich ökonomischen Interessen verpflichtet fühlte, das „Goldene Zeitalter" der deutsch-japanischen Beziehungen der Meiji-Zeit: „Die Triple-Intervention 1895, der sich Deutschland ohne jede Notwendigkeit anschloß, brachte schließlich Deutschland um alle Früchte, die seine in Japan tätigen Kaufleute und Wissenschaftler zusammengetragen zu haben glaubten." 61 Im 19. Jahrhundert hat sich offenbar eine Akzentverlagerung im Japanbild des Westens vollzogen, die den Eindruck des Exotischen unterstrich. Nach der Auffassung Singers nahmen frühere Japankundige, wie Engelbert Kaempfer oder Carl Peter Thunberg, „frei von Engstirnigkeit" die eigentümlichen Kontraste des japanischen Naturells wahr, ohne sie „als ganz besonders merkwürdig und antipodisch einzuschätzen." Während im 18. Jahrhundert „die Redlichkeit des japanischen Kaufmanns überhaupt nicht in Zweifel gezogen" wurde, mehrten sich nun die Stimmen, die den Japaner als zurückhaltend, doppelzüngig und betrügerisch kritisierten. Für Singer war es „schwer, sich vorzustellen, daß der Volkscharakter sich so sehr gewandelt hatte." Was sich gewandelt hatte waren ihm zufolge die Beziehungen zwischen den Einheimischen und den Fremden, „die wenig Achtung vor den uralten Formen des nationalen Lebens zeigten, sich auf die abschreckende Wirkung ihrer Feu58 Regine Mathias-Pauer, Deutsche Meinungen zu Japan. Von der Reichsgründung bis zum Dritten Reich, in: Josef Kreiner (Hrsg.), Deutschland - Japan. Historische Kontakte, Bonn 1984, S. 124. 59 Mathias-Pauer, Deutsche Meinungen (wie Anm. 58), S. 124. 60 Mathias-Pauer, Deutsche Meinungen (wie Anm. 58), S. 125 (meine Hervorhebung). 61 Josef Kreiner, Deutschland - Japan. Die frühen Jahrhunderte, in: ders. (Hrsg.), Deutschland - Japan (wie Anm. 58), S. 48.

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erwaffen verließen, die Gesetze des Landes nach ihren eigenen Vorstellungen von Wirtschaft und Schiffahrt abzuändern trachteten und nicht immer ein höchstes oder auch nur ein mittelmäßiges Niveau an westlicher Moral und Kultur repräsentierten." 62 Auch das scheinbar reibungslose Nebeneinander von traditioneller Lebenskultur und moderner Zivilisation wirkte auf manchen ungewohnt fremdartig. Die Synthese von japanischem Geist und westlicher Technik, die im Kaiserlichen Verfassungseid von 1868 ausgerufen worden war, funktionierte offenbar „anders", als der Westen erwartet hatte, und vermehrte den Argwohn einzigartiger, exotischer Fremdheit63. Die deutsche Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit fordert gut einhundert Jahre später, programmatisch zusammengefaßt im Titel eines ihrer Bücher, das Ende der Exotik. Sie ist überzeugt, daß man den Zugang zu Japan verfehlt, wenn man ihn in der Einstellung sucht, das schlechthin Fremde zu finden. Wer nur das „Exotische" sieht, werde entweder zum „going native" „mit all seinen Spielarten des Anbiederns und der Schwärmerei" verführt oder vom Kulturrelativismus eingenommen, der „das Japanische ein für allemal vom Geltungsbereich der uns bekannten Normen" absetze. Kritische Distanz und Freiheit des Urteils fallen beiden Haltungen zum Opfer. Der Exotismus sei zudem politisch riskant, weil Engstirnigkeit, so Hijiya-Kirschnereit, zum Nährboden eines pseudoliberalen Nationalismus werden könnte64. V. Neben den ideologischen und historischen Faktoren bedingen vor allem ökonomische Entwicklungen den revisionistischen Ansatz der Japanpolitik. Sie gewinnen in einer von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt insofern an Bedeutung, als die Wirtschaftskraft gegenüber militärischer Stärke zunehmend über machtpolitische Potentiale entscheidet65. Man muß sich deshalb darauf einstellen, daß die Außenwirtschaftspolitik als Teilaspekt der Außenpolitik weiter an Gewicht gewinnt. Die Vereinigten Staaten, der wichtigste Handelspartner Japans bei Ein- und Ausfuhren, leiden unter einem chronischen Defizit im Warenverkehr mit dem asiatischen Konkurrenten. 1986 be-

62

Singer, Spiegel, Schwert und Edelstein (wie Anm. 46), S. 41, 46 f. Mathias-Pauer, Deutsche Meinungen (wie Anm. 58), S. 129 f. Einen Einbück in die unterschiedlichen nationalen Auffassungen von der japanischen „Fremdheit" geben Harumi Befu / Josef Kr einer (Hrsg.), Othernesses of Japan. Historical and Cultural Influences of Japanese Studies in Ten Countries, München 1992. Eines der einflußreichsten Werke über die Konzeptualisierungen des Orients im Westen ist Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main u.a. 1981. 64 Hijiya-Kirschnereit, Das Ende der Exotik (wie Anm. 25), S. 203. 65 Vgl. Maull, Germany and Japan (wie Anm. 2), S. 99. 63

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lief sich der Verlust auf 51 Milliarden US-Dollar 66. Er konnte bis 1990 auf knapp 38 Milliarden US-Dollar zurückgeführt werden, erreichte aber bereits 1994 wieder den Rekordwert von beinahe 55 Milliarden US-Dollar. Das Jahr 1996 brachte allerdings eine Reduzierung auf 32 Milliarden US-Dollar, 1997 scheint es allerdings erneut nach oben hin ausgebrochen zu sein67. Das Handelsvolumen konnte im besagten Zeitraum von 109 Milliarden US-Dollar 1986 auf 191 Milliarden US-Dollar 1996 nahezu verdoppelt werden. Gemessen an ihrer Wirtschaftskraft sind die direkten Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Japan schwach ausgebildet. Mit einem Umsatz von 55,3 Milliarden Mark bewegte sich 1996 das Handelsvolumen in einem seit Beginn der neunziger Jahre stabilen Korridor 68. Vorausgegangen waren allerdings erhebliche Zuwachsraten. 1970 hatte der Umsatz noch knapp 4 Milliarden bei einem deutschen Defizit von 95 Millionen Mark betragen. Zehn Jahre später erreichte das Volumen bereits 14,4 Milliarden Mark, was bei einem Defizit von 6,5 Milliarden in der Hauptsache zu Lasten Deutschlands ging. Bis 1990 konnte der Umsatz auf knapp 51 Milliarden Mark angehoben werden, was einer Steigerung um knapp 240 Prozent entspricht69. Der vorläufige Höhepunkt wurde 1991 mit 56,2 Milliarden Mark und einer Steigerung gegenüber dem Vorjahresergebnis um 11,7 Prozent erreicht. Mit einer leichten Zeitverzögerung hatte der Nachfrageschub im Gefolge der Wiedervereinigung Eingang in die Statistik gefunden. Gleichzeitig flachten die deutschen Ausfuhren nach Japan ab, das nach dem Platzen der „bubble economy" 1989 in die Heisei-Rezession abgerutscht war. Folglich erreichte das Handelsbilanzdefizit den Rekordwert von 23,2 Milliarden, und der seit 1949 kumulierte negative Saldo belief sich auf mittlerweile 172,4 Milliarden Mark 70. Im Jahr 1996 konnte das Defizit im deutschen Japanhandel allerdings auf unter 13 Milliarden Mark gedrückt werden. Nach Gütergruppen aufgeschlüsselt wurde der Verlust 1996 in erster Linie in den Bereichen Feinmechanik, Büromaschinen 66 Die Daten stammen aus den wirtschafts statistischen Anhängen von Manfred Pohl (Hrsg.), Japan. Politik und Wirtschaft, Institut für Asienkunde Hamburg, mehrere Jahrgänge. 67 Nach einer Reuters-Meldung (Süddeutsche Zeitung, 23. Januar 1998) stieg der Überschuß im japanischen Außenhandel 1997 um 48,5 Prozent auf etwa 143 Milliarden Mark. Das Plus im Handel mit den USA stieg im selben Zeitraum um 41,7 Prozent auf etwa 72 Milliarden Mark. Zum Problem vgl. May, Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 47-69. 68 Statistisches Bundesamt: Fernost und Deutschland - Partner im Welthandel. Ein Beitrag der deutschen Außenhandelsstatistik zum Deutschen Außenwirtschaftstag 1997 in Bremen, Zahlenband, Wiesbaden 1997, Tabellen 7 und 8. 69 Statistisches Bundesamt, Fernost und Deutschland (wie Anm. 68), Tabelle 3. 70 Hans-Joachim Kurwan, Deutsch-japanische Wirtschaftsbeziehungen im Jahr nach der Wiedervereinigung, in: Manfred Pohl (Hrsg.), Japan. Politik und Wirtschaft 1991/92, Hamburg 1992, S. 253-278.

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und elektrotechnische Erzeugnisse erwirtschaftet, während die chemische und die Automobilindustrie Überschüsse erzielten. Unter politischen Gesichtspunkten wird man es nicht als Zufall betrachten müssen, daß der revisionistische Tonfall genau zu dem Zeitpunkt Eingang in die deutsche Japanpolitik fand, als das Defizit in den Jahren 1991 und 1992 als Folge der deutschen Wiedervereinigung Rekordwerte erreichte. VI.

Die revisionistische Option, welche die deutsche Japanpolitik zu Beginn der neunziger Jahre wahrnehmen wollte, zeigt die Schwierigkeit und Anfälligkeit der Politik in Zeiten, da alte Strukturen zerbrochen sind ohne durch neue ersetzt zu sein. Ihre Wirksamkeit in wirtschafts- und handelspolitischen Fragen ist zweifelhaft. Bei dem amerikanisch-japanischen Halbleiterabkommen von 1986, auf das sich Genscher als Musterfall bezog, handelte es sich um einen staatlichen Markteingriff mit Folgen, die skeptisch beurteilt wurden71. Es war Ausdruck eines offensiven Neuansatzes in der amerikanischen Handelspolitik. Der Neuansatz bestand erstens darin, den Zugang zu einem auswärtigen Hochtechnologiemarkt auszudehnen, anstatt den heimischen Markt durch protektionistische Maßnahmen abzuschotten. Zweitens war es in bezug auf die amerikanische Wirtschaft der erste Fall einer „freiwilligen" Importausweitung des Handelspartners. Schließlich war es das erste bilaterale Abkommen, das ausdrücklich die Überwachung von Drittmärkten einschloß72. Nach Bergsten / Nolands Analyse hatte das Abkommen unerwartet negative Folgen. Zunächst führte die vorgesehene Marktüberwachung durch das japanische Ministry of International Trade and Industry zu einem Produktionskartell, zweitens hatte es Preissteigerungen für Halbleiterprodukte zur Folge, welche einerseits die Abnehmer- und Folgeindustrien sowie die Endverbraucher im Computer- und Telekommunikationsbereich belasteten. Auf der ande-

71 Das „Agreement on Semiconductor Trade" vom 2. September 1986 ist mit zugehörigen Dokumenten abgedruckt in: International Legal Materials, Bd. 25, 1986, S. 1408-1430. Die Festlegung des anzustrebenden Marktanteüs auf zwanzig Prozent wurde in einem zusätzlichen Brief vereinbart, der zunächst geheim gehalten wurde, möglicherweise um einen Konflikt mit Europa, das über das Abkommen nicht informiert worden war, zu vermeiden; siehe Bergsten/Noland, Reconcilable Differences? (wie Anm. 13), S. 130; zum Abkommen allgemein Thomas Bagger, „Strategische Technologien", internationale Wirtschaftskonkurrenz und staatliche Intervention: eine Analyse der Entwicklungen und Widersprüche am Beispiel der Halbleiterindustrie, Baden-Baden 1993, S. 135-149; Gebhard Hielscher, Konturen einer deutschen Japanpolitik, in: Maull, Japan und Europa (wie Anm. 10), S. 337-360, hier S. 351; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Februar 1992; vgl. Ishihara, Wir sind die Weltmacht (wie Anm. 22), S. 68; Süddeutsche Zeitung, 5. August 1996. 72

Bergsten / Noland, Reconcilable Differences? (wie Anm. 13), S. 132.

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ren Seite bescherte es den japanischen Produzenten Gewinnsteigerungen und verbesserte damit noch deren Wettbewerbsposition73. Zwar gelang es den amerikanischen Produzenten, ihren Marktanteil in Japan auf über zwanzig Prozent auszubauen, was aber ebensogut auf technische Innovationen wie auf das Abkommen selbst zurückgeführt werden könnte. Insgesamt beurteilen Bergsten / Noland die Frage, ob das Abkommen notwendigerweise die beste politische Option darstellte, negativ74. Es scheint ihnen, wie auch Graham und Krugman, sinnvoller zu sein, den Zugang zum heimischen Markt mit Auflagen für Investitionsleistungen zu verbinden75. Die kontinuierliche Verschärfung der amerikanischen Handelspolitik seit den achtziger Jahren hat das amerikanische Defizit im Handel mit Japan nicht verschwinden lassen. Am Beispiel der Konflikte im Automobilsektor, der nach amerikanischen Angaben über die Hälfte des Defizits einträgt, erläutert Jagdish Bhagwati seine Einschätzung von der „katastrophalen" Handelspolitik der Clinton-Administration. Sie sei einseitig von Revisionisten bestimmt, in einer „kriegerischen" Haltung („the Clinton warriors", „blitzkrieg") durchgesetzt worden und habe dem Welthandelssystem und dem Ansehen der amerikanischen Regierung schweren Schaden zugefügt. Mays Bewertung, die Öffnung des japanischen Marktes sei ein komplizierter Prozeß, „der ohne gaiatsu [politischen Druck von außen, CK] nicht vorankommen wird," ist eine Feststellung Bhagwatis entgegenzuhalten, die kaum klarer ausfallen könnte: „[...] Japan's [...] car market is open [...] Indeed, the executives of several European car firms have frankly said so, and many economists who have looked at the subject agree." 76 Die Tatsachen sprechen für Bhagwatis These. Die deut73

Bergsten / Noland , Reconcüable Differences? (wie Anm. 13), S. 129-140. Bergsten / Noland , Reconcüable Differences? (wie Anm. 13), S. 142; vgl. Bagger , Strategische Technologien (wie Anm. 71), S. 145-148. 75 Bergsten / Noland, Reconcüable Differences? (wie Anm. 13), S. 143; Edward M. Graham / Paul R. Krugman, Foreign Direct Investment in the United States, 2., überarbeitete Auflage, Washington 1991. 76 May, Japan in der Krise? (wie Anm. 10), S. 67; Jagdish Bhagwati, The US-Japan Car Dispute. A Monumental Mistake, in: International Affairs, 72, 1996, bes. S. 261, 262 f., 266, 270, 271, 277-279. Zu den offiziellen Antworten, die Japan auf amerikanische Vorwürfe gibt und die in der Literatur nur sehr selektiv wahrgenommen werden, siehe: Ministry of International Trade and Industry (Tokyo): Misperceptions and Facts on Auto Issues, M I T I , February 17, 1995, in: Japan: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, hrsg. vom Institut für Asienkunde, Hamburg, Juni 1995, S. 302306. May macht auf Ansätze eines amerikanischen „Politikwandels" aufmerksam, der etwa daran abzulesen sei, daß sich die amerikanische Regierung 1996 entschlossen habe, den Konflikt im Photo-Sektor von der Welthandelsorganisation entscheiden zu lassen (ebd. S. 67 Anm. 70). Die entsprechende WTO-Schlichtungsinstanz wurde am 16. Oktober 1996 eingerichtet, was das M I T I zum Anlaß nahm, nochmals auf die Vagheit der amerikanischen Klagepunkte hinzuweisen (Neue Zürcher Zeitung, 18. Oktober 96). Am 5. Dezember 1997 wurde bekannt, daß die Welthandelsorganisation den Fall vorläufig gegen die USA entschieden habe (Süddeutsche Zeitung, 8. und 22. 74

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sehe Automobilindustrie erwirtschaftet im Handel mit Japan seit mehreren Jahren Überschüsse77. Letztlich muß die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte über ihren Erfolg am Markt entscheiden. Daß Produzenten, die keine rechtslenkenden Fahrzeuge anbieten, in Japan nur geringen Erfolg erwarten dürfen, ist kaum verwunderlich 78. Als das deutsche Handelsbilanzdefizit 1991 einen Rekordwert erreichte, schlug die Politik konfrontative Töne an. Die deutsche Wirtschaft reagierte demgegenüber selbstkritisch und mahnte zu Besonnenheit. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages Hans Peter Stihl gab nach Presseberichten damals zu bedenken, „daß die Marktzugangsprobleme nicht mehr auf tarifäre Handelshemmnisse zurückgeführt werden könnten. Wohl gebe es eine Gefährdung wichtiger europäischer Industriezweige durch Japans aggressive Exportpolitik und ein schwer zu durchdringendes Verteilungssystem in Japan. Aber die Ursachen des eklatanten bilateralen Handelsungleichgewichts seien auch hausgemacht. Kein Verständnis bringt Stihl jedenfalls für eine Japankritik auf, mit der eigener Unwille kaschiert werden soll, sich mehr anzustrengen." 79 In Wirtschaftskreisen war nach Hans-Joachim Kurwan deutlich geworden, „daß eine emotionale Analyse des ,Problemfalls 4 Japan ebensowenig neue Konzepte hervorbringt wie der Versuch, Japan auf die handelspolitische Anklagebank zu setzen."80 Anläßlich der Japanvisite von Bundespräsident Roman Herzog im April 1997 äußerte der BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel die These, und deutsche Asienmanager pflichteten ihm darin bei, „daß es in Japan keine wesentlichen Handelshemmnisse für deutsche Unternehmen mehr gebe."81

Dezember 1997). Der „Politikwandel" scheint allenfalls ein Strohfeuer gewesen zu sein. Im September 1997 befürwortete die amerikanische „International Trade Commission" Anti-Dumping-Strafzölle gegen japanische Hersteller von Supercomputern bis zu einer Höhe von 454 Prozent. Kurz darauf drohte erneut ein Handelskrieg wegen der Bedingungen auszubrechen, unter denen ausländische Schiffe in japanischen Häfen abgefertigt werden (dazu Miriam Rohde, Der amerikanisch-japanische Konflikt in der Hafenwirtschaft. Globalisierung auf Japanisch? in: Japan: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, hrsg. vom Institut für Asienkunde, Hamburg, Dezember 1997, S. 582586; Süddeutsche Zeitung, 29. September 1997). 77

Das Statistische Bundesamt weist für 1996 in der Kategorie Straßenfahrzeuge einen Überschuß von 90 Millionen D M aus. Die Zahlen der Japan Automobile Association berechnen auf anderer Grundlage seit einem längeren Zeitraum deutsche Überschüsse in Millardenhöhe. 78 Vgl. Rainer Köhler, Die USA sind im Autostreit auf dem Holzweg, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Juni 1995, S. 22. 79 Handelsblatt, 18. März 1992. 80 Kurwan, Deutsch-japanische Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 70), S. 256. 81 Süddeutsche Zeitung, 9. April 1997; vgl. ebd. 19. September 1996.

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Die Behauptung von der angeblichen Geschlossenheit des japanischen Marktes, die gern zur Rechtfertigung protektionistischer Maßnahmen herangezogen wird, ist für Karl-Rudolf Körte eine Schutzbehauptung für Desinteresse und Selbstgerechtigkeit angesichts heimischer Strukturkrisen 82. Tatsächlich liegt der Durchschnitt der japanischen Importzölle unter dem der USA und der Europäischen Union, und die nichttarifaren Handelshemmnisse scheinen in Europa nicht geringer zu sein als in Japan83. Das Desinteresse der Wirtschaft betrifft vor allem den Mittelstand. Wiederholt hat der Bundesverband der Deutschen Industrie Japan-Initiativen ins Leben gerufen, vor allem um durch die Entwicklung des Japangeschäfts kleiner und mittlerer Unternehmen den Export zu fördern 84. Der Erfolg blieb unterdessen gering. Der Mittelstand scheut das hohe finanzielle Risiko eines Japan-Engagements, aber auch die Qualitäts- und Dienstleistungsansprüche des japanischen Marktes85. Man hat wohl zu recht in diesem Zusammenhang von einem „Japan-bypassing" gesprochen86. Paul Kevenhörster macht auf die Gespaltenheit des amerikanischen Regierungsapparates in seiner Haltung gegenüber Japan aufmerksam, wobei die Revisionisten, die das kritische Japanbild der mit dem Handel befaßten Insti87

tutionen bestimmten, „keine wirklichen Japankenner" wären . In Europa 82

Karl-Rudolf Körte, Barrieren statt Wettbewerb. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Japan, in: Maull (Hrsg.), Japan und Europa (wie Anm. 10), S. 259 f., 263. Schon 1980 meinte Walter Knips, Handelskrieg gegen Tokio? Europas Versuch, sich abzuschotten, in: Werner Meyer-Larsen (Hrsg.), Auto-Großmacht Japan, Reinbek 1980, S. 54 f.: „Denn die japanischen Einfuhrbestimmungen sind schon jetzt weit weniger restriktiv, als die Europäer stets glauben machen wollen. Sie sind vielmehr bereits so liberal, daß japanische Konzessionen bei Zöllen, Kontingenten oder anderen staatlichen Importbeschränkungen nur noch in begrenztem Umfang möglich sind." 83 Körte, Barrieren statt Wettbewerb (wie Anm. 82), S. 259. 84 Süddeutsche Zeitung, 2./3. November 1996; vgl. Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung (wie Anm. 4), S. 363 f. Im Februar 1998 führte Henkel gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Ostasiatischen Vereins Edgar Nordmann eine vierzigköpfige Delegation hauptsächlich mittelständischer Unternehmer nach Japan (Süddeutsche Zeitung, 7./8. Februar 1998). 85 Zu den tatsächlichen Hemmnissen und Erfolgsgründen siehe Heinrich Kreft, Die deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen, in: Hans Jürgen Mayer / Manfred Pohl (Hrsg.), Länderbericht Japan, Bonn 1994, S. 394. 86 Vgl. Thilo Graf Brockdorff, Die deutsch-japanischen Beziehungen und die neuen Asieninitiativen, in: Bert Becker / Jürgen Rüland (Hrsg.), Japan und Deutschland in der internationalen Politik. Neue Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges, Hamburg 1997, S. 66, 71, 79. 87 Kevenhörster, Japan. Außenpolitik im Aufbruch (wie Anm. 16), S. 206, wo zugleich auf jene Stimmen hingewiesen wird, die bereits in den siebziger Jahren zu mehr Gelassenheit im Umgang mit Japan aufgerufen hätten, vgl. David Halberstam, Das 21. Jahrhundert. Japan und Europa, die neuen Zentren der Macht, München

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glaubt er „Arroganz gegenüber dem fernöstlichen Technologiestaat" ausmachen zu können, wobei sein Urteil über die deutsche Japanpolitik eindeutig klingt: „Japan-Politik wurde so nicht einmal auf dem Reißbrett konzipiert. Die wendige Außenpolitik der eurozentrischen Weltsicht nahm den pazifischen Partner lange Zeit nicht ernst." 88 Ihr Desinteresse dokumentierte die deutsche Politik unter anderem dadurch, daß sie sich an vereinbarte Konsultationsmechanismen nicht gebunden fühlte. Im Rahmen der jährlichen Treffen der Außenminister war Genscher zuletzt 1985 nach Tokyo gereist. Der Bundeskanzler besuchte Japan, abgesehen von seiner Teilnahme am Weltwirtschaftsgipfel 1986 und seiner Anwesenheit beim Begräbnis des Showa-Tenno 1989, während eines ganzen Jahrzehnts kein Mal 89 . Der Eindruck, der auf diese Weise entstehen mußte, Deutschland habe an einem politischen Austausch mit Japan nur wenig Interesse, konnte nicht dadurch ausgeräumt werden, daß Genscher im Februar 1992 betonte, es dürfe keine „abweisenden Gefühle unter Mitbewerbern" geben, und vor „gegnerischem Denken" warnte90. Er schlug seinem Amtskollegen Michio Watanabe damals vor, den Takt der Konsultationen künftig zu verdoppeln. Aber auch diese Vereinbarung wurde wiederum von deutscher Seite nicht eingehalten91. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte gewinnt die offizielle Einschätzung des japanischen Außenministeriums an Plausibilität. Im Diplomatie Bluebook von 1992 heißt es: "It should be noted that the trade imbalance between Japan and the EC [European Community, CK] does not result from ,the closed nature* of the Japanese market. As a matter of fact, the lack of interest and insufficient efforts by the EC companies in the Japanese market have contributed to the Japan-EC trade imbalance. From this point of view, it is indispensable for the EC, including its companies, to take a look at the Japanese market without bias and to make further efforts to develop the market in the context of the development of trade relations with Japan. The situation in which economic issues adversely affect overall Japan-EC relations runs

1991, S. 172, demzufolge Japan für ein Amerika, das keinen gesteigerten Wert auf kritische Selbstprüfung lege, „den idealen Buhmann" abgebe. 88 Kevenhörster, Japan. Außenpolitik im Aufbruch (wie Anm. 16), S. 209, 214. 89

Hielscher merkt an, improvisierte Begegnungen am Rande verschiedener internationaler Konferenzen „ersetzen nicht kontinuierliche Konsultationen mit ihrem systematischen Abklopfen der Interessengebiete, der Bewertung von Veränderungen, dem frühzeitigen Erkennen von Irritationen oder Interessenkonflikten" (Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 1992). Zur Bilanz der Konsultationen siehe Miriam Rohde, Stand und Perspektiven des außenpolitischen Dialogs zwischen Deutschland und Japan, in: Japan: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, hrsg. vom Institut für Asienkunde, Hamburg, Oktober 1995, S. 482-498; Brockdorff\ Deutschland und Japan (wie Anm. 39),9 0S. 19. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Februar 1992. 91 Hielscher, Konturen (wie Anm. 71), S. 340.

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contrary to the spirit of the Japan-EC Joint Declaration and must be avoided. Toward this end, both sides must maintain and foster close dialogue."92

Der revisionistische Ansatz in der Japanpolitik begründet keine tragfahige außenpolitische Doktrin. Er beruht auf unzureichenden kulturtheoretischen Voraussetzungen, ist von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen und politisch schädlich. Seine bilateralen Instrumentarien schwächen die multilateralen Regeln der internationalen Beziehungen, vor denen sie nicht immer bestehen. Er entlastet die Politik von der Verantwortung, die wahrzunehmen ihre ursprüngliche Aufgabe ist. Faßt man mit Huntington bestimmte kulturelle Divergenzen als unversöhnlich auf, lassen sich die daraus resultierenden ökonomischen Konflikte nicht mit den üblichen Mitteln der Wirtschaftspolitik lösen. Die Berufung auf kulturelle Konfliktszenarien setzt die Politik frei, sich unangemessener Zwangsmittel zu bedienen93. Ein solches Vorgehen ist Ausdruck kulturellen Desinteresses und politischer Versäumnisse. Vielleicht beweist die eingeschränkte Erklärungskraft wirtschaftstheoretischer Modelle weniger die Inkompatibilität der japanischen Kultur als Defizite in der Volkswirtschaftslehre und der Wirtschaftspolitik 94. vn. Die beiden Reisen, die den Bundeskanzler 1993 nach Asien führten, markieren eine Neuorientierung in der deutschen Japanpolitik. Die japanische Investitionstätigkeit, mit der man sich vor Vollendung des Binnenmarktes in die vermeintliche „Festung Europa" eingekauft hatte, ließ zu diesem Zeitpunkt spürbar nach. In Deutschland, das nur zu einem geringeren Teil Ziel der Kapitalflüsse gewesen war, blieben die asiatischen Investitionen, die man sich für die Restrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft erhofft hatte, weitgehend aus. Darüber hinaus hatte Japan angedeutet, eine finanzielle Beteiligung an den Hilfsprogrammen zur Unterstützung des Reformprozesses in Rußland ohne die vorherige Lösung der Kurilenfrage ausschließen zu wollen. In dieser Situation wurde Genschers revisionistischer Kurs anscheinend korrigiert. Man stufte seine Vision von „Partnerschaft in der Führung" auf eine „Partnerschaft in Verantwortung" - so die gegenwärtige Sprachregelung - zurück und 92

Ministry of Foreign Affairs, Japan: Diplomatie Bluebook 1992. Japan's Diplomatie Activities, Tokyo 1993, S. 246. 93 Buruma erörtert in seiner vergleichenden Studie über Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan die Frage, inwieweit der Nimbus der „ Unerklärlichkeit" eines historischen Phänomens bedeutet, die Verantwortung einzuschränken. Dies ist ein dem Kulturproblem strukturell verwandter Fall; siehe Ian Buruma, Erbschaft der Schuld, München und Wien 1994, S. 312 f.; Hijiya-Kirschnereit, Das Ende der Exotik (wie Anm. 25), S. 21. 94 Vgl. Tony Lawson, Economics and Reality, London 1997.

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wertete den kooperativen europäischen Ansatz gegenüber dem konfliktorientierten der amerikanischen Handelspolitik auf 95. Die 1993 notwendig gewordene Aktivierung der deutschen Asienpolitik führte zu einer beachtlichen Anzahl von Initiativen96. Sie loten gezielt gemeinsame Interessen und Möglichkeiten der Kooperation aus, ohne vorhandene Gegensätze in den Vordergrund zu stellen. Die Bundesregierung verabschiedete Ende 1993 ein „Asien-Konzept", das im politischen Bereich der Bedeutung Asiens, insbesondere Japans, Chinas und Indiens, Rechnung trägt. Dem gewachsenen Selbstbewußtsein dieser Länder und ihrer Bereitschaft zur Übernahme größerer internationaler Verantwortung entspreche die Berechtigung auf stärkeren regionalen und globalen Einfluß. Die globalen Aufgaben lassen sich, so lautet die wesentliche Einschätzung, „nur mit den asiatisch-pazifischen Regierungen und gesellschaftlichen Gruppen, nicht ohne sie und schon gar nicht gegen sie" angehen97. Nach Ansicht der Regierung kann Deutschland an den Entwicklungspotentialen nur durch eine aktive Asienpolitik teilhaben98. Sie stellt eine „sichtbar verstärkte Asienorientierung ihrer Politik" in Aussicht, die „Anstöße und Anregungen in weitere Bereiche der Öffentlichkeit" hineintragen soll99. Aus deutscher Perspektive pointiert das Asien-Konzept wiederum die wirtschaftlichen und technologischen Fragenkreise. Dabei stünden nicht nur Absatzchancen auf dem Spiel, es gehe auch um die Innovationsfahigkeit der deutschen Wirtschaft. Die wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit bedürfe vor allem in den Bereichen Umwelt und Telekommunikation der Förderung 100. Die deutsche Regierung sucht die Basis für die Aktivierung ihrer Asienpolitik in einer an Standortfragen und strukturpoliti95 Klaus Kinkel, Deutschland und Japan - Verantwortung in einer Welt im Wandel. Rede vor der Yomiuri International Economic Society in Tokyo, in: Bulletin 7. November 1995, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 91, Bonn 1995, S. 889 f.; Roman Herzog, Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Waseda-Universität in Tokyo am 7. April 1997, in: Bulletin, 22. April 1997, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 30, Bonn 1997, S. 327. 96 Die Initiativen werden vorgestellt von Brockdorff\ Die deutsch-japanischen Beziehungen (wie Anm. 86), bes. S. 69-77. 97 Das Asien-Konzept der Bundesregierung, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1994, I 1 (S. 20). 98 Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), I 1 (S. 19). 99 Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), I 3 (S. 22).

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Das Interesse an globalen Umweltfragen entspringt nicht immer umweltpolitischer Verantwortung. Zu einer solchen Vermutung könnten sich die asiatischen Partner etwa durch folgende Äußerung veranlaßt sehen: „Geschäfte werden aber nicht aus dem Stand getätigt. Wirtschaftlicher Erfolg hängt von einer breit angelegten Präsenz ab. Wir müssen uns [...] indem wir ökologische Fragen behandeln [...] auch in das Innere der Politik unserer Partnerländer begeben." (Das Asien-Konzept der Bundesregierung [wie Anm. 97], S. 58).

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sehen Faktoren orientierten Wirtschaftspolitik. Sie stellt eine aufgefächerte Palette von Instrumenten zur Unterstützung deutscher Unternehmen im AsienPazifik-Geschäft zur Diskussion101. Der begleitende Namensartikel des Bundeskanzlers betont allerdings erneut „das Prinzip der Reziprozität" 102. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hob in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag und dem Ostasiatischen Verein nahezu zeitgleich den „Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft" aus der Taufe, der vor allem für die Koordination und Durchführung der verschiedenen Asieninitiativen auf Verbandsebene verantwortlich zeichnet. Zu den Aufgaben des „Deutsch-Japanischen Kooperationsrats für Hochtechnologie und Umwelttechnik", der sich im Dezember 1994 konstituierte, gehören „die gemeinsame Analyse von Technologietrends mit dem Ziel einer verstärkten wissenschaftlich-technologischen und unternehmerisch-wirtschaftlichen Kooperation in konkreten Projekten, die Identifizierung und Bewertung von Kooperationsfeldern und die Aktivierung der erarbeiteten Konzepte."103 Das „Deutsch-Japanische Dialogforum" wurde 1992 auf Anregung von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Miyazawa mit dem Ziel ins Leben gerufen, die deutsch-japanischen Beziehungen durch Dialog und Kooperation hochrangiger Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu stärken. In seinem ersten Bericht 1995 und den Erklärungen der Folgejahre unterstrich es die politischen und kulturellen Aspekte gegenüber den wirtschaftlich orientierten Initiativen104. Die Initiativen wurden 1996 in der „Agenda für die deutsch-japanische Partnerschaft" zusammengeführt, die für eine laufende Fortschreibung vorgesehen ist. Aus der Zusammenschau der verschiedenen Initiativen lassen sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Situation beider Länder verschiedene Schwerpunkte gemeinsamer Interessen und entsprechende Kooperationsfelder herauskristallisieren 105. Japan und Deutschland zeigen gewisse Paralle-

101

Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), I 5 (S. 23), II 1 (S. 24-

27). 102 Helmut Kohl, Die Bedeutung der deutschen Asien-Politik, in: Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), S. 11. 103 Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), II 2.2 (S. 28). 104 The 5th German-Japanese Dialogue Forum, February 12-14, 1997: Chairmen's Summary, in: Japan: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, hrsg. vom Institut für Asienkunde Hamburg, April 1997, S. 182-185; vgl. die Kurzberichte in: Japanische Botschaft in Bonn: Neues aus Japan, Nr. 361, Mai 1996, und Akira Kojima, „Fünfte Sitzung des deutsch-japanischen Dialogforums", in: JDZB-Echo (Mitteilungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin), Nr. 38, April 1997, S. 1 f. 105 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der gegenwärtigen Interessen- und Problemlagen vgl. Dietrich Thränhardt, Japan und Deutschland in der Welt nach dem

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len der außenpolitischen Beschränkung in der Nachkriegsordnung. Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg in die Containment-Strategie der USA gegenüber der Sowjetunion eingebunden und profitierten von den damit verbundenen sicherheitspolitischen Garantien, die es ihnen ermöglichten, sich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau und den Aufstieg in die Gruppe der führenden Wirtschaftsnationen zu konzentrieren. In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich beide Gesellschaften als zuverlässige Demokratien bewährt, die von einer weitreichend pazifistischen Grundhaltung im Innern und einem geringen Konfliktpotential nach außen geprägt sind. Das ökonomische Potential beider Länder bedeutet unter heutigen Bedingungen einen erheblichen Zugewinn an Macht und in der Rückwirkung an politischer Verantwortung. Gemeinsamkeiten ergeben sich folglich bei den Anpassungserfordernissen, denen beide Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges ausgesetzt sind. Der Golf-Krieg implizierte 1991 für Deutschland wie Japan die entschiedene Aufforderung, ihre Rolle in den internationalen Beziehungen neu zu definieren. Die „neue Weltordnung" verlangte nach internationaler Solidarität, die beide Länder meinten, aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Situation nicht militärisch mittragen zu können. Während das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 12. Juli 1994 die Situation für Deutschland klärte, konnte man sich in Japan nach heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwar auf eine gesetzliche Grundlage für die Beteiligung der japanischen Selbstverteidigungskräfte an UN-Peace-Keeping-Operations einigen, nicht aber das verfassungsrechtliche Problem des Artikels 9 der Japanischen Verfassung lösen, der dem Wortlaut nach den Verzicht auf die Anwendung von Gewalt in internationalen Streitigkeiten und auf die Unterhaltung von Streitkräften vorschreibt106. Der unterdessen erforderlich gewordene Übergang von einer reaktiven zu einer aktiven Außenpolitik legt vor dem gemeinsamen Erfahrungs- und Interessenhorizont eine enge Zusammenarbeit bei der verantwortlichen Mitgestaltung einer offenen, regelorientierten internationalen Ordnung nahe. Nicht zufällig zählen Deutschland und Japan zu den aussichtsreichsten Kandidaten auf einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Über die bloße Finanzierung hinaus könnte hier ein Bedarf an koordinierter Einflußnahme auf die Festlegung des Kalten Krieg, in: ders. (Hrsg.), Japan und Deutschland in der Welt nach dem Kalten Krieg, Münster 1996, S. 15-20; Maull, Germany and Japan (wie Anm. 2), S. 93-97. 106 Vgl. Jens Hacker, Integration und Verantwortung. Deutschland als europäischer Sicherheitspartner, Bonn 1995, S. 257-270; Hiroaki Kobayashi, Die japanische Verfassungsproblematik. Die Kriegs Verzichtsklausel im Zerrbüd der Diskussion, in: Heinz Eberhard Maul (Hrsg.), Militärmacht Japan? Sicherheitspolitik und Streitkräfte, München 1991, S. 230 ff.; Miriam Rohde, Japan in der UNO, in: Japan. Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, hrsg. vom Institut für Asienkunde Hamburg, April 1997, S. 163-170.

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Auftrags und eine engere Zusammenarbeit bei der Durchführung von UNOMissionen entstehen. Ein besonderes Augenmerk gilt China und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wo „problematische Entwicklungen der einen oder anderen Art nicht auszuschließen" sind. Hier scheint gewissermaßen ein „Containment mit umgekehrten Vorzeichen" sinnvoll zu sein, das Reformen und Demokratisierung unterstützt, die Einbindung in internationale Strukturen fördert, Umweltbelastungen mit globalen Auswirkungen zu reduzieren sucht und Möglichkeiten für einen Transfer technischen und marktwirtschaftlichen Know-hows auslotet. Die Sicherung beziehungsweise die Sanierung der zivilen Atomwirtschaft und der Aufbau eines internationalen Plutonium-Managements liegen im Interesse der Weltgemeinschaft. Ein weiteres Feld bieten die regionalen Integrationsprozesse, die offengehalten werden müssen, und der sicherheitspolitische Dialog. Dazu gehören die Einbindung der EU in die APEC oder das ASEAN Regional Forum wie umgekehrt die Heranführung Japans an OSZE und NATO, aber auch die gemeinsame Förderung des ASEM-Prozesses107. In der Frage der Ächtung und Reduzierung von Massenvernichtungswaffen spricht die Glaubwürdigkeit beider Länder für ein gemeinsames Engagement, das in der Initiative für ein internationales Waffenregister und die Beteiligung an der Korean Energy Development Organization, die am Rückbau des nordkoreanischen Kernwaffenprogramms beteiligt ist, gute Ansätze zeigt. Eine erfolgversprechende Zusammenarbeit empfiehlt sich schließlich hinsichtlich nur durch globale Policies zu lösender Probleme wie der Bevölkerungspolitik, der Nord-Südproblematik, der Migrations- und Flüchtlingsfragen, des Umweltschutzes und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Auf wirtschafts- und währungspolitischem Gebiet spielt die Kooperation in der G-7/G-8 eine wichtige Rolle1 . Dies wird nicht nur aus der Tatsache er-

107 Der Ausbau der Beziehungen zwischen der EU und der Region wird als ein „wesentlicher Teil einer aktiven Asien-Pazifik-Politik" bezeichnet, wobei die Bundesregierung vor allem „Kooperationsabkommen der Dritten Generation" unterstützt. „Die »Abkommen der Dritten Generation* umfassen eine Vielzahl von Kooperationsfeldern (i. d. R. handelspolitische sowie agrar- und ernährungspolitische Zusammenarbeit, ländliche und soziale Entwicklung, Wissenschaft und Technik, Umweltschutz, Energie) und enthalten eine Klausel, die in gegenseitigem Einvernehmen und ohne förmliche Vertragsänderung die Erschließung neuer Kooperationsfelder gestattet. Die Achtung demokratischer Prinzipien und der Menschenrechte sind Grundlage der Kooperationsbeziehungen. Zur Durchführung der Abkommen werden gemischte Kooperationsausschüsse eingesetzt" (Das Asien-Konzept der Bundesregierung [wie Anm. 97], II 1.4 [S. 2η). 108

Siehe Beate Reszat, Zwischen Kooperation und Konflikt. Die Stellung Japans in der G-7, in: Manfred Pohl (Hrsg.), Japan 1991/92, Hamburg 1992, S. 190-210; Elke

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sichtlich, daß D-Mark und Yen die wichtigsten Währungen nach dem USDollar sind. Vielmehr spricht die gegenwärtige Entwicklung, die Entstehung einer Eurozone auf der einen Seite und die Auflösung des asiatischen „Währungssystems" auf der anderen, für eine konzertierte Wechselkurspolitik. Unberechenbare spekulative Risiken im Währungsdreieck Dollar-DMark-Yen dienen weder dem Wachstum des Handels noch dem Ausbau der Investitionen. Folglich sind auch Internationaler Währungsfonds und Weltbank ein geeigneter Gegenstand für gemeinsame Strategien von Exportnationen. Das gleiche gilt für die Stärkung der Welthandelsorganisation. Die Intensivierung des politischen und gesamtgesellschaftlichen Austausche mit Japan ist nicht nur im Rahmen der Internationalen Politik wünschenswert. Synergieeffekte können auch im Zusammenhang vergleichbarer innerer Probleme gesucht werden. Neben technologischer Kooperation betrifft das vorrangig die notwendigen ökonomischen Strukturanpassungen, die Deregulierung des Arbeitslebens und der Märkte sowie die sozialpolitischen Zukunftsaufgaben angesichts vergleichbarer demographischer Trends. Die Empfehlungen des Dialogforums verweisen hinsichtlich der bilateralen Beziehungen eindeutig auf den kommunikativen Bereich. Sie betreffen den Ausbau der regelmäßigen Konsultationen auf allen Ebenen der Regierungen, der Parlamente und Verbände, die Intensivierung des Personalaustausches von Behörden und Unternehmen sowie einen erheblichen Nachholbedarf an kulturellem und wissenschaftlichem Dialog.

vra. Die neuen Asieninitiativen weisen gegenüber der mangelnden Begründungsfahigkeit, der ökonomischen Nutzlosigkeit und politischen Schädlichkeit einer revisionistischen Position in der Japanpolitik einen zukunftsfähigen Weg. Die angestrebte Vertiefung der deutsch-japanischen Beziehungen darf aber nicht schon im Vorfeld durch Übertreibung ihrer globalen Bedeutung strapaziert werden109. Die Akzentuierung von Gemeinsamkeiten soll die zweifellos vorhandenen Unterschiede nicht überdecken. Hinderlich wirken verschiedene Asymmetrien, wie die einseitige sicherheitspolitische Bindung Ja-

Thiel, Die wirtschafts- und währungspolitische Koordinierung in der G-3, in: Maull (Hrsg.), Japan und Europa (wie Anm. 10), S. 382-402. 109 Kinkel, Deutschland und Japan (wie Anm. 95), S. 888 f., sieht Deutschland und Japan „in der Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten Erde", wobei diese „Menschheitsaufgabe" nicht ohne die volle Mitwirkung der beiden Länder zu schaffen sei; vgl. Maull, Germany and Japan (wie Anm. 2), S. 93: „[...] Germany and Japan now in some ways find themselves representing this new world of international relations." 17 Fcstschrift Hacker

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pans an die USA oder die zunehmende wirtschaftliche und die beginnende politische Integration Asiens. Auf der anderen Seite steht die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union und das atlantische Bündnis. Kritisch anzumerken ist, daß im Asienkonzept der Bundesregierung nach wie vor die ökonomischen Belange sowie das Prinzip der Reziprozität dominieren, das als Zwangsmittel aufgefaßt werden kann, insoweit es ergebnisbezogen angewendet wird. Eine zukunftsfahige Intensivierung der deutsch-japanischen Beziehungen muß im Geist der gemeinsamen Erklärung der Europäischen Gemeinschaft und Japans, in Abstimmung mit den europäischen Partnern und im Blick auf die Triade verwirklicht werden. Enge zweiseitige Beziehungen sind gleichwohl unverzichtbar, solange Reinhardt Rummels Diktum von der „zusammengesetzten Außenpolitik" Europas gültig bleibt. Dies scheint vorläufig, auch nach dem Europäischen Rat von Amsterdam und der Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, noch der Fall zu sein110. Deutschland und Japan sollten den mit dem ersten Asia-Europe-Meeting begonnenen europäisch-asiatischen Dialog in gegenseitiger Abstimmung fördern. Konkrete Handlungsfelder gäbe es genug, nur fehlt es vorläufig noch an „Paten" mit hinreichend praktischem Einfluß. Konzepte, Erklärungen und Gesprächsrunden nutzen nur so viel, als sie das Desinteresse der geforderten Akteure zu überwinden vermögen. Die Ergebnisse des Klima-Gipfels von Kyoto stimmen eher skeptisch. Das Ende der Exotik, das Hijiya-Kirschnereit so engagiert fordert, ist noch nicht erreicht. Die Qualität und die politische Bedeutung der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Japanfinden weder in der Öffentlichkeit noch in Wissenschaft und Politik die angemessene Resonanz111. Das AsienKonzept macht darauf aufmerksam, daß es „uns an Vertrautheit mit den intellektuellen, emotionalen und im weitesten Sinne kulturellen Strömungen in den asiatisch-pazifischen Ländern von heute" mangelt. „Bestehende kulturelle Verbindungen zu den asiatisch-pazifischen Ländern haben sich eher abgeschwächt."112 Eine aktive Asienpolitik verlangt, mehr von Asien zu wissen113. 110 Reinhardt Rummel, Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als internationaler Akteur, Kehl a. Rhein und Straßburg 1982; Karl-Rudolf Körte, Nippons neue Vasallen? Die Japanpolitik der Europäischen Gemeinschaft, Mainz 1984; Maull (Hrsg.), Japan und Europa (wie Anm. 10), Kapitel II. 111 Brockdorff, Deutschland und Japan (wie Anm. 39), S. 29: „Die gute Qualität der bilateralen Beziehungen findet allerdings m. E. keine Entsprechung in der öffentlichen Meinung in beiden Ländern, die noch nicht so weit zu sein scheint, eine politische Bedeutung dieser Beziehungen wahrzunehmen. In Deutschland wird Japan nach wie vor weitgehend als exotisches, ausschließlich wirtschaftlich relevantes Land angesehen." (Vgl. ebd. S. 31). 112 Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), II 6 (S. 32). In bezug auf die amerikanisch-japanischen Friktionen hält May die „schwache Vertrauensbasis

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Damit ist auch ein Apell an die Politikwissenschaft verbunden, Japan größere Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn wir uns intensiver mit Japan beschäftigen, lernen wir möglicherweise eine Mentalität kennen, die, nach der Einschätzung eines Anonymus des 18. Jahrhunderts, das schon ist, was unsere noch werden soll, nämlich „gut europäisch": „Je weiter man in die Gesetze, die Gebräuche, die Sitten, die Religion der Japaner eindringt, je mehr ähnliche Züge entdeckt man mit verschiedenen europäischen Nazionen. Sie haben in mancher Absicht einen Grad von Vorzüglichkeit, den man ihnen nicht streitig machen kann. Eine wahrhaft stoische Standhaftigkeit, eine ungestüme Liebe für die Freiheit, heroische Grundsätze der weisesten Moral scheinen sie den Engländern zu nähern. Wie die Franzosen heben sie den Luxus und großen Aufwand bei Feierlichkeiten und einen Schwärm von Bedienten: Mit der wollüstigen Neigung der Italiäner verbinden sie die Gravität der Spanier; und die Redlichkeit, die sie in Geschäften beweisen, ist ihnen nicht weniger natürlich als den Deutschen."114

in der jeweiligen Bevölkerung" und „Mißverständnisse und Unkenntnis" für die Grundlage des Problems. Seiner Ansicht nach ist „die negative Einstellung in der jeweiligen Bevölkerung das größte Problem in den bilateralen Beziehungen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten." (May, Japan in der Krise? [wie Anm. 10], S. 92, 99). 113 Das Asien-Konzept der Bundesregierung (wie Anm. 97), I 2 (S. 20): „Wir müssen sehr viel mehr über Asien/Pazifik wissen und uns dort mehr umtun. " 114 Anonymus (Pierre-Claude Le Jeune), Kritische und Philosophische Bemerkungen über Japan und die Japaner, Breslau 1782, zitiert nach: Peter Kapitza (Hrsg.), Japan in Europa. Texte und Bilddokumente zur europäischen Japankenntnis von Marco Polo bis Wilhelm von Humboldt, Band 2, München 1990, S. 686. 17*

Rumänien und die NATO Von Anneli Ute Gabanyi In kaum einem anderen Land Ostmitteleuropas wurde den Entscheidungen über die Erweiterung des Nordatlantischen Bündnisses eine so große Aufmerksamkeit zuteil wie in Rumänien. Dafür gab es gute Gründe. Die im Dezember 1989 gestürzte nationalkommunistische Führung hatte seit Beginn der siebziger Jahre gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine vom Rest der kommunistischen Staaten Osteuropas abweichende Politik betrieben. Als einziger Mitgliedsstaat des Warschauer Pakts hatte Rumänien sich einer Reihe sowjetischer Forderungen und Initiativen widersetzt (Einmarsch in die Tschechoslowakei und Afghanistan, Abhaltung von Manövern auf rumänischem Boden oder Teilnahme mit Truppen an Übungen auf dem Boden anderer Paktstaaten, Dislozierung von sowjetischen Mittelstreckenraketen in Europa etc.). Im Jahre 1985 hatte der damalige Staats- und Parteichef Nicolae Ceauçescu sogar öffentlich über die NichtVerlängerung des Warschauer Pakts nachgedacht.1 Die Austeritätspolitik der letzten Jahre der Herrschaft Ceau§escus hatte in der rumänischen Bevölkerung einen anderswo in der Region nicht vorhandenen Leidensdruck erzeugt. Rumänien war der einzige Staat des ehemaligen Ostblocks, wo 1989 eine gewaltsame Revolution stattgefunden hatte. Nur dort war der Staats- und Parteichef von den neuen Machthabern in einem Scheinprozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. In der Wahrnehmung der rumänischen Bevölkerung hatte die gewaltsame, revolutionäre Wende des Jahres 1989 auf einen Schlag die Befreiung vom kommunistischen System, der sowjetischen Bevormundung und die langersehnte Rückkehr nach Europa gebracht. Die schmerzhafte Enttäuschung darüber, daß es 1989 zwar einen Wechsel des Regimes und der Eliten, aber noch keinen fundamentalen Systemwechsel gegeben hatte, gab dem - in der Region nicht gerade außergewöhnlichen - Hang der Bevölkerung zu politischer Mythenbildung neue Nahrung. Zum dritten Mal nach 1939 (Abschluß des Hitler-Stalinpakts), 1944 1 Siehe hierzu die bahnbrechenden Arbeiten von Professor Dr. Jens Hacker, allen voran das Standardwerk: Jens Hacker: Der Ostblock, Baden-Baden 1983. Die nach der Wende erfolgte Öffnung der Archive hat die Richtigkeit seiner Thesen bestätigt. Voller Dankbarkeit gedenkt die Verfasserin des zu diesem Thema geführten mündlichen und brieflichen Austausches.

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(„Prozentabkommen" zwischen Churchill und Stalin) und 1989 (verhandelte Beendigung des Kalten Krieges) sahen sich die Rumänen vom „Westen" verlassen und an den „Osten" ausgeliefert. Nun, 1997, sollte der Anschluß an die euro-atlantischen Strukturen um jeden Preis gelingen. Die aus den Wahlen vom November 1996 hervorgegangene Regierung von Premierminister Victor Ciorbea ebenso wie der neugewählte Staatspräsident Emil Constantinescu hatten dem Ziel der NATO-Integration Vorrang vor der Eingliederung in die EU eingeräumt. Diese Präferenzentscheidung fußte auf einer realistischen Beurteilung innerer und äußerer Faktoren. Zum einen rechnete man nicht damit, daß es nach der ersten bald eine zweite Aufnahmerunde in die NATO geben wird und setzte, so der Minister im Departement für europäische Integration, Alexandru loan Herlea, „alles auf eine Karte". 2 Zum zweiten stellte die Entscheidung über den NATO-Beitritt der mitteleuropäischen Staaten primär eine politische Entscheidung dar, bei der das größte Handicap Rumäniens - die zur Zeit schwierige Wirtschaftslage - nicht so schwer ins Gewicht fallen würde wie im Falle des EU-Beitritts. Und drittens war die militärische Vorbereitung Rumäniens auf den Beitritt im Vergleich zu den anderen Beitrittsstaaten weiter fortgeschritten, so daß man die Chancen im Falle der NATO höher einschätzte als im Falle der EU. Und schließlich war die Entscheidung der rumänischen Exekutive, dem Ziel der Integration in die NATO zeitweilig Priorität vor der EU-Integration einzuräumen, auch eine Folge des „Angebots" der sich nach 1994 beschleunigenden Entwicklung im Bereich der NATO-Erweiterung. 3 Kampagne für den NATO-Beitritt

Auf der NATO-Außenministerkonferenz vom 30. Mai 1997 im portugiesischen Sintra war bereits eine Vorentscheidung über die NATO-Erweiterung gefallen, als bekannt wurde, daß neun der sechzehn NATO-Staaten den Beitritt Rumäniens und Sloweniens ausdrücklich unterstützten, während sich die USA und Island dagegen aussprachen. Fünf Länder, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, vermieden eine Festlegung. Im Anschluß an das Treffen der fünf christdemokratischen Regierungschefs der EU in Straßburg vom 10. Juni, an dem auch der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl teilnahm, erklärte der belgische Premierminister Wilfried Martens, daß alle fünf anwesenden Regierungschefs den rumänischen Wunsch nach Beitritt zur 2 Georg Paul Hefty : „Mit der ersten Welle in die NATO? Rumänien gibt der militärischen Integration Vorrang vor der wirtschaftlichen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 4. 1997. 3 Gabriel Andreescu: „NATO sau UE? (NATO oder EU?)", in: Dilema Nr. 235, 25.-31. 7. 1997.

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NATO unterstützten. Diese Aussage wurde jedoch auf Anfrage vom Bonner Kanzleramt mit dem Hinweis relativiert, es handle sich lediglich um eine Sympathiekundgebung für Rumänien. Daraufhin war die amerikanische Regierung angesichts eines sich möglicherweise andeutenden Umdenkens der nordeuropäischen NATO-Mitglieder vorgeprescht. Am 13. Juni 1997 erklärte US-Präsident Bill Clinton, die Vereinigten Staaten würden nur Polen, Ungarn und Tschechien zum NATO-Beitritt in der ersten Runde auffordern. Zeitgleich konfrontierte US-Verteidigungsminister William Cohen seine NATO-Amtskollegen in Brüssel mit dieser im Alleingang vorweggenommenen amerikanischen Entscheidung. Bis zum 8. Juli, dem Tag des Beginns des NATO-Gipfels in Madrid, versuchte die Bukarester Führung trotz der sich abzeichnenden Entscheidung gegen eine Erweiterung der NATO um fünf neue Mitglieder um Unterstützung für Rumänien zu werben. In dieser Phase rückte die Bundesrepublik Deutschland, von deren Haltung man die endgültige Entscheidung in Madrid abhängig machte, ins Zentrum der Bukarester Beitrittsstrategie. Am 2. Juli 1997 empfing Bundeskanzler Helmut Kohl den rumänischen Präsidenten Emil Constantinescu zu einem Arbeitsbesuch in Bonn. Dabei betonte der Bundeskanzler, daß die Bundesregierung und er selbst dem rumänischen Wunsch nach einem baldigen NATO-Beitritt mit viel Sympathie gegenüberstünden und ihn unterstützten. Er verwies gleichzeitig darauf, daß die Entscheidung darüber in Madrid im Konsens aller 16 NATO-Partner zu treffen sei.4 Die deutsche Bundesregierung agierte in dieser Phase geschickt, indem sie am Vorabend des NATO-Gipfels und im Verlauf der dort geführten Debatten - trotz der frühen, klaren Festlegung des deutschen Verteidigungsministers Volker Rühe auf eine Aufnahme Polens, Ungarns und Tschechiens - eine „eindeutige Festlegung vermied" und eine „moderierende Rolle"5 zwischen den USA und Frankreich einnahm. Damit versuchte sie offenbar, einem eventuellen Sympathieverlust in Rumänien zuvorzukommen. Dies geschah nicht zuletzt auch mit Blick auf Frankreich, denn Paris hatte sich, gegen den Widerstand der USA und Großbritanniens, bis zuletzt für die NATO-Kandidatur Rumäniens (und Sloweniens) in der ersten Erweiterungsrunde eingesetzt. Nach dem Wahldebakel der Konservativen war das Gewicht, das Präsident Jacques Chirac als Anwalt rumänischer Interessen in die Waagschale der NATO legen konnte, erheblich reduziert worden. Es hatte Rumänien jedoch zum Nachteil gereicht, daß einige der Verfechter seiner Beitrittsbestrebungen nicht mehr (Frankreich) oder noch nicht

4

Pressemitteüung der Bundesregierung vom 2.1. 1997. „Entscheidung in Madrid: Zunächst Polen, Ungarn und die Tschechische Republik", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 7. 1997. 5

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(Spanien) voll in die militärischen Strukturen der Allianz integriert waren.6 Außerdem gab es nicht beigelegten Konflikt zwischen zwei Staaten, die Rumäniens Kandidatur unterstützten, nämlich Griechenland und die Türkei. Auch läßt sich schwer einschätzen, ob sich die demonstrative Unterstützung Frankreichs nicht negativ auf das Verhältnis Rumäniens zu den Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland ausgewirkt hat.7 Am Vorabend des Gipfeltreffens von Madrid wurde sogar die Meinung geäußert, daß der starke amerikanische Widerstand gegen die von Frankreich gestützte NATOKandidatur Rumäniens die Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der NATO verhindern könnte.8 In ihrer offiziellen Erklärung auf dem NATO-Gipfel in Madrid hatten sich die Mitgliedsstaaten am 8. Juli 1997 dann auf die Aufnahme der drei aussichtsreichsten Kandidaten Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, in das Bündnis geeinigt. Deren Reformen, so hieß es in dem Kommuniqué, seien unumkehrbar. Sie seien auf dem Weg in die atlantische Wertegemeinschaft am weitesten fortgeschritten. Rumänien und Slowenien wurden wegen ihrer Fortschritte in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft als mögliche aussichtsreiche Anwärter für eine mögliche zweite Runde der NATO-Erweiterung erwähnt. Die Unterzeichnerstaaten vermieden es aber bewußt, sich auf eine zweite Erweiterungsrunde festzulegen oder deren Datum und Kandidaten bekanntzugeben. Rumänische Reaktion auf die Entscheidung von Madrid

Mit ihrer kompromißlosen Verfolgung der Nominierung Rumäniens in der ersten Runde der NATO-Erweiterung, die im Zuge einer beispiellosen Medienkampagne Aspekte einer kollektiven Psychose angenommen hatte, waren Staatspräsident und Regierung ein gewisses innenpolitisches Risiko eingegangen. Sie hatten sich der Gefahr ausgesetzt, im Falle eines Scheiterns die Kritik der Opposition und möglicherweise sogar den Volkszorn auf sich zu ziehen. Auf die von den NATO-Außenministern im portugiesischen Sintra verkündeten Vorentscheidung zugunsten der drei neuen Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn hatte der rumänische Staatspräsident Emil Constantinescu noch 6 Siehe hierzu David White: „Spain Is Forced to Mark Time in NATO", in: Financial Times, 4. 7. 1997. 7 Emil Hurezeanu : „Tapiseria väzutä pe dos (Die Rückseite des Gewebes)", in: 22, Nr. 9, 4.-10. 3. 1997. 8 Bronwen Maddox : „Romania Dispute Is Likely to Delay French Re-Entry to NATO", in: The Times, 18.6.1997. Siehe auch zur Entscheidung Frankreichs, seine Integration in die militärischen Strukturen der NATO nicht voranzutreiben: Luc Rosenzyveig /Daniel Vernet: „La France risque de se trouver isolée lors du sommet atlantique de Madrid", in: Le Monde, 4. 7. 1997.

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eine emotionale Reaktion gezeigt, als er den „zynischen Beschluß" des Bündnisses kritisierte, der zur Ersetzung des alten Eisernen Vorhangs durch einen neuen, weniger militarisierten Vorhang führen werde.9 Weit staatsmännischer und gelassener fiel dann seine Einschätzung des Ergebnisses von Madrid aus. Das auf dem NATO-Gipfel Erzielte entspreche zwar nicht den Erwartungen Rumäniens, dennoch stelle das Verhandlungsergebnis einen „vernünftigen Kompromiß" dar. Die NATO, so Constantinescu, habe die Fortschritte Rumäniens anerkannt und Rumänien habe bewiesen, daß es der Mitgliedschaft im Bündnis würdig sei.10 Das Land wolle seine Bemühungen um die euro-atlantische Integration des Landes fortsetzen und dabei eng mit allen NATOStaaten sowie mit den drei neu nominierten Staaten zusammenarbeiten. Bereits jetzt, so der Staatspräsident, sei Rumänien „ein Bestandteil der europäischen Sicherheitsarchitektur".11 In einem offiziellen Kommuniqué des rumänischen Außenministeriums wurde Enttäuschung, aber auch Genugtuung darüber geäußert, alles Mögliche für den NATO-Beitritt in der ersten Runde getan zu haben. Die Integration des Landes in die europäischen und euro-atlantischen Strukturen und die Fortführung demokratischer Reformen werden die festen Optionen Rumäniens bleiben, da sie den fundamentalen Interessen ebenso wie den Werten entsprechen, für die Rumänien sich definitiv entschieden habe. Trotz Nichtaufnahme in der ersten Runde sieht Rumänien sich als Teil der Prozesse, die im Bündnis ablaufen und will auch weiterhin zur Erfüllung seiner globalen und regionalen Zielsetzungen beitragen. Die Zeitspanne bis 1999 werde nicht der passiven Erwartung, sondern der Konsolidierung des bisher Erreichten dienen.12 Für Severins Amtsnachfolger Andrei Pleçu bleibt die Integration in die NATO Priorität. 13 Verteidigungsminister Victor Babiuc betonte in der Erklärung seines Ministeriums den fortdauernden „festen Willen Rumäniens, sich in die NATO zu integrieren". 14 Kritik an der Madrider Entscheidung kam hingegen aus dem Lager der Oppositionsparteien. Adrian Nästase, Erster Stellvertretender Vorsitzender der größten Oppositions-Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens , sah die Sicherheit Rumäniens als Folge der in Madrid getroffenen Entscheidung geschmälert. Die Repräsentanten der kommunistischen Nachfolgeparteien - Ilie Verdet, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Arbeit und Corneliu 9

Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 25. 6. 1997. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 7. 1997. 11 Internationale Politik, Nr. 9/1997. 12 Cristina Terenche: „O conferin^ä de presä eu dus §i întors (Eine Pressekonferenz mit Hin und Her)", in: România Liberä, 11.7. 1997. 13 Azi, 6. 1. 1998. 14 Düema Nr. 240, 29. 8.-4. 9. 1997. 10

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Vadim Tudor, der Vorsitzende der Partei Großrumänien - malten das Gespenst einer Verschwörung der Großmächte zu Lasten Rumäniens an die Wand. Valeriu Tabärä, der Vorsitzende der Partei der Rumänischen Nationalen Einheit, zieh die rumänische Außenpolitik des grundsätzlichen Mangels an Würde und Stolz. Dem Außenminister warf er vor, den Grundlagenvertrag mit der Ukraine ohne Gegenleistung geschlossen zu haben. Die Nennung Rumäniens als möglichen Kandidaten einer zweiten Erweiterungswelle bezeichnete er als einen „schwachen und nichtssagenden Trostpreis." Die Bevölkerung reagierte auf die Madrider Entscheidung erstaunlich gelassen.15 Es stellt sich die Frage, welche Gründe für das - aus Bukarester Sicht enttäuschende - Abschneiden Rumäniens ausschlaggebend waren. Zum einen deckt sich die rumänische Selbstwahrnehmung, insbesondere hinsichtlich seiner geopolitischen Bedeutung nicht mit der Einschätzung des Westens. Militärische Faktoren und die Frage der Akzeptanz der NATO-Integration durch die Bevölkerung spielten aus westlicher Sicht offenbar keine herausragende Rolle. Auch die gegen Rumänien insbesondere von den USA vorgebrachten Kostenargumente klangen zu keinem Zeitpunkt überzeugend. Hingegen mehren sich die Hinweise darauf, daß sich die Mitgliedstaaten der NATO bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf eine ausschließliche Aufnahme der sogenannten „mitteleuropäischen" Staaten (Ungarn, Polen, Tschechoslowakei, später nur Tschechien) verständigt hatten, während die sogenannten Staaten „Südosteuropas" zugleich einer neu entstehenden sicherheitspolitischen Grauzone im Vorfeld Rußlands überantwortet worden waren.16 Ist Rumänien zu spät gestartet?

Nicht selten wird in der westlichen Öffentlichkeit das Argument ins Feld geführt, Rumänien sei zu spät in Richtung NATO und EU gestartet, um als aussichtsreicher Anwärter auf einen Beitritt zu EU und NATO eingestuft zu werden. Auch Vertreter der derzeitigen Regierungskoalition beschuldigten zu

15

Adevärul, 14. 6. 1997. In einem in der ungarischen Tageszeitung Népszabadsâg veröffentlichten Aufsatz, der in Rumänien ausführlich wiedergegeben und kommentiert wurde, vertrat der ungarische Politologe Lâszlô Lengyel die These, daß die 1997 erzielte Übereinkunft über die künftige Sicherheitsarchitektur des europäischen Kontinents bereits auf dem Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten George Bush und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michaü Gorbacev im Dezember 1989 in Malta getroffen worden sei. Die Grenzen der neuen NATO bezeichnen die „Endpunkte für amerikanisches und europäisches Kapital und die entsprechende Sicherheit." Siehe hierzu: "Romulus Cäplescu: „Un politolog ungur lanseazä teoria permanentizärii ,zonei gri' (Ein ungarischer Politologie setzt die Theorie von der Festschreibung der 'Grauzone' in Umlauf)", in: Adevärul, 9. 1. 1997. 16

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der Zeit, als sie sich noch in der Opposition befanden, die damaligen Machthaber, „sieben Jahre verloren zu haben". Dieses Argument entspricht jedoch nicht ganz der Wirklichkeit. In einem Interview mit der Tageszeitung Adevärul , worin er eine Bilanz des ersten Jahres seiner Amtszeit zog, distanzierte sich Präsident Emil Constantinescu von diesem Vorwurf. Vielmehr gestand er den von 1989 bis zu den Wahlen von 1996 amtierenden Politikern zu, Institutionen, Organisationsformen und einen Gesetzesrahmen geschaffen zu haben, die nach 1996 ohne Zeitverlust ausgefüllt, weiterentwickelt und mit Leben erfüllt werden konnten. Constantinescu bescheinigte der politischen Führung vor 1996 auch eine „klare Ausrichtung pro-NATO und pro-EU", die jedoch wegen des Imagedefizits der damaligen Regierung nicht zum Tragen gekommen sei.17 In der Tat hatte der westlich orientierte und reformfreundliche Ministerpräsident Petre Roman recht bald nach seinem Amtsantritt im Juni 1990 erste Schritte auf dem Weg einer Annäherung Rumäniens an die politischen und militärischen Institutionen des Westens unternommen. Im August 1990 lud Roman den damaligen NATO-Generalsekretär Manfred Wöraer zu einem offiziellen Besuch Rumäniens ein. Am 23. Oktober desselben Jahres wurde Roman von Wörner beim Sitz der NATO in Brüssel empfangen. In einem Schreiben an den NATO-Generalsekretär vom 18. September 1993 suchte Präsident Iliescu offiziell um die NATO-Mitgliedschaft Rumäniens an. Am 26. April 1996 begann der individuelle Dialog zwischen Rumänien und der NATO. Zwei weitere Gesprächsrunden fanden im Juli und im Oktober 1996 statt. Emotional geführte Debatten zum Thema „NATO-Integration" gab es in Rumänien spätestens seit Juli 1991, als Wöraer Rumänien einen ersten Besuch abstattete und sich dafür verbürgte, daß die NATO Rumänien bei ihrem Erweiterungsprozeß weder diskriminieren noch ausgrenzen werde.18 Im Wahlkampf des Jahres 1996 hatte die Frage des Beitritts zu EU und NATO eine wichtige Rolle gespielt. Der amtierende Präsident Iliescu und die damalige Regierung warben mit ihren wirklichen oder behaupteten außenpolitischen Erfolgen, die damalige Opposition warf der Führung vor, die Chancen Rumäniens auf eine NATO-Mitgliedschaft durch ihre nicht immer eindeutige und transparente Außenpolitik sowie durch die Regierungsallianz mit linksnationalistischen Parteien möglicherweise verspielt zu haben.19 Mit den Wahlen 17

Adevärul, 28. 11. 1997. Siehe hierzu: Anneli Ute Gabanyi: „Rumäniens Sicherheit und die NATO", in: Südosteuropa, 1/2, 1994, S. 1-17. 19 Emmerich Reichrath: „Wahlkampf und Außenpolitik", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 1.5. 1996, und: Octavian $tireanu: „Guvernarea Iliescu î§i asumä un e§ec istoric, România rämäne in afara NATO (Die Regierung Iliescu übernimmt die Verantwortung für ein historisches Versagen, Rumänien bleibt außerhalb der NATO) in: Azi, 6. 5. 1996. Siehe auch: Adevärul, 9. 11. 1996. 18

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vom November 1996 war hinsichtlich der Beitrittschancen Rumäniens zu EU und NATO eine neue Situation entstanden: Erstmals hatte ein friedlicher, demokratischer Machtwechsel stattgefunden. Die regierende Partei der Sozialen Demokratie verlor ihre bisherige relative Mehrheit. Stärkste politische Kraft im Senat und im Abgeordnetenhaus wurde das bisherige Oppositionsbündnis Rumänische Demokratische Konvention. Erstmals schied auch der Staatschef auf friedlichem, demokratischem Wege aus dem Amt. Anstelle des bisherigen Amtsinhabers Ion Iliescu, den die Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens aufgestellt hatte, wählten die Bürger den Vorsitzenden der oppositionellen Rumänischen Demokratischen Konvention, Emil Constantinescu, zum neuen Staatspräsidenten.20 Damit befand sich Rumänien wie schon 1989 in einer phasenverschobenen Gegenentwicklung zum Rest der ehemals kommunistischen Staatenwelt Ostmitteleuropas. Während anderswo, beispielsweise in Ungarn und Polen, das Pendel von den konservativen Parteien inzwischen zurück zu sozialdemokratisch mutierten Reformkommunisten geschlagen hatte, bildeten in Rumänien im Gegenzug dazu die Parteien der antikommunistischen Opposition - Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten - gemeinsam mit den Vertretern der ungarischen Minderheit eine neue Regierung. Mit der Einbindung des Demokratischen Verbandes der Ungarn Rumäniens, der politischen Vertretung der ungarischen Minderheit, in die neue Regierung waren die Voraussetzungen geschaffen für eine dauerhafte Lösung ethnischer Probleme auf dem Wege der Demokratisierung der Gesellschaft und der partnerschaftlichen Annäherung an das Nachbarland Ungarn. Das Langzeitprogramm der neuen Regierung zielte auf eine Fortführung der begonnenen und eine Inangriffnahme der seit 1989 nur in Aussicht gestellten oder formal betriebenen Reformen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Der neu gewählte rumänische Präsident Emil Constantinescu regte die Gründung eines Departements innerhalb der Regierung an, dessen Aufgabe darin bestand, den Kampf gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität zu koordinieren. Dieser Kampf richtete sich nicht nur gegen die Korruption im Inneren, sondern zugleich auch gegen neue äußere Sicherheitsrisiken. 21 Das in allen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten heikle Problem der Kontrolle über die Sicherheitsdienste22 wurde von der neuen rumänischen Führung 20 Siehe hierzu Anneli Ute Gabanyi: „Kommunalwahlen in Rumänien", in: Südosteuropa, 11/12, 1996, S. 781-814. 21 Andreas Oplatka: „Kampf um den Rechtsstaat in Rumänien", in: Neue Zürcher Zeitung, 21. 1. 1997. 22 Jane Perlez : „A Bigger NATO's Worry: Spy Agencies. Some in Alliance Ask if Secret Services of Ex-East Bloc Can Be Trusted", in: International Herald Tribune, 6. 1. 1998.

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ebenfalls in Angriff genommen. In einem ersten Schritt wurden die Direktoren der wichtigsten diesbezüglichen Institutionen ausgetauscht. Die neugewählte Regierung forcierte die Ausrichtung der Außenpolitik Rumäniens gemäß den Normen der OSZE. In den Jahren nach der Wende hatte Rumänien Grundlagenverträge mit Bulgarien und Jugoslawien abgeschlossen. Die Unterzeichnung und Ratifizierung des in beiden Ländern lange umstrittenen Grundlagenvertrags mit Ungarn erfolgte noch vor den Parlamentswahlen vom November 1996, wenngleich erst die neue Regierung den Beziehungen zu Ungarn eine neue Dimension verlieh. Mit der Unterzeichnung eines Grundlagenvertrags mit der benachbarten Ukraine im Juni 1997 löste die rumänische Diplomatie nach vierjährigen schwierigen Verhandlungen ihr wichtigstes und wohl auch heikelstes Problem. Der Vertrag ist das Ergebnis einer Reihe von Kompromissen. So einigten sich die beiden Seiten auf eine generelle Verurteilung „ungerechter Akte totalitärer Regime und Militärdiktaturen". Sie bekennen sich zu den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki und ausdrücklich zur Unantastbarkeit der Grenzen. Hinsichtlich der Minderheitenrechte nimmt der Vertragstext Bezug auf die Empfehlung 1201 des Europarats. Zudem wurde die geplante Einrichtung zweier Euroregionen angekündigt, denen sich auch die Republik Moldova anschließen sollte. In den beiden noch nicht gelösten Fragen hinsichtlich der (dem Donaudelta vorgelagerten) Schlangeninsel bzw. des Grenzverlaufs wurde vereinbart, diese auf dem Verhandlungswege innerhalb der kommenden zwei Jahre einer Lösung zuzuführen. Andernfalls wollen die Vertragspartner sich dem Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs unterwerfen. 23 Scheiterte der NATO-Beitritt Rumäniens an der Kostenfrage?

Die USA setzten das Kostenargument gleich zweimal gegen eine Berücksichtigung Rumäniens in der ersten Erweiterungsrunde der NATO ein. Zum einen hatten US-Offizielle inoffiziell Bedenken geäußert, daß „die Kosten der Modernisierung der Streitkräfte und der Erfüllung der Erfordernisse einer NATO-Mitgliedschaft für die ärmeren mitteleuropäischen Staaten, insbesondere Rumänien, zu hoch seien."24 Der Internationale Währungsfonds warnte Rumänien vor den möglichen Kosten eines NATO-Beitritts. 25 Zum anderen, 23 „Kiew und Bukarest paraphieren Grundvertrag", in: Neue Zürcher Zeitung, 5. 5. 1997. 24 Zitiert von Sonia Winter : „NATO: US-Choice for NATO -Expansion Is Not a Surprise", in: RFE/RL 13. 6. 1997. 25 Jeff Gerth/Tim Weiner : „U.S. Arms Makers Lobby for NATO Expansion", in: International Herald Tribune, 30. 6. 1997; Matej Vipotnik / Anatol hieven: „Tough Romanian Budget Approved", in: Financial Times, 7. 8. 1997.

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so hieß es, würden der Allianz im Falle einer Aufnahme Rumäniens besonders hohe Kosten entstehen.26 Das Congressional Budget Office war im Jahre 1996 in seinen Hochrechnungen bezüglich der Kosten der geplanten Osterweiterung der NATO von drei Staaten - den 1997 auch designierten - ausgegangen. Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Deutschland sagte der Hauptautor der Studie, Eland, die Hinzunahme des kleinen Slowenien hätte an der aufgestellten Kostenrechnung wenig geändert. Bei der Gelegenheit soll er die Überlegung geäußert haben, es sei doch „etwas anderes, würde auch das wesentlich größere Rumänien aufgenommen. " 2 ? In Rumänien wird die Frage der Kosten der Integration bzw. Nichtintegration in die NATO nicht nur unter finanziellen, sondern auch unter politischen und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten abgewogen. Im Falle einer Nichtintegration Rumäniens in die NATO - so Premierminister Victor Ciorbea in seiner Rede auf dem Treffen der „16 + 1" Ende April 1997 in Brüssel - seien die militärischen Kosten beträchtlich, die politischen und wirtschaftlichen Kosten hingegen nicht kalkulierbar. Zugleich legte das Bukarester Verteidigungsministerium der Öffentlichkeit eine Kosten-Nutzen-Rechnung der NATO-Integration Rumäniens vor, deren Ziel es war, den rumänischen Steuerzahler korrekt über den Umfang der finanziellen Lasten zu informieren, die auf das Land zukämen, wenn es in absehbarer Zeit zu einem glaubwürdigen Partner des westlichen Bündnisses werden wolle.28 Nach dieser Studie könnten die Ausgaben für Verteidigung für den gesamten Zeitraum aus dem laufenden Staatshaushalt finanziert werden. Die Kosten der Integration Rumäniens in die NATO, so die Studie, könnten in allen Phasen der geplanten Modernisierungs- und Integrationsstrategie aus laufenden Haushaltsmitteln gedeckt werden. Auch verwies man darauf, daß Rumänien, im Unterschied zu einigen der inzwischen neu in die NATO aufgenommenen ostmitteleuropäischen Staaten, nur vergleichsweise niedrige Devisenschulden hat.29

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Evenimentul Zilei, 27. 2. 1997. Walter Wille: „Neue Mitglieder, alte Waffen. Wird Deutschland einen Zuschlag bei der Erweiterung der NATO zahlen?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 4. 1997. 28 „Studiu preliminar privind evaluarea costurilor integrärii militare a României în NATO (Vorstudie zur Kostenschätzung der militärischen Integration Rumäniens in die NATO)", in: Observatorul Militär, Nr. 20, 21.-27. 5. 1997. 29 George Vasile: „§ansa inträrii in NATO trebuie valorificata integral (Die Chance des Eintritts in die NATO muß voll genutzt werden)", in: Observatorul Militär, Nr. 141, 9.-15. 4. 1997. 27

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Das Akzeptanzkriterium - nicht relevant?

Von allen Beitrittskandidaten genießt der NATO-Beitritt (wie auch der angestrebte Beitritt des Landes zur EU) in Rumänien die höchste Akzeptanz. Bei der im März 1996 veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage stand Rumänien mit 95 Prozent Ja-Stimmen und 5 Prozent Nein-Stimmen an der Spitze aller ostmitteleuropäischen Staaten.30 Dabei spielte die Frage der Kosten eines möglichen NATO-Beitritts in Rumänien anders als in Tschechien, Estland, der Slowakei und Ungarn kaum eine Rolle. So antworteten auf die Frage, ob sie bereit wären, die Kosten für die Modernisierung der Streitkräfte im Zuge der NATO-Erweiterung in der Höhe von 3 bis 4 Milliarden Dollar zu tragen, 70 Prozent der (im Rahmen einer Meinungsumfrage in Bukarest) befragten Bürger mit ja, 16 Prozent mit nein, 14 Prozent sagten, sie könnten das nicht abschätzen.31 Im März 1997 veröffentlichte die Europäische Kommission die Ergebnisse einer neuerlichen Umfrage in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten, die um den Beitritt zu NATO und EU nachgesucht hatten.32 Gefragt wurde gezielt nach dem Stimmverhalten im Falle eines eventuell abzuhaltenden Referendums für oder gegen einen NATO oder EU-Beitritt des betreffenden Landes. Im Durchschnitt sagten die Befragten, sie würden bei einem Referendum über den NATO-Beitritt ihres Landes zu 53 Prozent dafür stimmen, 10 Prozent wollten dagegen stimmen, 17 Prozent waren unentschlossen. Bei einem Referendum über den EU-Beitritt ihres Landes wollten 61 Prozent dafür stimmen, 7 Prozent dagegen, 15 Prozent waren unentschlossen. Für einen NATO-Beitritt wollten 76 Prozent der Rumänen votieren.33 Die Zustimmung der Gesamtbevölkerung zur NATO-Integration deckt sich mit ihrer Akzeptanz durch die rumänischen Streitkräfte. Gemäß einer Umfrage sprachen sich 94,75 Prozent der befragten Offiziere in den Stäben für eine Integration Rumäniens in die NATO aus, 92,03 Prozent glaubten überdies, durch die Integration würde die nationale Sicherheit Rumäniens gewähr-

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Zum Vergleich: Polen: 92 Prozent Ja-Stimmen, 8 Prozent Nein-Stimmen. Slowenien: 71 Prozent Ja-Stimmen, 29 Prozent Nein-Stimmen. Tschechische Republik und Ungarn: 59 Prozent Ja-Stimmen, 41 Prozent Nein-Stimmen. Bulgarien: 52 Prozent Ja-Stimmen, 48 Prozent Nein-Stimmen, in: Central and Eastern Eurobarometer, European Commission, Nr. 6, März 1996. 31 Adevärul, 12. 2. 1997. Die Umfrage wurde vom Zentrum für Urbane und Regionale Soziologie im Auftrag der Manfred-Wöraer-Gesellschaft in Bukarest durchgeführt. 32 Central and Eastern Eurobarometer, European Commission, Nr. 7, März 1997. 33 Zum Vergleich: In Polen waren es 65 Prozent, in Slowenien 39 Prozent, bei den anderen Staaten einschließlich Tschechiens und Ungarns lag die Bandbreite der Ja-Stimmen zum NATO-Beitritt zwischen 27 und 32 Prozent.

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leistet. Befragt nach ihrer Haltung zur Teilnahme rumänischer Soldaten an Missionen im Ausland äußerten sich 89,96 Prozent zustimmend. 77,17 Prozent bejahten den Einsatz bei Peacekeeping-Einsätzen, 96,65 Prozent den Einsatz bei humanitären oder Rettungsaktionen.34 Die Akzeptanz der Einbindung Rumäniens in die euro-atlantischen Strukturen stützt sich zudem auf den breiten Konsens aller politischen Kräfte des Landes, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder Ideologie. Im Jahre 1994 wurde zur Vorbereitung auf den angestrebten NATO- und EU-Beitritt ein Nationaler Konsultativrat für die Europäische und Atlantische Integration ins Leben gerufen, dem Vertreter aller im Parlament vertretenen politischen Parteien sowie von mehreren Nichtregierungsorganisationen angehören. Im Juni 1996 und im April 1997 richtete das rumänische Parlament einstimmige Appelle an die Parlamente aller NATO-Staaten, worin sie den allgemeinen Konsens für diese außenpolitische Option ihrer Regierung hervorhoben und um Unterstützung für den Beitritt Rumäniens zur NATO baten. Die Reform der Streitkräfte - nicht gewürdigt?

In Rumänien reagierte man mit Erstaunen auf die mangelnde Bereitschaft der NATO, den - von den meisten Beobachtern nicht angezweifelten - Vorsprung Rumäniens bei der Reform seiner Streitkräfte und ihrer Anpassung an NATO-Kriterien zu berücksichtigen.35 Die Bewertung der militärischen und militärpolitischen Parameter Rumäniens für den NATO-Beitritt - Zivilkontrolle, Streitkräftereform, Kompatibilität der Ausrüstung, Interoperabilität und Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei gemeinsamen Einsätzen mit NATO, UNO und OSZE - durch westliche Fachleute ist generell positiv. Bei seinem Rumänienbesuch im Anschluß an den Madrider NATO-Gipfel befand der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Hartmut Bagger, die „Strukturen der rumänischen Streitkräfte seien ebenso wettbewerbsfähig wie die anderer Anwärterstaaten ... Rumänien könne man nicht etwas Bestimmtes vorwerfen, was den Stand seiner militärischen Vorbereitung für die NATO-Integration betreffe. " 3 6 Zivilkontrolle der Streitkräfte. In Rumänien ist die mehrstufige Reform der rumänischen Streitkräfte bereits 1991 als interner Prozeß der Demokratisie34

Curierul National, 12. 3. 1997. Dumitru Constantin : „Reuniunea ambasadorilor NATO men{ine divergence privind candidatura României (Auf dem Treffen der NATO-B otschafter bleiben die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Kandidatur Rumäniens bestehen)", in: Adevärul, 21. 6. 1997. 36 „Rumänisch-deutsche Militärbeziehungen", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 8. 7. 1997. 35

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rung und Modernisierung angelaufen. Die Spezifika der rumänischen Militärpolitik vor der Wende, die sich hinsichtlich Struktur, Doktrin, Ausrüstung und Allianzverhalten von allen anderen Armeen der ehemaligen WarschauerPakt-Staaten unterschieden, bildeten die Grundlage für eine Streitkräftereform eigenen Zuschnitts. Die im November 1991 verabschiedete neue rumänische Verfassung schuf den rechtlichen Rahmen für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte als einer Komponente der exekutiven Macht. Diese Kontrolle erfolgt durch die folgenden Institutionen: Parlament, Staatspräsident, Verteidigungsrat, Regierung, Militärgerichtsbarkeit, Verfassungsgericht, Oberster Finanzhof, Ombudsman. Seit März 1994 steht nicht mehr - wie bisher - ein General, sondern ein Zivilist an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Der Generalstab ist in das Verteidigungsministerium integriert, es gilt der Primat der Politik. Der Hauptabteilung Verteidigungspolitik und internationale Beziehungen steht seit 1992 ein Zivilist als Staatssekretär vor. Im Zuge der 1991 eingeleiteten Streitkräftereform wurden rund 150 militärische in zivile Führungspositionen umgewandelt.37 Zur Zeit beträgt der Anteil der Zivilisten am Personal der Streitkräfte rund 20 Prozent, er soll weiter ansteigen. Der Wehrdienst dauert 12 Monate. Um die erforderlichen Zivilkräfte auszubilden, wurde bereits im Jahre 1992 nach westlichen Vorbildern die Nationale Verteidigungsakademie (Colegiul National de Apärare) eingerichtet, wo Zivilisten gemeinsam mit Soldaten geschult werden. Zwischen 1992 und 1996 haben 78 Militärs und 72 Zivilisten die Nationale Verteidigungsakademie absolviert.38 Zwischen 1990 und Mitte 1996 wurden insgesamt 473 rumänische Offiziere im westlichen Ausland ausgebildet, davon 91 bei der NATO, 84 in den USA, 80 in Großbritannien, 70 in der Bundesrepublik Deutschland, 45 in Italien, 40 in Kanada, 34 in den Niederlanden und 29 in Frankreich. Die Umstrukturierung der rumänischen Streitkräfte galt bereits Ende 1995 als abgeschlossen. Die Divisions- und Regimentsebenen waren aufgelöst, die 37 Romanian Ministry of Defence, Military Information and Public Relations Department (Hrsg.): Romanian Armed Forces. In the Service of Peace, Bukarest 1997. 38 Welchen Gewinn diese Akademie für die Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Strukturen bedeuten kann, läßt sich daran ablesen, daß sowohl der nach den Wahlen von 1996 neuernannte Generalstabschef Brigadegeneral Constantin Degeratu als auch der neue Staatssekretär und Leiter der Abteilung Verteidigungspolitik und Internationale Beziehungen Constantin Dudu Ionescu Absolventen des gleichen Jahrgangs dieser Akademie sind. Beide wurden übrigens nach der Wende von 1989 auch im westlichen Ausland ausgebüdet - Degeratu in Großbritannien und Ionescu in den USA.

18 Festschrift Hackcr

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Korps- und Brigadeebenen wieder eingeführt worden. Das neue Organigramm des rumänischen Verteidigungsministeriums, so Verteidigungsminister Victor Babiuc, werde die Interoperabilität der rumänischen mit den entsprechenden Strukturen innerhalb der Nordatlantischen Allianz erleichtern. 39 Im Jahre 1996 betrug die Zahl der Berufssoldaten in den rumänischen Streitkräften 17 Prozent. Die rumänischen Streitkräfte werden reduziert, aber flexibler gestaltet. Ende 1995 waren die gemäß dem CFE-Vertrag für Rumänien festgelegten personellen und materiellen Obergrenzen erreicht oder unterschritten. 40 Bis zum Jahre 2005 sollen die rumänischen Streitkräfte und Waffenbestände weiter abgebaut werden. Bis dahin sollen die Bodentruppen um ein Drittel, die Zahl der Kriegsschiffe um zwei Drittel reduziert, die Zahl der Flugzeuge halbiert werden.41 Zum 1. März 1997 erfolgte die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe. Ihr Aufbau entspricht den Anforderungen für einen möglichen Beitritt zu NATO-Strukturen und kann NATO-Kräften in Krisenfällen oder internationalen Friedensmissionen zugeteilt werden. Die Eingreiftruppe besteht je zur Hälfte aus Wehrpflichtigen und Berufssoldaten. 42 Die Rüstungsproduktion und -beschaffung in den rumänischen Streitkräften ist darauf ausgerichtet, Interoperabilität mit NATO-Systemen zu erzielen, Betriebe der Rüstungsindustrie in Übereinstimmung mit Europäischen Standards und den Sicherheitsvorschriften der NATO zu modernisieren und NATOStandards einzuführen. Anders als Polen und Ungarn43 vermied es die rumänische Führung nach der Wende, Flugzeuge und anderes Gerät durch russische Firmen nachrüsten zu lassen. Die Modernisierung der Ausrüstung der rumänischen Streitkräfte, die technische Aufwertung vorhandenen Geräts gemäß NATO-Standards und die Anschaffung von neuem Gerät erfolgt in Kooperation mit Rüstungsfirmen aus den NATO-Staaten oder mit Israel. 44 39

Observatorul Militär, Nr. 16, 23.-26. 4. 1997. Das entspricht 230.000 Soldaten (abgebaut: 41.000), 1.375 Panzern (abgebaut: 1.591), 1.475 Artillerie mit einem Kaliber von 100 mm und mehr (abgebaut: 2.423), 2.100 gepanzerte Fahrzeuge (abgebaut: 973), 430 Kampfflugzeuge (abgebaut: 78) und 120 Kampfhubschrauber (davon sind erst 16 vorhanden). 41 Christophe Châtelot: „L'armée roumaine veut être 'fournisseur de sécurité* dans les Balkans", in: Le Monde, 12. 7. 1997. 42 Diese modern ausgerüstete Eliteeinheit verfügt über 800 Mann und soll in wenigen Jahren auf 2.500 Soldaten aufgestockt werden. Siehe hierzu: „Rumänien hat jetzt seine schnelle Eingreiftruppe", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 5. 3. 1997. 43 Neue Zürcher Zeitung, 10. 12. 1997. 44 Auf der Liste der Modernisierungsprioritäten stehen Projekte der Luftwaffe, der Luftabwehr und der gepanzerten Fahrzeuge an erster Stelle. Zu den wichtigsten laufenden Vorhaben gehören der Ankauf von C-130 Herkules Transportflugzeugen und F-16 Jagdflugzeugen aus den USA, die Modernisierung von M IG 21 Kampfflugzeu40

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Ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Interoperabilität mit NATO-Kräften haben die rumänischen Streitkräfte in den zurückliegenden Jahren unter Beweis gestellt. Für den Fall einer Integration in die NATO hat sich Rumänien ausdrücklich zu weiterem Souveränitätsverzicht bereit erklärt und die einschlägige Gesetzgebung dementsprechend modifiziert. 45 Seit dem Jahre 1991, ihrer ersten Beteiligung mit einem Feldlazarett am Golfkrieg, nehmen rumänische Soldaten weltweit an friedenserhaltenden Maßnahmen, die von der UNO oder von der NATO im Auftrag der UNO durchgeführt wurden teil; ihre Teilnahme an Operationen der Weltorganisation sehen rumänische Militärs als Bestätigung ihres Potentials als künftige NATO-Mitglieder. 46 Rumänien, so Generalstabschef, Divisionsgeneral Constantin Degeratu, sei das einzige Land Ostmitteleuropas, das gleichzeitig an drei friedenserhaltenden Einsätzen - in Angola, Bosnien und Albanien - teilgenommen habe.47 Von Rumänien ging auch der Anstoß zur Aufstellung einer gemeinsamen rumänisch-ungarischen Schnellen Eingreifbrigade aus.48 Ein Jahr nach Unterzeichnung des PfP-Abkommens schloß Rumänien sich 1995 dem PARP-Prozeß (PfP Planning and Review Process) an. Dabei soll die Interoperabilität zwischen der rumänischen Armee und den NATO-Strukturen in den drei Teilstreitkräften sowie in den Bereichen Logistik und Sanitätswesen hergestellt werden.49

gen und Hubschraubern in Israel, die gemeinsame Produktion von Kampfhubschraubern in Zusammenarbeit mit amerikanischen und französischen Rüstungsfirmen sowie die systemtechnische Optimierung des rumänischen Kampfpanzers TR 125, die in Zusammenarbeit mit der Firma Krauss-Maffei-Wehrtechnik erfolgen soll. Siehe hierzu: Florentin Popa: „Procurement in the Romanian Armed Forces, Updating with a View to Interoperatibility, in: NATO's Sixteen Nations, Special Issue 1996 / November, 1996, und: Malte Kessler: „Ion Iliescu auf Testfahrt mit Kampfpanzer Leopard 2", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 3. 7. 1996. 45 Siehe hierzu detailliert: Gavril Ghitas: „Working in Harmony. Interoperatibility - a Priority Area", in: NATO's Sixteen Nations, Special Issue 1996/November, 1996. 46 Petru Dumitriu: „Participarea la opérâtiuni ONU de men{inere a päcii. Aspecte conceptuale, opera{ionale çi de motivate (Die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen der UNO. Konzepte, Durchführung, Motivation)", in: Observatorul Militär, Nr. 14, 9.-15. 4. 1997. Anders als die Vertreter der Streitkräfte schienen rumänische Spitzendiplomaten die eigenen Möglichkeiten gelegentlich zu überschätzen. So ist das Angebot des rumänischen Außenministers Adrian Severin zu werten, anstelle der eventuell abziehenden US-amerikanischen Truppen nach Bosnien zu gehen. Siehe hierzu: „Severin erläutert Angebot Rumäniens an die NATO", in: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 25. 4. 1997. 47

Christophe Châtelot, 1997 (vgl. Anm. 41). Observatorul Müitar, Nr. 14, 9.-14. 4. 1997, Siehe auch: Wall Street Journal, 14. 3. 1997. 49 Romanian Military Newsletter, 12. 3. 1997. 48

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Rumäniens Sicherheitsangebot - nicht gefragt?

In ihrem Bestreben, die Beitrittswürdigkeit Rumäniens in die NATO zu fördern, betont die rumänische Diplomatie nicht die Sicherheitsbedürfhisse des Landes, sondern das rumänische Angebot an zusätzlicher Sicherheit für das Bündnis. Rumänien definiert sich selbst als „missing link" und stabilisierender Faktor im euro-atlantischen Sicherheitskonzept. Experten des Verteidigungs-, und Außenministeriums verweisen dabei auf einen Katalog von geostrategischen, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Argumenten. - Geostrategische Lage: Zweitgrößtes Land des Assoziierungsgebiets, keine gemeinsame Grenze mit einer Großmacht, 1.000 km schiffbarer Lauf der Donau als Teil des transeuropäischen Wasserweges zwischen Nordsee und 250 km Küste am Schwarzen Meer.

- Wirtschaftspotential: Zweitgrößter potentieller Käufermarkt nach Polen im Assoziierungsbereich; reiche Bodenschätze; Möglichkeit zur Einbindung Rumäniens in Erdöl- und ErdgasTransportsysteme, Handelskorridor zwischen West-, Ost- und Südosteuropa.

- Sicherheitspolitische Kontinuität: Rumänische Politiker verweisen auf die Kontinuität der Ausrichtung der rumänischen Außen- und Sicherheitspolitik dank dem Sonderstatus, den Rumänien vor 1989 im östlichen Bündnissystem eingenommen hat. Hierzu gehört die nationale, rein defensive Verteidigungsdoktrin ohne westüches Feindbild, die zu 80 Prozent vom Warschauer Pakt unabhängige Rüstungsindustrie, die Tradition der Kooperation mit westlichen Rüstungsfirmen sowie die Tatsache, daß seit 1962 alle Führungskräfte der Armee ausschließlich innerhalb der Landesgrenzen ausgebildet wurden.

- Regionaler Stabilitätsfaktor: Gemeinsam mit Polen Bildung einer Nord-Süd-Achse mit Stabilisierungseffekt in Richtung auf eine unabhängige Ukraine; Verstärkung der Südflanke der NATO mit Stabilisierungseffekt für den Balkan; Stabilisierender Faktor mit Bück auf die Südflanke der NATO und die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei; Stabilisierender Faktor mit Blick auf die Kaukasusregion dank guter Beziehungen zu Georgien, Armenien und Aserbeidschan.

Zugleich lassen rumänische Vertreter auch keinen Zweifel daran, daß sich dieses Potential nur entfalten kann, wenn Rumänien sich den europäischen und euro-atlantischen Strukturen anschließt.50

50 Gheorghe Crept : Factori de rise ai securitä{ii nationale de facturä economicä (Wirtschaftliche Risikofaktoren für die nationale Sicherheit), in: Observatorul Militär, Nr. 36, 10.-16. 9. 1997.

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Die NATO nach Madrid - zweite Runde oder „lange Pause"?

Im Abschlußdokument des Madrider NATO-Gipfels waren Rumänien und Slowenien wegen ihrer Fortschritte auf dem Wege zu Reformen und Rechtsstaatlichkeit lobend erwähnt worden. 51 Die beiden „anerkannten Aspiranten" 52 hatten jedoch keinerlei Zusicherungen erhalten, ob und gegebenenfalls wann sie auf eine Aufnahme hoffen können. Obwohl im Vorfeld des NATO-Gipfels auch in den USA Stimmen laut geworden waren, die dafür plädiert hatten, Rumänien und Slowenien die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen innerhalb von 12 bis 18 Monaten zu garantieren, 53 hatten sich die Vereinigten Staaten allen Versuchen widersetzt, ein Datum für künftige Erweiterungsschritte der Allianz festzuschreiben oder in Frage kommende Staaten zu benennen.54 Einige südeuropäische Mitgliedsstaaten, die für die Maßgabe eines klar definierten zeitlichen Erwartungshorizonts für eine zweite Erweiterungsrunde plädiert hatten, drangen mit ihren Vorschlägen nicht durch. In dem Abschlußdokument wurde den nicht berücksichtigten beitrittswilligen Kandidaten nur eine Prüfung der Erweiterung im Jahre 1999 zugesagt. Um den Zurückweisungsschock der nicht berücksichtigten Kandidaten abzufedern, hatten sich die 16 früh auf eine entsprechende Rhetorik verständigt. Von einem „offenen Prozeß" und offenen Türen war die Rede, und: „Je unvollständiger die Lösung zu Anfang ist, desto mehr drängt sie auf Vervollständigung".55 Frankreich, die USA und die Bundesrepublik bemühten sich zudem, Rumänien ihrer besonderen Unterstützung und Sympathie zu versichern. In einer Pressekonferenz zum Abschluß des Madrider NATO-Gipfels plädierte Bundeskanzler Helmut Kohl für eine zweite Erweiterungsrunde. In einem solchen Fall, so der Bundeskanzler, sei es „ganz natürlich, daß Slowenien und Rumänien" in Frage kämen. Seine ursprünglich als sicher bezeichnete Erwartung, daß es 1999 eine zweite Erweiterungsrunde geben würde, schwächte der Bundeskanzler im weiteren Verlauf der Pressekonferenz als »persönliche Einschätzung4 ab. 5 6

51

„The most explicit possible rereference to Romania and Slovenia's prospects", siehe David Buchan / Bruce Clark / David White: „NATO Expansion Deal Covers Divide", in: Financial Times, 9. 7. 1997. 52 Ronald D. Asmus / F. Stephen Larrabee : „Wird die NATO durch die Erweiterung nach Osten ein kraftloser Riese?", in: Die Welt, 1. 12. 1996. 53 Jeffrey Simon / Hans Binnendijk: „Romania and NATO", in: Central European Issues, Nr. 2/1997. 54 Adevärul, 1. 7. 1997. 55 Rede des Bundesministers der Verteidigung, Volker Rühe, vom 2. Juni 1997 in Berlin; siehe Bulletin des Bundespresseamtes, 9. 6. 1997. 56 „Kohl tritt für eine zweite Runde der NATO-Erweiterung ein", in: Süddeutsche Zeitung, 10. 7. 1997.

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US-Präsident Bill Clinton, der Rumänien am 12. Juli 1997, aus Polen kommend, einen kurzen Besuch abstattete, wurde überaus freundlich empfangen. Die Bevölkerung verhielt sich würdig, ihre Enttäuschung trat hinter der traditionellen Sympathie für die USA zurück. Präsident Emil Constantinescu und die Regierung von Premierminister Victor Ciorbea, die ihre Position durch Clintons Besuch gestärkt fühlten, erblickten darin ein positives Signal für Rumäniens künftige Integrationspolitik. In seiner Rede auf dem geschichtsträchtigen Bukarester Universitätsplatz, wo im Dezember 1989 gekämpft, im Mai und Juni 1990 demonstriert und im November 1996 der Wahlsieg Präsident Emil Constantinescus gefeiert worden war, sagte Clinton, es gebe keinen stärkeren Anwärter für eine künftige NATO-Erweiterung als Rumänien („There is no stronger candidate than Romania44). Seit dem Madrider Gipfeltreffen mehren sich die Anzeichen dafür, daß die „wohlfeilen Worte von der »offenen Tür der NATO 444 5 7 offenbar nicht ganz ernst gemeint waren. US-Vertreter plädieren für mehr Ehrlichkeit gegenüber den Ländern, deren Chancen auf eine baldige Mitgliedschaft gering seien. „Ich glaube nicht, daß die Tür sehr weit offen ist44, so der stellvertretende Direktor der US-amerikanischen Arms Control Association.58 Und der frühere finnische UN-Botschafter Max Jakobson stellte die Eindeutigkeit der gesamten Erweiterungsstrategie in Frage: „So NATO's door remains open but no one is likely to be invited to step in. The pretense on this position reveals the ambiguity that has plagued the policy of NATO enlargement from its outset. Is Russia a partner in peace to be trusted and supported or a potential adversary to be deterred and contained?4459 Die Mitgliedstaaten der NATO rücken allmählich von diesem Aspekt der „Strategie der Beruhigung der Zurückgewiesenen4400 ab. Dafür gibt es eine Vielzahl von Erklärungen: - Viele Mitglieder der Allianz hätten von Anfang an „im ersten Erweiterungsschritt am liebsten zugleich den letzten gesehen44.61 - Die Allianz werde nach der ersten Erweiterungsrunde Zeit brauchen, um die drei neuen Mitglieder zu verdauen.62

57

Nikolaus Blome: „Erweiterte Sicherheit", in: Die Welt, 17. 12. 1997. Walter Wille: „Zum Preis einer Eiswaffel?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 12. 1997. 59 Max Jakobson: „A NATO Open Door, but Russia Growls at the Entrance", in: International Herald Tribune, 27. 12. 1997. 60 Rolf Clement, „Mitglied oder nicht - die relativierte Frage", in: Das Parlament, Nr. 21, 16. 5. 1997. 61 „Nicht zuletzt in Bonn", meint Christoph Bertram: „Der große Drang nach Westen", in: Die Zeit, Nr. 2/1997. 58

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- In einer Erweiterung um mehr als drei neue Mitglieder sahen einige die Gefahr einer „Aushöhlung" des Bündnisses und der Erosion des Vertrauens in künftige Erweiterungsrunden. 63 - In keinem NATO-Land, so die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright auf dem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel im Dezember 1997, könne man davon ausgehen, daß sich Übereinstimmung für neue Erweiterungsschritte finden lassen.64 - Im Senat der USA dürfte der Widerstand gegen eine zweite Erweiterungsrunde der NATO nach Ratifizierung des Beitritts der drei ersten neuen Mitglieder eher noch wachsen. Prinzipielle Gegner der Erweiterung, die in der ersten Erweiterungsrunde unterlegen seien, rüsteten bereits zum Kampf gegen die zweite Runde.65 - In Frankreich und Deutschland, so denkt man in den USA, könnte der Enthusiasmus für einen neuen Erweiterungsschritt nach erfolgreicher Schaffung einer „Pufferzone" bald nachlassen.66 - Das intensivierte Partnerschaftsprogramm für die „Draußengebliebenen" werde die Partnerländer so nahe an die Allianz heranführen, daß sich die Unterschiede zwischen Partnerländer und Nicht-Partnerländern der Allianz verwischen würden.67 - In einer möglichen nächsten Runde der Osterweiterung könnten Rumänien in Gestalt Österreichs, der Slowakei, Kroatiens oder der baltischen Staaten starke Konkurrenten erwachsen. Die „Unentschlossenheit Österreichs" könnte zu einer Verzögerung der zweiten Erweiterungswelle führen. 68 Auch könnte es einem oder mehreren dieser Kandidaten bis dahin gelingen, sich in der Gunst der alten und neuen Mitglieder besser zu positionieren als Rumänien. Einen großen wenn nicht gar den größten Unsicherheitsfaktor für die Chancen Rumäniens, der NATO im Zuge einer zweiten Erweiterungsrunde beitreten zu können, stellt Rußland dar. Rußland, so ein Kommentator der rumänischen militärischen Wochenzeitung Observatorul Militär , im Anschluß 62 Michael Evans : „US Limits NATO Expansion to Three in Opening Phase", in: The Times, 13. 6. 1997. 63 US-Verteidigungsminister William Cohen, zitiert von William Drozdiak: „Snag in NATO Expansion", in: International Herald Tribune, 3. 10. 1997. 64 Azi, 18. 12. 1997. 65 Walter Wille, 1997 (vgl. Anm. 58). 66 Ebenda. 67 Rolf Clement, 1997 (vgl. Anm. 60). 68 Gerfried Sperl : „NATO: Österreich als Kernland der zweiten Osterweiterung", in: Der Standard, 22. 12. 1997.

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an ein Treffen zwischen US-Präsident Clinton und dem russischen Präsidenten Jelzin in Helsinki, habe „die Osterweiterung der NATO stillschweigend für den Preis großzügiger wirtschaftlicher Vorteile und des Abschlusses eines bilateralen NATO-Rußland-Abkommens hingenommen. " Die Zustimmung Rußlands gelte aber nur für eine erste Erweiterungsrunde, während Moskau alle „weiteren Runden für inakzeptabel" halte.69 Aus der Sicht der Neuen Zürcher Zeitung „verstärkt sich der Eindruck, Clinton und Jelzin seien im März des vergangenen Jahres einfach übereingekommen, das Thema vorderhand auf 70

die lange Bank zu schieben." Im Juni 1997 bestätigte der russische Außenminister Jewgenij Primakow in einem Interview, daß eine entsprechende Initiative von Moskau ausgegangen war. Er habe der NATO, so Primakow, im Gespräch mit einem westlichen Vertreter ein „Moratorium in der Frage seiner Ausweitung" vorgeschlagen.71 Und Alexej Arbatow, Vizepräsident des Verteidigungskomitees der russischen Staatsduma ließ keinen Zweifel an der Haltung Rußlands in dieser Frage: „Wenn dies nicht auch die letzte Runde der Erweiterung sein wird, dann wird dies den Wert der NATO-Rußland-Charta aus unserer Sicht erheblich schmälern. Eines unserer Hauptziele besteht darin, daß wir, wenn wir diese Runde der NATO-Erweiterung nicht verhindern können, zumindest jede weitere darauffolgende Runde stoppen oder zumindest solange hinauszögern, bis sich unsere Beziehungen soweit verändert haben werden, daß sich niemand mehr vor der NATO furchten wird." 72 Amerikanische Experten bestätigten diese Einschätzung: „Gleichzeitig arbeitet Rußland darauf hin, daß die Türen zur NATO geschlossen bleiben. Wenn sich die NATO-Erweiterung schon nicht verhindern läßt, so würde Moskau wenigstens gerne sicherstellen, daß die ersten neuen Mitglieder zugleich auch die letzten sein werden. " 7 3 Dennoch zeigte man in der NATO sehr wohl die Bereitschaft, den von russischer Seit vorgetragenen Einwänden Rechnung zu tragen und „nach der ersten Erweiterungsrunde eine Pause des Nachdenkens" einzulegen.74 In der NATO gab es Stimmen, die dafür plädierten, ein „Signal der Begrenzung an Rußland dahingehend zu senden, daß die Aufnahme neuer Mitglieder über eine bestimmte Anzahl nicht hinausgeht".

69 Vasile Popa: „Incertul' al doilea val* (Die unsichere »zweite Runde4)", in: Observatorul Militär, Nr. 13, 2.-8. 4. 1997. 70 Neue Zürcher Zeitung, 17. 1. 1998. 71 Neue Zürcher Zeitung, 9. 6. 1997. 72 „Deputatii ru§i amenin^ä: ,Primul val' sä fie ultimul (Die russischen Deputierten drohen: Die ,erste Runde* soll die letzte sein)", in: Azi, 16. 6. 1997. 73 Ronald D. Asmus / F. Stephen Larrabee, 1996 (vgl. Anm. 52). 74 Staatssekretär im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer, zitiert nach: Adevärul, 20. 6. 1997.

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Amerikanische Experten plädierten dafür, Rußland eine „Atempause von bis zu zehn Jahren" zuzusichern. Um den Zielkonflikt „zwischen Offenheit und Begrenzung" zu umgehen, scheint die NATO nun eine Politik der faktischen, technischen Erweiterungspause zur Anwendung zu bringen. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, rechnet damit, daß „nach der Entscheidung der NATO im Juli ohnehin eine längere Frist verstreichen" werde, bevor mit nachfolgenden Erweiterungsrunden zu rechnen ist. Der Grund: sich hinziehende Beitrittsverhandlungen, Ratifizierungsverfahren, Anpassungs- und Fortentwicklungsschritte des Bündnisses, Debatten um neue Erweiterungsschritte. Das Fazit des Autors: „Folglich ist im Erweiterungsprozeß der NATO mit einer mehr oder minder langen Pause zu rechnen, auch ohne daß eine solche Unterbrechung von einer der beteiligten Seiten aktiv angestrebt wird." 75 Eine Pause von fünf bis zehn Jahren aber ist „in der Politik eine Ewigkeit", schreibt Professor Guillaume Parmentier. 76 Im Verlauf einer solchen Pause, das war den amerikanischen Befürwortern einer solchen Strategie klar, würde ein Prozeß der „Selbstdifferenzierung" in Gang gesetzt werden zwischen den als „strategisch wichtig" erachteten Anwärtern der ersten Erweiterungsrunde und den Staaten „auf dem Balkan oder im Baltikum", wo „die meisten NATO-Staaten keine vitalen Interessen" haben. 7 7 Die Tatsache, daß Rumänien und Slowenien auf der am 16. Dezember 1997 in Brüssel abgehaltenen Ministertagung des Nordatlantikrates aus dem Kontext künftiger beitrittswilliger Kandidaten nicht namentlich hervorgehoben wurden, obwohl deren namentliche Erwähnung zur Debatte stand, scheint diese skeptischen Einschätzungen zu bestätigen.78 Mit der Charakterisierung Rumäniens und Sloweniens als „südosteuropäische Staaten", wie sie in der Erklärung 79 des Gipfeltreffens von Madrid enthalten ist, wird - erstmals in einem politischen Dokument von solch herausragender Bedeutung - eine neue geopolitische Trennlinie zwischen „Mitteleuropa" und „Südosteuropa" festgeschrieben. Aufbauend auf den „alten Grenzen zwischen dem katholischen und dem orthodoxen Europa, zwischen dem 75 Karl-Heinz Kamp : „Die NATO nach Madrid. Perspektiven der Osterweiterung des Bündnisses", in: Internationale Politik, Nr. 5/1997, S. 38. 76 Guillaume Parmentier : „Élargir 1 Ό Τ Α Ν autrement", in: Le Monde, 22. 3. 1997. 77 Ronald D. Asmus / F. Stephen Larrabee, 1996 (vgl. Anm. 52). Siehe auch: Terry Swartzberg: „Next Up for NATO", in: International Herald Tribune, 28. 10. 1997. „The argument has been made that the Atlantic alliance should steer clear of making commitments to countries in the area [the Balkans], with ist political uncertainty and local,brush fires'". 78 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 4, 13. 1. 1998. 79 Internationale Politik Nr. 9/1997, S. 104.

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Osmanischen Reich und dem Habsburgerreich" 8 0 würden diese Unterscheidungen „in Brüssel oder Straßburg" als ideologisches Unterfutter umfunktioniert für „die neuen Teilungs- und Abgrenzungstendenzen innerhalb des osteuropäischen Raumes, indem die »westlichen' Länder Ungarn, Tschechoslowakei und Polen den »byzantinischen4 Staaten Rumänien und Bulgarien gegenüberstellen und den letzteren einen besonders langwierigen Zugang zu den europäischen Institutionen verordnen." 81 Nach Madrid: Neue Strategie für neue Risiken

In Rumänien hat man die möglichen politischen Konsequenzen dieser neuen, politisch relevanten Zuordnungen im Bereich der Staaten des ehemaligen Ostblocks zwar früh erkannt, wie die Studie der ehemaligen Beraterin im rumänischen Außenministerium und derzeitigen Botschafterin Rumäniens in Irland, Elena Zamfirescu, deutlich macht. Dennoch hat Rumänien nach Meinung seiner Experten „die politische Schlacht um Mitteleuropa" verloren: „Im Jahre 1997 ist Rumänien geographisch gesehen, zweifellos ein mitteleuropäischer Staat. Geopolitisch wird Rumänien Schritt für Schritt Teil jenes europäischen Südostens, wie er aus der Zwischenkriegszeit wohlbekannt ist." Aus dieser Zuordnung, so der Verfasser, resultierten die Versuche des Westens, Rumänien immer enger in diesen Prozeß einer neuen Regionalisierung einbinden. Von der Art und Weise, wie es der rumänischen Diplomatie gelingen werde, seine Rolle in der Region zu spielen, werde der Erfolg der Beitrittsstrategie des Landes zur NATO wesentlich bestimmt.83 Bei der Beurteilung der neuen Sicherheitslage Rumäniens geht die militärische Führung davon aus, daß die künftige Aufnahme Rumäniens in die NATO zwar möglich, aber keineswegs sicher ist. 84 Rumänien verbleibt damit vorerst 80

Werner Weidenfeld: „Europa sucht nach seiner neuen Ordnung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 11. 1996. Dieses Zitat ist dem Text einer Rede entnommen, die Werner Weidenfeld auf einer Konferenz in Berlin in Anwesenheit des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog mit dem Titel „Fazit Mitteleuropa" gehalten hat. 81 Viktor Meier: „Europas Osten sucht nach einer neuen Ordnung. Die Auflösung des Warschauer Pakts. War wird aus dem RGW?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 2. 1991. 82 Elena Zamfirescu: „'The Flight from the Balkans', in: RUSI Journal, Dezember 1994. 83 lone I Nicu Sava: „Romänia inträ în NATO odata eu Austria..." (Rumänien wird der NATO zusammen mit Österreich beitreten... )", in: Observatorul Militär, Nr. 38, 24.-30. 9. 1997. 84 C. Alexandru: „Lärgirea NATO. Retrospectivä §i perspectivä (Die NATO-Erweiterung. Rückbück und Ausbück)", in: Observatorul Miütar, Nr. 37, 17.23. 9. 1997.

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in der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen „sicherheitspolitischen neuen Grauzone".85 Eine hervorragende Analyse dieser Veränderungen liefert Iulian Fota, Assistent für besondere Aufgaben von Constantin Dudu Ionescu, Staatssekretärs für Verteidigungsfragen im rumänischen Verteidigungsministerium. Aus der Sicht Fotas sind in Ostmitteleuropa als Folge der Abkommen, die im Vorfeld des NATO-Gipfels und in Madrid geschlossen wurden, drei Kategorien von Staaten hervorgegangen: Staaten mit garantiertem internationalem Status (Polen, Tschechien, Ungarn, Rußland und die Ukraine), Staaten mit verbessertem internationalem Status (Rumänien und Slowenien) und Staaten mit unsicherem internationalem Status (die restlichen ostmitteleuropäischen Staaten einschließlich jenen aus der GUS). Rumänien und Slowenien erfreuen sich zwar privilegierter Beziehungen zum Westen, haben aber ein Sicherheitsdefizit gegenüber der erstgenannten Staatengruppe, das kompensiert werden muß. Dieses Defizit wird solange bestehen bleiben, als Rumänien sich außerhalb der NATO befindet. Während das Risiko einer direkten militärischen Aggression sehr niedrig eingeschätzt wird, sieht man eine erhebliche Gefahrdung durch nichtmilitärische Risiken. Fota unterscheidet zwischen aggressiven (Spionage, Terrorismus, organisiertes Verbrechen) und nichtagressiven nichtmilitärischen Sicherheitsrisiken (Naturkatastrophen etc.). Das Hauptziel der rumänischen Sicherheitspolitik muß darauf gerichtet sein, den Unterschied zu der ersten Staatengruppe zu verringern und effiziente Strategien zur Bekämpfung der nichtmilitärischen Bedrohungen umzusetzen. Dabei verweist er auf drei wesentliche Stoßrichtungen: Erhöhung der Rolle Rumäniens als europäischer Sicherheitslieferant durch Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen und durch regionale und subregionale Zusammenarbeit; Beherrschung der inneren Konfliktquellen, um interne Instabilität zu verhindern und die Handlungsfreiheit des Staates nicht einzuschränken; Erhöhung des Grades der Integration in die europäischen und weltweiten Wirtschafts· und Handelsstrukturen; Stärkung der Wirtschaftskapazität des Landes. 86 Um die Fortführung seiner Integrationsbestrebungen in die NATO nach der Entscheidung auf dem Madrider Gipfeltreffen zu gewährleisten, ist die militärische Führung in der Praxis entschlossen, den vom erweiterten NATO-Partnerschaftsprogramm gebotenen Rahmen so extensiv wie möglich zu nutzen. Rumänien, so Verteidigungsminister Victor Babiuc, solle noch vor einer möglichen zweiten Erweiterungsrunde de facto zu einem Mitglied der euroatlanti-

85

Verteidigungsminister Victor Babiuc auf der Jahrestagung der Nordatlantischen Versammlung, in: Obsevatorul Militär Nr. 41, 15.-21. 10. 1997. 86 Iulian Fota: „Probleme ale politicü de securittate a României în etapa post-Madrid (Probleme der Sicherheitspolitik Rumäniens in der Zeit nach Madrid)", in: Sfera Politicü, Nr. 50 (1997).

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sehen Staatengemeinschaft werden.87 Als konzeptioneller Grundpfeiler dieser Strategie dient der Entschluß, nach Madrid die gleichen militärischen Integrationsprozesse wie die drei Visegräd-Staaten zu durchlaufen. Rumänien, so Generalstabschef Constantin Degeratu, verhalte sich so, als ob es dieser Gruppe bereits angehöre.88 Rumänien will erfolgreiche Integrationsschritte Polens, Tschechiens und Ungarns nachahmen und deren eventuelle Fehler vermeiden.89 Die Anbindung an die neu nominierten Bewerber soll verstärkt werden: So wird beispielsweise die Aufstellung gemischter rumänisch-ungarischer Bataillone mit deutscher und französischer Hilfe vorangetrieben. 90 Zugleich werden die militärischen und politischen Beziehungen zur NATO sowie zu den einzelnen Mitgliedsstaaten ausgebaut. Am 26. November 1997 trat Rumänien als erster, in Madrid namentlich erwähnter Erweiterungskandidat in den individuellen Dialog mit der NATO ein. 91 Die Eröffnung einer ständigen Mission am Sitz des NATO-Hauptquartiers steht bevor. Ein erster, wichtiger Schritt bestand darin, Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Aufnahme Rumäniens, die im Zuge der Entscheidungsfindung über die Kandidaten der Osterweiterung entstanden sein könnten, zu entschärfen. Die Gefahr, zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern der EU zerrieben zu werden, wird als real eingeschätzt.92 Staatspräsident Emil Constantinescu war dieser Gefahr bereits im Anschluß auf die Gipfelkonferenz in Madrid entgegengetreten, als er betonte, Rumänien sei dort nicht „Gegenstand einer Auseinandersetzung, sondern eines Konsenses" gewesen.93 Constantinescus staatsmännische Formulierung konnte jedoch nicht über die Bemühungen seitens der NATO-Staaten, insbesondere der USA, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland, hinwegtäuschen, nach Madrid in Rumänien an Einfluß zu gewinnen. Obwohl die USA in der Schlußphase der bündnisinternen 87

Dilema, Nr. 240, 29. 8.-4. 9. 1997. Damit entspricht Rumänien den Erwartungen, welche die NATO an jene Beitrittskandidaten richtet, die in Madrid nicht nominiert wurden. So sagte NATO-Generalsekretär Xavier Solana auf der Tagung des Nordatlantikrates, der im Oktober 1997 in Bukarest stattfand, alle Kandidaten müßten die Kosten ihres NATO-Beitritts selber tragen. Dies, so Solana, gelte nicht nur für die drei in Madrid eingeladenen Kandidaten, sondern „für alle Beitrittskandidaten wie beispielsweise für Rumänien, das einen Beitritt sehr wünscht. Jeder Kandidat muß sich bereits jetzt so verhalten, als ob er bereits zum Beitritt eingeladen worden wäre." 88

89

Edwar Cody : „Snubbed, a Determined Romania Makes NATO Entry ,Our Main 27. 8. 1997. 90 Target'", in: International Herald Tribune, a Petre Botezatu : „Seminar franco-romano-germano-ungar (Französisch-rumänisch-deutsch-ungarisches Seminar)", in: Observatorul Militär, Nr. 35, 3.-9. 9. 1997. 91 „Prima rundä a dialogului individual România-NATO (Die erste Runde des individuellen Dialogs Rumänien-NATO)", in: Azi, 20. 11. 1997. 92 Senatspräsident Petre Roman in: Adevärul, 20. 6. 1997. 93 Bogdan Chirieac in: Adevärul, 11.7. 1997.

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285

Debatte die Hauptverfechter der kleinen Lösung der NATO-Osterweiterung ohne Rumänien und Slowenien waren, haben sie damit einen Weg gefunden, Rumänien enger an sich zu binden, ohne dafür, vorerst zumindest, den Preis in Form von Sicherheitsgarantien irgendwelcher Art zu zahlen. Ihr Maximalziel - die Aufnahme Rumäniens in die NATO auf dem Gipfeltreffen in Madrid - hat die rumänische Regierung nicht erreicht. Den relativen Mißerfolg konnten auch die groß angelegten diplomatischen Offensiven, welche die rumänische Regierung im Vorfeld des Madrider Gipfeltreffens eingeleitet hatte, nicht abwenden.94 Der Medienerfolg dieser Kampagnen ist zwar nicht zu bestreiten, er wurde aber durch programmatische Schwächen der außenpolitischen Strategie und innenpolitische Differenzen geschmälert. An der Entschlossenheit der neuen Führung, ihr Reform- und Demokratisierungsprogramm unabhängig von dem Erfolg der Beitrittsstrategie zu NATO (und EU) fortzusetzen, besteht kein Zweifel. Die Reformpolitik der Regierung genießt bei der Bevölkerung Umfragen zufolge immer noch große Unterstützung. Vieles wird jedoch davon abhängen, ob diese Regierung auch fähig ist, die innenpolitische Stabilität zu wahren, die erzielte makroökonomische Erholung fortzuführen und ihr Reformprogramm entschlossen und zügig in die Praxis umzusetzen.

94

Der Staatspräsident führte Gespräche am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos, hielt Ansprachen vor dem Europaparlament und am Sitz des NATO-Rates in Brüssel und konferierte mit dem französischen Präsidenten in Paris. Der neue Verteidigungsminister Victor Babiuc hielt sich zu Gesprächen mit hochrangigen NATOFunktionären in Brüssel auf, Senatspräsident Petre Roman warb in Spanien um Unterstützung für einen frühen NATO-Beitritt Rumäniens. Während der ersten Monate des Jahres 1997 statteten zahlreiche Politiker, allen voran der französische Staatspräsident Jacques Chirac, Rumänien einen Besuch ab. Es folgten Staatsbesuche des rumänischen Präsidenten in Polen, ihre ersten Auslandsbesuche führten Premierminister Victor Ciorbea und Außenminister Adrian Severin nach Ungarn.

Einige Aspekte der Sicherheitspolitik Polens in den neunziger Jahren Von Erhard Cziomer Das Ziel des Beitrages besteht darin, einige Aspekte der polnischen Sicherheitspolitik in den neunziger Jahren darzustellen. Der begrenzte Umfang des Beitrages erlaubt lediglich einige Fragen der allgemeinen Rahmenbedingungen, Ziele und Prioritäten der Sicherheitspolitik, sowie des polnischen NATO-Beitritts zu skizzieren. Sie waren bereits Gegenstand vieler polnischer1 und deutscher Untersuchungen2 und in einigen Quellensammlungen dokumentiert.3 Der Verfasser konnte sich auch auf eigene Forschungen zu diesem Thema stützen.4 1. Allgemeine Rahmenbedingungen

Die politische Wende 1989 in Polen, sowie die Überwindung des OstWest-Konflikts und die damit verbundene Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, die Auflösung des Warschauer Paktes und der Zerfall der Sowjetunion 1991, haben wesentlich zur Veränderung der geopolitischen Lage Polens beigetragen. Sie wurde unter anderem durch folgende Bestimmungsfaktoren gekennzeichnet:

1 Vgl. den neuen Sammelband: Bezpieczenstwo narodowe i miedzynarodowe u schylku X X wieku (Nationale und internationale Sicherheit am Ende des XX. Jahrhunderts), hrsg. von E. Halizak, D. B. Bobrow und R. Zieba, Warschau 1997. 2 Vgl. D. Bingen, Polens außen- und sicherheitspolitische Prioritäten. Der Westen, die NATO und Rußland, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 26, Köln 1994; A. Pradetto (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit, Opladen 1997, S. 101-129. 3 Polska-NATO. Wprowadzenie i wybôr dokumentôw (Polen-NATO. Einführung und Auswahl der Dokumente) 1990-1997, hrsg. von J. Stefanowicz, Warschau 1997. 4 Vgl. E. Cziomer, Opcje bezpieczenstwa zewnetrznego Polski w latach 90-tych (Optionen der äußeren Sicherheit Polens in den 90er Jahren), in: Mysl Obronna Polski Poludniowej, Krakau 1995, S. 7-20, Miedzynarodowe aspekty czlonkostwa Polski w NATO (Internationale Aspekte des NATO-Beitritts Polens), hrsg. von E. Cziomer, Krakau 1998, im Druck.

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- Vergrößerung der Zahl der Nachbarn, - Beseitigung akuter Kriegsgefahr, - Sicherheitsbedrohung durch außermilitärische Faktoren.5 Bis 1989 grenzte Polen im Ostblock unter der Hegemonie der Sowjetunion an drei Länder: Sowjetunion, CSRS und DDR. Nach den Veränderungen 1990 bis 1993 sind es sieben - Deutschland, Tschechische und Slovakische Republik, Ukraine, Weißrußland, Litauen und Russische Föderation an der Grenze bei Kaliningrad/Königsberg - geworden. Im Laufe der neunziger Jahre haben sich also im internationalen Umfeld Polens neue Staatsgebilde herauskristallisiert, welche unterschiedliche Potentiale, Entwicklungstendenzen und Sicherheitsinteressen haben. Polen, Tschechien gehörten zusammen mit Ungarn zu den führenden Reformländern Mitteleuropas. Gemeinsam mit der Slovakei, die allerdings nach 1993/94 den Reformprozeß vernachlässigte, bildeten sie neue Formen der regionalen Kooperation („Visegrader Dreieck", Freihandelszone / CEFTA) und haben als erste die Europaabkommen mit der Europäischen Union abgeschlossen.6 Viel schwieriger gestalteten sich die Transformationsprozesse bei den östlichen Nachbarn Polens. Besonders die vielen Spannungen und Krisen in den GUS-Ländern blieben nicht ohne Folgen für die Sicherheit Polens. Die neue geopolitische Lage Polens hat sich also nur im begrenzten Umfang positiv auf seine äußere Sicherheit ausgewirkt. Polen ist in eine Art von „grauer Zone" bzw. „Sicherheitsvakuum" zwischen dem stabilen Westen und dem Krisenherd im Osten gefallen. Die schlechten geschichtlichen Erfahrungen sowohl aus der Zwischenkriegszeit 1918-1939, als auch aus der Periode nach 1945, wo Polen unter der Herrschaft der Sowjetunion litt, haben dazu beigetragen, daß nach 1989 ein neues Sicherheitskonzept gesucht wurde. Diese Bemühungen müssen im engen Zusammenhang mit der neuen sicherheitspolitischen Rolle Deutschlands in Europa7 und dem Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen8 gesehen werden. Sie bildeten auch einen wichtigen Bestandteil der sich herauskristallisierenden neuen europäischen Sicherheitsarchitektur.

5

Bezpieczenstwo narodowe Polski: geopolityczne i geoekonomiczne uwarunkowania (Nationale Sicherheit Polens: geopolitische und geoökonomische Bedingungen), hrsg. von E. Halizak, Tora 1995. 6 Vgl. Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa. BMWI. Dokumente Nr. 420, Berlin 1997. 7 Ausführlich dazu: J. Hacker, Integration und Verantwortung. Deutschland als europäischer Sicherheitspartner, Bonn 1995. 8 Vgl. D. Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl, Bonn 1998.

Einige Aspekte der Sicherheitspolitik Polens in den neunziger Jahren

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In der Außen- und Sicherheitspolitik haben sich bis 1997 alle polnischen Regierungen prowestlich orientiert. Dies bezog sich sowohl auf die von der „Solidarnosc" (1989-1993) und nach 1997, als auch von Linksallianz und Bauernpartei (1993-1997) geführten Regierungen. Diese Orientierung wurde auch von der überwiegenden Mehrheit der polnischen Bevölkerung getragen. Die Sicherheitspolitik Polens kann allgemein in den Jahren 1989/90 bis 1997 in zwei Phasen eingeordnet werden: (1)von der politischen Wende 1989/90 bis Ende 1991, als der Warschauer Pakt aufgelöst wurde und die Sowjetunion zerfiel; (2) 1992 bis 1997, von der Ausarbeitung des neuen Sicherheitskonzeptes im Jahre 1992 bis zum Abschluß des Beitrittsprotokolls zwischen Polen und der NATO am 16. Dezember 1997 in Brüssel. In der ersten Phase mußte noch Rücksicht auf das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion genommen werden, obwohl bereits damals die ersten Kontakte mit der NATO entwickelt wurden. Man mußte auch berücksichtigen, daß die Gespräche über den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Polen erst in Gang gekommen waren. Er wurde nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 intensiviert und erst im Herbst 1993 abgeschlossen. Gleichzeitig dauerten seit Anfang 1992 die Arbeiten über das neue Sicherheitskonzept an, welche am 6. November 1992 mit der Verabschiedung von zwei Dokumenten durch die höchste sicherheitspolitische Instanz, das Landesverteidigungskomitee, vollendet wurde. Diese Dokumente hießen: - Die Grundlagen der Sicherheitspolitik Polens, - Die Verteidigungsstrategie der Republik Polen9. Der darin vorhandene Begriff der äußeren Sicherheit bezog sich nicht nur auf die militärischen Aspekte, sondern umfaßte auch wirtschaftliche, gesellschaftliche, ethnische und ökologische Fragen. Man hat auch auf alle damit verbundenen Risiken und Gefahren für die Sicherheit Polens hingewiesen und für die enge Zusammenarbeit mit dem westlichen Bündnis plädiert. In der zweiten Phase hat man aber nicht nur das neue Sicherheitskonzept formuliert, sondern auch versucht, es in die Praxis umzusetzen. Im Verteidigungsbereich ging es vor allem darum, die ersten Schritte in bezug auf die Umstrukturierung und Modernisierung in die Wege zu leiten. Die wichtigsten Maßnahmen betrafen unter anderem:

9 Raport ο stanie bezpieczenstwa panstwa-aspekty zewnetrzne (Bericht über den Stand der Sicherheit - äußere Aspekte), Warschau 1993, S. 40-55.

19 Festschrift Hackcr

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- Reduzierung der Streitkräfte von 420 000 auf 250 000, - Abkürzung des Militärdienstes von 36 auf 18 Monate, - Restrukturierung der Streitkräfte bzw. Verlegung der Verbände von Westen zur Mitte und Osten Polens bei Schaffung einer neuen Proporz (40:30:30 Prozent), - Herstellung eines neuen Militärbezirkes in Krakau, - Anstrengungen in Richtung der Kompatibilität und Interoperabilität mit den NATO-Standarden.10 Diese Maßnahmen haben die Aufnahme Polens in die Partnership for Peace (PfP) 1994 erleichtert und die Kooperation mit dem westlichen Bündnis intensiviert. In den Jahren 1996 bis 1997 ist endgültig im vollen Umfang die zivile Kontrolle über die Streitkräfte durchgesetzt worden. 2. Neue Ziele und Prioritäten in der Außen- und Sicherheitspolitik

Nach 1989 vollzog sich ein weitgehender Wandel der polnischen Außenund Sicherheitspolitik. Laut Krzysztof Skubiszewski, welcher bis 1993 Außenminister aller Regierungen war, kann man die langfristigen Ziele und Prioritäten in diesem Bereich folgendermaßen kurz zusammenfassen: (1) Die Festigung der europäischen Orientierung Polens durch seine allmähliche Einbeziehung in die westeuropäischen und nordatlantischen Integrationsstrukturen und in das Netz ihrer Wechselbeziehungen. (2) Die Mitgestaltung - hauptsächlich im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - einer neuen europäischen Ordnung, die sich auf Zusammenarbeit von Staaten und internationalen Institutionen gründet, insbesondere die Mitgestaltung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems. (3) Die Entwicklung guter Beziehungen zu den Nachbarstaaten, wobei wir jetzt, nachdem wir gute Beziehungen zu Deutschland erreicht haben, der Schaffung von dauerhaften Grundlagen für gut nachbarliche Beziehungen mit den Staaten im Osten besondere Aufmerksamkeit widmen: dort gibt es noch viel zu tun. (4) Die Festigung und Vertiefung neuer regionaler Verbindungen: vor allem der „Visegrader Gruppe" - Polen, Tschechoslowakei, Ungarn - die sich nach der Auflösung der Tschechoslowakei als Vierer-Kooperation weiter entfalten soll; ferner des Rates der Ostsee-Staaten, sowie der Mitteleuropäischen Initiative (bisher Hexagonale). 10

Ebenda, S. 83.

Einige Aspekte der Sicherheitspolitik Polens in den neunziger Jahren

291

(5) Die allseitige Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit mit den Staaten Westeuropas sowie mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada - also die euro-atlantische Dimension unserer bilateraler Beziehungen.11 Aus diesen Zielen der Außenpolitik mußte man auch Grundsätze für die polnische Sicherheitspolitik ableiten, welche in den „Grundlagen der Sicherheitspolitik" vom 2. November 1992 wie folgt formuliert wurden: (1) Verzicht auf territoriale Ansprüche gegenüber anderen Ländern, (2) das Streben nach politisch-militärischer Integration in die NATO, die EU und atlantische Strukturen, (3) der Aufbau der dauerhaften Sicherheit innerhalb gesamteuropäischer und atlantischer Strukturen, (4) die Notwendigkeit der Stationierung der USA-Truppen als Garantie der Stabilität und des Friedens auf dem Alten Kontinent, (5) die Bemühungen um einen ständigen Dialog über die Sicherheitsfragen mit allen Ländern, vor allem Nachbarländer, um die Atmosphäre der Verständigung und des Vertrauens zu schaffen. 12 Die angeführten Grundsätze der polnischen Sicherheitspolitik weisen daraufhin, daß die langfristigen Prioritäten - Sicherheitsgarantie durch die Vollmitgliedschaft in der NATO, der EU und der WEU - nur stufenweise zu erreichen sein werden. Deshalb hat man versucht, gleichzeitig die gesamteuropäische Zusammenarbeit in der KSZE und nach 1994 OSZE, sowie verschiedene Formen der regionalen Kooperation zu beleben. Auf der bilateralen Ebene wurden in den Jahren 1991 bis 1992 die meisten Verträge über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit bzw. Partnerschaft, darunter u. a. 1991 mit Deutschland und im Frühjahr 1992 mit Rußland, geschlossen. Nur mit Litauen wurde wegen der historischen Belastungen ein solcher Vertrag erst 1994 unterzeichnet. Wichtiges Element der Sicherheitspolitik wurde die Teilnahme Polens an multilateralen und bilateralen Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit wie z. B.: Rat für Nordatlantische Kooperation (NACC) 1991, PfP 1994, sowie als Beobachter in der Nordatlantischen Versammlung und in der WEU. Dazu kamen noch Vereinbarungen über die militärische Kooperation mit allen Nachbarn und wichtigen europäischen Staaten, darunter mit Deutschland Anfang 1993 und Rußland im Juli 1993.13

11 K. Skubiszewski, Polens Stellung in einem künftigen Europa, in: E. Oberländer (Hrsg.), Polen nach dem Kommunismus, Stuttgart 1993. 12 Bericht über den Stand der Sicherheit (Anm. 9), S. 55-58. 19'

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Viele polnische Politiker haben sehr kritisch auf die westliche, darunter vor allem amerikanische Zurückhaltung in bezug auf den Wunsch Polens schnell in die euro-atlantischen Strukturen integriert zu werden, reagiert. Anfang 1993 hat der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa sogar ein Konzept „NATO-Bis" vorgestellt. Danach sollten sich einige mittel- und osteuropäische Staaten zusammenschließen, um später die Vollmitgliedschaft und Sicherheitsgarantie von der NATO zu erhalten. Dieser Vorschlag wurde aber nie konkretisiert und fand sogar in Polen keine Unterstützung. Deshalb hat man auch bald von ihm Abstand genommen. Es gab auch keinen ernsthaften Politiker, welcher die Neutralität Polens erwogen hätte.14 Zusammenfassend kann man annehmen, daß bereits 1993/94 die NATOVollmitgliedschaft Polens zu den wichtigsten sicherheitspolitischen Prioritäten zählte. 3. Die Frage der polnischen NATO-Mitgliedschaft

Mitte der neunziger Jahre ist die Frage der NATO-Mitgliedschaft in den Vordergrund der polnischen Sicherheitspolitik gerückt worden. Diese Tendenz wurde durch die Vorbereitung der Studie des Bündnisses über NATOOsterweiterung im Herbst 1995 noch verstärkt. Die Politiker des Regierungslagers und der Opposition haben folgende Argumente zur Unterstützung der polnischen Vollmitgliedschaft in der NATO formuliert: - Polen ist ein stabiler demokratischer Staat mit der Marktwirtschaft, welcher alle Kriterien für die NATO-Mitgliedschaft gemäß des Artikels X des Washingtoner Abkommens vom 4. April 1949 und der „Studie über die Erweiterung" von 1995 erfüllt. - Die geographische Lage und das Potential Polens hat eine Schlüsselrolle für die Stabilität und Sicherheit Europas. - Polen hat keine ethnischen oder territorialen Konflikte mit den Nachbarn. Als erstes Land in Mitteleuropa hat es mit ihnen vertraglich die gegenseitigen Beziehungen reguliert.

13

Vgl. Ε . Cziomer, Die Koordinierung der Sicherheitspolitik Deutschlands, Polens und Rußlands, in: Deutschland-Polen-Rußland. Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit der Völker, hrsg. von M. Dobroczynski, Warschau 1996, S. 101-112. 14 Vgl. 5. Parzymies, The European Union and Central Europe. Prospects of Security Cooperation, in: The Polish Quarterly of international Affairs, Vol. 2, No. 3, Summer 1993, S. 92-100.

Einige Aspekte der Sicherheitspolitik Polens in den neunziger Jahren

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- Polen bemüht sich, die besten Beziehungen zu einen östlichen Nachbarn zu unterhalten. Mit der Ukraine und Litauen unterhält es eine enge Zusammenarbeit, darunter auch auf militärischer Ebene, z.B. in Form gemeinsamer Bataillone für Friedensoperationen. Mit Rußland werden gutnachbarliche Beziehungen gepflegt, und mit Weißrußland ist ein mühsamer Dialog eingeleitet worden. - Polen wird in das Bündnis gute Kenntnisse über die Region Mittel- und Osteuropa einbringen. Ein sicheres und in die westlichen Sicherheitsstrukturen verankertes Polen wird sich aktiv als Befürworter der demokratischen Werte und Standards und der konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Osten einsetzen. - Die NATO-Mitgliedschaft wird die Beziehungen mit Rußland weiter verbessern. Polen wird durch Moskau nicht als Gegenstand behandelt werden können. - Die ΝΑΤΟ-Mitgliedschaft Polens wird das Potential des Bündnisses vergrößern, und zwar sowohl im Verteidigungsbereich, als auch in bezug auf die Durchführung der Friedensmissionen. Polen hat langjährige und gute Erfahrungen der Beteiligung an den Friedensmissionen in der ganzen Welt. 15 Diese Argumente wurden in den Jahren 1996 bis 1997 während der Auseinandersetzung mit den russischen Politikern und Experten noch zusätzlich bekräftigt. Besonders wurde die in Rußland und teilweise auch im Westen verbreitete Behauptung in Frage gestellt, daß die NATO-Osterweiterung zur Instabilität und Stärkung der nationalistischen Kräften in Rußland fuhren wird. 16 Im Prinzip ist man davon ausgegangen, daß Rußland sich früher oder später mit der NATO-Osterweiterung abfinden wird. Insofern war die Unterzeichnung der grundlegenden Akte NATO-Rußland am 27. Mai 1997 keine Überraschung. Rußland wird nicht isoliert oder marginalisiert, muß aber einen eigenen Beitrag für die Schaffung einer neuen kooperativen Sicherheitsarchitektur in Europa leisten. Seit 1995 hat Polen im militärischen Bereich viele Aktivitäten unternommen, um das strategische Ziel der NATO-Vollmitgliedschaft zu erreichen. Dazu gehörten unter anderem die Beteiligung am Programm PfP sowie die Entsendung des 18. Luftlandebataillons und der 6. Luftlandebrigade nach Bosnien, wo sie an Friedensmission im Rahmen der IFOR, und später SFOR-Streitkräfte, teilnahmen. Polen war auch aktiv am Planning und Review

15

Siehe Polen- NATO (Anm. 3), S. 40-68. Siehe: E. Cziomer, Implikacje stanowiska Rosji wobec poszerzenia NATO na Wschod (Implikationen der Einstellung Rußlands zur NATO-Osterweiterung), hrsg. von MCRD-Stiftung für die Entwicklung der Internationalen Demokratie, Krakau 1996, S. 143-150. 16

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Process (PARP) der NATO beteiligt, um durch die PfP sich stufenweise den Anforderungen der Interoperabilität der NATO anzunähern. Das Programm umfaßte folgende Bereiche: - Kommandoführung, Leitung und Verbindung bei Search and Resue (SAR), - Ausbildung medizinischer Teams für die Aufgaben bei Such- und Rettungsaktionen, - einheitliche Standards bei Treibstoffen für Landesstreitkräfte, einschließlich deren Lieferung, - Auffüllung der Reserven in den Häfen und auf der See, Luftraumkontrolle, Flugsicherung, Funkverkehr, - Fremdsprachenkenntnisse der Stabsoffiziere, - Aufstellung von Verbindungsgruppen und Anwendung der Kommunikationsterminologie der NATO, - Bereitschaft der Einheiten, die Aufgaben wahrzunehmen, die für die Operationen im Rahmen von PfP gestellt wurden, - Kennzeichnung und Registrierung von Gefahrenzonen, - Anforderungen, die an Blut und Blutspenden gestellt werden, - Symbolik bei Landkarten, - Anwendung der universalen Koordinatennetze UTM und des militärischen Koordinationssystems MGRS, - Freund-Feind-Erkennungssysteme und Logistikunterstützung.17 Diese und viele andere Maßnahmen haben bis jetzt gute Ergebnisse gebracht. Viel Arbeit muß aber noch geleistet werden, um den NATO-Standarden langfristig nachzukommen. Nach verschiedenen Informationen haben bis 1997 ca. 2.500 polnische Offiziere solche Sprachkenntnisse in Englisch erworben, welche in der Zukunft bei der engen Zusammenarbeit mit den NATO-Stellen erforderlich werden. Davon sprechen allerdings nur ca. 500 fließend Englisch. Es ist viel zu wenig und deshalb müssen die Sprachkurse, darunter auch in Deutsch, noch intensiviert werden. Es geht vor allem darum, die jüngere Generation der Offiziere direkt im Ausland, darunter in den USA und Deutschland, je nach Bedarf und Möglichkeiten auszubilden. Im engen Zusammenhang mit den oben genannten Aufgaben standen auch die Pläne für die Restrukturierung und Modernisierung der polnischen Streit17

Vgl. ausführlich M. Kowalewski, Von der Kooperation zur Integration, in: J. Schwarz / J. W. Tkaczynski / U. Vogel (Hrsg.), Polen und die neue NATO. Modalitäten der Integration, Frankfurt am Main 1997, S. 96 ff.

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kräfte, um der langfristigen Interoperabilität und Kompatibilität mit der NATO gerecht zu werden. Im Jahre 1997 wurden vom Parlament zwei wichtige Gesetze verabschiedet: - Organisation und Finanzierung der Streitkräfte 1998-2002, - Modernisierung und Restrukturierung der polnischen Armee bis 2012 und der gesamten Streitkräfte bis 2022. Die beiden Gesetze bilden die Grundlage für die langfristige Finanzierung der Integration Polens mit der NATO, welche nach dem Regierungsprogramm in drei Phasen erfolgen soll: (1) Einleitende Phase 1994-1998, (2) Grundlegende Integration 1999-2004, (3) Endgültige Integration 2005-2012.18 Die Kosten der ersten Phase sind vor allem mit der Beteiligung Polens am PfP verbunden. Mit den höchsten Kosten rechnet man in der zweiten Phase, was vor allem mit der Finanzierung der kostspieligen Programme der Interoperabilität verbunden wird. Insgesamt werden die direkten NATO-Beitrittskosten Polens bis 2012 auf ca. 11,4 Milliarden Zloty geschätzt. Als Beitrittskosten werden nicht die langfristigen Programme, welche mit der Veränderung des nationalen Verteidigungssystems, Modernisierung der Streitkräfte sowie Umstrukturierung der Rüstungsindustrie verbunden sind, angegeben. Nach offiziellen Schätzungen werden sie bis 2012 zusätzlich ca. 30 Milliarden Zloty kosten. Die polnischen Beitrittskosten werden überwiegend vom Haushalt des Verteidigungsministeriums (Ministers two Obrony Narodowej-MON) finanziert. Sein Anteil am Staatshaushalt wird in den nächsten Jahren ca. 2,32 Prozent bis 2,01 Prozent betragen. Es werden auch viele Sparmaßnahmen, darunter die weitere Reduzierung der Streitkräfte bis 2002 auf 198.000, Schließung der Offiziersschulen usw. vorgesehen. Eine gewisse Unterstützung wird Polen auch von der NATO und einigen Bündnispartnern erhalten. Von den USA erhielt Polen im Rahmen PfP ca. 25 Millionen US-Dollar, sowie zusätzlich jährlich ca. 1,5 Millionen US-Doller bis 1996 für die Sprachkurse Englisch, und danach bis 1999 nur eine Million US-Dollar jährlich. Die meisten Kosten wird es aber allein tragen müssen.19 Die Frage der Finanzierung der NATO-Osterweiterung wurde in den Jahren 1996 bis 1997 im Westen, darunter vor allem in den USA, sehr kontro18

E. Firlej, Na drodze do NATO-podstawy finansowe integracji (Auf dem Wege zur NATO. Grundlagen der finanziellen Integration), Warschau 1997. 19 Vgl. Ε . Cziomer, Polen und die NATO-Beitrittskosten, in: Vergleich der NATO-Beitrittskosten. Studien zur Internationalen Politik der Universität der Bundeswehr. Heft 2, hrsg. von A. Pradetto, Hamburg 1998, im Druck, S. 5-8.

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vers diskutiert. Vor allem die Gegner der NATO-Osterweiterung haben dort die Kostenfrage in den Vordergrund gestellt, um die Öffnung des Bündnisses in Richtung Mitteleuropa, darunter auch Polen, zu blockieren. Nach den amerikanischen Schätzungen sollte die Osterweiterung der NATO je nach Option zwischen 25 und 60 Milliarden US-Dollar kosten.20 Dagegen haben Experten und Wissenschaftler aus Polen argumentiert, welche im Auftrag der Euroatlantischen Gesellschaft zu Warschau Anfang 1997 eine eigene Studie zu diesem Thema veröffentlichten. 21 Sie sahen keine Alternative zur NATO-Mitgliedschaft Polens und haben in bezug auf die Kostenfrage folgende Argumente in die Diskussion gebracht: (1)Man muß die Kosten der notwendigen Modernisierung der polnischen Streitkräfte nach der Überwindung des Kalten Krieges und die direkten NATO-Beitrittskosten getrennt rechnen. (2) Die Erweiterungskosten werden überwiegend vom Niveau der Kompatibilität und Interoperabilität abhängig sein. (3) Man muß klare Vorstellung über die Verwendung der Streitkräfte der Beitrittskandidaten haben, um dann die Kostenfrage ernsthaft zu stellen können. (4) Vor der objektiven Kostenrechnung muß das westliche Bündnis volle Klarheit über eigene Reformvorstellungen der NATO haben. (5) Die Kostenfrage wird also erst dann aktuell, falls die Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder zustande kommt. Im Endergebnis schätzte man die direkten polnischen NATO-Beitrittskosten auf 1,5 Milliarden US-Dollar und mit Bewaffnung, Modernisierung und Restrukturierung auf 7,8 Milliarden US-Doller. Im großen und ganzen entsprachen diese Schätzungen den offiziellen Regierungsangaben. Am 8. Juli 1997 wurde Polen zusammen mit der Tschechischen Republik und Ungarn vom NATO-Gipfel in Madrid zu den Beitrittsverhandlungen eingeladen.22 Die Beitrittsverhandlungen erfolgten in vier Runden vom September bis November 1997 und konzentrierten sich auf drei Sachprobleme:

20

Vgl. dazu ausführlich: R. K. Huber / G. Friedrich, Kostenneutrale Erweiterung der2 NATO nach Osten, in: Polen und die neue NATO ..., S. 153-168. 1 Vgl. E. Firlej / J. Kostecki, M. Kowalewski / M. Kozlowski / W. Waszczykowski / O. Wieczorek, Estimated Cost of NATO Enlargement: A Contribution to the Debate, Warschau 1997. 22 Von Moltke, Accession of new members to the Alliance: What are the next steps? In: NATO-Review Nr. 4/1997, S. 4-9.

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a) Verpflichtungen Polens, welche sich aus dem Gründungsvertrag des Bündnisses vom 4. April 1949 und anderen Bestimmungen ergeben werden, b) künftige Verteidigungsaufgaben im Bündnis, c) finanzielle Fragen.23 Die Beitrittsverhandlungen NATO-Polens sind am 16. Dezember 1997 mit der Unterzeichnung des Beitrittsprotokolls erfolgreich abgeschlossen worden. Darin wurden die Gesamtkosten des polnischen NATO-Beitritts in den kommenden 10 Jahren auf 700 Millionen US-Dollar festgelegt, wobei die jährlichen Beiträge ca. 44 Millionen US-Dollar betragen werden.24 Im Jahre 1998 wird man in Polen mit großem Interesse den Ratifizierungsprozeß des Beitrittsprotokolls in den Parlamenten der sechzehn NATO-Länder verfolgen. Nach den Vorstellungen der Regierungen des Bündnisses soll die Ratifizierung spätestens bis Anfang 1999 abgeschlossen werden, um Polen, Tschechien und Ungarn den NATO-Beitritt am 4. April 1999 zu ermöglichen. Man kann davon ausgehen, daß die Parlamente die Beitrittsprotokolle aller NATO-Bewerber, darunter auch Polens, ohne große Widerstände ratifizieren werden. Einige Schwierigkeiten können sich vor allem im amerikanischen Senat ergeben, wo für die Ratifizierung 2/3-Mehrheit erforderlich ist. 25 In manchen Parlamenten muß man auf komplizierte und langfristige Rechtsverfahren vorbereitet sein. Verschiedene innere Auseinandersetzungen in der Türkei, als auch zwischen ihr und der EU können auch für einige Überraschungen sorgen. Allgemein kann aber angenommen werden, daß auch diese Phase der NATO-Osterweiterung positiv abgeschlossen wird. 26 Polen wird als NATOMitglied einen wichtigen Bestandteil der europäischen Sicherheitsarchitektur bilden. Nach vielen polnischen Umfragen unterstützten ca. 80 bis 90 Prozent aller Befragten in den neunziger Jahren den polnischen NATO-Beitritt. Im Dezember 1997 stellte man zusätzlich den Respondenten die Frage, ob man bereit wäre, die mit dem NATO-Beitritt verbundenen Kosten und Verteidigungsausgaben zu akzeptieren? Es gab folgende Antworten: 37 Prozent wahrscheinlich Ja, 7 Prozent mit Sicherheit Ja, 30 Prozent schwer zu sagen, 20 Prozent wahr23 A. Towpik, W drodze do NATO. Rozmowy akcesyjne Polska-NATO (Auf dem Wege in die NATO. AkzessionsVerhandlungen Polen-NATO), in: Raport Nr. 12, Warschau 1997, S. 38-40. 24 „Gazeta Wyborcza" vom 24. Dezember 1997. 25 Vgl. J. R. Biden Jr., Die Ratifizierung der NATO-Erweiterung durch den amerikanischen Senat, KAS/Auslandsinformation, Nr. 12, Sankt Augustin 1997, S. 4-13. 26 Dazu ausführlich E. Cziomer, Der Ratifizierungsprozeß, in: Internationale Aspekte des NATO-Beitritts Polens ...., S. 45-67.

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scheinlich nicht. Aus derselben Umfrage ging hervor, daß 84 Prozent der Befragten positiv die Pläne der Modernisierung der polnischen Streitkräfte (Ausrüstung und Bewaffnung) und 74 Prozent die Verbesserung ihrer Organisation und Struktur, bewerten.27 Insgesamt läßt sich also sagen, daß die polnische Bevölkerung in großer Mehrheit die NATO-Mitgliedschaft im vollen Umfang unterstützt, wobei die Kostenfrage differenzierter bewertet wird. Trotzdem ist die Befürwortung des NATO-Beitritts viel größer als in den anderen Beitrittsländern Mitteleuropas. 4. Schlußfolgerungen

Aus der Analyse der polnischen Sicherheitspolitik in den neunziger Jahren ergeben sich folgende kurze Schlußbemerkungen: (1) Die allgemeine geopolitische und strategische Lage Polens hat sich nach 1989 positiv gewandelt. Es besteht für Polen keine akute Kriegsgefahr, aber es gibt mehrere außermilitärische Risiken und Instabilitätsfaktoren (Waffenschmuggel, organisiertes Verbrechen, Migrationen usw.), welche nur im Rahmen einer neuen kooperativen Sicherheitsarchitektur Europas im 21. Jahrhundert zu überwinden sind. (2) Polen hat in den neunziger Jahren erfolgreich den Transformationsprozeß eingeleitet und gute Beziehungen mit allen Nachbarn als Grundlage seiner Außen- und Sicherheitspolitik gemacht. Die Integration in die westeuropäischen und nordatlantischen Sicherheitsstrukturen blieb sein langfristiges Ziel in der Sicherheitspolitik. (3) Mitte der neunziger Jahre ist die NATO-Vollmitgliedschaft die höchste sicherheitspolitische Priorität Polens geworden. Durch stufenweise Annäherung an das westliche Bündnis gehörte Polen zu den ersten drei Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa im Sommer 1997. Während der Beitrittsverhandlungen mit der NATO vom September bis November 1997 ist der hohe Stellenwert Polens für das westliche Bündnis zum Ausdruck gekommen und wurde in dem Beitrittsprotokoll vom 16. Dezember 1997 bestätigt. (4) Die ganze politische Elite und die überwiegende Mehrheit der polnischen Bevölkerung unterstützen den NATO-Beitritt Polens. Man ist auch bereit, alle damit verbundenen Kosten zu tragen, denn die NATO-Mitgliedschaft wird zugleich als bessere Sicherheitsgarantie und Festigung eigener Identität verstanden. Diese Einstellung ist sowohl auf die geschichtliche Erfahrung, als auch auf die Unterwerfung Polens unter die Herrschaft der Sowjetunion 1944/45 bis 1989, zurückzuführen. 27

Nach „Przeglad Tygodniowy" vom 31. Dezember 1997.

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(5) Polen erhofft sich die NATO-Vollmitgliedschaft nach dem Ratifizierungsprozeß in den 16 Parlamenten der NATO-Länder bis April 1999 zu erreichen. Durch verschiedene Anpassungsmaßnahmen im Verteidigungsbereich in bezug auf die Interoperabilität und Kompatibilität will es auch voll in die militärischen Strukturen des westlichen Bündnisses integriert werden. Voraussichtlich wird es nach den bisherigen Vorstellungen bis 2012 erfolgen.

Tschechen und Deutsche in Mitteleuropa Von Milan Hauner

I . Einleitung: Eine gescheiterte Nachbarschaft

Die einzigartige Besonderheit der tschechisch-deutschen Beziehungen, bei aller Gegensätzlichkeit und Wechselhaftigkeit, kommt ausdrücklich in den staatsrechtlichen Beziehungen zwischen den tschechischen (böhmischen) Ländern und ihren deutschen Nachbarn zu Tage. Sie zeigt sich in der Tatsache, daß bis heute die terminologischen Schwierigkeiten zwischen ,Kulturnation4 und ,Staatsnation4 nicht gelöst worden sind. Was für ein Unterschied besteht eigentlich zwischen den ,Böhmen4 und »Tschechen4? Im Böhmen allein wohnten wenigstens wiet dem frühen Mittelalter Tschechen und Deutsche nebeneinander, aber oft auch durcheinander, umgekreist von mehreren deutschsprachigen Nachbarn, wie Sachsen, Bayern und Österreichern. Zu den historischen Ländern der böhmischen Krone gehörten Schlesien und Lausitz. Dazu kommt noch, daß die tschechische Sprache keinen Ausdruck für »Böhmen4 oder ,Böhmisch4 besitzt. Daraus folgen regelmäßige Verwirrungen, wenn man einen Sammelbegriff für Böhmens Tschechen und Deutsche sucht (nach dem Muster: Jeder Tscheche ist ein Böhme - aber nicht jeder Böhme muß ein Tscheche sein). Die Einfügung Böhmens in den deutschen Herrschaftsbereich erfolgte in verschiedenen Formen während der über tausendjährigen engen Nachbarschaft: Tributär der Frankenkaiser, dann privilegiertes Mitglied im Lehensverband des Deutschen Reiches als das einzige Kurfürstentum mit dem Königstitel, später wichtigstes Erbland der regierenden Kaiserdynastie der Habsburger. Nach der Auflösung des Reichs 1806 wurde Böhmen mit Mähren in den Jahren 1815 bis 1866 Bestandteil des Deutschen Bundes. Nachdem Bismarcks „zweites44 Deutsche Reich 1871 als ein Nationalstaat der Deutschen enstanden war, fand sich Böhmen wie in einer Zwickmühle zwischen Berlin und Wien, zwischen ,Österreichertum 4, ,Großdeutschtum4, ,Panslawismus4 und ,Tschechentum4 (öeSstvi) und weiter expandierend zum theoretischen ,Tschecho-Slawisch4 (deskoslovansky) und praktischen Begriff »Tschechoslowakisch4.1

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Milan Hauner

Dann folgten zwischen 1918 und 1938 zwanzig Jahre einer selbstständigen Existenz für die Tschechen innerhalb eines neuen Staatsgebildes, der Tschechoslowakischen Republik, die unter äußerlicher Beachtung demokratischer Spielregeln eigentlich nur ein Sprachvolk, die Tschechen, an der Macht zuließen. Unter der fiktiven Bezeichnung „tschechoslowakischen" wurden eigentlich zwei Völker, Tschechen und Slowaken, künstlich vereint, mit den geographisch und historisch fremden Ruthenen im östlichen Zipfel des Staates dazwischen, während allen anderen Völker, Deutsche, Ungarn, Polen, als Minoritäten nicht zum Staatsvolk gehörten. Vom deutschen Standpunkt aus war die Situation unlösbar, solange sie nicht ihr Deutschtum aufgeben und sich in eine andere Ethnie verschmelzen lassen wollten. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse scheint mir eine Änderung der tschechoslowakischen Staatskonzpetion eines übergeordneten Sprachvolkes = Staatsvolk zu sein, damit sich auch die anderen historischen Bewohner des Staates, nämlich die Deutschen die keine »Kolonisten4 oder »Immigranten4 waren2, sich mit dem neuen Staat identifizieren konnten. Das tragische Jahrzehnt 1938 - 1948 waren sicher die dramatischsten Jahre in der Geschichte der tschechisch-deutschen Beziehungen. Nach der Auflösung der Tschechoslowakei sind die Tschechen im Protektorat Böhmen und Mähren ein Bestandteil Hitlers „Dritten Reiches" geworden. Für die sechs Jahre blutiger Okkupation, Ausbeutung und Erniedrigung rächten sich die Tschechen mit der Vertreibung , ihrer* Deutschen in einer besonders brutalen Weise. Ein tragisches Zusammenleben; so endete nach tausend Jahren in einer Katastrophe eine der engsten Verbindungen, die Rudolf Hilf, als „eine in unserem Jahrhundert total, exemplarisch, gescheiterte Nachbarschaft", terisierte. 3 Hilf stellte auch die Frage nach einer Wiederherstellung „einer guten Nachbarschaft im Sinne der Stiftung von Frieden", denn die gemeinsamen Verbindungen zwischen den beiden Völkern bleiben ja aktuell. „Mit keinem anderen slawischen Volk," ergänzt Hilf, „ist das deutsche eine derart enge Symbiose eingegangen wie mit dem tschechischen." Es handelt sich um dreißig Generationen intensiven Austauschst 1

Eine ausgezeichnete Analyse bei Jili Kofalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa Instituts, hrsg. von Arnold Suppan, Bd. 28), Wien/München, 1991. Für eine Übersicht siehe Ivan Pfaff, „Tschechoslowakei - Ein kleines Volk zwischen großen Mächten", in: Europa und die Einheit Deutschlands, hrsg. von Walther Hofer, Köln, 1970, S. 201-245. 2 Anspielung auf die schicksalhafte „Entgleisung" in T. G. Masaryks erster Botschaft vom 22. Dezember 1918 - ausgesprochen ausgerechnet von einem tschechischen Patrioten, der selbst deutsch-böhmischer Anbstammung gewesen war. 3 R. Hilf, Deutsche und Tschechen. Bedeutung und Wandlungen einer Nachbarschaft in Mitteleuropa, Opladen, 1973, S. 7.

charak-

Tschechen und Deutsche in Mitteleuropa

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Π . Die Vielschichtigkeit des tschechisch-deutschen Nebeneinander

Um diese wechselseitige Symbiose richtig wahrzunehmen, müssen wir dieses einzigartige mitteleuropäische Phänomen auf drei Ebenen betrachten, die sich vermischen und ergänzen. Erstens, die Deutschen sind insgesamt, über tausend Jahre bis heute der größte äußere Nachbar der Tschechen gewesen: mit der längsten von allen zusammenhängenden Grenzen, die auch jeweils die längste Grenze beider Nachbarn war, anderthalbtausend Kilometer lang (bis 1938). Mit einer kleinen Ausnahme (Hultschiner Ländchen in Schlesien) ist auch die ursprüngliche böhmisch-deutsche und böhmisch-österreichische Grenze nach dem Ersten Weltkrieg unverändert geblieben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie nicht geändert. Insbesonders im Kontext des Kalten Krieges wurde diese geographische Seltenheit noch dadurch hervorgehoben, daß die Tschechoslowakei auch als einziges europäisches Land an beide deutschen Staaten angrenzte, und, wenn man Österreich dazurechnet, dann waren es sogar drei. Zweitens waren die Deutschböhmen bis zu ihrer Vertreibung 1947 mehr als 700 Jahre lang die bedeutendsten inneren Nachbarn der Tschechen unter den gleichen Herrscher und innerhalb eines gemeinsamen Staates. Die dritte Dimension ist noch älter; historisch geht sie auf Karl den Großen, eigentlich noch weiter auf das Imperium Romanum zurück. Wenn man es mit einem Satz beschreiben will, beruht sie auf der „universalen Verknüpfung", früher auch unter dem diskreditierten Termin „Reichsverbindung" bekannt. Auf sie werden wir noch näher eingehen. Kein anderer unmittelbarer Nachbar Deutschlands besitzt alle diese drei Dimensionen so eng miteinander verbunden wie eben die Tschechen. Nach der intensiven deutschen Kolonisierung seit dem 13. Jahrhundert ist der Anteil der Deutschen bis zu einem Drittel der gesamten Bevölkerung angestiegen. Interessant dabei ist, daß die Deutschböhmen, nach der Gründung der Republik ungenau ,Sudetendeutsche* genannt, im Laufe der Jahrhunderte keine spezifische politisch-kuturelle Gruppe geworden sind. Sie betrachteten sich als Bestandteil der »universalen4 deutschen Nation und haben sich mit den slawischen Altangesessenen auch nie verschmolzen (»Germano-Bohemicus4 nannte sich gelegentlich schon im 16. Jahrhundert ein Student in der Wittenberger Universitätsmatrikel). 5 Obwohl Böhmen mit der Entstehung der deutschen

4 5

Ebenda, S. 9 f.

Ferdinand Seibt: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München, 1974, S. 12.

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Schriftsprache eng verbunden war (Johannes von Saatz: „Ackermann aus Böhmen" und das „Kanzleideutsch" am Kaiserhof in Prag) haben die Deutschböhmen niemals eine einheitliche Mundart in Böhmen entwickelt. Der Begriff „Deutschböhme" erreichte in den ersten Nachkriegswochen des Jahres 1918 ein besonderes politisches Gewicht, als sich unter den vier neuentstandenen deutschen Grenzprovinzen innerhalb des böhmischen Kronlandes, eine als „Deutschböhmen" und die andere als „Sudetenland" bezeichneten und Mitgliedschaft in „Deutschösterreich" beantragten. Die siegreichen Ententemächte erkannten aber das Selbstbestimmungsrecht der Deutschböhmen nicht an. Als sich die vier Regionen als Teile der benachbarten deutschsprachigen Staaten, d.h. der neuen Republiken Österreich und Deutsches Reich, deklarierten, wurden sie aufgelöst. Die zahlreichen Protestkundgebungen gegen den tschechoslowakischen Staat gipfelten schließlich am 4. März 1919 in einem Blutbad mit vierundfünfzig Todesopfern. 6 So begann also diese neue entscheidene Etappe im tausendjährigen tschechisch-deutschen Verhältnis mit Gewaltakten und war mit Blut und Tränen erfüllt. Jede Seite bewegte sich in Extremen: die Tschechen jubelten, die Deutschen schrien vor Empörung. Erst 1926 wechselte diese Feindschaft in ein vorsichtiges Miteinander, immerhin getragen von drei „aktivistischen" politischen Parteien, der deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei, dem Bund der Landwirte, und den deutschen Sozialdemokraten, die zusammen über 80 % der jeweils abgegebenen deutschen Stimmen verfügten. Die dominante Verbindung mit Berlin (statt Wien, wie in den letzten vierhundert Jahren) wurde schon durch die Befürwortung der aktivistischen Haltung der Sudetendeutschen durch den reichsdeutschen Außenminister Stresemann betont. Damit ist aber nicht gesagt, daß die sudetendeutsche Politik in Berlin gemacht wurde.7 Diese ein wenig zu optimistische Vorstellung von einem harmonischen deutsch-tschechischen Zusammenleben in der neuen Republik unterlag bald dem doppelten Schock der Weltwirtschaftskrise, die besonders die sudetendeutsche Leichtindustrie mit einer außerordentlich hohen Zahl von Arbeitslosen betroffen hat, und der daraus folgenden inneren Zersetzung des Staates durch den Aufschwung der neuen Massenbewegung genannt „Sudetendeutsche Heimatfront". Gegründet im Herbst 1933 von Konrad Henlein, löste die SDH sofort die zwei vom Staat verbotenen rechtsradikalen Parteien ab, die noch aus der alten Monarchie stammten, die DNS AP und die DNP. Sie ver-

6 Ebenda, S. 210. Vgl. auch Friedrich Prinz: „Benes und die Sudetendeutschen", in: Beiträge zum deutsch-tschechischen Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, München 1967, S. 93-109. 7 Manfred Alexander, Der deutsch-tschechoslowakische Schiedsvertrag von 1925 in Rahmen der Locarno-Verträge, München, 1970, S. 193.

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stand sich zuerst als eine außerparlamentarische Opposition, nahm aber als „Sudetendeutsche Partei" (SDP) an der Wahl im Jahr 1935 teil und wurde mit der Unterstützung von zwei Dritteln aller deutschen Stimmen in der CSR auch die stärkste politische Partei und der wichtigste politische Gegner der tschechoslowakischen Regierung. Trotz der positiven, vermittelnden Rolle, die das jüdische Element im Kulturleben der CSR spielte (z.B. in der deutschsprachigen Presse: „Prager Presse", „Prager Tagblatt", „Bohemia"), waren die größeren politischen Parteien uneffektiv im Sinne der Versöhnung. Keine war bereit, Verantwortung für einen demonstrativen Akt der Versöhnung zu übernehmen. Unter den großen Parteien waren die Kommunisten die einzigen, die Mitglieder aus allen Nationalitäten in ihren Reihen hatten; sie wurden aber für einen bedingungslosen Klassenkampf gegen die bürgerliche Republik und deren „imperialistische Staatsidee" durch Moskau manipuliert. Nach dem Parlamentsieg der Henlein-Partei von 1935 änderten zwar die Kommunisten ihren Kurs um 180 Grad und wurden fortan zum Verteidiger der Republik, dennoch haben sie in den deutschen Stimmkreisen in Böhmen und Mähren ungefähr die Hälfte ihrer ursprünglichen Wählerschaft verloren. Von woher sollte eine beispielhafte Initiative zu Versöhnung kommen? Ein Versuch von höchster tschechischer Stelle zur Begegnung zwischen jungen deutschen und tschechischen Intellektuellen blieb ohne größere Wirkung, schreibt Seibt.8 Auch die Universitäten, die eigentlich die führende Rolle als Begegnungsorte beider Kulturen spielen sollten, wurden eher Zentren des leidenschaftlichen Wortgefechtes. Kaum einer der deutschen Universitätsstudenten besuchte offiziell tschechische Lehrveranstaltungen und umgekehrt. Was landespatriotische Ansätze zur größeren Verständigung anbetrifft, versagte auch der katholische Klerus; die Gegenüberstellung des Johannes-Hus-Kultes und des Heiligen Wenzels (1929 feierte man das tausendjährige Gedenken seines Märtyrtodes) in dem damaligen Kontext der konfessionellen Polarisierung zwischen Prag und Rom, war eher eine Herausforderung als ein Akt der Verständigung. Als man seitens der Regierung doch den gesamtstaatlichen Katholikentag von 1935 unterstützte, verfehlte er es dennoch, die akademische oder die Arbeiterjugend anzuziehen. Ebenso blieb die paneuropäische Bewegung im Heimatland des böhmischen Grafen Coudenhove-Calergi ohne Echo. Nur von geringerem Einfluß blieb die von amerikanischen Christen und Pazifisten inspirierte Bewegung eines kleinen Kreises der akademischer Jugend, so z.B. der YMCA und der IFOR (International Fellowship of Reconciliation), um den Deutschen Heinrich Tutsch und Tschechen wie Emanuel Rädl und Premysl Pitter. 9

8

Seibt, S. 225.

20 Festschrift Hacker

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Gegen die brutale nationalsozialistische revolutionäre Bewegung hatte die demokratische ÖSR mit ihrer schwachen und unterentwickelten PropagandaMechanismen nur geringere Chancen, sich zu behaupten. Dabei ist es wichtig, sich immer vor Augen zu halten, daß die Auflösung der ÔSR durch die Radikalisierung der sudetendeutschen Bewegung mit der unbestreitbaren Unterstützung des Reiches schon viel früher als 1938 begonnen hatte. Noch vor Hitlers eigener „Machtübernahme" in Januar 1933 war sie in seinen radikalen Vorstellungen vorhanden - insofern man Hermann Rauschning als eine zuverlässige Quelle behandeln kann. Dies zeigen Hitlers Äusserungen auf einer Tagung von NSDAP-Funktionäre Ende August 1932 auf dem Obersalzberg und in München: „Unsere neue Strategie beruht auf den Erfahrugen der Revolution. Ich habe von den Bolschewiken gelernt. Ich gebe es gern zu. (...) Wir werden niemals eine große Politik machen ohne einen festen, stahlharten Machtkern im Mittelpunkt. Ein Kern von achtzig oder hundert Millionen geschlossen siedelnder Deutscher. Meine erste Aufgabe wird es daher sein, diesen Kern zu schaffen, der uns nicht nur unbesiegbar macht, sondern uns ein für allemal das entscheidende Übergewicht über alle europäische Nationen sichern wird... Zu diesem Kern gehört Österreich. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Es gehört dazu aber auch Böhmen und Mähren, und es gehören dazu die Westgebiete Polens bis an gewisse strategische Grenzen. Es gehören aber auch dazu... die Baltischen Staaten... In allen diesen Gebieten wohnen heute überwiegend fremde Volksstämme. Und es wird unsere Pflicht sein, wenn wir unser Großreich für alle Zeiten begründen wollen, diese Stämme zu beseitigen. Es besteht kein Grund dagegen, dies nicht zu tun. Unsere Zeit gibt uns die technischen Möglichkeiten, solche Umsiedlungspläne verhältnismäßig leicht durchzuführen... Das böhmisch-mährische Becken, die an Deutschland grenzenden Ostgebiete werden wir durch deutsche Bauern besiedeln. Wir werden die Tschechen aus Böhmen nach Sibirien oder in die wolhynischen Gebiete verpflanzen... die Tchechen müssen hinaus aus Mitteleuropa. Solange sie dort sind, werden sie immer ein Herd hussitisch-bolschewistischer Zersetzung sein." 10

Nach der NS-Machtübernahme im Reich polarisierte sich das tschechischdeutsche Verhältnis in den äußeren wie den inneren Beziehungen. Prag wurde zu den bedeutenden Drehscheiben der antifaschistischen deutschen politischen und literarischen Emigration. Zwischen 1933 - 39 waren aus dem Reich in die Tschechoslowakei etwa 20.000 Menschen geflüchtet; weltberühmte Schriftsteller wie Thomas Mann mit seiner Familie, der auch die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft akzeptierte.11 Erpreßt durch die braune Umklammerung seiner geopolitischen Lage suchte der Außenminister Eduard Be-

9

Premysl Pitter, Unter dem Rad der Geschichte, Zürich 1970. H. Rauschning, Hitler Speaks, London 1939, S .13-51; Milan Hauner, Hitler A Chronology of His Liffe and Time London 1983, S. 83. 11 Peter Heumos / Peter Becher (Hrsg.), Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933 - 1939. München 1992. 10

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neS die Rettung unter dem roten Schutz Moskaus, wo er Mitte 1935 einen Beistandspakt mit Stalin unterschrieb. Ende 1935 wurde BeneS selbst anstelle des gebrechlichen T. G. Masaryk zum Präsidenten der ÔSR gewählt. Obwohl die Henlein-Bewegung schon länger Geldzuschüsse aus dem Reich erhielt, nämlich durch die größte Finanzanstalt der Sudetendeutschen, die „Kreditanstalt der Deutschen", die Ronald Smelser als „the most important tool in Nazi subversion" charakterisierte, 12 sind direkte politische Weisungen Hitlers an Henlein im Jahre 1936 noch nicht nachweisbar13. Trotzdem machte Hitler in einigen Gesten deutlich, daß er das Sudetenland schon als Provinz des künftigen Großdeutschen Reiches betrachtete: in August 1936 z.B. wurden die nach Deutschland geflohenen ehemaligen DNSAP Abgeordneten des Prager Parlaments, Rudolf Jung, Hans Krebs und Leo Schubert durch Hitlers Entscheidung Mitglieder des Deutschen Reichstags.14 BeneS wehrte sich, offiziell weiter mit Hitler zu verhandeln, war aber mehr als willig zwei seiner Emissäre auf der Prager Burg in November 1936 aufzunehmen. Die beiden geheimen Begegnungen brachten aber dem kompromißbereiten BeneS keine Belohnung in der Form eines Nichtangriffspaktes mit Deutschland. Die Gespräche wurden aus ungeklärten Gründen, wahrscheinlich auf Hitlers direkten Befehl hin, Anfang 1937 im Zusammenhang mit den Gerüchten über die Konspiration des angeblich prodeutschen Sowjetmarschalls Tuchaöevskij abgebrochen. Statt zu einer Abnahme kam es zu einer Steigerung der Presseattacken gegen die ÖSR. Was aber erstaunlich und bis heute von der Forschung noch nicht befriedigend geklärt worden ist, waren BeneS* geheime Versuche zu der Besserung der tschechisch-deutschen Beziehungen, die kurz nach der Hinrichtung von Tuchaöevskij (11. Juni 1937) für ein dreiviertel Jahr, praktisch bis zum Anschluß Österreichs verliefen. Diese bis jetzt wenig bekannte und ungeklärte Aktivität von BeneS war vor allem durch seine intellektuelle Konzentration auf seine Schrift „Deutschland und die Tschechoslowakei" gekennzeichnet, die als ein anonymer Beitrag, unterzeichnet mit „X.Y.", „zu einer historischpolitischen Diskussion" in Fortsetzungen im August, September und Oktober

12 /?. Smelser , „The Betrayal of a Myth: National Socialism and the Financing of Middele-Class Socialism in the Sudetenland," in: Central European History, Nr.3 Sept. 1972, S. 256-277. 13 J.W.Brügel vertritt die These, Henlein habe schon Ende Juli 1933 auf dem Deutschen Turnfest in Stuttgart von Hitler den Auftrag erhalten, für die Angliederung des Sudetenlandes an das Reich zu arbeiten. Vgl. J. W. Brägel, Tschechen und Deutsche, München 1967, S. 244 f. Vgl. auch Ronald V. Smelser, The Sudeten Problem, 1933 - 1938 Middletown 1975, auf deutsch: das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933 - 1938 - von der Volkstumspolitik zur nationalsozialistischen Außenpolitik, München 1980. 14 Hauner 1983, S. 114.

20*

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1937 in der Prager Presse erschienen ist. Trotz der äußerst feindlichen Reaktion der Reichspresse, besonders der früheren liberalen Blätter wie die Frankfurter Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung, die BeneS tief enttäuscht haben müßten, arbeitete er weiter an seinem Manuskript mit einsamer Bessessenheit bis in das Jahr 1938.15 Was aber sicher zu sein scheint war Hitlers Entschlossenheit, die „Tschechei" zu isolieren und den Druck auf sie von außen und auch von innen durch die SDP zu steigern. BeneS und sein Geheimdienst wußten nicht, daß Hitlers Entschluß schon im November 1937 gefallen war: Am 5. November, während der sogenannten geheimen „Hoßbach-Konferenz", bezeichnete Hitler die CSR zusammen mit Österreich als seine unmittelbaren Kriegsziele, die er spätestens 1943 bis 1945, aber am liebsten noch früher, angreifen würde. 16 Zwei Wochen später, am 19. November konzipierte Konrad Henlein einen langen Bericht für den „Führer", in dem er seine Partei vorbehaltlos als Instrument der NS-Politik anbot, d. h. bewußt und ausdrücklich als Endziel der Obstruktionen den Zerfall der CSR (»daß die militärische Liquidation der Tschechoslowakei nur eine Frage von Monaten ist") mit der Einverleibung des ganzen böhmisch-mährisch-schlesischen Raumes in das Reich annahm.17 Henlein brachte seine absolute Abhängigkeit von der Reichspolitik noch stärker zum Ausdruck kurz nach dem „Anschluß" Österreichs, als er Ende März 1938 Hitler persönlich versicherte: „W/r müssen also immer so viel fordern, daß wir nicht zufrieden gestellt werden. " Diese Auffassung bejahte Hitler. 18 Die Aktivisten fanden bei der Prager Regierung kein Verständnis für ihre gemäßigten Forderungen. Als während des zwölfmonatigen Wartens nichts passierte, sind die deutschen Agrarier und Christen zu Henlein übergetreten. Einer der besten tschechischen Journalisten, Ferdinand Peroutka, schrieb erbittert, daß an diesem Übertritt die tschechischen Politiker und Bürokraten fast ebensoviel Schuld trügen wie die deutschen Aktivisten selbst. Angesichts des letzten Triumphes von Hitler in Österreich und Henleins Versprechen alle künftigen Verhandlungen mit den Tschechen zur Farce zu machen, kann man die Stellung der tschechischen Behörden nur als seltsam idiotisch bezeichnen. „Unsere Regierung," stellte Peroutka in seinem kritischen Artikel fest, „wird also jetzt nur mit Henlein verhandeln müssen, weil dies nach demokratischen

15 Zitiert aus eigenen Recherchen. Benes' Elaborat wurde nur auf Englisch gedruckt: „Germany and Czechoslovakia4* by an Active and Responsible Czechoslovak Statesman, Part I:Foreign Policy of Czechoslovakia and Its Relations to Germany, Part II: Czechoslovakia at the Peace Conference and the Present German Czechoslovak Discussion, Prag 1937. 16 ADAP/D/I, Nr. 19; Hauner 1983, S. 122. 17 ADAP/D/II, Nr.23. 18 ADAP/D/II, Nr. 107.

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Regeln unvermeidlich geworden ist... Den Deutschen alle Gerechtigkeit. Dem deutschen Faschismus - keine Gelegenheit."19

Peroutkas Aufruf, wie so viele andere die viel früher stattgefunden haben, sind BeneS und die tschechischen politischen Führer damals nicht gefolgt. Sie hatten den günstigsten Moment schon längst verpaßt und wenn sie zu Verhandlungen bereit waren, dann nur unter starkem internationalem Druck. Hatte nicht der gute Freund der Tschechoslowakei, der Londoner Professor R. W. Seton-Watson schon im Januar 1936 ausdrücklich zur Versöhnung geraten? Auf die Frage desselben Redakteurs der Wochenzeitung „Pfitomnost" (Die Gegenwart) „Wie soll man mit Henlein umgehen?", erzählte SetonWatson von dem durchaus positiven und „sehr vernünftigen Eindruck" den Henlein bei seinem letzten Auftreten in London hinterlassen hätte. Er betonte weiter die Priorität der ökonomischen Hilfe für die durch die Wirtschaftskrise schwer betroffenen Grenzgebieten, und benutzte schließlich aus dem Reichtum britischer politischer Erfahrung als ein warnendes Beispiel die irischen Frage: „...In der irischen Frage sind wir jedesmal mit unserem Zugeständnis zu spät gekommen. Immer, wenn es schien, daß eine Einigung in Reichweite sei, kam irgendeine außenpolitische Komplikation, die sie verhinderte. Das is eine Warnung! Ganz gewiß wäre für Sie manch Interessantes an dieser Ge schichte, ," 20 Statt die Tschechoslowakei in eine Zitadelle des Antifaschismus zu transformieren, spielte BeneS weiter nach den Regeln der geheimen Kabinettsdiplomatie hinter den Kulissen. Seibt hat schon Recht, wenn er argumentiert, daß nach dem was heute der Forschung bekannt ist, die weitere Geschichte der tschechisch-deutschen Nachbarschaft von März bis Oktober 1938, d.h. von der Besetzung Österreichs, dem Zusammenbruch des deutschen Aktivismus in der ÖSR beim einsamen Widerstand der Sozialdemokraten, über Henleins Pakt mit Hitler, die künftigen Verhandlungen mit Prag zu sabotieren, über den 90-Prozent-Sieg der SdP bei den Gemeindewahlen, über die Mission des britischen Vermittlers Lord Runciman im August 1938 bis zum westlichen Ultimatum an die Prager Regierung vom 20. September, nun die konsequente Folge der inneren und äusseren politischen Umstände war mit denen dieses Schicksalsjahr begonnen hätte.21 Die farcenhafte Taktik Henleins nicht durchschauend, hat die unter dem starken westlichen Druck stehende Prager Regierung durch das Ausschöpfen aller staatsrechtlichen Mittel, sowohl den Ansprüchen der Minderheiten ge19 Ferdinand Peroutka in: Pfitomnost, Nr. 13 vom 30. 3. 1938, deutsche Fassung in: Dokumente zur Sudetendeutschen Frage 1916 -1967, hrsg. von Ernst Nitnner, München 1967, S. 187-190. 20 Nittner 1967, Nr. 83, S. 138-140. 21 Seibt, S. 267.

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recht zu werden als dabei auch die Staatssouverenität und das demokratische System zu erhalten, praktisch alle Forderungen der SDP in dem sogenannten „Vierten Plan" Anfang September 1938 erfüllt. Um der westlichen Appeasement-Mentalität entgegenszuspielen hat der verzweifelte BeneS sogar Mitte September durch die geheime Mission seines Ministers Neöas über die Westlichen Verbündeten bescheidene Territorialkonzessionen von 4 - 6.000 qkm an Deutschland angeboten (bedingt aber von Hitlers Übernahme einer massiven Abschiebung von wenigstens 1.5 bis 2 Millionen Sudetendeutscher22). Inzwischen aber hatten die beiden Premierminister, Daladier und Chamberlain, Hitler praktisch die mehr als zur Hälfte deutsch bewohnten Siedlungsgebiete längst zugesprochen. Nach dem mißgelungenen Volksaufstand vom 15. September im Sudetenland war Hitler nun entschieden die Sudetenfrage nicht mehr durch Verhandlungen sondern durch einen Krieg zu lösen, um die gesamte Tschechoslowakei zu Fallen zu bringen. Während der zweiten Begegnung mit Chamberlain in Bad Godesberg erhöhte er die Gebietsforderungen auf rein tschechische Siedlungen. Der Engländer mußte nein sagen. Beide Seiten mobilisierten, Hitlers konservative Generäle waren sogar bereit diesen außenpolitischen Rückschlag zu einem Staatsstreich gegen Hitler zu benutzen. Nicht nur der Friede sonder auch das Schicksal des Führers hingen während der letzten Septemberwoche an einem dünnen Faden. Statt Hitler zu kontern entschied sich aber Chamberlain zum äußersten Nachgeben. Der Rest ist bekannt unter dem Namen der Münchener Kapitulation vom 30. September. Zwar hatte BeneS im Prinzip schon zehn Tage früher kapituliert als er das westliche Ultimatu akzeptierte, diesmal war aber seine militärische Position viel besser gewesen. Mit einer Millione mobilisierten tschechischen Truppen und den besetzten Festungsgürtel, der erweckten militärischen Maschine im Westen und der Truppenkonzentration der Sowjetischen Panzer- und Luftwaffenverbände auf der westlichen Grenze der Sowjetunion, hatte BeneS diesmal eine bessere Chance sich zu verteidigen - wenigstens auf eine begrenzte Zeit. Die Masse der Tschechen war bereit sich zu opfern; deutsche Antifaschisten schickten BeneS Telegramme wie z.B. Bertold Brecht mit unübertrefflichen Text : „Kämpfen Sie und die Schwankenden werden mitkämpfen!" 23 Von seinen westlichen Verbündeten im Stich gelassen, akzeptierte BeneS das Diktat und die deutschen Gebietsansprüche zu denen noch die polnischen und ungarischen dazu kamen. Etwa 30.000 deutsche Antifaschisten müssten vor den einrückenden deutschen Truppen über die Grenze zu den verbitterten Tschechen fliehen, die dazu noch fast eine halbe Million von eigenen Landsleuten aus den besetzten Gebieten aufnehmen müssten. Diese Episode ver22

Für den deutschen Text siehe Nittner, Nr. 139. Milan Hauner, Kapitulovat öi bojovat? (Kapitulieren oder kämpfen?), in: Svèdectvi (Témoignage), Nr. 49, Paris 1975 (Anm. 1). 23

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diente sich die Bezeichnung „erste Vertreibung". Etwa 290.000 Tschechen lebten fortan „über die Grenze" innerhalb dem neuen „Reichsgau Sudetenland" von fast 22.500 qkm und 2.9 Millionen Einwohner im Bestand des Deutschen Reiches. Dort verblieb ihnen nur eine tschechische Tageszeitung und ein paar Volksschulen.24 Gemäß Hitlers Absichten wurde die „Rest-Tschechei" sechs Monate später liquidiert; die von Tschechen besiedelten Gebiete wurden als Protektorat von Böhmen und Mähren ins Deutsche Reich einverleibt. Das Jahrzehnt, das mit München begonnen hatte, war sicher das schlimmste in der tschechisch-deutschen Auseinandersetzung, gefüllt von machtpolitischen Umwälzungen und blutigem Terror, Konzentrationslagern, Hinrichtungen, Todesmärschen und Massenvertreibungen. Als dieses Jahrzehnt zu Ende ging, fanden sich die böhmischen Ländern ohne eine zweisprachige Bevölkerung in einem neuen imperialen Machtgefüge wieder, das diesmal statt von Berlin von Moskau aus diktatorisch kontrolliert wurde. Wenn man von der „kollektiven" Schuld der damals erwachsenen Sudetendeutschen sprechen muß, dann bezieht sich diese Anklage sicher auf die Bereitschaft, mit der ihre politischen Führer sich von dem braunen Virus des Nationalsozialismus infizieren ließen (98,9 % der Sudetendeutschen stimmten am 4. Dezember 1938 beim Volksentscheid für Hitlers Programm und die Angliederung ans Reich). Von dem magischen Rattenfänger gebannt, unter demagogischer Ausnützung ihres Rechtes auf nationale Selbstbestimmung, ist die Masse der Sudetendeutschen zu einem bewußten Instrument eines antidemokratischen, inhumanen und totalitären Systems geworden. Tausende sagten nein und nahmen an dem antihitlerischen Widerstand teil, tausende sind lieber ins Exil geflüchtet. Ihr Schicksal und das ihrer jüdischen Mitbürger war das Schlimmste.25 Die schon erwähnten Versäumnisse der tschechischen Nationalitätenpolitik waren gravierend, lassen sich aber nicht vergleichen mit dem Versagen der Führung der SdP, demonstriert durch die bedingungslose Auslieferung der Sudetendeutschen an das „Ungeheur aus dem Abgrund" (wie Hitler von Hermann Rauschning genannt wurde), die in einer Atmosphäre der unbegreiflichen nationalen Hysterie stattgefunden hatte. Sechs Jahre später ging es in die entgegengesetzte Richtung - mit einer rachsüchtigen Wut, die die Erniedrigung und Leiden der Kriegsjahre in sich trug, was aber sicher nicht zu deren Rechtfertigung herangezogen werden kann. Was tschechischerseits die „kollektive" Schuld an der Vertreibung der

24

Vgl. Seibt, S. 271 f.; Harry Slapnicka, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Vol. 4, Stuttgart 1970, S. 102. 25 Für Einzelheiten siehe Leopold Grünwald, Sudetendeutscher Widerstand gegen Hitler, Sudetendeutsches Archiv Nr. 12, 23, 14, München 1978 - 79.

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Deutschen bedeutet, hat die Forschung beiderseits erst in der jüngsten Zeit, ein halbes Jahrhundert nach dem Kriegsende, zu beantworten begonnen. Ι Π . Ein „Kleinvolk" gegenüber einem „Großvolk": Und was die Politiker und Philosophen darüber dachten

Die staatstragende Ideologie des Tschechoslowakismus, die nur zwei slawische Völker, die Tschechen und Slowaken, als die einzigen privilegierten Staatsvölker wahrgenommen hat, ist zum großen Teil aus der Philosophie des Gründers der neuen Republik erwachsen. Das Konzept des „kleinen Volkes" lag T.G. Masaryk, dem „Präsidenten-Befreier", besonders am Herzen. Bis zum Kriegsausbruch hielt Masaryk fest an Palackys Vermächtnis 0Österreichische Staatsidee, 1865), daß die „kleine" tschechische Nation außerhalb des österreichischen Vielvölkerstaates wenig Chancen zum Überleben hätte. Dem späteren ,post-Ausgleich4 Palackys, der sich nach 1867 plötzlich zu einem Panslawisten entwickelte, wollte Masaryk nicht folgen. Masaryk hoffte das Problem des „kleinen Volkes" im Rahmen Palackys ursprünglichen konservativen Strategie innerhalb der austroslawischen Vielvölkerföderation zu lösen, und zwar unter der Voraussetzung eines konstruktiven Dialogs mit den Deutschösterreichern. Statt dessen wurde es vom tschechischen Standpunkt immer klarer, daß der Sieg Bismarcks Österreich in die Machtsphäre der großdeutschen Politik einbezog. Mit dem Dilemma der Wahl „für oder gegen4 Großdeutschland wurde auch Masaryk konfrontiert. Kurz nach Kriegsausbruch unternahm er den letzten Versuch und traf sich als Mitglied des Reichsrates mit dem Ministerpräsidenten Koerber. Masaryks Befürchtungen, daß der Sieg der Mittelmächte im Weltkrieg unter Deutschlands Militärkaste die pangermanischen Tendenzen verstärken würden und daß sich unter der deutschen militärischen Hegemonie die staatsrechtliche Position der Tschechen nur verschlechtern würde, hat selbst Koerber bestätigt.26 Persönlich zog Masaryk daraus den Schluß, sich selbst ins politische Exil zu begeben und die Zukunft Böhmens in der militärischen Niederlage der Mittelmächte gegen die anglo-französische Entente zu suchen. Damit hatte er auch mit Palackys austroslawischem Erbe endgültig gebrochen. Mit seinem epochemachenden Vortrag vom Oktober 1915 an der Londoner King's College überschritt er den Rubikon endgültig.27 Mit Erfolg präsentierte sich der Philosophieprofessor zum ersten Mal als Amateur-Geopolitiker: Die Tschechische Nation gehöre zwar zu den kleinen Nationen Eu26

T.G. Masaryk, Svëtovâ revoluce (Weltrevolution), Prag 1925, S. 36. T.G. Masaryk , The problem of Small Nations in the European Crisis. Inaugural Lecture at King's College, University of London. Deutsche Fassung: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis, Prag 1922, S. 16. 27

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ropas, aber unter ihnen dürfe sie einen besonderen Platz einnehmen. Masaryk plädierte für die Aufhebung der Großreiche in Ostmitteleuropa, weil dort eine scharfe „Inkongruenz der politischen und ethnographischen Grenzlinien" existiere. Um diese permanente Spannung aufzuheben, müßten die EntenteMächte durch ihren Sieg über den aggressiven Pangermanismus für eine gerechte Neuordnung nach dem „Prinzip der Nationalität" sorgen. Seine Lösung war sehr einfach, wenn er sein Rezept der vereinfachten territorialen Rekonstruktion von Mitteleuropa den Alliierten empfahl: Drei wichtige Völker lebten aufgeteilt in dieser Gefahrenzone: die Polen in drei Staaten, die Tschechen und Slowaken in zwei, die Serbokroaten sogar in vier. „Wenn schon dieser schreckliche Krieg überhaupt einen Sinn haben soll", faßte Masaryk zusammen, „dann liegt er in der Befreiung der kleinen Völker, die von einer deutschen Expansion nach Asien bedroht sind." 28 Damit hatte der Mythos eines deutschen , Drang nach Osten'effektiv seine Verlängerung nach Asien gefunden und so auch eine bis dahin nicht erlangte propagandistische Brisanz erreicht. Der Londoner Vortrag wurde von Rudolf Nadolny als „Meisterwerk der Darlegung eines politischen Programms in wissenschaftlicher und moralischer Verbrämung" bezeichnet.29 Als Masaryk drei Jahre später sein Propagandapamphlet „Neues Europa" schrieb, gab es für den einstigen GoetheVerehrer und Korrespondenten mit den nach eigenen Worten, „hervorragenden Pangermanisten wie Constantin Franz und Paul de Lagarde" in der österreichisch-deutschen ,pangermanischen4 Geisteswelt kaum einen aufnahmefähigen Gedanken, der die angelsächsische demokratische Zensur passieren würde. 30 Für Masaryk bestand keine Chance für einen Kompromiß mit Deutschland und Österreich-Ungarn, ohne daß diese zuerst auf dem Schlachtfeld geschlagen wurden. Diese beiden finsteren Mächte waren kriegsschuldig und antidemokratisch, ferner verkörperten sie das theokratische Prinzip in der Welt, meinte Masaryk. Im Gegensatz zu Masaryk, dessen Universitätsjahre und akademische Laufbahn mit der Metropole Wien verbunden waren, besaß sein jüngerer Mitarbeiter Eduard BeneS keine direkte »österreichische4 Erfahrung. Abgesehen von einem einzigen kurzen Aufenthalt in Wien war ihm die Kaiserstadt an der Donau völlig fremd. 31 BeneSs direkte Erfahrung mit Deutschland war ausschließlich mit seinem verborgenen Berliner Aufenthalt als Doktorant zwischen Oktober 1907 und Oktober 1908 verbunden.32 Zum zweiten Mal be28

Ebenda. Rudolf Nadolny, Germanisierung oder Slavisierung? Eine Entgegnung auf Masaryks Buch: Das neue Europa, Berlin 1928, S. 11. 30 T.G. Masaryk, Nova Evropa, Brno 1994, S. 64. 31 Milan Hauner, Benes und die Deutschen, vorgetragen in Bonn, Juü 1996. Gekürzte Fassung abgedruckt in: Die Brücke, München, 15. Februar 1997. 32 Eduard Benes, Der Aufstand der Nationen, Berlin 1928), S. 2-4. 29

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suchte BeneS die Reichshauptstadt zehn Jahre später als Außenminister im Mai 1928. Das war auch sein letzter Besuch bei dem engsten, aber auch verhängnisvollsten Nachbarn. Obwohl die diplomatischen Beziehungen zwischen Weimardeutschland und der CSR ziemlich korrekt waren, betrachtete man in der Wilhelmstraße die Tschechoslowakei in Angelegenheiten der großen Politik nur als einen lästigen Vasallen Frankreichs. Die Furcht vor dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich fesselte die Hände von Masaryk und BeneS immer wieder. Die Bekanntmachung der Zollunion Anfang 1931 rief die schlimmste Krise in den Beziehungen zwischen Prag und Berlin hervor. 33

Während seiner vormünchener politischen Tätigkeit benutzte BeneS gern das Beispiel einer schwarz-weißen Malerei von zwei Deutschland-Bildern, die er ein wenig schulmeisterisch - wie es bei ihm die Sitte war - aufzählen wollte, mit der Hoffnung, daß das kulturelle Deutschland von Herder, Lessing, Goethe, Beethoven, Mozart und Kant gegen das kriegerische Deutschland von Bismarck und Wilhelm siegen würden34: „Es gab zweierlei Deutschland vor dem Kriege, wie es zweierlei Deutschland heute gibt. Sie rangen miteinander damals wie heute... Wird heute das Deutschland der Klassiker und Humanisten siegen? Man kann daran glauben und man muß es hoffen ... denn eine Nation, die der Menschheit im 18. und 19. Jahrhundert in Wissenschaft, Literatur und Philosophie so viele hervorragende Köpfe un eine Musik gegeben hat, wie es die deutsche ist, ist eine große Nation. " Dieses Bild von „zweierlei Deutschland" ist eines der einfachsten Clichés, das zwar möglicherweise gut in das Rezept von BeneS paßte, aber keine analytische Aussagekraft besaß.35 Bismarck gehörte sicher zu den gewaltigen ,Großen4 Deutschlands; das gab auch BeneS als Vorkämpfer für die Rechte der »kleinen Völker* zu. Kein Geringerer als Thomas Mann, derselbe, dem BeneS nach seiner Flucht aus dem NS-Deutschland die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit verliehen hatte, nannte Bismarck mit Luther und Goethe als die „drei Gewaltigen ... wie Bergkolosse, die sich in erdrückender Imposanz unvermittelt aus der Ebene erheben." 36 Gerade als BeneS nach der NSMachtübernahme in Deutschland mit der schwankenden Loyalität der deutsch33 F.Gregory Campbeöö, Confrontation in Central Europe. Weimar Germany and Czechoslovakia, Chicago 1975; siehe auch Gleichgewicht - Revision - Restauration: Die Außenpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vororteverträge, hrsg. von Karl Bosl, München 1976, S. 201-216. 34 Eduard Benes, Aufstand, S. 702. Bezeichnenderweise fehlt Luther auf Beness Liste von positiven deutschen Genies. 35 In der Fachliteratur wird gelegentlich dieses »Zweierlei Deutschland'-Bild von Benes oft als eine »Illusion* bezeichnet, wobei der Schwerpunkt auf dem positiven Feld der Kultur lag. Meiner Meinung nach war dies von Benes eine absichtliche Ablenkung, ein Ausdruck seiner konzeptionellen Hilflosigkeit. 36 Thomas Mann, Die Drei Gewaltigen, Der Monat, 1, 1949.

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sprachigen Bürger der ÖSR in den dreißiger Jahren konfrontiert wurde, hätte er die exklusive und dabei durchaus künstliche »tschechoslowakische* Staatsnation durch die Aufnahme der deutsch-böhmischen aufzulockern müssen, präsentierte aber praktisch keine anderen Argumente als eine pathetische Aufforderung zum Ausbau „des höheren Begriffes der tschechoslowakischen Vaterlandsliebe..." Was er damit meinte, war nicht die Ergänzung der Verfassung um die Deutschböhmen als einem zweiten ,Staatsvolk4, sondern eine vage Aufforderung zu einem farblosen „staatlichen Patriotismus... mit voller Loyalität und Hingabe zu unserer gemeinsamen Heimat,... weil wir schicksalsgemäß und durch historische Entwicklung miteinander verbunden sind, und weil es also das Vernünftigste ist, das gehörige, anständige, loyale und menschenwürdige gerechte Verhältnis zu einander in unserer gemeinsame Heimat zu finden." Und wieder knüpfte BeneS hinterher ein schulmeisterliches Gutachten von der „großen deutschen Kultur" an.37 Was denken die Tschechen heute von dem Komplex eines »Kleinen Volkes4 und dessen Überwindung? Lassen wir dafür die beiden führenden tschechischen Philosophen der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts sprechen, den HusserlSchüler und Phänomenologisten Jan Patoöka, sowie auch den Post-Marxisten Karel Kosik. Beide Männer hielten Masaryks Denkweise im „Neuen Europa" für besonders jämmerlich. Patoöka bezeichnet zwar Masaryks Philosophie des Weltkrieges als Versuch um eine genuine tschechische Nationalphilosophie, die es aber nicht schafft, das ,Böhmentum4 (,öeSstvi4) aus dem Gefühl der Marginalisierung rauszuziehen und in das Weltgeschehen einzugliedern. Während Masaryks Ansatz richtig war, meinte Patoöka, wird er unmittelbar danach vereitelt, weil Masaryk sich weigert zu sehen, daß „die philosophische Wahrnehmung des Weltkrieges ja die Eingliederung und das Verständnis für den eigenen Gegner von Demokratie und Böhmentum voraussetzt", in anderen Worten, daß die neuaufgewertete Philosophie des Tschechentums auch durch ein philosophisches Verständnis Deutschlands begleitet sein muß, weil das Böhmentum nicht antagonistisch zu der »Deutschen Frage4 steht, sondern deren Bestandteil sei. Wo Patoöka eine Analogie des Deutschtums und Böhmentums sieht, da steht Masaryk auf dem anderen Ufer und behauptet, blind zu sein. „Es ist merkwürdig, daß Masaryk diese erstaunliche Analogie zwischen der Deutschen und Böhmischen Frage überhaupt nicht sehen kann, daß er nicht merkt, daß die deutsche Philosophie versuchte, ein ähnliches Problem wie die böhmische zu lösen - nämlich das Problem der marginalen Existenz, die nach der Mittellage strebt." Historisch argumentiert, ähnlich wie Deutschland, daß im 17. Jahrhundert von Frankreich aus der führenden Position verdrängt wurde und jetzt versucht, Europas Mittellage wieder unter Kontrolle 37 Eduard 1935), S. 42 f.

Benes, Rede an die Deutschen in der CSR, 15. April 1935 (Aussig

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zu bekommen, versuchen auch die Tschechen im engeren regionalen Maßstab sich im Zentrum Europas zu behaupten.38 Ahnlich kritisch verhält sich auch Karel Kosik, der die propagandistische Reduktion der Philosophie des Weltkrieges auf einen Konflikt zwischen Theokratie und Demokratie, wie es bei Masaryk steht, als „absurd und unhaltbar anachronistisch" bezeichnet. „Die Tschechen," setzt Kosik fort, „sind im politischen Denken erstarrt geblieben und verpaßten die neueste historische Entwicklung, die nicht nur völlig andere historische Kräfte, sondern auch andere Subjekte in den Entscheidungsprozessen verlangte." Die Gründung der Tschechoslowakei 1918 war auf falschen Prämissen aufgebaut; so beispielsweise die ganze Konzeption des »Tschechoslowakismus4, die eine Existenz eines Einheitsvolkes mit zwei Zweigen, der tschechischen und der slowakischen, vorsah. Kosik bezeichnet diese Fehlkonzeption als „historisch schwachsinnig". Eine solche Konzeption hat weder die notwendige Tiefe noch die Penetranz der Ideen von Palacky. Der Tschechoslowakismus ist überhaupt keine Idee, meint Kosik, sondern eine einstweilige pragmatische Vorstellung, die sich selbst und die historische Realität belügt.39 Das Schicksal des „Kleinen Volkes" zwischen historischer »Größe' und ,Kleinheit4 ist ein Zentralthema eines merkwürdigen Essays von Jan Patoöka, „Was sind die Tschechen?". Obwohl in deutscher Sprache zuerst 1972/73 als Privatbriefe an eine deutsche Freundin abgefaßt, bleibt dieser wichtige Essay im Ausland bis heute wenig bekannt.40 Ernest Gellner meinte, daß es Patoöka mit diesem Werk gelungen sei, gewisse Lücken in Masaryks Interpretation der Probleme des „kleinen Volkes" zu schließen.41 Eben dort, wo Masaryk für die moderne tschechische Nation eine neue politische Rolle suchte und dabei eine humanistische Interpretation der tschechischen Geschichte versucht hat zu schreiben, betrachtet Patoöka die Tschechen als eine Nation der Pechvögel, die in der Vergangenheit eine Reihe von seltenen Chancen verpaßt hätten. Im Unterschied zu den Deutschen, denen die historische Größe ohne Mühe in den Schoß gefallen war, auch auf Grund der einmaligen geographischen zentralen ,Mittellage* und - last but not least - durch die Verbindung mit der

38

Jan Patoäca, Tfi Studie ο Masarykovi 1977, Toronto 1980, S. 58-63. K. Kosik, Co je stfedni Evropa?, 3. Teü, in: Literarni listy (Literar-Ztg.), Prag 12. November 1992, no. 45. 40 J. Patoäca, Co jsou Cesi? Erschien zweisprachig (Prag 1992), da die Originalversion eigentlich zuerst auf deutsch geschrieben wurde. Es ist symptomatisch für Patoöka, den Philosophen, das er in seinem Titel nach der Funktion der Tschechen in der Geschichte fragt, daher ,Was* statt ,Wer* sind die Tschechen. 41 E. Gellner, Reborn from below, in: The Times Literary Supplement, 14.V. 1993, S. 3 f. Ders., The Price of Velvet: Thomas Masaryk and Vaclav Havel, Telos, 94, 1992 - 3. 39

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„Reichsidee", weil sie die Hauptpfeiler des europäischen Westens und Christentums waren, konnten die Tschechen nur im Mittelalter kurzfristig das führende Element innerhalb des „Sacrum Imperium" werden, und zwar als dessen Vollstrecker in der Rolle der Krieger und Missionare. Als Rollenmodel für solche anspruchsvolle Sendung erwähnt Patoöka den Hl. Adalbert, den bedeutendsten tschechischen Heiligen nach dem Hl. Wenzel, der eine zentrale Rolle bei der Verbreitung des Christentums in Ungarn, Polen und im Baltikum spielte. Die Voraussetzungen für diese relative Größe Böhmens sind mehr geistig als territorial; wichtig war, daß Böhmen sich als identisch mit dem übrigen Westeuropa wahrnahm: „Ehrgeiz deckt sich hier mit Lebensnotwendigkeit", schreibt Patoöka. „Schon die letzten Pfemyslidenkönige wissen, daß sie entweder Kaiser werden müssen oder untergehen werden - und sie gehen groß unter; jedenfalls wird Böhmen mit seinen Dynastien für anderthalb Jahrhunderte zur Basis der Organisation Mittel- und Osteuropas nach westlichem Vorbild... und Vorposten der christlichen Reformation ... und geht erst im großen Ringen des 17. Jahrhunderts verloren." 42 Der Dreißigjährige Krieg bedeutete keineswegs den Untergang des böhmischen Staatswesens, wohl aber aber die Trennung von den Weltaufgaben. Es handelt sich nach Patoöka hier um eine entscheidende Zäsur: Böhmens Größe geht zu Ende, die kleine Geschichte Böhmens beginnt durch die Provinzialisierung, die durch die ethnische Aufspaltung der Nation, im Gefolge des herderischen Sprachnationalismus, vervollkommt wird. Das moderne ,Tschechentum* (also nicht mehr ,Böhmentum*43) ist daher sowohl die Spiegelablichtung des deutschen Nationalismus wie auch seine Negation, mehr in der sozialen Hinsicht, weil sie sich, wie Patoöka richtig sah, „von unten" konstituiert, aus dem Bauern- und Kleinbürgertum, da die böhmischen Oberschichten nicht an der slawischen Sprache festgehalten haben. Das Fehlen einer führenden Oberschicht bei den Tschechen hält Patoöka offensichtlich für ein wichtiges Manko. Gerade in der bürgerlichen Epoche ist es verhängnisvoll, denn die Deutschen, Österreicher, Polen und Ungarn bewahrten auch im 19. Jahrhundert ihre aus der Oberschicht freigestellten Spezialisten. Der Ausnahmefall Masaryk bestätigt die Regel: auch in der nivellierten tschechischen Gesellschaft konnte sich ein Mann der Tat entfalten, was aber ein isolierter Fall geblieben ist und keine Nachfolge fand. Der Aufstieg des modernen

42

Patoäca, 1992, S. 114-115. Vgl. Jan Kfen, Historické promëny öesstvi (Historische Wandlungen des Böhmentums), Prag 1993. Kfen interpretiert in seinen zwei Essays ,Tschechentum4 als integralen Teü des ,Böhmentums\ daher auch Termini wie , Barock-Tschechentum 4 oder »Neuzeitliches Tschechentum4, ,modernes Nachkriegs-Tschechentum4, usw. Er kennt offensichtlich Patoökas Text, polemisiert aber nicht mit seiner Konzeption, die auf einem Bruch zwischen ,Böhmentum4 und ,Tschechentum4 im 17. Jahrhundert beruht. 43

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Tschechentums gehört nach Patoöka zu den soziologischen Wundern in Ostmitteleuropa, weil es sich um ein Modell der Gesellschaftsbildung „von unten" handelt: „Die ehemals bevormundete Schicht strebt zuerst Gleichberechtigung, dann Dominanz und schliesslich die Alleinherrschaft an..." Das Erringen der politischen Selbständigkeit für einen von den Tschechen geführten Mehrvölkerstaat konnte nicht nur auf der militärischen Allianz mit Frankreich beruhen, sondern auch auf guten Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Diese sind aber nach dem Weltkrieg und revolutionären Umsturz weitgehend wieder - wie Polen und Ungarn - traditionell obrigkeitsstaatlich organisiert worden. Die innere Lage in der neuen Republik Österreich blieb jahrelang unentschieden, ausschlaggebend war aber die künftige politische Richtung Deutschlands, wo sich trotz der demokratischen Verfassung eine alte Allianz von finanz- und industrieller Plutokratie mit der militärischen Klique bildete. So waren auch »soziologisch4 die Tschechen in Mitteleuropa als die einzige wirklich „von unten" aufgebaute Gesellschaft, faktisch isoliert inmitten der steigenden Spannung in der Arbeiterschaft und den großen Minderheitsgruppen. Zehn Jahre nach dem Weltkrieg sah die Welt ganz anders aus, als Masaryks schematische Philosophie des Krieges (Theokratie versus Demokratie) sie dargestellt hatte. Nur ein Mann in der neuen Republik, meint Patoöka ganz enthusiastisch, hätte schon vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus im benachbarten Deutschland klar gesehen, daß sich hier für das demokratische Tschechentum nicht nur Gefahren, sondern eine „großartige Chance" bot. Dieser Retter hieß Emanuel Râdl, war aber leider nur ein Philosoph und kein Staatsmann. Sein Buch enthält die todernste Warnung schon in der Überschrift: „Der Kampf (Krieg) zwischen den Tschechen und Deutschen" (1928); es bietet aber auch eine antinationalistische Perspektive in dem Vorschlag, aus der Tschechoslowakei eine Insel der Toleranz aufzubauen, die natürlich als Voraussetzung eine Absage an die Staatsdoktrin des Tschechoslowakismus mit sich bringt. Râdls Rezept imponiert Patoöka, der ihn weit über die beiden anderen Alternativen hochhält, d.h. die eine von der politischen Rechten, dargestellt durch den Historiker Josef Pekaf, die andere kommunistische, vertreten durch den Musikwissenschaftler Zdenëk Nejedly.44 Wie stark Patoöka an das geschichtliche Individuum glaubt, geht klar aus seinem Schlußwort hervor, wenn er die beiden tschechoslowakischen Präsidenten, T.G. Masaryk und Eduard BeneS vergleicht. Für den schwächeren BeneS hat er nur Verachtung („nur gut als Sekretär"), weil er die prinzipiellen

44

Ebenda, S. 216. Die deutsche Ausgabe von Radis Buch ist in Reichenberg 1928 erschienen. Die tschechische Originalausgabe aus demselben Jahr (Prag) trägt im Titel das Wort »Krieg4 statt »Kampf 4: Vâlka Cechu s Nëmci.

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Fragen während der dreißiger Jahre nicht ernst erwogen hätte. Sein Urteil über BeneS ist knallhart: „Benes aber Heß sich durch Tagesgeschehnisse blenden, war von der Agitation Henleins fasziniert, mit der Abwehr der Runcimanschen Mission beschäftigt und schloß wertlose Pakte, die auch unsere Verbündete aus der »Kleinen Entente* gegen uns aufbringen mußten. Als dann 1938 in München die Stunde der Entscheidung schlug, versagte er kläglich, statt sie als einzigartige historische Chance wahrzunehmen. Der Generalstab hatte ihm klarzumachen versucht, daß wir im Alleingang zwar unterhegen würden, ihn aber dennoch wagen müßten. Doch Benes hat aufgegeben und dadurch das moralische Rückgrat unserer Gesellschaft, die zum Kampf bereit war, nicht nur für den Augenblick, sondern für lange Zeit gebrochen... Ich sage, daß die Bevölkerung zu größten Opfern bereit war, daß sie kämpfen wollte, auch allein und ohne Verbündete... Nationalisten und Kommunisten trafen sich in ihrem Zorn und in der energischen Ablehnung des Münchener Abkommens. Aus der sozialen Struktur der tschechischen Gesellschaft folgt wohl, daß aus ihr nur selten und wie durch Zufall führende Persönlichkeiten erwachsen, die bereit sind, große Risiken einzugehen und große Verantwortung zu übernehmen, besonders wenn es um Leben und Tod von vielleicht Mülionen von Menschen geht. Durch entschiedenes Handeln hätte man, wie wir heute wissen, den Krieg abkürzen und die Zahl der Opfer niedriger halten können. Kein einziges der kleinen Völker, die es wagten, in Zeiten wie diesen dem Giganten zu trotzen, wurde vollständig aufgerieben, wie das Beispiel Finnlands am besten beweist. Schlecht aber ergeht es jenen, die sich nicht wehren. Wir haben während des Krieges an die 300.000 Opfer im Widerstand gehabt... das Mißverhältnis zwischen Opfern und Resultaten ist schreiend. ..." 4 5

Die Geschichte hat ihren vollen Kreis erreicht, wo ihr Kleines und Großes vorlag. Patoöka zählt unter dem »Kleinen4 die Borniertheit des Adels, seine Habgier und sein mangelnder Sinn für den Staat auf. Die kleinen Mittel, mit denen das kleine Tschechentum das Große anstrebte, sind ihm zum Verhängnis geworden. Die bittere Not einer Entscheidung auf Leben und Tod wollten sich die Tschechen ersparen und sind dadurch zum Spielball der anderen zynischen Nachbarn und Mächte geworden. So scheinen nach Patoöka die Tschechen, diese „von oben befreiten Knechte 44, die große Gelegenheit, die die Geschichte den kleineren Völkern einschenkt, tatsächlich verpaßt zu haben, „ihre Freiheit nachträglich selbständig zu erringen, 44 wie man in der Faustischen oder Hegeischen Sprache sagen würde. 46

45 46

Ebenda, S. 219. Ebenda, S. 221 f.

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I V . Böhmen und der Reichsgedanke

Die dritte Dimension der beiderseitigen deutsch-tschechischen Beziehungen beruht auf einer „universalen Verknüpfung", die man kaum mit einem Satz beschreiben kann. Es handelt sich um die zeitlich längste Verbindung des tschechischen Staates mit dem Regnum Teutonicum, die von einem sehr intimen Charakter gewesen war. Unter allen Nachbarn Deutschlands hatten die Tschechen ihre längste Grenze mit einer tausendjährigen Verbindung in verschiedenen Varianten. Dank dieser engen Verbindung mit dem „Heiligen Römischen Reich der deutschen Nation" wurde der tschechische Staat in den Kreis der Premianten des Orbis Europaeus Christianus miteinbezogen. Der Herzog von Böhmen (seit 1158 zum König erhoben) befindet sich an der Spitze aller westlichen Reichsfürsten (Principes Imperii). Der Kurfürstentitel erlaubte ihm nicht nur das Oberhaupt des Reiches, den deutschen König alias römischen Kaiser zu wählen, sondern auch selbst gewählt zu werden, was auch unter den Dynastien der Luxemburger und Habsburger erfolgt. Kein Wunder, daß die heutigen Befürworter der Anknüpfung der Tschechischen Republik an die Europäische Union und NATO diese längst vergessene und nach 1945 heftig verurteilte Kontinuität trotzdem wieder erwähnen. Der berühmte tschechische Historiker FrantiSek Palacky (1789 - 1876) hat in seinem bekannten Absagebrief an das Frankfurter Parlament die Reichsverbindung von Böhmen bewußt aus politischen Gründen heruntergespielt. Wie eng war sie in der Tat im Zeitalter des Nationalismus? Man konnte die Kontinuität der Metamorphosen des Reiches ohne Schwierigkeiten auch nach der Auflösung des Altreiches 1806 weiterverfolgen: Der von Napoleon ins Leben gerufene Rheinbund (Confédération du Rhin 1806 1815); der Deutsche Bund (1815 - 1866), dessen Mitglied das Kaiserreich Österreich mit Königreich Böhmen gewesen waren; der unter preußischen Führung etablierte Norddeutsche Bund (1866 - 1871); das Bismarcksche „Zweite" Reich (1871 - 1918); danach aber folgte das ungeheure „Dritte" Reich (1933, bzw. 1938 - 1945), das die erste Tschechoslowakische Republik zerstörte und an seiner Stelle ein Reichsprotektorat errichten ließ. Der Begriff des Deutschtums wird im Zeitalter der Weltkriege identisch mit der Ideologie, die sich um die Hegemonie über Gesamteuropa bemüht und schließlich - über die ganze Welt. Negative Derivate des Reichsgedanken multiplizieren sich im Zeitalter des Imperialismus. Der eigenständige und unvergleichbare Reichsgedanke, geholfen vom metaphysischen Glanz des Reichsmythos, erzeugt weitere parallele Gedanken von großräumigen Vorstellungen: z.B. den „Drang nach Osten"47, mit der expansiven Konzeption von Mitteleuropa48, die Achse Berlin-Baghdad und schließlich auch die Großraumwirtschaft. In der letzten Inkarnation figurierte das Reich im Gewand der

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von Himmler erträumten vier Stufen: Vom Großdeutschen Reich über das „heilige Germanische Reich der Deutschen Nation", dann das „germanischgotische Reich" bis zum Ural, und dann vielleicht auch noch das „Gotischfränkisch-karolingische Reich". 49

Um die Verbindung zwischen Böhmen und dem restlichen deutschen Territorium besser zu begreifen, ist es notwendig, die verschiedenen Aufgaben des Imperium Sacrum hier aufzuzählen 50. Das Reich wurde vor allem als Schutzmacht des christlichen Abendlandes gegen die Angriffe der Ungläubigen aus dem Osten betrachtet. So wurde auch seine Hauptfunktion für die „österreichische Phase" des Ersten Reiches von dem führenden böhmischen Historiker F. Palacky verstanden (Österreichs Staatsidee, 1865); in Analogie dazu wurde im wilhelminischen ('Zweiten4) Reich das Schlagwort Schutz vor der „Gelbe Gefahr" geprägt. Im Dritten Reich wurde der Reichsgedanke als Legitimationsanspruch angewendet: Die Deutschen als auserwähltes Volk sind zu der neuen Herrenrasse mit unbegrenzten Herrschaftsansprüchen aufgerückt. Mit dem deutschen Einmarsch in Prag erklärte Hitler, „daß seit einem Jahrtausend dieses Gebiet im Lebensraum des deutschen Volkes liegt. 4 4 5 1 In Wir lichkeit handelte sich um eine anachronische Erneuerung eines einseitiges Lehnverhältnisses: In Zukunft sollten es die Deutschen sein, die diktierten und die Tschechen diejenigen, die gehorchten. Ein Tag vorher hatte in Berlin der unter starken psychischen Druck gesetzte tschechoslowakische Präsident Emil Hacha, viel schlimmer als ein Vasall im Mittelalter, „das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes ver-

47 Nur die zwei jüngsten wichtigsten Veröffentlichungen: Henry C. Meyer, Drang nach Osten: Fortunes of a Slogan-Concept in German-Slavic Relations, 1849 - 1990, Bern 1996; Wolfgang Wippermann, Der deutsche Drang nach Osten: Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981; Wojciech Wrzesinski,: Sasiad czy wrog? Ze studiow nad kszaltowaniem obrazu Niemca w Polsce w latach 1795 - 1939, Breslau 1992. 48 In knapper Auswahl nur die wichtigsten Monographien: Erhard Busek / Emil Brix, Projekt Mitteleuropa, Wien 1986; M. Kundera , The Tragedy of Central Europe, in: The New York Review of Books, 26 April 1984; Henry C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815 - 1945, The Hague 1955; Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915; Sven Papcke / Werner Weidenfeld (Hrsg.): Traumland Mitteleuropa? Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse, Darmstadt 1988; Karl Schlögel, Die Mitte hegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986; Renate Riemeck, Mitteleuropa. Büanz eines Jahrhunderts, Potsdam 1990. 49 Jost Hermand, Der Alte Traum vom neuen Reich, Frankfurt/M. 1988, S. 326. 50 Vgl. Lothar Kettenacker, Der Mythos vom Reich, in: Mythos und Moderne, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt/M. 1983, S. 261-289. 51 Hauner 1983, S. 138 f.

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trauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches " gelegt und von ihm im Gegenzug das Versprechen erhalten, „daß er das tschechische Volk unter den Schutz des Deutschen Reiches nehmen und ihm eine seiner Eigenart gemäße autonome Entwicklung seines völkischen Lebens gewährleisten wird. " 52

Damit war die Schutzfiinktion des Altreiches in eine aggressive „Heimholung" in Hitlers Dritte Reich umgeschlagen. Über 17 Millionen sogenannte Volksdeutsche lebten in den benachbarten Staaten des Deutschen Reiches, d.h. in Österreich, Polen,der Tschechoslowakei und im restlichen Osteuropa mit der Sowjetunion. Die irredentische Bewegung in den größeren Siedlungsgebieten der Volksdeutschen wurden von der Berliner Zentrale (Volksdeutscher Rat und seit 1936 sein Nachfolger, die Volksdeutsche Mittelstelle, Arthur Rosenbergs Außenpolitisches Amt der NSDAP, Ernst Bohles Auslandsorganisation der NSDAP) finanziell und propagandistisch unterstützt; ,Vomi' war direkt den außenpolitischen Zielen Hitlers unterstellt.53 Aber auch entlang der westlichen Grenze des Reiches lebten nicht weniger als 17 weitere Millionen von „germanischen Menschen", die Skandinavier, Niederländer, Schweizer, Flamen, die vorübergehend „reichsfremd" bis „reichsfeindlich" waren, dessen „biologische Substanz" aber gerettet werden sollte.54

Nebst der Zuchtfunktion erschien das Dritte Reich auch eine Ordnungsmacht.55 Die besetzten Gebiete wurden in die folgenden Gebiete aufgeteilt: ein Reichsprotektorat und ein Generalgouvernement, mehrere Reichskommissariate und Zivilverwaltungsgebiete. Es wäre einfacher, den „Reichsgedanken" als ein reaktionäres Pigment der Phantasie und Produkt der reaktionären deutscher Geschichtsphilosophie herunterzuspielen. Das wäre die Aufgabe eines Propagandisten; der Historiker kann sich damit nicht zufrieden geben. Lassen wir zuerst die Quellen sprechen. Aus der Perspektive des Entscheidungsjahres 1942 standen die Aufgaben des Reiches in der weitverbreiteten Version des „Volks-Brockhaus" z.B. so definiert: „Führer- und Schutzmacht Europas zu sein... durch seine Autorität, die europäischen Völker zur Gemeinschaft zu verbinden". Ferner hieß es: „Die volle Verwirklichung des Reichsgedanken ist das Werk des Nationalsozialismus. Er hat durch die Bildung des Großdeutschen Reiches den deutschen Lebensraum geeint und ist von hier aus im Bund mit dem faschistischen Italien an die Aufgabe der grundlegenden Neuordnung

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Deutsche Allgemeine Zeitung, 16. März 1939, Nr. 127. Siehe Einzelheiten in: Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933 - 1938, Frankfurt/M. 1968. 54 Kettenacker, S. 275. 55 Vgl. K.R. Ganzer, Das Reich als europäische Ordnungsmacht, Hamburg 1942. 53

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Europas herangetreten. 44 Demzufolge befände sich „Europa" - nach der raschen Niederwerfung Polens und Frankreichs - in einer Vorstufe des Neuaufbaues von der „beherrschenden Mitte des Erdteils her, unter der Führung Deutschlands als dem natürlichen Herzland Europas": „Zur Rettung der europäischen Kultur vor der bolschewistischen Gefahr nahm es [das Deutsche Reich] 1941 den Entscheidungskampf gegen die Sowjetunion auf, unterstützt von den Truppen und Freiwilligen der meisten Länder Europas, in deren Beteiligung zum erstenmal eine neues europäisches Gemeinschaftsbewußtsein deutüchen Ausdruck fand („Großdeutscher Freiheitskampf"). Ein neues Europa zeichnet sich in den Grundzügen bereits ab, in dem die verbündeten Großmächte Deutschland und Italien den Schutz der kleinen Staaten übernehmen, ihre widerstreitenden Interessen auf friedlichem Wege ausgleichen und die Kleinstaaten verhindern, eine Politik mit raumfremden Mächten gegen die natürliche Mitte Europas zu treiben. Hier verwirklicht sich zugleich die Idee des Reiches als der besonderen Aufgabe, die dem deutschen Volk, dem Führer- und Schutzvolk Europas, zugewachsen ist; das Reich bedeutet die ausgewogene Gliederung des europäischen Großraums vom deutschen Kernraum aus, es sichert in ihm den Frieden und damit die politische und kulturelle Entwicklung der Einzelvölker. " 5 6

Der laut diesem Katechismus des Dritten Reiches „Großdeutsche Freiheitskampf" entfaltete sich, nach der Vorbereitungsphase der Anschlüsse von Österreich und dem Sudetenland, der Zerstörung der Tschechoslowakei, etappenweise in Feldzügen, die jeweils zur Eingliederung bzw. Unterwerfung des eroberten Gebietes dienten. Nach den blitzartigen Feldzügen gegen Polen, Dänemark und Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich, Jugoslawien und Griechenland, überfiel Hitler in einem europäischen Kreuzzug am 22. Juni 1941 die Sowjetunion.57 Die Forschung, geleitet vor allem von westdeutschen Historikern, hat eindeutig festgestellt, daß das Ziel des im Osten begonnen Vernichtungskrieges die Errichtung eines auf rassistischer Basis angelegten „Großgermanischen Reiches" sein sollte, das in der Fortsetzung der imperialistischen Vorstellungen der 3.OHL von 1918 weit über die Grenzen des üblichen Mitteleuropa-Konzepts hinausging. Andreas Hillgruber hat als erster die vier Motive in Hitlers Ostkriegskonzeption herausgearbeitet und 1972 der Forschung vorgelegt.58 Als die erste Aufgabe galt „die Ausrottung der jüdisch-bolschewistischen4 Führungsschicht einschließlich ihrer angeblichen biologischen Wurzel, der Millionen Juden in Ostmitteleuropa". Zweitens, die Gewinnung von Kolonialraum für deutsche Siedler... Drittens, die Dezimierung der slawischen Massen und ihre Unterwerfung unter die deutsche Herr-

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Der Volks-Brockhaus. Sachwörterbuch für jedermann, Leipzig 1943, S. 191 u.

569. 57

Der Volks-Brockhaus, S. 267-271; Hermand, S. 321 f. Am prägnantesten Andreas Hillgruber, Die „Endlösung" und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: VjfZg, Bd. 20, 1972, S. 133-153, hierS. 140. 58

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schaft in vier Staatsgebilde, den Reichskommissariaten Ostland, Ukraine, Moskowien und Kaukasien, unter der Führung deutscher ,Vizekönige4, wie sich Hitler in Anlehnung an sein Ideal einer Kolonialherrschaft, der Rolle Englands in Indien, z.B. in seinen Tischgesprächen, ausdrückte.59 Schließlich viertens, die Errichtung der Autarkie auf der Basis eines blockadefreien Großraums in Kontinentaleuropa unter deutscher Herrschaft... 44 Joseph Goebbels4 Organ „Das Reich44 hat den Bildungsschichten Mitteleuropas eine durchaus erfolgreiche und intellektuell anspruchsvolle Version des Reichsgedankens in den Kriegsjahren präsentiert. Aus Hitlers Perspektive sollte das künftige Germanische Großreich im Osten auf einer brutalen Vision der rassischen Umgestaltung aufgebaut sein. Es war nicht nur Himmler, der die Juden, Zigeunern und die meisten Slawen in diesen Gebieten liquidieren wollte, auch Hitler war für eine gnadenlose Durchsetzung der „NS-Blut und Boden44-Theorien, einschließlich der Anwendung der Taktik der verbrannten Erde gegen alle russischen Großstädte (Moskau und Leningrad wurde ausdrücklich von Hitler genannt).60 Immerhin, je mehr es auf das Ende des Dritten Reiches zuging, umso verzweifelter war die Anrufung des Reichsmythos, der jetzt den antibolschewistischen Kreuzzug Europas mit dem christlichen Appell an ,das Reich4 im Allgemeinen, oder sogar metaphorisch an Hitler, als Retter des Abendlandes zu verbinden versuchte. Wie die ethnographische Rekonstruktion („rassische Neugestaltung44 in der Sprache des 3. Reiches) in diesen Ostguberaien des Großgermanischen Reiches nach dem Abschluß des Ostfeldzuges aussehen sollte, darüber sind wir durch die verschiedenen Entwürfe des Generalplans Ost unterrichtet, der sich mit der Deportation bzw. Germanisierung von Millionen Slawen beschäftigt. Nach der späteren Version des Generalplans Ost, die das RSHA in April 1942 vorgelegt hat, sollten ca. 31 Millionen Slawen ausgesiedelt und die restlichen 14 Millionen germanisiert werden. Deportationen nach Sibirien sollten 80 85% Polen, 75% Weißrussen, 65% Ukrainer... und ca. 50% Tschechen betreffen. 61 Unter den militanten sudetendeutschen Historikern war es Josef Pfitzner (1901 - 1945), Professor an der Deutschen Universität in Prag, der an der 59

„Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein! u usw... in: Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941 - 1942, hrsg. von Andreas Hillgruber, München 1968, S. 30; siehe auch Milan Hauner, India in Axis Strategy: Germany, Japan, and Indian Nationalists in the Second World War, London / Stuttgart 1981, S. 32 f. u. 434 f. 60 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche; Adolf Hitler: Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, hrsg. von Werner Jochmann, Hamburg 1980. 61 Helmut Heiber, Der Generalplan Ost, in: VjfZg, 6, 1958, S. 281-325; Dokumente zur deutschen Geschichte 1939 - 1942, hrsg. von W.Ruhe / W.Schumann, Frankfurt/M. 1977, S. 114.

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Spitze der offiziellen Propaganda stand, die Böhmen und Mähren als feste Bestandteile des Reiches aus dem Standpunkt der Blut-und-Boden-Politik interpretierte. Als stellvertretender Bürgemeister während des Krieges bemühte sich Pfitzner Prag einzudeutschen und zwar nach dem Leitmotiv: „Entscheidend sei nicht, ob die Deutschen in einer Stadt die Mehrheit bilden, sondern daß sie die Weltkultur verkörpern. " 62 Auch unter den tschechischen Kollaborateuren gab es im Protektorat ,reichsfreundliche 4 Elemente, die sich durch vorsichtige Formulierungen des historischen Verhältnisses zwischen Böhmen und dem Reich eine gewisse Milderung in der Politik der deutschen Besatzungsmacht im Protektorat versprachen. So erwähnte Präsident Hächa im Anschluß auf den am Vormittag des 16. März 1939 von der deutschen Besatzungsmacht beschlossenen Erlaß zur Errichtung des Protektorats von Böhmen und Mähren, in seiner Rundfungsansprache zum ersten Mal einen Passus von der Reichszugehörigkeit Böhmens als einem „fundamentalen Element unserer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung.44 Der Paragraph endete mit Hächas Wunsch, daß diese neuerrichtete Verbindung auch die Erneuerung des historischen Reichsverbandes sei.63 Laut dem tschechischen Historiker TomâS Pasâk, waren die „Reichspassagen44 dem Präsidenten in seine Rundfunkrede von seinem politischen Berater Dr. Josef Kliment (1901 - 1978) hineingeschmuggelt. Kliment, der selbst einige Tage darauf einen Zeitungsartikel, „Das heilige römische Reich wird renoviert 44, unter seinem Namen veröffentlichte, gilt daher als einer der Initiatoren der programmatischen Kollaboration mit den Deutschen.64 In wie weit aber Hächa selbst diese „Reichslinie44 mit der böhmischen Reichsverbindung bewußt aus taktischen Gründen zur Erleichterung des Schicksals der eigenen Bevölkerung adoptierte, läßt sich nur sehr schwer festzustellen. Aus ideologischen Gründen wäre eine reine pronazistische Orientierung bei dem ehemaligen kaiserlichen Geheimrat vom Obersten Verwaltungsgericht in Wien kaum denkbar. Hächas nächster Vortrag, der in der „Mitteleuropäischen Rundschau44 am 27. März 1939 erschien, erwähnte die Reichsverbindung mit keinem Wort. Demgegenüber räsoniert seine Rede zur Errichtung der Zollunion zwischen dem Reich und dem Protektorat am 1. Oktober 1940 durch eine Huldigung der Reichzugehörigkeit. Illusorisch be-

62

J.W.Brügel, Tschechen und Deutsche 1939 - 46, München 1974, S. 222. Tschechischer Wortlaut Hächas Rede v. 16. März 1939 in: Josef Kliment, Nachlaß, Karton 23-24, Nationalmuseum-Archiv, Prag; vgl. auch neulich Tomas Pasâk: JUDr.Emil Hächa 1938 - 1945, Prag 1997, S. 68, und Dusan Tomasek / Robert KvaÖek, Causa Emil Hächa, Prag 1995, S. 40. 64 Narodni Politika, 19. März 1939; siehe auch Kliments Veröffentlichung: das Verhältnis Böhmens und Mährens zum Reiche in der Geschichte, in: Europäische Revue, Stuttgart, Juli 1941. Vgl. Pasâk , 1997, S. 68 u. 72; auch bei Jan Gebhart /Jan Kuklik, Dramatické i vsedni dny Protektorate, Prag 1996, S. 10. 63

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grüßte er die wirtschaftliche Verbindung in der Erwartung, „Deutschlands Seehäfen sind jetzt auch unsere geworden". 6 5

daß

Paradoxerweise zur selben Zeit, als der Völkermord der Juden, Zigeuner, und allmählich auch der Slawen als die Grundvoraussetzung für die NS-Lebensraum Rekonstruktion im Osten erbarmungslos voranging, übten die Epigonen und Kollaborateure, die Praktikanten des kleineren Übels, ihre Versuche die Reichsidee der nichtdeutschen Bevölkerung weiter schmackhaft zu machen. Im Falle der böhmischen Elite, die die deutsche Okkupation überleben wollte, war jedes Gebot heilig, um eigene Leute vor dem KZ-Lager bzw. der Hinrichtung zu retten. Einer der gemäßigten Kollaborateure war der Gendarmeriegeneral Josef Je2ek, der nach der Verhaftung von General EliäS, dem Premierminister, wegen geheimen Radiokontakten mit der BeneS-Gruppe in London, auch seine Stelle als Innenminister aufgeben mußte. Während seines letzten Vortrages bei Heydrich beschwerte sich JeZek über die offene sinnlose Durchführung der Eindeutschung. Heydrich argumentierte mit dem Führererlaß zugunsten der Kriegsinteressen Deutschlands. Als ihn Jeiek bat, ihm den Zusammenhang mit Deutschlands Kriegsinteressen und der deutschen Umschreibung der öffentlichen Klos zu erklären, bekam Heydrich einen Wutanfall. Am nächsten Tag erfuhr Jeiek, daß er seinen Posten verloren hatte. Er war eigentlich froh, daß ihn Heydrich nicht wegen Hochverrat verhaften ließ.66 Neben den „Kollaborateuren aus Vernunft" befanden sich „Kollaborateure aus Leidenschaft", unter ihnen der ehemalige Oberst im Generalstab der Armee, Emanuel Moravec, der als Leitfigur galt. Moravec, der im Weltkrieg Rußland-Legionär war und der fähigste Militär-Journalist während der Ersten Republik geworden war, hatte sich nach München für Hitlers Deutschland entschieden. Er avancierte zum Chef der Propaganda im Protektorat („Volksaufklärung") und plädierte für eine totale Eingliederung Böhmens und Mährens ins Reich unter dem Banner des Hl.Wenzels. Seine weitere Ernennung im Januar 1942 zum Unterrichtsminister, die von Heydrich gegen Hächas Bedenken durchgesetzt wurde, ermöglichte Moravec neue Lehrpläne in die tschechischen Schulen einzuführen, wobei Erziehung zum Reichsgedanken zum Unterrichtsprinzip in allen Fächern erhoben worden war. 67 Die 65

Kliment Nachlaß: Ms. „Obètovany president" (Der geopferte Präsident), S. 198-208. 66 Veröffentücht in Dèjiny a souöasnost, 10, 1968, S. 47. 67 Der widerspruchsvolle Emanuel Moravec hat schon längst eine Biographie verdient, aber noch nicht erhalten. Siehe die ersten Versuche: Jan Tesaf, „Zachrana naroda a kolaborace" , Dëjiny a souöasnost 5, 1968; ders., „Emanuel Moravec aneb logika realismu", ibid., 1, 1969; ders., „Üötovani s dablem", ibid., 5, 1969; Jaroslav Hrbek: Emanuel Moravec anebo konstrukce a skuteönost, ibid., 5, 1969. Ferner auch Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, 2 Bände, München 1969

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systematische Erpressung und Eindeutschung der Tschechen ging nach der Schließung der sämtlichen tschechischen Hochschulen in November 1939 schnell voran; sie erreichte ihren Höhepunkt mit den Vergeltungsmaßnahmen nach dem Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich Mitte 1942 in den Massenerschießungen der tschechischen Intelligenz und der Zerstörung vom Dorf Lidice. Es war nur eine Frage der Zeit, vielleicht weniger als eine Generation, wann nach dem Endsieg der böhmischmährische Raum restlos eingedeutscht gewesen wäre. 68 V . Traumland Mitteleuropa

Das rein »geopolitische4 Denken mit dem Konzept von Mitteleuropa als Brennpunkt der deutschen kontinentalen Außenpolitik hat seinen Höhepunkt erst während der globalen Kriegsführung in dem großen gesamteuropäischen Konflikt erreicht, der Mitte 1914 ausbrach. Aber schon vor der Revolution 1848 waren es die Geographen, die Volkswirtschaftler um Friedrich List, und natürlich Deutschlands Schullehrer seit dem Befreiungskampf gegen Napoleon, die alle von einem gewissen deutschen Mitteleuropa4 schwärmten, das bis zum Schwarzen Meer ausgreifen würde. Nebst dem politischen, wirtschaftlich und militärisch strategischen Gesichtspunkt hat sich auch in der damaligen Mitteleuropa-Vorstellung der deutschnationale Gesichtspunkt durchgesetzt, in diesem breiten Kulturraum sich auf die deutschstämmige Minderheiten, und auch auf die prodeutschen kulturellen Eliten (unter ihnen zählten paradoxerweise die osteuropäische Juden als die stärksten!) sich zu stützen. Bezeichnend hier war die Vorstellung von Mitteleuropa bei Constantin Frantz (1817-1891), dem großen Gegenspieler von Bismarck, der sich noch durchaus eines vormodernen Vokabulars bediente, das Mitteleuropa als kulturbegriff in der Tradition des Heiligen Römischen Reiches verstanden hat - also übernational und durchaus unvereinbar mit der Errichtung eines deutschen Nationalstaates, die Frantz sein ganzes Leben konsequent bekämpft hat. Denn für Frantz, der in Warschau als Konsul diente und die polnische Sprache erlernt hatte, war es schon um 1848 klar daß es in der Zukunft darauf ankomme, die Polen und die Donauslawen (die Tschechen wurden als unproblematisch angesehen) dazu zu bringen, sich statt dem russischen Großreich an das »Deutsche Reich4, d.h. Preußen und Österreich gemeinsam, anzuschließen, weil sonst Asien bis an die Elbe reichen würde (die Gelbe Gefahr!). u. 1975; dazu noch Pasâk 1997, und derselbe: „Dëjiny a pamèf - odboj a kolaborace za 2. svëtové vâlky" (Geschichte und Erinnerung - Widerstand und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg), in: Cahiers du Cefres, Prague, no. 6, März 1995. 68 Vgl. Nittner, Dokumente: Nr. 183-7, 192-3. Auszüge aus zwei Reden Heydrichs an die höhere Beamtenschaft im Protektorat v. 2. Oktober 1941 und 4. Februar 1942, in Dëjiny a souëasnost, 2(1969).

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Frantz4 Vorschlag für eine dreiteilige Föderation: preußisch-polnische, österreichisch-südslawische und süddeutsche, war aus der Perspektive der bisherigen Erfahrung wahrscheinlich die vernünftigste. 69 Es war jedoch Friedrich Naumanns Bestseller „Mitteleuropa" (1915), in dem das Traumland des deutschen Kontinental-Imperialismus in seinen damals noch beschränkten Grenzen vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer enthüllt wurde. Es handelte sich also um den Raum, der militärisch, wirtschaftlich und politisch zu dieser Zeit von Deutschland im Tandem mit seinem Juniorpartner, Österreich-Ungarn, kontrolliert wurde. Es war vor allem die Vorstellung der Wirtschaftsexperten, die im Ersten Weltkrieg mit dem mitteleuropäischen „Großwirtschaftsraum" als einem gewissen „vierten Weltreich" neben den USA, dem Britischen Reich und dem Russischen Reich experimentierten, 70

die auch weiter nach der Niederlage 1918 die Kontinuität sicherten . Infolgedessen diente »Mitteleuropa4 als Sammelbegriff, der zuerst eine wirtschaftliche, und später auch politische, (Zoll-) Union des Nach-1918-Reichs mit den österreichisch-ungarischen Nachfolgestaaten und dem restlichen Balkan, sowie mit Polen und dem Baltikum erreichen wollte. Es bedurfte keiner besonderen Phantasie, um zwischen den Zollunionsplänen innerhalb des deutsch-österreichischen Anschlußvorhabens und dem „Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa" 7 1 eine gewisse Verbindung zu sehen. Wir haben hier, keinen Raum, um die Vorstellugen eines ideologiefreien Ökonomen wie John Maynard Keynes im bezug auf Mitteleuropa vorzustellen; er soll wenigstens im Zusammenhang mit den älteren Projekten des mitteleuropäischen Zollvereines erwähnt werden.72 Als der Nationalsozialismus in Deutschland nach 1933 mit seinem Konzept von Lebensraum, ,Blut- und Boden4-Romantik, der ,rassischen Neugestaltung4 usw. die Oberhand gewann, ist die »Mitteleuropa4-Frage ein untergeordneter Teil der NS Geopolitik geworden, und dadurch ein Element der Kontinuität der ideologischen politischökonomischen Entwicklung in Deutschland von 1871 bis 1945. Leider war

69 Manfred Ehmer, Constantin Frantz - Die politische Gedankenwelt eines Klassikers des Föderalismus, Rheinfelden 1988. 70 Herbert Matis, Wirtschaftliche Mitteleuropa-Konzeptionen in der Zwischenkriegszeit, in: Mitteleuropa-Konzeptionen in der Ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. von R.G. Plaschka et al., Wien 1995, S. 229-255. 71 Zitiert bei Harro Molt , „...Wie ein Klotz inmitten Europas" - Anschluß und Mitteleuropa während der Weimarer Republik 1925 - 1931, Franfurt/M. 1986, S. 218. 72 Im Gegensatz zu Masaryk dachte Keynes an Mitteleuropa als eine ökonomische Einheit, für die er auch nach dem verlorenen Krieg statt Aufsplitterung eine Einigung durch eine Art vom ,Zollverein* sich vorstellte, von ihm ,Free Trade Union of Central Europe' genannt. Siehe: The Economic Consequences of the Peace (1919), hier aus der 1988 in London erschienenen Ausgabe zitiert, insbesondere S. 265-269.

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die politische Bereitschaft zu Kompromissen bei den Nachfolgestaaten zu schwach, um den reichsdeutschen Mitteleuropa- und Anschlußmachinationen mit adäquaten Gegenprojekten, z.B. für eine Donauföderation (Tardieu-Plan 1932, Hodia-Plan 1936) zu widerstehen. Auf der tschechischen Seite, besonders bei Außenminister BeneS, überwog die Angst, daß eine Donauföderation nur die Vorstufe zu der Restaurierung der Habsburger Monarchie sei. Eine Donauföderation hätte wohl nur dann ökonomisch eine Realisierungschance gehabt, wenn es gelungen wäre, Deutschland miteinzubinden, was jedoch aus politischen Gründen, u.a. von Frankreich, Italien, und der Tschechoslowakei abgelehnt wurde. Seit dem Anlaufen von Hjalmar Schachts „neuem Plan" gelang es Deutschland, mit Hilfe des elementarsten Handelsinstruments, den bilateralen Clearing-Verträgen mit den südosteuropäischen Agrarländern, die bereit waren, deutsche Konsumwaren als Gegenleistung für die Abnahme von Rohstoffen und Agrarprodukten abzunehmen, die deutschen Exporte in die Donau- und Balkanländer nahezu vervierfachen. 73 Dadurch wurde auch das primäre Ziel der deutschen Außenpolitik in diesem Raum, nämlich die Schwächung bzw. Abschaffung des französichen Sicherheitssystems mit anscheinend nichtpolitischen Mitteln innerhalb von einigen Jahren erreicht. 74 Es stimmt natürlich, daß die nationalsozialistische Politik eine endgültige Diskreditierung des Reichsgedanken und der verschiedenen deutschen Varianten der Mitteleuropapolitik und damit zugleich auch der Mitteleuropaidee als solcher bedeutete, weil diese doch so maßlos zur Rechtfertigung der „germanischen Herrenrasse" und Errichtung eines megalomanischen Großreiches im Osten mißbraucht wurde. Zugleich meint aber der Düsseldorfer Historiker Wolfgang Mommsen, daß man sich „wieder der älteren, universalistischen Variante der ,Mitteleuropaidee4 erinnern sollte, nachdem offenbar geworden ist, daß der aggressive homogene Nationalstaat in die Katastrophe zweier Weltkriege geführt hat. " 7 5 Kann nach der Vernichtung des Dritten Reiches und der äußersten Diskreditierung von , Mitteleuropa4 noch überhaupt ein überstaatliches Konzept von den meisten Osteuropäern angenommen werden? Der Versuch neben den „deutschen44 Mitteleuropaprojekten auch „nichtdeutsche" Projekte zu verwirklichen, war nicht erfolgreich (z.B. die Kleine Entente, DonauföderationProjekte, tschechoslowakisch-polnische Konföderation), führte schon während der Kriegszeit unter den Polen und Tschechen im Exil zu einer Annäherung und schließlich zu Besprechungen in Richtung einer polnisch-tschechoslo73

Matis, S. 254. Piotr S. Wandycz, The Twilight of French Eastern Alliances, 1926 - 1936, Princeton 1988. 75 Wolfgang J. Mommsen, Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges, in: Plaschka, S. 24. 74

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wakischen Konföderation. Diese Pläne stießen aber während des Krieges auf eine immer stärkere Ablehnung Moskaus, der als erster der tschechoslowakische Exilpräsident BeneS unterlag. Er bevorzugte eine unmittelbare Verständigung mit Moskau - wohin auch Stalin gleich nach dem Abschluß der Konferenz von Teheran in Dezember 1943 ihn einlud - und damit auch die Erneuerung des Beistandpaktes zwischen der CSR und UdSSR aus dem Jahr 1935. So ging ein kühnes Konföderationsprojekt zunichte - obwohl das Projekt wahrscheinlich selbst bei den Tschechen und Polen an den mehreren Streitfragen (Teschen!) gescheitert wäre. Immerhin führte aber Stalins Druck und die Nachgiebigkeit der Anglo-Amerikanera (die Britische Regierung unterstützte anfangs die Konföderationspläne der verschiedenen Exilregierungen) auch zu der Vereitelung von anderen Konföderationsplänen auf dem Balkan.76 Die Architekten der Westeuropäischen Integration haben aus diesen Mißerfolgen ihre Lehre gezogen.77 Nur die übernationale Dimension der westeuropäischen Integration mit dem Gemeinsamen Markt im Anfangsstadium, der zur voller Integration innerhalb einer Zoll-und Währungsunion allmählich in vier Jahrzehnten ausgebaut wurde, hatte Aussicht auf Erfolg. Merkwürdigerweise kam es zu einer Wiedergeburt von Mitteleuropa in der Mitte der achtzigen Jahre mittels einer Diskussion zwischen beiden Flügeln der bipolaren Welt: es wurde einerseits von deutschen Politikern und Praktikanten der »Ostpolitik4 als ein Instrument der deutschen politischen Selbstbehauptung gegen die amerikanische Übermacht innerhalb der Atlatischen Allianz gebraucht, anderseits von den osteuropäischen Dissidenten als kulturelle Selbstbehauptung einer „differenzierten Zivilisation" (gemeint im Gegensatz zu dem uniformen Anstrich der sowjetisch-kommunistischen Welt) repräsentiert, so durch die Intellektuellen des böhmischen Untergrundes seit Anfang der achtziger Jahre.78 Die berühmtesten Texte stammen von dem tschechi-

76 Inzwischen ist die Literatur über die tschechoslowakisch-polnische Konföderation angewachsen: Piotr S. Wandycz, Czechoslovak-Polish Confederation and the Great Powers 1940 - 1943, Bloomington 1956; Edward Taborsky, A PolishCzechoslovak Confederation: A Story of the First Soviet Veto, in: Journal of Central European Affairs 9/4 (1950) S. 379-395; Detlef Brandes, Großbritannien und seine osteuropäischen Allheiten 1939 - 1943, München 1988; Tadeusz Kisielewski, Federacja srodkowoeuropejska, Warschau 1991; Czechoslovak-Polish Negotiations of the Establishment of Confederation and Alliance 1939 - 1944, hrsg. von Ivan Stoviöek / Jaroslav Valenta , Prag 1995. 77 Walter Lipgens, Die Anfange der europäischen Einigungspolitik 1945 - 1950, Stuttgart 1977. 78 Wie z.B. die Essays von Josef Kroutvor, „Stfedni Evropa: torzo omflané historii," (Ein Torso von der Geschichte unterspült), in: Svëdectvi (Témoignage), 63, 1981; ferner auch von Petr Pfihoda und Petr Pithart.

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sehen Exilschriftsteller Milan Kundera79 und seinem ungarischen Kollegen György Konrâd80. Diese graue Kulturlandschaft, ist zuerst auf der Topographie der Oasenstädte aufgebaut, geographisch mit der vergangenen Habsburger Monarchie plus Baltikum eng identifiziert, d.h. ohne das ehemalige Deutsche Reich (mit der Ausnahme von Königsberg, Danzig, Breslau und Dresden), wird in der folgenden Debatte stark romantisiert. Man spricht vom „Traumland Mitteleuropa", das sich leicht zum Trauma entwickeln konnte, oder sogar von einer „Versuchsstätte für Weltuntergänge"81. Mitteleuropa ist nach Werner Weidenfeld ein „geistig-politisches Konstrukt" 82, das zu dieser Zeit ohne einen legitimen Hausbesitzer gewesen war, d.h. eigentlich hätten sich zu viele Hausbesitzer um das „geistig-politische Konstrukt" bemüht. Einer der jüngsten Beanspruchenden war die westdeutsche Linke, die im Kreuzfeuer der Auseinandersetzung in der Eurorakette- und Nachrüstung-Debatte die Ablenkung zu Mitteleuropa attraktiv fand; Otto Schilys Vorschlag zur Gründung einer „Mitteleuropäischen Friedensunion" sollte der „Entblockung Europas" helfen. 8 3 Es war aber das Verdienst des Kulturhistorikers und Slawisten Karl Schlögel, der mit seinem simplen und zauberhaften Büchlein, „Die Mitte liegt ostwärts", die psychologische Mauer zwischen östlichen und westlichen Teilen Europas überwinden wollte. Die Vieldeutigkeit des Begriffes, die wie ein Zankgapfel unter den Geographen und Politikern bewegt wird, versucht er historisch zu klären. Er akzeptiert das Städtealbum von György Konrâd und blättert durch die alten Photoaufhahmen einer vergangenen Zivilisation der drei Kaiserreiche. Er versteht sehr gefühlsmäßig Geschichte mit Gegenwart zu verbinden, ohne das Endbild zu verzerren. Er stellt die jahrhundertlange ,Zeit der Siedler4 der sechsjährigen ,Zeit der Wehrmacht4 entgegen. Die Parallelen und Kontraste sind oft grausam, aber passend: „Es bedurfte der Zerstörungskraft eines dreißigjährigen Krieges mitsamt einem Blitzkrieg-Finale, um im 20. Jahrhundert ein Netz zu zerreißen, an dem ein ganzer Kontinent Jahrhunderte gewoben hatte. In der Vernichtung des mitteleuropäischen Judentums - mit dem Deutschtum die integrative Kraft dieses Raumes - ging das alte Mitteleuropa unter. ... Von Blitzkriegen und Fluchten von heute auf morgen kann es vermutlich kein Epos geben. ...Auf die Zeit der Siedler folgt die der Wehrmacht, auf die Entsendung der Magdeburger und Bamberger Mönche die der 79 Zuerst auf französisch als „Un occident kidnappé" 1983, dann auf englisch als „The Tragedy of Central Europe M, und schliesslich auf deutsch „Die Tragödie Zentraleuropas", in: Komune: Forum für Politik und Ökonomie, 2 (1984), S. 43-52.

80

1985. 81

György Konrâd, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt/M.

Werner Weidenfeld / Erhard Busek in: Traumland Mitteleuropa?, Darmstadt 1988, S. 15 u. 87. 82 Ebenda, S. 91. 83 Peter Glotz, Manifest für eine europäische Linke, Berlin 1985.

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Stäbe der Sonderkommandos. Die Siedlungsbewegung wird ruckgängig gemacht durch die Aussiedlungsbewegung. ... Die Völkerwanderung von einst ist nichts gegen das Europa der »displaced persons'. Der Zeit der Handwerker folgt die der Zwangsarbeiter. Die Lingua franca wird zur Herrensprache, verachtet und gehaßt. Die deutsche Sprache schrumpft auf den lebensnotwendigen Bestand. Das deutsche Können wird zur Kunst des Tötens. Die technische Überlegenheit ist nun die der Panzer und der Todesfabriken.... Neben den alten Hauptstädten der Region entstehen neue: neben Wien Mauthausen, neben München Dachau, neben Berlin Oranienburg, neben Danzig Stutthof, neben Prag Theresienstadt, neben Wilna Ponary, neben Riga Kaiserwald. Und zum insgeheimen Zentrum des Riesenreiches wird eine Stadt in einem ehemaligen Herzogtum, von dem bis dahin kaum jemand Notiz genommen hatte. Auschwitz, fast am Schnittpunkt der großen Imperien gelegen, die Mitteleuropa einst unter sich aufteüten, in einem Übergangsgebiet, in dem alle Sprachen - Polnisch, Ukrainisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch - gesprochen werden, in der Übergangslandschaft von Galizien nach Schlesien, von Mähren nach Polen. Zentral und doch der Aufmerksamkeit der alten Zentren entzogen, wird die Gegend zum heimlichen Reich des Todes. ... Die kosmopoütischen Zentren verlagern sich. ... Die Mikrokosmen der hauptstädtischen Kulturen Mitteleuropas finden sich wieder im Mikrokosmos der Todesfabriken. Kaum jemand kannte bis dahin die Namen - Maidanek, Chelmno, Treblinka, Sobibor, Auschwitz. Aber dies sind die wirklichen Hauptstädte des Reiches. Ein Lebensraum als Totenreich. 8 4

Statt geopolitischen hat Schlögel die kulturellen Wurzeln entdeckt. Andere fanden in der sanften Nostalgie der Kaffeehaus-Kultur der Habsburger Monarchie die Quintessenz von Mitteleuropa.85 Mit dem Generalnenner der „k.u.k.Nostalgie" dachte man an eine zusammengebundene Kulturlandschaft, die von Czernowitz bis Triest reichte und irgendwie wieder frei vom trotzigen deutschen Pangermanismus und vulgären Panslawismus war. Die politische Botschaft war natürlich klar: Los von Moskau und mit vollen Dampf in die Post-Jalta-Welt. Man träumte wieder von einer unschuldigen Kulturlandschaft, in der niemals die Massenmörder der Nazi- und Sowjetära ihre Greueltaten ausübten. Statt KZ- und Vernichtungslagern bekleidete man die Kulturlandschaft mit Kaffeehäusern und Trafikas. Manche meinten, daß die Popularität, die Mitteleuropa in Diskussion plötzlich erfahren hatte, mehr der Unklarheit über den Begriff selbst als dem Inhalt gilt. Mit dem von tschechischen Dissidenten an Kollegen in beiden Teilen Deutschlands gerichteten Prager Appell von Mai 1985 s6, der die Vereinigung Deutschlands als die notwendige Vorstufe der europäischen Einheit postulierte, wurde die Mitteleuropadebatte stark politisiert. Niemand ahnte dabei, daß in weniger als fünf Jahren die Berliner Mauer fallen würde und daß dadurch unaufhaltsam, getrieben

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Schlögel 1986, S. 81 f. Peter Hanak, Gab es eine mitteleuropäische Identität in der Geschichte?, in: Europäische Rundschau, 2 (1986), S. 115-123. 86 Die englische Übersetzung aus dem Tschechischen erschien in: The East European Reporter, vol. 1, Spring 1985. 85

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durch den Druck der Bevölkerung von unten, die Wiedervereinigung Deutschlands stattfinden würde. Die Vereinigung Deutschlands 1990 scheint diesen Prozeß des Auffindens und Umdefinieren der gemeinsamen kulturellen Wurzeln Mitteleuropas gestoppt zu haben. Seitdem wird die Suche nach dem mitteleuropäischen Gut von den Nachfolgestaaten des ehemaligen Sowjetblocks auf eigene Faust verfolgt. Ein interessantes aber nur kurzfristiges Experiment wurde Anfang 1990 von dem damaligen italienischen Außenminister De Michaelis begonnen, das unter dem Namen „Pentagonale" fünf Staaten entlang der Nord-Süd-Achse (Italien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich und die Tschechoslowakei) umfassen sollte. Bald wurde auch Polen eingeladen und die bemerkenswerte Achse erinnerte an die 140 Jahre alten Projekte des österreichischen Handelsminister Ludwig von Bruck (der wiederum ein Konkurrenzunternehmen aus dem Blickwinkel Wiens gegen den von Friedrich List vorgeschlagenen Zollverein unternehmen wollte87). Der gemeinsame Nenner bei Bruck und Michaelis war offensichtlich die Ausschließung Preußen-Deutschlands von dem Kontrollschnittpunkt Mitteleuropas. V I •„Egal wie groß Deutschland ist, Hauptsache es bleibt demokratisch"

Als Väclav Havel, der frischgewählte tschechoslowakische Präsident, der noch einige Monate vorher als politischer Gefangener hinter Gittern saß, diesen brisanten Satz ausgerechnet unter dem Brandenburger Tor am 1. Januar 1990 ausgesprochen hat, durchbrach er damit eine Kette von tabuisierten Stereotypen. Seit Jahrzehnten blockierten feindliche Vorstellungen verschiedenster Art deutscher- und tschechischerseits das gemeinsame Nebeneinander beider Nachbarvölker. War doch das traditionelle Instrument der tschechischen Politik, wie es aus den Texten der tschechischen Chronisten schon im Mittelalter hervorgeht, z.B. bei dem sogenannten Dalimil, die deutschen Stämme getrennt zu halten.89 Seit der schicksalhaften Trennung zwischen deutschen und tschechischen Nationalisten in Böhmen 1848, und der Entscheidung des böhmischen Historiographen Palacky für die föderalistische austroslawische Richtung, waren 87

Siehe den Sammelband Deutschland und Österreich - Ein büaterales Geschichtsbuch, hrsg. von Robert Λ. Kann / Friedrich Prinz, München 1980. 88 Serge Schmemann, The New York Times, 3. Januar 1990. 89

Der antideutsche Trend in der tschechischen Literatur des Mittelalters ist so dominant, daß der prominente slawische Philologe Roman Jakobson, wahrscheinlich im Auftrag der Exilregierung in London, eine tendenziöse propagandistische Sammlung von Zitaten während des Krieges zusammegestellt hat, die er dann „Weisheiten der Alttschechen" genannt hat (Moudrosti starych Cechn, New York 1943).

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die Ablehnung jeder großdeutschen Lösung, die Furcht vor dem Pan-Germanismus, das Mißtrauen gegenüber Einheitsbestrebungen, die auf undemokratischem Weg erreicht werden, die ausschlaggebenden Axiomen der tschechischen Politik in der Deutschen Frage gewesen. Umsomehr nach der Errichtung 1918 der »Ersten4 Tschechoslowakischen Republik (CSR: 1918 - 38), wobei die offizielle Außenpolitik unter den beiden Präsidenten, Thomas G. Masaryk (1918 - 35) und Eduard BeneS (1935 38, 1945 - 48), einfach keine andere Alternative zuließ. Dabei ist es zu bemerken, daß die Tschechen traditionell mit einem größeren deutschen Nachbarvolk zu tun hatten: erstens, mit den Deutschen, die seit 1871 dem Deutschen Reich zugehörig waren, zweitens, mit den deutschösterreichischen Nachbarn, und „last but not least44, mit eigenen Deutschböhmen. Obwohl die beiden Staaten die längste gemeinsame Grenze miteinander teilten, war Deutschland in allen Kategorien, angefangen von der Bevölkerungszahl, industriellen Produktion, Außenhandel, Motorisierung, usw. mindestens um das sechsfache der Tschechoslowakei überlegen. Daraus ergab sich in der Gegenüberstellung tschechisch-deutsch ganz schlicht eine Asymmetrie zu Gunsten Deutschlands. Paradoxerweise war Deutschland mit dem auf 100.000 Mann reduzierten Berufsheer - jedenfalls bis zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in März 1935 - nicht nur gegenüber Polen, sondern auch der bevölkerungsmäßig fast sechsmal schwächeren Tschechoslowakei unterlegen. Ein wichtiger Faktor in BeneS4 Betrachtungen der sudetendeutschen Frage war die Vorstellung von der sinkenden deutschen Geburtsrate in den Grenzregionen, die von der tschechischen übertroffen wurde. Laut BeneS handelte sich es um einen „modernen soziologischen Prozeß44; demzufolge sei in seiner zweiten Wahlperiode bis 1949 der Anteil der Sudetendeutschen unter 20% der Gesamtbevölkerung gesunken.90 Andererseits waren BeneS4 Betrachtungen, wie schon erwähnt, stark geopolitisch fundiert. Als Grundlage für seine Argumentation benutzte er die geographische Lage des Staates mit seinen menschlichen und wirtschaftlichen Reserven. BeneS dachte in „Block44-Kategorien, die er erfinderisch zusammenzubasteln versuchte. Der Mehrvölkerstaat Tschechoslowakei representierte daher einen , Block4 von etwas über 13 Millionen Einwohnern (1938 waren es 15 Millionen), der mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht und trotz der knappen tschechischen Mehrheit von 51% eine ethnisch gemischte Feldarmee von mindestens dreiviertel bis eine Million Soldaten aufstellen konnte. Dank ihrer überlegenden Rüstungsindustrie, konnte es sich die £SR auch leisten, relativ gut ausgerüstete Streitkräfte zu unterhalten und darüber hinaus noch Waffen zu exportieren. Die Tschechoslowakei brauchte aber Verbündete. Seit 1920 formte sich in die „Kleinen Entente44 gegen den ungarischen Revisionimus aus drei Nachbarstaaten, die 90

Prinz 1967, S. 94.

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durch den Frieden von Trianon im Besitz erbeuteter Territorien mit beträchlichen ungarischen Minderheiten waren: die ÔSR, Rumänien und Jugoslawien.91 Außenminister BeneS, der eigentliche Gründer der Tschechoslowakei und Initiator der Kleinen Entente, mußte aber gleichzeitig zwei andere Aufgaben erfüllen: um das Raison d'être der Tschechoslowakei aufrecht zu erhalten, mußte er den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich und ein Militärbündnisses zwischen Deutschland und Ungarn verhindern. Österreich repräsentierte für den neuen tschechoslowakischen Staat eine doppelte Gefahr: eine Habsburger-Restauration mit/oder einem plebiszitären Anschluß ans Deutschen Reich. Beide Gefahren waren aus der Sicht Prags traumatisch. Die seit 1935 angekurbelte Wiederaufrüstung Deutschlands veränderte die geostrategische Lage in Ostmitteleuropa grundsätzlich. Die Kleine Entente, adäquat als Abschreckungsmittel gegen den ungarischen Revisionismus, war gegen Hitlers aggressive Politik nicht anwendbar, zumal noch Rumänien und Jugoslawien in den 30er Jahren wirtschaftlich von Deutschland abhängig wurden. Im verhängnisvollen Jahr 1938 wurde die CSR gleichzeitig von drei Mächten herausgefordert: von ihren feindlichen Nachbarn Deutschland und Polen (potenziell auch Ungarn) im Bezug auf ihre territoriale Integrität, und vom entfernten russischen Verbündeten bezüglich der revolutionären Umstaltung des mitteleuropäischen Raumes. Dies revolutionäre Ziel verfolgte aber auch Hitler, und zwar natürlich nicht aus der Perspektive eines sozialen Klassenkampfes, sondern er war bereit, Chaos durch ethnischen Streit zu stiften. Erschien aus dem Blickwinkel Prags der deutsche Hauptfaktor absolut entscheidend (auch aus anderen Gründen als geopolitischen), war das umgekehrt nicht der Fall, denn für die reichsdeutsche Außenpolitik war die seit 1918 selbständige Tschechoslowakei nur eine winzige Macht, ein Völkschen mit dem man nicht direkt kommunizieren brauchte, obwohl Prag unter den europäischen Metropolen am nächsten zu Berlin lag. Trotz der längsten gemeinsamen Grenze von allen Nachbarstaaten, war das auch eine der stabilsten Grenzen in Ostmitteleuropa und ist so auch bis in das Schicksalsjahr 1938 geblieben. Die Sudetenkrise zwischen März und September 1938 machte die tschechisch-deutschen Beziehungen zum Brennpunkt der europäischen Politik, zum ersten Mal zu einer "Kriegs- oder Kapitulations"- Frage.92 Können sich heutzutage die Tschechen, und mit ihnen alle übrigen ostmitteleuropäischen Völker, ein „egal wie großes", vereinigtes, und dadurch stärkeres Deutschland wünschen? Sollen sie sich es wünschen? Kann man sich

91 Siehe dazu: Rudolf Kiszling, Die militärischen Vereinbarungen der Kleinen Entente, München 1959; Robert Machray, The Little Entente, London 1929. 92 Siehe z. B. meinen Beitrag „Kapitulovat Öi bojovat?", in: Svëdectvi (Témoignage), Paris, Nr. 49, 1975, S. 151-177.

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wirklich auf die Dauerhaftigkeit der demokratischen Strukturen der Bundesrepublik und deren erfolgreiche Transplantation auf den ärmeren Bruder im Osten verlassen? Zwar ist die Gefahr des preußischen Militarismus nicht mehr vorhanden und die NATO scheint die Lösung für die glückliche, fast reibungslose Absorption in die atlantische und westeuropäische Gemeinschaft zu sein. Die künftigen osteuropäischen NATO-Partner, die Polen, Tschechen und Ungarn, werden sich viel Mühe geben müssen, um sich an ihre neuen deutschen Partner in Uniform zu gewöhnen. Zum ersten Mal treten diese drei Nationen (in der Zwischenkriegszeit waren die Tschechen mit den Polen und Ungarn verfeindet) in ein militärisches Bündnis mit Westeuropa ein, und zwar treten sie in ein atlantisches Europa ein, eindeutig euroamerikanisch, also nicht euroasiatisch orientiert, d.h. eine Integrationsform grundsätzlich verschieden von den übrigen geschichtlichen Modellen, die in diesem Raum im 20. Jahrhundert mit katastrophalen Folgen erprobt wurden: d.h. entweder ein Mitteleuropa der großdeutschen oder sowjetischen Auffassung. Die BRD ist zwar bevölkerungsmäßig und wirtschaftlich das bei weitem stärkste europäische Mitglied dieser Allianz, und dazu auch ohne anerkannte expansionistische Ambitionen - wenn man von dem industriellen Exportdrang absieht. Schon hier präsentiert sich eine phänomenale Innovation der geopolitischen Lage auf der mitteleuropäischen Geschichtsszene. Natürlich war der unglaubliche Zerfall des Sowjetblocks dafür ausschlaggebend - und damit auch statt einer bloßen Verschiebung des Kalten Krieges durch eine terminbeschränkte neue Detente, eine wirkliche Aufhebung des Kalten Krieges, der sich auch durch die hastige Auflösung des Warschauer Paktes und die „Evakuierung" der Sowjettruppen aus Ostdeutschland gekennzeichnete. Diese drei charakteristischen Züge, d.h. die Auflösung des kommunistischen Blocks mit der UdSSR an der Spitze, zweitens die ruhig fortschreitende Integration Westeuropas, dessen Grundlage die Abschaffung der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich geworden ist, und schließlich last but not least - die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, haben die europäische Zeitrechnung zum erstenmal seit 1945 wieder auf die Stunde „0" zurückgeschoben. Damit wurden nicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt, aber auch die Schleuse wieder geöffnet, hinter der die nationalistische Flut gute vier Jahrzehnte blockiert wurde. Dieser Neubeginn scheint auch die früheren paneuropäischen Bewegungen zu relativieren und z.T. überholen, obwohl sie sich oft als ungefährliche Selbstläufer weiterbewegten. Das betrifft z.B. das längst überholte Konzept von Paneuropa (1924) des Grafen von Coudenhove-Kalergi, der nicht mit der Mitgliedschaft von Großbritannien und Rußland in seinem Paneuropa rechnete und zwar aus einfachen Gründen: beide Mutterländer besaßen viel größere abhängige Gebiete außerhalb des europäischen Kontinents. Für Rußland ist es

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noch heute der Fall; für Großbritannien stimmt das schon längst nicht mehr nach dem überwiegend freiwilligen „Imperial Retreat". Für die eurasiatische Großmacht Rußland paßt der Zauberspruch „egal wie groß" bestimmt nicht. Das mußte auch Havel während der vorhergehenden Debatte über das „gemeinsame Europa-Haus" am Vorabend der „großen Wende" einleuchten. Mit dieser These hat sich zwar der sowjetische Führer Gorbatschow in Westeuropa unheimlich populär gemacht, aber ihre geopolitische Anwendung konnte kein verantwortlicher Politiker ernst nehmen93. Was unterscheidet das „Zweite" Reich Bismarcks von der „Zweiten" Bundesrepublik, nachdem eine gewisse Analogie in der „kleindeutschen" Lösung der deutschen Einigung anerkannt wird? (Das „Dritte" Großdeutsche Reich Hitlers lassen wir aus der Analogie wegen seines boden- und rassesüchtigen Wahnsinn ausgeklammert.) Erstens, fand die Wiedervereinigung 1989/90 durch gewaltlose Massenbewegung von unten statt und nicht mit „Blut und Eisen" unter der Führung Preußens 1848 - 1871. Auch nach der Eingliederung der fünf neuen Bundesländer 1990 der ehemaligen DDR beträgt die „Zweite" Bundesrepublik kaum 66% der Fläche des bismarckisch-wilhelminischen Reiches bei bedeutend höheren Einwohnerzahl: 81 Millionen (1996) gegenüber 68 Millionen (1914). Die demographische Vitalität der Bundesrepublik bleibt jedoch eine der geringsten in Europa; und die Tendenz ist weiter negativ. Ohne die Zuwanderung der Rußland-Deutschen und der ausländischen Arbeitskräfte - also gerade jener Gruppen, die ironischerweise von der neonazistischen Jugend brutal angegriffen werden - wäre der Arbeiternehmeranteil an der Gesamtbevölkerung sogar noch stärker gesunken94. Sollen Deutschlands Nachbarn die Wiedergeburt des deutsch-preußischen Militarismus fürchten? Die Bundeswehr ist zwar zahlenmäßig der größte NATO-Partner, aber die Zahl ihrer aktiven Soldaten wird samt aktiver Dienstzeit ständig gekürzt. Der deutsche Lifestyle ist kaum militaristisch, eher kann man ihn als hedonistisch bezeichnen. Ausgedrückt ist dies in der stets wachsenden Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, die 1995 die Rekordhöhe von 160.000 überschritten hat.95 Last but not least, hat sich die Bundes93 Bernard Guetta , La „Maison Commune Européenne", Leitmotiv de M.Gorbatschev, in: Le Monde, 24. Oktober 1988. 94 Ende 1996 lebten in der BRD 7,31 Millionen Ausländer (9% der Gesamtbevölkerung). 1914 waren die (nichtdeutschen) Polen die stärkste Ausländergruppe, 1996 standen sie an 6. Stelle. Die größte Ausländergruppe sind im Jahre 1996 mit 2,05 Millionen (28%) die Türken, gefolgt von 754.000 Serben, knapp 600.000 Italienern, 363.000 Griechen, 342.000 Bosniern, 283.000 Polen, 202.000 Kroaten und 185.000 Österreichern. Quelle: Mitteüung der Bundesregierung am 7. Januar 1998, in: Deutschland Nachrichten, 9. Januar 1998. 95

The Week in Germany - 16. Februar 1996, S. 2. Die Zahlenstärke der Bundeswehr 1995/96 stand bei knappen 340.000, davon 137.000 Wehrdienstpflichtige bei 22 Fcslschrift Hackcr

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republik mit ihren sämtlichen finanziellen Reserven und Steuerpotential in einer „beispielloser Kraftanstrengung in den neuen Ländern mit mehr als 950 Milliarden Mark" beteiligt96 - wie man diesen wirtschaftlichen und sozialen Anpassungsprozeß, diese historische einzigartige „Bluttransfusion", schon bezeichnen möchte. Kaum eine realdenkender Mensch kann sich heute vorstellen, daß die Deutschen von ihrer exponierten Mittellage noch einmal dazu getrieben werden, den berüchtigten Sonderweg einzuschlagen - oder sogar die metaphysische Deutung des tausendjährigen Reichsphänomens wieder in die Tat umzusetzen. Diese Furcht vor einer deutschen Wirtschaftsexpansion nach Ost- und Südosteuropa, vor dem erneuten „Drang nach Osten", ist eine der wenigen negativen Stereotypen die noch heute lebendig sind und von denen z. B. die großserbische Propaganda Gebrauch gemacht hatte. Diese Angst, die man in der Tschechischen Republik durch verschiedene Meinungsumfragen feststellen kann, beruht überwiegend auf historischen Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges. Die zwei letzten deutsch-tschechischen Erklärungen aus den jüngsten Jahren nach der Wende (1992 und 1997) änderten nichts an der überwiegend negativen Aufnahme des »Deutschen Faktors4 unter der tschechischen Bevölkerung (mit Ausnahme der allerjüngsten Generation, die noch nicht im Besitz eines historischen Bewußtsein ist). Die sozialökonomische Diskrepanz zwischen Deutschland einerseits und seinen unmittelbaren osteuropäischen Nachbarn andererseits ist ein weiterer Grund für die gegenseitige Spannung. Der Außenhandel reflektiert diese Asymmetrie: während der Anteil der BRD am tschechischen Außenhandel ein Drittel beträgt, bewegt sich der Anteil der Tschechischen Republik am deutschen Außenhandel unter 1%.98 Während die neuen Bundesländer mit DMSubventionen ihre Infrastruktur modernisieren können, bleiben die polnischen und tschechischen Grenzgebiete ohne bedeutende finanzielle Hilfe. Diese neue Ost-West-Grenze hat inzwischen den Spitznamen „der Neue Eiserae Vor12-monatiger Dienstpflicht. 1996 haben im Durchschnitt 130.000 Wehrdienstpflichtigen den alternativen Zivüdienst geleistet. (Nach The Military Balance 1995/96, the International Institute for Strategie Studies, London, S. 48, Jahresbericht der Bundesregierung 1996.) 96 Bundeskanzler Helmut Kohl am 2. Oktober 1997 in Leipzig bei der Büanz der Wiedervereinigug, in: Deutschland Nachrichten vom 3. Oktober 1997. 97 M F Dnes, Prag, vom 21. Januar 1997, S. 4. 98

Die Proportionen im deutsch-polnischen Handel reproduzieren ähnliches Ungleichgewicht: Mit ca. 30% ist Deutschland in den letzten Jahren zum größten Handelspartner Polens geworden. Umgekehrt aber, obwohl Polen seit 1995 an erster Stelle der östlichen Handelspartner Deutschlands ist, der Anteü in der gesamten Bilanz des Außenhandels der BRD hegt immer noch unter 2%. Vgl. Helga Herberg, Zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen, in: WeltTrends, Nr. 13 (1996), S. 90.

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hang" gewonnen. Diese Diskrepanz kann und darf nicht auf längere Zeit anhalten. Sie ist weder wirtschaftlich noch politisch gesund. Dagegen kann man einwenden, daß solche anachronischen geostrategischen Gesichtspunkte bei der heutigen internationalen Marktaufteilung und Diversifikation schon längst gegenstandslos geworden sind: Die deutschen Wirtschaftsinteressen besitzen kein Monopol und müssen mit den ostasiatischen Exporteuren einen heftigen Konkurrenzkampf um die Sicherung des Marktanteiles führen. Der „Drang nach Osten" besaß in den Vorstellungen der Osteuropäer noch eine weitere zusätzliche Gefahr : Die große deutsche Diaspora außerhalb des Reiches, die vor dem 2. Weltkrieg ca. 17,5 Millionen Köpfe betrug, mehrheitlich in Ostmitteleuropa und jenseits davon." Hitlers Außenpolitik hat die deutschen Minderheiten bewußt als „fünfte Kolonnen" ausgebeutet. Die heutige Zahl der ,Auslandsdeutschen4 wurde auf 2,8 Millionen (1990) reduziert, wovon noch rund 2 Millionen vor zehn Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR verstreut lebten; der Rest meist im rumänischen Siebenbürgen. Zwischen 1950 und 1992 hat die BRD fast 2.8 Millionen deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa und der Sowjetunion aufgenommen; die größte Zahl kam aus Polen (1,4 Mio.). 100 Aber eine andere Art von „Drang nach Osten44 ist seit 1990 unmißverständlich in Bewegung gesetzt worden: es ist die Verlagerung der Bundeshauptstadt von Bonn nach Berlin, d.h. in diejenige deutsche Metropole die nicht nur vierzig Jahre mit dem Titel der Hauptstadt der DDR, sondern zwischen 1871 und 1945 auch mit der Bezeichnung „Reichshauptstadt" verbunden war. Damit wird sich der Gravitationspunkt des deutsch-westeuropäischen politisch-kulturellen aber auch wirtschaftlichen Tätigkeit zu den „Ostmarken44 Mitteleuropas verschieben. Denn Berlin liegt nur einen Katzensprung von der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze entfernt. Dieser vielseitige Druck hat schon heute Berlin in die größte Baustelle Europas verwandelt und wird Berlin zu der wirklichen Metropole Gesamteuropas des 21. Jahrhundert gestalten. Die negativen Erinnerungen leben aber in den Empfindungen der älteren Generationen weiter. Am empfindlichsten scheint die polnische Haltung wegen der Oder-Neiße-Grenze zu sein, deren Bestätigung alle zehn Jahre von der jeweiligen deutschen Regierung notwendig wird. Das ist die Conditio sine qua non für die Sicherung nicht nur des äußeren völkerrechtlichen Rahmen in den deutsch-polnischen Beziehungen. In der Vergangenheit galt dieser Raum als das bevorzugte Schlachtfeld Osteuropas. Jedoch im Gefolge der stürmi99

Milan Hauner, Deutschland und Mitteleuropa, in: Ethnos-Nation (1995), Heft 1, S. 14. 100 Statistische Angaben des Bundesinnenministerium bei Timothy Garton Ash: In Europe's Name - Germany and the Divided Continent, New York 1993), S. 661. 22*

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sehen Ereignisse seit 1990 haben die geopolitischen Voraussetzungen des heutigen Polens den dramatischsten Wandel seit 1945 erlebt, insofern alle seine drei Nachbarn - die DDR, die UdSSR und die Tschechoslowakei - nicht mehr existieren.101 Aber nach der Auflösung des kommunistischen Blocks, als die Euphorie ihren Höhepunkt überschritten hatte, ist der Prozeß der demokratischen Integration in den kapitalistischen Westen ins Stocken geraten. Sicherlich ist dem Westen vorzuhalten, seine zum Willkommen ausgebreiteten Arme ohne das erträumte Geschenk eines Ersatz-Marshall-Plans wieder geschlossen zu haben. Bezeichnenderweise hat nur die ehemalige DDR einen privaten QuasiMarshall- Plan von ihrer wohlhabenden Schwester, der BRD, erhalten. Anderseits sind die Osteuropäer an der Verlangsamung des Tempos der Angliederung an Westeuropa auch mitschuldig. Statt unter sich eng zusammenzuarbeiten, versuchten die drei (seit 1992 vier) Staaten, d.h. Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, auf eigene Faust, und oft mit betrügerischen Mitteln, den exklusiven westeuropäischen Club zu erreichen. 102 So wurden verschiedene regionale Initiativen, z.B. die Mitteleuropäische Initiative - auch „Pentagonale" genannt (durch Anschluß von Polen 1990 als „Hexagonale" bekannt geworden) - oder die „Visegrad"- Gruppe, von den osteuropäischen Regierungen, vor allem den Tschechen, mit einer Mischung von intellektuellen Arroganz und nationalen Engstirnigkeit regelmäßig untergraben. Für die vieldiskutierte mitteleuropäischen Freihandelszone CEFTA (Central European Free Trade Agreement) als Vorstufe der eigentlichen Integration in die (West)Europäische Union wurden nach der Teilung der Tschechoslowakei keine weiter ernsthaften Schritte mehr unternommen: Die Visegrad- Gruppe und CEFTA existieren heute nur noch dem Namen nach; die Initiative wurde erfolgreich begraben.103 Dabei scheint die geopolitische Lage des westlichen Teiles Ostmitteleuropas günstiger zu sein wie je zuvor - auch wenn ein wenig getrübt durch die unberechenbaren Eingriffe der gegenwärtigen politischen Führung in der Slowakischen Republik. Trotzdem ist es allgemein akzeptiert, daß die Beziehungen zwischen Prag, Warschau und Budapest noch nie so freundlich und friedlich waren wie heute. Es existieren keine territorialen Ansprüche unter den drei Nachbarstaaten, obwohl noch vor einem knappen hal-

101 Laut dem bekannten „Solidarnosc"-Journalisten Adam Michnik, im Spiegel, Nr.2 (1994), S. 114 f. Aber 1918 und 1945 war die Umgestaltung der polnischen Nachbarschaft noch radikaler gewesen. 102 Vor allem gilt dieser Vorwurf der kurzsichtigen Außenpolitik Vaclav Klaus4, die grundsätzlich in der Rede des Präsidenten Havel am 9. Dezember 1997 kritisiert wurde. 103 Hana ΡοΙά&ονά, Regional Cooperation in Central Europe - from Visegrad to CEFTA, Perspectives, Prag, Sommer 1994, S. 117-130.

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ben Jahrhundert die Regierungen von diesen Staaten bereit waren, gegeneinander loszugehen, um sich wegen ein paar Quadratkilometer totzuschlagen. Auch Deutschland kann sich eine Wiederholung der tragischen Ereignisse seiner Vergangenheit nicht leisten. Seine Verantwortung sei proportional noch größer als bei seinen osteuropäischen Nachbarn. Warum? Aus zwei gewichtigen Gründen: der Geschichte und seiner Lage. Die Bürde der Geschichte enthält nicht nur die jüngste Verantwortung für die Entfesselung der beiden Weltkriege, sie bezieht sich auch auf das Millenium der Reichstradition, vor allem der über tausend Jahre alten Reichstradition. Ein weiterer Faktor wäre die Relativgröße des wiedervereinigten Deutschlands, bevölkerungsweise, aber auch nach dem Volumen der Produktion und des Kapitals. Drittens, die schon hier vielbesprochene »verfluchte 4 Mittellage. Aber die Deutschen, obwohl es sich um die wichtigsten europäischen Akteure der Zeitgeschichte handelt, werden nicht allein über das Schicksal Ostmitteleuropa entscheiden. Das Schicksal von Mitteleuropa betrifft uns alle, nicht nur die Deutschen, die zahlenmäßig stärksten in diesem Raum. Wir alle sind aufgerufen, die tausend Jahre verborgene Botschaft Mitteleuropas im positiven Sinne zu entziffern und aufzuheben. Mit Spannung und Sorge schauen die nahen und fernen Nachbarn Deutschlands auf die gegenwärtige kolossale Bluttransfusion, die zwischen den beiden Teilen Deutschlands stattfindet. Man kann kaum daran vorbei, das vielleicht am meisten prophanierte Wort der „Nationalidentität" zu erwähnen. Wird sich in dem vereinigten Deutschland im 21. Jahrhundert eine neue „postnationale"104 Generation entwickeln, die nur „europäisch" denken wird? Oder werden wir in Ostmitteleuropa einer anderen Art von Identität begegnen? V i l . Vertreibung

Es bleibt zum Schluß das schwerwiegende Problem der Vergangenheitsbewältigung zwischen Tschechen und Deutschen zu erwähnen, veranschaulicht durch die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat nach der Beendigung des Krieges. Ob eines Tages eine wirkliche Versöhnung zwischen den beiden Völkern stattfinden kann, hat sehr viel mit der Frage der Bewältigung zu tun. Schließlich stehen die Tschechen als die allerletzten direkten Nachbarn Deutschlands da, längst überholt von den Polen, ohne einen sinnvollen Ver-

104

Vgl. z.B. Hanna Schissler, Postnationality - Luxury of the Privüeged? A West German Generational Perspective, in: German Politics and Society, 15/2, Sommer 1997, S. 9-32.

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trag in der Hand, weil sie das sudetendeutsche Problem fünfzig Jahre lang als Tabu betrachteten. Der Prozeß der Bewältigung ist besonders schwierig aufgrund der ungeheueren psychologischen Vernachlässigung des sudetendeutschen Problems tschechischerseits, was auf einer Mischung von Verharmlosung und Zorn beruht 105 . Ebenso besteht auf der deutschen Seite die Einseitigkeit daraus, die Vertreibung der Sudetendeutschen als ein isoliertes Phänomen zu betrachten, aus dem man den Nationalsozialismus ausgeklammert hat und eine intensive Tschechen-Kritik übte, die fast nur die Greueltaten nach Mai 1945 berücksichtigte. Die bilateralen Verhandlungen sind bis jetzt alle, egal wer am Hradschin saß, ob Kommunist oder Antikommunist, schiefgelaufen, weil man in der Schlüsselfrage, nämlich der Bewertung und Bewältigung der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, zu stark an entgegensetzten Positionen festhielt. Diese Vernachlässigung und gegenseitige Verdächtigung kann man ausgezeichnet am Beispiel der Berechnung der Zahlen der Kriegsopfer auf beiden Seiten demonstrieren. Jahrzehntelang hatten die sudetendeutschen Autoren die Zahl der Verluste bei der Vertreibung 1945 - 46 auf 250.000 Opfer angesetzt und einer diese Zahl von dem anderen unkritisch übernommen,106 bis ein junger tschechischer Autor die Anzahl der Opfer aufgrund seiner Berechnungen auf 40.000 reduzierte. 107 Umgekehrt sollte man ähnlich kritisch auch die von tschechischer Propaganda angesetzte Ziffer von 360.000 „tschechoslowakischen" Opfern betrachten, die seit Jahrzehnten ebenso von den einzelnen Gruppen übernommen wurde. Erst nach 1990 ist es möglich geworden, auch diese Zahl einer Kritik zu unterwerfen und die eigentlichen rein-„tschechischen" Verluste auf 70.000, höchstens 77.000 zu reduzieren, denn 265.000 bis 272.000 waren jüdische Verluste durch die NS-Rassenpoli. · ι 108 tik.

105

Dieses Manko wird in der jüngsten Zeit durch die hervorragenden Arbeiten von Tomas Stanäc nachgeholt: Odsun Nëmcûz Ceskoslovenska 1945 - 1947 (Die Abschiebung der Deutschen aus der Tschechoslowakei), Prag 1991. Seine zweite Arbeit, Perzekuce 1945, Prag 1995, beschreibt die wüdeste Phase der Vertreibung zwischen Mai und August 1945. 106 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, in: Dokumentation der Vertreibung Bd. IV/1, hrsg. von Theodor Schieder, Berlin 1957; A. Bohmann, Das Sudetendeutschtum in Zahlen, München 1958; F.P. Habel, Die Sudetendeutsche Frage, München 1985. 107 Jaroslav KuÖera, Odsunové ztrâty sudetonëmeckého obyvatelstva (Vertreibungsverluste der sudetendeutschen Bevölkerung), Prag 1992. 108 Vgl. Berechnungen von Miroslav Karay, Pavel Skorpil, Tomas Stanèk und Jaroslav Kuöera, in: Cesta do katastrofy - Ceskoslovensko-nêmecké vztahy 1938 1947 (Der Weg in die Katastrophe), hrsg. von Vâclav Kural, Prag 1992, S. 113-150.

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Auch Väclav Havels mutige Initiative aus den letzten Wochen seiner Dissidentenzeit, die durch seinen Privatbrief an Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bekannt geworden war, in dem er die Vertreibung der Deutschen als einen „zutiefst unmoralischen Akt" verurteilte, und gleich um Vergebung bat 109 - was ihm statt Beifall mehr Feindschaft seitens der einheimischen Bevölkerung brachte - blieb ein isolierter Akt persönlicher Zivilcourage. Bald hat auch ihn der innenpolitische Druck zu einer Kehrtwendung um 180 Grad in seinem Vortrag vom 17. Februar 1995 gezwungen, in dem er die Sudetendeutschen praktisch der Sympathien für Hitler und der Untreue gegenüber der ÖSR für schuldig erklärte. Alle Versuche, eine Revision der Ergebnisse des letzten Weltkrieges seitens der Sudetendeutschen durchzusetzen, wies er entschieden zurück. Überraschend für einen Moralisten, für den er in der Weltöffentlichkeit gehalten wird, schlug Havel vor, einen Schlußstrich unter der Vergangenheit zu ziehen. 1 1 0 Eine gleichzeitig in Prag eröffnete Wanderausstellung des Sudetendeutschen Rates endete in einem Fiasko, „selten hat man so viele historische Lügen vereint gesehen," schrieb ein tschechischer Journalist. Daraufhin reagierte ein deutscher Kollege mit dem richtigen Hinweis: „Was für die Tschechen historische Lügen sind, ist für die Vertriebenen Wahrheit!" 111 Das ist also der Urgrund des Streits, der zwischen Tschechen und Sudetendeutschen immer noch tobt und der dunkle Schatten auf die deutsch-tschechischen Beziehungen wirft. Einen Durchbruch in der frostigen Atmosphäre mittels Privatgesprächen hat man bis heute nicht erreicht, weil - bis auf die bekannte Ausnahme der erst seit 1990 funktionierenden deutsch-tschechischen Historikerkommission zwischen den beiden Seiten nicht genug Vertrauen vorhanden war. Und so ist es bis heute geblieben, denn für die meisten Tschechen war die weitere Existenz der Sudetendeutschen eine sehr unbequeme Realität: denn nach 1945 sollten sie alle über die Grenze verschwinden und sich restlos in den miserablen Haufen der übrigen Deutschen chemisch auflösen. Das ist natürlich nicht geschehen und die Sudetendeutschen mit ihren lästigen Erinnerungen verlangen heute, oft aggressiv, das Heimatrecht (was besonders die in den ehemaligen sudetendeutschen Gebieten wohnende Tschechen wütend macht) und suchen nach einer Identität, die entweder zurück in die Vergangenheit, oder auch vorwärts in die Zukunft blicken kann.112

109

Havels Brief an v. Weizsäcker vom 5. November 1989, Dokumentationszentrum für die unabhängige tschechoslowakische Literatur, Scheinfeld. 110 Lidové Noviny und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Februar 1995. 111 Berthold Kohler in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 1995. 112 Vergleiche das penetrante und bis jetzt eigentlich einsame Buch der Reflektionen von Eva Hahn (Hartmann): Sudetonëmecky problém: obtféné louöeni s minulosti (Der lästige Abschied von der Vergangenheit), Prag 1996.

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Die Sudetendeutschen lehnen es ab (am kräftigsten durch ihre stärkste Organisation in der BRD, die Sudetendeutsche Landsmannschaft), weder das Münchener Abkommen als von Anfang an als ungültig, noch die Aufnahme der Vertreibung als einen legitimen Akt der antifaschistischen Vergeltung anzuerkennen. Die Tschechen wiederum halten an der uralten These fest, die von Präsidenten BeneS und allen tschechischen politischen Parteien, nicht nur von den Kommunisten, unterstützt wurde und bis heute im Prinzip unverändert bleibt, daß die Vertreibung von über drei Millionen Menschen nach dem Kriegsabschluß völkerrechtlich legal war. 113 Schon bei der Bewertung der Vertreibung als Genozid bzw. Völkermord, gibt es prinzipielle Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Tschechen. Erst während der Unterbrechung der Pressezensur 1967/69 hat man in der Tschechoslowakei vorsichtig begonnen, die sudetendeutsche Frage zu erläutern. Nach der Normalisierung wurde die Auseinandersetzung über „Odsun" 114 zwischen „Moralisten" und „Realisten" im Dissens und Exil überwiegend in der Pariser Zeitschrift „Svëdectvi" (Témoignage) im Jahre 1978 und unmittelbar danach ausgetragen115. Die Moralisten sprachen von der „tschechischen (bzw. tschechoslowakischen) Form der Endlösung" (,koneàié feSenü), was von den Realisten und Verteidigern des Status Quo als unannehmbar betrachtet wird. Trotz zahlreicher Diskussionen und zwei bilateralen Erklärungen, unterzeichnet zwischen Prag und Bonn 1991 und 1997, bleibt die Sudetendeutsche Frage genau an dem Punkt stehen, meint der ,unsentimentale Moralist4 Bohumil Doleial, wo sie vor der Machtübernahme der Kommunisten 1948 stecken geblieben war. Das Problem der Vertreibung der Deutschen als Menschen ist einfach da, als ein moralisch übergeordnetes Problem an und für sich, sagt er erbarmungslos, und egal ob die Tschechen früher oder später selbst mehr oder weniger gelitten haben, sie müssen mit der Wahrheit konfrontieren werden und sich mit der Substanz der Vertreibung auseinandersetzen116.

113 Mit den slowakischen Ungarn hätten es auch vier Millionen sein können. Die Alliierten hatten es Benes aber untersagt. 114 d.h. ,Abschiebung* oder ,Transfer* auf technisch-tschechisch; dieser Terminus Technicus birgt nicht die grausamen Assoziationen einer Massenvertreibung in sich. 115 Die meisten Beiträge finden sich im Sammelband Cesi, Nëmci, odsun: diskuse nezâvislych historiku (Tschechen, Deutsche, Abschiebung: Diskussion der unabhängigen Historiker), hrsg. von Milan Otahal et al., Prag 1990. Vgl. auch Ernst Kittner, Die Ausweisung der Sudetendeutschen vor vierzig Jahren als tschechisches Problem, in: Bohemia, Bd. 16 / 1 (1985), S. 9-21. 116 Mit rücksichtsloser Logik zerschneidet Doleial ein Argument nach dem anderen in seiner Einführung und Schlußwort zu dem Diskussionsaustausch über die Sudetendeutsche Frage, in: Soudobé dëjiny, Nr. 2-3, 1994, S. 236-292. Vgl. auch: ders.: Und sie existieren doch!, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 16 vom 21. Januar 1997.

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Und die Sudetendeutschen wollen dabei sein. Warum soll das so überraschend klingen? „Wer Frieden machen will, ohne uns wird es nicht gehen" meint der uns schon bekannte Rudolf Hilf. „Ein Bedauern von Ministerium zu Ministerium", schreibt er verbittert, „reicht dafür ebenso wenig wie der bekannte Spruch yWir bitten um Vergebung und wir vergeben\ wie wir das vo Bischöfen und zuletzt vom Bundeskanzler hörten... Solange die Tschechisch Republik nicht einzusehen bereit ist, daß die Vertreibung und alles, was dam zusammenhängt, ein Verbrechen war, und sie nicht bereit ist f mit uns, den Betroffenen, darüber offen zu reden... Es gibt deshalb keinen Ersatz für d 117

direkte Gespräch der Betroffenen auf beiden Seiten Hilf hat schon recht, wenn er die jüngste deutsch- tschechische Deklaration vom Januar 1997 kritisiert, sie hätte die Volksgruppe nur indirekt angesprochen. Auch Dolezal stimmt zu: „Falls die tschechische Regierung zur Zeit dazu noch nicht bereit ist, müssen das andere auf der tschechischen Seite für die Zukunft vorberei ten' 14 ; der frühere Chefberater von Ministerpräsident Klaus ist jedoch kritischer gegenüber den Vorstellungen der Sudetendeutschen: »Sie müssen ihre Lage völlig neu überdenken, ... und vielleicht ihre biblische Vorstellung eine kollektiven Rückkehr aus dem deutschen Babylon in die ehemalige böhmisch Heimat möglichst schnell und begleitet von einer gewisser Vermögensrestitution" als unrealistisch überprüfen. 118 Es gibt tatsächlich keinen Ersatz für das direkte Gespräch, und keine Kommissionen und kein Ministerium können dieses ersetzen. Die Tatsache, daß die beiden Regierungen nicht bereit sind sich, zu engagieren, soll dazu dienen, den methodologischen Ansatz vielleicht anderswo im intellektuellen Diskurs zu suchen. Am fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges nannte Michael Geyer drei zentrale Elemente, die sich tief in die Identität der Deutschen in der Epoche der Weltkriege eingegraben haben: die Erfahrung des Massentodes, das Scheitern der Demokratie als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip, und das Stigma des Völkermordes. 119 Es scheint mir, daß die tschechische Identität neben der sudetendeutschen - trotz der Hingabe an das Ideal eines »Kleinen Volkes' - nicht so grundsätzlich verschieden ist. Weil sich die künftige Diskussion zwischen den Tschechen und Deutschen auf dem Hintergrund des Erinnerns und Vergessens abspielen wird, werde ich meine Reflexionen auf das melancholische Thema der tschechisch-deutschen Nachbarschaft, das ich mit dem Zitat über die „total ge-

117

Hilf in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Oktober 1997, S. 8. DoleM, in : Süddeutsche Zeitung, vom 21. Januar 1997, S. 11. 119 Michael Geyer: Das Stigma der Gewalt und das Problem der nationalen Identität in Deutschland, in: Von der Aufgaben der Freiheit - Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen, hrsg. von Christian Jansen et al., Berlin 1995, S .673-698. 118

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scheiterte Nachbarschaft" aus Rudolf Hilfs Buch begonnen habe, mit einem anderen Zitat desselben Autors beenden: „...da auch eine zerbrochene Nachbarschaft nicht abstrakt und ungeschichtlich bei einem Nullpunkt neu anfangen kann, ist vorher zu klären, ... welches die Ursachen ihres Zerfalls waren. " 1 2 0

Die tschechisch-liechtensteinischen Beziehungen Ein anhaltender Konflikt in Mitteleuropa

Von Dieter Blumenwitz Zu Zeiten der Spaltung unseres Vaterlandes hat sich der Jubilar um die deutschlandrechtlichen und deutschlandpolitischen Grundlagen der Wiedervereinigung bemüht. Ebenso lagen ihm die Beziehungen zu Ostmitteleuropa am Herzen, und er hat in zahlreichen Beiträgen dargelegt, daß auch nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges im Vorfeld der Osterweiterung von EU und NATO noch offene Rechnungen beglichen sowie neue politische Konzepte entwickelt werden müssen. Die folgende Festgabe behandelt einen im wahrsten Sinne des Wortes „kleinen" Aspekt des gesamteuropäischen Konzerts, nämlich die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Tschechoslowakei. Durch einen vor deutschen Gerichten ausgetragenen Bilderstreit 1 wird die Bundesrepublik in das Spannungsfeld mit einbezogen und von deutscher Vergangenheit erneut eingeholt. Vordergründig geht es um ein zweitklassiges Gemälde eines niederländischen Meisters2. Anläßlich einer Ausstellung über „Niederländische Malerrebellen im Rom des Barocks" im Wallraf-Richartz-Museum gelangte das Bild als Leihgabe der Denkmalanstalt Brünn (Brno) nach Köln. Dort erwirkte der Fürst von Liechtenstein Ende 1991 aufgrund einer einstweiligen Verfügung die Sequestration des Bildes, das sich derzeit noch im Gewahrsam des Kölner Obergerichtsvollziehers befindet 3. Das Gemälde war nachweislich seit 1767 Bestandteil der Familiensammlung und befand sich am Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem fürstlich-liechtensteinischen Schloß Valtice in Südmähren. Unter Berufung auf das Benesch-Dekret Nr. 12 vom 21. 6. 19454 wurde das

1 Vgl. LG Köln, Urteü vom 10. 10. 1995 - 50182/92; OLG Köln, Urteü vom 9. 7. 1996 - 22 U 215/95; BGH Beschluß vom 25. 9. 1997 - II ZR 213/96. 2 Pieter van Laer (1582-1642) mit dem Titel „Szene um einen römischen Kalkofen", Versicherungswert 500.000 D M . 3 Vgl. einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gem. §§32 Abs. 2, 93 d Abs. 2 BVerfGG vom 26. 11. 1997 - Az: 2 BvR 1981/97.

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Bild wie auch das sonstige in der damaligen Tschechoslowakei gelegene liechtensteinische Vermögen entschädigungslos enteignet. Im Hintergrund steht damit eine Landfläche von ca. 1.600 Quadratkilometern liechtensteinischen Besitzes. Das sind etwa 2,5 % der Gesamtfläche der Tschechischen Republik und mehr als das Zehnfache der Fläche Liechtensteins5. Durch seine entschädigungslose Enteignung nach den Benesch-Dekreten teilt das Fürstenhaus das Schicksal der ebenfalls entschädigungslos enteigneten Sudetendeutschen. Liechtenstein wird aber auch erneut mit der tschechischen Nichtanerkennungspolitik konfrontiert. In offiziellen Stellungnahmen hält die tschechische Seite daran fest: „Damals wie heute ist es allgemein bekannt, daß Liechtenstein in besagtem Sinne deutscher Nationalität ist" 6 . Die Ausführungen des Anwalts der Brünner Denkmalanstalt, Vladimir Pospisil, zu den staatsangehörigkeitsrechtlichen Fragen wurden von der Presse wie folgt zitiert: „Wenn der Liechtenstein8 nicht Deutscher ist, dann möchte ich wissen, was er ist. Liechtensteiner ist er mit Sicherheit nicht. Dann bin ich Pospisil - Nationalität Pospisil" - das postkommunistische Tschechien hat im europäischen Konzert noch eine Menge zu lernen! 1. Das Fürstentum Liechtenstein ist ein Staat im Sinne des Völkerrechts. Die früheren Grafschaften und Lehen des Heiligen Römischen Reichs Schellenberg und Vaduz kamen 1699 bzw. 1712 in den Besitz des Hauses Liechtenstein und wurden 1719 durch Kaiser Karl VI. als Fürstentum Liechtenstein konstituiert9. Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher 4 § 1 Abs. 1 ht. a des Präsidialdekrets ordnete die Konfiskation des Landwirtschaftsvermögens „aller Personen der deutschen und ungarischen Nationalität" ohne Berücksichtigung ihrer Staatsangehörigkeit an. 5 Von einer Gesamtentschädigungssumme von über einer Milliarde Schweizer Franken ist die Rede (Der Spiegel 36/1995, S. 68). Die Befürchtungen, „daß die CSR gleichsam wie ein Schweizer Käse durchlöchert würde und riesige Ländereien dem Fürstentum eingemeindet würden" (vgl. SZ vom 18. 8. 1995: „Wie ein Ölgemälde die Prager das Fürchten lehrt"), sind allerdings übertrieben. Nach der Gründung des tschechoslowakischen Staates kann es nicht mehr um liechtensteinische territoriale Souveränität, sondern allenfalls um zivilrechtliches Eigentum gehen. 6 Zitat nach FAZ vom 8. 8. 1995 „Klage des Fürsten - Liechtenstein prozessiert gegen Tschechien". 7 Vgl. SZ vom 13. 7. 1995 „Ist Liechtenstein deutsch?" 8 Gemeint ist der Kläger im anhängigen Verfahren, Seine Durchlaucht Fürst Hans Adam II. von und zu Liechtenstein, Staatsoberhaupt des Fürstentums Liechtenstein. 9 M. Hörrmann, Fürst Anton Florian von Liechtenstein (1656-1721), in: V. Press / D. Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein - Fürstliches Haus und staatliche Ordnung (1988), S. 189-209; V. Press, Die Entstehung des Fürstentums Liechtenstein, in: Das Fürstentum Liechtenstein, ein landeskundliches Portrait (1981), S. 63-92; O. Seger, 250 Jahre Fürstentum Liechtenstein, in: Jahrbuch des historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 68 (1968), S. 5-61; ders., Zur Erwerbung der Grafschaft Vaduz durch Fürst Johann Adam von Liechtenstein, in: Jahrbuch des historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 61 (1961), S. 5-23.

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Nation im Jahre 1806 wurde Liechtenstein unabhängig. Es war Mitglied des Rheinbundes (1806-1813) und des Deutschen Bundes (1815-1866)10. Von 1852-1919 war Liechtenstein mit Österreich in einer Zollunion verbunden; Österreich besorgte auch die diplomatische Vertretung in dritten Staaten. Nach der Niederlage Österreichs im Ersten Weltkrieg löste Liechtenstein langsam diese Verbindungen und baute seine Beziehungen zur Schweiz aus. Seit 1919 war die Schweiz mit der Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen betraut. Liechtenstein behielt sich jedoch das Recht vor, den Vertretungsauftrag jederzeit zu widerrufen und eigene diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten und zu internationalen Organisationen zu errichten 11. Liechtenstein unterhält eine Botschaft in Bern und hat diplomatische Beziehungen zu Österreich. Es ist beim Europarat durch einen ständigen Repräsentanten vertreten. Da der Völkerbund Mini- oder Mikrostaaten ohne eigene Armee nicht aufnahm, blieb der liechtensteinische Aufnahmeantrag 1920 unerfüllt. Das Fürstentum wurde aber 1950 in die ausschließlich Staaten vorbehaltene Gerichtsgemeinschaft des IGH aufgenommen und ist seit 1990 Mitglied der Vereinten Nationen. Seit 1961 arbeitet es auf der Grundlage eines besonderen Protokolls mit der European Free Trade Association (EFTA) zusammen; die Vollmitgliedschaft folgte am 1. November 1991. Im EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) wurde eine Mitgliedschaft Liechtensteins schon 1994 grundsätzlich akzeptiert. Das Fürstentum gehört dem EWR seit dem 1. Mai 1995 offiziell

10 Vgl. V. Press, Das Fürstentum Liechtenstein im Rheinbund und im Deutschen Bund (1806-1866), in: Liechtenstein in Europa, Liechtenstein Politische Schriften 10, S 45 106; J. Ospelt, Zur liechtensteinischen Verfassungsgeschichte, in: JBL 37 (1937), S. 9-63. 11 Vgl. M. Seiler, Die besonderen Beziehungen der Schweiz mit dem Fürstentum Liechtenstein, in: Liechtensteinische Juristenzeitung 1991, S. 101-111; M. Büchel, Die besonderen Beziehungen der Schweiz mit dem Fürstentum Liechtenstein, in: Neues Handbuch der schweizerischen Außenpolitik (Schriftenreihe der schweizerischen Gesellschaft für Außenpolitik 11), S. 1073-1088; D. Zimmermann, Die Schweiz und Österreich während der Zwischenkriegszeit (1973), S. 131 ff.; P. Raton, Liechtenstein, Staat und Geschichte (1969), S. 94 ff.; V. Lanfranconi, Die Staats Verträge und Verwaltungsabkommen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein unter besonderer Berücksichtigung der daraus erwachsenen völkerrechtlichen Konsequenzen, Diss. Zürich 1969. 12 Vgl. Einzelheiten bei W. S. G. Kohn, The Sovereignty of Liechtenstein, AJIL Bd. 61 (1967), S. 547 ff.; P. Raton, Liechtenstein, Staat und Geschichte (1969); G. Batliner, Die völkerrechtlichen politischen Beziehungen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in: Liechtenstein, Politische Schriften, Beiträge zur liechtensteinischen Staatspolitik, Bd. 2 (1973), S. 21 ff.; W. B. Gyger, Das Fürstentum Liechtenstein und die Europäische Gemeinschaft, in: Liechtenstein, Politische Schriften, Bd. 4 (1975), S. 1 ff.; D. Niedermann, Verhältnis der Schweiz zu Liechtenstein, in: Riklin/Haug/Binswanger (Hrsg.), Handbuch der schweizerischen Außenpolitik (1975), S. 903 ff.; ders., Liechtenstein und die

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2. Die liechtensteinische Staatsangehörigkeit wurde 1934 gesetzlich geregelt. Sowohl die Staatsangehörigkeit des Fürstentums wie auch seine Neutralität im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden vom Internationalen Gerichtshof, dem Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, in der berühmten Nottebohm-Entscheidung bestätigt13. Im Nottebohm-Fall ging es ebenfalls um die Konfiskation „deutschen" Privatvermögens als Feindvermögen: Der in Hamburg geborene Friedrich Nottebohm war seit 1905 geschäftlich in Guatemala tätig. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versuchte er sein Vermögen dadurch zu schützen, daß er die Staatsangehörigkeit des neutralen Fürstentums Liechtenstein annahm. Anfang Oktober 1939 stellte er durch Vermittlung seines Anwaltes Antrag auf Einbürgerung in Liechtenstein. Das liechtensteinische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1934 sah als Voraussetzung für die Einbürgerung einen Aufenthalt von mindestens drei Jahren im Inland vor. Ausnahmen vom Aufenthaltserfordernis waren möglich. Nottebohm wurde gegen eine Geldleistung in Höhe von 25.000,Schweizer Franken in den Heimatverband der Gemeinde Mauren aufgenommen; ein weiterer Betrag von 12.500,- Schweizer Franken ging an das Fürstentum. Der regierende Fürst erklärte hierauf am 13. Oktober 1939 sein „VorausVerständnis" zur Einbürgerung, und Nottebohm erhielt am 15. Oktober 1939 unter Beachtung aller Formvorschriften die Staatsangehörigkeit von Liechtenstein und einen Paß des Fürstentums, in den das guatemaltekische Generalkonsulat in Zürich sogleich ein Visum eintrug. Nottebohm kehrte Anfang 1940 wieder nach Guatemala zurück. Guatemala trat 1941 in den Krieg gegen Deutschland ein und betrachtete Nottebohm als Feindstaatenangehörigen und sein Vermögen als aneignungsfahiges Feindvermögen. Die Feindstaatengesetzgebung betrachtete alle Personen als Feindstaatenangehörige, die am 7. Oktober 1938 die Staatsangehörigkeit eines Staates besaßen, mit dem sich Guatemala im Kriegszustand befand. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhob das Fürstentum Liechtenstein wegen der Konfiszierung liechtensteinischen Privatvermögens in Guatemala Klage gegen Guatemala vor dem Internationalen Gerichtshof.

Schweiz. Eine völkerrechtliche Untersuchung, in: Liechtenstein, Politische Schriften, Bd. 5 (1976), S. 1 ff.; H. Merlin, Das souveräne Fürstentum Liechtenstein aus der Sicht des Völkerrechts, in: C. Schreuer (Hrsg.), Autorität und internationale Ordnung (1979), S. 111 ff.; B. M. Malunat, Die Verträge zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft - Politische Implikationen und völkerrechtliche Beurteüung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 36 (1986), S. 329 ff.; ders., Der Kleinstaat im Spannungsfeld von Dependenz und Autonomie - eine Fallstudie über das Fürstentum Liechtenstein (1987); G. Batliner, Liechtenstein und die europäische Integration (1989), S. 1 ff.. Siehe auch Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Die Außenpolitik des Fürstentums Liechtenstein. Standort und Zielsetzungen, Schriftenreihe der Regierung, Vaduz 1988; dies., Bericht über das Fürstentum Liechtenstein und die Europäische Integration vom 7. November 1989, in: Landtagsprotokolle 1989, III. Bericht Nr. 45. 13 Vgl. Nottebohm, Preliminary Objections, Judgement, ICJ Reports (1953) S. 111-125; Second Phase, Judgement ICJ Reports (1955) 4-65; ICJ Pleadings, Nottebohm, Vols I—II.

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In dem sich über Jahre erstreckenden Verfahren wurde von keiner Seite bestritten, daß Liechtenstein ein Staat mit eigener, allseits zu respektierender Staatsangehörigkeit ist. Mit 11 gegen 3 Stimmen hielt der IGH die Klage für unzulässig, weil Liechtenstein - wegen der dargelegten Besonderheiten des Einbürgerungsverfahrens im Fall Nottebohm - das Recht zum diplomatischen Schutz abgesprochen wurde. Die liechtensteinische Staatsangehörigkeit Nottebohms wurde zwar anerkannt, ihre völkerrechtliche Effektivität mangels ausreichenden Bezugs zu Liechtenstein jedoch in Zweifel gezogen. Daß das Recht souveräner Staaten, ihre Staatsangehörigkeit zu verleihen und ihr Recht, diplomatischen Schutz zu gewähren, divergieren können, ist nach der Nottebohm-Entscheidung heftig und lang anhaltend diskutiert worden14. Die Streitfrage braucht im Hinblick auf das in Deutschland anhängige Verfahren nicht vertieft werden, da die Effektivität der liechtensteinischen Staatsangehörigkeit des Fürsten von niemanden in Zweifel gezogen werden kann. 3. Das Fürstentum Liechtenstein war im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs ein neutraler Staat15. Die Effektivität der liechtensteinischen Neutralität wird nicht zuletzt durch das Nachkriegsschicksal der „1. Russischen Nationalarmee" unter General A. Holmston-Smyslowskij belegt. Die Überreste der Armee traten in der Nacht auf den 3. Mai 1945 auf liechtensteinisches Gebiet über. Als im Zweiten Weltkrieg neutrales Land weigerte sich das Fürstentum, ca. 500 russische Soldaten an die Sowjetunion auszuliefern und widersetzte sich allen Pressionen der sowjetischen „Repatriierungskommission" 16 . Deutschland hat die Neutralität Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland würdigte die von Liechtenstein im eben erwähnten Fall des Übertritts der 1. Russischen Nationalarmee über-

Eingehender zum Nottebohm-Fall J. H. Glazer, Affaire Nottebohm (Liechtenstein v. Guatemala), A Critique, Georgetown Law Journal, Bd. 44 (1955/56) S. 313 ff.; E. Loewenfeld, Der Fall Nottebohm, AVR Bd. 5 (1955/56), S. 387 ff.; A. N. Makarov, Das Urteü des Internationalen Gerichtshofs im Fall Nottebohm, in: ZaöRV, Bd. 16 (1955/56), S. 407 ff.; A. v. Dieckhoff, Fehlerhaft erworbene Staatsangehörigkeit im Völkerrecht (1956); E. Loewenfeld, Nationality and the Right of Protection in International Public Law, in: The transactions of the Grotius Society, Bd. 42 (1956), S. 5 ff.; W. Wengler, Betrachtungen zum Begriff der Staatsangehörigkeit, in: Internationalrechtliche und staatsrechtliche Abhandlungen, FS Schätzel (1960), S. 545 ff.; P. Weis, Effective Nationality (Nottebohm and after), in: Liber Amicorum Adolf Schnitzer (1979), S. 501 ff. 15 Vgl. D. Schindler, Liechtenstein, in: R. Bernhardt u.a. (Hrsg.) Encyclopedia of Public International Law Bd. 12 (1990), S. 220 ff.; daß Liechtenstein zu den neutralen Staaten im Zweiten Weltkrieg zählte, wurde auch vom Internationalen Gerichtshof in der oben (bei Anm. 13) erörterten Nottebohm-Entscheidung anerkannt. 16 Vgl. P. Raton, Liechtenstein - Staat und Geschichte (1969), S. 165 ff.

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nommenen Neutralitätspflichten und erstattete dem Fürstentum die entstandenen Internierungskosten 17. 4. Die tschechoslowakischen Eingriffe in das liechtensteinische Vermögen nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs fordern ein kurzes Eingehen auf den damaligen Stand der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem Fürstentum Liechtenstein. a) Zunächst ist festzustellen, daß der völkerrechtlichen Anerkennung eines Staates keine konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung zukommt, d.h. nicht die Anerkennung Liechtensteins bewirkt seine Völkerrechtssubjektivität, sondern der seit 1806 von der Staatengemeinschaft konstatierte Dreiklang von Staatsvolk, Staatsgebiet und souveräner Staatsgewalt18. Die gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein zeitweise betriebene tschechoslowakische Nichtanerkennungspolitik war schon deshalb für die staatliche Existenz und den neutralen Status des Fürstentums rechtlich bedeutungslos, weil bei der tschechoslowakischen Staatsgründung im Jahre 1918 das Fürstentum Liechtenstein als neutraler Staat bereits existent und anerkannt war; das gleiche galt für den Zeitpunkt der Wiederbegründung des tschechoslowakischen Staates im Jahre 1945 und für den der Neubegründung der Tschechischen Republik am 1. Januar 1993 (nach der Dismembration der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik zum 31. Dezember 1992). Insbesondere nach dem Beitritt Liechtensteins zum Statut des Internationalen Gerichtshofs (das Bestandteil der UN-Charta ist) im Jahre 1950 kann die staatliche Existenz des Fürstentums von keinem Mitglied der Vereinten Nationen in Zweifel gezogen werden. Die Erga-omnes-Wirkung der Staatsqualität eines politisch-rechtlichen Gemeinwesens erstreckt sich grundsätzlich auch auf seine Personalhoheit. Auch der nicht allseits anerkannte Staat regelt seine Staatsangehörigkeit nach eigenem Recht19. Allerdings versagt der nicht anerkennende Staat der Staatsangehörigkeit des nicht anerkannten Staates regelmäßig die Rechtswirkung in seinem Zuständigkeitsbereich20. Durch die Ver-

17

Vgl. H. Frhr. v. Vogelsang, Kriegsende in Liechtenstein. Das Schicksal der Ersten Russischen Nationalarmee (1985) und die Buchbesprechung von J. Hoffmann, in: M GM Heft 1 (1986), S. 267. 18 Vgl. F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 1. Bd. 2. Aufl., 1975, § 14; /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl., 1994, S. 160, 164. 19 Vgl. Staudinger-Blumenwitz, Internationales Privatrecht Bd. IV, Art. 24-28 a.F.; 5, 6 n.F. (1990), Art. 5 EGBGB n.F. Rn. 23 ff. und Art. 1 Haager Abkommen über die Konflikte der Staatsangehörigkeit, in: Hecker, Mehrseitige völkerrechtliche Verträge zum Staatsangehörigkeitsrecht, Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze Bd. 30 (1970). 20 Vgl. A. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 177 ff. m. w. N.

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sagung der Anerkennung gegenüber einem Staat werden dessen Staatsangehörige auf dem Gebiet des nicht anerkennenden Staates jedoch nicht vogelfrei. Der menschenrechtliche Mindeststandard ist durchwegs einzuhalten. Durch eine Nichtanerkennungspolitik darf sich auch ein kriegsführender Staat nicht der ihn grundsätzlich treffenden Pflichten gegenüber neutralen Staaten entziehen, da deren Neutralität wie territoriale Souveränität erga omnes, also auch gegenüber dem nicht anerkennenden Staat wirken. Einzelfragen können bis zur Klärung der Anerkennungsproblematik zurückgestellt werden. Die rechtliche Analyse der liechtensteinisch-tschechoslowakischen Anerkennungsfrage hat davon auszugehen, daß das Fürstentum Liechtenstein völkerrechtlich in vollem Umfang handlungsfähig ist. Liechtenstein kann seine Interessen international jederzeit selbst wahrnehmen. Es wird durch das der Schweiz auf völkerrechtlicher Grundlage erteilte Mandat zur Außenvertretung nicht eingeschränkt. Die Schweiz handelt in diesen Fällen aufgrund der Weisung der liechtensteinischen Regierung21. b) Auf der Grundlage der Art. 53 ff. des Friedensvertrags von St. Germain vom 10. September 1919 schieden die Gebiete Böhmen, Mähren und Slowakei aus dem österreichisch-ungarischen Territorium aus und konstituierten sich als souveränes Staatsgebilde. Die so entstandene Tschechoslowakische Republik verfolgte gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein zunächst eine Nichtanerkennungspolitik. Mit der Begründung, Liechtenstein verfüge nicht über eigene Streitkräfte, sprach sich die Tschechoslowakei dezidiert gegen die Aufnahme des Fürstentums in den Völkerbund aus. Die tschechoslowakische Regierung wies auch das mit Note vom 15. Oktober 1924 über die Schweiz vorgetragene Ersuchen Liechtensteins um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zurück. In ihrer Antwortnote vom 23. Januar 1925 erklärte die tschechoslowakische Seite, sie sehe sich nicht in der Lage, normale Beziehungen mit Liechtenstein aufzunehmen - „étant donné que certaines questions de principe entre la Tchécoslovaquie et le Liechtenstein n'étaient pas encore 21 Der konsularische und diplomatische Schutz der Schweiz für liechtensteinische Bürger werden ständig ausgeübt. Die konsularische Tätigkeit umfaßt auch die Ausstellung von liechtensteinischen Reisepässen und beruht auf einem nicht veröffentlichten Notenaustausch aus den Jahren 1943 und 1944. Vgl. //. Lokay, La Principauté de Liechtenstein. Ses relations avec la Confédération Helvétique et son statut juridique (1935); H. Thevenaz, Liechtenstein-Abkommen mit der Schweiz, in: Schweizerische Juristische Kartothek (1968), Nr. 731, S. 3; V. Lanfranconi, Die Staatsverträge und Verwaltungsabkommen zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein unter besonderer Berücksichtigung der daraus erwachsenen völkerrechtlichen Konsequenzen, Diss. Zürich 1969, S. 64 f. Der Tschechoslowakei waren die rechtüchen Besonderheiten der Mandatierung bekannt. Auf sie wurde in der an den Außenminister der Tschechoslowakei Jan Masaryk gerichteten schweizerischen Note vom 3. Februar 1947 ausdrücklich noch einmal verwiesen, vgl. Légation de Suisse en Tchécoslovaquie 120-0/8-1 -1 /G. - AR.

23 Festschrift Hacker

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réglées" (da bestimmte Grundsatzfragen zwischen der Tschechoslowakei und Liechtenstein noch nicht geregelt seien). Zu den Grundsatzfragen zählte die ungeklärte, nur teilweise umgesetzte erste Enteignung Liechtensteins, die nach der Staatsgründung der Tschechoslowakei 1918 mit der Begründung erfolgte, das Fürstenhaus sei - wie das Kaiserhaus Habsburg und als dessen oberster Vasall - Repräsentant der alten Obrigkeit und damit Staatsfeind 22. Das Fürstenhaus und das Fürstentum wurde als Privatfamilie eingestuft, nicht als Objekt des Völkerrechts. c) Der Wunsch Liechtensteins nach Aufnahme normaler Beziehungen zur Tschechoslowakei wurde erst wieder in einer an den tschechoslowakischen Außenminister gerichteten Note der schweizerischen Gesandtschaft in Prag vom 3. Mai 1938 vorgetragen: „Le Gouvernement Suisse, ayant lieu de croire que les raisons qui avaient provoqué, en son temps, cette décision négative, n'existent plus actuellement a chargé la Légation de poser, à nouveau, au Gouvernement Tchécoslovaque la question, si les intérêts liechtensteinois en Tchécoslovaquie pourraient, dorénavant, être assumés par les Autorités fédérales ... " 2 3 Deutsche Übersetzung: „Die Regierung der Schweiz, die Grund zur Annahme hat, daß die Gründe zur einstmals negativen Entscheidung gegenwärtig nicht mehr bestehen, hat die Gesandtschaft angewiesen, der Regierung der Tschechoslowakei erneut die Frage vorzulegen, ob die liechtensteinischen Interessen in der Tschechoslowakei künftig von der Eidgenossenschaft wahrgenommen werden könnten. "

Das tschechische Außenministerium beantwortete die Anfrage der Schweiz mit Note vom 30. Juli 1938 - diesmal positiv: „Donnant suite à la note de la Légation de Suisse No. A-11-/MW.1625 du 3 mai 1938, concernant la représentation par la Suisse des intérêts de la Principauté de Liechtenstein en Tchécoslovaquie, le Ministère des Affaires Entrangères a Thonneur de faire savoir à l'honorable Légation que le Gouvernement de la République Tchécoslovaque donne son assentiment à ce que la réprésentation des intérêts de ladite Principauté soit, dorénavant, assumée par les Autorités fédérales Suisses."24 Deutsche Übersetzung: „In Beantwortung der Note der schweizerischen Gesandtschaft No. A - l l - / MW. 1625 vom 3. Mai 1938 betreffend die Interessenvertretung des Fürstentums Liechtenstein in der Tschechoslowakei durch die Schweiz, beehrt sich das Außen22

Begründet wurde dies u.a. damit, daß das Haus Liechtenstein diese Güter in den Zeiten der Gegenreformation tschechischen und mährischen Geschlechtern abgenommen hätten. 23 Vgl. Note No. A-11-/MW.1625. 24 Vgl. Note 110.714/VI-1/1938.

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ministerium, der Gesandtschaft mitzuteilen, daß die Regierung der Tschechoslowakischen Republik ihre Zustimmung erteilt, daß die Vertretung der Interessen des genannten Fürstentums künftig durch die Behörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft wahrgenommen werden sollen. "

Durch den Notenwechsel vom 3. Mai/30. Juli 1938 wurden der Sache nach diplomatische Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem Fürstentum Liechtenstein hergestellt. Im Notenwechsel wurde zugleich geregelt, daß die Beziehungen beider Staaten über den auswärtigen Dienst eines dritten Staates abgewickelt werden, nämlich die zuständigen Behörden der von Liechtenstein bereits früher mandatierten Schweiz. Weiter mußte dem Notenwechsel die gegenseitige völkerrechtliche Anerkennung in den Beziehungen Fürstentum Liechtenstein - Tschechoslowakische Republik entnommen werden. Die Anerkennung kann auch bekanntlich konkludent oder stillschweigend erfolgen. Die konkludente Anerkennung erfolgt durch Akte, die den Willen erkennen lassen, das Gebilde, demgegenüber diese Akte erfolgen, als Völkerrechtssubjekt gelten lassen zu wollen. In der Aufnahme des diplomatischen Verkehrs wird ausnahmslos die konkludente völkerrechtliche Anerkennung gesehen25. Durch die Anerkennung wird eine rechtlich unklare Situation in bindender Weise rechtlich fixiert; die Anerkennung kann deshalb auch nicht mehr zurückgenommen werden. Die Aufnahme der Beziehungen zwischen Liechtenstein und der Tschechoslowakei geschah im Sommer 1938 zu einem Zeitpunkt, als sich die Krise des tschechoslowakischen Staates und die Intervention von außen bereits anbahnten. Zu intensiveren Kontakten zwischen den beiden Ländern konnte es deshalb nicht mehr kommen. Bedeutsam für die Klarstellung der Völkerrechtslage ist aber immerhin ein Schreiben, das der Präsident der Tschechischen Republik, Benesch, noch am 10. September 1938 an den Fürsten Franz Josef II. richtete, in dem er diesem zur Übernahme der Regierungsgewalt im Fürstentum Liechtenstein gratulierte. Das Schreiben vom 10. September 193826 entspricht in Form und Inhalt Briefen, wie sie bei ähnlichen Anlässen zwischen Oberhäuptern souveräner Staaten, die sich gegenseitig anerkannt haben, ausgetauscht werden:

25

Vgl. Dahm, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 142 ff.; Berber, Friedensrecht, 2. Aufl. 1975, S. 236; Verdross-Simma, Universelles Völkerrecht - Theorie und Praxis, 3. Aufl. 1984, § 966; siehe auch Anhegger, Völkerrechtliche Aspekte einer Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland, Diss. München 1972, S. 15 ff.; Blumenwitz, Die Einrichtung Ständiger Vertretungen im Lichte des Staats- und Völkerrechts (1975), S. 44. 26 Auf das Schreiben vom 10. September 1938 wird in der Note der Gesandtschaft der Schweiz in der Tschechoslowakei vom 3. Februar 1947 an den Minister für Äu23'

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„Son Altesse Sérénissime le Prince Franz Josef II - Vaduz - Monseigneur, J'ai reçu la Lettre, par laquelle Votre Altesse Sérénissime a bien voulu me faire connaître qu' Elle a assumée le règne de la Principauté de Liechtenstein. Il m'est agréable de pouvoir ainsi exprimer à Votre Altesse Sérénissime mes sincères félicitations auxquelles je joins mes voeux chaleureux pour un bon succès de Son règne. - Je suis, Monseigneur, Votre dévoué - Dr. Edvard Benes m.p. - Prague, le 10 septembre 1938". Deutsche Übersetzung: „Serenissimus Fürst Franz Josef II - Vaduz - Euer Durchlaucht, ich habe den Brief erhalten, in dem mir Serenissimus mitteüt, daß Er die Herrschaft im Fürstentum Liechtenstein angetreten hat. Es ist mir ein Vergnügen, Serenissimus hiermit meinen tiefempfundenen Glückwunsch auszudrücken, dem ich meine guten Wünsche für Seine erfolgreiche Herrschaft anfüge. - Ich bin, Durchlaucht, Euer ergebener - Dr. Edvard Benesch m.p. - Prag, den 10. September 1938."

Der Vorgang belegt über das protokollarische Ereignis hinaus, daß die Tschechoslowakische Republik mit dem Fürstentum Liechtenstein und seiner Dynastie völkerrechtlich auf der obersten Stufe verkehrte und daß kein Bereich, der üblicherweise Gegenstand zwischenstaatlicher Beziehungen sein kann, ausgespart bleiben sollte. Gerade der vorbehaltlose Kontakt zwischen den Staatsoberhäuptern beweist unwiderlegbar die völkerrechtliche Anerkennung. d) Die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren" und die Verselbständigung der Slowakei führte nach dem 16. März 1939 in Europa zu unterschiedlichen Reaktionen. Neben den unmittelbaren Nachbarn Polen und Ungarn nahmen auch der Heilige Stuhl und die Schweiz diplomatische Beziehungen zur „selbständigen" Slowakei auf und beendeten die Zusammenarbeit mit Prag27. Mit der an die tschechoslowakische Exilregierung in London gerichteten Note vom 28. Februar 1945 erklärte die Schweiz ihre Bereitschaft, die Beziehungen zur Tschechoslowakei wieder herzustellen und alle Kontakte zur Slowakei abzubrechen: „...que le Conseil Fédéral serait vivement désireux de reprendre, avec le Gouvernement de la République Tchécoslovaque, les relations diplomatiques qui ont longuement et heureusement existé entre nos deux pays et que à cet effet, le Conseil Fédéral vient de décider de rompre les rapports officiels ayant existé avec la Légation Slovaque à Berne."

ßere Angelegenheiten der Tschechoslowakischen Republik, Jan Masaryk - 120-0/8-1l/G.-A.R. - ausdrücklich Bezug genommen. 27 Vgl. Nachweise bei Blumenwitz, Die Benesch-Dekrete unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts, Forum für Kultur und Politik, Heft 6 (Febr. 1993), S. 5 ff. (17, Anm. 48).

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In der Antwortnote vom 21. März 1945 ging die tschechische Seite auf das schweizerische Angebot ein; in dem Schreiben an den Gesandten der Schweiz in London wurde der Vorschlag des Bundesrates angenommen. „...de rétablir aussitôt que possible avec lui les relations diplomatiques complètes qui ont longuement et heureusement existé entre nos deux pays avant la guerre actuelle..." - 2544/45/duv. Deutsche Übersetzung: „...mit ihm so bald wie möglich die diplomatischen Beziehungen wieder im vollen Umfang aufzunehmen, die vor dem gegenwärtigen Krieg lange und glücklich bestanden ..."

Bedeutsam ist, daß im Notenwechsel von einer „Wiederaufnahme" der Beziehungen gesprochen wird, die in „vollem Umfang" geschehen soll und daß in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Art der Beziehungen verwiesen wird, wie sie vor Kriegsbeginn bestanden haben. Die Schweiz durfte demnach davon ausgehen, daß damit auch der Notenwechsel vom 3. Mai / 30. Juli 1938 in die Wiederaufnahme der Beziehungen einbezogen war und demgemäß auch die von Liechtenstein mandatierten diplomatischen Befugnisse erfaßt waren. Eine entsprechende Klarstellung erfolgte durch die Note des eidgenössischen politischen Departements an die Gesandtschaft der Tschechoslowakei in Bern vom 6. September 1945: „Comme la Légation le sait, le Conseü Fédéral assume le représentation des intérêts de la Principauté de Liechtenstein auprès du Gouvernement de la République de Tchécoslovaquie conformément aux notes échangées à Prague les 3 mai et 30 juillet 1938." Deutsche Übersetzung: „Wie der Gesandtschaft bekannt ist, übernahm der (schweizerische) Bundesrat die Vertretung der Interessen des Fürstentums Liechtenstein bei der Regierung der Tschechoslowakischen Republik, entsprechend den am 3. Mai und 30. Juli 1938 in Prag ausgewechselten Noten. "

Nachdem diese Klarstellung von tschechoslowakischer Seite nicht in der üblichen Frist zurückgewiesen wurde und auch faktisch Liechtenstein in die Beziehungen der Schweiz mit der Tschechoslowakei mit einbezogen blieb, durfte die Schweiz guten Glaubens annehmen, daß diese Frage im Sinne des Notenwechsels vom 3. Mai / 30. Juli 1938 geregelt sei28. Liechtenstein zählte zu den - wenigen - Staaten, die 1939 die Beziehungen zu Prag nicht abbrachen. Liechtenstein vermied demgemäß alle Kontakte mit dem „selbständigen slowakischen Staat" und erkannte die von der tschecho28 Vgl. die Note der schweizerischen Gesandtschaft an den tschechischen Außenminister vom 3. Februar 1947 (120-0/8-l-l/G.-AR.) S. 6 f.

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slowakischen Exilregierung in London ausgestellten Pässe an. Dies wurde in einer Note an die tschechoslowakische Regierung ausdrücklich festgestellt 29. „II (le Gouvernement de la Principauté) tient à relever en première ligne qu'U n'a pas reconnu au cours de la deuxième guerre mondiale le Protectorat de Bohême et de Moravie, pas plus que l'Etat slovaque créé par l'Allemagne et n'a entretenu aucune relation officielle avec eux. Si, par suite de l'occupation du territoire tchécoslovaque par les Allemands, les relations entre la Tchécoslovaquie et le Liechtenstein ont été interrompues de fait, elles ne l'ont certainement pas été en droit. Cette situation a été reconnue par le Liechtenstein qui avait, par exemple, admis en son temps la pleine validité des passeports délivrés par le Délégué en Suisse du Gouvernement tchécoslovaque en exil à Londres." Deutsche Übersetzung: „Sie (die Regierung des Fürstentums) legt in erster Linie Wert auf die Tatsache, daß sie im Verlauf des Zweiten Weltkrieges das Protektorat Böhmen und Mähren nicht anerkannt hat, ebensowenig den durch Deutschland ins Leben gerufenen slowakischen Staat, mit denen sie keine offiziellen Beziehungen unterhielt. Wenn aufgrund der Besetzung tschechoslowakischen Territoriums durch die Deutschen die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Liechtenstein durch diese Tatsache unterbrochen wurden, geschah dies sicherlich nicht rechtmäßig. Dies wurde dadurch bestätigt, daß z.B. Liechtenstein die volle Gültigkeit der in der Schweiz von Delegierten der tschechoslowakischen Exilregierung in London ausgestellten Pässe anerkannte."

In der eben zitierten Note vom 3. Februar 1947 vertritt Liechtenstein den Standpunkt, eine formelle Wiederaufnahme der Beziehungen sei in bezug auf das Fürstentum im Jahre 1945 gar nicht erforderlich gewesen, da sich in seinen Beziehungen zur Tschechoslowakei nach 1938 juristisch nichts geändert habe: „Dans toutes les éventualités, un rétablissement formel des relations officielles entre la Tchécoslovaquie et le Liechtenstein n'est donc pas nécessaire, les deux états étant restés l'un à l'égard de l'autre dans la situation juridique dans laquelle Us se trouvaient en 1938." Deutsche Übersetzung: „Unter all diesen Umständen ist die formelle Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Liechtenstein nicht notwendig, da beide Staaten gegenseitig in der juristischen Situation verblieben, in welcher sie sich im Jahre 1938 befanden."

5. Mit ihrer Wiedererrichtung 1945 nahm die Tschechoslowakei 1945 ihre gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein 1920-1938 verfolgte Nichtanerkennungspolitik wieder auf.

29 Vgl. die an den tschechoslowakischen Außenminister, Jan Masaryk, gerichtete Note der Gesandtschaft der Schweiz in der Tschechoslowakei vom 3. Februar 1947.

Die tschechisch-liechtensteinischen Beziehungen

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In einer vom Außenminister Jan Masaryk an den schweizerischen Gesandten in Prag gerichteten Note vom 25. Juni 1946 (c. 78.818/VI/46) erläuterte die Tschechoslowakische Republik ihren Standpunkt wie folgt: „Prerusenim diplomatickych styku mezi Ceskoslovensekm a Svycarskem, k nemuz doslo za znamych okolnosti, byly pieruseny i styky mezi Ceskoslovenskem a Liechtensteinskem. Diplomatické styky mezi Ceskoslovenskem a Svycarskem byly opetne obnoveny vymenou not ze dne 28. ùnora a 21. brezna 1945 mezi Ceskoslovenskym ministerstvem zahranicnich veci, sidlicim tehdy ν Londyne, a svycarskym vyslanectvim ve Velks Britanii. V techto notach nebyla ucinena zâdna zminka ο ..." Deutsche Übersetzung des teilweise unleserlichen Textes: „Die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der Schweiz, die unter bekannten Umständen erfolgte, hat auch die Unterbrechung der (diplomatischen) Beziehungen zu Liechtenstein zu folge gehabt. Die diplomatischen Beziehungen der Tschechoslowakei zu der Schweiz wurden durch den Austausch der (diplomatischen) Noten vom 28. Februar und 21. März 1945 zwischen dem tschechischen Außenministerium, das zu der Zeit in London residierte, und der schweizerischen Botschaft in Großbritannien wieder aufgenommen. In diesen Noten wurden die Beziehungen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Tschechoslowakischen Republik in keiner Weise erwähnt."

Die tschechoslowakische Regierung folgerte, daß die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Fürstentum Liechtenstein nicht wieder hergestellt worden seien und deshalb auch eine Vertretung liechtensteinischer Interessen durch die schweizerischen Behörden nicht in Betracht kommen könne. Trotz der Intervention sowohl der schweizerischen als auch der liechtensteinischen Regierung hielt die Tschechoslowakei am geschilderten Standpunkt fest. Wurde das Fürstentum 1919 noch mit der feindlichen Macht Kaiserhaus Habsburg identifiziert, folgte nach 1945 die Gleichschaltung mit dem Feindstaat Deutsches Reich. Derselbe Edvard Benesch, der noch am 10. September 1938, als sich die Tschechoslowakei von allen ihren Bündnispartnern verlassen sah, „Serenissimus Fürst Franz Josef II" zum „Antritt der Herrschaft im Fürstentum Liechtenstein" beglückwünschte, erklärte 1945: „Ich kenne keinen souveränen Staat Liechtenstein" und handelte nach dem: wer Deutsch spricht, ist Deutscher. Das Benesch-Dekret Nr. 12 vom 21. 6. 1945 umschreibt den Personenkreis der entschädigungslos zu Enteignenden mit Personen, „welche bei jeder Volkszählung seit dem Jahre 1929 sich zur deutschen oder ungarischen Nationalität angemeldet haben30. Den Einwand, der Fürst von Liechtenstein habe sich zwischen 1929 und 1939 nie 30

Vgl. § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 lit. a des Dekrets.

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in eine tschechoslowakische Volkszählungsliste eingetragen, konterte das letztinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht Bratislava mit der Feststellung, die deutsche Volkszugehörigkeit des Fürsten sei „allgemein bekannt4431. Der zuständige Beschwerdeausschuß („Landesnationalausschuß44) in der Tschechoslowakei hatte zuvor verbeschieden, für die Beurteilung der Konfiskation des liechtensteinischen Vermögens sei es „vollkommen belanglos, ob jemand Ausländer oder unser Staatsangehöriger, Oberhaupt oder Bürger eines neutralen oder anderen Staates ist. Sowohl der bürgerlich nationale als auch der sozialistische Tschechoslowakismus setzte sich über alle gültigen Regeln des Völkerrechts in der liechtensteinischen Frage hinweg32. Der am 1. Januar 1993 neu entstandene tschechische Staat knüpft in Sachen Benesch-Dekrete an alte Traditionen an. In der einschlägigen Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik vom 8. März 1995 werden die Benesch-Dekrete erneut bekräftigt und gerechtfertigt 33. Im einzelnen führt das Gericht aus, „daß der maßgebliche Gesichtspunkt bei der Bestimmung der Subjekte des konfiszierten Vermögens die feindselige Einstellung gegenüber der Tschechoslowakischen Republik oder gegenüber dem tschechischen oder slowakischen Volk ist44. Dies bedeutet, daß „bei den natürlichen Personen deutscher oder madjarischer Nationalität eine widerlegbare Vermutung besteht, und zwar in dem Sinne, daß das Vermögen dieser Personen nicht konfisziert wird, wenn sie beweisen, daß sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals etwas gegen das tschechische oder das slowakische Volk zuschulden kommen ließen und sich entweder aktiv am Kampf um deren Befreiung beteiligt oder unter nazistischen oder faschistischem Terror gelitten haben.44 Das Urteil versucht sodann, den historischen Schuldnachweis erneut zu erbringen und vor den „Rechtsprinzipien der zivilisierten Gesellschaften Europas44 zu rechtfertigen: Das Urteil unterscheidet zunächst zwischen Schuld und Verantwortung, macht dann diesen - prinzipiell möglichen - Denkansatz aber dadurch zunichte, daß es als Sanktion gegen die (nur) „verantwortlichen 44 Volksgruppen eine Maßnahme gutheißt, die auch gegenüber einem individuell strafrechtlich Schuldigen nicht weiter steigerungsfähig wäre. Das Urteil erweckt dann weiter - unter Bezugnahme auf die Widerlegbarkeit der Verantwortungsvermutung - den Anschein, die Verantwortlichkeit der Enteigneten 31

Entscheidung vom 21. 11. 1951, Az.: GZ 138/45-5. Zu den strafrechtlichen Vorwürfen der angeblichen Illoyalität gegenüber dem tschechischen und slowakischen Volk sowie zur Immunität des Fürsten als Staatsoberhaupt vgl. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrechtswidrigkeit der Konfiskation eines Gemäldes aus der Sammlung des Fürsten von Liechtenstein als angeblich „deutsches" Eigentum, in: IPRax 1996, S. 410 ff. (411). 33 Az.: PI VS 14/94, auszugsweise in: BayVBl. 1996, S. 14 ff. 32

Die tschechisch-liechtensteinischen Beziehungen

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sei individuell ermittelt worden. Auf die „Vollzugswirklichkeit 44 im Jahre 1945/4634 wird ebensowenig eingegangen wie auf das Verbot der Kollektivstrafe als Bestandteil der Haager Landkriegsordnung und der allgemeinen Menschenrechte35. Die Bundesrepublik Deutschland wird in das Geschehen involviert, da deutsche Zivilgerichte dem Art. 3 VI. Teil Überleitungsvertrag 36 eine versteckte Kollisionsnorm entnehmen: Die Enteignung soll sich ausschließlich nach dem Recht (oder Unrecht) des konfiszierenden Staates beurteilen37; auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Erlangung der vollen Souveränität fehlt deutschen Gerichten angeblich die Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit, den tschechoslowakischen Hoheitsakt an den Maßstäben zwingender Normen des Völkerrechts - ius cogens - zu messen38. In der deutschtschechischen Erklärung toleriert die Bundesrepublik Deutschland tschechoslowakisches Unrecht und bescheinigt der tschechischen Republik die Einhaltung des Völkerrechts und die Europareife 39. Damit wird die Frage aufgeworfen, ob der deutsch-tschechische Ausgleich nicht letztlich zu Lasten des Fürstentums Liechtenstein geht, dessen allseits zu schützende Staatlichkeit und Neutralität verletzt werden. Die Bundesregierung will die Verletzung ihrer Pflichten gegenüber einem neutralen Staat durch die äußerst restriktive Interpretation der gemeinsamen Erklärung sicherstellen40. Im liechtensteinischen 34

Zu den Willkürentscheidungen in der Sache Liechtenstein siehe oben Anm. 31. Vgl. W: Rzepka, Urteüsanmerkung, in: BayVBl. 1996, S. 17; ferner F. Czermak, Offene Vermögensfragen zwischen Tschechen und Deutschen, in: BayVBl. 1997, S. 719 ff. 36 Der Sechste Teü des ÜberleitungsVertrages regelt die deutschen „Reparationen". Art. 3 enthält den sog. Einwendungsverzieht der deutschen Seite. Abs. 1 dieser Vorschrift lautet: „Die Bundesrepublik wird in Zukunft keine Einwendungen gegen die Maßnahmen erheben, die gegen das deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind und werden sollen, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke der Reparation oder Restitution oder auf Grund des Kriegszustandes oder auf Grund von Abkommen, die die Drei Mächte mit anderen alhierten Staaten, neutralen Staaten oder ehemaligen Bundesgenossen Deutschlands geschlossen haben oder schließen werden." Abs. 3 der Vorschrift enthält einen sog. Klagestopp: „Ansprüche und Klagen gegen Personen, die auf Grund der in Absatz (1) dieses Artikels bezeichneten Maßnahmen Eigentum erworben oder übertragen haben, sowie Ansprüche und Klagen gegen internationale Organisationen, ausländische Regierungen oder Personen, die auf Anweisung dieser Organisationen oder Regierungen gehandelt haben, werden nicht zugelassen. " 35

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Vgl. BGHZ 32, 170. Vgl. oben Anm. 36. 39 Einzelheiten bei D. Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, in: AVR 1998, S. 367 ff. 40 Vgl. die Verbalnote der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bern vom 10. Juni 1997 an die Botschaft des Fürstentums Liechtenstein: Bei der deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwick38

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Bilderstreit muß sie Farbe bekennen; sie muß sich für den liechtensteinischen oder den tschechischen Standpunkt entscheiden und dabei sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Entscheidungskompetenz des Internationalen Gerichtshofs einkalkulieren.

lung vom 21. Januar 1997 handelt es sich um eine bilaterale politische Erklärung, die die Rechte dritter Staaten und deren Angehöriger nicht berührt. Was im übrigen die Frage deutscher vermögensrechtliche Ansprüche betrifft, ist mit der Erklärung keine Aufgabe von Rechtspositionen verbunden. Es wird im Gegenteü ausdrücklich eine Unterschiedlichkeit der Rechtsauffassungen zwischen beiden Staaten festgehalten, wie in Ziffer IV der Erklärung zum Ausdruck kommt, worin es heißt: „... wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat".

Kirchenasyl" und ziviler Ungehorsam* Von Rupert Hofmann Wenn der Name nicht stimmt, ist die ganze Art unseres Sprechens nicht in Ordnung. Konfuzius

Die Kirchen in Deutschland reden in der Frage der Berechtigung eines sogenannten „Kirchenasyls" mit gespaltener Zunge. In ihrem „Gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht" mit dem nichtssagenden Titel „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist" vom 4. Juli 1997 heißt es in einem eigenen Kapitel (6.4.3) mit der Überschrift „Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall ('Kirchenasyl')" zunächst beschreibend (Ziff. 255): „Nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel durch die Betroffenen sehen manche in der Gewährung eines ... 'Kirchenasyls* häufig die letzte Möglichkeit, um in einem konkreten Einzelfall Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden und eine drohende Gefahr für Leib und Leben im Rückkehrland abzuwenden." Bei der Bewertung dieser Vorgehensweise wird sodann einerseits ausgeführt, es sei „verständlich und auch legitim, wenn Kirchengemeinden in bestimmten Einzelfällen nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich schützend vor einen Menschen stellen zu müssen, um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende Grundrechtsschutz versagt wird" (Ziff. 256). Es folgt der reichlich vieldeutige Passus (Ziff. 257): „Es ist von ihrem Selbstverständnis her Aufgabe der Kirche, immer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen verletzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen ergibt." Des weiteren: „Die Praxis des sogenannten 'Kirchenasyls' ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik, ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahren. Kirchengemeinden, die sich für die Verwirklichung dieser Menschen- und Grundrechte einsetzen, stellen daher nicht den Rechtsstaat in Frage, sondern leisten einen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens und der Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie verdienen für ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den Grundlagen unseres Glaubens gehören, * Der Beitrag wurde Mitte Januar 1998 abgeschlossen.

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grundsätzlich Unterstützung und Anerkennung." Schließlich wird gesagt, so als habe man nicht bereits mit dem Vorstehenden den Rechtsbruch aus Gewissensgründen gerechtfertigt: „Diejenigen, die aus einem Gewissenskonflikt heraus weitergehen [!?] und sich zu einem begrenzten Verstoß gegen die bestehenden Rechtsvorschriften entschließen, müssen dafür freilich wie bei allen Aktionen zivilen Ungehorsams auch selbst die Verantwortung tragen." Andererseits findet sich in dem zitierten Abschnitt auch die gegenläufige Versicherung: Weder nähmen die Kirchen mit der „Praxis des 4Asyls in der Kirche'... für sich einen rechtsfreien Raum in Anspruch, noch bestreiten sie dem Staat das Recht, seine Entscheidungen gegebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume durchzusetzen." Unter Berufung auf diesen einen Satz bei Ausblendung alles übrigen empörte sich der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, über sich alsbald zu Wort meldende Kritiker des Kirchenpapiers, indem er „Mißverständnisse und gezielte Fehlinterpretationen" des Gemeinsamen Wortes beklagte. In der Erklärung habe man sich bewußt nicht den Begriff Kirchenasyl zu eigen gemacht, und es werde deutlich gesagt, daß es auch für die Kirche keinen rechtsfreien Raum gebe. Ausdrücklich kritisierte Lehmann, mancher - „auch aus dem Bereich der Politik" - habe über die Erklärung gesprochen, ohne sie gelesen zu haben.1 Den letzteren Vorwurf konnte man den Benediktinerinnen des Klosters Dinklage nicht machen. Knapp zwei Wochen nach Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes hinderten sie Polizeibeamte, welche eine ukrainische Familie trotz gewährten „Kirchenasyls" rechtmäßig festgenommen hatten, an der Abfahrt, indem sie, den Rosenkranz betend, eine Kette bildeten und sich auf die Straße setzten. Die Ordensschwestern erfüllten damit den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 des Strafgesetzbuches. Zu ihrer Rechtfertigung aber beriefen sie sich wörtlich auf den oben wiedergegebenen Satz aus Ziff. 256 des Kirchenwortes, ferner auf die Regel ihres Ordensgründers, wonach „Gäste oder Freunde, die zum Haus kommen, wie Christus aufgenommen werden" sollen, endlich darauf, daß bei dem Verhalten der Beamten „das Gewissen und das Gesetz nicht in Einklang miteinander" gewesen seien.2 Wurde da nun etwas „mißverstanden" oder „gezielt fehlinterpretiert"? Gewiß, den Vorbehalt aus Ziff. 257, wonach es auch für die Kirche keinen rechtsfreien Raum gibt, müssen die wackeren Nonnen wohl überlesen haben. Gleichwohl stellt sich angesichts ihres Verhaltens denn doch die Frage:

1 2

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 1. August 1997, S. 1. Regensburger Bistumsblatt vom 3. August 1997, S. 12.

„Kirchenasyl" und ziviler Ungehorsam

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„Haben diejenigen, die den Text autorisiert haben, vorausgesehen, welche Verwirrung sie damit stiften würden?"3 Indessen ist Zwiespältigkeit schon seit längerem ein unübersehbares Kennzeichen kirchlicher Verlautbarungen zum Thema „Kirchenasyl". So ist Bischof Lehmann in einem Spiegel-Interview vom 16. Mai 1994 für „das Recht" eines jeden eingetreten, „sich ausnahmsweise gegen staatliche Anordnungen zu stellen", wenn er „nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis [kommt], daß er einen Menschen vor Gefahr schützen muß"4. Er glaube, „daß es Situationen geben kann, in denen jemand aufgrund seiner Gewissensentscheidung und nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis kommt, daß er um eines höheren Gutes willen - gegen die bestehenden Regelungen verstoßen muß". In einem nachfolgenden Schreiben an den Bundesinnenminister nahm er davon nichts zurück, betonte aber, er habe zu einem solchen Handeln nicht aufgerufen und nicht ermutigt. „Ich habe klar festgestellt, daß es kein Recht auf ein 'Kirchenasyl' gibt; die Befugnis des Staates zur Durchsetzung seiner Regelung wurde ausdrücklich bejaht; Kirchen sind kein rechtsfreier Raum, die Polizei hat durchaus Zutritt." 5 Ähnlich die „Zehn Thesen der EKD zum Kirchenasyl" vom 10. September 1994.6 Darin heißt es einerseits in These 3: „'Kirchenasyl' als eine eigene Rechtsinstitution gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Die Kirche nimmt ein solches Recht auch nicht in Anspruch. Sie darf auch nicht den Anschein eines solchen Rechtes erzeugen durch ein Verhalten, mit dem die Scheu staatlicher Organe vor dem Vollzug rechtmäßiger Maßnahmen in kirchlichen Räumen ausgenutzt werden soll." Andererseits wird gesagt: „Christen, die aus Gewissensgründen bei ihrer Hilfe für Bedrängte gegen gesetzliche Verbote verstoßen, haben Anspruch darauf, daß ihre Kirche ... ihnen Respekt und Schutz nicht verweigert", nur könne die Kirche zu solchen Entscheidungen nicht aufrufen, und sie oder eine bestimmte Gemeinde dürfe in den Rechtsbruch nicht hineingezogen werden (These 6). Davon freilich ist das Gemeinsame Wort inzwischen abgerückt, indem beide Kirchen nunmehr bei der Gewährung von „Kirchenasyl" nicht einzelne Christen, sondern die Kirchengemeinden selbst ihrer „Unterstützung und Anerkennung" versichern (Ziff. 257). Angesichts dieses entschiedenen „Jeins" der Kirchen zur Praxis des „Kirchenasyls", das es auch nach kirchlicher Auffassung im Rechtssinne gar 3 Rudolf Wassermann, „Der Ungehorsam der Benediktinerinnen von Dinklage" in: Die Welt vom 19. Juli 1997. 4 DER SPIEGEL 1994, Nr. 20, S. 51. 5 Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 20. Mai 1994, S. 22. 6 „'Beistand ist nötig, nicht Widerstand* - Zehn Thesen der EKD zum Kirchenasyl" in: Ökumenische Rundschau 43 (1994), S. 469 ff.

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nicht gibt, fragt es sich, wie eine weniger widerspruchsvolle Beurteilung dieses Phänomens möglich ist. 1. Schutzbereich von Glaubens- und Kirchenfreiheit

In der Tat bedarf es keiner umständlichen Darlegung, daß ein (Recht auf ein) Kirchenasyl, wie es im Altertum und Mittelalter bestand, im modernen Verfassungsstaat hinfällig geworden ist. Die protestantischen Kirchen haben es ohnedies nie für sich beansprucht und die katholische Kirche hat dieses Fossil zwar bis 1983 in ihrem Kirchenrecht formell beibehalten, bis es im neuen Codex Iuris Canonici gestrichen wurde. Es betraf auch nicht politisch Verfolgte, sondern geflohene Straftäter, die insbesondere in Zeiten mangelhaften Rechtsschutzes vor Blutrache bewahrt werden sollten.7 Sich dieses Namens im Zusammenhang mit der heutigen Asylproblematik zu bedienen, bedeutet daher auch dann einen Sophismus, wenn man ihn vorsichtshalber in Anführungszeichen setzt. Man suggeriert damit, daß Kirchenasyl zu gewähren nach wie vor eine zumindest moralische Pflicht der Kirche sei. Zu den „Grundlagen des Glaubens44 hat das klassische Kirchenasyl allerdings nie gehört. Es hiermit in Verbindung zu bringen, wozu sich das Gemeinsame Wort versteigt, ist nichts weiter als der propagandistische Versuch, es gegen Kritik zu immunisieren. Die Kirchen verfügen auch über keine beliebige Definitionsmacht, ein Kirchenasyl neuer Art von sich aus zu einer „eigenen Angelegenheiten44 im Sinne von Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV zu machen, denn ein gegenüber dem staatlichen Asyl gleichsam „subsidiäres Kirchenasyl im Rechtsstaat hat historisch keine Vorläufer 44. Zu den „eigenen Angelegenheiten44 der Kirchen gehört das Asylwesen im modernen Staat nicht mehr.8 Der pauschalierende Hinweis auf die „Ausübung karitativer, bzw. drakonischer Handlungen als religiös fundierte 'tätige Nächstenliebe'"9 oder auf eine „kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen"10, die seit jeher zum Selbstverständnis der christlichen Lehre gehört hätten,11 geht demgegenüber ins Leere, weil mit

Vgl. zur Geschichte des Kirchenasyls etwa die Beiträge von Peter Landau („Asylrecht" in : Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4, 1979), Hans-Jürgen Becker („Asyl - Welti. Recht" in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 1980) sowie Wilhelm Volkert („Asyl" in: Ders., Adel bis Zunft. Ein Lexikon des Mittelalters, 1991). 8 Uwe Kai Jacobs, „Kirchliches Asylrecht" in: Zeitschrift für evangeüsches Kirchenrecht 35 (1990), S. 25 ff. (36 f.). 9 Max-Emanuel Geis, „Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat" in: Juristenzeitung 1997, S. 60 ff. (62). 10 Gemeinsames Wort, Ziff. 257. 11 Geis, aaO. [Anm. 9].

„Kirchenasy

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Hilfe derartiger Blankettformeln die gesamte Rechtsordnung immer dann unterlaufen werden könnte, wenn jemand durch diese einen fühlbaren Nachteil erleidet, nicht zuletzt auch dann, wenn ein Delinquent zu einer Strafe verurteilt worden ist. Folgerichtig garantiert denn auch die Verfassung das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nur "innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes", wozu unstreitig auch die ausländerrechtlichen Vorschriften gehören. Das Institut der Abschiebung etwa trifft „die Kirche in ihrer Besonderheit nicht härter als jedes andere staatliche Zugriffsrecht auf gesuchte Personen, etwa nach der Strafprozeßordnung" 12. Für eine Güterabwägung zwischen dem Institut der „Kirchenfreiheit" auf der einen und dem Zweck des jeweils schrankenziehenden Gesetzes auf der anderen Seite, welches z.B. Max-Emanuel Geis auch für das „Kirchenasyl" fordert, 13 ist daher von vornherein keinerlei Raum. „Das Einreise- und Aufenthaltsrecht einschließlich des Asylrechts fallen in die ausschließliche Kompetenz des Staates. Diese sind kein Gegenstand für die Selbstbestimmung der Kirche ... Wenn die Kirche sich außerhalb ihres Wirkungskreises bewegt, in dem ihr Selbstbestimmung zukommt, kann sie, wie jeder andere auch, von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen, aber sie kann nicht die Durchsetzung des staatlichen Rechts vereiteln, tätigen Ungehorsam leisten und so nach ihren Vorstellungen den Geltungsanspruch des für alle geltenden Gesetzes relativieren. Der Verfassungsstaat gäbe sein Fundament der säkularen Allgemeinheit preis, wenn er das Recht seiner Gebietshoheit der Disposition kirchlicher Stellen anheim gäbe und duldete, daß diese das Ergebnis demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren torpedierten, etwa durch die Anmaßung, ein 'Kirchenasyl' zu präsentieren."14 Obwohl von den Kirchen das Grundrecht der Religions(ausübungs)freiheit für die Praxis des Kirchenasyls nicht ausdrücklich, sondern allenfalls implizit reklamiert wird, finden sich freilich in der Literatur auch Stimmen, welche die gegenwärtige Form kirchlichen Asyls, eines „Kirchenasyls im modernen Sinn" 15 , unmittelbar in der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) verankert

12

Jacobs, aaO. [Anm. 8], S. 38. Geis, aaO. [Anm. 9], S. 63. - Die von Geis in diesem Zusammenhang herangezogene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft durchweg Fragen der innerkirchlichen Organisation, Normsetzung und Verwaltung. In dem von ihm zum leading case stilisierten Fall (BVerfGE 72, 278 ff.) ging es beispielsweise um die Zusammensetzung von Berufsbüdungsausschüssen im Bereich kirchlicher Verwaltungsausbüdung! 13

14

Josef Isensee, „Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat" in: J. Listl / D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2 1995, Bd. II, § 59, S. 665 ff. (735). 15 Geis, aaO. [Anm. 9], S. 62.

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sehen wollen.16 Soweit dabei nicht ebenso wie im Rahmen von Art. 137 Abs. 3 WRV in plakativer Weise auf die Gewährleistung „diakonischen und karitativen Handelns" abgestellt und hieraus ohne nähere Begründung die Berechtigung von „Schutz und Hilfe" auch für bereits „abgewiesene Asylbewerber" hergeleitet wird, 17 wird zur Untermauerung der These auch der vom Bundesverfassungsgericht schon vor 30 Jahren entschiedene sog. „Lumpensammlerfall" bemüht.18 Das Gericht hatte seinerzeit eine von einer katholischen Landjugendvereinigung durchgeführte Altmaterialsammlung, deren Erlös für die Landjugend in Entwicklungsländern bestimmt war, als Religionsausübung unter den Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG gestellt. Flugs wird daraus mit einem abenteuerlichen Syllogismus gefolgert: „Ist aber bereits der mittelbare Schutz der Nächstenliebe (nämlich durch Verkauf gesammelter Altkleider und Spende des Erlöses) grundrechtsgeschützt, dann ist es erst recht die karitative Hilfe, die Flüchtlingen unmittelbar durch christliche Gemeinden gewährt wird." 19 Um welche Art von „Hilfe" es sich jeweils handelt, muß nach dieser Logik offenbar ebenso unberücksichtigt bleiben, wie die Frage, ob denn diesen Flüchtlingen ein Aufenthaltsrecht zur Seite steht oder nicht. Eindringliche Warnungen vor einer „unübersehbaren Ausweitung des Schutzbereiches von Art. 4 GG" im Anschluß an jene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aber in Absehung von deren konkretem Anlaß,20 sind hier ungehört verhallt. Art. 4 GG verlöre durch eine solche Überdehnung „seine objektive tatbestandliche Umgrenzung"21. Die Kompetenz-Kompetenz, „die der moderne Staat seit Generationen gegenüber der Gesellschaft beansprucht", verlagerte sich nicht nur auf die Kirchen, sondern auf jedwede Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft mit der Folge, daß der Staat „im Extremfall völlig depossediert werden" könnte.22 Aus gutem Grund haben daher internationale Menschenrechtserklärungen, anders als der Parlamentarische Rat, die Religionsfreiheit ausdrücklich unter den Vorbehalt von gesetzlichen Einschränkungen gestellt, die u.a. zum Schutz der öffentlichen Si-

16 Gerhard Robhers, „Kirchliches Asylrecht?" in: Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1988), S. 30 ff. (43 f.). 17 Dieter Kraus, „Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung" in: H.-J. Guth / M. Rappenecker (Hrsg.), Kirchenasyl. Probleme - Konzepte - Erfahrungen, 1996, S. 58 ff. (60). 18 Geis, aaO. [Anm. 9], S. 63. 19 Ebd. 20 Axel vom Campenhausen, „Religionsfreiheit" in: 7. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 136, S. 369 ff. (Rdnr. 71). 21 Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3 1985, Art. 4 Abs. 1, 2 (Rdnr. 34). 22 Roman Herzog, Kommentierung zu Art. 4, in: Th. Maunz / G. Diirig / R. Herzog /R. Scholz u.a., Grundgesetz-Kommentar, 1996, Rdnr. 104.

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cherheit und Ordnung erforderlich sind.23 Solche notwendigen Beschränkungen können auch unter der Geltung des nur scheinbar vorbehaltlos gewährleisteten Art. 4 GG nicht unberücksichtigt bleiben. Unabhängig davon ist die These von einer im Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit wurzelnden Gewährung von „Kirchenasyl" nicht zu Ende gedacht, worauf Ludwig Renck zu Recht aufmerksam gemacht hat. Zum einen käme ein solches Privileg wegen der verfassungsrechtlichen Gleichstellung von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 137 Abs. 7 WRV/Art. 4 Abs. 1 GG) nicht nur den Kirchen zugute, so daß „selbst die organisierten Atheisten 'Kirchenasyl' gewähren können müßten. Daß 'Kirchenasyl regelmäßig innerhalb katholischer oder evangelischer Kirchen gewährt wird' 24 , ist wohl eher die Folge des Umstands, daß der Staat größere Hemmungen hat, in katholische oder evangelische Kirchengebäude einzudringen, als dies bei Bethäusern oder Versammlungsräumen kleinerer Gruppierungen der Fall ist" 25 , mithin weniger eine Rechts- als eine Machtfrage. Zum anderen ließe sich nach Art eines grundrechtlich garantierten Kirchenasyls so ziemlich jedes gesellschaftliche Engagement für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" 26 als „eigene Angelegenheit" der Kirchen definieren. „So könnte, je nachdem, wie gerade die maßgebliche organisierte Erkenntnisautorität ihr Selbstverständnis artikuliert, jeder einschlägige gesellschaftliche Vorgang auf verfassungsrechtlicher Grundlage zum rechtlich abgesicherten Gegenstand kirchlicher Intervention in die staatliche Verwaltung werden. Vor dieser Konsequenz kann man nur erschauern." 27 Einem solchen Mißstand wäre auch kaum mit der von Geis offenbar zur Vermeidung derartiger äußerster Konsequenzen favorisierten, vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Wechselwirkungstheorie" zu begegnen, wonach zwar einerseits die Kirchenasylgewährung auf die Schranke des für alle geltenden Gesetzes stößt, dieses aber selbst wiederum im Rahmen einer „notwendigen Güterabwägung" relativiert werden muß. Von allen grundsätzlichen Einwänden gegen diese Theorie einmal abgesehen, welche in den Vorwurf münden, daß sie ei-

23 Art. 18 Ziff. 3 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 9 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention. 24 Geis, aaO. [Anm. 9], S. 62. 25 Ludwig Renck, „Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl" in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1997, S. 2089 ff. (2090). 26 Vgl. das gleichnamige Forum der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, das in seiner Stuttgarter Erklärung von 1988 bemerkenswerterweise auch die „Notwendigkeit der Gewährung von Kirchenasyl" postuliert hat; zit. nach Jacobs, aaO. [Anm. 8], S. 36 f. 27 Renck, aaO. [Anm. 25].

24 Festschrift Hackcr

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nen kaum erträglichen Verlust an Rechtssicherheit zur Folge hat,28 führte eine solche verfassungsrechtliche Äquilibristik „unbegrenzter Abwägung"29 im konkreten Fall unvermeidlicherweise dazu, „durch Überbetonung des kirchlichen Selbstverständnisses die Definitionsbefugnis des Staates im Rechtsbereich zu schmälern und seinen Handlungsspielraum einzuschränken"30, ein unter demokratischen wie rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gleichermaßen unhaltbares Ergebnis. 2. Aufkündigung christlicher Bürgerloyalität

Kommt somit ein Selbstbestimmungsrecht zur Legitimierung eines Kirchenasyls für die Kirchen und deren Gemeinden nicht in Betracht, bleibt nur übrig, auf die Denkfigur des „zivilen Ungehorsams" zurückzugreifen, der aber in den Verantwortungsbereich nicht von Kirchengemeinden, sondern von einzelnen Christen fällt, wie die Zehn Thesen der EKD zum Kirchenasyl im Gegensatz zu dem Gemeinsamen Wort noch zutreffend erkannten. Die Vorstellung eines moralischen Rechts auf zivilen Ungehorsam stammt bekanntlich aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie wurde in der Bundesrepublik Deutschland seit den achtziger Jahren zum Zwecke rechtfertigender Umhüllung illegaler politischer Aktionsformen adaptiert, nachdem diese hier längst heimisch geworden waren. Die Evangelische Kirche beeilte sich, der neuen Entwicklung Rechnung zu tragen. In ihrer „DemokratieDenkschrift" von 1985,31 einem typisch protestantischen Kompromißpapier, welches „glatte Antworten" vermeidet,32 wird zwar einerseits eine „Ethik der Rechtsbefolgung" als eine „Form von Nächstenliebe" gutgeheißen, andererseits aber auch Verständnis gefordert für „das Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe, wenn der Bürger die Entscheidung für verhängnisvoll und trotz formaler Legitimität für ethisch illegitim hält. Wer nur einzelne politische Sachentscheidungen des Parlaments oder der Regierung bekämpft, will damit nicht das ganze System des freiheitlichen Rechtsstaats in Gefahr bringen. Sieht jemand grundlegende Rechte aller 28

Vgl. aus dem neueren Schrifttum Herbert Tröndle, „Das Bundesverfassungsgericht und sein Umgang mit dem 'einfachen Recht* " in: Festschrift für Walter Odersky, 1996, S. 259 ff. (bes. 262). 29 Josef Isensee, „Freiheit - Recht - Moral" in: K. Weigelt (Hrsg.), Freiheit Recht - Moral, 1988, S. 14 ff. (35). 30

Renck, aaO. [Anm. 25]. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 3 1986. 31

32

Helmut Simon, „Demokratie und Grundgesetz" in: Eberhard Jüngel / Roman Herzog / Helmut Simon, Evangelische Christen in unserer Demokratie, 1986, S. 55 ff. (71).

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schwerwiegend verletzt oder veranschlagt dies höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung, so muß er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es handelt sich dabei nicht um Widerstand, sondern um demonstrative, zeichenhafte Handlungen, die bis zu Rechtsverstößen gehen können. Die Ernsthaftigkeit und Herausforderung, die in solchen Verstößen liegt, kann nicht einfach durch den Hinweis auf die Legalität und Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Mehrheitsentscheidungen abgetan werden. Auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, müssen sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernstgenommen werden." 33 Die Katholische Kirche in Deutschland hat sich im Abstand eines Jahrzehnts dieser Sichtweise in ökumenischer Verbundenheit angeschlossen und damit ihre zuvor deutlich ablehnende Haltung gegenüber zivilem Ungehorsam in der grundgesetzlichen Demokratie aufgegeben. Im 2. Band des 1995 erschienenen Erwachsenen-Katechismus liest man u.a.: „In einer Ausnahmesituation, in der alle legalen Mittel des Protests und Widerspruchs ausgeschöpft sind und keine andere Möglichkeit bleibt, als durch einen gewaltlosen Akt des Ungehorsams den Widerspruch gegen staatliche Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen, die nach gewissenhafter Prüfung als gemeinwohl- bzw. als gerechtigkeitsverletzend empfunden werden, ist ein Akt zivilen Ungehorsams (Rechtsverletzung) zwar illegal, er kann aber moralisch legitim sein. Ein solcher Akt zielt nicht auf die Aushöhlung und Untergrabung der demokratischen Ordnung, sondern auf ihre Erhaltung und Förderung. In einem solchen Akt zivilen Ungehorsams spiegelt sich das moralische Urteil wider, daß es gerechtfertigt sein kann, die Gesellschaft durch einen verschärften Widerspruch auf einen sonst nicht zu behebenden Mißstand aufmerksam zu machen. Die Ernsthaftigkeit der Überzeugung und des verfolgten Anliegens wird dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die für den begangenen Gesetzesungehorsam auferlegten Sanktionen in Kauf genommen werden." 34 Damit ist die Ideologie des zivilen Ungehorsams für Deutschland kirchenamtlich geworden und es kann nicht verwundern, daß sich das Gemeinsame Wort bezüglich des „Kirchenasyls" genau auf dieser Linie bewegt. Aber schon vor der von den Kirchen besonders inkriminierten Asylrechtsreform von 1993 meinte der Berliner Altbischof Kurt Scharf, es könne geboten sein, von Abschiebung Bedrohte notfalls zu verstecken. Wer dafür bestraft werde, leide um einer höheren Gerechtigkeit willen. Der Ausländerbeauftragte der EKD, Martin Schindehütte, rief öffentlich dazu auf, im Einzelfall von Abschiebung bedrohten Menschen Asyl zu gewähren, und auch der derzeitige Sprecher der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche", 33 34

2

AaO. [Anm. 31], S. 25, 24, 21 f. Katholischer Erwachsenen-Katechismus, 1995, S. 257 ff. (258).

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Wolf-Dieter Just, befürwortete schon damals das „Asyl im Kirchenhaus" als Anwendungsfall zivilen Ungehorsams.35 Für einen Zusammenhang von Kirchenasyl und zivilem Ungehorsam spricht schon seine Herkunft aus der nordamerikanischen „sanctuary"-Bewegung.36 Wie diese beanspruchen auch Kirchenasylaktivisten in Deutschland eine religiös motivierte gesellschaftliche Oppositionsrolle, was in Selbstbezeichnungen wie „Kirchenasylbewegung"37 oder „Asyl von unten"38 zum Ausdruck kommt. Das zu Beginn der achtziger Jahre in den USA entstandene sanctuary-movement setzte sich zum Ziel, illegalen Einwanderern aus Mittelamerika ein unbefristetes oder, da eine ein Asylrecht begründende politische Verfolgung zumeist nicht vorlag, ihnen als Bürgerkriegsflüchtlingen ein wenigstens vorübergehendes Bleiberecht zu erkämpfen. Gleichzeitig damit sollte die amerikanische Regierung nicht nur zu einer Änderung ihrer Einwanderungs-, sondern auch ihrer Mittelamerikapolitik gezwungen werden. Mit Hilfe eines Netzwerks aus kirchlichen Gemeinden und Einrichtungen, religiösen Initiativen und Gruppen wurde den „illegals" teilweise ermöglicht, in den von „latinos" bewohnten Vierteln der Großstädte regelrecht unterzutauchen. Nicht selten aber wurde die illegale Beherbergung der Flüchtlinge auch öffentlich gemacht, um auf diese Weise Druck auf die Behörden auszuüben, während diese zwar einerseits vor einem polizeilichen Zugriff zurückschreckten, andererseits aber gelegentlich auch Strafverfahren gegen die Protagonisten der Bewegung einleiteten.39 Die deutsche Kirchenasylbewegung operiert nach einem ähnlichen Muster. Auch hier finden sich Fälle von „verdecktem" Kirchenasyl, bei dem Ausländer zur Vermeidung einer Abschiebung versteckt werden, öfter aber bedient man sich der Methode des „offenen" Kirchenasyls, welche darin besteht, den zuständigen Behörden von der Kirchenasylgewährung Mitteilung zu machen, vor allem aber, mit Hilfe der Medienöffentlichkeit die Exekutivorgane zum Nachgeben auch dann zu veranlassen, wenn letztinstanzliche Urteile die 35

Nachweise bei Andreas Püttmann, Zivüer Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität, 1994, S. 224 f. 36 Vgl. Κ . Barwig / D. R. Bauer (Hrsg.), Asyl am Heiligen Ort. Sanctuary und Kirchenasyl. Vom Rechtsanspruch zur ethischen Verpflichtung, 1994. 37 Vgl. Wolf gang Weber, „Die Asyl-Urteüe des BVerfG und ihre Bedeutung für die Kirchenasylbewegung" (Thesenpapier des Landeskirchlichen Beauftragten für die Seelsorge an Ausländern, Aussiedlern und Flüchtlingen der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 8. März 1997). 38 Vgl. Wolf Dieter Just (Hrsg.) Asyl von unten, 1993. 39 Vgl. Robbers, aaO. [Anm. 16], S. 31; Klaus Nientiedt, „Flüchtlingshilfe in der Illegalität" in: Herder-Korrespondenz 40 (1986), S. 216 ff.; Herbert Ehnes, „Asyl und kirchliches Handeln" in: G. Rau / H.-R. Reuter (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, 1994, S. 601 ff. (605 f.); Max Koranyi, „Die Sanctuary-Bewegung in den USA" in: Just, Asyl von unten [Anm. 38], S. 160 ff. (161 f., 168).

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Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsverfügung bestätigt haben. Es geht also beim „Kirchenasyl" bei Licht besehen um eine besonders effektive Form der Abschiebungsvereitelung. Deren Wirkweise beruht auf dem Umstand, daß sich die staatlichen Stellen unter Vernachlässigung ihrer Amtspflichten aus Gründen politischer Opportunität oder „mit Rücksicht auf religiöse Empfindungen und überkommene gesellschaftliche Anschauungen"40 gemeinhin scheuen, gegenüber im „Kirchenasyl" befindlichen Personen unmittelbaren Zwang anzuwenden. „In praxi ist die Gewährung von 'Kirchenasyl' die Ausnutzung eines von staatlicher Seite selbst auferlegten Vollstreckungsverzichts in kirchlichen Räumen"41 und damit genau das, was nach Maßgabe der Zehn Thesen der EKD (These 3) vorgeblich vermieden werden soll. Mit den Worten eines namhaften Redakteurs der Süddeutschen Zeitung: „Er [der bayerische Innenminister] konnte es nicht wirklich riskieren, Polizei in die Gotteshäuser zu schicken, um dort Flüchtlinge herausholen zu lassen."42 Es ist daher - gelinde gesagt - unaufrichtig, darauf abzuheben, daß der Staat das von den Kirchen unbestrittene Recht habe, „seine Entscheidungen gegebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume .durchzusetzen"43 oder zu verkünden, die Polizei habe durchaus Zutritt zu diesen Räumen.44 Macht sie von diesem ihr kirchlicherseits offiziell zugestandenen Recht ausnahmsweise doch einmal Gebrauch, wie im Fall des Klosters Dinklage, dann ist das Geschrei groß. Die Polizei habe, so heißt es dann, „ohne Vorwarnung in einer Nacht- und Nebelaktion gehandelt" (Pax Christi), und der Sprecher von „Asyl in der Kirche" qualifiziert das Vorgehen unter Berufung auf das Gemeinsame Wort als einen „Affront gegen die beiden Kirchen." 45

40 So das Oberlandesgericht Köln mit dem Hinweis darauf, daß eine so motivierte freiwillige Selbstbeschränkung der Behörde nicht zu Lasten des sich im offenen Kirchenasyl befindlichen Ausländers gehen könne, da mit dessen Aufenthalt im Kirchenbereich eine den Zugriff erschwerende Entziehung in rechtlicher Hinsicht nicht verbunden sei (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1993, S. 707 f. (708); Hervorhebung des Verf.!). 41 Andrea und Henning Radtke, „'Kirchenasyl' und die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Kirchenvorstandes" in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 42 (1997), S. 23 ff. (41, 44); vgl. auch Geis, aaO. [Anm. 9], S. 61: "Taktik, die mehr oder weniger vorhandene Scheu von Behörden und Politikern vor der negativen publicity auszunützen, die eine Durchsetzung des staatlichen Machtmonopols an 'heiligen Orten' unter Anwendung unmittelbaren Zwangs zwangsläufig mit sich brächte". 42 Heribert Prantl, „Becksteins Schacher unter dem Kreuz" in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 15./16. Juli 1995. - Dazu Ingo von Münch, „'Kirchenasyl': Wer soll das bezahlen?" in: NJW 1995, S. 2271 f. (2271). 43 Gemeinsames Wort, Ziff. 257. 44 Lehmann, aaO. [Anm. 5]. 45 SZ vom 19./20. Juli 1997.

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Auch vor gegebenenfalls in Kauf zu nehmenden Sanktionen können Kirchenasylaktivisten ziemlich sicher sein, so daß sie kaum Gelegenheit erhalten, „die Ernsthaftigkeit ihrer Überzeugung und des verfolgten Anliegens" unter Beweis zu stellen.46 Trotz vielhundertfachen Kirchenasyls hat es bisher, soweit ersichtlich, in keinem Fall eine rechtskräftige Verurteilung gegeben.47 Auch hier scheut man sich offensichtlich, die Gewährung von Kirchenasyl trotz objektiver Strafbarkeit zu verfolgen, um mit kirchlichen Stellen und Initiatoren nicht in Konflikt zu geraten, und nutzt daher die Spielräume, welche die Strafjprozeßordnung als Ausnahme von der grundsätzlichen Strafverfolgungspflicht zur Verfügung stellt.48 Zudem wird in der Literatur nicht selten die Auffassung vertreten, daß eine Verurteilung wegen der Gewissenstäterschaft der Betroffenen kaum in Betracht komme.49 Ist somit die Gewährung von Kirchenasyl praktisch risikolos, so erweist sie sich andererseits als probates Mittel, die Behörden Pressionen auszusetzen.50 Es sollte sich aber für die Kirchen schlechterdings verbieten, ihre Mitglieder dazu zu ermuntern, den Staat zu nötigen. Eine solche Handlungsweise stellt das überkommene Verhältnis zwischen Staat und Kirche, welches nach Verfassung und Kirchenverträgen dasjenige einer wechselseitigen Zugewandtheit und verständigen Kooperation ist, 51 von Grund auf in Frage. Man muß sich darüber wundern, daß die Kirchen diesen grundsätzlichen Aspekt der von ihnen trotz gewisser fadenscheiniger Vorbehalte letztlich gebilligten Kirchenasylpraxis gar nicht zu bemerken scheinen. Über die Gründe kann man freilich nur spekulieren. Eine Erklärungshypothese könnte die sein, daß die Kirchen der im Zuge eines Prozesses zunehmender Selbstsäkularisierung um sich greifenden kulturrevolutionären Mentalität eines Gutteils ihrer Mitglieder 52 auf andere Weise nicht mehr Herr werden. Nicht zu Unrecht ist festgestellt worden, das Gemeinsame Wort lese sich über weite Strecken wie eine Resolution der Grünen.53 Und tatsächlich ließ es 46

Katholischer Erwachsenen-Katechismus [Anm. 34]. Jürgen Quandt, „Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden" in: Just, Asyl von unten [Anm. 38], S. 193 ff. (196); Radtke, aaO. [Anm. 41], S. 23 f.; Gerhard Robbers, „Strafrecht und Verfassung beim Kirchenasyl" in: Barwig / Bauer, Asyl am Heiligen Ort [Anm. 36], S. 117 ff. (128). - In seltensten Fällen, die man mit der Lupe suchen muß, scheint es zur Verhängung von Geldauflagen oder Geldbußen gekommen zu sein. 48 Robbers, ebd. 49 Hans-Georg Maaßen, „'Kirchenasyl' und Rechtsstaat" in: Kirche und Recht (KuR) 1997, S. 37 ff. (45, mit Nachw.). 50 Ebd., S. 42. 51 BVerfGE 42, 312 ff. (330 f.). 52 Vgl. dazu Püttmann, aaO. [Anm. 35], passim, bes. S. 115 f., 304 f. 53 Gernot Facius, „Am 'Einwanderungsland' scheiden sich die Geister" in: Die Welt vom 9. Juli 1997. 47

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sich die Berliner Katholische Akademie nicht nehmen, zusammen mit der Bundestagsfraktion des Bündnis 90/Die Grünen aus Anlaß der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes eine Tagung zu veranstalten, auf der u.a. die Abgeordnete Christa Nickels nicht von ungefähr viele Gemeinsamkeiten mit den Kirchen entdeckte.54 Zum Erscheinungsbild des zivilen Ungehorsams gehört das Bestreben, vermittels gesetzwidriger Aktionen „eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen" zu wollen.55 Auch dieses Merkmal ist der deutschen Kirchenasylbewegung eigentümlich, auch wenn die Zehn Thesen (These 5) hervorheben, Einzelfälle von Kirchenasylgewährung dürften „nicht für eine Revision der Gesetzeslage instrumentalisiert werden". Desungeachtet stellt die Praxis des Kirchenasyls, wie es in vieldeutigem Theologenjargon heißt, „nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik [dar], ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder Tod bewahren" 56 . Ginge es dabei um eine Anfrage im gewöhnlichen Sinn des Wortes, so ließe sie sich in einer liberalen Demokratie auch in Formen artikulieren, welche die Rechtsordnung nicht verletzen. Hier aber handelt es sich um die Demonstration dezidierter Ablehnung des geltenden Asyl- und Ausländerrechts. In großer ökumenischer Übereinstimmung hatten sich die Kirchen mit aller Entschiedenheit gegen die Einfügung eines Gesetzesvorbehalts in das Grundrecht auf Asyl in seiner bis 1993 geltenden Fassung sowie gegen Bestrebungen nach einer Harmonisierung der Asylpolitik in Europa gewandt, wohl wissend, daß Art. 16 Abs. 2, S. 2 GG alter Art über das allgemeine Völkerrecht und das Recht aller anderen Staaten weit hinausging und einen „Sprung" auf eine Ebene darstellte, die in keiner nationalen oder internationalen Rechtsordnung erreicht ist. 57 Zwischenzeitlich wurde der Gesetzgeber mehrfach aufgefordert, die Asylrechtsreform in den wesentlichen Punkten rückgängig zu machen.58 Auf einem Bundestreffen der Kirchenasyl-Initiativen im März 1996 wurde beschlossen, die Praxis des Kirchenasyls auszuweiten, um durch seine verstärkte Anwendung zu erreichen, daß Art. 16 a GG wieder verschwindet. Kardinal Sterzinsky erklärte bei dieser Gelegenheit noch zwei Monate vor den die Asylrechtsreform im wesentlichen bestätigenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: „Das Asylrecht muß gekippt werden." 59 Nachdem das 54

Deutsche Tagespost (DT) vom 23. September 1997, S. 2. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 401. 56 Gemeinsames Wort, Ziff. 257 (Hervorhebung des Verf.!). - Ähnlich Lehmann, aaO. [Anm. 4]. 57 Vgl. Ehnes, aaO. [Anm. 39], S. 624 ff. 58 Vgl. Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 39. 59 DT vom 12. März 1996, S. 3. 55

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Gericht insoweit einstimmig festgestellt hat, auch die Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde verbiete es dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht, das Asylgrundrecht einzuschränken und sogar gänzlich aufzuheben,60 heißt es nunmehr, das Grundgesetz selbst bleibe angesichts dieser Auslegung hinter dem zurück, was „theologisch und ethisch geboten ist" 61 . „Mindestanforderungen ... hinsichtlich eines offenen Zugangs [!] in die Bundesrepublik Deutschland, eines an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Verfahrens und eines wirksamen Abschiebungsschutzes" seien nicht in befriedigender Weise erfüllt. „Die Regelungen über Anordnung und Vollzug der Abschiebungshaft sowie die tatsächlichen Haftbedingungen" müßten „strikt an der Achtung der Menschenwürde und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet werden" 62, was soviel besagt wie, daß sie es nach Auffassung der Verfasser des Gemeinsamen Wortes eben nicht sind. Kein Wunder, denn nach manchen kirchlichen Äußerungen scheint Abschiebung von Ausländern per se für unmoralisch gehalten zu werden.63 So, wenn Bischof Kamphaus die rhetorische Frage stellt, ob es eigentlich um den Schutz der Flüchtlinge oder den Schutz vor ihnen gehe,64 und damit eine jener falschen Alternativen aufbaut, von denen man nicht weiß, ob sie zuerst den Verstand oder die Gefühle verdrehen, oder wenn es verallgemeinernd heißt, „Asylbewerber, Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ..., Staatsangehörige eines Drittstaates [?] und Personen, die im Rahmen der Familienzusammenführung aufgenommen werden", hätten „ein unantastbares und unveräußerliches Recht auf einen rechtmüßigen und unbefristeten halt" 65. Derartige Bekundungen können nur noch als rechtsfremd 66 bezeichnet werden, da sie „rechtliche, organisatorische und wirtschaftliche Voraussetzungen der Menschenrechte"67 schlichtweg ignorieren. Daß angesichts derartiger Prämissen an der Kirchenasylpraxis als einer „qualifizierten Form des Protestes"68 unbedingt festgehalten werden muß, versteht sich nach solchen Einlassungen allerdings von selbst. 60 61 62 63 64

BVerfGE 94, 49 ff. (103 f.). Gemeinsames Wort, Ziff. 136. Ebd., Ziff. 172. Vgl. Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 48. Franz Kamphaus, „Unsere Fremden" in: DIE ZEIT vom 22. September 1995,

S. 1. 65

Gemeinsames Wort, Ziff. 180 (Hervorhebung des Verf.!). So schon Helmut Quaritsch, Recht auf Asyl, 1985, S. 52. 67 Josef Isensee, „Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche" in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 ff. (135). 68 Weihbischof Josef Voß, katholischer Vorsitzender der für das Gemeinsame Wort verantwortlichen Arbeitsgruppe, nach FAZ vom 26. September 1997, S. 8. Vgl. die Kennzeichnung zivüen Ungehorsams durch den Katholischen ErwachsenenKatechismus als „verschärften Widerspruch" [Anm. 34]. 66

Aufen

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3. Autopsie des geltenden Rechts

Bevor auf die Problematik der Verfassungsverträglichkeit solchen „zivilen Ungehorsams" näher eingegangen wird, ist es vielleicht doch der Mühe wert, zunächst einmal genauer zuzusehen, um welche gesetzliche Regelungen es sich des näheren handelt, die nach dem Urteil der Kirchen ungeachtet ihrer Billigung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung rechtsstaatlichen Mindestanforderungen nicht genügen sollen. Dabei zeigt sich, daß Ausländern, denen im Herkunftsland politische Verfolgung oder menschenrechtswidrige Behandlung droht, eine breite Palette rechtlicher Möglichkeiten zu Gebote steht, um sich gegen eine ungerechtfertigte Abschiebung zur Wehr zu setzen.69 Nach wie vor genießen politisch verfolgte Ausländer nach Art. 16 a Abs. 1 GG Asylrecht. Auf dieses Grundrecht kann sich allerdings derjenige nicht berufen, der aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland gekommen ist (Art. 16 a Abs. 2 GG), denn dort hätte er bereits den begehrten Schutz erlangen können. Politisch verfolgte Ausländer, die über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland kommen, erhalten jedoch nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) Schutz vor der Abschiebung in den Verfolgerstaat, wenn eine Rückführung in den sicheren Drittstaat nicht möglich ist. Wer aus einem sog. sicheren Herkunftsland einreist, kann die Vermutung, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, durch die Geltendmachung entgegenstehender Tatsachen widerlegen (Art. 16 a Abs. 3 GG). Deutschland hat mit diesen Regelungen auch nach der Asylrechtsreform des Jahres 1993 eine der großzügigsten Asylrechtsverbürgungen in der Welt, welche über entsprechende völkerrechtliche Gewährleistungen entschieden hinausgeht.70 Die Tatsache, daß auch nach Inkrafttreten des neuen Asylrechts bis Ende 1996 rund 470 000 Asylbewerber nach Deutschland kamen, zeigt, daß der Vorwurf, Deutschland würde sich durch das neue Asylrecht gegen Asylbewerber „abschotten", jeder Grundlage entbehrt.71 Deutschland nimmt derzeit immer noch fast die Hälfte aller im Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union um Asyl nachsuchenden Ausländer auf. 7

69

Das Folgende in teilweiser Anlehnung an Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 40 f., 43, 48 f. 70 H. D. Jarass /B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3 1995, Art. 16 a, Rdnr. 1. 71 Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 40. 72 Harald Bergsdorf, „Ausländerfreundlich" in: Die politische Meinung 42 (1997), Nr. 337 (Dezember '97), S. 39 ff. (41).

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Des weiteren erhalten Ausländer, denen im Herkunftsstaat die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht, Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ferner wird von der Möglichkeit zur Aufenthaltsgewährung bzw. des Abschiebungsschutzes für Kriegsund Bürgerkriegsflüchtlinge nach §§ 32, 54 AuslG von den Behörden der Länder großzügig Gebrauch gemacht. So hat Deutschland im internationalen Vergleich mit rund 400 000 Personen den weitaus größten Teil von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Über die Gewährung von Asyl entscheiden Bedienstete des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die in ihrer Entscheidung von Weisungen unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen sind (§ 5 Abs. 2 S. 1 Asylverfahrensgesetz [AsylVfG]). Im Asylverfahren wird vom Bundesamt jeder Einzelfall unter den Gesichtspunkten politischer Verfolgung, konkreter Foltergefahr, Gefahr der Todesstrafe sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung eingehend anhand der individuellen Umstände geprüft. Die Bediensteten sind aufgrund einer intensiven Aus- und Fortbildung Spezialisten für die von ihnen jeweils zu bearbeitenden Herkunftsländer. Bei der Entscheidungsfindung, der eine eingehende Anhörung des Asylbewerbers vorangeht (§§ 24 Abs. 1, 25 AsylVfG), werden alle verfügbaren Informationen über die Situation in den jeweiligen Herkunftsstaaten herangezogen, namentlich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, Berichte von zwischenstaatlichen oder ausländischen Einrichtungen, Stellungnahmen des Hohen Flüchtlingskommisars der Vereinten Nationen sowie Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Negative Entscheidungen des Bundesamtes kann der Asylbewerber in bis zu drei Instanzen vor unabhängigen Gerichten auf ihre inhaltliche Richtigkeit überprüfen lassen. Gegen den Vollzug von Rückführungsentscheidungen können die Verwaltungsgerichte nach §§ 80 Abs. 5, 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vorläufigen Rechtsschutz gewähren. Lediglich bei einer Rückführung in einen sicheren Drittstaat ist dies nicht möglich, ferner in offensichtlich unbegründeten Fällen, sofern nicht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme bestehen (Art. 16 a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 GG). Zudem kann vermöge des Instituts der Duldung die vollziehbare Abschiebung eines Ausländers auf dessen Antrag hin nach § 55 AuslG zeitweise ausgesetzt werden. Teilweise besteht hierauf ein Rechtsanspruch. In jedem Fall kann die Versagung der Duldung wiederum gerichtlich angefochten werden. Bei Änderung der Sach- oder Rechtslage nach einer unanfechtbaren Ablehnung eines früheren Asylantrags kommt ein Wiederaufnahmeverfahren in Betracht, das über § 71 AsylVfG i.V.m. § 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes durch das sog. Folgeantragsverfahren seine besondere Ausgestaltung ge-

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fanden hat.73 Daneben kann sogar wegen im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände erneut vorläufiger Rechtsschutz beantragt werden (§ 80 Abs. 7 VwGO). Endlich kann nach Ausschöpfung des Rechtsweges wegen der Verletzung eines Grundrechts das Bundesverfassungsgericht angerufen werden, das seinerseits durch einstweilige Anordnung nach § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Rückführung des Ausländers aussetzen kann. Ferner kann gegen ablehnende Entscheidungen deutscher Gerichte auch die Europäische Kommission für Menschenrechte angerufen werden, wenn der Ausländer die Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im Herkunfststaat geltend macht. Auch diese Instanz kann nach Art. 36 ihrer Verfahrensordnung einstweilige Maßnahmen anordnen, die für die Vertragsstaaten zwar nicht bindend sind, aber in aller Regel befolgt werden. Alle diese Rechtsmittel können in Anspruch genommen werden, ohne daß es der Gewährung eines „Kirchenasyls" bedarf. Niemand spricht kirchlichen Hilfsorganisationen das Recht ab, in der Weise ihrer christlichen Beistandspflicht gegenüber Asylbewerbern und Flüchtlingen zu genügen, daß sie sich ihrer Not annehmen, für ihren Lebensbedarf sorgen und im Rahmen der aufgezeigten gesetzlichen Möglichkeiten Rechtsbeistand gegenüber staatlichen Behörden und Gerichten vermitteln. 74 Hier öffnet sich den Kirchen ein weites Betätigungsfeld. Den Kirchen geht es aber darüber hinaus darum, „nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel" mit dem Druckmittel des Kirchenasyls eine außerlegale zusätzliche Superrevisionsinstanz zu etablieren, deren Urteilssprüchen sie alsdann eben jene Maßstäbe zugrunde legen, wie sie in dem Gemeinsamen Wort mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen, und sich für dieses rechtswidrige Procedere gleichwohl des Einsatzes für die Menschen» und Grundrechte, den Rechtsstaat, ja sogar den Rechtsfrieden zu berühmen. Sie setzen insoweit „an die Stelle des staatlichen Asylanerkennungsverfahrens ihr eigenes Verfahren" 75, auch wenn sie klug genug sind, das „Asylgewährungsmonopol" des Staates formal nicht zu bestreiten.76 Aber sie

73 Unzutreffend ist die Behauptung von Geis, aaO. [Anm. 9], S. 66, daß ein solcher Antrag den Betroffenen nicht vor Abschiebung schütze („keine aufschiebende Wirkung"). Vielmehr genießt ein Folgeantragsteller nach § 71 Abs. 5 S. 2 AsylVfG im Regelfall bis zur Entscheidung über den Antrag eine gesetzliche Duldung. 74 Isensee, aaO. [Anm. 14]. 75 Ingo von Münch, „'Kirchenasyl': ehrenwert, aber kein Recht" in: NJW 1995, S. 565 f. (566); Stefan Mucket, Religiöse Freiheit und staatliche Entscheidung, 1997, S. 160. 76 Jörg Winter, „'Kirchenasyl' als Herausforderung für Staat und Kirche" in: KuR 4/95, S. 37 ff. (38), welcher mit diesem Hinweis zu Unrecht glaubt, die These von Münch [Anm. 75] bestreiten zu können.

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wollen „bei den verantwortlichen Stellen eine erneute Überprüfung des Falles unter Berücksichtigung aller in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte ... erreichen" 77, gerade so, als ob dies in den regulären staatlichen Verfahren nicht der Fall wäre. Das Ergebnis einer solchen Überprüfung aber scheint von vornherein keinem Zweifel zu unterliegen. Gilt es doch, „eine Aufhebung der Abschiebungsentscheidung zu erwirken" 78 . Dabei berufen sich kirchliche Unterstützerkreise nicht nur „auf die bessere und dann auch rechtlich maßgebende Moral" 79 , sondern mehr noch auf das bessere Wissen über die dem einzelnen Ausländer in seinem Herkunftsland drohende Verfolgung. Damit setzen die Kirchenasylgeber ihre Gefahreneinschätzung an die Stelle der zu dieser Einschätzung ebenfalls verpflichteten staatlichen Organe.80 Diese werden von vornherein verdächtigt, ihrer Aufgabe nicht gerecht zu werden, denn zur Rechtfertigung von Kirchenasylpraktiken wird angeführt, daß angesichts „einer weitgehenden Schematisierung der Anerkennungsregeln sorgfältige Einzelfallprüfungen nicht immer vorgenommen werden" könnten, so daß Rechts- und Verfahrensverstöße nicht auszuschließen seien. „Der Rückschluß auf eine politische Verfolgung" setze voraus, „daß das Tatsachenmaterial vollständig ist und verlangte], daß den Betroffenen ausreichend rechtliches Gehör geschenkt wird" 81 , womit eine Verletzung rechtsstaatlicher Grundgebote insinuiert wird. Das Gemeinsame Wort räumt an dieser Stelle ein: „Die auf dieser Grundlage vorgenommenen Bewertungen bleiben wie bei jedem Akt menschlicher Erkenntnis naturgemäß Zweifeln unterworfen." Im Umkehrschluß ergibt sich, daß kirchenasylgewährende Pfarrer und andere Gemeindemitglieder im Unterschied zu staatlichen Amtsträgern wohl über eine Art höherer Eingebung verfügen müssen, wenn ihre Erkenntnisse, wie stillschweigend postuliert, unbezweifelbare Geltung beanspruchen sollen. Zum Erweis von deren Durchschlagskraft verweist das Gemeinsame Wort auf eine vermeintliche Erfolgsstatistik der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche", wonach „in etwa 70% der Schutzgewährung von Kirchengemeinden" eine im Sinne der Kirchenasylgeber positive Lösung erreicht werden konnte.82 Diese Angabe unterliegt unter mehreren Gesichtspunkten er77

Gemeinsames Wort, Ziff. 255. Ebd. 79 Zutreffend Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesjustizminister und Synodaler der EKD, in: Neue Ruhr/Rhein-Zeitung vom 11. Juli 1997; a.A. jedoch Bischof Kohlwage, evangelischer Vorsitzender der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des Gemeinsamen Wortes: „echter Unsinn" (ebd.). 80 Jacobs, aaO. [Anm. 8], S. 40. 81 Gemeinsames Wort, Ziff. 256. 82 Ebd., Ziff 255. 78

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heblichen Zweifeln. Zu bedenken ist zunächst ihre Herkunft aus Sympathisantenkreisen, mithin von Interessengruppen. Eine Bestätigung oder Widerlegung durch eine neutrale Instanz ist nicht möglich, da die zuständigen staatlichen Behörden auf diesem Gebiet keine Statistiken führen. 83 Des weiteren fallt auf, daß von derselben Organisation auch schon andere Zahlen genannt wurden, die um bis zu 20% höher lagen,84 was darauf hindeutet, daß es sich bei diesen Zahlenangaben bestenfalls um Schätzungen handelt. Aber selbst wenn eine von ihnen zutreffen sollte, wäre sie nicht aussagekräftig. Die Zahlen lassen nämlich die entscheidende Frage unbeantwortet, warum jeweils nicht abge85

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schoben wurde. In welchem Umfang sich in „Kirchenasylfallen" die ursprünglichen Abschiebungsverfügungen als materiellrechtlich fehlerhaft erwiesen haben, ist nicht belegt.86 In vielen Fällen dürften die vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten zuvor gar nicht ausgeschöpft worden sein. Des weiteren muß man sehen, daß in den Fällen des zumeist praktizierten „offenen" Kirchenasyls durch gezielten Einsatz der Massenmedien Abschiebungshindernisse im nachhinein überhaupt erst geschaffen werden. Große Medienaufmerksamkeit, die durch Unterstützergruppen „bewußt auf einen bestimmten abgelehnten Asylbewerber gelenkt wird, kann dazu führen, daß vorgetragen wird, gerade diese Medienberichterstattung würde bei einer Abschiebung zu politischer Verfolgung des Betreffenden führen", was aus Rechtsgründen (sog. Nachfluchtgründe) dazu zwingt, „das Asylbegehren unter Berücksichtigung der intensiven Berichterstattung in den Medien nochmals zu prüfen" 87. Handelt es sich in solchen Fällen um die mißbräuchliche Ausnutzung rechtsstaatlicher Garantien, so besteht der Pressionserfolg in anderen Fällen darin, daß die Behörden aus politischen Gründen gegenüber dem Druck von Kirchen und Medien schlichtweg kapitulieren mit der Folge, daß die gesetzlich vorgesehene Maßnahme rechtsstaatswidrig unterbleibt. Hieraus zu folgern, daß die vorangegangenen Asylentscheidungen von Exekutiv- und Gerichtsorganen falsch waren, ist daher in hohem Maße unredlich.88

83 Joachim Gr es, „Kirchen auf dem Weg zur Selbstjustiz?" in: Die Welt vom 5. Juli 1994. 84 Übernommen vom Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Zweiter Bericht zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung, 1995, Abschnitt 2.7. 85 Zutreffend Michael Hund, „'Kirchenasyl'" in: Deutsche Richterzeitung 1994, S. 362 f. (363). 86 Radtke, aaO. [Anm. 41], S. 55, Anm. 146. 87 Michael Griesbeck, „Asyl für politisch Verfolgte und die Eindämmung von Asylmißbrauch" in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 46 vom 7. November 1997, S. 3 ff (9). Solche Fälle haben die Gerichte wiederholt beschäftigt; ein besonders instruktives Beispiel ebenda. 88 Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 42.

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4. Ziviler Ungehorsam und Gewissensfreiheit

Es bleibt die Frage, ob die Praxis des Kirchenasyls als Ausübung zivilen Ungehorsams rechtfertigungsfahig ist. Eine allgemein anerkannte Umschreibung des Bedeutungsgehalts von zivilem Ungehorsam existiert allerdings nicht. Bemerkenswert erscheint immerhin, daß nach der Auffassung von John Rawls, des hierzulande weithin als maßgebend angesehenen amerikanischen Theoretikers, persönliche Moral oder religiöse Lehren als Rechtfertigungsgründe für zivilen Ungehorsam gerade nicht in Betracht kommen, wohl aber u.a. das Merkmal der „Gewissensbestimmtheit". Der Hinweis auf das Erfordernis, aber auch die Maßgeblichkeit einer Gewissensentscheidung der Gläubigen ist denn auch in kirchlichen Äußerungen zum Kirchenasyl gang und gäbe.89 Die Unbekümmertheit, mit der dies geschieht, muß erstaunen, trifft eine solche Aufforderung zur Gewissensbetätigung doch auf eine Gesellschaft, in der es seit längerem üblich geworden ist, jede persönliche Entscheidung in einer subjektiv wichtig erscheinenden Angelegenheit zu einer „Gewissensentscheidung" hochzustilisieren,90 um sie auf diese Weise unangreifbar zu machen. Eine derartige Herabstufung des Gewissens zur persönlichen Überzeugtheit ist von einem seriösen philosophisch-theologischen91 wie dem verfassungsrechtlichen Gewissensbegriff des Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes gleich weit entfernt. Namentlich das Grundrecht der Gewissensfreiheit verlangt zu seiner Aktualisierung eine „extreme psychische Spannungssituation". Es hat „die existentielle Identitätskrise des einzelnen im Auge" und ist keine „Passepartoutfreiheit", die nach Gutdünken in Anspruch genommen werden könnte, „um demokratischen Mehrheitsentscheidungen des Parlaments bzw. den auf ihnen basierenden Akten der ausführenden Staatsorgane die Gefolgschaft aufzukündigen"92. Aber auch ernsthafte Gewissenskonflikte liefern grundsätzlich keinen Rechtfertigungsgrund für rechtswidriges Handeln, sondern bilden allenfalls einen strafrechtlich relevanten Entschuldigungsgrund,93 der zur Strafmilderung oder im Extremfall zu einem Absehen von Strafe führen kann. Auch das vom Bundesverfassungsgericht postulierte „allgemeine Wohlwollensgebot ge-

89

Vgl. etwa Lehmann, aaO. [Anm. 4]. Hans Joachim Faller, „Gewissensfreiheit und zivüer Ungehorsam" in: Festschrift für Hildebert Kirchner, 1985, S. 67 ff. (68, 80). 91 Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, 1993, S. 27 ff. bes. 39. 92 Herbert Bethge, „Gewissensfreiheit" in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V I , 1989, § 137, S. 435 ff. (Rdnrn. 36, 41). 93 Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 46 (m. Nachw.); Radtke, aaO. [Anm. 41], S. 52 ff.; ablehnend Starck, aaO. [Anm. 21], Rdnr. 52, sowie Klaus Kröger, „Die vernachlässigte Friedenspflicht des Bürgers" in: Juristische Schulung (JuS) 1984, S. 172 ff. (175). 90

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genüber Gewissenstätern"94 ist ausschließlich für die Strafzumessung von Bedeutung.95 Aus ihm kann daher keinesfalls eine staatliche Duldungspflicht der Kirchenasylgewährung abgeleitet werden. Besonders abwegig ist es, zur Rechtfertigung der Kirchenasylpraxis den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen sog. „Gesundbeter"-Fall zu strapazieren, wie es nicht selten geschieht.96 In der Entscheidung wurde die Verurteilung eines Mannes aufgehoben, der es aus religiös motivierten Gewissensgründen abgelehnt hatte, seine Ehefrau zu einer lebensrettenden medizinischen Behandlung zu überreden. Diese Entscheidung ist schon deshalb nicht einschlägig, weil es in ihr um die glaubens- und gewissensbedingte Verletzung einer gesetzlichen Handlungsß/Z/cfa ging, nicht aber - wie im Falle des Kirchenasyls - um die Verletzung eines Handlungsverftött, m.a.W. um rechtswidriges Unterlassen, nicht um rechtswidriges Tun. Auch hier gilt, ähnlich wie bei dem von Geis traktierten „Lumpensammlerfall" die Warnung der Kommentarliteratur vor einer Verallgemeinerung dieser einzelnen Entscheidung, insbesondere davor, ihre aus Anlaß eines Unterlassungsdelikts gewonnenen Erkenntnisse auch auf Handlungsunrecht zu erstrecken. „Damit wäre die allgemeine Geltung des Strafrechts, die eine große rechtsstaatliche Errungenschaft ist, aufgelöst mit noch nicht absehbaren Wirkungen auf die übrige allgemeine Rechtsordnung."97 Allerdings gibt es eine Mindermeinung im verfassungsrechtlichen Schrifttum, die von Ralf Dreier im Zuge der Rezeption der Doktrin des zivilen Ungehorsams in den achtziger Jahren entwickelt wurde und die nun auch für das Kirchenasyl in Anspruch genommen wird. 98 Nach Ansicht Dreiers fallen Handlungen des zivilen Ungehorsams sämtlich in den Schutzbereich der Grundrechte, insbesondere der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wenn sie bestimmten, von Dreier formulierten Kriterien genügen. Danach soll gelten: „Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand von Verbotsnormen erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegen-

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BVerfGE 23, S. 127 ff. (134). Anderer Ansicht entgegen dem eindeutigen Wortlaut der Entscheidung offenbar Robbers, aaO. [Anm. 16], S. 46. 96 Neuestens Geis, aaO. [Anm. 9], S. 62, sowie Ralf Rothkegel, „Kirchenasyl Wesen und rechtlicher Standort" in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1997, S. 121 ff. (128); weitere Nachweise bei Maaßen, aaO. (Anm. 49), S. 46 Anm. 59, welcher auf dieser und den folgenden Seiten eine ebenso ausführliche wie luzide Widerlegung dieser Argumentation bietet. 97 Starck, aaO. [Anm. 21], Rdnr. 25; ähnlich von Campenhausen, aaO. [Anm. 20], Rdnr. 58. 98 Rothkegel, aaO. [Anm. 96], S. 127 f. 95

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des Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist." 99 Hieraus wird, da das „große" Widerstandsrecht der „Ausnahmelage" (Art. 20 Abs. 4 GG) offensichtlich nicht in Betracht kommt, ein „kleines" Widerstandsrecht der „Normallage" abgeleitet und für verfassungsgemäß erklärt. 100 Zugleich wird zufolge dieses neuen Grundrechtsverständnisses das für den zivilen Ungehorsam ursprünglich konstitutive Merkmal der Inkaufnahme der Unrechtsfolgen zum Verschwinden gebracht,101 womit sich die etwa von Rawls als unverzichtbar postulierte Bereitschaft erübrigt, die gesetzlichen, im wesentlichen strafrechtlichen Folgen der illegalen Handlungsweise auf sich zu nehmen.102 So kommt schließlich die gesamte innerstaatliche Friedensordnung, welche vorgeblich als solche nicht in Frage gestellt werden soll, ins Rutschen. Mit Recht hat diese Lehre denn auch durchgreifende Kritik erfahren. Die von Dreier genannten Abgrenzungskriterien sind allesamt „dehn- und schwer wägbar" 103. Dies gilt für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den „großen Weichmacher" der Verfassungsmaßstäbe, 10* für den „allgemeine Kriterien von praktischer und theoretischer Konsistenz bis heute nicht gefunden sind" 105 . „Welche 'politisch-moralischen Gründe' zudem erheblich sein sollen und welche nicht, bleibt ebenso offen wie die Frage, was denn ein 'schwerwiegendes Unrecht' sei." 106 Vor allem aber stellt sich das Problem: quis iudicabit? Der einzelne Bürger kraft einer ihm von dem jetzigen Bischof Wolfgang Huber zugesprochenen „Pflicht zur selbständigen Prüfung des Gesetzes und gegebenenfalls Resistenz gegenüber Maßnahmen, die nicht als allgemeines Gesetz gelten können"107, oder die im modernen Verfassungsstaat hierfür zuständigen Instanzen, insbesondere die Gerichte? Da die Vorstellungen über „schwerwiegendes Unrecht" auseinanderzugehen pflegen, kann nicht der einzelne als „sanior pars" für sich beanspruchen, die geltenden Gerechtigkeitsgrundsätze allein richtig anzuwenden, ohne den gesellschaftlichen Grundkon-

99

Ralf Dreier, „Widerstandsrecht im Rechtsstaat? Bemerkungen zum zivüen Ungehorsam" in: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Ulrich Scupin, 1983, S. 573 ff. (593). 100 Ebd., S. 583, 590. 101 Rudolf Dolzer, „Der Widerstandsfall" in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 171, S. 455 ff. (Rdnr. 26). 102 AaO. [Anm. 55], S. 403 f. 103 Kröger, aaO. [Anm. 93]. 104 Fritz Ossenbühl in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 39 (1981), S. 189. 105 Josef Isensee, „Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte" in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 39 ff. (57). 106 Kröger, aaO. [Anm. 93]. 107 Protestantismus und Protest. Zum Verhältnis von Ethik und Politik, 1987, S. 90.

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sens über diese Grundsätze aufzulösen. 108 „Die Behauptung, Ungehorsamsakte im Rahmen des sog. zivilen Ungehorsams ließen sich grundrechtlich rechtfertigen, verkennt grundsätzlich die Bedeutung von Rechtsfrieden und Rechtsgehorsam für den demokratischen Rechtsstaat" und trifft diesen „in das Zentrum seines Nervensystems". Die Aufkündigung des Gesetzesgehorsams unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist daher nur in eng umgrenzten Fällen „der Verweigerung eines bestimmten positiven Tuns" zulässig, 109 mithin als passive, nicht aber als aktive Widerstandshandlung, als die sich ziviler Ungehorsam darstellt. Somit steht auch die Praxis des „Kirchenasyls" nicht unter dem Schutz der Gewissensfreiheit, denn diejenigen, welche die rechtmäßige Abschiebung von Ausländern durch die Kirchenasylgewährung vereiteln, „bringen sich selbst, aufgrund eines eigenen Entschlusses in die Konfliktsituation. Sie wehren sich nicht gegen einen ihnen von staatlicher Seite aufgezwungenen Konflikt... Ein so weit gehendes Handlungsrecht gewährt die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG nicht." 110 Darüber hinaus muß bezweifelt werden, daß ein Gewissenskonflikt überhaupt vorliegt. Die von den Kirchen beanspruchte Beistandspflicht für verfolgte Ausländer hat sich auch der Staat zu eigen gemacht. Er „vertritt ebenso wie die Kirchen die Auffassung, daß Ausländer, denen im Herkunftsstaat politische Verfolgung, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung droht, dorthin nicht abgeschoben werden dürfen" 111, und hat ihr durch die Schaffung eines hochdifferenzierten und ausgefeilten gesetzlichen Regelungswerkes und die Bereitstellung vielfaltiger Schutzmechanismen Ausdruck verliehen. Es kann also nur darum gehen, wie im konkreten Fall die einem Ausländer in seinem Heimatland möglicherweise drohenden Gefahren eingeschätzt werden. Wenn sich Pfarrer oder Kirchengemeinden bei dieser Einschätzung auf das bessere Wissen berufen, so liegt darin keine Gewissensentscheidung, sondern eine unterschiedliche Bewertung der besonderen Umstände eines Lebenssachverhalts. Das „Gewissen" wird hier für die sittlich irrelevante „bessere Wahrheit" im Sinne einer zutreffenderen Beurteilung von bloßen Geschehensabläufen in Anspruch genommen.112 Auch die hierbei nach dem Gemeinsamen Wort vorzunehmende „gewissenhafte Prüfung" tatsächli108

Christian Starck, „Widerstandsrecht" in: Staatslexikon der Görresgesellschaft, Bd.109 V , 7 1989, Sp. 989 ff. (993). Hans Hugo Klein, „Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat?" in: B. Rüthers / K. Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 177 ff. (188, 197; Hervorhebung des Verf.!). 110 Stefan Muckel, aaO. [Anm. 75]. 111 Maaßen, aaO. [Anm. 49], S. 39, 47 f. 112 Vgl. Reinhard Bergmann, Kommentierung zu Art. 4 in: K.-H. Seifert / D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,51995, Rdnr. 8. 25 Festschrift Hacker

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cher Gegebenheiten indiziert entgegen dem Anschein keine Gewissensbetätigung, denn das Wort „gewissenhaft" hat lediglich die Bedeutung von „sorgfaltig", „gründlich" oder ähnlichem.113 Ein Konflikt zwischen einer unbedingten Gewissensverpflichtung 114 auf der einen und einer staatlicherseits auferlegten Verhaltensanforderung auf der anderen Seite liegt insoweit jedenfalls nicht vor. 5. Gefährdung staatlicher Einheit als Folge kirchlichen Identitätsverlusts

Es stellt sich heraus: Die „Kirchenasyl" gewährenden Kreise und die dieses Vorgehen billigenden kirchlichen Autoritäten konkurrieren mit dem Staat um die richtige Anwendung und Auslegung des Rechts, wobei sie ihre Version des allein Richtigen dem Staat aufzuzwingen versuchen. Darin liegt neben der irreführenden Benennung der Abschiebungvereitelung als „Kirchenasyl" die im buchstäblichen Sinne „mittelalterliche" Komponente dieser Praxis. Sie bedeutet, soweit sie Erfolg hat, das punktuelle Wiederaufleben polyarchischer Zustände. Sie stellt tendenziell „die Souveränität des Staates in Frage, kehrt zurück zu einer Gesellschaftsordnung ohne die Letztentscheidungskompetenz des Staates. Es erscheint deshalb nicht als Zufall, daß die Renaissance des Kirchenasyls in mindestens zeitlicher Parallelität zu der Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols steht. " 1 1 5 Von illegalen Hausbesetzungen und Straßenblockaden unterscheidet sich das Kirchenasyl nicht grundsätzlich. In all diesen Fällen „wissen die Akteure, daß sie gegen die Rechtsordnung verstoßen. Sie nehmen jedoch das Recht in Anspruch, selbst darüber zu entscheiden, ob sie einem Gesetz gehorchen oder nicht. Dieser selektive Rechtsgehorsam bereichert nicht die Demokratie, sondern zerstört ihre rechtsstaatlichen Grundlagen." 116 Daß die Pflicht zur Beachtung rechtskräftig abgeschlossener Asylverfahren kein Selbstzweck ist und die Durchsetzung der Rechtsordnung weniger als staatliche Gewaltausübung ge-

113 Es gibt Indizien dafür, daß es mit der „gewissenhaften Prüfung" bei Kirchenasylgebera nicht immer zum besten steht. Manche Presseberichte sprechen eher für die Vermutung, daß sie sich infolge wohlmeinender Naivität leichter übertölpeln lassen, als dies bei Behörden und Gerichten möglich ist. Von einem solchen Fall berichtet die SZ vom 28. November 1997 unter dem Aufmachen „Halleluja, aber keine Antwort. Der Fall eines Asylbewerbers, dessen Helfer ihm unbedingt glauben wollen - obwohl er log." Ein Jahr zuvor hatte dessen Verhaftung noch zu massiven Protesten der Evangeüschen Landeskirche und der Oppositionsparteien in Bayern geführt. Die SPD-Fraktion ließ verlauten, der Innenminister habe sich von „christlichen Grundsätzen verabschiedet" (SZ vom 5. September 1996). 114 115 116

Vgl. BVerfGE 12, S. 45 ff. (55). Robbers, aaO. [Anm. 16], S. 37. Rudolf Wassermann nach FAZ vom 18. November 1994, S. 6.

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sehen, sondern in ihrer friedensstiftenden Funktion gewürdigt werden sollte, betonen auch Befürworter des Kirchenasyls.117 Dieser Forderung kann freilich nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß kühn, weil evidenzwidrig behauptet wird, gerade die Kirchenasylgewährung leiste „einen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens" 118. Wenn gelten soll, daß der Rechtsstaat keine beliebige Formalität darstellt, sondern eine mühsam erstrittene kulturelle und rechtsethische Errungenschaft 119 und „Frieden durch Recht" ein seit der Glaubensspaltung unter vielen Opfern errungenes rechtsethisches Kulturgut ist, 120 dann genügt es nicht, verbal an diesen Gütern festzuhalten, gleichzeitig aber die zu deren Sicherung berufenen staatlichen Organe unter Einsatz der Medienöffentlichkeit fortwährend zu desavouieren. Den Kirchen und ihren Gläubigen wäre zu wünschen, daß sich ihre Repräsentanten künftig wieder stärker auf ihre eigentliche Aufgabe zurückbesännen, statt immer neue Kirchenpapiere zu allen möglichen sozialen und politischen Problemen auszustoßen und dafür die Rolle eines „allzuständigen Klerikalgouvernements"121 zu beanspruchen. Man kann sich indessen des Eindrucks nicht erwehren, daß sie angesichts des ,,katastrophische[n] Mißerfolg[s] der modernen Katechese"122 viel lieber auf Betätigungsfelder ausweichen, „auf denen die öffentliche Wirkung leichter zu finden ist als im eigenen Kirchenraum" 123 . Wenn man aber schon wie im Falle des Kirchenasyls meint, einer Moralisierung und Politisierung des christlichen Glaubens Vorschub leisten zu sollen, wäre daran zu erinnern, daß das Gebot der Nächstenliebe auch gegenüber denen gilt, die gegebenenfalls für die sozialen Folgekosten einer Politik aufzukommen haben, welche allen Bedrängten dieser Erde „ein unantastbares und unveräußerliches Recht auf einen rechtmäßigen und unbefristeten Aufenthalt" verheißt. 124 Eine verantwortliche Ausländerpolitik, für die freilich nicht die Kirchen, sondern der Staat einstehen muß, hat neben anderem auch deren Auswirkungen auf die soziale Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens, die in117

Vgl. Rainer Grote / Dieter Kraus, „Der praktische Fall - Öffentliches Recht: Kirchenasyl" in: JuS 1997, S. 345 ff. (348). 118 Gemeinsames Wort, Ziff. 257. 119 Jacobs, aaO. [Anm. 8], S. 39. Grote /Kraus, aaO. [Anm. 117]. 121

Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, „Alle Jahre wieder: Nur billige Trivialmoral" in: FAZ vom 29. Dezember 1997, S. 10. 122 Joseph Kardinal Ratzinger, Auf Christus schauen, 1989, S. 39. 123 So der lutherische Superintendent und Theologe Gottfried Sprondel in einer Mahnung an seine „Zunftgenossen" („Der deutsche Protestantismus und sein Verhältnis zur Demokratie" in: W. Bernhardt / G. Mehnert / V. Mattée [Hrsg.]; Glaube und Politik, 1987, S. 24 ff. [38]; vgl. Püttmann, aaO [Anm. 35], S. 246. 124 Siehe oben bei Anm. 65. 25*

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nere Sicherheit und den Arbeitsmarkt in Rechnung zu stellen. Zwar wird von manchen Kirchenführern auch über die „Gnadenlosigkeit" von Massenarbeitslosigkeit125 viel und gerne geklagt. Sie sei „zutiefst unchristlich, inhuman und unsozial"126. Daß aber zwischen Arbeitslosigkeit und einer möglichst ungehinderten Zuwanderung ein Zusammenhang bestehen könnte, ist ihnen anscheinend noch nicht zu Bewußtsein gekommen. Wegen der vielfaltigen Verpflichtungen, auf die der Staat ebenfalls Rücksicht nehmen muß, kommt es entscheidend auf die Gründe an, auf die ein Asylbegehren gestützt wird. Dazu zählt beispielsweise die desolate Wirtschaftslage in einem Herkunftsland nicht. Kirchenasylaktivisten aber erklären mitunter ganz unbefangen, man wolle eine Rückkehr in Länder verhindern, in denen Armut herrscht. 127 Derartige Äußerungen machen deutlich, daß es beim Kirchenasyl nicht selten darum geht, einem abgelehnten Asylbewerber auch dann ein Bleiberecht zu verschaffen, wenn eine politische Verfolgung im Heimatland gar nicht besteht.128 Das Recht auf Asyl wird dabei entgegen seiner Zweckbestimmung unterderhand in einen länderübergreifenden Anspruch auf Sozialhilfe umgedeutet. Den Ärmsten der Armen hilft man auf solche Weise allerdings nicht, denn diese haben anders als Asylbewerber nicht die •

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Möglichkeit, das Gebiet der Bundesrepublik überhaupt zu erreichen.

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125 So der EKD-Ratsvorsitzende Präses Manfred Kock, zit. nach Graf, aaO. [Anm. 121]. 126 Weihbischof Grave nach FAZ vom 6. Oktober 1997, S. 6. 127 Michael Griesbeck, „Der Schutz vor politischer Verfolgung und weltweite Migration - Inhalt und Grenzen der Arbeit des Bundesamtes" in: Asylpraxis. Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd. 2, 1997, S. 13 ff. (62). - Exemplarisch die Äußerung eines Teilnehmers an einer Podiumsdiskussion von Unterstützerkreisen in Regensburg: „Es schmerzt, daß wir sie [sc. abgelehnte Asylbewerber] in Länder verabschieden mußten, die selbst von Armut geplagt sind („Kirchenasyl als letzte Notinstanz" in: Mittelbayerische Zeitung vom 3./4./5. Oktober 1997). 128 Ahnlich schon im Zusammenhang mit dem „sanctuary-movement" die texanischen katholischen Bischöfe im Jahre 1985: Als Kirche akzeptiere man die Flüchtlinge unabhängig davon, welche wirtschaftlichen und politischen Gründe sie zu ihrer Auswanderung bewogen hätten (Nientiedt, aaO. [Anm. 39], S. 218 f.).

129

Zutreffend von Münch, aaO. [Anm. 42], S. 2272, u.a. im Hinblick auf das Schlepperunwesen.

Die deutsch-französischen Konsultationen vom 3./4. Juli 1964 und de Gaulles „Angebot" einer nuklearen Zusammenarbeit Von Franz Eibl Am 3. Juli 1964 traf Charles de Gaulle in Begleitung mehrerer Minister um 10.15 Uhr auf dem Flughafen Wahn zum halbjährigen Gipfeltreffen mit dem Bundeskanzler ein. Anschließend schritten unter den Klängen des Preußischen Präsentiermarsches Ludwig Erhard und der französische Staatspräsident die Ehrenformation der Bundeswehr ab. Beobachtern fiel vor allem die erhöhte Polizeipräsenz auf. Die Beamten sollten einen Anschlag der radikalen französischen Opposition auf den Gast verhindern. In Bonn wiesen nur wenige Fahnen auf den Besuch hin. Auch auf den Straßen befand sich nur eine sehr geringe Zahl von Schaulustigen. Der Besuch de Gaulles war als ein reines Arbeitstreffen konzipiert. Gleich nach der Ankunft in Bonn waren Besprechungen an acht Orten angesetzt: Im Bundeskanzleramt, im Auswärtigen Amt, im Bundesverteidigungsministerium, im Bundeswirtschaftsministerium, im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie im Bundespresseamt. Der Presse teilte Erhard mit, er sei glücklich über den Besuch de Gaulles und daß er nun die Gelegenheit habe, sich zum drittenmal seit seiner Regierungsübernahme am 16. Oktober 1963 im direkten Kontakt mit dem französischen Staatschef auszutauschen. Dieser unterstrich, daß er die Gefühle des Bundeskanzlers teile.1 Doch in Wahrheit standen nur eineinhalb Jahre nach Abschluß des ElyséeVertrages am 22. Januar 1963, in dem unter anderem regelmäßige Konsultationen zwischen den beiden Regierungen vereinbart worden waren, die Beziehungen zwischen Bonn und Paris „unter keinem guten Stern" mehr2. Gleich nach seinem Einzug in das Bundeskanzleramt hatte Erhard deutlich gemacht, daß er nicht daran dachte, die von seinem Vorgänger, Konrad Adenauer, geknüpften engen Bande zu dem französischen Staatspräsidenten in gleichem Maße fortzuführen. Er schien nicht an einem einigermaßen verträglichen Verhältnis zu Frankreich interessiert und ließ keinen Zweifel daran, daß er den 1

Vgl. den Artikel „de Gaulle und Ludwig Erhard: Glücklich über direkten Kontakt", in: Die Welt, 4. 7. 1964, S. 1 f. 2 Karl Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen, hrsg. von Kai von Jena und Reinhard Schmoeckel ( = Schriften des Bundesarchivs 44). Boppard 1993, S. 255.

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deutsch-amerikanischen Beziehungen Priorität einräumte. Nur drei Tage nach seiner Wahl zum Bundeskanzler vertraute er dem früheren US-Außenminister Dean Acheson an, seine erste Auslandsreise würde ihn zwar nach Paris führen, doch geschehe dies nur, „um die Politik Adenauers nicht in aller Öffentlichkeit zu desavouieren". Das „eigentlich politische und für Deutschland bedeutsame Gespräch" sei für ihn jedoch das mit dem amerikanischen Präsidenten3. Einige Monate später bekannte er unmittelbar vor einer zweiten Reise an die Seine, „er würde fünfmal lieber in die Vereinigten Staaten gehen und sich dort mit dem Präsidenten unterhalten, als nunmehr nach Paris zu einer Begegnung mit de Gaulle"4. Der damalige Leiter des Außenpolitischen Büros im Bundeskanzleramt, Horst Osterheld, spricht abfallig von einer „Amerikophilie" Erhards: Sein Ziel sei es gewesen, „der beste Freund Amerikas [zu] sein"5. Der Kanzler gedachte, der Freundschaft Adenauers mit de Gaulle gleichwertiges entgegenzusetzen und suchte sich dafür Lyndon B. Johnson aus.6 Dabei wollte er nicht wahrhaben, daß der Nachfolger Kennedys die deutschen Interessen nicht immer berücksichtigte. Die starre Haltung des Präsidenten in der Frage der Devisenausgleichszahlungen für die in der Bundesrepublik stationierten USStreitkräfte trug schließlich sogar maßgeblich zum Sturz Erhards bei.7 Aber 3

Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem ehemaligen amerikanischen Außenminister Acheson am 19. 10. 1963, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte. München 1994, Dok. 393, S. 1340. 4 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem amerikanischen Botschafter McGhee am 12. 2. 1964, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1964, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte. München 1995, Dok. 42, S. 193. 5 Horst Osterheld, Außenpolitik unter Bundeskanzler Erhard 1963-1966. Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt ( = Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 23). Düsseldorf 1992, S. 387. 6 Vgl. Hermann Kusterer, Der Kanzler und der General. Stuttgart 1995, S. 397f. 7 Zu den Gesprächen Erhards in Washington vom 24.-27. 9. 1966, siehe Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. München/Landsberg a. L. 1996, S. 633-635; Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 350-356; Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1966, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte. München 1997, Dok. 297-302, S. 1237-1268: Der amerikanische Botschafter in Bonn, George McGhee, hatte im Vorfeld des Besuchs dem Präsidenten prognostiziert, daß sogar mit dem Sturz Erhards zu rechnen sei, wenn die USA der Bundesrepublik bei den Devisenausgleichszahlungen nicht entgegenkommen würden (s. George McGhee, Botschafter in Deutschland 19631968. Esslingen 1989, S. 291 f.). Obwohl sich Johnson der prekären Situation, in der sich der Kanzler befand, durchaus bewußt war (siehe Lyndon B. Johnson, The Vantage Point. Perspectives of the Presidency 1963-1969. New York / Chicago / San Francisco 1971, S. 307), verlangte er, Bonn müßte bis Jahresende die eingegangenen Verpflichtungen fristgerecht einhalten, und wies die Bitte Erhard um Stundung barsch zurück. Zu den Gründen für Erhards Sturz, siehe auch: Klaus Hildebrand, Von Er-

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selbst noch im Sommer 1966 verkündete der Kanzler blauäugig: „Ich liebe den Präsidenten Johnson, und er liebt mich auch."8 Daß die Regierungszeit Erhards einen „Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen" bildete9, lag aber nicht in erster Linie an den persönlichen Animositäten, sondern im wesentlichen an den politischen Differenzen. Die Bundesregierung konnte und wollte de Gaulles Plan, ein „europäisches Europa" zu schaffen, nicht unterstützen. Ein mit den USA verbündetes, aber ansonsten unabhängiges Europa lehnte Außenminister Gerhard Schröder kategorisch ab, da er die Anwesenheit der Amerikaner in Europa für die Sicherheit der Bundesrepublik als unerläßlich erachtete. Außerdem war er davon überzeugt, daß ohne die Hilfe der Vereinigten Staaten die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht zu erreichen wäre. 10 Die Anhänger de Gaulles irrten sich nach seiner Auffassung vollkommen, wenn sie glaubten, „Amerika könne Europa verlassen und dennoch die Wiedervereinigungspolitik fortsetzen"11. Darüber hinaus hielt er eine rein europäische Verteidigungspolitik für „unmöglich, unnützlich und unvernünftig". Um eines Tages den Kreml dazu zu bringen, daß er einem Ausgleich mit dem Westen zustimme, war Schröder zufolge unbedingt erforderlich, daß das „amerikanische Gewicht stark in der europäischen Waagschale gespürt werde" 12. Deshalb gab es nach seiner Einschätzung für die amerikanische Präsenz in Europa keinerlei gleichwertigen Ersatz. Alle anderen Pläne waren in seinen Augen nichts anderes als „Luftschlösser"13. Auch das integrative System der NATO erachtete Schröder aus militärischen und politischen Gründen für unverzichtbar. Es garantiere nämlich zum einen eine glaubwürdige Abschreckung, da im Ernstfall die Streithard zur Großen Koalition 1963-1969 ( = Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4). Stuttgart / Wiesbaden 1984, S. 220-240. 8 Zit. nach: Terence Prittie, Konrad Adenauer. Vier Epochen deutscher Geschichte. Stuttgart 1971, S. 481 Anm. 10. 9 Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten. Pfullingen 1970, S. 130. 10 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem französischen Außenminister Couve de Murvüle am 4. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 185, S. 765; zu de Gaulles europa- und sicherheitspolitischen Vorstellungen, vgl. Charles de Gaulle, Mémoires d'espoir. Le renouveau 1958-1962. L'effort 1962, Paris 1970, S. 177288. 11 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem amerikanischen Sicherheitsberater Bundy in Washington am 27. 11. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 363, S. 1410. 12 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem ehemaligen britischen Schatzkanzler Maudling am 18. 6. 1965, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1965, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte. München 1996, Dok. 253, S. 1059. 13 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte 17. 5.1966, Bd. 61. Bonn 1966, S. 1840.

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kräfte sämtlicher Mitgliedstaaten geschlossen zum Einsatz kämen, und zum anderen die Gleichberechtigung der beteiligten Staaten, wodurch der Zusammenhalt des Bündnisses gefestigt würde. Logischerweise lehnte er deshalb die französischen Bestrebungen ab, die Souveränität Frankreichs im Bereich der Verteidigung wiederherzustellen und auf eine radikale Reform der NATO zu drängen.14 Manchen Streit mit Paris hätte die Bundesregierung durch geschickteres Verhalten aber durchaus vermeiden können. So sollte nach dem Willen Washingtons die Bundesrepublik ihre Kritik an der französischen SüdostasienPolitik öffentlich artikulieren. Schröder riet Erhard jedoch dringend davon ab, damit die Beziehungen zum westlichen Nachbarn nicht noch stärker belastet würden.15 Bei seinem Besuch Mitte Juni 1964 in Washington stellte sich der Kanzler aber ausdrücklich hinter die amerikanische Vorgehensweise in Vietnam. Eine entsprechende Passage in dem nach seinen Besprechungen mit Präsident Johnson veröffentlichten Kommuniqué16, empfand der französische Staatspräsident als „Ohrfeige" für seine Politik 17 . Der Besuch des Präsidenten Anfang Juli 1964 in der Bundesrepublik endete dann auch mit einem „Eklat" 18 . Angesichts des Schauspiels einer ständigen politischen Nichtübereinstimmung zwischen Bonn und Paris warf de Gaulle bereits in seinem ersten Gespräch mit Erhard unter vier Augen, nur eine Dreiviertelstunde nach seiner Ankunft, Bonn vor, es wolle keine „wirklich europäische, d. h. eine von Amerika unabhängige Politik" betreiben. Da man 14 Vgl. Interview Schröders mit dem ZDF am 17. 4. 1966, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung 20. 4. 1966, S. 406. 15 Vgl. Bundesminister Schröder an Bundeskanzler Erhard 17. 5. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 130, S. 541. De Gaulle plante, mittels einer Neutralisierung Vietnams, Laos' und Kambodschas den Frieden in der Region wiederherzustellen. Da sein Konzept nur unter Einbeziehung Pekings eine Realisierungschance habe, hätte er am 27. Januar 1964 die Volksrepublik China anerkannt und zu ihr diplomatische Beziehungen aufgenommen, erklärte er Erhard im Februar 1964 (siehe Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Staatspräsident de Gaulle in Paris am 14.2.64, in: ebd., Dok. 44, S. 210-212). Erhard prophezeite hingegen, eine Neutralisierung wäre nur die Vorstufe zu einer endgültigen Kommunisierung dieser Staaten (siehe Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Ministerpräsident Erlander am 9. 3. 1964, in: ebd., Dok. 67, S. 325). 16

Vgl. Kommuniqué über die Besprechungen zwischen Bundeskanzler Erhard und Präsident Johnson in Washington vom 12. 6. 1964, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. IV. Reihe: Vom 10. November 1958 bis 30. November 1966, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bd. 10.2., Frankfurt a. M. 1980, S. 685-687, bes. 686. 17 Botschafter Klaiber, Paris, an das Auswärtige Amt 10. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 195, S. 810. 18 Reiner Marcowitz, Option für Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958-1969 ( = Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 49). München 1996, S. 190.

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in allen wichtigen politischen Fragen ständig verschiedener Meinung sei, wäre eine wirklich bedeutsame Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten nicht möglich, bedauerte der General. Leider hätte die Bundesrepublik nicht „gewählt" und sich nicht entschließen können, sich entweder auf die Seite Frankreichs oder der USA zu stellen19. Erhard verteidigte hingegen seine Politik und betonte, der Bundesrepublik liege eine Wahl zwischen Paris und Washington fern. Ihm liege daran, die Freundschaft zu beiden Staaten zu pflegen! Zwar wolle man nicht von den Amerikanern abhängig sein, doch könne man die Tatsache nicht ignorieren, daß die Bundesrepublik auf den Schutz durch die USA angewiesen sei, machte der Kanzler deutlich. De Gaulle beteuerte daraufhin erneut, es liege ihm völlig fern, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten aufzugeben, doch sollte diese Allianz künftig auf den Schultern zweier gleich starker und gleichberechtigter Partner beruhen.20 Obwohl er explizit verkündete, er respektiere die Gründe, warum sich die Bundesregierung nicht zwischen Paris und Washington entscheiden wolle, forderte de Gaulle den Kanzler dennoch indirekt auf, endlich eine Wahl zugunsten Frankreichs zu treffen: „Wenn aber Deutschland sich nicht entscheide, dann werde es in der jetzigen Epoche der Geschichte nicht zu einer Einigung Europas kommen."21 Am zweiten Tag der Konsultationsgespräche gab sich der General jedoch entschieden zugänglicher. Gleich zu Beginn seiner Unterredung mit Erhard meinte er versöhnlich, „daß ja zwischen Deutschland und Frankreich keine Berge stünden". Der bilaterale Dialog sei im Grunde völlig unproblematisch: „Schwierig sei nur das gemeinsame Handeln."22 Er glaubte, daß sich Bonn allerdings im Laufe der Zeit „ganz automatisch" der französischen Linie annähern würde. Infolgedessen wollte er in Ruhe abwarten und sich bis dahin bemühen, die beiderseitigen Kontakte zu festigen und auszuweiten23. Ähnlich wohlwollend äußerte sich de Gaulle auch in seinem Schlußreferat bei der ab19 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Staatspräsident de Gaulle am 3. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 180, S. 714. 20 Vgl. ebd., S. 715-718. 21 Ebd., S. 722. Als Adenauer wenige Tage später Erhard wegen des mißlungenen deutsch-französischen Gipfels kritisierte, verteidigte sich dieser, de Gaulle hätte ihn vor die Wahl zwischen Frankreich und den USA gestellt. Der frühere Kanzler wollte dies nicht glauben. Doch auch vor dem Kabinett bekräftigte Erhard seine Darstellung. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rainer Barzel, nahm deswegen Einblick in das Gesprächsprotokoll, fand aber nach seiner Aussage nichts, was die Version des Kanzlers bestätigt hätte, s. dazu: Hentschel, Erhard (Anm. 7), S. 508 f.; Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann 1952-1967. Stuttgart 1991, S. 891. Das in den Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland nun veröffentlichte Protokoll läßt aber wohl keinen Zweifel mehr daran, daß de Gaulle dem Kanzler mehr oder weniger eine Entscheidung aufzwingen wollte. 22 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Staatspräsident de Gaulle am 4. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 188, S. 784 f. 23 Ebd., S. 776.

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schließenden, gemeinsamen Regierungsbesprechung.24 Seine „bewegenden Ausführungen" 5 vor den versammelten Ministem der beiden Staaten beendete er mit einem flammenden Appell für eine enge und intensive Kooperation Frankreichs und der Bundesrepublik: „Es sei fast unglaubhaft und dennoch wahr, daß es für Frankreich heute keinen Staat auf der Welt gäbe, mit dem es aus Seelenneigung und natürlichen Gegebenheiten mehr zu einer Zusammenarbeit bereit sei als mit dem heutigen Deutschland." 26

Was sich nun ereignete, mußte der französische Staatspräsident als einen unerhörten Affront empfinden: Anstatt auf die Ansprache de Gaulies zu antworten, verharrte der Kanzler in Schweigen. „Verwunderung, Beklommenheit breiteten sich aus, fast Lähmung", schildert Horst Osterheld die Szene27. Schließlich unterbrach Schröder „die peinliche Stille" und forderte die Dolmetscherin, Colette Bouverat, auf, mit der Übersetzung des Referats des französischen Bildungsministers fortzufahren, die sie beim Eintreffen de Gaulles vor der Ministerrunde unterbrochen hatte. So mancher Besprechungsteilnehmer glaubte in diesem Moment „Zeuge des Zerbrechens einer zukunftsträchtigen Freundschaft zu sein"28. Gerhard Schröder wurde später beschuldigt, er hätte den französischen Staatspräsidenten durch seine Anordnung, zur Tagesordnung überzugehen, auf ungeheuerliche Weise brüskiert. 29 Man nannte ihn einen „homme fatale", durch den eine „deutsch-französische Sternstunde" verhindert worden wäre 30. Auch Adenauer warf dem Außenminister die „Zerstörung des deutsch-französischen Verhältnisses" vor 31 . Sicherlich war Schröders Verhalten nicht besonders geschickt. Doch wäre es unfair, ihm die Verantwortung für die schlechte Behandlung des Generals zuzuschieben. Laut diplomatischem Protokoll stand es dem Außenminister nicht zu, im Namen der Bundesregierung einem Staats-

24 Vgl. Deutsch-französische Regierungsbesprechung am 4. 7. 1964, in: ebd., Dok. 188, S. 784 f. 25 Osterheide Außenpolitik (Anm. 5), S. 99. 26 Deutsch-französische Regierungsbesprechung am 4. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 188, S. 785. 27 Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 99. 28 Ebd.; siehe auch: Kusterer, Kanzler (Anm. 6), S. 419. 29 Vgl. Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen. Berlin 1989, S. 433; François Seydoux, Botschafter in Deutschland. Meine zweite Mission 1965 bis 1970. Frankfurt a. M. 1978, S. 325; Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 19601975. Hamburg 1976, S. 142. 30 Interview Schröders mit der Rhein-Zeitung am 26. 6. 1965, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 30. 6. 1965, S. 890. 31 Zit. nach: Schwarz, Staatsmann (Anm. 21), S. 890.

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Oberhaupt zu antworten. Dies wäre die Aufgabe des Kanzlers gewesen! Nicht Schröder, sondern Erhard hätte also im Zentrum der Kritik stehen müssen. Dieser schwieg wohl ganz bewußt, um dem französischen Präsidenten vor Augen zu führen, daß die Bundesrepublik an einer vertieften Zusammenarbeit mit Frankreich kein Interesse hatte. Ein Indiz für die Richtigkeit dieser Annahme sind die abfalligen Äußerungen über de Gaulle, die Erhard nach Beendigung der Konsultationsgespräche verbreitete. Die „Politik de Gaulles sei für ihn völlig unmöglich" und ein „völliger Rückfall in die Vergangenheit", sagte er beispielsweise dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak. Ginge die Bundesrepublik mit Frankreich zusammen, würde sie „auf jede Handlungsfreiheit verzichten und die Freundschaft der freien Welt verlieren" 32 . Auch gegenüber dem amerikanischen Botschafter in Bonn, George McGhee, brüstete sich der Kanzler, daß er de Gaulles Pläne einer vertieften Kooperation Bonns mit Paris zurückgewiesen hätte.33 Erhard war nicht bereit, „sich aus der Obhut eines machtvollen Partners zu lösen, um sich einem unzweideutig schwächeren Hegemon anzuvertrauen" 34. Die Ignorierung seiner feierlichen Aufrufs traf de Gaulle schwer: „Je suis resté vierge", bemerkte er frustriert gegenüber Adenauer. Dieser wiederum erzählte noch Jahre danach, wie tief der französische Staatspräsident durch Erhards Verhalten verletzt worden war: „Ich habe den Mann noch nie so aufgeregt gesehen, weil man ihm [...] nicht mit einer Silbe geantwortet hat. [...] Das war für ihn eine solche Blamage, eine solche Ablehnung!"35 Obwohl de Gaulle spätestens nach dieser Brüskierung klar geworden sein mußte, daß der von ihm gewünschte Zusammenschluß der beiden früheren Erbfeinde nicht zu verwirklichen war, solange Erhard in Bonn regierte, trat er noch am gleichen Tag an den damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und späteren Bundespräsidenten, Karl Carstens, mit einem auf den ersten Blick sensationellen Angebot heran. Nach dem Mittagessen der beiden Delegation auf Schloß Ernich, der Residenz des französischen Botschafters, empfing er Carstens in der Schloßbibliothek. In dem Vieraugengespräch beklagte er zunächst, er vermisse „eine gemeinsame und selbständige europäische Politik Deutschlands und Frankreichs" 36 Hinsichtlich der deutschen Entschei32 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem belgischen Außenminister Spaak am 14. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 198, S. 836. 33 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem amerikanischen Botschafter McGhee am 6. 7. 1964, in: ebd., Dok. 189, S. 788. 34 Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition (Anm. 7), S. 105. 35 Zit. nach: Schwarz, Staatsmann (Anm. 21), S. 888. 36 Gespräche des Staatssekretärs Carstens mit Staatspräsident de Gaulle und dem französischen Außenminister Couve de Murville am 4. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 186, S. 767.

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dung, an dem von den Amerikanern vorgeschlagenen Projekt einer multilateralen Atomflotte (MLF) mitzuarbeiten, bemerkte er lapidar: „Die Bombe bekommen sie von den USA nie". Zur Überraschung Carstens' regte er statt dessen eine deutsche Beteiligung an der Force de frappe an: „Warum gehen Sie nicht mit uns zusammen? Wir haben die Bombe auch. Bei uns könne Sie einen weit größeren Anteil erhalten." 37 Carstens unterrichtete umgehend den Kanzler und den Außenminister von diesem Angebot38; fünf Tage später, im Dom zu Roskilde, auch Osterheld39. Dieser glaubte, eine „Sternstunde" zu erkennen und meinte: „Da müssen wir, um der Zukunft Deutschlands willen, zupacken!" Noch an Ort und Stelle forderte er den Chef des Bundeskanzleramtes, Ludger Westrick, sowie Schröder und Erhard auf, die Chance nicht verstreichen zu lassen: „Wir müssen zugreifen." 40 Sogleich nach seiner Rückkehr legte er dem Kanzler eine Denkschrift vor, in der nachdrücklich anmahnte, auf de Gaulles Offerte einzugehen. Die Bundesregierung sollte ausloten, wie eine deutsche Beteiligung an dem französischen Atomprogramm konkret aussehen würde. Etwaige sowjetische Proteste müsse man einfach ignorieren, meinte Osterheld. Diese gäbe es ja auch wegen der Mitarbeit Bonns an der MLF! Die amerikanischen Einwände wollte der Ministerialdirigent ebenfalls in Kauf nehmen, da er vermutete, de Gaulle könnte mit seiner Annahme recht haben, daß die Sicherheitsgarantie der USA für Europa im Schwinden begriffen war. Zwar nahmen auch für ihn die deutsch-amerikanischen Beziehungen weiterhin den ersten Rang ein, doch sollte man sich deswegen nicht von einer Zusammenarbeit mit Paris abhalten lassen, führte er in seinem Memorandum aus.41 In Regierungskreisen war man aber schon seit längerem zu einem anderen Ergebnis gekommen, was von einer Partizipation an der im Aufbau begriffenen französischen Atomstreitmacht zu halten sei. Bereits Anfang Juni 1962 hatte eine gemeinsame Besprechung von hohen Beamten des Auswärtigen Amts und des Bundesverteidigungsministeriums stattgefunden, in der die Vorund Nachteile dieser Alternative eingehend geprüft worden waren. Die Experten der beiden Ministerien waren damals zu dem Schluß gekommen, daß eine deutsch-französische Kooperation im Bereich der nuklearen Verteidigung „schwerwiegende Nachteile" mit sich bringen würde. Die Sicherheit der Bun-

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Ebd., S. 768; siehe auch: Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 255 u. 272. Vgl. Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 272. 39 Vgl. Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 100. Osterheld begleitete den Bundeskanzler auf einem Staatsbesuch in Dänemark am 8./9. 7. 1964, siehe dazu: Archiv der Gegenwart 1964, zusammengestellt v. Heinrich von Siegler. Bonn / Wien / Zürich 1964, S. 11314. 40 Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 100. 41 Ebd. 38

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desrepublik könnte dadurch nicht erhöht, sondern würde erheblich gemindert werden, weil eine derartige Zusammenarbeit die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten schwer belasten und die NATO schwächen würde. Bonn nähme das Risiko auf sich, die Unterstützung der USA zu verlieren, die als einzige die Bundesrepublik effektiv schützen konnten, und statt dessen „in eine untragbare Abhängigkeit von Frankreich" zu geraten. Der westliche Nachbar, so die einhellige Meinung, sei aber wegen seiner „politische[n] und militärischein] Schwäche [...] kein auch nur annähernder Ersatz für den Verlust des Bündnispartners USA". Man hatte deshalb der Bundesregierung nahegelegt, einer nuklearen Zusammenarbeit mit Paris nicht zuzustimmen, falls die französische Regierung Bonn ein derartiges Angebot unterbreiten würde. 42 Nun lag also augenscheinlich eine Offerte de Gaulies auf dem Tisch. Doch war sie tatsächlich ernst zu nehmen? Carstens jedenfalls war davon überzeugt.43 Äußerungen, die der stellvertretende Leiter des Generalsekretariats der nationalen Verteidigung Frankreichs, Pierre Maillard, im Juli 1965 gegenüber dem deutschen Botschafter in Paris machte, deuten ebenfalls darauf hin. Maillard legte seinem Gesprächspartner dar, de Gaulle hätte Bonn logischerweise „nicht offen Atomwaffen anbieten können". Hätte die Bundesrepublik aber das verdeckte Angebot wahrgenommen, wäre sie dennoch „unausweichlich schrittweise in die atomare Verantwortung gerückt" 44. Was bewog den General jedoch, gegenüber Carstens eine nukleare Beteiligung vorzuschlagen und gegenüber dem Bundeskanzler, bei dem letztlich die Entscheidungsgewalt lag, nicht die geringste Andeutung zu machen? Als Erhard nämlich am Morgen des 4. Juli in seinem Vieraugengespräch mit dem französischen Staatspräsidenten das Gespräch auf die Force de frappe brachte, unterstrich dieser ausdrücklich, daß die französische Nuklearstreitmacht unter nationaler Kontrolle bleiben würde, solange weder ein europäischer Staat noch eine Zentralregierung existiere: „Bis zu dem Zeitpunkt, da Europa verteidigungsmäßig einmal selbst bestehen kann, und bis zu dem Zeitpunkt, da seine politische Organisation so weit gediehen sei, daß eine wirklich europäische Regierung möglich werde, bis zu diesem Zeit-

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Ergebnis der Besprechungen in Haus Giersberg, Münstereifel, vom 1./2. Juni 1962 (Gemeinsame Fassung AA/BMVtdg), Bonn, 15. 6. 1962, zit. nach: Christoph Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache. Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959-1966 ( = Internationale Politik und Sicherheit, Bd. 30/2). BadenBaden 1993, S. 70. 43 Vgl. Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 272. Auch Hermann Kusterer ist der Ansicht: „Bei einer Angelegenheit dieses Gewichts ist bei einem Mann wie de Gaulle von vornherein auszuschließen, daß es ihm etwa nur entschlüpft wäre, es nur so dahingesagt gewesen sein könnte.", siehe Kusterer, Kanzler (Anm. 6), S. 422. 44 Botschafter Klaiber, Paris, an das Auswärtige Amt 13. 7. 1965, in: AAPD 1965 (Anm. 12), Dok. 279, S. 1166 f.

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punkt gebe es die getrennten nuklearen Waffen Großbritanniens und Frankreichs [...Γ45

Er bekräftigte zwar anschließend, daß das französische Potential im Falle eines Angriffs auf Europa „automatisch" zum Einsatz kommen würden, da die Verteidigung Frankreichs mit der Verteidigung Europas identisch sei, doch erwähnte er mit keinem Wort, daß er in Betracht zog, irgend jemanden an der Kontrolle über die Force de frappe zu beteiligen.46 Auch Carstens betont in seinen Erinnerungen, laut den Gesprächsprotokollen hätte de Gaulle „nicht die leiseste Andeutung" gemacht47. Handelte es sich also nur um ein Lockangebot, das die Deutschen von einer Teilnahme an der MLF und einer engen militärischen Zusammenarbeit mit den USA abhalten sollte? Was bewog den General, Carstens eine Beteiligung an der Force de frappe vorzuschlagen und gegenüber dem Kanzler, bei dem letztlich die Entscheidungsgewalt lag, nicht die geringste Andeutung zu machen, sondern sogar noch ausdrücklich zu betonen, daß Frankreich die Verfügungsgewalt über seine Nuklearwaffen nicht aufgeben würde? Erhard war jedenfalls in keinster Weise gewillt, über eine Partizipation an der französischen Atomstreitmacht auch nur nachzudenken. Am 6. Juli 1964 sagte er McGhee, angesichts von de Gaulles europapolitischer Konzeption, die auf einer Kooperation souveräner Regierungen basiere, werde es niemals eine gesamteuropäische Zentralgewalt geben. Die Umwandlung der Force de frappe in eine gemeinsame, europäische Atomstreitmacht sei somit ausgeschlossen. Damit bliebe den Deutschen nur die Wahl, sich verteidigungspolitisch entweder den Amerikanern oder den Franzosen anzuvertrauen. Angesichts der Größe des amerikanischen Potentials sei selbstverständlich das atomare Schutzschild der USA vorzuziehen.48 Der Kanzler glaubte im übrigen, daß de Gaulle die Bundesrepublik nur dabei haben wollte, weil Frankreich Probleme hatte, sein ehrgeiziges Nuklearprogramm zu finanzieren. Er werde aber nicht die Zustim-

45 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Staatspräsident de Gaulle am 4. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 187, S. 768-777 (775). 46 Ebd., S. 775. 47 Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 272. 48 Gespräch des Bundeskanzlers Erhard gegenüber dem amerikanischen Botschafter McGhee am 6. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 189, S. 791. Erhard erzählte dem Botschafter zudem, er hätte dies auch gegenüber de Gaulle zum Ausdruck gebracht. Dies ist aber dem Gesprächsprotokoll nicht zu entnehmen (siehe Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Staatspräsident de Gaulle am 4. 7. 1965, in: ebd., Dok. 187, S. 774-777). Nichtsdestotrotz wiederholte der Kanzler am 14. 7. 1964 in einer Unterredung mit Paul-Henri Spaak seine Behauptung (siehe Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem belgischen Außenminister Spaak am 14. 7. 1964, in: ebd., Dok. 198, S. 834 f.).

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mung geben, deutsche Gelder in ein „Faß ohne Boden" zu werfen, erklärte Erhard resolut49. Es stellt sich die Frage, warum de Gaulle sein Angebot ausschließlich Carstens unterbreitete. Osterheld vermutet, der französische Präsident hatte sich an den Staatssekretär gewandt, weil er ihm gegenüber ein solch heikles Thema wie eine Beteiligung an der Force de frappe inoffiziell ansprechen und auf diese Weise die deutsche Reaktion testen konnte. Außerdem war mit Carstens ein Gespräch ohne Dolmetscher möglich, da dieser fließend französisch sprach.50 Der frühere Chefdolmetscher Adenauers, Hermann Kusterer, vermutet, daß de Gaulle Erhard nicht die Entschlußkraft zutraute, auf eine derartige Offerte sogleich zu antworten. Er wollte es umgehen, sofort abgewiesen zu werden. Außerdem hielt er Carstens irrtümlich für einen Anhänger Adenauers. Kusterer spekuliert, der General hätte eventuell darauf gebaut, der Staatssekretär würde die Bundesregierung im Lauf der Zeit von ihrem antifranzösischen Kurs abbringen.51 Sollten dies tatsächlich de Gaulies Motive gewesen sein, so war es dennoch unklug von ihm, gegenüber Erhard derart kategorisch auf die französische Souveränität über die Force de frappe zu pochen. Die Äußerung Couve de Murvilles, Nuklearwaffen hätten eine so grauenhafte Wirkung, „daß man sie mit niemandem teilen kann", bestärkte aber die Führungsspitze des Auswärtigen Amts in ihrer Ansicht, de Gaulies Angebot sei nicht seriös. Man entschied sich deswegen, die Sache nicht weiter zu verfolgen. 52 Carstens regte zwar am 27. Juli 1964 in einem für Schröder angefertigten Memorandum an, in Erfahrung zu bringen, was die Franzosen unter einer Europäisierung ihrer Atomwaffen verstanden, hielt es jedoch für „ganz unwahrscheinlich", daß der französische Staatspräsident an eine „gleichberechtigte Partnerschaft" mit der Bundesrepublik im atomaren Bereich denke. Außerdem prophezeite er angesichts der negativen Erfahrungen, die man seit Januar 1963 mit de Gaulle hinsichtlich der Frage des britischen Beitritts zu den Europäischen Gemeinschaften (EWG, EGKS und EURATOM) gemacht hatte, daß dieser im Falle eines deutsch-französischen Interessenkonflikts auf die Wünsche Bonns keine Rücksicht nehmen würde. 53 Carstens riet dringend 49

Ausführungen des Bundeskanzlers Erhard gegenüber dem amerikanischen Botschafter McGhee am 14. 12. 1964, in: ebd., Dok. 380, S. 1487-1492 (1492). 50 Vgl. Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 102. 51 Kusterer, Kanzler (Anm. 6), S. 422 f. 52 Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 272. 53 Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 27. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 210, S. 888-893 (888). Auf einer Pressekonferenz in Paris am 14. 1. 1963 lehnte de Gaulle den Beitritt Großbritanniens zu den europäischen Gemeinschaften zum jetzigen Zeitpunkt ab (siehe Dokumente der Europäischen Integration, zusammengestellt v. Heinrich von Siegler. Bd 2: 1961-1963, unter Berücksich-

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davon ab, sich auf die Seite Frankreichs zu schlagen: „Im Fall eines deutschfranzösischen Alleingangs, noch dazu mit einer deutlichen Frontstellung gegen die USA, würden die USA ihren Einfluß in Europa gegen uns mobilisieren." Außerdem sagte er voraus, daß die Bundesrepublik durch eine solche Politik in einen Gegensatz zu ihren europäischen Partnern geraten würde. 54 Auch sprach sich Carstens entschieden gegen eine Unterstützung der französischen NATO-Politik aus, da diese einer Desintegration des Bündnisses Vorschub leiste. Es sah sogar die Gefahr, daß die kleineren NATO-Staaten in eine Politik des Neutralismus zurückfallen würden. Die amerikanische Präsenz in der Bundesrepublik erachtete er für unverzichtbar. Der Staatssekretär kam daher zu dem Schluß: „Wir können die Wahl, die Frankreich uns aufzwingen will, nicht vollziehen." Explizit empfahl er, „das MLF-Projekt nachdrücklich wei ter [zu] verfolgen" 55. Schröder mußte aber gar nicht davon überzeugt werden, daß die französische Atomstreitmacht für die Bundesrepublik keine Alternative war. Er nahm die Force de frappe nicht ernst: „Das Sahara-Bömbchen", sagte er zuweilen spöttisch56. Den ,,wirksamste[n] Schutz" für die Deutschen bildeten nach seiner Einschätzung nach wie vor die amerikanischen Atomwaffen 57. Wie bereits angesprochen wurde, waren seine Vorstellungen bezüglich der Gestaltung die westliche Verteidigungspolitik absolut konträr zu denen de Gaulles. So wünschte der Außenminister einen Ausbau des integrativen Systems innerhalb der NATO. Europa und Amerika sollten immer enger miteinander verzahnt werden, damit im Ernstfall die von den Amerikanern postulierte Unteilbarkeit der Verteidigung auch in der Praxis sichergestellt wäre. Das Konzept, die Verteidigungspotentiale der Mitgliedstaaten der Allianz miteinander zu verklammern, lehnte de Gaulle aber strikt ab. Er betrieb eine Politik, die laut Schröder unter dem Motto „Ami go home" stand58. Verteidigungsminister Kai-Uwe v. Hassel teilte Schröders Standpunkt. Auch er war der Ansicht, „daß eine wie auch immer geartete Beteiligung an der Force de frappe nicht in Erwägung gezogen werden [dürfte]" 59. tigung der Bestrebungen für eine Atlantische Partnerschaft. Bonn / Wien / Zürich 1964, Dok. 173, S. 236-242; Charles de Gaulle, Discours et messages. Bd. 4: Pour l'effort. Août 1962 - Décembre 1965. Paris 1970, S. 61-79. 54 Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 27. 7. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), S. 889. 55 Ebd., S. 890. 56 Zit. nach: Schwarz, Staatsmann (Anm. 21), S. 894. 57 Vortragsexposé des Bundesministers Schröder vom 4. 8. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 220, S. 934. 58 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem amerikanischen Sicherheitsberater Bundy in Washington am 27. 11. 1964, in: ebd., Dok. 363, S. 1412. 59 Militärisches Tagebuch v. Hassel, zit. nach: Marcowitz, Option (Anm. 18), S. 197.

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Als der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der französischen Nationalversammlung, Maurice Schumann, während eines Empfangs in Bonn am 16. November Carstens zu dessen Überraschung an sein Gespräch mit de Gaulle auf Schloß Ernich erinnerte und hinzufügte, Paris wünsche immer noch über eine Europäisierung der Force de frappe zu sprechen, wiederholte der Staatssekretär intern seinen Rat, Kontakt zum französischen Staatspräsidenten aufzunehmen. 60 Schröder wollte aber nicht von seiner bisherigen Linie abweichen. Er meinte, die Franzosen könnten nicht erwarten, „daß wir zwei Jahre über [die] MLF bis zur Unterschriftsreife verhandeln und dann auf vage Andeutungen hin abspringen"61. Noch Bundeskanzler Adenauer hatte am 14. Januar 1963 die Teilnahme der Bundesrepublik an diesem Projekt ausdrücklich zugesagt.62 Die multilaterale Atomflotte sollte von den interessierten NATO-Mitgliedern gemeinsam finanziert und betrieben werden. Man plante etwa 25 gemischt-national bemannte Schiffe in Dienst zu stellen, die mit Potom-Mittelstreckenraketen ausgerüstet werden sollten. Den Oberbefehl sollte der Befehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa (SACEUR) übernehmen.63 Die Verhandlungen über das Gründungsstatut der MLF machten zunächst wenig Fortschritte. Während die Washingtoner Arbeitsgruppe, die die militärischen Aspekte der MLF erörterte, im Februar 1964 ihren Abschlußbericht vorgelegt hatte, kamen die politischen Beratungen in Paris nicht voran. Der einzige vorzeigbare Erfolg war die einstimmige Entscheidung, ab Ende des Jahres ein Versuchsschiff mit einer gemischten Besatzung für die Dauer von einem Jahr in Dienst zu stellen, um das Zusammenwirken von Soldaten verschiedener Nationalität auf engstem Raum in der Praxis zu erproben. 64 Am 16. April ließ Johnson durch den amerikanischen NATO-Botschafter Finletter Bonn die Botschaft übermitteln, die Vereinigten Staaten hätten ein starkes Interesse an einer Realisierung der MLF. Der Präsident versprach, sich dafür einzusetzen, daß eine Vertragsunterzeichnung unmittelbar nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 1964, spätestens aber im Januar 1965, erfolgen könne. Finletter deutete zudem an, man ziehe im 60

Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 17. 11. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 3), Dok. 343, S. 1343 f. 61 Zit nach: ebd., S. 1344, Anm. 8. 62 Vgl. Osterheld, Kanzlerjahre (Anm. 5), S. 179 f.; Wilhelm G. Grewe, Rückblenden 1976-1951. Aufzeichnungen eines Augenzeugen deutscher Außenpolitik von Adenauer bis Schmidt. Frankfurt a. M . / Berlin/Wien 1979, S. 615; Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 16. 1. 1963, S. 69. 63 Vgl. Runderlaß des Ministerialdirektors Krapf vom 12. 8. 1963, in: AAPD 1963 (Anm. 3), Dok. 120, S. 401. 64 Vgl. Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Luedde-Neurath v. 21. 4. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 104, S. 450. 26 Festschrift Hacker

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Weißen Haus notfalls auch einen Alleingang der Bundesrepublik und der USA in Erwägung. Seine Regierung, so der Botschafter, erhoffe sich, auf diese Weise andere Staaten wie Italien und Großbritannien, die bislang abwartend taktiert hatten, zu einer Teilnahme zu bewegen. Er fügte hinzu, Johnson sei der Auffassung, Bonn und Washington sollten abseits der offiziellen MLF-Arbeitsgruppe bilaterale Verhandlungen aufnehmen. 65 Dadurch wollte Johnson offensichtlich die ins Stocken geratenen Beratungen über die MLF-Charta wieder in Gang bringen. Die Verhandlungen wurden von der britischen Regierung blockiert. Mehr als ein halbes Jahr nach der Aufnahme offizielle Verhandlungen stellte London plötzlich die gesamte Konzeption des Projekts in Frage. So plädierte die britische Delegation für eine Verkleinerung der Flotte und dachte an eine Einbeziehung von Flugzeugen bzw. von landgestützten Mittelstreckenraketen. Außerdem strebten die Briten eine Verringerung ihres Kostenanteils an. Sie stellten zudem die Bedingung, daß sowohl ein britisches wie ein amerikanisches Vetorecht über den Einsatz der MLF-Kerawaffen fixiert werden müßte. Den anderen Delegationen blieb nicht verborgen, daß die britische Regierung darauf abzielte, die Beratungen in die Länge zu ziehen. Man nahm aber nicht an, daß sie die Absicht verfolgte, die MLF zu Fall zu bringen, sondern machte für ihr Verhalten den Wahlkampf in Großbritannien verantwortlich. 66 Schließlich hatte Premierminister Douglas-Home bereits im Januar gegenüber Erhard betont, daß das Vorhaben erst nach den Unterhauswahlen verwirklicht werden könnte.67 Die Stellungnahmen der britischen Regierung wurden so gedeutet, daß die Tories nach einem Sieg bei den Unterhauswahlen im Herbst 1964 ihre Vorbehalte zurückstellen und sich an der MLF beteiligen würden.68 Mit ihren Forderungen standen die Briten in der Pariser MLF-Arbeitsgruppe allein. Dennoch nahm das Auswärtige Amt an, daß das Argument Londons, die MLF sei zu kostspielig, bei den kleineren NATO-Staaten auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Zudem befürchtete man, daß durch die ständigen Verzögerungen die Neigung in Washington wachsen könnte, auf die britischen Vorschläge einzugehen. Eine nach den Vorstellungen Londons geschaffene MLF hätte jedoch nach dem Urteil der deutschen Sachverständigen 65 Vgl. Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit dem amerikanischen Botschafter Finletter am 16. 4. 1964, in: ebd., Dok. 98, S. 428-430; Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Luedde-Neurath vom 21. 4. 1964, in: ebd., Dok. 104, S. 454 f. 66 Vgl. ebd., S. 451-454. 67 Vgl. Gespräch des Bundeskanzlers Erhard mit Premierminister Douglas-Home in London am 15. 1. 1964, in: ebd., Dok. 12, S. 48. 68 Zu diesem Schluß waren Bonn und Washington bereits im Dezember 1963 gelangt, vgl. Deutsch-amerikanische Regierungsbesprechung in Stonewall, Texas, am 28. 12. 1963, in: AAPD 1963 (Anm. 3), Dok. 488, S. 1696 f.

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einen militärisch geringeren Stellenwert gehabt und die Nicht-Nuklearstaaten an der Mitsprache über die Nuklearstrategie und den Einsatz der Atomwaffen praktisch ausgeschlossen. Andererseits konnte auf die Mitarbeit der Briten nur schwerlich verzichtet werden. Die Italiener hatten bereits deutlich gemacht, daß ihre Mitwirkung von der Teilnahme Londons abhing. An der Koblenzer Straße wußte man, daß auch Holländer, Belgier, Griechen und Türken nur dann mitmachen würden, wenn die drei „Großen", die Bundesrepublik, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, sich über die Konzeption der MLF einigten.69 Der von Johnson angeregte deutsch-amerikanische Alleingang fand daher nicht den Beifall der Bundesregierung. Bonn wollte die anderen interessierten Staaten nicht verstimmen. Man präferierte statt dessen ein mit den Amerikanern koordiniertes Vorgehen in der MLF-Arbeitsgruppe. 70 Im Kommuniqué der deutsch-amerikanischen Regierungsbesprechungen vom Juni 1964, unterstrichen Bonn und Washington, daß „weiterhin alle Anstrengungen unternommen werden sollten, um zum Ende dieses Jahres ein Abkommen zur Unterzeichnung fertigzustellen" 71. Alles in allem waren also die Aussichten auf eine Verwirklichung des Projektes zur Jahresmitte 1964 nicht allzu schlecht. Wollte nun de Gaulle mit seinem Angebot die Deutschen dazu bewegen, ihre Beteiligung an der MLF noch einmal zu überdenken? Vieles deutet darauf hin. Denn nach dem Konsultationstreffen vom Juli 1964 wandte sich Frankreich auf einmal gegen das Projekt. Bislang hatte man an der Seine die MLF zwar kritisiert, aber nichts unternommen, um dem Vorhaben Steine in den Weg zu legen. Auch an einer deutschen Beteiligung hatte man in Paris nichts auszusetzen gehabt. Noch am 15. Februar 1964 hatte de Gaulle in Bezug auf den deutschen Wunsch nach nuklearer Teilhabe erklärt: „Sie suchen die Lösung durch eine Beteiligung an der MLF, durch die Sie einen Einfluß auf die Entscheidungen erlangen wollen. Wir wünschen Ihnen von Herzen Erfolg." 72 Nun kündigte die französische Regierung an, sie werde gegen die MLF opponieren, weil dieses Projekt den Plan gefährde, ein von Amerika unabhängiges Europa zu schaffen. Couve de Murville unterstrich gegenüber Carstens am 24. Oktober, eine Europäisierungsklausel, die im Falle der Vereinigung Europas eine Revision der MLF-

69 Vgl. Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Luedde-Neurath vom 21. 4. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 104, S. 453 f. 70 Vgl. ebd., S. 455 f. 71 Kommuniqué über die Besprechungen zwischen Bundeskanzler Erhard und Präsident Johnson in Washington vom 12. 6. 1964, in: DzD IV/10.2 (Anm. 16), S. 685-687 (686). 72 Deutsch-französische Regierungsbesprechung in Paris am 15. 2. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 50, S. 246.

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Charta erlauben sollte, sei für Paris „kein Ausweg"73. Er verlangte nachdrücklich von Bonn den Verzicht auf das MLF-Projekt, weil andernfalls die Europäer „vollständig abhängig" von den Vereinigten Staaten würden74. Auf diese völlig neue Position Frankreichs angesprochen, antwortete Couve de Murville lapidar, man hätte früher keine Einwände gegen die multilaterale Atomflotte gehabt, weil man einfach nicht damit gerechnet habe, daß sie konkrete Gestalt annehmen könnte.75 Auch de Gaulle gab am 9. November 1964 gegenüber Adenauer zu, er habe das MLF-Projekt zunächst „nicht sehr ernstgenommen"76. Es war aber nicht nur die Angst vor den negativen Auswirkungen der MLF auf die französische Europa-Politik, die de Gaulle auf die Barrikaden brachte, sondern auch seine Enttäuschung über die in seinen Augen unzureichende Umsetzung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags. Im Elysée-Palast stellte man sich jetzt auf den Standpunkt, „die MLF werde den Vertrag sprengen"77. Zudem war man in Paris der Auffassung, die Atomflotte „zerstöre die europäische Zusammenarbeit"78. Nach französischer Interpretation beabsichtigten die USA mit der MLF in Wirklichkeit, einen größeren Einfluß auf die europäische Verteidigungspolitik zu erlangen. Ihr Ziel sei es, Frankreich zu isolieren, damit es über kurz oder lang auf die Force de frappe verzichte, unterstrich Couve de Murville am 9. Dezember 1964 gegenüber seinem deutschen Amtskollegen. Gelinge dieser Plan, dann hätten die Vereinigten Staaten endgültig ihr Konzept der Unteilbarkeit der Verteidigung durchgesetzt, was jedoch nichts anderes bedeute als die Aufrechterhaltung des amerikanischen Monopols über die nuklearen Waffen der freien Welt! Frank73

Vgl. Gespräch des Staatssekretärs Carstens mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Paris am 24. 10. 1964, in: ebd., Dok. 296, S. 1185f. (1185); s. auch: Grewe, Rückblenden (Anm. 61), S. 620. Seit dem Juli 1963 lag der italienische Vorschlag einer Europäisierungsklausel auf dem Tisch, s. Runderlaß des Staatssekretärs Carstens vom 9. 7. 1963, in: AAPD 1963 (Anm. 3), Dok. 222, S. 733. Sie sollte die Option offenhalten, daß bei einem weiteren Voranschreiten der europäischen Einigung eines Tages die Kontrollmechanismen der M L F überprüft und das amerikanische Veto durch die Einführung des Mehrheitsbeschlusses abgelöst werden könnte. Die Amerikaner waren prinzipiell damit einverstanden (siehe Aufzeichnung des Ministerialdirektors Krapf vom 15. 11. 1963, in: ebd., Dok. 414, S. 1441 f.). 74 Gespräch des Staatssekretärs Carstens mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Paris am 24. 10. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 296, S. 1189. 75 Vgl. ebd., S. 1185. 76 Gespräch des ehemaligen Bundeskanzlers Adenauer mit Staatspräsident de Gaulle in Paris am 9. 11. 1964, in: ebd., Dok. 318, S. 1258. 77 Grewe, Rückblenden (Anm. 61), S. 619. 78 Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 17. 11. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 343, S. 1343.

de Gaules „Angebot" einer nuklearen Zusammenarbeit an B o n n 4 0 5

reich könne eine derartige Entwicklung nicht zulassen, da auf diese Weise die Entstehung eines unabhängigen Europas unmöglich werde, betonte der französische Außenminister. Seine Regierung sei deshalb zu einer neuen Beurteilung gelangt und sehe in dem Projekt jetzt „eine große Gefahr" 79. Couve de Murville war aber nicht aufrichtig, denn nur gegenüber den Deutschen verteidigte Paris seine Position mit dem Argument, die Entstehung eines Europe européene würde durch die MLF verhindert. Den anderen NATO-Partnern gaben die Franzosen hingegen zu verstehen, sie seien entschieden dagegen, daß die Bundesrepublik Anteil an der Kontrolle über Atomwaffen erlange. Während das europapolitische Konzept Frankreichs kaum Zuspruch erhielt, konnte die französische Regierung sicher sein, daß die Ablehnung einer nuklearen Teilhabe Bonns allenthalben auf Verständnis stieß. Nur fünf Tage nach seinem Gespräch mit Schröder eröffnete Couve de Murville dem italienischen Außenminister Saragat, Frankreich habe nichts dagegen, wenn Italien eigene Atomwaffen entwickeln würde; man könne jedoch nicht zulassen, daß die Bundesrepublik Zugang zu Nuklearwaffen erhalte, da nicht auszuschließen sei, daß die Deutschen „in Zukunft noch einmal ihre territorialen Ansprüche mit Gewalt zu lösen versuchten"80. Es scheint folglich, als ob de Gaulle sein Angebot einer nuklearen Teilhabe vor allem mit dem Hintergedanken vorbrachte, die Realisierung der MLF zu verhindern. Die Deutschen sollten offensichtlich mit einer vagen Offerte geködert werden, die ihnen mehr Teilhabe und Mitsprache in Aussicht stellte als eine Beteiligung an der multilateralen Atomflotte. Falls sie darauf eingegangen wären, hätte dies wohl das Aus für das MLF-Projekt bedeutet, denn es war hauptsächlich ins Leben gerufen worden, um dem deutschen Streben nach Gleichberechtigung und Mitsprache im nuklearen Bereich entgegenzukommen. De Gaulle hätte auf diesem Weg sein Ziel erreicht, die MLF zu Fall zu bringen, die seinen europapolitischen Plänen im Weg stand, weil sie eine enge Verklammerung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa geschaffen hätte. Auf das französische Pferd zu setzen, wäre also für Bonn ein schlechter Tausch gewesen: Man hätte die Teilnahme an der MLF verspielt, aber gleichzeitig keine Garantie erhalten, daß man am Ende nicht mit leeren Händen dastehen würde. Bei einer Diskussion von Zeitzeugen und Historikern Ende Januar 1995 im Institut de France in Paris, war man sich einig, daß de Gaulle der Bundesrepublik damals weder den Mitbesitz noch ein Mitspracherecht an der Force de frappe angeboten hatte. Französische Zeitzeugen gaben sich aber überzeugt,

79 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Paris am 9. 12. 1964, in: ebd., Dok. 377, S. 1477. 80 Zit. nach: ebd., S. 1452 Anm. 9.

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ein deutsches „Ja" hätte eine Entwicklung eingeleitet, an deren Ende die Deutschen in eine gleichberechtigte Stellung gerückt wären.81 Horst Osterheld beklagt daher noch heute das „Ausschlagen einer historischen Chance"82. Hermann Kusterer bedauert ebenfalls, daß Bonn diese letzte Initiative de 83

Gaulles für eine deutsch-französische „Union" mcht wahrgenommen hatte . Auch von Zeithistorikern wird zuweilen die Ansicht vertreten, die Bundesrepublik habe damals vielleicht die Möglichkeit einer nuklearen Teilhabe verspielt. Reiner Marcowitz meint, die Regierung Erhard hätte zumindest das Angebot prüfen müssen. Aus Abneigung gegenüber dem General hätte man sich statt dessen entschieden, „Bündnispolitik mit Scheuklappen" zu betreiben84. Für ihn ist dieser Vorgang ein eindruckvolles Beispiel, „daß Vorurteile die schlimmste Sünde wider die außenpolitische Vernunft sind" 85 . Gesetzt der Annahme, es hätte sich tatsächlich um eine seriöse Offerte gehandelt, und die Bundesrepublik wäre darauf eingegangen, hätte sie sich dadurch zweifellos von de Gaulle und der französischen Politik völlig abhängig gemacht. Bonn hätte seine Außenpolitik einseitig auf Frankreich ausgerichtet, denn die bislang guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wären wohl im Zuge einer solchen Entscheidung in die Brüche gegangen. Die amerikanische Regierung gab nämlich zu verstehen, daß die Vereinbarung einer engen militärischen Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris Konsequenzen ziehen haben würde. Botschafter McGhee brachte gegenüber Carstens am 15. Januar 1965 unmißverständlich zum Ausdruck, daß die USA dann ihre Sicherheitspolitik überdenken würden. Der Botschafter drohte unverhohlen, Bonn dürfte nicht damit rechnen, „daß die Amerikaner in diesem Fall ihre Truppen noch in Europa lassen werden, denn es bestünde dann die Gefahr, daß diese Truppen durch die force de frappe gegen den Willen der Vereinigten Staaten in einen Krieg verwickelt würden" 86. Die Bundesregierung hätte also den Bruch mit dem mächtigsten Verbündeten riskiert, wenn sie de Gaulles Angebot wahrgenommen hätte! Aus Sicherheitsgründen konnte es sich Bonn aber nicht leisten, eine dauerhafte Trübung der transatlantischen Beziehungen in Kauf zu nehmen. Im Gegenteil, im ureigenen Interesse mußte man dafür sorgen, daß das amerikanische Engagement in Europa gerade im Zeitalter des atomaren Patts unverändert blieb. Denn die Force de frappe konnte wegen ihrer gerin-

81 Reiner Marcowitz, Eine Force de Frappe für Europa, in: Die politische Meinung 40 (1995), H. 305, S. 19-22, bes. S. 21. 82 Osterheld, Außenpolitik (Anm. 5), S. 101. 83 Kusterer, Kanzler (Anm. 6), S. 423. 84 Marcowitz, Force de Frappe (Anm. 80), S. 21. 85 Ebd., S. 22. 86 Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 12. 1. 1965, in: AAPD 1965 (Anm. 12), Dok. 279, S. 56.

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gen Größe und Stärke keine echte Alternative zum nuklearen Schutzschild der USA sein! Es liegt folglich auf der Hand, warum Carstens zeit seines Lebens die These bestritt, die Regierung Erhard hätte leichtfertig die Möglichkeit einer Teilhabe an nuklearen Waffen verspielt: „Ich zweifle auch heute noch, daß wir damals eine Chance versäumt haben."87 Im Auswärtigen Amt hielt man an der MLF fest und versuchte, die französische Politiker davon zu überzeugen, den Widerstand gegen die MLF aufzugeben. Schröder argumentierte, man könne dem sowjetischen Potential, welches sich „von Wladiwostock bis Weimar" erstrecke, nicht eine Strategie entgegenstellen, „die nur in Kategorien Berlin/Bonn und Straßburg/Paris denke"88. Für eine glaubhafte Abschreckung sei es vielmehr erforderlich, ein System aufzubauen, das „von Berlin bis San Francisco" reiche89. Er machte gegenüber den Franzosen deutlich, Bonn erachte es daher für unverzichtbar, daß sich die „größte Macht der Welt an der vordersten Konfliktstelle engagieren [würde]" und sowohl in der Bundesrepublik und Berlin als auch in Westeuropa Truppen stationiert halte. Außerdem brauche man die Integration der Truppen aller NATO-Mitgliedstaaten, damit man über den ,,größte[n] Abschreckungsfaktor" verfüge, nämlich den automatischen und vollständigen Einsatz der alliierten Streitkräfte im Falle eines Angriffs. Die MLF hätte nach der Überzeugung Schröders alle diese Bedingungen erfüllt: Sie war für ihn „die beste Antwort, da sie eine multilaterale Institution sei, die in ihrem Bestand integriert ist und möglichst nahe an der nuklearen Entscheidung stehe"90. Ausdrücklich hob er hervor, das Projekt sei nicht gegen Frankreich gerichtet, und unterstrich seinen Willen, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, damit eines Tages die MLF und die Force de frappe kombiniert werden könnten.91 Daß die MLF niemals zustande kam, ist nicht die Schuld der Regierung Erhard. Ebenso kann ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß sie de Gaulies vorgebliches Angebot nicht ausgelotet hat. Selbst wenn es seriös gewesen wäre, hätte Bonn nicht darauf eingehen dürfen, da es dadurch die Bindungen zu den USA drastisch gelockert hätte. Erhard und Schröder wußten, daß die transatlantischen Beziehungen nicht aufs Spiel gesetzt werden durften, da die Deutschen sicherheits- und deutschlandpolitisch auf die Vereinigten Staaten angewiesen waren. Politisch unklug war jedoch, daß sich Erhard nicht 87

Carstens, Erinnerungen (Anm. 2), S. 272 Gespräch des Bundesministers Schröder mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Paris am 9. 12. 1964, in: AAPD 1964 (Anm. 4), Dok. 377, S. 1474-1479 (1474). 89 Ebd., S. 1475. 90 Ebd. 91 Vgl. ebd., S. 1474. 88

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um ein einigermaßen erträgliches Verhältnis zu Frankreich bemühte und de Gaulle zuweilen unnötig vor den Kopf stieß. Sein Schweigen auf de Gaulles Ansprache bei der gemeinsamen Regierungsbesprechung am 4. Juli war nicht korrekt und trug dazu bei, daß sich die Gräben zwischen Paris und Bonn immer mehr vertieften. Bereits drei Wochen danach konstatierte Carstens, das Konsultationstreffen vom 3./4. Juli 1965 habe zu einer „erheblichen Verschlechterung" der beiderseitigen Beziehungen geführt 92. In der Tat erscheint die dritte Begegnung Erhards mit de Gaulle wie ein Wendepunkt in den deutsch-französischen Beziehungen. Ab diesem Zeitpunkt bemühte sich der französische Staatspräsident nicht länger, die Bundesrepublik von seinen politischen Ansichten zu überzeugen und auf seine Seite zu ziehen. Er betrieb nun eine Politik, die auf die deutschen Interessen keine Rücksicht mehr nahm: So opponierte er gegen das MLF-Projekt, drängte auf die möglichst rasche Schaffung eines Gemeinsamen Agrarmarktes, wobei er auch ein Auseinanderfallen der Sechs in den Kauf nahm („Politik des leeren Stuhls"), nahm eine Modifizierung seiner Deutschland-Politik vor, indem er sie in erster Linie als europäisches Problem begriff („Europäisierung der deutschen Frage"), leitete eine Annäherung an die Sowjetunion in die Wege und setzte seine gegen die NATO gerichtete Politik fort, die schließlich im Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration des Bündnisses am 1. Juli 1966 ihren Höhepunkt fand.

92 Aufzeichnung des Staatssekretärs Carstens vom 27. 7. 1964, in: ebd., Dok. 210, S. 884.

Grundlagen und Perspektiven der internationalen Ordnung

Ausprägungen der Europaidee in der katholischen Publizistik des 19. und 20. Jahrhunderts* Von Winfried Becker Auch in Deutschland erhielt das Europabewußtsein im Zeitalter der Aufklärung wichtige Impulse. Zwar wandten viele Autoren des 18. Jahrhunderts den außereuropäischen Kulturen und der Universalhistorie eine verstärkte Aufmerksamkeit zu. Europa und seine einzelnen Kulturen öffneten sich der Welt. Doch trotz der aufkeimenden Hochachtung für andere Kulturen behielt Europa eine herausragende, gewissermaßen zentrale Stellung, bildete eigene Wertmaßstäbe im Vergleich mit fremden Kulturen aus1. Dabei erhob sich die Frage nach der eigenen Identität. Sie wurde etwa von den Göttinger Völkerrechtlern und Historikern Georg Friedrich Martens und August Ludwig Schlözer zurückhaltend beantwortet. Für sie bestand Europa zunächst einmal aus einer Anzahl oder einem System einzelner Staaten mit eigenen Interessen, die allerdings in eine engere Verbindung getreten waren: Diese „europäische Konvenienz" beruhte auf Handelsinteressen, Verträgen, dynastischen Verwandtschaften, aber auch auf Konflikten, Spannungen und Rivalitäten mannigfacher Art 2 . Diese Auffassung gründete sich auf das Recht und die herkömmliche Diplomatie. Sie sah die europäischen Staaten zwar nahe, aber in wechselhaften Konstellationen des Gleichgewichts untereinander verbunden3. Daneben entwickelten bereits vor der Französischen Revolution bedeutende Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant die

* Deutsche, etwas erweiterte Fassung des Vortrages „L'idee européenne des catholiques ultramontains", gehalten an der Università degli Studi di Müano am 26. Nov. 1996 im Rahmen des Kolloquiums „Le facteur religieux dans l'intégration européenne". 1 Heinz Gollwitzer, Europabüd und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 66-72; Federico Chabod, Der Europagedanke. Von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I., Stuttgart 1963, S. 62 ff., 85 f.; Derek Heater, The Idea of European Unity, London 1992, S. 61 ff. 2 H. Gollwitzer (wie Anm. 1) S. 63, 72 f., 82 f. 3 H. Gollwitzer (wie Anm. 1), S. 156 ff.; Klaus Müller, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der Frühen Neuzeit, in: Europa - Begriff und Idee. Historische Streiflichter, hg. v. Hans Hecker, Bonn 1991, S. 61-74 (mit Literatur).

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unterschiedlich ausgeprägte Idee eines Völkerbunds oder einer friedlichen Universalrepublik. Traditionen des römisch-deutschen Reichs und aufgeklärtuniversalistische Ideen verdichteten sich in dem an Kaiser Napoleon I. gerichteten Vorschlag des Fürstprimas des Rheinbunds, Karl Theodor von Dalberg, ein „occidentalisches Reich" aufzurichten. Es sollte in Erinnerung an das Kaisertum Karls des Großen Deutschland, Italien und Frankreich umfassen4. Umgekehrt hoffte Adam Heinrich Müller im Jahr 1809, daß sich aus dem Befreiungskampf gegen Napoleon ein Bund der Völker Europas bilden werde. Der Gegensatz zwischen dem aufgeklärt-febronianischen Dalberg und dem von der Romantik beeinflußten Konvertiten Müller ist aufschlußreich. Die zur katholischen Kirche zurückkehrenden oder sich zu ihr bekennenden Denker der Jahrhundertwende teilten nicht mehr den milden Optimismus, mit dem die Vertreter der aufgeklärten Vernunft an die fast unbegrenzte Perfektibilität des ganzen Menschengeschlechts geglaubt hatten. Wachen Auges beobachteten Adam Müller, Friedrich Schlegel und Joseph Görres die Erschütterungen Europas im revolutionären Zeitalter und während der napoleonischen Kriege. Sie fragten nach langfristigen Gründen der tiefgehenden Krise. Die hergebrachten statistisch-empirischen Methoden der Staatenkunde schienen ihnen für tiefere Erklärungen ebenso ungeeignet wie der naturrechtliche Rationalismus und die Begrenzung auf vordergründige Begebenheiten und Sujets. Sie gedachten die Analyse tiefer anzusetzen, bezogen naturphilosophische und naturwissenschaftliche, heute allerdings oft spekulativ anmutende, vor allem historische Erklärungen heran. Ihre ganzheitliche Betrachtungsweise zeigte sich auch darin, daß sie die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in ihre dichte historische Reflexion einbezogen. In seinem 1799 entstandenen, erst 1826 erschienenen Werk "Die Christenheit oder Europa" wies der protestantische Frühromantiker Novalis auf die eminente Bedeutung der Kirche für die staatliche Entwicklung Europas hin. Das „christliche Land", das „geistliche Reich", der „allgemeine christliche Verein" des Mittelalters schien ihm durch die Reformation zerbrochen zu sein5. Der Abfall von der gemeinsamen europäischen Christenheit habe die Aufklärung und die Revolution heraufbeschworen. Dieser Ahnenreihe konnten auch die Protestanten Johann Gottfried Herder und François Guizot zustimmen, nur daß sie die Reformation positiv bewerteten, weil diese die verderbliche Hierarchie des mittelalterlichen Feudalsystems beendet und die individuelle Geistesfreiheit der modernen Zeit ermöglicht habe6. Novalis, Müller, Schlegel und Görres hingegen sahen in der Reformation die erste Stufe zur Auflösung des Abendlands. Verkörpert im Idealbild des Mittelalters, erschien ihnen die Einheit von 4 5 6

H. Gollwitzer (wie Anm. 1) S. 134 f. Zitiert nach H. Gollwitzer (wie Anm. 1) S. 175 f. F. Chabod (wie Anm. 1) S. 131 f.

Ausprägungen der Europaidee in der katholischen Publizistik

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Glauben und Sitte als Grundbedingung für den Zusammenhalt einer Staatenwelt. Sie beabsichtigten nicht, ein neues Mittelalter heraufzufuhren, sondern die Wurzeln der europäischen Kultur freizulegen und daraus Folgerungen für die Gestaltung der Zukunft zu ziehen. In ihrem Denken fiel der Einheit des christlichen Glaubens und der Kirche eine geradezu konstituierende Rolle bei der Vorstellung oder Definition einer europäischen Staatenfamilie zu. Damit wurde weder eine reaktionäre Einheitskultur beschworen, noch ein unverbindliches und verschwommenes Definitionskriterium 7 eingeführt. Vielmehr sorgte die Einbeziehung der Lebensmacht Kirche und Religion für eine Verbreiterung des Erkenntnishorizonts und ließ unterschiedliche Interpretationen für die inneren und äußeren Lebensumstände der europäischen Völker zu. I.

Adam Müller sah „fünf Reiche" durch innere Ähnlichkeit und äußere Beziehungen, durch Natur und Geschichte seit dem Altertum eng miteinander verbunden: Groß-Britannien, Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland. In diesen „organischen", „lebendigen", „herrlichen Staaten" sah er seine Idee der „Nationalität" verkörpert 8. Sie galten ihm als eigenständig. Sie waren gleichsam mit eigener Persönlichkeit und eigenem Geschlecht ausgestattet, hatten sich gegenseitig erzogen und intern „den lebhaftesten Streit aller Parteien des Lebens" zugelassen. Die Idee der Nationalität war für Müller sehr wesentlich. Friedrich Meinecke hat sich geirrt, wenn er in diesem Begriff nur ein notwendiges Gegengewicht zu Müllers Universalismus oder ein realistisches Zugeständnis an die im 19. Jahrhundert unabweisbar vordringende Tendenz zum geschlossenen Nationalstaat sah9. Müller übte deutliche Kritik an der Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts. Dieser sei es um die Anzahl der Einwohner, um „arithmetische Vergrößerung", um die Vermehrung der Truppen und der Einkünfte gegangen, kurz um materielle Ziele und egoistische Interessen, um die „ Vergrößerung der Massen" bis hin zum Streben nach einer Universalmonarchie. Als Kronzeugen einer solchen unter dem Vorwand 7 So Herfried Münkler, Europa als poütische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung, in: Leviathan 19 (1991) S. 521-541. 8 Adam H. Müller, Die Elemente der Staatskunst. Öffentliche Vorlesungen vor dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar und einer Versammlung von Staatsmännern und Diplomaten, im Winter von 1808 auf 1809 zu Dresden gehalten, hg. v. Jakob Baxa, Bd. 1/1, Jena 1922, S. 192-210: 10. Vorlesung, Vom Völkerrechte oder von der Christenheit. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Vorlesung. Vgl. die Quellensammlung Adam Müller 1779-1829, hg. v. Albrecht Langner, Paderborn 1988. 9 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 5. Aufl. München-Berlin 1919, S. 128-161.

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der Erhaltung des Gleichgewichts, also doppelzüngig betriebenen Politik, nannte Müller Kaiser Joseph II., König Friedrich II. von Preußen und die russische Kaiserin Katharina II. Um das für seine, die neue Zeit erforderliche „Staatsrecht" zu ermitteln, folgt Müller einem auf die innere und die äußere Politik bezogenen Ansatz. Im Innern setzen sich nach seiner Meinung die Staaten aus verschiedenen Kräften zusammen. Diese Kräfte sollen auf freiheitliche Weise, nach dem Prinzip der „lebendigen Vermittlung" miteinander ringen und zu einem Ganzen werden. So bilden nach seiner Meinung die „Macht des Souveräns" und die „Macht des Volkes" „freie, unendlich verschiedene und doch unendlich in einander greifende Wesen". Nach Analogie eines sozusagen unendlichen Prozesses und des immer wieder gebotenen innerstaatlichen Ausgleichs sollen auch im Völkerrecht die Staaten miteinander in Verbindung treten; sie werden dabei wie große individuelle „Totalitäten" gedacht. „Ich habe im Privatrechte, im Staatsrecht und im Völkerrechte von einem allgemeinen Streben nach Freiheit gesprochen, welches alle Individuen durchdringen solle"10. Dabei hat Müller keinen bloß formalen Interessenausgleich im Auge und nicht die Verfolgung von eigenen Zielen, die nur auf Kosten von anderen Menschen und Gruppen erreicht werden können wie Vermehrung des Besitzes, der Staats-Reichtümer und -Ressourcen. Vielmehr geht es ihm um die Realisierung eines organischen „Lebens-Prinzips" zwischen den einzelnen Individuen, zwischen den Parteien im Staat und im Verkehr zwischen den als große Individuen, als „Nationalitäten" und „Totalitäten" gedachten Staaten selbst. Aus diesem freiheitlichen Handeln der Einzelnen, der Gruppen und Staaten erwachsen für Müller „ihr gemeinschaftliches Interesse oder das Recht oder das Gesetz"11. Von seinem Standpunkt aus verwirft Müller das Streben einzelner Staaten nach einem Monopol, gar nach der Universalmonarchie. Dem liegt das falsche Streben nach dem eigenen Vorteil zum Schaden anderer zugrunde. Das eigene „stolze Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit" muß sich vielmehr verbinden mit der Offenheit, ja der „Demut und Hingebung gegen die Freiheit der Übrigen" 12. Diese Haltung verweist auf die tieferen Wurzeln der zwischen den Völkern neu zu realisierenden Rechtsidee, auf die „Idee der religiösen Gemeinschaft". Die Haltung der Hingabe und des Dienens, des Eintretens auch für die Freiheit des Nachbarn, erwächst nach Müller aus dem christlichen Glauben. Das Wachstum der Staatenwelt, der organische Verkehr der Staaten untereinander, die die Staaten verbindende Rechtsidee scheint so zuletzt abhängig von dem zu sein, was die Staaten trotz aller zu bewahrenden Eigenständigkeit und „Nationalität" noch gemeinsam besitzen, aus dem christlichen Glauben als ei10

A. Müller, Elemente (wie Anm. 8), S. 206. Ebd. S. 209. 12 Ebd. S. 210; A. Müller, Elemente (wie Anm. 8), Bd. 1/2, Jena 1922, S. 176 f.: 33. Vorlesung. 11

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nem Erbe der Geschichte. In diesem sieht Müller ein „gemeinschaftliches Gut", ein verbindendes Element, das noch im Untergrund der Staaten verankert ist und sich mit den ganz verschiedenen Ausformungen des bürgerlichen Lebens der einzelnen Staaten verträgt. Müller war nicht so naiv, daß ihm der Säkularisierungsgrad auch der fünf genannten Staaten Europas verborgen geblieben wäre. Im Gegenteil, er bestimmt ihn sogar selbst: Die „Einheit als Christenheit" sei den fünf Reichen in der Reformation verloren gegangen. Dieser sei immerhin noch die Einheit der Rechtsidee gefolgt, bis auch diese sich zu einem bloß formalen Begriff von Völkerrecht und von mechanischem Gleichgewicht verdünnt habe. In dieser Zeit habe das letztlich kriegerische Streben nach dem eigenen Nutzen und Vorteil sich nur noch des „arithmetischen Kalküls" bedient13. Müller entwirft also kein katholisches, gegenreformatorisches Programm zur Rückgängigmachung der Reformation. Er möchte vielmehr auf den gemeinsamen geistigen Besitz zurückgreifen, der die europäischen Hauptstaaten einte, bevor die revolutionäre Destabilisierung des europäischen Staatensystems im Zeitalter des Absolutismus einsetzte. Müllers Anknüpfen an die im nachreformatorischen Zeitalter erhaltene Gemeinsamkeit des christlichen Glaubens fügt sich den irenischen Bestrebungen der Frühromantik ein. Als Beispiel dafür kann Franz von Baaders Plan einer Zusammenführung der drei christlichen Hauptkonfessionen genannt werden. Deutlicher als Müller nähert sich Schlegel in seinen Wiener „Vorlesungen über neuere Geschichte" (1810) dem Begriff Europas aus einer geographischen Perspektive. Europa unterscheide sich von Asien, woher es besiedelt worden sei, durch die Zersplitterung seiner Staaten und Stämme und den Wettstreit der in ihm wirkenden eigentümlichen Kräfte. Anders als Asien, das „Land der Einheit" und der in einfachen Verhältnissen lebenden Massen, sei Europa schon durch die vielfache natürliche Gliederung des Kontinents für seine „ursprüngliche Freiheit" prädestiniert 14. Schlegel verschweigt keineswegs die Probleme, die das Unterscheidungsmerkmal der Heterogenität für Europa mit sich bringt. Anhänger der Theorie des „Nationalcharakters", dieser „eigentümlichen und neuen Entwicklung des Menschengeistes"15, sieht Schlegel die Völker Europas gerade in neuerer Zeit weiteren sie trennenden Entwicklungen ausgesetzt. Der Welthandel des 18. Jahrhunderts lenkte die Energien Spaniens, Englands, Hollands, vorher schon Portugals nach Westen. Bei diesen Staaten konnten die außereuropäischen Verhältnisse großen Einfluß auf die Entscheidung der europäischen Angelegenheiten gewinnen. Die östli-

13

Λ. Müller, Elemente (wie Anm. 8), S. 208. Friedrich Schlegel, Über die neuere Geschichte. Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1810, in: Friedrich von Schlegels sämmtliche Werke, 2. Ausgabe, Bd. 11, Wien 1846, S. 16 f.; vgl. H. Gollwitzer (wie Anm. 1) S. 195-201. 15 F. Schlegel (wie Anm. 14) S. 161. 14

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chen Staaten Europas, Rußland, Österreich, Ungarn, Polen, zeitweise auch Schweden wurden durch die orientalische Frage, durch den im 17. Jahrhundert einsetzenden Niedergang der Türkei erheblich beeinflußt. Also lieferte für Schlegel die Interdependenz Europas mit Asien und der „neuen Welt" weitere Bedingungen für die Entwicklung der Mannigfaltigkeit Europas. Als „mittlere Länder Europas" bezeichnet Schlegel Frankreich und Deutschland. Die „Veränderungen und Erschütterungen in der öffentlichen Meinung von der Reformation bis zur Revolution" haben den Entwicklungsgang in diesen Staaten am meisten bestimmt16. Dieses innere Entwicklungskriterium verweist gegenüber den exogenen, im Osten und Westen Europas wirkenden Faktoren nun doch auf einen inneren Zusammenhang der europäischen Geschichte. Schlegel sieht an der Genese Europas drei Hauptelemente ganz unterschiedlicher Herkunft beteiligt: das Germanentum mit seiner die Aristokratie, die Freiheit und das Genossenschaftswesen verbindenden Verfassung, die tradierten Überlieferungen der heidnischen Antike und das durch das Römertum vermittelte Christentum, das er gegen die Vorbehalte der protestantischen Aufklärer zur genuinen europäischen Tradition rechnet17. Denn Schlegel sieht ein auszeichnendes Merkmal der Geschichte Europas darin, daß der Papst die europäischen Nationen immer wieder miteinander in Verbindung brachte, ohne ihnen ihre Unabhängigkeit zu beeinträchtigen. Er versetzt das dem „europäischen Staaten- und Völkersysteme" zugrundeliegende Ideal in die vor-reformatorische Zeit: „das Ideal eines rechtlichen Bandes, eines freien Vereins, welches alle Nationen und Staaten der gebildeten und gesitteten Welt umschlänge", ohne die spezifische Einheit der einzelnen Nationen aufzuopfern 18. Schlegel verkennt mitnichten, daß dieses Ideal unvollendet bleiben mußte. Aber er entnimmt der Vorstellung eines christlich inspirierten Staatenvereins, den er mehr als Müller historisch und damit gewissermaßen fiktional ansetzt, den Maßstab, um die Entwicklung zu dem mechanistischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts einer grundlegenden Kritik zu unterziehen: Das Verderbnis des neuen, „künstlichen" Staatensystems bestand in der Überordnung der „materiellen" Triebkräfte des Staatslebens über dessen „moralische" und „sittliche Triebfedern" 19. Die alte Staatskunst wurde aufgegeben, die großen militärischen Einsatz nur zur Erhaltung der Religion, der Ehre, der Gerechtigkeit oder anderer grundlegender Werte zugelassen und die Achtung vor den sittlichen Grundlagen der Gesellschaft bewahrt hatte. Die heftig miteinanderrivalisierenden Kontinentalmächte des 18. Jahrhunderts aber führten verheerende Kriege um geringer territorialer Erwerbungen willen. Der Reichtum der Staaten, die Finanzen, der durch den Welthandel ermöglichte 16 17 18 19

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S 328. S. 82. S. 113. S. 356-359.

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Luxus wurden höher geschätzt als die hergebrachten immateriellen Werte. Schlegel macht diesen geistigen Wandel für die beklagenswerten Erschütterungen und Revolutionen seiner Zeit verantwortlich, nicht den Geist des Fortschritts an sich, der sich bevorzugt der Statistik, Physik und Mathematik auch zur Bewältigung der Staatsaufgaben zugewandt habe. Auch im Innern der Staaten will Schlegel die rechten Maßstäbe angelegt wissen: Die Ordnung des Ganzen ist mit der Freiheit des Einzelnen zu vereinbaren 20, die Extreme staatlicher Unterdrückung und gewaltsamer Durchsetzung der Freiheit sind zu vermeiden21. Trotz seiner Wertschätzung des „Nationalcharakters" kann sich Schlegel sehr wohl ein aus verschiedenen Bestandteilen „zusammengesetztes Reich" denken. Das Vorbild dafür bietet ihm das Reich Kaiser Karls V., in welchem die verschiedenen Nationalitäten, Italiener, Niederländer und Spanier, befruchtend aufeinander gewirkt hätten22. Jedenfalls, meint Schlegel, darf der einzelne Staat sich nicht als die allein ausschlaggebende Organisationsform der menschlichen Gesellschaft ausgeben: Die Kirche und der weltumspannende Handel überschreiten ihn. Mitten im Zeitalter der Restauration widmete Joseph Görres den unterschiedlichen Charaktereigenschaften der wichtigsten europäischen Nationen eine farbige, literarisch ausgeschmückte Schilderung. Dabei verlieh der geniale Zeithistoriker einzelnen Nationen besondere Attribute: Bildet für ihn Italien den Mittelpunkt der religiösen Verhältnisse und Ideen, so sandte Frankreich mit den Lehren der Revolution die maßgeblichen politischen Signale um den Erdball und hatte sich England schon seit längerem zum Zentrum „des großen Weltverkehrs" erhoben, war zur „Mitte des Kreislaufs der irdischen Industrie geworden"23. Rußland, halb europäisch, halb asiatisch, ist das Land der Bauern und der Soldaten, der stehenden Heere. Das selbstbewußte Spanien hat sich am frühesten der transatlantischen Welt geöffnet und verkörpert vielleicht am reinsten einen bestimmten Volkscharakter, während die anderen Nationen in ihrer Zusammensetzung eher übereinandergelagerten „Völkerflözen" gleichen. Görres faßt damit einen ganz ähnlichen Kreis von Nationen, die für ihn Europa konstituieren, ins Auge wie Müller und Schlegel. Aber er wirft instruktive Seitenblicke auf die kleineren Nationen Schweden, Dänemark, Holland, Polen und Belgien. Anläßlich der Wallfahrt nach Trier zum Hl. Rock richtet er sein Wort auch an das rheinische Volk. Im Unterschied zu anderen national gesinnten Publizisten seiner Zeit wie Ernst

20

Ebd. S. 45. Ebd. S. 252. 22 Ebd. S. 366. 23 Joseph Görres, Europa und die Revolution (1821), in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Politische Schriften (1817-1822), hg. v. Günther Wohlers, Köln 1929, S. 254-256, 224 ff. 21

27 Fcsischrift Hackcr

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Moritz Arndt, die in Versuchung geraten, rassische Eigentümlichkeiten zu übertreiben, bezieht Görres immer die religiöse Sinnesart und Entwicklung eines Volkes, auch einschließlich der religiösen Schwund- oder Ersatzformen, in seine Betrachtung ein. Eigentlich aber stellt Görres' suggestives Werk „Europa und die Revolution" - Görres schrieb es auf die Revolutionen Spaniens und Neapels hin in 27 Tagen nieder - die europäischen Nationen nicht in ihrer Vereinzelung vor. Für ihn ist die Schicksalsgemeinschaft der europäischen Völker in immer kürzeren Zeitabständen, beschleunigt durch die Reformation und die Revolution, von Wechselfieber ergriffen worden24; sie fiel ständig von einem Extrem ins andere, politisch ausgedrückt: vom Despotismus in die Anarchie. Nachdem sie ihren politischen und geistigen Schwerpunkt verloren hat, kann sie zu einem ruhigen Zusammenwirken ihrer Lebensgeister und Elemente nicht mehr finden. Vernichtend ist Görres' Urteil über die Politik der „Convenienz" im 18. Jahrhundert: Zügellos und frivol suchten die Fürsten durch Kuppelei und Krieg ihre Besitztümer nach außen zu vermehren und waren dafür nur allzu bereit, nach innen die Rechte ihrer Völker zu unterdrücken. Dadurch steigerten sie diefieberhaft anschwellende Bereitschaft zum Umsturz und zur erneuten Usurpation der Macht durch skrupellose Despoten. Görres warnt davor, daß der verhängnisvolle Kreislauf sich in die Zukunft fortsetzt, daß ein ungesunder Extremismus den anderen jagt. Vor der „Tyrannei des Einzelnen" rettet nicht der „Despotismus der Demokratie" und ihrer Mehrheit, vor der zentralisierenden Bürokratie nicht die zerstörerische Anarchie, vor der „Herrlichkeit der unbeschränkten Souveränität" nicht die „der unbedingten Freiheit und der ursprünglichen Gleichheit" 25 . Vielmehr müssen die Regierungen und die Völker Europas sich wieder vorbehaltlos zu einem ehrlichen Frieden untereinander bereit finden. Alle Parteien im Staat sollen das Maß des Gewissens zur Richtschnur nehmen. Mit Bildern aus der Naturkunde und Begriffen der Ethik umschreibt Görres die Werte, denen sich jede Staatsautorität verpflichtet wissen muß, will sie Dauer, Kraft und Beständigkeit erreichen: Mitte und Maß, Recht und Billigkeit. Dafür darf die staatliche Autorität dann auch Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit, volle „Gewalt, Würde, Achtung, Ehre" beanspruchen26. Der Ausrichtung der Staatsautorität auf Sitte, Recht und Gerechtigkeit wird in Görres' Augen am besten eine Art von konstitutionellem Verfassungsideal gerecht, das alle relevanten Kräfte im Staat - den Monarchen, die repräsentativen

24 Ebd. S. 221. Vgl. Heribert Raab, Görres und die Revolution, in: Deutscher Katholizismus und Revolution im frühen 19. Jahrhundert, München/Paderborn/Wien 1975, S. 51-80; Eduard Schubert, Der Ideengehalt von Görres' Schriften „Deutschland und die Revolution" und „Europa und die Revolution", Köln 1922, S. 45-89. 25 J. Görres, Europa (wie Anm. 23), S. 282 f. Ebd. S. .

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Kammern, die Gemeinden, die Justiz - in einer fruchtbaren, die jeweilige Autonomie achtenden Interaktion verbindet. Damit ist ein Staats- und Verfassungsprogramm für die Staaten ganz Europas aufgestellt. Görres verkennt dabei keineswegs, daß funktionierende Staatswesen sich auch die Überwindung der Armut zum Ziel setzen müssen. Wohlstand kann nur durch den Anschluß an die gewaltig gestiegenen Möglichkeiten des Welthandels und Weltverkehrs erreicht werden. Zu Görres' größtem Bedauern erfüllt Deutschland diese Bedingungen am wenigsten. Ein gedankenlos erneuertes Territorialsystem sorgt für die Zersplitterung in lauter kleine Souveränitäten. Deutschland ist „eine diplomatische Fiktion" geworden, vegetiert ohne Einheit, ohne „Gemeingeist", Kraft und historisch beglaubigte Selbstgewißheit dahin27. Folglich ist es nicht fähig, obwohl in der Mitte des Kontinents gelegen, das „Gleichgewicht zu handhaben in Europa" 28. Es steht dem Einfall besser gerüsteter und einheitlich geführter Militärmächte offen, bietet mit der Vielzahl seiner Staaten Rußland ebenso eine offene Flanke wie die 30 in sich zersplitterten Völkerschaften des Kaukasus. Nach Görres' Vorstellung bildet Mitteleuropa, wie schon bei Schlegel, den Kern des Kontinents. Deutschlands Schwäche ist für Europa gefährlich. 1838 am Vorabend der großen Orientkrise richtet Görres dann seinen Blick über die „Stellung der Kabinette" in Europa hinaus, beschreibt er den ganzen Erdteil als integrierenden Bestandteil einer globalen Interdependenz29. Europa verkörpert ihm das Streben nach Maß und Mitte, während ihm Amerika und Asien Extremzustände der menschlichen Natur symbolisieren, Afrika noch in die sozialen Kohärenzen der Primärgruppen seiner Gesellschaft verpuppt geblieben ist. Wegen seiner Entwicklung aus kleinen kolonialen Anfängen folgt Amerikas Entwicklung dem Prinzip der Vielheit, das sich in der Demokratie, in der lokalen Selbstverwaltung, im Majoritätsprinzip niederschlägt, das aber stets von dem Abfall in die Demagogie, und schließlich die Tyrannei, bedroht ist. Hingegen ist Asien das Land der von oben verfügten Einheit und Einherrschaft, der Despotie, die gewaltsame Aufstände provoziert und in Anarchie umschlagen kann. Europa falle die Aufgabe zu, zwischen beiden Gegensätzen zu vermitteln. Als geeignet dafür erscheint Görres die „constitutionelle Form", in welcher das stabile Element des Königtums sich mit dem demokratischen Prinzip, dargestellt durch die Repräsentativorgane, ausgleicht.

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Ebd. S. 261. Ebd. S. 263. 29 Joseph Görres, Weltlage (1838), in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Aufsätze in den Historisch-politischen Blättern, 1. Teü 1838-1845, hg. v. Götz von Pölnitz, Köln 1936, S. 1-40, 2, 9 ff. 28

27'

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Während der außenpolitisch ziemlich bewegten Jahre zwischen 1848 und 1871 läßt sich die Einstellung deutscher Katholiken zum Europagedanken und zur internationalen Politik in der Monatsschrift „Historisch-politische Blätter" verfolgen. Die Zeitschrift war 1838 aus dem Münchener Görres-Kreis hervorgegangen. Insbesondere die Kommentare ihres leitenden Redakteurs, des Historikers Josef Edmund Jörg, zeugen von der scharfen Beobachtungsgabe und dem Weitblick ihres Verfassers. Um den bürokratischen Absolutismus und zugleich die Revolution abzuwehren, hatte Jörg 1848 in München den •

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„Verein für constitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit" gegründet . Jörg konkretisierte Görres' Revolutionsanalyse. 1853 lenkte er den Blick auf die aus Frankreich nach wie vor drohende soziale Gefahr 31. Napoleon III. habe dem Staat eine Art Omnipotenz zugebilligt, indem er diesen mit dem ganz neuen Amt der Verteilung sozialer Güter und Wohltaten ausgestattet und damit das Prinzip der Subsidiarität aufgehoben habe. Jörg befürchtete, daß dieser Sozialismus des Staates den „roten Sozialismus" nicht besiegen werde. Vielmehr könne der latente soziale Krieg in den offenen politischen Krieg umschlagen, sobald diese raffinierte Form der staatlichen Repression sich als unwirksam erweisen und dem Sozialismus nur weitere Bataillone zuführen werde. Auf der anderen Seite barg nach Jörg auch der einseitig und bedenkenlos in England gepflegte ökonomische Liberalismus die Gefahr des politischen Radikalismus. Es war das Verdienst des bayerischen Publizisten, als einer der ersten in aller Deutlichkeit auf die von der Industrialisierung drohenden sozialen Gefahren aufmerksam gemacht zu haben, die den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft und auch deren internationale Ordnung, die europäische Staatenwelt, bedrohten. Auch daß die Auslösung eines militärischen Konfliktes als Strategie dienen könne, um inneren Unruhen vorzubeugen, hat Jörg frühzeitig erkannt und der Politik Napoleons III. zugetraut. Als realistischer erwies sich allerdings in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gefahr des revolutionären Nationalismus. Ihre Wurzeln sah Jörg im atheistischen Liberalismus, der sich mit dem Kult der Nation eine Art Ersatzreligion geschaffen habe, ihre Parteigänger in der „sechsten Großmacht Kossuth-Mazzini von London bis Smyrna" 32. Aber vollstreckt werde die Politik des nationalen Krieges in Form einer Revolution von oben, der

30 Dieter Albrecht (Bearb.), Josef Edmund Jörg. Briefwechsel 1846-1901, Mainz 1988 (mit Bibliographie); Heinz Gollwitzer, Josef Edmund Jörg, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 15 (1949) S. 125-148. 31 [J.E. Jörg], Glossen zur Tagesgeschichte, in: Historisch-politische Blätter 32 (1853/11) S. 41-46, 66. 32 [J.E. Jörg], Unsere Lage, in: Historisch-politische Blätter 33 (1854/1) S.8.

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„monarchischen Revolution"33. Ihr Lehrmeister sei Napoleon III. Als dessen gelehrigster Schüler habe sich im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 der führende Staatsmann Preußens erwiesen. Daß es sich hier um eine mächtige Zeitströmung handelte, glaubte Jörg auch am Eindringen des Nationalismus in die katholische Kirche zu erkennen, am Kampf des „kirchlichen Nationalismus" gegen den Papst und gegen die Ergebnisse des 1. Vatikanischen Konzils34. Bezeichnenderweise habe sich der deutsche Liberalismus gegen den Romanismus in jeder Form, gegen Frankreich und gegen Rom als den Mittelpunkt der Kirche gewandt. Aus der Perspektive der „Historisch-politischen Blätter" betrachtet, stellte der Krieg von 1870/71 einen tiefen Einschnitt im europäischen Staatensystem dar 35; doch beruhte er nicht auf einer isolierten preußisch-deutschen Aktion, einem deutschen Alleingang, sondern vollendete schon früher angelegte und vor allem in der Politik Napoleons III. vorexerzierte Entwicklungen. Jörg sah endgültig die früher noch denkbaren Alternativen gescheitert. Dabei hatte es seiner Zeitschrift an Konzeptionen für eine Weiterentwicklung des Staatensystems nicht gefehlt. In eigentümlichem Gegensatz zu dem im Deutschen Bund sich vertiefenden Dualismus zwischen Preußen und Österreich betonten die „Historisch-politischen Blätter" die Bedeutung Mitteleuropas. Deutschland erschien als „Herz", „Kern", Mittelpunkt der europäischen Völkerfamilie, dazu prädestiniert, eine Vermittlerrolle zwischen den europäischen Völkern schon deswegen zu übernehmen, weil es selbst ein „Bundesvolk" aus mehreren Stämmen darstelle36. „Mitteleuropa", der „alte Herd der christlichen Zivilisation", war nach Jörg dazu bestimmt, ein „moralisches Übergewicht" zu behaupten, dh. in Anwendung der „christlichen Idee" den „Rechtsstaat" zu realisieren 37. Dafür bedürfe es einer unabhängigen Stellung gegenüber den europäischen Mächten des Westens und des Ostens, England und Rußland. Am Vorabend des Krimkriegs sah Jörg auch die außenpolitischen Voraussetzungen für eine solche Unabhängigkeit gegeben: Die Bedeutung Englands sei zurückgegangen. Frankreichs ehemals in Europa führende Revolutionsdoktrin habe ihren Zauber eingebüßt. Rußland wende sich Asien zu. Das enge Bündnis zwischen Preußen und Österreich wird auch befürwortet, weil das von ihnen gebildete

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[J.E. Jörg], Neujahrs-Klage, in: Historisch-politische Blätter 57 (1866) S. 5 ff. [J.E. Jörg], Neujahrs-Rundschau, in: Historisch-politische Blätter 67 (1871/1) S. 1-15, 6. 35 „Novus nascitur saeclorum ordo". Ebd. S.l. 36 Deutschlands Bestimmung in der europäisch-christlichen Völkerfamilie, in: Historisch-politische Blätter 7 (1841/1) S. 154-160. 37 Wie Anm. 32, S. 8 f., 20. 34

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Mitteleuropa als Hort der Autorität, zumal Österreich „als konservativer Kern" gilt*8. Diese Konzeption wandelte sich im Krimkrieg. Jörg widerspricht nun einem Mitteleuropa, wie es Preußen propagiert, indem es Österreich für einen Neutralitätskurs gegenüber dem mächtig erstarkenden Rußland zu gewinnen sucht. Die Reserve gegen Preußen liegt auch im weltanschaulich-konfessionellen Bereich begründet, den Jörg eng mit den großen außenpolitischen Kombinationen in Verbindung bringt. Nicht nur, daß Preußen sich zeitweise als Vormacht eines in Deutschland wieder stärker durchzusetzenden Protestantismus gebärdet; Preußen läßt darüber hinaus keine Neigung erkennen, für die „abendländische Freiheit und Zivilisation", getragen von der „abendländischen Kirche", an der Seite Österreichs im Osten, gegenüber dem Islam und der griechisch-russischen Orthodoxie, einzutreten39. Die Wahrung des christlichen Kulturauftrags ist für Jörg eine zentrale Aufgabe der auswärtigen Politik Europas. In ihr liegt darüber hinaus die Legitimation einer europäischen Weltmachtstellung der Zukunft. Europa soll eine leitende Funktion als „christlicher Weltteil" gegenüber den „unreifen Bewegungen" des „gärenden Amerika" und gegenüber der asiatischen Welt übernehmen40. Die reale Grundlage für diese Kulturmission Europas könnte mittels einer Annäherung zwischen Österreich und Frankreich geschaffen werden. Diese Allianz soll das Bündnis mit Preußen ersetzen, dem Ausbruch der Revolution an der Themse, der Seine und der Newa zuvorkommen, ein Gegengewicht gegen das Ausgreifen der russischen Großmacht schaffen und offenbar auch die Verständigung der Hauptmächte Europas über „ihre berechtigten Ziele" in die Wege leiten41. Jörg entwickelt sich damit aber keineswegs zum Anhänger einer bloßen Macht- und Realpolitik. Für ihn steht die „geistige Organisation" Europas im Vordergrund, ob es um die Wahrung des Rechts, um den internen Interessenausgleich der europäischen Staaten aus christlichem Geist oder um die Ausstrahlung des überlegenen „sittlichen und staatlichen Lebens" Europas in die übrige Welt geht.42

38 [J.E. Jörg], Glossen zur Tagesgeschichte, in: Historisch-politische Blätter 32 (1853/11) S. 628. 39 [J.E. Jörg], Aphoristische Zeitläufte, in: Historisch-politische Blätter 36 (1855/11) S. 370 f. 40 [J.E. Jörg], Aphoristische Zeitläufte, in: Historisch-politische Blätter 35 (1855/1) S. 1009 f., 1013, 935 ff. 41 Ebd. S. 1009. [J.E. Jörg], Deutschlands Neujahr, in: Historisch-politische Blätter 35 (1855/1) S. 1-17, 14 f. 42 Wie Anm. 40.

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Umso enttäuschter mußte Jörg sein, als Frankreich und Deutschland, statt durch eine gemeinsame Politik die „romanisch-germanische Societät"43 zu begründen, einen blutigen „Rassen-Krieg44 gegeneinander führten 44. Der Krieg der Nationen von 1870/71 war in seinen Augen eine schwere Niederlage für die gemeinsame „christliche Zivilisation44, allerdings auch das Ergebnis einer schon seit längerem ersichtlichen „moralisch-politischen Auflösung 44 der modernen Staatenwelt45. Ahnlich wie der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteier beklagte der bayerische Föderalist nicht so sehr das Ende des großdeutschen Traums. Er dachte in umfassenderen Kategorien. Scharfsinnig hat Jörg schon 1871 ein Hauptproblem der Bündnispolitik Bismarcks erfaßt. War nicht Rußland als der lachende Dritte aus dem „Vernichtungskampf der Deutschen und Franzosen44 hervorgegangen? Jedenfalls sei das neue Deutschland gegenüber Rußland in eine schwache, abhängige Position geraten, weil es um jeden Preis die „Racheallianz Frankreichs in St. Petersburg44 verhindern müsse46. Weiterhin befürchtete Jörg, daß die Stärkung von Rußlands Großmachtstellung die Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Österreich auf dem Balkan zuspitzen werde; in den nächsten Krieg, der daraus entstehen könne, könnten auch die USA hineingezogen werden47 - eine Antizipation des Ersten Weltkriegs? Grundsätzlich bereitete Jörg die Entfesselung einer Allianzpolitik, die ganz auf die Machtinteressen der Staaten abgestellt sein würde, noch größere Sorgen: Wegen der Lokalisierung des deutsch-französischen Krieges war das neue deutsche Reich gegründet worden, ohne daß „die Interessen der europäischen Gemeinsamkeit44 hätten geltend gemacht werden können48. Jörg befürchtete visionär die Wiederkehr des Faustrechts auf der Ebene der internationalen Politik. Die Auslöschung der deutschen Mittelstaaten und der komplizierten Rechtsverhältnisse, die mit deren Existenz gegeben gewesen waren, der Übergang zu großen Machtanballungen, zu „großen Conglomerationen44 einzelner Staaten, schien ihm auf den verhängnisvollen Kampf um die „Weltherrschaft der einen oder andern Nation44 hinauszulaufen 49. Konkrete Gefahren in dieser Richtung befürchete er indes weniger von Deutschland als von Rußland. Umso dringender erschienen gemeinsame Bemühungen um die 43 Wie Anm. 31, S. 44 f.; „mitteleuropäische Einigung44 Deutschlands und Frankreichs (wie Anm. 39) S. 371; „mitteleuropäische Politik44 beider Länder (wie Anm. 41) S. 14 f. 44 Wie Anm. 34, S. 11. 45 Ebd. S. 4; Neujahrs-Rundschau (wie Anm. 34) S. 9 f. 46 Neujahrs-Rundschau (wie Anm. 34) S. 10. 47 [J.E. Jörg], Zeitläufe. Die neue Lage, in: Historisch-politische Blätter 67 (1871/1) S. 382-404, 396. 48 Ebd. S. 387. 49 Ebd. S. 390, 396.

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Wiedergewinnung eines „europäischen" oder „internationalen Rechtszustandes"50. Mögen manche die Kassandra-Kritik an der im Vergleich zu anderen Ländern nur nachgeholten Gründung eines deutschen Nationalstaats überzogen finden, so hat Jörg doch die Bedeutung des Schwindens ideeller Grundlagen für die Entfesselung des Ringens um Weltmacht richtig erkannt. Das Weltmachtstreben der großen Nationalstaaten Europas wirkte zunächst zentrifugal, dann zerstörend auf dem alten Kontinent. Auch stellte es sich als grundlegendes, wenngleich ungelöstes Problem der Politik Bismarcks heraus, durch eine glaubwürdige Politik der „Saturiertheit" eine allgemeine Rechtsordnung für das Verhältnis der europäischen Staaten wiederherzustellen, wie sie in den vertraglichen Grundlagen des Wiener Kongresses, ungeachtet ihrer Mängel und Unvollkommenheiten, bis zu den Umbrüchen des Pariser Friedens von 1856, des Prager Friedens von 1866 und des Frankfurter Friedens von 1871 einen allerdings immer weiter reduzierten Bestand gehabt hatte.

ffl. Das nationale Zeitalter Europas erreichte und überschritt in den Jahren von 1871 bis 1918 seinen Höhepunkt, wirkte aber während der folgenden Periode, in der totalitäre Ideologien nach unbeschränkter Herrschaft strebten, offen und subkutan weiter. Im deutschen Kaiserreich festigte sich zwar aufgrund des Kulturkampfs der politische Katholizismus. Er gewann seinen Platz im Spektrum der nur begrenzt zur politischen Mitwirkung herangezogenen Parteien. Das Verfassungsgefüge des Reiches räumte den Parteien im allgemeinen und der Zentrumspartei im besondern kein Mitgestaltungsrecht bei der Außenpolitik ein. Nationale Ziele bis hin zur Erringung einer Weltstellung besaßen Priorität bei den Leitern der preußischen und deutschen Politik sowie bei den national-konservativen und national-liberalen Führungsschichten des Reiches. Stimmen der katholischen Opposition oder Kritik mußten auf die Reichstagstribüne oder auf die Publizistik beschränkt bleiben. Die gewichtigen Zeitkommentare der „Historisch-politischen Blätter" in Bayern nahmen sich zuweilen wie eine publizistische Alternativ-Kultur zur Politik der Reichsleitung aus. Hier blieb unvergessen, daß Bismarck die deutschen Katholiken zu Reichsfeinden, zu Mitgliedern einer schwarzen Internationale erklärt hatte und daß die Liberalen den Nationalstaat als Vollendung der Reformation ausgegeben hatten. Doch mit der Normalisierung der inneren und äußeren Verhältnisse empfanden die deutschen Katholiken zunehmend das Bedürfnis der Integration in das kleindeutsche Reich. Die patriotische Loyalität, die sie der nach

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E b d . S.

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nationalem Aufstieg und Weltgeltung strebenden Außenpolitik ihres Staates entgegenbrachten, zeigte sich vor allem während des Ersten Weltkrieges. Der Hegel-Schüler Adolf Lasson bekannte sich 1871 zu der Theorie, daß das unverblümte Eigeninteresse der souveränen Staaten die ausschlaggebende Instanz des Völkerrechts sei. Er bestritt die Wirksamkeit einer nationalen Rechtsordnung, kritisierte auch die einer solchen Ordnung angeblich zugrundeliegenden „ultramontanen" Vorstellungen, die von spanischen Jesuiten erfunden seien und auf theokratischen Ideen beruhen würden51. Obwohl die Publizisten und Parlamentarier der Zentrumspartei keine nennenswerten Anstöße zur Herbeiführung einer internationalen Friedensordnung zu geben vermochten, teilten sie doch eine solche theoretische Affirmation übermächtiger Zeittendenzen nicht. In der Reichstagsdebatte von 1890 über die Militärvorlagen plädierte Ludwig Windthorst dafür, daß das „mächtige Deutschland" sich auf diplomatischem Weg mit anderen Staaten für Abrüstungsverhandlungen einsetzen möge52. Er begrüßte nachdrücklich den Antrag des Abgeordneten Ruggero Bonghi53 in der italienischen Kammer, der auf die Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts gezielt hatte. Der Zentrumsführer Ernst Lieber wandte sich 1892 im Reichstag dagegen, öffentlich des Gespenst des Zweifrontenkrieges gegen Rußland und Frankreich zu beschwören, um Stimmung für eine immer weitergehende Aufrüstung zu machen. Der Weltfriede müsse vielmehr auf breite internationale Grundlagen gestellt werden. Er empfahl dem neuen Reichskanzler Caprivi, „von dem bismarckischen Gewaltboden auf einen neuen europäischen Rechtsboden überzutreten" 54. Demgemäß erwartete er vom Dreibund (von 1882) zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, den er allerdings nicht in Frage stellte, keine wirklich genügende Sicherung des Friedens in Europa. Die deutschen Katholiken benutzten solche Diskussionen, um auf die Friedensmahnungen hinzuweisen, die der Papst an die Völker richtete. Sie konnten damit auch die nach 1870, nach der Einnahme Roms, noch lange von ihnen erhobene Forderung begründen, dem Papst wieder die territoriale Unabhängigkeit einzuräumen. Nach christlicher Lehre war die Frohe Botschaft für die gesamte Menschheit, nicht nur für einzelne „Nationalitäten", bestimmt. Die gern als partikularistisch und monarchistisch, folglich als konservativ eingestuften Katholiken begegneten sich mit den links stehenden Demokraten darin, daß sie die allgemeinen Bedürfnisse der ganzen Menschheit, so auch das Verlangen nach einer 51

Adolf Lasson, Princip und Zukunft des Völkerrechts, Berlin 1871, S. 3 f. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 114, S. 543 f. (24. 6. 1890). 53 1826-1895. Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti, Müano-Roma 1930-1938, Bd. 7, 1930, S. 400 f. 54 Stenographische Berichte (wie Anm. 52), Bd. 127, S. 331 (14. 12. 1892). 52

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friedlichen Völkerordnung, über besondere, nationale Anliegen stellten55. Dies wurde auch in den Debatten über die Kolonialpolitik deutlich, wo katholische Abgeordnete für die menschliche Behandlung der Schwarzen eintraten. Wegen ihrer teils ablehnenden Haltung zum Kolonialetat entfachte der Reichskanzler Bernhard von Bülow anläßlich der sog. Hottentottenwahlen von 1906/07 gegen das Zentrum einen mit nationalistischen Parolen aufgeheizten Wahlkampf. Der Jesuit Viktor Cathrein, ein unentbehrlicher Mitarbeiter an der ersten Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft 56, machte allerdings die gegenüber den Demokraten eigenständigen Wurzeln dieses menschheitlichen Engagements sichtbar. Er zeigte Skepsis gegenüber der Realisierbarkeit eines Weltstaats und gegenüber der - solchen Wunschvorstellungen zugrundeliegenden - pantheistischen Philosophie. Es sei kaum zu erwarten, daß die Völker ihre „nationale Selbständigkeit" aufgeben und sich einer einzigen souveränen Welt-Obrigkeit unterwerfen würden. Eine solche ideale Konstruktion hielt er mit „Rücksicht auf die gegenwärtige Gestaltung der gefallenen Menschheit" für undurchführbar 57. Er ließ Parallelen zwischen einem Weltstaat und der weltumspannenden katholischen Kirche nicht gelten. Anders als der Staat beruhe die Kirche auf göttlicher Stiftung und Einsetzung, nicht auf der Übereinkunft von Menschen. Lediglich die Gründung eines Staatenbundes, der sich in die inneren Angelegenheiten der Staaten nicht einmische, aber wichtige Punkte der internationalen Beziehungen regele, sich beispielsweise der „Kodifikation des Völkerrechts" widme, schien ihm möglich und wünschenswert zu sein. Allerdings würde auch ein Staatenbund schweren Hemmnissen, etwa dem bestehenden „Rassenhaß", begegnen. Anscheinend habe „die gegenseitige nationale Ablehnung" mit dem schwindenden Einfluß des Christentums im öffentlichen Leben zugenommen. Eröffnete da nicht die Rückbesinnung auf die christliche Völkerfamilie des Mittelalters, angeführt von einem geistlichen Haupt, dem Papst, und von dem obersten weltlichen Schirmherrn, dem Kaiser, eine ermutigende Aussicht für die Neugestaltung des Völkerrechts in der Gegenwart? Cathrein gestand unbefangen ein, daß dieses Ideal für Europa sich selbst in der Blütezeit des Mittelalters nicht habe verwirklichen lassen. Aber ohne eine „solche ideale Auffassung", ohne eine ähnliche „erhebende Idee" schien ihm auch in der Gegenwart die Vereinigung zu einer „großen Völkerfamilie" illusorisch zu sein58.

55

Zeitläufe. Die neue Lage (wie Anm. 47) S. 403. Bd. 1-5, 1889-1896. 57 Viktor Cathrein S.J., Moralphilosophie. Eine wissenschaftliche Darlegung der sittlichen, einschließlich der rechtlichen Ordnung, 4. Aufl., Bd. 2, Freiburg i. B. 1904, S. 724 f. Ebd. S. 6. 56

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Der seit Görres neu gefaßten Tradition der christlichen Kulturidee wurde offenbar noch zeitgeschichtliche Gestaltungskraft beigemessen. Wiederum aus dem Anlaß einer Militärvorlage im Reichstag (1897) gaben die „Historischpolitischen Blätter" vollständig zu, daß wirtschaftliche Konkurrenz, soziale Konflikte und nationale Rankünen die Völker entzweiten, daß unterhalb der Schwelle des offenen Konflikts ein Völker- und Klassenkampf im Gange sei. Es wurde eingestanden, daß auch das auf Export und Produktivität angewiesene Kaiserreich inmitten des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes seinen Kurs nach seinen Interessen abstecken müsse. Aber angesichts eines absehbaren Aufstiegs neuer wirtschaftlicher Großmächte der Zukunft, Nordamerikas, Chinas und Rußlands, schlug die Zeitschrift dennoch eine kulturell basierte Koalition für das Deutsche Reich vor. Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und Frankreich sollten sich zu einer „kulturellen Zentralmacht" zusammenschließen, um sich gegenüber den „überlegenen Wirtschaftsmächten der Zukunft" in einer arbeitsteiligen Weltgesellschaft behaupten zu können59. Dieser Plan einer Erweiterung des Dreibunds um Frankreich - statt um England, was näher gelegen hätte - lag zwar quer zu den politischen Realitäten. Aber eine gewisse innere, keineswegs nur konfessionelle Konsequenz war ihm nicht abzusprechen, weil seine Voraussetzung bei allen Mitgliedern in einer entschlossenen Abkehr vom nationalen Revanchegedanken gelegen hätte. Der Erste Weltkrieg artete auch in einen Krieg der nationalen Kulturen zwischen Deutschland und Frankreich aus. Die Katholiken solidarisierten sich jeweils mit den nationalistischen Kräften ihres Landes00. Führende Katholiken wie der Münchener Historiker Hermann Grauert befürworteten die Fortführung des Weltkriegs im Frühjahr 1918, um den „Weltprinzipat der Angelsachsen" zu verhindern und dadurch Deutschland selbst eine Weltstellung zu sichern61. Da Grauert Georg von Hertling, 1917/18 Reichskanzler und Führungspersönlichkeit des Zentrums, sehr nahe stand, dürfen seine Vorstellungen als einigermaßen repräsentativ für das katholische Lager gelten. Er bestritt, daß die alldeutschen Schwärmereien jemals bestimmenden Einfluß auf die deutschen Staatsmänner des 19. und 20. Jahrhundert gewonnen hätten, und wollte die Völkergesellschaft der Zukunft nach dem Prinzip „Leben und

59

[J.E. Jörg], Zeitläufe, in: Historisch-politische Blätter 120 (1897) S. 491 f. Vgl. Deutsche Kultur, Katholizismus und Weltkrieg. Eine Abwehr des Buches La guerre allemande et le catholicisme, hg. ν. Georg Pfeüschifter, 2. Aufl. Freiburg i. B. 1916. 61 Hermann von Grauert, Zur Geschichte des Weltfriedens, des Völkerrechts und der Idee einer Liga der Nationen, in: Historisches Jahrbuch 39 (1918/19) S. 115-243, 557-673, hier S. 644. 60

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leben lassen" organisiert wissen62. Grauert erteilte den Mitteleuropa-Ideen des Liberalen Friedrich Naumann eine Absage. Da sich Mitteleuropa, wie Friedrich Wilhelm Foerster an Naumann zu Recht kritisiert habe, nicht mit Schützengräben von der übrigen Welt abschließen könne, bleibe ihm, wenn es denn entstünde, nur eine Orientierung nach Westen (Frankreich und England) oder nach Osten (Rußland) übrig 63. Grauert wollte also offenbar nicht die unabhängige Weltstellung Englands auf ein deutsches Mitteleuropa übertragen wissen, sondern erstrebte die Sicherung der „Weltmachtstellung Deutschlands neben den übrigen Weltmächten, und darunter natürlich auch England"64. Er wandte sich gegen die hegemoniale Führung einer Gesamtheit von Weltmächten oder etwa der zwei verbündeten angelsächsischen Weltmächte65. Zwischen dem Frühjahr 1917 und der Kriegswende im Sommer 1918 erwartete Grauert von einem Sieg der Mittelmächte ein neues „System von gleichberechtigten Weltmächten", denen Deutschland zugehören sollte. Neben dieser Kategorie von Weltmächten sollten nach seiner Vorstellung Großstaaten, Mittel- und Kleinstaaten treten. Den mittleren und kleinen Staaten seien feste Garantien für ihre Existenz und ihre „freie Entwicklung" in Aussicht zu stellen66. Schon vor der Wende des Kriegsglücks im September 1918 befaßten sich katholische Autoren intensiv mit dem Problem einer internationalen Friedensordnung. Dafür können drei Beispiele genannt werden. Der Hauptredakteur des Berliner Zentrumsblatts „Germania", August Hommerich, behandelte aus höchst aktuellem Anlaß die Schiedsgerichtsbarkeit und zeigte, daß dieses bedeutende Rechtsinstitut tief in der deutschen Verfassungsgeschichte verankert war 67. Grauert schrieb einen gelehrten, quellengesättigten Uberblick über die Pläne einer Friedensgemeinschaft der Völker von der Antike bis zur Gegenwart, wobei er sich der Geschichte sowohl der der Alliierten als auch der Mittelmächte widmete68. Später insbesondere vom Verhalten Großbritanniens bei den Friedensverhandlungen enttäuscht, warnte er vor einer „Politik des Hasses" gegenüber den Unterlegenen. Er sah die Zeit gekommen, in der, mit Joachim von Fiore und mit Görres zu sprechen, nur ein neues „Pfingstfest der

62

Hermann von Grauert, Deutsche Größe, deutscher Friede, deutsche Freiheit, in: Kraft aus der Höhe, hg. v. H. Finke 4. Aufl. München 1915, S 10-34, hier S. 22-25. 63 H. Grauert, Geschichte (wie Anm. 61) S. 638 ff. 64 Ebd. S. 657. 65 Ebd. S. 598. 66 Ebd. S. 598, 657, 212. 67 August Hommerich, Deutschtum und Schiedsgerichtsbarkeit. Ein geschichtlicher Beitrag zu einer großen Gegenwarts- und Zukunftsfrage. Mit einem Vorwort von Philipp Zorn, Freiburg i. B. 1918. Wie Anm. .

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Menschheit" die ungeheuren Schwierigkeiten überwinden und eine neue Friedensordnung in Europa heraufführen könne69. Wesentlich optimistischer und im Stil einer neuen Zeit äußerte sich der Abgeordnete Matthias Erzberger, der maßgeblich zu der Friedensresolution des Reichstags von 1917 beigetragen hatte. Er beschwor den Fundus der christlichen Zivilisation und Prägung Europas: Die Kirche hatte die sittlichen Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der Völker erst geschaffen; bei Immanuel Kant und anderen namhaften Philosophen erschien die Abschaffung des Krieges geradezu als Postulat des christlichen Sittengesetzes. „Das System des schrankenlosen individualistischen Staatslebens ist bankerott" 70. Der Gedanke der christlichen Völkergemeinschaft muß endlich eine organisierende Kraft entfalten, er trifft sich mit der Idee der christlichen Demokratie, die das Innere der Völker auf eine neue Ordnungsgrundlage stellen soll. Erzberger sieht Deutschland durch seine Geschichte besonders gut vorbereitet, einem Völkerbund gleichberechtigter Nationen beizutreten, habe Deutschland sich doch selbst als ein föderatives Gebilde, aus der Gemeinschaft selbständiger Stämme, entwickelt. Wie Cathrein lehnt Erzberger einen Weltrat ab. Er greift über Europa hinaus, indem er entschieden den Beitritt Nordamerikas zu einem Völkerbund verlangt. Die Gründung zweier voneinander getrennter internationaler Gemeinschaften, einer kontinentalen und einer englisch-nordamerikanischen, wäre verhängnisvoll für Deutschlands primär nach Westen gerichteten Handel und würde zudem das dem Frieden nicht dienliche Gleichgewichtssystem wiederbeleben71. Mit dieser Kritik, die er am Beispiel der Bündnispolitik vor dem Weltkrieg erläuterte, ordnete sich Erzbergers Denken dem Traditionsstrom einer ideellen und moralischen Fundierung des Völkerlebens ein, die bis zu Görres und Müller und weiter zurück bis zur spanischen Spätscholastik reichte. Erzberger hat zudem die Bedeutung der gegenseitigen wirtschaftlichen Durchdringung der europäischen Staaten für die Überwendung des ökonomischen Konkurrenzdenkens und damit für die Sicherung des Friedens erkannt72. IV.

Wir wollen weiterhin betrachten, wie in der Weimarer Zeit erstens dem Europagedanken neue Begründungen und Motive zuflössen, zweitens welche neuen Hemmnisse sich ihm entgegenstellten. Drittens soll kurz zur Sprache 69

70

H. Grauert,

Geschichte (wie Anm. 61) S. 212, 605 f.

Matthias Erzberger, Der Völkerbund. Der Weg zum Weltfrieden, Berlin 1918 (Vorwort: Sept. 1918), S. 181 ff. 71 Ebd. S. 175 f. Ebd. S. .

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kommen, wie man sich konkret eine europäische Einigung oder Verständigung vorstellte. Dafür werden Artikel aus dem „Hochland", der wohl bedeutendsten katholischen Zeitschrift im deutschsprachigem Raum zwischen 1918 und 1933, und Äußerungen von Parlamentariern des Zentrums herangezogen. 1. Der Erste Weltkrieg ging an den deutschen Katholiken nicht spurlos vorüber. Im „dritten Kriegsjahrgang" verspürte Karl Muth den Verlust der „geistigen Ordnung", sah alle Staaten Europas in eine „falsche Stellung" zueinander geraten und empfahl dem deutschen Volk, sich auf den „Willen zu einer höheren Gemeinschaft und auf das frühere europäische und christliche Gewissen" zu besinnen73. Muth beharrte auf dem engen Zusammenhang, der zwischen der „religiösen Idee" und allen menschlichen Gemeinschaftsbildungen, auch der Idee des Völkerbunds, bestehe74. Karl Schaezler würdigte die Religion als Grundlage aller Kulturen, auch der Europas. Mit Christopher Dawson75 verlegte er Europas Entstehung ins Hochmittelalter und zog daraus die Legitimation zur Behauptung der Einheit Europas gegenüber dem „Asiatismus Sowjetrußlands", dem „Amerikanismus" und gegenüber der „Erhebung der farbigen Welt" 76 . Wenn der Weltkrieg hier zum Anstoß wurde, sich erneut auf die Grundlagen der Völkergemeinschaft zu besinnen, so war damit auch ein Stück Gewissenserforschung im Katholizismus verbunden. Schon 1913 hatte Martin Spahn beklagt, daß die universalistischen Ideen im deutschen Katholizismus des Vormärz unter dem Einfluß des Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu sehr zurückgedrängt worden seien77. 1923 rechnete Hermann Platz mit dem standpunktlosen, alles relativierenden Historismus Friedrich Meineckes ab, mit der schließlich in einem affirmativen Nationalismus mündenden Vorstellung, daß die nach Analogie unhinterfragbarer Individualitäten gedachten Völker sich in einem nationalen Lebenskampf gegenseitig aufreiben müßten78. Robert Saitschick folgte der Interpretation, die Constantin Frantz, der Föderalist und Gegner Bismarcks, der deutschen Geschichte gegeben hatte, indem er dem deutschen Volk wegen seiner Struktur und Lage eine völkerverbindende, das Völkerrecht verteidigende Aufgabe zu-

73

Hochland 14/1 (1916/17) S. 1-3. Karl Muth, Zum fünften Kriegsjahrgang, in: Hochland 16/1 (1918/19) S. 1-4. 75 The Making of Europe. An Introduction to the History of European Unity, London 1932; deutsch unter dem Titel: Christoph Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abenländischen Einheit, Leipzig 1935, hier S. 275-281. 76 Karl Schaezler, Die Entscheidungsfrage in Europa, in: Hochland 31/1 (1933/34) S. 564-567. 77 Martin Spahn, Internationale Verständigung, in: Hochland 10/1 (1912/13) S. 386-393, 392. 78 Hermann Platz, Das Ringen um die abendländische Idee, in: Hochland 20/11 (1923) S. 308-318, hier 317 f. 74

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geschrieben hatte79. Unüberhörbar forderte Max Scheler, die „nationalen Bildungsideale" in den Rahmen einer „gemeinsamen europäischen Kultur- und Bildungsgrundlage" zu stellen80. Als überlebt erschien ihm die kleindeutschnationalliberale Historiographie mit ihrer Apotheose der gegen Gemeinschaft und Synthese gerichteten Reformation und der Anhimmelung des demokratiefeindlichen absolutistischen Fürstenstaats. Scheler lehnte auch die nationale „Philosophie des bürgerlichen Zeitalters von Descartes bis Kant" ab, während die theistisch orientierte, aus der Antike herrührende philosophia perennis bewiesen habe, wie zeitgerecht sie sei. Teilnehmer des Weltkriegs verlangten, die Schranken der nationalen Ideologien niederzulegen, die Zukunft Deutschlands in den Bemühungen um Rückgewinnung der „christlichen Substanz", des „Erbguts der abendländischen Menschheit", in der Annäherung an das „gemeinsame Patrimonium" der christlichen Wahrheiten zu suchen81. Mehrfach wurde im „Hochland" das Paneuropa-Buch von Richard CoudenhoveKalergi, mehr zustimmend als ablehnend, besprochen. Dabei vermißte man bei den deutschen Vorkriegspolitikern die Phantasie und Umsicht, die dazu gehört hätten, die Steigerung der anderen nationalstaatlichen Gegenkräfte gegen das Auftreten des kaiserlichen Deutschlands richtig vorauszusehen82. In realistischer Erkenntnis der bereits eingetretenen Entchristlichung schlug Karl August Meißinger vor, durch Stärkung des ökumenischen Gedankens zum Aufbau einer geistigen Mitte Europas beizutragen, Bundesgenossen bei neutralen, nicht widerchristlichen Kräften zu suchen, wie sie neben dem Papst in der Friedensbewegung des Ersten Weltkriegs hervorgetreten seien: bei bestimmten protestantischen Gruppen, bei der Frauenbewegung und anderen Verbänden, bei dem Sozialismus83. Insbesondere fand Coudenhove-Kalergis Vorschlag Zustimmung, daß die europäisch gesinnten Kräfte in den einzelnen Ländern jeweils die „Bekämpfung und Bekehrung ihrer eigenen Chauvinisten übernehmen" sollten84. 2. Die harten Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles, vor allem die Gebietsabtretungen und die Errichtung eines selbständigen Österreich, haben die europapolitische Diskussion auch der Katholiken belastet. Selbst wer die Paneuropa-Idee Coudenhoves grundsätzlich akzeptierte, erhoffte von 79 Roman Michael Faber [ = Robert Saitschick], Der deutsche Weltberuf. Constantin Frantz als politischer Denker und Erzieher, in: Hochland 30/11 (1933) S. 193223, 220. 80 Max Scheler , Vom kulturellen Wiederaufbau Europas II, in: Hochland 15/1 (1917/18) S. 664-681, 666. 81 H. Platz (wie Anm. 78). 82 Speculator, Paneuropa, in: Hochland 22/1 (1924/25) S. 114-117, 116. 83 Κ.Λ. Meißinger, Paneuropa und die ökumenische Idee, in: Hochland 24/1 (1926/27) S. 233-236, 235. 84 Speculator, Paneuropa (wie Anm. 82) S. 117.

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günstigeren außenpolitischen Konstellationen die Wiedereinfügung der unter fremdes Volkstum geratenen Deutschen in ihr Vaterland, insofern die Beseitigung der Ungerechtigkeiten in den Friedensschlüssen von 191985. Weiter gingen diejenigen, die als Vorbedingung für die Bildung eines Kontinentaleuropa den Anschluß Österreichs verlangten und Frankreich die Akzeptierung eines Großdeutschland - mit allerdings süddeutschem Schwerpunkt und mit antipreußischer Ausrichtung - zumuteten86. Bei ihnen genoß das „innere Wachstum" des deutschen Volkes Priorität 87. Andererseits war ein gewisser Realismus jenen Erwägungen nicht abzusprechen, die ermittelten, daß auch andere Länder ihre nationalen Erwartungen eher hochschraubten als dämpften. Wer sollte einem geeinten Europa beitreten, wenn, vom Sonderfall des britischen Empire mit seinen außereuropäischen Schwerpunkten überhaupt abgesehen, in Italien der Impero-Gedanke des Faschismus dominierte und Spanien alljährlich am „Dia de la raza" die Erinnerung an „die iberische Weltgemeinschaft" wachhielt sowie in Südamerika spanische Kulturpropaganda betrieb88? So lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, daß in katholischen Kreisen der Gedanke der europäischen Verständigung nur neben der fortwirkenden Nationalidee Geltung beanspruchen konnte. Dies mag praktischen Erfordernissen der deutschen Außenpolitik entsprochen haben, die darauf Rücksicht zu nehmen hatte, daß alle Parteien mehr oder minder Revisionsforderungen gegenüber dem Vertrag von Versailles anmeldeten. So hat der Zentrumsabgeordnete Konstantin Fehrenbach die Locarno-Verträge unter dem doppelten Aspekt gewürdigt, daß diese einerseits der Wiederaufrichtung Deutschlands dienlich seien, andererseits aber den Weg der „friedlichen Verständigung" und der Zusammenarbeit Deutschlands mit den anderen Nationen eröffnet hätten89. Dieser Politiker rückte zumindest theoretisch von der einseitigen Obstruktionspolitik gegen den Frieden von Versailles ab, wenn er ausführte, daß die „deutschen Rechte" zukünftig im Einklang mit der Absicht der „politischen Befriedung Europas" geltend gemacht werden sollten90. 3. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten und Kohärenzen wurden während der Zwischenkriegszeit konkrete Perspektiven für ein einiges Europa entwickelt. So interpretierte das „Hochland" schon Briands revolutionären Plan einer eu85 Speculator, Paneuropa (wie Anm. 82). Speculator, Noch einmal: Paneuropa, in: Hochland 22/1 (1924/25) S. 600. 86 Walter Hagemann, Paneuropas Idee und Wirklichkeit, in: Hochland 27/1 (1929/30) S. 497-509, 500. 87 Josef Räuscher, Paneuropa und die Anschlußfrage, in: Hochland 26/1 (1928/29) S. 296-299, 299. 88 W. Hagemann (wie Anm. 86) S. 500 f. 89 Stenographische Berichte (wie Anm. 52) Bd. 388, S. 4505 ff. (24. 11. 1925); ebd. Bd. 388, S. 5151 ff. (27. 1. 1926). 90 Ebd. S. 4506, 5151.

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ropäischen Einigung als Ergebnis von Tendenzen, für welche die Zeit längst reif geworden war: Er galt gleichsam nicht mehr als Eigentum seines Initiators, stand allerdings noch in Gefahr, durch Hegemonietendenzen französischer Politiker verfälscht zu werden91. Als auslösendes Moment dafür, eine Einigung Europas etwa nach dem Vorbild der Schweiz zu erstreben, erschien der Weltkrieg. Aber der Zusammenschluß sollte doch, so wurde mehrfach ausgeführt, viel tiefere historische Wurzeln haben: „eine gemeinsame mittelalterliche Geschichte, die christliche Religion, die grundlegenden Rechtsbegriffe, Wissenschaften und Künste, soziale Verhältnisse, der Lebensstil, selbst die Mode sind den verschiedenen europäischen Nationen gemeinsam"92. Für das „Hochland" drängten die wirtschaftlichen und politischen Erfordernisse der Gegenwart zunächst zu einer deutsch-französischen Verständigung, wie sie Coudenhove-Kalergi seit 1923 in seinen Büchern über Paneuropa gefordert hatte. Dies schien die einzige Möglichkeit der Selbstbehauptung Europas neben Ostasien, dem russischen, dem britischen Reich und „Panamerika" zu sein93. Das kontinentale Europa solle die kulturelle Identität sichern und materielle Prosperität herbeiführen. Seine politische Ausrichtung und die Umschreibung seiner politischen Grenzen lassen den Einfluß der Abendland-Idee erkennen94. Ohne, nicht gegen England sollte das neue Europa Zustandekommen, nicht auf einem Bündnis mit Osteuropa beruhen, sondern dem durch das militante Sowjetsystem nur gestärkten „russischen Drang nach Westen" entgegenwirken95. Angesichts der neuen bolschewistischen Gefahr werde eine erneute kriegerische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich „das Todesurteil Europas" bedeuten96. Bekanntlich sind diese katholischen Europapläne wie andere in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen virtuell geblieben, bis die neue Periode nach 1945, jetzt mit dem Zutun Großbritanniens, das realpolitische Kapitel der Einigung Europas aufschlug. Dennoch läßt sich nachweisen, daß die neue, grundlegende Besinnung auf ein kulturell und politisch geeintes Europa auch in der politischen Arena der Weimarer Republik Widerhall fand. Anläßlich der Querelen um Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund 1926 grenzte sich der spätere Vorsitzende der Zentrumspartei, der Prälat Ludwig Kaas, von den extremen Kräften der Rechten und der Linken im Reichstag deutlich ab 91 Rudolf Friedmann, Die „Vereinigten Staaten Europas" und Frankreich, in: Hochland 26/11 (1929) S. 653-655. 92 Speculator , Paneuropa (wie Anm.82) S. 114. 93 Ebd. 94 Paul Rommke, Mitteleuropa-Probleme, in: Hochland 30/1 (1932/33) S. 360-366. 95 Speculator, Paneuropa (wie Anm. 82) S. 116; Max Fischer, in: Hochland 16/1 (1918/19) S. 197. 96 Speculator, Paneuropa (wie Anm. 82) S. 116. 2

Fsschrift

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und attestierte der deutschen Republik, daß sie gegen den erbitterten Widerstand zumal der Opposition der Nationalisten geduldig den „Aufbau einer ehrlichen europäischen Friedenspolitik" vorangetrieben habe. „Sie ist sich nie im unklaren gewesen über die gigantische Größe dieser Aufgabe, nie im unklaren darüber, daß herbe und wiederholte Rückschläge auf diesem Wege in ein neues Europa unausbleiblich seien; unausbleiblich allein schon deshalb, weil der Dämon der Gewalt sein Szepter nicht kampflos abgibt an die Herrschaft des Rechts; unausbleiblich deshalb, weil die für das alte Europa maßgebende und für seinen Niedergang verantwortliche rein gewaltpolitische Geisteseinstellung mit allen Mitteln gegen das Kommen des neuen Geistes aufbegehrt und sich weigert, die Positionen zu räumen, die ihr in langer Gewöhnung lieb geworden sind" 97 . V.

1945 hatte sich die Lage Europas wesentlich gewandelt. Das tradierte Europa mit seinem höchst instabilen Gleichgewichtssystem gehörte der Vergangenheit an. Die beginnende Entkolonialisierung entzog folgerichtig den europäischen Konfliktpartnern jene außereuropäischen Ressourcen, die ihre Machtposition in Europa gestärkt hatten. Die Sowjetunion warf ihren drohenden Schatten über Westeuropa. Es entstand die Schicksalsgemeinschaft der demokratisch verfaßten Nationen Europas, die, um sich zu erhalten, auf den engen Schulterschluß mit den Vereinigten Staaten angewiesen waren. Die besondere politische Organisation des deutschen Katholizismus, die Zentrumspartei, wurde, von einigen Übergangsformen abgesehen, nicht erneuert. Katholische Äußerungen über den europäischen Gedanken bewegten sich folglich mehr in den Bahnen neuer parteipolitischer Entwicklungen, der Integration des Katholizismus in die Unionsparteien, waren sowohl von der veränderten Lage wie von dem eigenen Traditionsgut beeinflußt. Der Publizist Walter Dirks überschätzte die Stärke des in der Mitte auseinandergebrochenen Europa und die ideologische Stoßkraft des Kommunismus, wenn er eine Konföderation Europas als dritte Kraft für realisierbar hielt, die die politische und soziale Vermittlung zwischen den ideologisch und wirtschaftlich divergierenden Gesellschaftssystemen in Ost und West, zwischen den USA und der Sowjetunion, übernehmen könne98. Da kam Konrad Adenauers Analyse vom 31. Oktober 1945 der Wirklichkeit näher. Für ihn war die zwischen Ost- und Westeuropa eingetretene Spaltung ein Fakt. Die Selbstbehauptung 97

Stenographische Berichte (wie Anm. 52) Bd. 389, S. 6466 (22. 3. 1926). Wilfried Loth , Deutsche Europa-Konzeptionen in der Eskalation des Ost-WestKonflikts 1945-1949, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 35 (1984) S. 453-470. 98

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Westeuropas könne nur erreicht werden, wenn sich die verbliebenen Großmächte Frankreich und England mit Westdeutschland zusammenschlössen und wenn eine um Holland, Belgien und Luxemburg erweiterte, wirtschaftlich eng verflochtene Union der westeuropäischen Staaten entstünde. Es ähnelte dem Fazit, das Karl Muth aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte, wenn Adenauer nun aus den politischen Veränderungen, die die beiden Weltkriege herbeigeführt hatten, folgerte, daß „ein isoliertes Weiterbestehen der infolge der umwälzenden Entwicklungen klein gewordenen europäischen Staaten nicht mehr möglich" sei99. Außerdem hatten die wirtschaftlichen und technischen Fortschritte während der letzten Jahrzehnte die Welt und damit den Platz Europas in ihr tiefgreifend verändert. Nur durch Zusammenschluß schien Adenauer erreichbar zu sein, was er für absolut notwendig hielt: Europas „Weiterbestehen als politischer, wirtschaftlicher und kultureller Faktor" 100 . Dabei war für ihn weniger die Form von Belang, in der Europa sich weiter behaupten würde, ob in Gestalt eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates101. Für wesentlich hielt er die aus der jüngsten geschichtlichen Erfahrung sich ergebende Notwendigkeit, Europa zu einer im Innern wirklich befriedeten, freiheitlichen Kraft fortzuentwickeln. Die politische Ausrichtung Deutschlands nach dem Westen, Deutschlands Einbeziehung in eine Gewaltanwendung zumal zwischen Frankreich und Deutschland ausschließende europäische Union bedeutete in den Augen Adenauers die endgültige Absage an den Nationalismus. In diesem und in dem damit ursprünglich einhergehenden Materialismus sah er gefahrliche Spielarten der Staatsomnipotenz, die Deutschlands Geschichte seit dem Kaiserreich vergiftet hatten102. Andererseits konnte der frühere hohe preußische Verwaltungsbeamte Hermann Pünder darauf hinweisen, daß während der Herrschaft des Nationalsozialismus die Männer des 20. Juli den Gedanken an ein friedliches und geeintes Europa aufrechterhalten hatten. Prominente französische Gesprächspartner des Generalobersten Ludwig Beck hatten 1937 bei dessen Besuch in Paris erstaunt festgestellt, „daß dieser deutsche Generalstabschef ein glühender Verfechter deutsch-französischer Verständigung und der Schaffung eines geeinten Europa

99 Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953-1955, Stuttgart 1966, S. 21; ders., Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 39-41. 1ΩΠ Κ . Adenauer , Erinnerungen 1953-1955 (wie Anm. 99) S. 21. 101 Hans-Peter Schwarz, Adenauer und Europa, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979) S. 471-523. 102 K. Adenauer, Erinnerungen 1945-1953 (wie Anm. 99) S. 44. Vgl. Heinz Hurten, Der Beitrag Christlicher Demokraten zum geistigen und poütischen Wiederaufbau und zur europäischen Integration nach 1945: Bundesrepublik Deutschland, in: Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, hg. v. Winfried Becker u. Rudolf Morsey, Köln/Wien 1988, S. 213-223. 28'

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war" 103 . Doch solche Ansichten bestimmten keineswegs die verhängnisvolle Politik des nationalsozialistischen Deutschlands. Sie konnten unter gänzlich gewandelten Umständen erst nach der Katastrophe wieder aufgegriffen werden. Gerade aus deutscher Sicht verband sich nun mit dem Gedanken der europäischen Zusammenarbeit eine innen- und verfassungspolitische Dimension. Die europäische Zusammenarbeit sollte der „Erhaltung der westlichen Demokratien und der demokratischen Freiheiten" dienen, wie es Adenauers enger Mitarbeiter, der Außenminister Heinrich von Brentano, einmal ausgedrückt hat104. Natürlich bezeugte der so interpretierte Europagedanke nicht nur einen gewissen Revisionismus, die Distanzierung von den Verfehlungen der nationalsozialistischen Diktatur. Der pragmatisch beschrittene Weg der europäischen Einigung sollte nach Adenauers Absicht auch den Wiederaufstieg Deutschlands befördern, aber diesmal über die Einbeziehung des freien Teiles Deutschlands in die europäische Völkerfamilie. Deutschland sollte ein vertrauenswürdiger Partner der westlichen Demokratien auch deshalb werden, um hier Vorbehalte gegen seine mögliche Wiedervereinigung abzubauen. In der lang anhaltenden Situation des Kalten Krieges war das geographisch-politische Argument nicht von der Hand zu weisen, daß die Auszehrung der Mitte des europäischen Kontinents dem Gedeihen und der Geltung Europas nach außen höchst abträglich sei. VL

Die Verschiedenheit der behandelten Autoren und der politischen Konstellationen, für die sie jeweils schrieben, macht es schwierig, einige Grundlinien ihres Denkens zusammenzufassen. In Anlehnung an die Realität gehen die Publizisten des 19. Jahrhunderts von einem Europa der Mächte und Nationen aus, einem Resultat auch der Entwicklung des 18. Jahrhunderts, dessen mechanisches Gleichgewichtssystem und absolutistische Willkürherrschaft sie allerdings überwinden wollen. Die größeren Staaten, sozusagen die Hauptmächte Europas, sind es, die das Hauptinteresse beanspruchen. Die Forderung nach einer wirklichen Einigung im Sinne einer Zusammenfügung dieser Staaten bricht sich erst 1918 zögernd 103

Hermann Pünder, Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1968, S. 440 f. Vgl. zu den europapolitischen Vorstellungen im Widerstand: Marek Maciejewski, Edgar Julius Jung und der Nationalsozialismus. Zur Geschichte der „konservativ-revolutionären" Opposition gegen Hitler, in: Widerstand und Verteidigung des Rechts, hg. v. Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss, Bonn 1997, S. 9-21. 104 Rede im Deutschen Bundestag vom 13. 6. 1950. Heinrich von Brentano, Deutschland, Europa und die Welt. Reden zur deutschen Außenpolitik, hg. v. Franz Böhm, Bonn/Wien/Zürich 1962.

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Bahn. Die nationalen Ressentiments scheinen nach Versailles so gestärkt, daß schon die ehrliche und friedliche Verständigung unter den Nationen über Grenz- und Wirtschaftsfragen als Erfolg europäischer Verständigung gelten kann. Ob ein Staaten-Europa bestehen bleiben oder ein Staat Europa gebildet werden soll, bleibt bei wichtigen Vorkämpfern des Europa-Gedankens auch nach 1945 eher eine Frage sekundärer Natur, wenn nur die politische, wirtschaftliche und kulturelle Selbsterhaltung gesichert werden kann. Katholische Autoren bekennen sich nur ungern zur Vision einer egalitären, pazifistischen Völkerrepublik, weil sie diese für irreal halten. Sie verfechten aber auch nicht das andere Extrem, die Hegemonie einer bestimmten europäischen Macht oder gar Deutschlands über Europa. Selbst auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs wird die Vorstellung einer Weltgeltung Deutschlands dadurch relativiert, daß das Reich diese Rolle in Ko-Existenz mit anderen Weltmächten übernehmen soll. Allenfalls taucht vor dem offenen Ausbruch des Nationalismus die Ansicht auf, daß eine starke Stellung Deutschlands in der Mitte Europas, eventuell zusammen mit Frankreich, die Grundlage für die kulturell-politische Mission und Führerrolle Europas nach Ost und West, gegenüber Asien und Amerika, abgeben könne105. Der Blick auf andere Weltteile ist überhaupt ein entscheidendes Kriterium für die Definition einer europäischen Eigenart oder Sendung. Etwas unklar bleibt die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa. Aus konfessionellen Gründen kann der katholische Universalismus dazu tendieren, Rußland zu vernachlässigen oder zumindest teilweise außerhalb des eigentlichen Europa anzusiedeln. Für den katholischen Europagedanken stehen nach den hier benutzten Zeugnissen jedenfalls Frankreich, England, Italien und Spanien Deutschland näher als Rußland. Die innere Ordnung und geistig-kulturelle Konstituierung Europas hat unsere Autoren besonders beschäftigt. Die Idee, daß erst ein gemeinsames geistiges Band Europas Einheit herbeiführen könne, zieht sich von den romantisch-antirevolutionären Anfängen der katholischen Europaidee bis zu deren Neu-Interpretation nach 1945. Diese Kulturidee erscheint zunächst als ein Vermächtnis des christlichen Mittelalters, welches der Säkularisierung, wie sie im Absolutismus und in der Revolution zutage getreten sei, entgegengesetzt wird. Aber ihre Abwandlungen tragen der im 19. und 20. Jahrhundert stattfindenen Säkularisierung selbst wieder Rechnung. Die Idee der christlichen Glaubensgemeinschaft Europas wird sozusagen im Zuge einer historischen Selbstvergewisserung ergriffen, um ein Gegengewicht zu gewinnen gegen den kriegerischen Versuch einer revolutionären und säkularen Umgestaltung Europas durch das Frankreich Napoleons. Sie erscheint nun als Unterpfand einer die europäischen Nationen umspannenden Rechtsordnung, deren 105 [J.E. Jörg], Glossen zur Tagesgeschichte, in: Historisch-politische Blätter 32 (1853/11) S. 309.

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unterschiedliche historische Entwicklung und Ausprägung Görres allerdings sehr deutlich nachzeichnet. Bei diesem Autor gewinnt Europa auch die Rolle eines Vermittlers zwischen den extremen Polen reaktionärer Erstarrung und revolutionärer Anarchie. Von daher ist es kein weiter Schritt mehr zur Idee der europäischen Mitte oder Vermittlung, die mit der Vorstellung einer charakteristisch europäischen Zivilisation einhergeht. Aus seiner föderalistischbayerischen Perspektive hat der Münchener und Landshuter Publizist Jörg die universalistisch-zivilisatorische Aufgabe Europas kämpferisch gegen den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vordringenden Nationalismus gestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg verbinden Vertreter des Katholizismus mit einer gewissen Kritik an der früheren Integration der Katholiken in den Nationalstaat eine Besinnung auf vor-nationale, universalistische Werte ihrer eigenen Tradition. Kaas verurteilt im Reichstag Gewalt als Auskunftsmittel der Politik. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine neue Situation gegeben. Adenauers beredte Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, persönlichem Verantwortungsbewußtsein und Demokratie als schützenswerten Inhalten der europäischen Kulturtradition erlaubt es, den Bogen weit zurückzuschlagen zu Görres' und Müllers Interaktionsmodellen - wenn man von dem Bekenntnis zur demokratisch-parlamentarischen Staatsform, das Görres und Müller noch nicht teilen, einmal absieht. Diese Publizisten haben für die Grundlegung einer neuen Staatsgesinnung plädiert, die sich auf die äußeren und inneren Verhältnisse der Staaten beziehen sollte, bestehend in der Respektierung eines nationen-übergreifenden Rechts, der Interessen und Neigungen des Nächsten wie der Nachbarstaaten. Die Kritik an fürstlicher Willkür und an der Verabsolutierung einseitiger, interessengeleiteter oder nationalistischer Politik behielt Gültigkeit angesichts der rassen- und klassenkämpferischen Diktaturen und Ideologien des 20. Jahrhundets.

Die internationalen Beziehungen im politischen Denken Hermann Hellers Von Karl G. Kick „Wir wollen die sozialistische Internationale, weil wir die Nation wollen!"1

Hermann Heller hat als Staatsrechtslehrer in der Zeit der Weimarer Republik vor allem durch seine Arbeiten zu den Begriffen der Souveränität, der Nation und des „sozialen Rechtsstaates" sowie als Antipode Carl Schmitts und Hans Kelsens Bedeutung erlangt.2 Die wissenschaftliche Heller-Rezeption hat sich dabei so gut wie ausschließlich mit den ideengeschichtlichen und theoretischen Fragestellungen der innerstaatlichen Politik beschäftigt. 3 Die äußeren und internationalen Aspekte blieben weitgehend unberücksichtigt. Lediglich auf seine Forderung nach einen europäischen Bundesstaat im Interesse der Friedenssicherung wird gelegentlich verwiesen.4 1

Hennann Heller, Sozialistische Außenpolitik?, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 420. 2 Heller wurde 1891 im damals österreichischen Teschen (Schlesien) geboren wie der Jubüar an einem 17. Juli. Nach einem rechtswissenschaftlichen Studium an den Universitäten Wien, Innsbruck, Kiel und Graz habilitierte er sich bei Gustav Radbruch in Kiel und trat gleichzeitig in die SPD ein. Er arbeitete zunächst in der Erwachsenenbüdung in Leipzig und an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. 1928 wurde er zum außerordentlichen Professor für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Berlin (der heutigen Humboldt-Universität) ernannt, 1932 erhielt er eine ordentliche Professur an der Universität Frankfurt am Main. Zur Zeit der „Machtergreifung" der Nationaisoziaüsten befand er sich auf einer Vortragsreise in London und Madrid, von der er nicht wieder nach Deutschland zurückkehrte. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aus dem Staatsdienst entlassen. Heller starb am 5. November 1933 in Madrid. - Zu Hellers Werk siehe Heller, Gesammelte Schriften, hrsg. von Martin Drath, Otto Stammer, Gerhart Niemeyer und Fritz Brorinski, 3 Bde., 2. Aufl. Tübingen 1992, hier insbes. den Beitrag von Christoph Müller, Heller: Leben, Werk, Wirkung, in Bd. 3, S. 429-476. Hellers Schriften werden im folgenden mit Angabe des Titels sowie der Band- und Seitenzahl nach dieser Ausgabe (GS) zitiert. 3 Vgl. Christoph Müller/ Use Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Heller 1891-1933, Baden-Baden 1984. 4 So in der vorzüglichen Würdigung des Werkes Hellers von Wilfried Fiedler, Das Büd Hellers in der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Leipziger Juristische Vorträge, Heft 2), Leipzig 1994, S. 33f.

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Freilich, Heller ist kein „Internationalist"; sein zentrales Interesse gilt der inneren Organisation des demokratischen Staates, und wenn er sich mit den äußeren Beziehungen des Staates beschäftigt, dann geschieht dies eher implizite. Gleichwohl wird man Heller nicht gerecht, wenn man ihn und sein Werk ganz auf die Staatsrechtslehre reduziert. In der „Staatslehre", seiner bekanntesten, aber unvollständig gebliebenen und 1934 posthum von Gerhart Niemeyer herausgegebenen Arbeit, interessiert sich Heller für den Staat ja gerade nicht nur als einem rechtlichen Konstrukt, es geht ihm auch nicht um ,die Erscheinung des Staates überhaupt4 oder ,den' Staat ,in der Gesamtheit seiner Beziehungen4, noch um das Wesen ,des* Staates, sondern er möchte „den Staat begreifen in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion, sein geschichtliches So-Gewordensein und seine Entwicklungstendenzen"5. Sein Interesse ist also ein politikwissenschaftliches, 6 wobei sein Verständnis von dieser (zumindest in Deutschland) ganz jungen Disziplin durch seine Arbeit an der Berliner „Deutschen Hochschule für Politik" geprägt war, wo er neben seiner Tätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lehrte.7 In einem Beitrag für die „Encyclopaedia of the Social Sciences" umschreibt er die Gegenstände der Politikwissenschaft, zu der die Analyse der äußeren, naturgegebenen, soziologischen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und rechtlichen Strukturen der Staaten und ihrer Bevölkerung zählen, weiters die Analyse des Regierungssystems, also der Staats- und Herrschaftsorgane einschließlich der Parteien, dann die Rolle politischer Ideen, ferner das Verhältnis der Staats- und Regierungsinstitutionen zu den sozialen Kräften wie den Klassen, Kirchen, der öffentlichen Meinung, der Presse usw., und „finally, the survey of the state in its relations to international powers and other states, wheter in a federal or in an international context".8 Das Verhältnis der Staaten auf internationaler Ebene war für Heller aber nicht nur als Teil der Politikwissenschaft von Bedeutung, sondern auch für die praktische politische Auseinandersetzung insbesondere in seiner Partei, der SPD. Heller focht hier nach zwei Seiten, nämlich einmal gegen den bekannten Vorwurf, Sozialdemokraten seien „vaterlandslose Gesellen", mithin bei einer äußeren Bedrohung des Staates zu dessen Verteidigung nicht bereit, zum an5

Heller, Staatslehre, GS, Bd. 3, S. 92. Heller hatte für „Politikwissenschaft" nur die französische (science politique )y italienische (scienza politico), spanische (ciencia politica) und englische Bezeichnung (political science ) zur Hand. Der Herausgeber der „Staatslehre", Gerhart Niemeyer, versuchte mit dem Kunstwort „Politikologie" eine Verdeutschung, die sich aber nicht durchzusetzen vermochte; vgl. ebd. S. 93. 7 Siehe hierzu Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin, 1988, mit den Studienplänen und Studienordnungen der Hochschule. 8 Heller, Political Science, GS, Bd. 3, S. 50f. 6

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deren gegen das in seiner Partei verbreitete Desinteresse an der Außenpolitik, das aus der Marx/Engels'sehen Auffassung herrührte, der Staat sei lediglich Instrument der Klassenherrschaft und werde wie diese mit der Verwirklichung des Sozialismus aufhören, und damit eben auch die äußeren Beziehungen zwischen den Staaten. Auf der Dritten Reichskonferenz der Jungsozialisten am 12. und 13. April 1926 in Jena führte Heller mit der ihm eigenen Polemik den Austromarxisten Max Adler als Beispiel für den ,,völlige[n] Mangel eines Verständnisses für Außenpolitik bei manchen Sozialisten" an, weil in dessen Buch „Die Staatsauffassung des Marxismus" die Außenpolitik überhaupt nicht erwähnt sei.9 Hellers Festhalten am Nationalstaat - und genauer: an der Pluralität der Nationalstaaten und seine Ablehnung der These, daß die gemeinsamen Interessen der Arbeiter zu deren internationalen Zusammenschluß führe, daß mithin der Klassenkampf die nationalen Gegensätze überwinden werde, stehen, jenseits der theoretischen Begründung des Verhältnisses von Nation und Sozialismus, im Zusammenhang mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, die die Generation, der Heller angehörte, maßgeblich prägte. Adler wies in seinem Koreferat auf der Reichskonferenz der Jungsozialisten in Jena darauf hin, daß „die günstige Konjunktur des Imperialismus überwiegende Schichten des Proletariats überall in eine vermeintliche Interessengemeinschaft mit den herrschenden Klassen des kapitalistischen Staates gebracht hat, und so jenen Sozialpatriotismus hat entstehen lassen, der beim Kriegsausbruch die Interessen des Kapitalismus eines jeden Landes den Proletariern als ihre eigenen vortäuschte und sie so veranlaßte, gegeneinander zu marschieren". Diese Haltung, so Adler, dauerte trotz der fürchtbaren Lehren des Krieges an, indem die Arbeiterschaft der Siegerstaaten am Gewinn des Sieges teilhaben, jene der Verliererstaaten aber eine Revision der Kriegsergebnisse erreichen wollten. Den Grund für diese Fehlentwicklung sah Adler in der „Ideallosigkeit des Proletariats, sein Aufgehen in Augenblicksinteressen", die nur das ökonomische Interesse der Arbeiter und deren wirtschaftliches Wohlergehen für entscheidend gehalten, das große Ideal der Internationale aber aus den Augen verloren habe.10 Der Vorwurf, der hier gegen Heller gerichtet wurde, lautet also, daß er an die Stelle der gemeinschaftsbildenden Kraft des Klassenbewußtseins diejenige des Nationalbewußtseins gesetzt habe, die die internationale Solidarität der Arbeiter aufbreche und letztendlich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den nationalen Arbeiterschaften begünstige. Heller stehe somit auf „der rechtesten Seite des Sozialismus", von dem aus „die Begriffe von Staat und 9 Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, GS, Bd. 1, S. 534f.; vgl. hier S. 542-563 das nachfolgende Koreferat Adlers und die Diskussion. 10 Koreferat von Max Adler, ebd. S. 545.

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Nation eine neue Wertschätzung" erhielten und „an Stelle der klassenrevolutionären Politik des Proletariats seine »nationale4 Politik ermöglichten".11 Gemeint sind damit die Vertreter der sogenannten „konservativen Revolution", die einen „deutschen Sozialismus" mit dem Nationalismus verbinden wollten, wobei deren politisches Spektrum bis in die dreißiger Jahren zwischen der Linken und Rechten oszillierte. 12 Im Folgenden soll die Position Hellers zu dieser Kontroverse nachgezeichnet werden. Es geht dabei zum einen um Stellung Hellers zum Krieg im allgemeinen und zum Erlebnis des Ersten Weltkrieges im besonderen (I), zum anderen ist Hellers Begründung für sein Festhalten am Staat und vor allem am Nationalstaat zu erörtern (II) und schließlich wird Hellers Konzeption einer friedlichen internationalen Ordnung der Staaten zu skizzieren sein (III). I.

Heller hatte am Ersten Weltkrieg in der österreichischen Armee teilgenommen. Bei Kriegsbeginn meldete er sich als „einjähriger Freiwilliger" und wurde als Artillerist an der russischen Front eingesetzt, wo er sich im November 1915, als er bei schweren Gefechten eine Nacht in einem Wasserloch zubringen mußte, schweren Gelenkrheumatismus verbunden mit einer Herzmuskelentzündung zuzog. Dies ersparte ihm zwar den weiteren Fronteinsatz, und er wurde danach und bis Kriegsende bei verschiedenen Feldgerichten als Militärgerichtsakzessist eingesetzt, jedoch litt er fortan unter der Herzerkrankung und verstarb nach einem erneuten Herzanfall am 5. November 1933 mit nur 42 Jahren.13 Wenngleich man also sagen kann, daß Heller durch den Krieg gezeichnet blieb, sind seine Ausführungen zum Ersten Weltkrieg in seinen Schriften bemerkenswert sachlich und nüchtern. Nur an einer Stelle geht er, wenngleich sehr knapp, auf das persönliche Kriegserlebnis ein: „Wir wünschen den Krieg nicht. Wir, die wir ihn im Felde mitgemacht haben, die im Dreck gelegen und, ohne uns zu rühren, auf den Tod durch eine unsichtbare Kriegsmaschine gewartet haben, kennen seine namenlose Greuel und wissen, wie weit dieses maschinelle Totschießen und Vergasen entfernt ist von jener ,Poesie des Charakters 4, den der Kampf Auge in Auge sicherlich besitzt."14

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Ebd. Vgl. hierzu Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 1995, insbes. S. 145ff., sowie die grundlegende Arbeit von Armin Möhler, Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918-1932, 3. Aufl. Darmstadt 1989. 13 Klaus Meyer, Heller. Eine biographische Skizze, in: Christoph Müller/Ilse Staff, Der soziale Rechtsstaat, Baden-Baden 1984, S. 68 und 86. 14 Heller, Sozialismus und Nation, GS, Bd. 1, S. 523 f. 12

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Es mag überraschen, daß Heller hier dem „Kampf Auge in Auge" eine „Poesie des Charakters" zubilligt. Doch im modernen Krieg, wie ihn Hellers Generation erlebte, ist von jener charakterbildende Eigenschaft des Zweikampfes nichts mehr zu finden. Der Soldat ist nicht mehr Herr des Geschehens, sondern dazu verurteilt, passiv, „ohne sich zu rühren", auf den Tod durch eine anonyme Maschinerie zu warten. Für Heller ist dies offenbar eine entwürdigende, weil entmündigende Lage, aus der keinerlei moralische Kraft gewonnen werden kann. Der Weltkrieg hat, wenn auch nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Faktoren wie der Verschärfung der Klassengegensätze, dem Mißlingen handlungsfähiger parlamentarischer Koalitionen und den bolschewistischen und faschistischen Revolutionen, dazu beigetragen, daß die Menschen auf irrationale Gewaltmethoden statt auf einen rationalen Interessenausgleich setzen.15 Nun haben die Anhänger der „konservativen Revolution" das Kriegserlebnis jedoch in der Weise überhöht, daß sie behaupteten, der Krieg, und zwar gerade der neue, mit modernen, industriellen Mitteln „maschinell" und als „Weltkrieg" geführte Krieg habe einen neuen, von den alten sozialen und moralischen Bindungen und Prägungen befreiten Menschen hervorgebracht. Daß die Welt nach diesem Krieg nicht mehr die alte sei, das ist gewiß auch Hellers Meinung, doch die Vorstellung, der Krieg habe den Menschen an sich verändert, lehnt er entschieden ab. Er weiß dabei sehr wohl zu unterscheiden, zwischen den aus dem Kriegserlebnis gewonnen und ehrlich wiedergegebenen Eindrücken der Kriegsgeneration, die er gleichwohl für naive Schwärmerei hält, und der politischen Instrumentalisierung dieser Kriegserlebnisse, der Jüngerschen „Stahlgewitter" etwa, aus denen eine neue, „eine völlig gegensatzlose Gemeinschaft, in der das Individuum völlig aufgelöst und erlöst ist" hervorgehe. 16 Der Krieg, so wird man Hellers Standpunkt umschreiben können, hinterläßt Tote und bei jenen, die ihn überlebt haben, (vielleicht) den Willen, künftig Kriege zu verhindern. Den Krieg jedoch als den objektiven und singulären Faktor anzusehen, der das soziale und politische Zusammenleben der Menschen zwingend verändere, dies ist ebenso abzulehnen, wie all die anderen monokausalen Erklärungsansätze, die die menschliche Gesellschaft reduzieren auf den homo oeconomicus, auf ein Triebwesen, auf Rassengattungen, auf eine Emanation des Volks- oder Weltgeistes und dergleichen mehr. Nicht daß Heller diese Sozialtheorien pauschal abgelehnt und ihnen keinerlei Bedeutungsgehalt zugemessen hätte, aber eine als „Wirklichkeitswissenschaft" verstandene Politikwissenschaft muß die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität aufgreifen. Weil alle gesellschaftliche Wirklichkeit menschliche 15 16

Heller, Die Poütischen Ideenkreise der Gegenwart, GS, Bd. 1, S. 332. Heller, Autoritärer Liberalismus, GS, Bd. 2, S. 648.

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Wirksamkeit und menschlich gewirkte Wirklichkeit ist 17 , ist auch der Krieg eine vom Menschen erwirkte und auf seine gesellschaftliche Wirklichkeit zurückwirkende Wirklichkeit. Die Kriegsmaschinerie mag dem Soldaten im Schützengraben als eine anonyme Macht erscheinen, doch ist der Krieg keine die menschliche Wirklichkeit übersteigende, „höhere" Wirklichkeit, noch vermittelt das Kriegserlebnis ein „höheres", dem „normalen" Menschen verborgenes Wissen. Piatons Höhlengleichnis aufnehmend wird man sagen können: Der Krieg findet in der Höhle statt. Hellers Auffassung vom Krieg unterscheidet sich nicht nur von derjenigen der „konservativen Revolution", sie macht ihn auch skeptisch gegenüber den Hoffnungen der Pazifisten. Krieg und Kriegserlebnis schaffen keine neue, auf den Krieg gegründete soziale Ordnung, sie schaffen auch keine sichere friedliche Ordnung, in der der Krieg zwingend und ein für alle Mal aus der Welt geschaffen wäre. Gewiß vermag die Erfahrung des Ersten Weltkriegs die Einsicht befördern, daß der Krieg kein sinnvolles Mittel der Politik ist. „Wir wünschen den Krieg nicht", schreibt Heller, der Krieg ist „auch für den Sieger kein Geschäft mehr". 18 Aber das heißt nicht, daß die Menschen mit Sicherheit künftig auf kriegerische Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen verzichten würden. Π.

Im Jahre 1924 veröffentlichte Heller ein fiktives „Gespräch zweier Friedensfreunde", die eben eine pazifistische Kundgebung besucht hatten und sich nun über ihre Meinungen zu dem Gehörten austauschen.19 „Die Kundgebung war herrlich!" setzt der erste an. „Es ist ein wundervoller Gedanke, daß es nie wieder Krieg geben wird." „Daß es nie wieder Krieg geben soll!" verbessert ihn sogleich der zweite Besucher der Kundgebung und fährt fort: „Ja, das ist ein großer Gedanke, der uns vor schwere Aufgaben stellt, die alle unsere Kräfte erfordern, vielleicht auch unser Leben. " Das Gespräch der beiden geht in dem damit angeschlagenen Tenor weiter. Während der eine Friedensfreund begeistert ist von der Idee einer internationalen Ordnung, in der es keine Kriege mehr gibt, stellt der andere, der Hellers eigene Auffassung wiedergibt, nüchtern seine Bedenken gegen das pazifistische Programm dagegen und entwirft die Grundlinien einer Friedenspolitik, die nicht nur mit der andauernden Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen rechnet, sondern darüber hin-

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Heller, Staatslehre, GS, Bd. 3, S. 162. Heller, Die Politischen Ideenkreise der Gegenwart, GS, Bd. 1, S. 409, vgl. auch Sozialismus und Nation, ebd., S. 516 und S. 524. 19 Heller, Gespräch zweier Friedensfreunde, GS, Bd. 1, S. 421-424. 18

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aus den militärischen Machtapparat als Mittel der Friedenssicherung akzeptiert. Den Kern der Überlegungen Hellers zur Außen- und internationalen Politik bildet dessen Grundverständnis von Politik überhaupt: „Politik heißt die Ordnung des Zusammenwirkens menschlicher Gegenseitigkeitsbeziehungen aller Art." Politik ist „Gesellschaftsgestaltung". 20 Politik ist somit ein spezifischer Teil des kulturellen Handelns des Menschen als bewußte und planvolle Gestaltung der vom Menschen vorgefunden Natur. Der Mensch ist zu dieser Gestaltung kraft seiner rationalen Fähigkeiten in der Lage, „indem er zwischen den verschiedenen Bedingungen zu wählen vermag, die notwendig sind, um die Eigengesetzlichkeit der Natur nach der seinen Zielen entsprechenden Richtung zum Ablauf zu bringen". 21 Das spezifisch politische dieser Naturgestaltung sieht Heller darin, daß sie auf den Staat bezogen ist: ,Politik4 meint also einerseits die Herstellung einer Willens- und Entscheidungseinheit unter den Menschen innerhalb eines bestimmten Gebietes (des Staates) und andererseits die Herrschaft, die diese als ,Staat4 organisierte Willens- und Entscheidungseinheit über die Menschen innerhalb des Gebietes ausübt. In Anlehnung an die Elemente des Staates bei Georg Jellinek - Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt22 - ist »Politik4 nach Heller mithin nichts anderes als Gesellschaftsgestaltung im Staat und durch den Staat.23 In Analogie zur rationalen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Inneren der Staaten fordert Heller, auch die äußeren Verhältnisse zwischen den Staaten bewußt und planvoll zu gestalten. Seine Kritik wendet sich dagegen, diese äußeren Verhältnisse einem irrationalen Naturzustand zu überlassen. Gewiß sieht Heller, daß die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen begrenzt sind. Sie sind es aber auch im Innern des Staates; der Mensch lebt immer in der „tragischen Spannung von Idee und gesellschaftlicher Wirklichkeit" 24 - dies kann aber kein Grund sein, auf eine Gestaltung innerhalb der gegebenen Möglichkeiten zu verzichten. Heller sieht den Grund für diese irrationale Haltung zu den internationalen Beziehungen in jenem falschen Staatsverständnis, das den Charakter des Staates als einer willentlich organisierten (und organisierenden) Gebietsherrschaft verkennt und statt dessen den Staat als „Individuum44 betrachtet, für das „einzig und allein das Gebot der Selbst-



Heller, Der Sinn der Politik, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 433. Heller, Sozialistische Außenpolitik?, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 420. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Bad Homburg/Berlin/Zürich 1966, S. 394-434. 23 Siehe hierzu im Zusammenhang Heller, Staatslehre, GS, Bd. 3, Abschnitt 3: „Der Staat". 24 Heller, Soziaüsmus und Nation, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 524f. 21

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erhaltung gelte"25. Zwar wendet auch Heller den Personbegriff auf den Staat an, jedoch nicht zu dem Zweck, um vom Staat als Person auf dessen einheitlichen Willen zu schließen, sondern vielmehr dazu, um das durch die organisierte Willensbildung im Staat geschaffene Subjekt zu benennen.26 Dieser Vorgang der staatlichen Willensbildung und Willensvereinheitlichung läßt sich nachvollziehen und er kann in rationaler Weise gestaltet werden. Der staatliche Wille, auch der außenpolitische Wille, ist also nicht das atavistische Agieren und Reagieren einer undurchschaubaren Person, und es ist demnach auch nicht so, daß diesem außenpolitischen Handeln der Staatsperson, das einzig dem Selbstzweck unterworfen ist, sich gegenüber den anderen Staatspersonen zu behaupten, alles innenpolitische Handeln unterworfen werden müßte. Das gegenteilige Extrem zu diesem Irrationalismus sieht Heller darin, daß an Stelle des uneingeschränkten Primats der Außenpolitik ein ebenso uneingeschränktes Primat der Innenpolitik, insbesondere der ökonomischen Binnenverhältnisse einer Gesellschaft, gesetzt wird. Er geht hart mit jener Auffassung ins Gericht, die in dem Wort Karl Liebknechts ihren Ausdruck findet, die beste auswärtige Politik sei gar keine.27 Weder theoretisch noch in der praktischen Politik sei diese Ansicht haltbar. Theoretisch deswegen nicht, weil sie die gesellschaftliche Wirklichkeit auf den vermeintlichen ökonomischen Mechanismus der Klassenkämpfe reduziert und somit der Totalität der menschlichen Gesellschaft nicht gerecht wird. Der Staat ist eben nicht nur das Ergebnis ökonomischer Widersprüche in der Gesellschaft, und selbst wenn diese ökonomischen Widersprüche aufgelöst werden könnten, verschwände deshalb die pluralistische Staatenwelt noch lange nicht. Praktisch ist jene Ansicht deswegen nicht durchzuhalten, weil jede Veränderung der sozialen Verhältnisse innerhalb des Staates mit den von außen kommenden Rückwirkungen auf diese Gesellschaft rechnen muß, solange es außerhalb des eigenen Staates andere Staaten gibt. „Außenpolitische Askese" können also nur jene Sozialisten betreiben, die keine konkrete politische Verantwortung als praktische Politiker tragen. Als verfehlt hält Heller es aber auch, die beiden Prinzipien einfach nebeneinander zu stellen und im Inneren eine rational planende, nach Heller also: sozialistische Politik zu betreiben, von dieser losgelöst nach außen aber das irrationale Gewaltprinzip anzuwenden. Heller bezeichnet dies als eine „natio-

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Heller, Sozialistische Außenpolitik?, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 417. Vgl. hierzu Michael W. Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt. Die Souveränitätslehren von Hans Kelsen, Carl Schmitt und Heller im Vergleich, Baden-Baden 1995, S. 456f. 27 Heller, Soziahstische Außenpolitik?, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 418f. 26

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nalsozialistische" Politik, womit aber nicht auf die NSDAP angespielt wird, sondern insbesondere auf die Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs. Darüber hinaus kritisiert Heller damit jede Politik, die verkennt, daß angesichts der engen internationalen Verflechtungen auch und gerade auf wirtschaftlichem Gebiet die rücksichtslose Durchsetzung eines unreflektierten »nationalen Interesses4 in der Außenpolitik früher oder später der inneren Prosperität schaden wird. Heller plädiert dagegen für eine „national verantwortliche Außenpolitik mit sozialistischen Grundsätzen",29 wobei mit „sozialistischen Grundsätzen" mehr gemeint ist als eine Politik, die sich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft annimmt. Es geht ihm um die Integration der Arbeiter in die nationale Kulturgemeinschaft im Sinne einer Teilhabe und Teilnahme an jener rationalen Gesellschaftsgestaltung, die sich eben nicht nur auf die inneren Verhältnisse des Staates beschränkt, sondern auch die internationale Staatenwelt vernünftig gestaltet. Ein Vorbild für diese Politik sah Heller in dem englischen Labour-Politiker James Ramsay MacDonald (1866-1937), dessen Buch „Socialism and Go30

verament" Heller mehrfach zur Grundlage für Lehrveranstaltungen machte , und auf dessen praktische Politik als erster Premierminister der Labour-Partei er mehrfach verweist. 31 MacDonald betonte ganz genau wie Heller, daß der Staat keineswegs nur das Instrument der jeweils herrschenden Klasse ist, wie Marx und Engels dies lehrten, sondern diejenige Organisation, in der die unterschiedlichen und viel28 Anfang 1924, als der Aufsatz „Sozialistische Außenpolitik?" im Poütischen Rundbrief des Hofgeismar-Kreises erschien, verband Heller mit dem Begriff „nationalsozialistisch" offenbar noch nicht die Programmatik der NSDAP. Erst ein Jahr später ging Heller in seiner Schrift „Sozialismus und Nation" auf die „nationalsozialistische* deutsche ,Arbeiterpartei" ein und weist sowohl deren Anspruch, eine nationale, wie den, eine sozialistische Partei zu sein, zurück; siehe ebd., GS, Bd. 1, S. 461. 29 Heller, Sozialistische Außenpolitik?, GS, Bd. 1, S. 419f. 30 Klaus Meyer, Heller. Eine biographische Skizze, in: Christoph Müller/Ilse Staff, Der soziale Rechtsstaat, Baden-Baden 1984, S. 77; Fritz Borinski, Heller: Lehrer der Jugend und Vorkämpfer der freien Erwachsenenbildung, a.a.O., S. 93. MacDonalds Buch erschien 1909 in London, eine deutsche Übersetzung von Oskar Peterson wurde unter dem Titel „Soziaüsmus und Regierung" von Eduard Bernstein 1912 in Jena herausgegeben. 31 Heller, Sozialistische Außenpolitik, GS, Bd. 1, S. 419f.; Soziaüsmus und Nation, GS, Bd. 1, S. 516 und 518. MacDonald führte zuerst 1924 für einige Monate erne Labour-Regierung, dann nochmals von 1929 bis 1931. Nach dem Bruch mit seiner Partei im Gefolge der Wirtschaftskrise büdete er bis 1935 eine Koalitionsregierung mit der Konservativen und der Liberalen Partei; vgl. Stephen R. Ward, James Ramsay MacDonald. Low Born Among the High Brows, New York/Bern/Frankfurt am Mam 1990.

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faltigen Interessen der gesellschaftlichen Gruppen gebündelt werden. Auch dann, wenn die Klassengegensätze durch eine Sozialisierung der relevanten Wirtschaftsbereiche aufgelöst werden, kann auf diese Organisationsleistung nicht verzichtet werden, ja sie ist gerade dann notwendiger denn je. Die Vorstellung, daß im Sozialismus die Herrschaft über Personen durch die Verwaltung von Sachen abgelöst werde, hält MacDonald für verfehlt, weil auch Verwaltung mit Entscheiden und der Herstellung eines gemeinsamen Willens verbunden ist, zumal in seinem Sozialismusmodell das private Eigentum erhalten und geschützt werden soll und darüber hinaus auch er jene wunderbare Aufhebung aller Gegensätze im Sozialismus gänzlich ablehnt. Es gilt also weiterhin: „Der Staat ist die politische Persönlichkeit der Gesellschaft, zu dem Zwecke gebildet, durch Gesetzgebung und Verwaltung den öffentlichen Willen in der politischen Sphäre durchzusetzen."32 Dabei ist der Staat nicht nur ein notwendiges Übel. Als demokratisch-parlamentarischer Rechtsstaat ist er vielmehr die Voraussetzung dafür, daß der Willensbildungsprozeß in einer Weise organisiert wird, die ausnahmslos jedem die Teilnahme an diesem Prozeß ermöglicht. Und hier wird man den entscheidenden Grund dafür sehen, daß MacDonald und Heller mit aller Entschiedenheit am Staat als dem Zentrum aller politischer Gestaltung festhalten: Die Emanzipation der Arbeiterschaft bedeutet, daß sie - und das heißt buchstäblich jeder einzelne - an dieser politischen Gestaltung wie alle anderen teilhaben. Es geht nicht (nur) um die Vertretung tatsächlicher, vermeintlicher oder vorgeblicher Interessen der Arbeiterschaft, es geht hier auch nicht um die Kontrolle politischer Entscheidungen im allgemeinen oder durch die Arbeiterschaft im besonderen und es geht zunächst auch nicht um die Frage der Legitimation politischen Handelns - es geht tatsächlich um das Individuum, dem politisches (Mit-)Handeln ermöglicht wird. Und dies vermag in vernünftiger Weise nur der parlamentarisch regierte Staat, der „als ein Organ betrachtet werden wird, durch das der Einzelne seinen Willen ausdrücken und die Verwirklichung seiner Persönlichkeit finden kann. Dieser Staat mag den Energien des Individuums Schranken setzen, aber er wird sie nur in der Weise kontrollieren, wie die Ufer den Gewässern eines reißenden Stromes gebieten."33 MacDonald zeichnet im Anschluß daran sehr optimistisch eine Zukunft, in der die Staaten immer enger zusammenarbeiten, sich zu einer letztlich weltweiten Konföderation zusammenschließen, ihre Streitigkeiten durch Schiedsgerichte schlichten, jedoch bewaffnete Streitkräfte (wenn auch keine stehenden Heere) unterhalten, zunächst noch zur Selbstverteidigung, später nur noch als eine internationle Polizeitruppe, um die internationale Ordnung aufrechtzuerhalten und die Schiedssprüche durchzusetzen. Aber: Es bleibt eine inter32 33

James Ramsay MacDonald, Sozialismus und Regierung, Jena 1912, S. 160. Ebd.

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nationale Ordnung der Staaten. „Die Nationalitäten und historischen Grenzen werden bestehen bleiben. Es wäre ein Unglück von unaussprechlicher Größe, wenn das nationale Erbe in einer ausdruckslosen internationalen Gleichartigkeit unterginge." 34 Dies entspricht im wesentlichen auch den Vorstellungen Hellers, bei dem aber die Begründung dafür, warum diese nationalen Besonderheiten erhalten bleiben sollen, deutlicher herausgearbeitet wird. Bei MacDonald steht die politische Mitwirkung im Vordergrund 35 und sie bezieht sich weitgehend auf die (inneren und äußeren) Wirtschaftsverhältnisse. Bei Heller tritt das Problem der politischen Einheitsbildung als entscheidendes Moment hinzu, und zwar dadurch, daß er den Gegenstand der politischen Gestaltung ganz bewußt unbegrenzt läßt. Zwar spielt auch bei ihm die Wirtschaft eine prominente Rolle, aber mehr als MacDonald betont er, daß die Politik alle Bereiche der menschlichen Kultur, also alle Gestaltung der menschlichen Umwelt, erfassen kann. Eben hier verwendet Heller den Begriff der Nation als „Kulturgemeinschaft" 36: Jene Gemeinschaft von Menschen, die bewußt ihre Umwelt gemeinsam gestaltet, wobei diese Gemeinschaft durch die verschiedensten Faktoren konstituiert sein kann: durch geographische und klimatische Bedingungen, durch Sprache, Brauchtum, Sitte, durch eine tatsächliche (im Heiratsverhalten begründete) oder eine vermeintliche (in Geschichtserzählungen tradierte) gemeinsame Abstammung (Heller sprach von „Rasse", heute würde man „Ethnie" sagen), durch Religion, nicht zuletzt aber auch durch die Erfahrung und die Zwangsgewalt einer gemeinsamen staatlich-politischen Herrschaft. Weil die Nation bei Heller also nicht nur Abstammungsgemeinschaft ist, sondern ebenfalls ein Produkt (und immer zugleich auch eine Bedingung) „menschlicher Wirksamkeit", wird man ihr viel Ähnlichkeit mit dem zusprechen können, was heute gemeinhin als „Zivilgesellschaft" bezeichnet wird. Ihr Verhältnis zum Staat ist ein wechselseitiges: Die amorphe Nation erhält durch den Staat erst ihre feste Gestalt - einerseits, und andererseits ist die Nation die soziologisch-materiale und geistig-sittliche Grundlage des Staates. Nicht daß alle Nationen zwingend die staatliche Einheit anstrebten oder erreichten, also Staatsnation würden, noch daß die staatliche Einheit alleine in und mit einer Nation erreicht werden könne, also der Staat nur als Nationalstaat denkbar wäre; Staat und Nation sind deutlich voneinander zu scheiden, aber zwischen ihnen besteht doch eine starke Affinität. Eben weil die Nation keine »natürliche4 Gemeinschaft ist, muß ihr durch die staatliche Macht Be34

Ebd., S. 168. Sie begründet auch sein Eintreten für die staatliche Selbständigkeit der Kolonien; vgl. ebd., S. 151-154. 36 Siehe zur Entwicklung des Begriffs Heller, Staatslehre, GS, Bd. 3, insbes. S. 246-267. 35

29 Fcslschrift Hacker

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stand und Dauer verschafft werden; andererseits erheischt die nationale Kulturgemeinschaft eine staatliche Organisation. Sozialismus bedeutet aber nicht nur die rechtmäßig Teilnahme an der staatlichen Willensbildung und staatlichen Willensausübung, sondern auch die Integration in das national-zivilgesellschaftliche Substrat der Staatsorganisation. Das Ziel des Sozialismus ist also nicht nur, den Arbeitern ihren gerechten Anteil an den Gütern zu sichern. Zwar zitiert Heller einmal zustimmend Edmund Bernatzik, bei dem er an der Universität Wien Allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre hörte 37, daß die soziale Lage der Arbeiterschaft diese von der Nation entfremde und sie zu „vaterlandslosen Gesellen" mache, während umgekehrt der Staat zum Hüter der Unternehmerinteressen werde. Aber der Sozialismus beschränkt sich nicht auf wirtschaftliche Gleichheit, sondern auf vollständige Eingliederung aller in den nationalen Lebens- und Kulturzusammenhang. Der Sozialismus strebt nicht die Aufhebung der Nationen an, er will vielmehr, daß der Arbeiter sich in die nationale Kulturgemeinschaft hineinkämpft - das ist Bedeutung und Ziel des Klassenkampfes. Sozialismus bedeutet für Heller „Kultursteigerung" im Sinne einer immer feineren „Ausprägung der Eigenart der einzelnen Nationen" dadurch, daß die Nation eben nicht mehr nur durch eine Klasse, sondern durch die Gesamtheit ihrer Mitglieder bestimmt wird. 38 „Sozialistisch sein heißt also notwendig auch national sein, wie umgekehrt." 39 So wie am Staat festgehalten wird, weil er der Ort der formalen politischen Mitwirkung ist, so wird an der Nation festgehalten, weil sie jener Ort ist, an dem der Mensch als kulturelles Wesen sich verwirklicht. Staat und Nation sind also in gleicher Weise Bedingungen der Freiheit des Menschen, der Freiheit, die sich in der Kultur, also in der Gestaltung der vorgefundenen Natur realisiert. Weil Staat und Nation keine willkürlichen Konstrukte sind, sondern von den objektiven natürlichen Bedingungen des menschlichen Kulturschaffens abhängig sind, steht für Heller nicht zu erwarten, daß eine weltumspannende, universale Nation und ein Weltstaat entstehen. Zwar sind die Grenzen der Nationen und Staaten veränderbar, aber die Pluralität und Heterogenität der Nationen und Staaten bleibt bestehen.

37 Mitteilung des Archivs der Universität Wien an den Verfasser. Das folgende Zitat bei Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, GS, Bd. 1, S. 392. 38 Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, GS, Bd. 1, S. 537 39 Heller, Sozialismus und Nation, GS, Bd. 1, S. 473.

Die internationalen Beziehungen im politischen Denken Hermann Hellers

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ΠΙ.

Die Integration der Arbeiterschaft in den Nationalstaat zielt keineswegs darauf, perfekte Gesellschaften zu schaffen, die weder in sich noch untereinander Konflikte kennen. Hellers Argumentation geht vom Individuum aus, das an sich weder gut noch böse ist, das seiner Natur nach gleichermaßen gesellig wie ungesellig ist, indem es nämlich einerseits ganz egoistisch seine eigenen Vorstellungen durchsetzen und verwirklichen möchte, dazu aber immer die anderen benötigt. Es gestaltet seine soziale Umwelt und ist immer auch Produkt dieser sozialen Umwelt. Nochmals: eine sichtbare oder unsichtbare Kraft, eine Gesetzmäßigkeit, eine Erkenntnis, die dazu führen könnte, das spannungsreiche Miteinander und Gegeneinander der Menschen auf Erden für immer wohl zu ordnen - es gibt sie nicht. Es sind gerade die chiliastischen Lehrmeinungen, die sich in der linken wie der rechten Hegeltradition ausgebildet haben, gegen die Heller argumentiert. Der Mensch lebt in der „tragischen Spannung von Idee und gesellschaftlicher Wirklichkeit". 40 Ideen, und mögen sie noch so gut erscheinen, realisieren sich nicht von selbst, sondern sie müssen mit Macht gegen vielfaltige Widersprüche durchgesetzt werden. Und Ideen wurzeln immer in der Totalität der menschlichen Existenz in ihren sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, ästhetischen, religiösen Dimensionen.41 Die Freiheit zu denken und zu handeln enthält immer auch die Freiheit zum Irrtum. Das vorrangige Ziel der Außenpolitik und der Gestaltung der internationalen Beziehungen ist die Sicherung des Friedens. Es kann jedoch nur graduell und keineswegs mit gleichsam mechanistischer Gewißheit erreicht werden. Zwar ist Heller der Auffassung, daß vor allem die imperialistische Politik der „herrschenden Kapitalistenklassen" den Interessenantagonismus der Nationen bedingt und somit zum Ersten Weltkrieg beigetragen hätten,42 doch verhält sich die Wirtschaftsordnung gegenüber dem Problem der Friedenssicherung durchaus ambivalent. In dem bereits angeführten „Gespräch zweier Friedensfreunde" führt Heller vor Augen, daß die zunehmende wirtschaftlichen Verflechtungen der modernen Welt zwar dem Frieden dienen können, gleichwohl aber friedensgefahrdenden Konfliktstoff enthalten können. Wie immer im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen ist es auch für die internationale Beziehungen verfehlt, monokausale Zusammenhänge anzunehmen. Im 40 Heller, Soziaüsmus und Nation, GS, S. 524f. Vgl. zum Menschenbüd HeUers auch die Darstellung bei Wolfgang Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Baden-Baden 1983, S. 150-179. 41 Vgl. hierzu die GegenübersteUung von Ideen und Idealtypen bei Heller, Die Ideenkreise der Gegenwart, GS, Bd. 1, S. 272ff. 42 Heller, Soziaüsmus und Nation, GS, Bd. 1, S. 511. 29'

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Gespräch der beiden Friedensfreunde entgegnet der eine der beiden Gesprächspartner seinem idealistischen Gegenüber: „Selbst wenn es keine anderen Kriegsursachen gäbe als Wirtschaftsgegensätze, - du vergißt den Wunsch nach Selbsterhaltung eines Volkes, die einfache Rauflust usw. - wie willst du diese Gegensätze ausgleichen?"43 Weil die Idee des Friedens nur mit und durch die Machtpolitik der Staaten durchgesetzt werden kann, fließen in diese Bemühungen stets auch die Unzulänglichkeiten der Menschen ein. Zustimmend zitiert Heller deshalb Kant, der den ewigen Frieden eine empirisch „unausführbare Idee" genannt hat44: „Der ,ewige Frieden* ist uns genau so eine Idee der sittlichen Vernunft, wie für Kant, eine Idee, der wir uns stetig anzunähern haben." Aber: „Wer das Leben bejaht, bejaht eine dämonische Einheit von Gegensätzen. Wir nehmen dieses Leben nicht jenseits von Gut und Böse hin, wir kämpfen für das Gute, wir sind uns aber bewußt, immer in der Dämonie der Mittel verstrickt zu bleiben. Solange es keine internationale Weltorganisation gibt, die den internationalen Gewaltstreit zum internationalen Rechtsstreit macht, haben wir das Recht und Pflicht zur internationalen Selbsterhaltung, so lange ist aber auch der Ruf: ,Nie wieder Krieg! 4 vielleicht ein Schrei der Seele, aber ganz gewiß keine Versicherung der Politik. " 4 5 Da der Frieden also nicht als gesichert angenommen werden kann und seine Verwirklichung der staatlichen Macht bedarf, hält Heller es für legitim und notwendig, daß die Staaten militärische Mittel bereithalten, um einerseits einen möglichen Angreifer abzuwehren und andererseits die Möglichkeit zu haben, eine friedliche Ordnung auch mit Gewalt durchzusetzen. Er verteidigt daher mit Nachdruck die Bereitschaft der deutschen Sozialdemokraten, zur Verteidigung des Deutschen Reichs in den Krieg zu ziehen. Er zitiert dazu aus Reichstagsreden August Bebels vom 7. März und 10. Dezember 190446 und nicht, wie man erwarten könnte, aus der bekannten Debatte vom 14. August 1914, in der Hugo Haase den Entschluß der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion verkündete, den von Reichskanzler Bethmann Hollweg beantragten Kriegsanleihen zuzustimmen, die zur Spaltung der SPD führte. Heller wollte damit offenbar mit Bebel eine weniger umstrittene Führungsfigur der Sozialdemokratie zur Bekräftigung seine Position heranziehen. Und er wollte wohl nicht an die Auseinandersetzungen über die Kriegsanleihen am Vorabend des Krieges und die Phrase des Kaisers, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur Deutsche, erinnern, denn die kaiserliche Botschaft muß für ihn jene irra43

Heller, Gespräch zweier Friedensfreunde", GS, Bd. 1, S. 423f. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 6, Berlin 1907, § 61, S. 350. 45 Heller, Sozialismus und Nation, GS, Bd. 1, S. 525. 46 Ebd., S. 524. 44

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tionale, die kontroverse politische Mitwirkung an der außenpolitischen Willensbildung verdeckende politische Haltung symbolisieren. Es geht Heller freilich nicht nur um die grundsätzliche Bereitschaft, im Angriffsfalle zu militärischen Mitteln zu greifen, sondern darum, eine militärische Macht aufzubauen, die den Staat zu einem gleichberechtigen und ernstzunehmenden Mitglied der Staatenwelt macht. Heller zählt daher auch zu den Kritikern des Versailler Friedensvertrages, der der Weimarer Republik diese Gleichberechtigung versagt habe. Ohne eine entsprechende Änderung des Friedensvertrages würden „die unterdrückten und geteilten Deutschen ...deshalb nie aufhören, die Wiederherstellung ihrer nationalen Einheit und Selbstbestimmung zu erstreben" 47, worin Heller im Grunde eine Gefahrdung des Friedens sieht. Heller vergleicht detailliert die militärische Stärke der europäischen Staaten und fordert eine angemessene Rüstung Deutschlands, die auch „Großkampfwaffen" umfassen müsse. Gleichwohl ist sich Heller im Klaren darüber, daß die nationale Selbstbestimmung - immer als Voraussetzung des Friedens gesehen - nicht durch militärische Macht alleine erreicht werden könne. Er fordert daher eine internationale Zusammenarbeit der Staaten, wobei er allerdings diese Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes skeptisch beurteilt. Der Völkerbund habe sich immer wieder als ein „Siegertrust" erwiesen, der „die Heiligung der gegenwärtigen Machtverhältnisse, also die gewaltsame Niederhaltung Deutschlands als seine Hauptaufgabe ansieht".48 Heller fordert daher, daß „die nationale Selbstbestimmung des deutschen Volkes innerhalb einer europäischen Völkerorganisation gesichert" werden solle. Der Weg zu dieser europäischen Zusammenarbeit führt für ihn nur über eine Aussöhnung mit Frankreich und unter Einschluß Großbritanniens, womit er an die klassische europäische Gleichgewichtspolitik anknüpft, während er die Paneuropa-Idee Richard Coudenhove-Kalergis ablehnt.49 Aber dennoch beruht Hellers Vorschlag einer europäischen Zusammenarbeit nicht nur auf einem ausgewogenen Machtkalkül der europäischen Staaten. Sein Ziel ist der „europäische Bundesstaat", dessen Grundlage ebenso wie die jedes einzelnen Staates eine „Kulturgemeinschaft" seiner Bürger ist: „Die Idee des ewigen Friedens muß auf das Material bezogen werden, mit dem sie verwirklicht werden soll. Völkerrecht und ein es garantierender Zwangsapparat in der Stärke, daß er den Krieg verhindern kann, entstehen nur zwischen Völkern mit

47

Heller, Soziaüsmus und Nation, GS, Bd. 1, S. 521. Ebd., S. 522. 49 Ebd., S. 522f. Zu Coudenhove-Kalergi siehe den Beitrag von Winfried in diesem Band, insbes. S. 431 ff. 48

Becker

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annähernd ähnlichen Gewohnheiten aller Art, religiösen, sittlichen und rechtlichen Überzeugungen, kurz, sie entstehen nur in einer engeren Kulturgemeinschaft. m 5 °

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. Oktober 1993 zum Maastrichter Vertrag auf diese von Heller geforderte „soziale Homogenität" der Staaten verwiesen, die die Grundlage für einen „legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung" bilde.51 Man wird in diesem Zusammenhang aber daran erinnern müssen, daß diese soziale und kulturelle Homogenität nicht nur »naturgegeben4 ist, sondern immer auch Produkt des bewußten und planvollen politischen Gestaltens. Die europäische Integration muß ihre Grenzen daher nicht in den aktuell vorhandenen Differenzen zwischen den europäischen Staaten und Nationen finden. Eine europäische Union kann durch planvolles und bewußtes politisches Gestalten hergestellt werden - nicht um ihrer selbst willen, sondern um die friedliche und freiheitliche Teilhabe der Menschen in den öffentlich-politischen Belangen, in der res publica zu erlangen.

50 51

Heller, Gespräch zweier Friedensfreunde, GS, Bd. 1, S. 424. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 89, 1994, S. 186.

Soundly based in international law" Die Erklärungen der Westmächte vom 14. und 16. Februar 1996 zum „Potsdamer Abkommen" und die Reform der Völkerrechtsordnung

Von Wilfried Fiedler

I . Die neue Fragestellung

Das zu Ende gehende Jahrhundert lenkt den Blick mit aller Vorsicht, aber unabweisbar auf die Würdigung der wichtigsten völkerrechtlichen Weichenstellungen, die es entscheidend prägten. Unter diesen Ereignissen nimmt auch die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei" eine besondere Position ein, denn sie gestaltete mit ihren grundlegenden Entscheidungen den gesamten Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte in ganz unterschiedlicher Richtung. Ebenso wie der Zweite Weltkrieg mit seinem kaum begreiflichen Ausmaß an Opfern und Zerstörungen formte die Potsdamer Konferenz die nachfolgenden Friedensjahre in einer Weise, die die politische Stabilität des Staatensystems ebenso betraf wie die Existenzgrundlage von Menschen und Völkern in Ost und West. Die Potsdamer Beschlüsse blieben jahrzehntelang im Streit, nicht nur in einer spezifischen Prägung des „kalten Krieges", sondern wegen einer Vielzahl formaler und inhaltlicher Mängel, die von den verschiedenen Seiten oft gegensätzlich interpretiert wurden. Hierauf ist im folgenden nicht mehr einzugehen, da die wesentlichen Diskussionslinien inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden können.1 Hinzugekommen sind einzelne Bereiche, die auch 1 Aus der älteren Literatur vgl. lediglich F. Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung, 4. Aufl. 1969; J. Hacker, Sowjetunion und DDR zum Potsdamer Abkommen , 1968; E. Deuerlein, Deklamation oder Ersatzfrieden?, Die Konferenz von Potsdam 1945, 1970; A. Fischer u.a., Potsdam und die deutsche Frage, 1970; E. Deuerlein, Potsdam 1945. Ende und Anfang, 1970; F. Klein/B. Meissner (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, I. Teil, 1970; B. Meissner/Th. Veiter (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, II. Teü, 1987; A. M. de Zayas, Nemesis at Potsdam, 2. Aufl., 1979; ausf. weitere Literaturangaben bei O. Kimminich, Der völkerrechtliche Hintergrund der Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in Bayern, 1993, S. 31 ff., 235 ff. Aus der neueren Literatur vgl. weiter K. Ipsen/W. Poeggel (Hrsg.), Das Verhältnis des vereinigten Deutschlands zu den osteuropäischen Nachbarn - zu

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weltweite Auswirkungen der Beschlüsse betreffen, die bislang weniger beachtet wurden.2 Dieser Umstand wäre an sich kein Anlaß, das Thema aus seinem - verdienten - historischen Schlummer zu reißen. Anstöße zur Wiederaufnahme der Thematik erfolgten in den letzten Jahren jedoch aus ganz unerwarteter Richtung. Denn der Versuch einer völkerrechtlichen Bilanz des 20. Jahrhunderts im Zeichen aktueller Fortschreibungen - etwa durch die International Law Commission (ILC) der Vereinten Nationen - warf zusammen mit neuen offiziellen Erklärungen der im Jahre 1945 maßgeblich beteiligten Staaten3 grundsätzliche Fragen der künftigen Entwicklung des Völkerrechts neu auf. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Auswirkungen des Potsdamer Abkommens auf die Entwicklungen des allgemeinen Völkerrechts konnte es 1994 noch begrüßt werden, „daß das Potsdamer Abkommen heute im wesentlichen von historischer, nicht mehr von aktueller juristischer Bedeutung ist". 4 Diese Aussage erwies sich als allzu optimistisch im Blick auf amtliche Erklärungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs vom Februar 1996. Zugleich wandte sich die scheinbar abgeschlossene Diskussion einem Fragenkreis zu, den auch Jens Hacker 5 in einer Schrift des Jahres 1996 den historischen, völkerrechtüchen und poütikwissenschaftüchen Aspekten der neuen Situation, 1993; Das Potsdamer Abkommen und der Zwei-plus-Vier-Vertrag. Die Klammer der deutschen Nachkriegsgeschichte, hrsg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Brandenburg, 1995 (mit Beiträgen von H. O. Bräutigam, W. Poeggel, Chr. Tomuschat und H. Misselwitz); B. Meissner/D. Blumenwitz/G. Gornig (Hrsg.): Das Potsdamer Abkommen, III. Teü: Rückbück nach 50 Jahren, 1996; B. Kempen, Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung des Zwei-plus-Vier-Vertrages, 1997, S. 63 ff., 249 ff.; W. Czaplinski, Das Potsdamer Abkommen nach 50 Jahren aus polnischer Sicht, Die Friedens-Warte 72 (1997), S. 49 ff. 2 Vgl. etwa die Beiträge in H. Timmermann (Hrsg.), Potsdam 1945, Konzept, Taktik, Irrtum?, 1997; ferner die Beiträge von D. Blumenwitz und G. Gornig in: B. Meissner/D. Blumenwitz/G. Gornig (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 91 ff., 103 ff. 3 Vgl. die Erklärungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens vom 14. Febr. 1996 sowie die Erklärung Frankreichs vom 16.2.1996, abgedr. in: Die FriedensWarte 72 (1997), S. 107/108. 4 W. Fiedler, Die völkerrechtüchen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens für die Entwicklungen des aügemeinen Völkerrechts, in: H. Timmermann (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 2), S. 293 ff., 303. 5 J. Hacker hat sich mehrfach zum Potsdamer Abkommen geäußert. Erwähnt seien neben den bereits genannten Schriften nur: Einführung in die Problematik des Potsdamer Abkommens, in: F. Klein/B. Meissner, a.a.O. (Anm. 1), S. 5 ff.; Die Entmilitarisierungs-Bestimmungen des Potsdamer Abkommens in: B. Meissner/Th. Veiter, a.a.O. (Anm. 1), II, S. 77 ff.; Die Nachkriegsordnung für Deutschland auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam, in: W. Becker (Hrsg.), Die Kapitulation von 1945 und der Neubeginn in Deutschland, 1987, S. 1 ff.; Die Fremdbestimmung. Übernahme der obersten Gewalt und Potsdamer Abkommen, in: E. Klein/K. Eckart (Hrsg.), Deutschland in der Weltordnung 1945-1995 (Schriftenreihe der Geseüschaft für Deutschlandforschung, Bd. 47), Berlin 1996, S. 13 ff.; weitere Nachweise in J.

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angeschnitten hatte, als er eine frühere Arbeit von Wilhelm G. Grewe heranzog, um die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verlorene Kunst des Friedensschlusses in Erinnerung zu rufen. 6 Fast zur gleichen Zeit unterwarf Christian Tomuschat das Potsdamer Abkommen einer eingehenden kritischen Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Friedensgestaltung nach kriegerischen Konflikten. 7 Das Ergebnis war insgesamt bis auf zwei Ausnahmen ernüchternd: „To sum up, Potsdam can hardly be considered a model for how peace should be concluded".8 Dieses Ergebnis wog um so schwerer, als es nach einer Musterung der Kriterien zustande kam, die die Völkerrechtsgemeinschaft an anderer Stelle, etwa im Rahmen der Politik der Vereinten Nationen oder der Normierungen der International Law Commission (ILC) 9 voraussetzt. Die Maßstäbe für eine zukunftsgerichtete Friedensgestaltung, die auf diese Weise entwickelt und angelegt wurden, werfen ein eigenartiges, zugleich aber deutliches Licht auf die Beschlüsse von Potsdam. Hinzu treten aus einer anderen, wiederum unvermuteten Richtung aktuelle Bewertungen durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zur Rechtmäßigkeit der Drohung mit oder dem Gebrauch von Atomwaffen vom 8. Juli 1996.10 Hier ging es zwar nicht unmittelbar um das Potsdamer Abkommen, sondern um die Bewertung von rechtlichen Instrumenten, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit herangezogen wurden und sie insofern mitgestalteten, wie etwa die Haager Landkriegsordnung (HLKO). Indem der IGH die gewohnheitsrechtliche Geltung der Haager Regeln bestätigte und zugleich den Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofes herstellte,11 lenkte er den Blick auf eher gegenläufige Entwicklungslinien des Völkerrechts in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die wiederholte Berufung der Alliierten auf die HLKO fand ihre Entsprechung in Nürnberg, mußte aber zugleich die Frage nach dem Verhältnis der Potsdamer Beschlüsse zu demselben, 1996 vom IGH mit herangezogenen Bewertungsmaßstab provozieren.

Hacker, Der Ostblock, 1983, S. 961 f.; ders., Integration und Verantwortung, 1995, S. 356 ff. 6 J. Hacker, Die Fremdbestimmung: Übernahme der obersten Gewalt und Potsdamer Konferenz, in: Deutschland in der Weltordnung 1945-1995, Schriftenreihe der Ges. f. Deutschlandforschung, Bd. 47, 1996, S. 13 ff., 34 f.; W. G. Grewe, Friede durch Recht?, 1985, S. 12 f. 7 Chr. Tomuschat, How to Make Peace after War - The Potsdam Agreement of 1945 Revisited, Die Friedens-Warte 72 (1997) 1, S. 11 ff.; vgl. ferner R. G. Steinhardt, The Potsdam Accord - Ex Nihilo Nihil Fit?, ebd., S. 29 ff. 8 Ebd., S. 28. 9 Näher Chr. Tomuschat, ebd., S. 24 f. 10 IGH, Advisory Opinion requested by the General Assembly, HRLJ 17 No. 710, S. 253 ff. 11 Ebd., S. 265 f., Nr. 80, 81 (unter dem Gesichtspunkt des humanitären Völkerrechts).

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Die Mißachtung der Regeln der HLKO stand im Vordergrund der eindeutigen, massiven und folgerichtigen juristischen Abrechnung mit nationalsozialistischen Kriegsverbrechern in den Nürnberger Prozessen, und auch die zeitgenössischen Diskussion widmete diesem Fragenkreis intensive Aufmerksamkeit. Zurück blieb, gefördert durch den immer stärker und dominierender werdenden Ost-West-Gegensatz, eine große Unsicherheit in bezug auf den Stand der Entwicklung des Völkerrechts unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es mußte unausweichlich erscheinen, auch das „Potsdamer Abkommen" selbst an den Kriterien zu messen, die das - damals - geltende Völkerrecht zwingend zur Verfügung stellte. Dabei konnte nicht übersehen werden, daß eine solchermaßen ausgerichtete Kritik von vorneherein eine schwache Grundlage aufweisen mußte, sofern sie aus Deutschland kam. Denn nach den Verantwortungen, die auf dem deutschen Staat durch die nationalsozialistische Staatsführung unabweisbar lagen, konnte eine Kritik nicht mit Sympathie rechnen: Das Potsdamer Abkommen war für den sowjetisch beherrschten Teil der Welt ohnehin zur unangreifbaren Magna Charta politischen Handelns geworden,12 aber auch im Westen wurde die völkerrechtliche Wirksamkeit der Potsdamer Beschlüsse trotz der Sonderposition Frankreichs kaum ernsthaft in Frage gestellt.13 In Deutschland vertrat die Bundesregierung zwar eine konsequente Linie, 14 doch fiel es in der Diskussion nicht schwer, eine Kritik am Potsdamer Abkommen eher politischen Finsterlingen zuzuordnen, sie im Zeichen übergeordneter Bündnisorientierung in das juristische Abseits zu weisen oder auf andere Weise auszuschalten. Inzwischen ist deutlich geworden, daß die Auseinandersetzung mit den Potsdamer Beschlüssen von ganz anderer Seite her gefordert ist: durch die am Ende dieses Jahrhunderts überfällige Reform des Systems der Vereinten Nationen und die damit zusammenhängende notwendig kritische Reflexion einer Fortentwicklung der Völkerrechtsordnung selbst. Vor allem aus diesem Grunde führen die neuen amtlichen Äußerungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zum Potsdamer Abkommen zu erheblichen Irritationen und Schwierigkeiten.

12 Vgl. aus neuerer Zeit nach wie vor W. Poeggel und R. Badstübner, in: K. Ipsen/W. Poeggel (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 23 ff., 29 f., 31 ff.; vgl. auch W. Czaplinski, a.a.O. (Anm. 1), S. 49. 13 Zur Position Frankreichs J. A. Frowein, Potsdam Agreements on Germany (1945), in: R. Bernhard (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law (EPIL), Inst. 4 (1982), S. 141 ff., 143, J. Hacker, a.a.O. (Anm. 5), Einführung, S. 12 f. 14 Vgl. J. Hacker, a.a.O. (Anm. 5), Einführung, S. 22; W. Fiedler, a.a.O. (Anm. 4), S. 294 f.; Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 22.

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Π . Die Erklärungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens vom 14. Februar 1996

Das U.S. State Department formulierte eine knappe grundsätzliche Stellungnahme zur Bedeutung des Potsdamer Abkommens gerade im Zeitpunkt intensiver deutsch-tschechischer Verhandlungen über eine gemeinsame Erklärung, bei der es u. a. um die Beilegung von erheblichen Kontroversen über die Bewertung der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg ging. 15 Daraus erklärt sich zugleich der Umstand, daß die Erklärung Großbritanniens vom gleichen Tage durch die britische Botschaft in Prag veröffentlicht wurde, 16 während Frankreich sich zwar ebenfalls durch seinen Botschafter in Prag äußerte, jedoch in inhaltlich anderer Weise und zeitlich versetzt.17 Die Erklärung des U.S. State Departments lautete: „February 14, 1996 - The decisions made at Potsdam by the governments of the United States, United Kingdom, and the then-Soviet Union in July/August of 1945 were soundly based in international law. The Conference conclusions have been endorsed many times since in various multilateral and büateral contexts. The Conference recognized that the transfer of the ethnic German population of Czechoslovakia had to be undertaken. Article XIII of the Conference Report called for this relocation to be »orderly and humane4. The conclusions of the Potsdam Conference are historical fact, and the United States is confident that no country wishes to call them in question. It would be inappropriate for the United States to comment on any current bilateral discussions under way between the Czech Republic and Germany."

15 Sie konnte schließlich am 21. Januar 1997 unterzeichnet werden, Text in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung v. 22. 1. 1997, S. 61 f. 16 Die Erklärung vom 14. 2. 1996 hat folgenden Wortlaut: „The conclusions of the Potsdam Agreement were endorsed by the Governments of the UK, USA and the USSR at Potsdam in July/August 1945. As far as the United Kingdom is concerned, the conclusions were soundly based in international law. The Potsdam conference recognised that the transfer of the German population of Czechoslovakia had to be undertaken, and that it should be effected in an orderly and humane manner. " 17 Die Erklärung vom 16. 2. 1996 lautet: „Dès lors que l'objectif est de ,tirer un trait sur le passé4, je ne pense pas qu'ü soit particulièrement indiqué de revenir sur la question des accords de Potsdam, et ceci pour deux raisons: - la France n'a pas participé à la Conférence de Potsdam. Elle est donc dans une situation différente des Etats-Unis, de la Grande-Bretagne et de l'URSS; - ü s'agit d'un chapitre historique qui est clos. Le véritable problème est celui de l'avenir, qui ne doit pas être l'otage du passé. Or l'avenir, c'est d'abord l'adhésion à l'Union européenne. Sur ce point, la position de la France est bien connue: soutien plein et entier à la candidature tchèque."

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Die Erklärung wirft bereits in ihrem äußeren Duktus verschiedene Rechtsfragen auf. So spricht sie, anders als die britische Erklärung, nicht vom Potsdamer Abkommen („Potsdam agreement"), sondern von den in Potsdam getroffenen Entscheidungen. Damit sind von vornherein die Zweifel an der Art des Zustandekommens beiseite gerückt und durch die Substanz der Aussagen der Potsdamer Beschlüsse ersetzt: Es handelte sich um völkerrechtlich wirksame Entscheidungen ohne Rücksicht auf mögliche, in den folgenden Jahrzehnten mehr oder weniger mühsam nachgewiesene formale Mängel eines Vertragsschlusses.18 Unterstützt wird dieser Befund durch eine Formulierung des 3. Absatzes: Die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz seien historische Tatsachen („historical fact"). Auf diese Weise wird zwar der Vertragscharakter nicht völlig beiseitegeschoben, aber durch die „historische Tatsache" so in den Hintergrund gedrängt, daß das zur Genüge und in den Einzelheiten nachgewiesene politische Konsensgefüge der Potsdamer Konferenz 19 leicht aus dem Blick gerät: Historische Tatsachen unterliegen kaum juristischen Zweifeln oder Anfechtungen, mögen sich diese gleichwohl unerbittlich aufdrängen. Unmittelbar angefügt ist in diesem Sinne eine Formulierung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: „... and the United States is confident that no country wishes to call them (erg.: die Konferenzergebnisse) in question".

Damit korrespondiert die Feststellung des vierten Absatzes, die Vereinigten Staaten hielten es für unangemessen („inappropriate"), zu laufenden Verhandlungen zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland Stellung zu nehmen. Auch diese Bemerkung kann unterschiedlich interpretiert werden, betrifft aber mehr das politische Procedere. Juristisch auffälliger erscheint demgegenüber, daß die Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit den Potsdamer Entscheidungen ausdrücklich die daran beteiligten Staaten erwähnen (USA, Großbritannien und die ehemalige Sowjetunion), während die britische Erklärung die rechtlichen Konsequenzen aus der Sicht des eigenen Staates formuliert: „as far as the United Kingdom is concerned". Die wesentliche inhaltliche Aussage beider Erklärungen ist hingegen identisch in zwei Richtungen. Zunächst in der ungewöhnlichen Aussage über die Völkerrechtsmäßigkeit der Konferenzergebnisse: sie seien „soundly based in international law". Dieser Passus taucht gleichermaßen in der britischen Erklärung auf, doch wird er 18 Vgl. auch die Hinweise von Chr. Tomuschat auf die faktische Kompetenz der Alliierten, zugleich aber auf ihre ungewisse rechtliche Basis, a.a.O. (Anm. 7), S. 17 f. 19 Vgl. aus neuerer Zeit lediglich B. Meissner, Die Potsdamer Konferenz, in: B. Meissner/D. Blumenwitz/G. Gornig (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 2), S. 9 ff., 11 ff. m.w.N.

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in der Erklärung der USA ergänzt durch den Hinweis, die Konferenzergebnisse, „have been endorsed many times since in various multilateral and bilateral contexts". Beide Formulierungen lassen nach dem Grund der einerseits emphatischen, andererseits bekräftigenden Wortwahl fragen. Der Hinweis auf die im Völkerrecht „fest verankerten" bzw. „fest gegründeten" Konferenzergebnisse betont die Völkerrechtsmäßigkeit so eindringlich, daß vermutet werden kann, man habe sich vielleicht ausdrücklich gegen nicht näher bezeichnete erhebliche Zweifel wehren wollen, wie sie offiziell nicht nur von deutscher Seite geäußert worden waren. Der Hinweis auf die spätere Staatenpraxis versucht, eine entsprechende Kritik zusätzlich abzuwehren. Möglich ist auch, die Ergänzungsformulierung als Begründung des vorangestellten Passus („soundly based") zu verstehen. Wie immer eine exakte Interpretation des Wortlautes aussehen mag, in jedem Falle kann der Eindruck einer an sich überflüssigen Verteidigung entstehen. Sie kommt in der britischen Erklärung freilich ohne den Hinweis auf die Staatenpraxis aus. Die zweite inhaltlich bedeutsame Aussage bezieht sich auf den in der Literatur hinreichend erörterten Art. XIII des Potsdamer Abkommens,20 der in bezug auf die Tschechoslowakei wiederholt und bekräftigt wird, wenn auch mit leichten sprachlichen Veränderungen. War im ursprünglichen Text noch vom „transfer" der „German populations or elements thereof die Rede,21 so ist nunmehr allgemeiner „the ethnic German population of Czechoslovakia" genannt, doch ändert dies zunächst nichts an der Aussage selbst, die im Jahre 1945, wie nunmehr auch im Jahre 1996, die entsprechende Bevölkerungsverschiebung billigt („had to be undertaken"). Dennoch liegt es nahe, die Erklärungen von 1996 lediglich auf die Dokumente von 1945 zu beziehen und insofern von einer bloßen Bestätigung einer historischen Position auszugehen. Aber auch bei vorsichtiger Beurteilung kann es nicht verborgen bleiben, daß die Bekräftigung eines Konferenzergebnisses nach über fünfzig Jahren mehr bedeutet als eine nur zeitgenössische Interpretation der Nachkriegsjahre. Es wird von den an den Potsdamer Beschlüssen beteiligten Staaten nicht verlangt werden können, daß sie ihr eigenes Handeln auch nach einem halben Jahrhundert rechtlich, politisch oder moralisch kritisieren. Es fallt aber auf, daß die Erklärungen vom Februar 1996 ohne sichtbare Einwirkung der geradezu umwälzenden Entwicklung etwa des Menschenrechtsschutzes während der letzten Jahrzehnte geblieben sind. Die historische rechtliche Position wäre von einer

20 Vgl. statt anderer die ausführüche und behutsame Interpretation von O. Kimminich, Potsdam und die Frage der Vertreibung. Folgen für Geschichte und Kultur OstMitteleuropas, in: B./Meissner/D. Blumenwitz/G. Gornig (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 2), S. 33 ff. 21 Text bei /. v. Münch, Dokumente des geteüten Deutschland, 2. Aufl., 1976, S. 42 f.

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zeitgerechteren völkerrechtlichen Beurteilung der Massendeportationen des Jahres 1945 aus der Sicht der Alliierten nicht notwendig angegriffen worden. Statt dessen fügen beide Erklärungen verkürzt den Passus des Art. XIII hinzu, der die Vertreibung in einer ordnungsgemäßen und humanen Weise („orderly and humane") vorsieht. Auch hier wird man nach dem Sinn des Nachsatzes fragen müssen. Daß auf ihn besonderes Gewicht gelegt wurde, kann mit der Entstehung des Artikels begründet werden. Kein anderer Autor als Otto Kimminich hat in vergleichbarer Weise die Bemühungen der USA und Großbritanniens um eine Humanisierung der Vertreibungen herausgearbeitet und den Nachweis erbracht, daß von den Potsdamer Beschlüssen keineswegs ein Vertreibungsbefehl ausging.22 Kein anderer Autor hat in dieser zugleich äußerst zurückhaltenden Weise aber auch so deutlich gemacht, daß der Wortlaut des Art. XIII gleichwohl eine Kapitulation vor vollendeten Tatsachen bedeuten mußte und der Hinweis auf eine „ordnungsgemäße und humane" Durchführung der Vertreibung weitgehend ins Leere stieß.23 Wenn nunmehr die - nach wie vor bezweifelte - politisch-rechtliche Absegnung der „wilden" Vertreibungen zusammen mit den „offiziellen" Umsiedlungen trotz ihrer nachgewiesenen Disparität wiederholt werden, so kann über diese Wortwahl aus der Perspektive des humanitären Völkerrechts auch nicht durch den Hinweis auf Abs. 3 der Erklärung hinweggetröstet werden: die Konferenzergebnisse seien „historical fact". Der Versuch, das Potsdamer Abkommen auf diese Weise außer Streit zu stellen, würde die Beurteilung der künftigen Entwicklungslinien des Völkerrechts zwar erheblich erleichtern, zugleich aber die Strukturen des gegenwärtig geltenden Völkerrechts in zentralen Punkten verfalschen (dazu unter IV). Damit wäre wenig gewonnen, von den offenkundigen Problemen wissenschaftlicher Verantwortung ganz abgesehen. Ihr entspricht es, auf die mißglückte Formulierung des dritten Absatzes der Erklärung der USA hinzuweisen und den zweiten Satz so zu interpretieren, wie dies in der Literatur nicht selten bereits geschehen ist: als Beleg für die Ohnmacht der Westmächte im Jahre 1945 und den meist nur papierenen Schutz von Millionen von Zivilisten: „orderly and humane" als Ausdruck von verständlicher Selbstberuhigung angesichts gegenläufiger Fakten.24 Die Erklärung der USA fügt in die bekannte Wortwahl des Jahres 1945 eine sprachliche Variante ein, die in der britischen Fassung nicht zu finden ist. Denn sie umschreibt den „transfer" mit der gleichgeordneten Bezeichnung 22

Vgl. O. Kimminich, a.a.O. (Anm. 20), bes. S. 47 ff. Näher W. Fiedler, a.a.O. (Anm. 4), S. 299 f. 24 Vgl. für die Oder-Neiße-Gebiete nunmehr die Zahlenangaben bei B. Kempen, a.a.O. (Anm. 2), S. 66, zu denen die über 3 Mill. Menschen aus den Sudetengebieten hinzutreten, sowie die Vertriebenen, die in den anderen osteuropäischen Gebieten seit Jahrhunderten gelebt hatten; dazu W. Fiedler, a.a.O. (Anm. 4), S. 301 ff. 23

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„relocation". Aber auch auf diese Weise wird dem „Transfer" nur wenig von der Kälte technokratischer Abläufe genommen. Seit jeher stieß die Bezeichnung als „Transfer" auf die Kritik derjenigen, die in Vertreibungen eher die Deportation von Menschen sahen, auf die die Einstufung als mehr technischer Vorgang von vornherein nicht zutreffen konnte. Wenn nunmehr mit dem Begriff der „relocation" stärker die „Umsiedlung" thematisiert wird, so erscheinen dadurch immerhin die betroffenen Menschen wieder im Zentrum der Diskussion. Aber auch die geänderte Wortwahl kann zu neuen Fragen führen. Denn mit der „relocation" könnte sich nicht nur die eher neutrale „Umsiedlung" verbinden, sondern auch die „Rücksiedlung" mit ihrer unverkennbaren Verwandtschaft zur „Repatriierung". Ein derartiges (Neben-)Verständnis würde die Umkehr einer 700 bis 800 Jahre zurückliegenden Besiedlung bedeuten und ein eher monströses Rechtsverständnis andeuten. Dieses würde sich zudem auf einen Staat beziehen, der - wie die Tschechoslowakei - erst im Jahre 1919 gegründet wurde, aus der Sicht des Jahres 1945 vor nur 26 Jahren. Angesichts dieser Faktenlage scheint eine entsprechend hintersinnige Interpretation der „relocation" eher fernliegend und absurd zu sein. Zweifel erwecken andere Abweichungen des Wortlautes der amerikanischen und der britischen Erklärung. Während sich die britische Erklärung mit der Erwähnung des „transfer of the German population of Czechoslovakia" an den offiziellen Wortlaut von 1945 hält, spricht das U.S. State Department von „transfer of the ethnic German population". Dadurch müssen unversehens die rechtlichen Unterschiede zwischen einer ethnischen oder anderweitig gekennzeichneten deutschen Bevölkerung in den Sinn kommen. Spielt etwa die Staatsangehörigkeit eine besondere Rolle,25 oder handelt es sich nur um einen unbedachten Umgang mit der Sprache? Von einem amtlichen Dokument wird man dies nicht vermuten können, so daß von einem bewußt formulierten Text auszugehen ist. Welches aber sind die rechtlichen Folgen der erwähnten Differenzierung? ED. Die Erklärung des französischen Botschafters und die Position der Bundesrepublik Deutschland

Die Erklärung des französischen Botschafters vom 16. Februar 1996 weicht in entscheidenden Aussagen von den beiden zuvor besprochenen ab. Fortgeführt wird die bekannte kritische Linie Frankreichs, die nicht zuletzt darauf

25

Vgl. Η. v. Mangoldt, Die Vertriebenen im Staatsangehörigkeitsrecht, in: D. Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, 1987, S. 161 ff.; S. Krülle, Optionsund UmsiedlungsVerträge, ebd., S. 131 ff.

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beruhte, daß Frankreich anders als die USA, Großbritannien und die ehemalige Sowjetunion zwar an der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 beteiligt wurde, nicht aber an der Potsdamer Konferenz selbst und Frankreich eine Unterzeichnung des Protokolls daher ablehnte. Die Erklärung vom 16. Februar 1996 weist auf diesen Unterschied ausdrücklich hin. Frankreich hält es danach nicht für angezeigt, auf das Potsdamer Abkommen zurückzukommen. Diese Position ähnelt der von der Bundesregierung seit langem vertretenen Linie. Der zweite Punkt der Begründung im französischen Text zeigt jedoch Gemeinsamkeiten mit der amerikanischen Erklärung: es handele sich um ein abgeschlossenes historisches Kapitel. Im Unterschied zu diesen Erklärungen folgt jedoch keine Kommentierung genereller oder spezifischer Fragen des Inhalts des Potsdamer Abkommens, sondern eine unmittelbare Hinwendung zu den Zukunftsaspekten und zu dem - offen unterstützten - Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union. Die Grundlage für diese zukunftsbezogene Position wird schon zu Beginn gelegt durch das Kriterium, „einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen". Auf diese Weise gelingt es, einerseits die seit Jahrzehnten gezeigte offizielle Position Frankreichs beizubehalten, andererseits den Blick politisch von den wenig angenehmen Seiten des Potsdamer Abkommens auf künftige Entwicklungsmöglichkeiten zu lenken. In diesem Punkte trifft sich die französische mit der deutschen Position, wenn auch auf unterschiedlicher politischer und rechtlicher Grundlage. Jens Hacker hat sich mit dieser Position mehrfach intensiv beschäftigt. 26 Sie kehrt wieder in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage 27 im Bundestag vom 23. April 1996,28 insbesondere in der Aussage, daß „die Bundesregierung keine Veranlassung sieht, Aussagen von Vertretern der drei Teilnehmerstaaten der Potsdamer Konferenz über die damaligen Beschlüsse zu kommentieren".29 In dieser Formulierung zeigt sich die Verbindungslinie zu der von der Bundesregierung stets betonten Auffassung, es handele sich bei dem Potsdamer Abkommen um eine „res inter alios acta". Mit dieser schon traditionellen Begründung schuf sich die Bundesregierung zugleich auch den Freiraum, um einzelne Bereiche der Potsdamer Beschlüsse abweichend zu be-

6 Vgl. nur: Die Nachkriegs Ordnung für Deutschland auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam, in: W. Becker, a.a.O. (Anm. 5), S. 1 ff., 16 ff.: „Jede einzelne Bestimmung des Potsdamer Abkommens bedarf einer näheren Prüfung darauf hin, ob ihr Frankreich zugestimmt hat oder nicht und ob sie Gegenstand eines amtlichen Vorbehalts war oder nicht". Eingehend jetzt D. Hüser, Frankreich und die Potsdamer Konferenz - Die deutsche Einheit in französischer Perspektive, in: H. Timmermann (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 2), S. 59 ff., bes. S. 68 ff. m.w.N. 27 Der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS. 28 BT-Drucks 13/4439 v. 23. 4. 1996. 29 Ebd., S. 4 f.

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urteilen. So wird in der „Vorbemerkung" ausdrücklich und mit wörtlichem Zitat auf eine Passage aus einem Zeitungsinterview von Bundesaußenminister Kinkel vom 20. Februar 1996 Bezug genommen, in dem darauf hingewiesen wird, daß „in Übereinstimmung mit der deutschen Völkerrechtswissenschaft ... alle früheren Bundesregierungen und auch die jetzige Regierung die Vertreibung der Deutschen nach Kriegsende immer als rechtswidrig verurteilt und die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 nicht als Rechtfertigung der Vertreibung angesehen" haben.30 Dem möglichen Vorwurf, hiermit werde gleichwohl das Potsdamer Abkommen „kommentiert", baut die Antwort dadurch vor, es gehe bei den Gesprächen mit der Tschechischen Republik um die Gestaltung der Zukunft, nicht um eine Bewertung der Gültigkeit der Potsdamer Beschlüsse, sondern um Versöhnung und Bewältigung der Vergangenheit, „insbesondere auch angemessene Worte zum schweren Schicksal der vertriebenen Sudetendeutschen" zu finden. 31 Nur in diesem Zusammenhang seien die Potsdamer Beschlüsse erwähnt worden. Die Bundesregierung hat damit in geschickter Weise eigene Auffassungen zum Potsdamer Abkommen betont, gleichzeitig aber eine Bewertung der Gültigkeit der Potsdamer Beschlüsse ausdrücklich ausgeschlossen. Darin kann zugleich eine Reaktion auf die Erklärung des U.S. State Departments vom 14. Februar 1996 gesehen werden, insbesondere auf Abs. 3, wonach, wie bereits erwähnt, „The United States is confident that no country wishes to call them in question." Einer entsprechenden amtlichen Bemerkung hätte es in bezug auf die Bundesregierung freilich gar nicht bedurft, denn diese hat schon früh auf Gebietsforderungen gegenüber der Tschechoslowakei verzichtet. Daß sie gleichwohl die Vertreibungen nicht für rechtmäßig hielt und hält, ändert an der längst erreichten territorialen Befriedung des Verhältnisses zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik nichts. Eine sorgsame Beurteilung des erwähnten Art. XIII gelangt ohnehin zu dem bereits behandelten Ergebnis, die entsprechende Bestimmung enthalte keinen „Vertreibungsbefehl". Daß im übrigen eine rechtlich-politische Grauzone im Blick auf Folgewirkungen bestehen blieb, ist an anderer Stelle hinreichend deutlich formuliert worden.32

30

Ebd., S. 3. Ebd. 32 O. Kimminich wies 1996 deutüch auf „beunruhigende Perspektiven44 hin: „Die Vertreibung von 1945/46 hat offenbar in den Vertreiberstaaten mentale Wirkungen erzeugt, die nicht durch Grenzanerkennungen, Bekenntnisse zum Gewaltverbot und zur Versöhnung, Hilfsbereitschaft und Milüardeninvestitionen zu verändern sind. Es sind Wirkungen, die das ethische Fundament der dort neu zu errichtenden Rechtsordnungen gefährden und damit die Zukunft Ost- und Mitteleuropas in düsterem Licht erscheinen lassen44, a.a.O. (Anm. 20), S. 51. 31

30 Festschrift Hacker

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I V . „Historische Tatsache" und „Schlußstrich"

Zwischen der französischen Stellungnahme vom 16. Februar 1996 und der Antwort der Bundesregierung vom 23. April 1996 bestehen weitere und auffallende Gemeinsamkeiten, die ebenfalls als Reaktion auf die - nicht eigens erwähnte - Erklärung des U.S. State Departments gewertet werden können. Denn die Bundesregierung beginnt ihre Antwort mit einer ausdrücklichen Zustimmung zur Prager Erklärung Frankreichs, es handele sich bei den Potsdamer Beschlüssen um ein „abgeschlossenes historisches Kapitel". Das französische wie das deutsche Dokument knüpfen dabei an die Feststellung des U.S. State Departments in bezug auf die Potsdamer Konferenz als „historical fact" an. Diese auffällige Gemeinsamkeit dreier amtlicher Stellungnahmen muß über die bereits aufgeworfenen Fragen hinaus auch nach den juristischen Konsequenzen fragen, selbst im Blick auf den in der französischen Erklärung erwähnten „Schlußstrich unter die Vergangenheit". Die Erwähnung eines „abgeschlossenen historischen Kapitels" könnte in diesem Zusammenhang möglicherweise als Thematisierung der Frage von Gültigkeit und Geltung der Potsdamer Beschlüsse verstanden werden, wenn auch in ungewöhnlicher Form. Fragen politischer oder historischer Art werden nicht selten auf diese Weise beantwortet. Für eine völkerrechtliche Beurteilung genügt der Hinweis auf den historischen Abschluß jedoch keinesfalls, denn in dem Maße, in dem das Völkerrecht auf die ständige Orientierung an der Staatenpraxis angewiesen ist, wächst die Notwendigkeit, historische Ereignisse ganz selbstverständlich in die aktuelle juristische Bewertung einzubeziehen. Insofern stellt die historische Unabänderlichkeit kein Verbot der Neubeurteilung oder einer anderweitigen Berücksichtigung dar. Die juristisch gebotene historische Betrachtung hat grundsätzlich nichts mit der Infragestellung historischer Entscheidungen zu tun, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten. Zu diesen Umständen zählt etwa, ob die historische Betrachtung von „offizieller" staatlicher Seite oder durch die Wissenschaft selbst erfolgt. Die Völkerrechtswissenschaft hat es stets mit „historical facts" zu tun und zusätzlich mit dem Problem ihrer Bewertung. Daß das Potsdamer Abkommen ausdrücklich als „historical fact" bezeichnet wird, ändert nichts daran, daß vor und nach diesem Zeitpunkt stets und fortlaufend neue historische Tatsachen zur Bewertung anstanden bzw. neu anstehen. Wissenschaftlich gesehen kann es ein Zufall sein, welches Datum desselben Jahres eine gesteigerte Beachtung findet, und viel spricht dafür, etwa die Gründung der Vereinten Nationen für historisch bedeutsamer anzusehen als die Potsdamer Beschlüsse. Selbst im gleichen Fragenkreis, in bezug auf die Sicherung der Grenzen der Tschechoslowakei, kann zweifelhaft sein, wo in einer turbulenten historischen Entwicklung ein historischer Schlußstrich zu ziehen ist. Im Blick auf das Verhalten Frankreichs und Großbritanniens als Signatar-Mächten des „Münchener Abkommens" vom 29. September 193833, mag es für diese politisch ver-

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ständlich erscheinen, einen Schlußstrich auch wissenschaftlich zu ziehen, doch könnte dies für eine völkerrechtliche Fragestellung nicht ausschlaggebend sein. Die juristische Beurteilung der Stellungnahmen beider Staaten im Jahre 1996 kann vielmehr aus der besonderen historischen Konstellation Antworten auch auf die Frage finden, warum Großbritannien und Frankreich die Stabilität der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik seit 1945 und heute rechtlich wie politisch besonders unterstützen. Auch bei einer entsprechend vorsichtigen Würdigung der Texte von 1996 ist nicht davon auszugehen, daß die Betonung als historisch abgeschlossene Periode mehr sein kann als eine politische Bekräftigung, jedoch ohne juristischen Aussagewert. V . Die künftige Entwicklung des Völkerrechts

1. Sektoral unterschiedliche Bewertungen Der juristische Kern der Aussagen von 1996 ist, soweit die Vereinigten Staaten und Großbritannien betroffen sind, in der Feststellung zu suchen, die Potsdamer Beschlüsse seien „fest im Völkerrecht verankert" einschließlich aller unmittelbar ergänzenden Aussagen. Daß an der Völkerrechtsmäßigkeit des Potsdamer Abkommens nicht unerhebliche Zweifel bestehen, ist in der Literatur hinlänglich diskutiert worden, insbesondere in bezug auf die Art und Weise des Vertragsschlusses.34 Hinzu kommt, daß das Potsdamer Abkommen nur schwer eine Gesamtbeurteilung zuläßt, denn es stellt, wie Chr. Tomuschat ausdrücklich betont, ein „Konglomerat unterschiedlicher Elemente" dar, 35 deren Bewertung zu sektoral unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.36 Läßt man die bekannten Zweifel am völkerrechtlich wirksamen Zustandekommen als Vertrag beiseite, so bleiben durchaus unterschiedlich einzuschätzende Par-

33 Dieses ruhte seinerseits u. a. auf dem GebietsabtretungsVorschlag Frankreichs und Großbritanniens vom 19. September 1938, den die Tschechoslowakei am 21. September 1938 annahm, vgl. Doc. on British Foreign Poücy; 3. Reihe, Bd. II, 1949, S. 404 ff., 447 f. 34 Nachweise bei W. Fiedler, a.a.O. (Anm. 4), S. 297; vgl. auch Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 17. 35 Ebd., S. 13. 36 Positiv etwa in bezug auf die Einrichtung ernes Internationalen Strafgerichtshofs, vgl. Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 28; vgl. bereits J. A. Fr owein, Ermutigender Neubeginn, FAZ, 28. 9. 1996, Beüage. Zur Fortentwicklung der Tribunale von Tokyo und Nürnberg zu einem Weltgerichtshof vgl. nunmehr H.-P. Kaul, Auf dem Weg zum Weltstrafgerichtshof, Vereinte Nationen 5/1997, S. 177 ff. Zu den Impulsen durch das „Nürnberger Recht", Y. Ternon, Der verbrecherische Staat, 1996, S. 26 ff. 30*

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tien des Textes übrig, die zu divergierenden Bewertungen fuhren können. Dieser Uneinheitlichkeit werden die Stellungnahmen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens von 1996 nicht gerecht. Die Potsdamer Konferenzergebnisse werden vielmehr blockhaft und undifferenziert als „soundly based in international law" bezeichnet. Beschränkt man sich lediglich auf die durch die Erklärungen herausgehobenen Probleme des Art. XIII und die damit verbundenen territorialen Veränderungen, so gilt die neuere Bekräftigung ausgerechnet einem Bereich, der in bezug auf den heute gewonnenen völkerrechtlichen Schutzstandard die größten Zweifel erweckt. Chr. Tomuschat bezeichnet die Vertreibungen als „one of the largest actions of forced resettlement - according to present-day terminology ethnic cleansing".37 Damit ist eine Verbindungslinie zu den „ethnischen Säuberungen" der Gegenwart gezogen, die ohnehin seit langem offensichtlich ist, auch wenn sie selbst von kundigen Völkerrechtlern nicht •

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·

immer ausdrücklich gezogen wird. Vergleicht man zusätzlich die Zahl der im früheren Jugoslawien betroffenen Menschen mit den für 1945 zur Verfügung stehenden Daten, so wird die ungeheuere Dimension der Deportationen unmittelbar nach 1945 bewußt. Es handelte sich um nichts anderes als eine kollektive Bestrafung der in Ostdeutschland und Osteuropa seit Jahrhunderten lebenden Deutschen.39 Hätten entsprechende Aktionen in der Gegenwart stattgefunden, so wäre die Beurteilung eindeutig in die Kategorien einzuordnen, die die ILC mit dem Begriff des „international crime" bezeichnet und die in dem auch von Tomuschat genannten Art. 18 des „Draft Code of Crimes against the Peace and the Security of Mankind" mit aufgelistet sind: „(g) arbitrary deportation or forcible transfer of population".40 In diesem Punkte zeigt sich zugleich, daß der besänftigende Hinweis auf die „ordnungsgemäße und humane" Form der Umsiedlung den Kern der rechtlichen Problematik nicht trifft. Denn nicht die Art und Weise der Aktion erfüllt die heute eindeutig als völkerrechtswidrig einzustufende Vorgehens-

37

A.a.O. (Anm. 7), S. 23. Vgl. auch W. Fiedler, a.a.O. (Anm. 4), S. 300 ff. 39 Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 23. Deutlich wird durch diesen Autor auch gemacht, daß ähnliche Bestrafungsaktionen bei späteren, selbst schweren kriegerischen Konflikten nicht mehr durchgeführt wurden und auch die Entwürfe der ILC den Strafaspekt, etwa bei Gegenmaßnahmen, ausschlossen, ebd., S. 14 ff. 40 Report of the ILC, 48. Sitzg., 6 . - 2 6 . Juli 1996, GA Off. Ree., 51. Sitzg. (A/51/10), S. 14. Zu erwähnen ist ferner Art. 20 des Entwurfs, ferner die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. 12. 1948, die in Art. II bestimmte Handlungen erfaßt, „die in der Absicht begangen (werden), eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teüweise zu zerstören" (UNTS Vol. 78, p. 277; BGBl. 1954 II, S. 730). 38

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weise, sondern die Zwangsumsiedlung selbst, unabhängig von gelegentlich so genannten „Exzessen". Diese mögen die Deportationen begleiten oder nicht: die Vertreibungen selbst sind gemeint, wenn heute von Völkerrechtsverbrechen in den Kodifizierungsentwürfen der ILC die Rede ist. 2. Das Völkerrecht im Jahre 1945 und aus heutiger Sicht: Notwendige Divergenzen Dennoch wäre es unangebracht, heutige Beurteilungen ohne weiteres auf das Jahr 1945 zu projizieren. Denn die Umstände, in denen die Potsdamer Konferenz abzulaufen hatte, weisen historische Besonderheiten erheblichen Ausmaßes auf. 41 Sie verbieten eine pauschale und undifferenzierte Anwendung rechtlicher Maßstäbe der Gegenwart. Der Hinweis auf das „international law" nimmt zunächst notwendig Bezug auf die Situation nach Kriegsende, und es wäre nach dem Stand des Völkerrechts zu diesem Zeitpunkt zu fragen. Dabei ist der damals konkret zu beachtende Rechtsstandard zu ermitteln, und es steht außer Frage, daß die heutige Einschätzung etwa der Menschenrechte für diese historische Periode nicht vorauszusetzen ist. Fest steht hingegen, daß die Praxis der Vertreibung durch die damalige Völkerrechtsordnung nicht abgedeckt war, und eine zeitgerechte Interpretation der HLKO und anderer Dokumente die Völkerrechtswidrigkeit der entsprechenden Zwangsmaßnahmen ergeben müßte.42 Auf diesen Befund nahm auch Bundesaußenminister Kinkel in dem vor dem Bundestag zitierten Passus Bezug.43 Die HLKO geht selbst nicht ausdrücklich auf ein Vertreibungsverbot ein, sondern setzte die Praxis des 19. Jahrhunderts voraus, nach der Massenvertreibungen, wie sie seit 1945 stattfanden, von vornherein außerhalb jeder juristischen Vorstellung blieben. a) 1945 - eine historische Ausnahmesituation? Denkbar erscheint, die unmittelbare Nachkriegszeit im Sinne einer historischen Einmaligkeit zu betrachten und aus diesem Grunde besondere Maßstäbe anzulegen. Das Kriterium historischer Einmaligkeit enthält jedoch seinerseits erhebliche Risiken, nicht zuletzt im Blick auf die Staatenpraxis und die von ihr dominant ausgehende Wirkung auf die völkerrechtliche Normbildung. „Ausnahmesituationen" bieten seit jeher ein Feld für dogmatisch-juristisch schwer nachzuvollziehende, beliebig wiederholbare politische Willkürentscheidungen und entlasten die juristische Problembewältigung nur unerheb41 Etwa die Notwendigkeit schneüer Entscheidung, vgl. Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 12. 42 Vgl. jetzt auch Chr. Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 ff., 34 f. 43

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lieh. Der Annahme einer juristischen Ausnahmesituation stehen zudem die nicht geringen Folgewirkungen entgegen, die die unvermeidliche Geschichtsbezogenheit der Völkerrechtsordnung dokumentieren.44 Nicht zuletzt sind es erschreckende Fernwirkungen, die sich unvermutet zeigen, gerade in der Verbindung der Deportationen der Zeit vor und nach 1945 mit den „ethnischen Säuberungen" etwa in Ex-Jugoslawien.45 Fernwirkungen anderer Art zeigten sich in der Berücksichtigung der territorialen Bestimmungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages. Sie folgten den Entscheidungen, die in Potsdam zwar rechtlich nur vorläufig getroffen worden waren, die aber 1990 außer Streit gestellt worden sind. Das Potsdamer Abkommen ist im Zwei-plus-VierVertrag nicht ausdrücklich erwähnt worden, doch lieferte es die faktische Ausgangssituation46 für weitreichende Vertragsbestimmungen des Jahres 1990.47 Auch diese Fernwirkung könnte nur schwer auf eine juristische Ausnahmesituation gestützt werden. Nicht zuletzt die bewußte Offenheit der Verträge in der Frage der Begründung der territorialen Veränderungen beläßt den Parteien und politisch Betroffenen die Möglichkeit, den eigenen - entgegengesetzten - Standpunkt zur Beurteilung etwa der Oder-Neiße-Linie beizubehalten.48 Auch insoweit kann man nicht von einer jegliche Diskussion erstikkenden historisch-juristischen Ausnahmesituation ausgehen.

44 Damit zugleich den „engen, wesensmäßigen und notwendigen Zusammenhang zwischen Völkerrecht und politischem System", vgl. W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 25. 45 Vgl. etwa K. Ipsen, in: K. Ipsen/W. Poeggel (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 97. 46 Vgl. dazu J. Hacker, a.a.O. (Anm. 6), S. 35, der zutreffend feststellt, die staatliche Spaltung Deutschlands gehe nicht auf Vereinbarungen der Alliierten zurück, sondern sei die Folge der 1945 einsetzenden politischen Entwicklung. Art. 1 Abs. 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrages bestätigt die fehlende bzw. umstrittene rechtliche Urheberschaft von Potsdam. Vgl. auch die Bezugnahme auf das Potsdamer Abkommen in der sowjetischen Erklärung zum Beginn der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen vom 14. 3. 1990, EA 1990 I, D 493. 47 So insbesondere für die territoriale Regelung des Art. 1; vgl. auch Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 7), S. 21 f. Ausführlich J. Hacker, Die Interpretation der Dreiund Vier-Mächte-Beschlüsse über Deutschland von 1944/45 durch die UdSSR und DDR, in: B. Meissner, D. Blumenwitz, G. Gornig, a.a.O. (Anm. 1), S. 135 ff., 149 ff. 48 Zur Position Polens vgl. etwa A. Uschakow, in: B. Meissner/D. Blumenwitz/ G. Gornig (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 155 ff., 156 ff.; ders., in: B.Meissner/ Th. Veiter, a.a.O. (Anm. 1), S. 179 ff.; B. Ihme-Tuchel, Die „Friedensgrenze" an Oder und Neiße und die ostdeutsch-polnische „Völkerfreundschaft" in den fünfziger Jahren, in: H. Timmermann, a.a.O. (Anm. 2), S. 306 ff.; aus polnischer Sicht, aber noch im alten Stile, W. Czaplinski, a.a.O. (Anm. 1), S. 52 ff.

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b) Die Nürnberger Rechtsprinzipien Die Annahme einer dominanten juristischen Ausnahmesituation läßt sich auch kaum mit den Rechtsprinzipien vereinbaren, die für den Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof aufgestellt wurden und in den Akzentuierungen ihre Wurzeln finden, die auch in der HLKO selbst verankert sind. Die schon frühe Qualifizierung als humanitäres Völkergewohnheitsrecht schuf Maßstäbe der HLKO, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch den alliierten Siegermächten Grenzen setzten.49 Versuche, diese Grenzen in einem juristischen Niemandsland zwischen debellatio und occupatio bellica versikkera zu lassen,50 verzeichneten trotz anfänglicher Irritationen keinen dauerhaften Erfolg. Ebensowenig der entgegengesetzte Versuch, die HLKO ohne Rücksicht auf ihre durch sie selbst vorgesehene Fortbildungsmöglichkeit51 starr und unbeweglich anzuwenden. Die in Nürnberg praktizierten Grundforderungen des humanitären Völkerrechts waren auf unmittelbare Gestaltung des Völkerrechts angelegt und erhielten in diesem Sinne auch ohne Verzug die ausdrückliche Billigung der Vereinten Nationen.52 Sie sind in die Tradition des bindenden Völkergewohnheitsrechts durch den IGH aufgenommen worden.53 Versucht man, das Potsdamer Abkommen in die in Nürnberg entwikkelten rechtlichen Grundlinien einzuordnen, so ergeben sich augenfällige Widersprüche, die aus der spezifischen Nachkriegssituation zu erklären sind. Das zeitgleiche Nebeneinander zukunftsträchtiger Völkerrechtsgestaltung durch die Gründung der Vereinten Nationen und die Praktizierung der Prinzipien der Nürnberger Gerichtsbarkeit einerseits, die in manchen Teilen der Potsdamer Texte deutlich heraustretende Mißachtung des geltenden Völkerrechts andererseits: beide Elemente zählen zu der weitgehend unkoordinierten Phase ei-

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Zur notwendigen Differenzierung im Umgang mit den Kriegsverbrecherprozessen nach 1945 und ihrer Reichweite ausführüch B. Schöbener, Kriegsverbrecherprozesse vor amerikanischen Müitärgerichten: die Dachauer Prozesse, in: B. Meissner/D. Blumenwitz/G. Gornig (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 53 ff. 50 Kennzeichnend das Gutachten der Völkerrechtsabteüung des Heeresministeriums der Vereinigten Staaten zur Anwendbarkeit der Haager Landkriegs Ordnung und Genfer Konvention auf das besetzte Deutschland vom 10. Dezember 1945, Text in: JIR 6 (1956), S. 300 ff. Zur umfangreichen Diskussion in Deutschland vgl. aus spezieüer Perspektive W. Fiedler, Safeguarding of Cultural Property during Occupation Modifications of the Hague Convention of 1907 by World War II?, in: M. Briat/J. A. Freedberg (Hrsg.), Legal Aspects of International Trade in Art, 1996, S. 175 ff., bes. S. 180 f. 51

Zur Martens'sehen Klausel ders., ebd., S. 181. Vgl. die Bekräftigung der Nürnberger Prinzipien durch die Generalversammlung der UN vom 11. Dezember 1946, UN-Res. Ser. I, Vol. I (1946-1948), S. 175. 53 Zuletzt im Gutachten des IGH vom 8. 7. 1996, vgl. oben Anm. 10. 52

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nes rechtlich oft gegenläufig 54 und in besonderer Eile konzipierten Fortschreitens des Völkerrechts, einer Phase, die in ihren sektoralen Stärken und Schwächen insgesamt vorauszusetzen und bei einer Fortentwicklung zu berücksichtigen ist. Werden Uneinheitlichkeit und Gegenläufigkeiten als Ausgangspunkte für künftige Besserungen verstanden, so entfallt jeder Zwang, die zeitgleichen Entscheidungen des Jahres 1945 in toto als völkerrechtsmäßig oder völkerrechtswidrig qualifizieren zu müssen. Es war daher konsequent, daß sich Chr. Tomuschat in erster Linie der Frage des angemessenen Friedensschlusses widmete, nicht hingegen der pauschalen Frage einer möglichen Völkerrechtswidrigkeit. Die Eigenart der Völkerrechtsfortbildung in der unmittelbaren Nachkriegszeit liegt vielmehr in ihrer kriegsbedingten Zerklüftung begründet, ohne daß von einer Ausnahmesituation gesprochen werden kann. Der parallelen Uneinheitlichkeit der Staatenpraxis entspricht es vielmehr, den Widerspruch zum geltenden Völkerrecht in einzelnen Bereichen gesondert zu prüfen und Entwicklungslinien herauszuarbeiten.55 Unter diesen Voraussetzungen einer historisch geformten, rechtlich unkoordinierten Staatenpraxis kann es nicht als juristisch anstößig gelten, entsprechende Gegenläufigkeiten wissenschaftlich auszuloten und auf ihre zukunftsoffene Ausbaufähigkeit hin zu untersuchen. Folglich kann wissenschaftlich auch nicht ausgeschlossen werden, daß durch die Potsdamer Beschlüsse rechtlich angestoßene faktische Vorgänge der Zeit nach 1945 in einen Vergleich zu den zeitgleich rechtlich konsequent abgeurteilten Straftaten gebracht werden. Ebensowenig könnte die durch die Satzung der Vereinten Nationen vorgenommene Sonderbehandlung der „Feindstaaten" einen Hinderungsgrund dafür abgeben, etwa die Geltung der Haager Landkriegsordnung für die betroffenen Staaten von vornherein zu leugnen.

54 So etwa in bezug auf den in der Berliner Erklärung der Vier Mächte vom 6. 6. 1945 ausdrücküch formuüerten Annexions verzieht und die fast zeitgleich durch die Potsdamer Beschlüsse zur Deportation der Bevölkerung („transfer") faktisch ermögüchten Annexionsvoraussetzungen. Daß die Nürnberger Prozesse wenig später die Verstöße gegen das völkerrechtüche Annexionsverbot mit zum Maßstab der Anklage erhoben, üefert aus heutiger Sicht einen nur schwer nachvollziehbaren Akzent. Vgl. auch die früheren Ausführungen von Chr. Tomuschat zum Territorialbezug des Selbstbestimmungsrechts, das auch „das anerkannte Siedlungsgebiet eines Volkes" schütze (Staatsvolk ohne Staat?, in: Festschrift für Doehring, 1989, S. 985 ff., 999). Zur Widersprüchüchkeit der Rechtslage vgl. auch Chr. Tomuschat, a.a.O. (Anm. 42), S. 33. W. Czaplinski, a.a.O. (Anm. 1), orientiert sich hingegen mehr am Verhalten der Nationalsoziaüsten (als Gegenpol) denn am Völkerrecht selbst, vgl. etwa S. 53 f. („kann das Verhalten Nazi-Deutschlands in diesem Faü die Entscheidung der Allüerten rechtfertigen"). 55 Vgl. zu einem entsprechenden Ansatz R. G. Steinhardt, bes. S. 38 ff.

a.a.O. (Anm. 7),

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5. Historisch geprägte Gestaltungsmöglichkeiten und die Frage der Systemgerechtigkeit Für die Potsdamer Beschlüsse bedeutet dies nicht zuletzt, daß sie im jeweiligen Normgefüge zu prüfen sind und nicht geschlossen oder pauschal vorausgesetzt werden können. Historisch geprägte Offenheit enthält die Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft, solange die jeweilige Systemgerechtigkeit beachtet wird. So entspricht es der HLKO, sie in erster Linie als Teil des humanitären Völkerrechts zu sehen, nicht jedoch einseitig unter einem territorialen Aspekt. Vorwürfe des Verstoßes der Potsdamer Beschlüsse gegen die HLKO betreffen in erster Linie den humanitären Aspekt, nicht jedoch die staatliche Zuordnung der betreffenden Territorien selbst. Folglich ist eine unter dem Gesichtspunkt der HLKO am Potsdamer Abkommen formulierte Kritik in erster Linie humanitär begründet. Die in Art. XIII behandelten Deportationen („transfer") sind lediglich insofern gebietsbezogen, als die zwangsweise Trennung der Bevölkerung von ihrem Wohngebiet gerade die humanitäre Komponente des Verstoßes gegen die HLKO ausmacht. Dennoch überwiegt die personelle Komponente, und unter diesem Aspekt ist eine sektoral spezifische Völkerrechtswidrigkeit der Potsdamer Beschlüsse zu beurteilen. Die Kritik an den in Art. XIII gebilligten Massenvertreibungen gilt diesem Aspekt, dem territorialen Element nur am Rande. Umgekehrt: die an der territorialen Komponente orientierten Stabilitätserwägungen, die politisch im Hintergrund der Erklärungen des U.S. State Department stehen mögen, zielen auf einen Rechtszusammenhang, der das Humanitäre nicht erfaßt, es ausklammert und insofern verfehlt. Das „Infragestellen" der Potsdamer Beschlüsse bezieht sich auch aus diesem Grund bezüglich des Art. XIII zentral auf den humanitären Aspekt der Deportationen. Die in sich undifferenzierte Behauptung, das Potsdamer Abkommen ruhe, aus der Sicht des Jahres 1996, fest im Völkerrecht, schließt bei der zeitorientierten Beurteilung den Fortschritt aus, den das Völkerrecht seit dem Kriegsende auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts und in bezug auf den Schutz der Menschenrechte unbezweifelbar zu verbuchen hat.56 Sie vernach-

56 L. Henkln, Human Rights, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. 2 (1995), S. 886 ff.; Th. Meron, Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law, 1989; 0. Kimminich, Die Menschenrechte in der Friedensregelung nach dem Zweiten Weltkrieg, 1990, S. 61 ff.; R. B. Lillich, Humanitarian Intervention through the United Nations: Towards the Development of Criteria, ZaöRV 53 (1993), S. 576; Β. Cossman, Reform, Revolution, or Retrenchment? International Human Rights in the Post-Cold War Era, HIJL 32 (1991), S. 339 ff.; J. G. Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, 1988; P. Thornberry, International Law and the Rights of Minorities, 1991.

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lässigt zudem die Interpretation des Potsdamer Abkommens, die dieses in dem hier behandelten Bereich bald nach dem Kriege in den Vereinigten Staaten selbst zu verzeichnen hatte.57 Die davon abstrahierende Erklärung vom 14. Februar 1996 mag zwar von einem wichtigen Kritiker als „peinlich" bezeichnet werden,58 doch ändert dies nichts an der so und nicht anders offiziell vorgenommenen Bewertung des Potsdamer Abkommens durch wichtige Vertragspartner des Jahres 1945 im Jahre 1996. 4. Deportationen als notwendige Kosten territorialer

Stabilität?

Als Ausweg böte sich an, die Erklärungen von 1996 als lediglich politische zu bewerten und ihnen jeglichen Rechtsgehalt abzusprechen. Dies erscheint wegen der deutlichen juristischen Bezugnahme vor allem der amerikanischen und britischen Erklärung nicht möglich. Doch zeigt sich in diesem Punkte bereits eine Möglichkeit der politischen „Entlastung". Die Erklärungen von 1996 sind erkennbar von dem Wunsch nach Erhaltung der Stabilität der Nachkriegsordnung getragen und verkennen wohl aus diesem Grunde die Grenzen, die das Völkerrecht heute in bezug auf das Potsdamer Abkommen deutlich werden läßt. Der Wille zur Erhaltung der territorialen Stabilität im Nachkriegs-Europa nimmt - auch in seinem unausgesprochenen Bezug auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag 59 - die unvorstellbare Dimension der Deportationen und Menschenopfer der Zeit nach 1945 als notwendige „Kosten" der Stabilität in Kauf. 60 Eine ernste Besorgnis ist der Erklärung der USA insofern nicht abzusprechen. Daß die Erklärung einer zeitgerechten Fortschreibung des Völkerrechts, insbesondere auf humanitärem Gebiet, große Hindernisse in den Weg legt, zählt wohl ebenfalls zu den akzeptierten oder nicht gesehenen „Kosten", zu denen nicht zuletzt auch die Opfer auf polnischer Seite zu rech57

Vgl. nur Α. M. de Zayas, US-Politik hinsichtlich der Vertreibung und Deutschlands östliche Grenzen nach Potsdam, sowie B. Meissner, George Marshall und die Gebiete östüch der Oder und westlichen Neiße auf der Moskauer Tagung der Außenminister 1947, in: George Marshall, Deutschland und die Wende im Ost-West-Konflikt, bearb. v. Chr. Dahm und H.-J. Tebarth, hrsg. v. d. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 1997, S. 57 ff., 13 ff. 58 So A. M. de Zayas, ebd., S. 71. 59 Vgl. auch Art. 1 Abs. 1 S. 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrages: „Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschlands ist ein wesentücher Bestandteü der Friedens Ordnung in Europa". Der Stabiütätsaspekt tritt nicht zuletzt in der Präambel hervor. 60 Zur Bedeutung des Stabüitätsfaktors für das Verständnis der Potsdamer Beschlüsse aus östücher Sicht kennzeichnend etwa R. Badstübner, Das Jaltaer/ Potsdamer Friedensprojekt - reaüstische oder utopische Weichensteüung für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa?, in: K. Ipsen/ W. Poeggel (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 1), S. 31 ff. Zu den „human costs" in bezug auf Art. XIII vgl. aber R. G. Steinhardt, a.a.O. (Anm. 7), S. 29.

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nen sind, die im Rahmen der „Westverschiebung" Polens im Osten des Landes zu beklagen waren. Zu den „Kosten" rechnet wohl auch der Tonfall mancher Teile der amerikanischen Erklärung, der noch aus der Zeit vor Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages zu stammen scheint, insbesondere der bereits behandelte Abs. 3. Daß schließlich dem Anlaß der Erklärungen - den deutsch-tschechischen Verhandlungen - jeder territoriale Destabilisierungseffekt fehlte, macht nur ein anderes, bisher nicht eigens genanntes Charakteristikum der westlichen Erklärungen, mit Abstrichen allerdings der französischen, deutlich: ihre Überflüssigkeit.

Peaceful change - ein derivatives Völkerrechtsprinzip* Von Dietrich Murswiek

I. Status quo, Beharrungstendenz des Rechts und friedlicher Wandel

Peaceful change, friedlicher Wandel, ist Thema, Aufgabe und Problem für Politik und Völkerrecht, seit der unfriedliche Wandel politisch geächtet und rechtlich verboten ist. Peaceful change wurde zum Thema, als der Krieg als Mittel des Wandels nicht mehr in Betracht gezogen werden sollte, nach den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs nämlich. In der Geschichte der Staaten waren gravierende Wandlungen in den internationalen Beziehungen oft die Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen. Vor allem territoriale Änderungen waren meist die Folge von Annexionen der siegreichen kriegerischen Macht oder wurden vom Kriegsverlierer im Friedensvertrag zugestanden. Das neue Völkerrecht dagegen ist durch die Ächtung des Krieges und durch das allgemeine Gewaltverbot geprägt. Der Krieg mag zwar in der Praxis nach wie vor in vielen Teilen der Welt Mittel der Politik sein; völkerrechtlich ist die Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Krieges nicht mehr zulässig. Annexionen sind verboten. Das Völkerrecht hat eine starke Tendenz zur Beharrung. Es schützt den Status quo, es schützt die bestehenden Verhältnisse. Dafür gibt es gute Gründe. Das Gewaltverbot verstärkt diese beharrende Kraft des Völkerrechts. Der Verlust an Anpassungsfähigkeit kann neue Gefahren hervorbringen. Kommen Krieg und Gewalt als Mittel zur Änderung bestehender internationaler Verhältnisse rechtlich nicht mehr in Betracht, so ist doch das Bedürfnis, diese Verhältnisse zu ändern, oft gut begründet, ja sogar unabweislich. Die Verhältnisse, so wie sie sind, sind oft weit davon entfernt, den Anforderungen des Völkerrechts, geschweige denn allgemeinen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zu entsprechen. Gäbe es, abgesehen von der völkerrechtlich geächteten Gewalt - kein Mittel zur Änderung dieser Verhältnisse, dann würde das Gewaltverbot dazu führen, ungerechte, ja sogar rechtswidrige Verhältnisse zu * Dieser Beitrag beruht auf einer umfassenden Untersuchung, die unter dem Titel „Peaceful change - ein Völkerrechtsprinzip?" veröffentlicht wird. Sie ist als Forschungsbericht im Rahmen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht entstanden, der auch Jens Hacker angehört.

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versteinern. Damit würde das Völkerrecht, indem es den Frieden durch das Gewaltverbot sichern will, den Keim zu neuer Gewalt, zu neuen Kriegen legen. Es bedarf also friedlicher Mittel, um die Ordnung der internationalen Beziehungen so umzugestalten, daß sie dort, wo sie im Widerspruch zu Recht und Gerechtigkeit steht, mit diesen Anforderung in Übereinstimmung gebracht wird. Nur so können Konfliktpotentiale beseitigt, nur so kann der Frieden sicher gemacht werden. „Peacefül change" ist ein Begriff, mit dem Völkerrecht und Politik auf das Bedürfnis reagiert haben, die politischen und rechtlichen Verhältnisse auf internationaler Ebene zu ändern, ohne daß Gewalt als Mittel zur Änderung des Status quo eingesetzt werden darf.

Π . Peaceful change als Rechtspflicht und als Handlungsrahmen

1. Begriff und Fragestellung Es gibt eine ganz allgemeine Definition von peaceful change: Peaceful change ist jede Veränderung des internationalen Status quo mit friedlichen Mitteln. Diese Definition ist zwar akzeptabel, jedoch wenig aussagekräftig. Sie eignet sich zur Bezeichnung eines Themas, das sowohl empirisch als auch normativ betrachtet werden kann. Normativ macht sie lediglich deutlich, welcher Wandel der internationalen Verhältnisse prinzipiell erlaubt ist, nämlich der friedliche, gewaltlose Wandel. Sie ist dagegen nicht Ausdruck eines positiven normativen Konzepts des peaceful change, aus welchem sich ergibt, wann peaceful change nicht lediglich erlaubt, sondern geboten ist. Ein solches Konzept müßte die entscheidenden normativen Elemente einbeziehen. Völkerrechtlich läßt sich das Thema primär unter zwei Aspekten betrachten: 1. Gibt es rechtliche Grenzen für den friedlichen Wandel? Mit dieser Frage wird der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die Änderung des internationalen Status quo erlaubt ist. Auch im Völkerrecht sind diejenigen Verhaltensweisen erlaubt, die nicht verboten sind. Deshalb lautet die Frage hier: Welche Völkerrechtsnormen verbieten Verhaltensweisen der Völkerrechtssubjekte, die auf die Veränderung des Status quo abzielen? 2. Unter der Voraussetzung, daß die Änderung des Status quo erlaubt ist, kann man zusätzlich fragen, ob die Änderung rechtlich geboten ist. Das ist immer dann der Fall, wenn es völkerrechtliche Pflichten gibt, deren Erfüllung zur Änderung der bestehenden Verhältnisse führt. Auf einer sekundären Ebene kann man fragen, welche Mittel und Verfahren eingesetzt werden dürfen, um den erlaubten oder sogar gebotenen peaceful change zu verwirklichen. Auf diese Frage hat sich die Beschäftigung mit dem Thema „peaceful change" in der völkerrechtlichen Literatur meist konzentriert. Und die einzige Norm im geltenden Völkerrecht, die als spezifischer

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Ausdruck der Peaceful-change-Idee verstanden wird, ist ebenfalls eine verfahrensrechtliche Norm. 2. Rechtliche Grenzen des peaceful change? Daß sich das wissenschaftliche Interesse auf die sekundäre Ebene der Mittel und Verfahren konzentriert, ist verständlich. Denn die primäre Ebene wirft kaum spezifische Probleme des peaceful change auf. Beginnen wir mit der ersten Frage, die sich auf der primären Ebene stellt: Inwieweit ist peaceful change erlaubt? Gibt es rechtliche Grenzen des peaceful change? Antwortet man hier, verboten sei der unfriedliche Wandel, also Krieg, Androhung oder Anwendung von Gewalt, so befindet man sich schon auf der sekundären Ebene. Diese Antwort bezieht sich bereits auf die Mittel. Schon das normative Element, das der Begriff des peaceful change selbst enthält, die Friedlichkeit, ist eine Frage der erlaubten Mittel der Änderung des Status quo. Auf der primären Ebene muß die Frage nach den unabhängig von den Mitteln zu beurteilenden rechtlichen Grenzen des peaceful change an den Umstand anknüpfen, daß die Völkerrechtsordnung Koordinationsordnung ist. Alle Staaten sind gleichberechtigte souveräne Völkerrechtssubjekte. Daher ist prinzipiell kein Staat rechtlich dazu fähig, die seine völkerrechtlichen Beziehungen zu einem anderen Staat betreffende Rechtslage einseitig zu ändern. Der völkerrechtliche Status quo kann nur im Einvernehmen der betroffenen Völkerrechtssubjekte geändert werden, also durch Vertrag, wenn nicht ausnahmsweise das Völkerrecht einseitige Rechtsgestaltungen zuläßt. Einseitig kann ein Staat die bestehende Rechtslage nur dann ändern, wenn er vertraglich oder gewohnheitsrechtlich dazu ermächtigt ist oder wenn die Befugnis zur Änderung des Status quo aus dem Souveränitätsprinzip folgt. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn ein Staat A dem Staat Β gestattet hat, auf seinem Territorium Truppen zu stationieren, ohne sich vertraglich zu binden. Er kann einseitig die Gestattung zurücknehmen, und Staat Β ist dann verpflichtet, seine Truppen abzuziehen. Oder, um ein anderes Beispiel zu geben: Ein Staat kann seine Hoheitsgewässer einseitig bis zur Höchstbreite von 12 Seemeilen ausdehnen. Vertragsrechtliche einseitige Gestaltungsmöglichkeiten sind: die in einem Vertrag vorgesehene Kündigungsmöglichkeit sowie die in der Wiener Vertragsrechtskonvention enthaltene, aber auch gewohnheitsrechtlich geltende clausula rebus sie stantibus. Allerdings ist der Anwendungsbereich der clausula nach Art. 62 WKRV sehr beschränkt. Nach dieser Vorschrift (Abs. 1) kann ein grundlegender Wandel der Umstände, der hinsichtlich der im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Umstände eingetreten ist und der nicht von den Par-

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teien vorausgesehen wurde, nur dann als Grund für die Beendigung des Vertrages oder den Rücktritt vom Vertrag geltend gemacht werden, wenn (a) das Vorliegen dieser Umstände eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Parteien darstellte, durch den Vertrag gebunden zu sein und (b) die Auswirkung des Wandels grundlegend das Ausmaß der noch nach dem Vertrag zu erfüllenden Verpflichtungen verändert. Wichtig ist, daß hiernach die wesentliche Vertragsgrundlage den Staaten bei Vertragsschluß bewußt gewesen sein muß. Das Vorhandensein der Umstände war typischerweise so selbstverständlich, daß es nicht eigens im Vertrag erwähnt wurde. Die clausula rebus sie stantibus ist dagegen nicht anwendbar, wenn die Vertragsparteien die Umstände gar nicht bedacht, also sie auch nicht - unausgesprochen - zur Grundlage des Vertrages gemacht haben1. Sie ist auch nicht anwendbar, wenn die Parteien die Veränderung bei Vertragsschluß schon vorausgesehen haben. Völlig unanwendbar ist die clausula rebus sie stantibus nach Abs. 2 auf Verträge, die eine Grenze festlegen, sowie auf Situationen, in denen der grundlegende Wandel von derjenigen Partei, die sich auf ihn beruft, durch Bruch einer aus dem Vertrag herrührenden Verpflichtung oder einer anderen völkerrechtlichen Verpflichtung hervorgerufen wurde. Dies bestätigt die schon vor Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention herrschende Auffassung, daß die clausula nicht anwendbar sei auf Verträge, in denen die Leistung bereits erbracht worden ist (traités exécutés)2; dazu werden auch Verträge gerechnet, aufgrund derer ein Staat einen Teil seines Territoriums an einen anderen Staat abgetreten hat3. Sind die Voraussetzungen der clausula rebus sie stantibus erfüllt, dann ist ein Rechtsanspruch auf Anpassung des Vertrages an die veränderte Lage, gegebenenfalls auch ein Recht auf einseitige Beendigung oder Rücktritt gegeben, also ein Anspruch auf friedliche Änderung der gegebenen Lage, sowie eine entsprechende Rechtspflicht des Vertragspartners. Die Berufung auf die clausula führt also nicht unmittelbar zur erstrebten Änderung des Status quo. Immerhin aber begründet sie einen Anspruch hierauf und ändert insofern bereits die zwischen den streitenden Staaten bestehende Rechtslage.

1 Vgl. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1975, S. 500 f. 2 Vgl. Georg Dahm, Völkerrecht, Bd. 3, 1961, S. 152; Albrecht Randelzhofer, Die Bedeutung von „Peacefül change" fur die Kriegsverhütung im geltenden Völkerrecht, in: FS Karl Carstens, 1984, S. 465 (468). 3 Vgl. Randelzhofer, FS Karl Carstens, S. 465 (468) m.w.N.; a.A. offenbar Berber, Lehrbuch, Bd. 1, S. 502.

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Die praktische Bedeutung der clausula rebus sie stantibus für den peaceful change ist freilich sehr gering, zumal sie für die typischen Peaceful-changeProbleme - die Territorialfragen - von vornherein nicht anwendbar ist. Dieser Blick auf die wenigen Fälle, in denen das Völkerrecht einseitige Rechtsgestaltungen zuläßt, zeigt, daß der von einem Staat als unbefriedigend, ungerecht oder gar unerträglich empfundene internationale Status quo in aller Regel nur im Einvernehmen der betroffenen Staaten überwunden werden kann. Für die Änderung des Status quo im Konsens der betroffenen Staaten gibt es praktisch keine völkerrechtlichen Grenzen. Jede Änderung ist erlaubt, wenn die Beteiligten sich einig sind. Nicht der Status quo als solcher ist heilig. Das Völkerrecht schützt ihn nur gegen einseitige, insbesondere gegen gewaltsame Änderungen. Was auch die Rechtsgrundlage des jeweiligen Status quo ist - eine konsensuale Änderung ist rechtlich immer möglich. Auch für das Rechtsgut, welches die Staaten als völlig unantastbar zu betrachten pflegen - ihr Territorium und die bestehenden Staatsgrenzen - gilt nichts anderes. Der Grundsatz der territorialen Integrität schützt den Staat vor allen nicht konsentierten, insbesondere gewaltsamen, Verletzungen der Integrität seines Territoriums. Er genießt völkerrechtlichen Schutz davor, von anderen Staaten gezwungen zu werden, faktische Übergriffe auf sein Territorium zu dulden oder einen Vertrag über die Abtretung eines Gebiets zu schließen. Gewaltanwendung und Zwangsausübung sind hier ebenso verboten wie allgemein im Völkerrecht. Dagegen liegt von vornherein kein Eingriff in die territoriale Integrität vor, wenn ein Staat freiwillig - insbesondere durch Vertrag mit einem anderen Staat - eine Änderung seiner Staatsgrenze vornimmt und einen Gebietsteil an einen anderen Staat abtritt. Auch der Grundsatz der territorialen Integrität ist somit Ausdruck des das Völkerrecht der Gleichordnung prägenden Prinzips freiwilliger Koordination. Es schützt die faktische und rechtliche Entschließungsfreiheit der Völkerrechtssubjekte, aber es versteinert nicht den jeweiligen territorialen Status quo. Jede Änderung des territorialen Status quo mit Zustimmung des berechtigten Völkerrechtssubjekts bleibt zulässig. Unzulässig unter dem Aspekt der territorialen Integrität sind also nur solche Bestrebungen, die darauf abzielen, sich ein Territorium gegen den Willen des betroffenen Staates faktisch anzueignen oder mit Gewalt oder mit völkerrechtlich verbotenen Druckmitteln den betreffenden Staat zur Abtretung des Territoriums zu zwingen. Bestrebungen, die darauf abzielen, den betreffenden Staat mit völkerrechtlich erlaubten Mitteln zu bewegen, einen Vertrag über die Änderung der Staatsgrenze bzw. die Abtretung eines Gebietsteils zu schließen, berühren den Grundsatz der territorialen Integrität dagegen von vornherein nicht.

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Deshalb kann es auch nicht als Aggression oder als Friedensgefährdung angesehen werden, wenn ein Staat im Verhältnis zu einem anderen Staat auf eine vertragliche Grenzänderung hinwirkt, sofern er dazu nicht völkerrechtlich unerlaubte Mittel einsetzt. Die Überwindung des völkerrechtlichen Status quo ist also grundsätzlich nur im Konsens der betroffenen Staaten rechtlich möglich. Andererseits gibt es für konsensuale Änderungen der gegebenen Rechtslage keine völkerrechtlichen Grenzen. 3. Rechtspflichten zum peaceful change a) Änderungspflichten aus Verträgen Aus völkerrechtlichen Verträgen können sich Pflichten ergeben, die auf die Veränderung des Status quo gerichtet sind. Diese Pflichten können je nach ihrem Gegenstand sehr unterschiedlicher Art sein. Es kann sich um Pflichten zu aktivem Handeln oder zum Dulden der Handlung eines anderen Staates, um Pflichten mit oder ohne Territorialbezug handeln. Wenn beispielsweise ein Staat sich vertraglich verpflichtet, in einem anderen Staat einen Staudamm zu bauen, wenn ein anderer sich verpflichtet, den Bau eines Kanals durch sein Land durch einen anderen Staat zu dulden, oder wenn ein Staat sich vertraglich verpflichtet, das von ihm besetzte Territorium seines Vertragspartners zu räumen, dann sind alle diese Pflichten auf die Veränderung der gegebenen tatsächlichen Lage gerichtet. Ihre Erfüllung bewirkt die Änderung des Status quo. Aus derartigen Verträgen ergibt sich somit eine entsprechende Pflicht, zum friedlichen Wandel der bestehenden Lage. In gewisser Hinsicht lassen sich alle Pflichten zu aktivem Handeln als auf Veränderung des Status quo gerichtet betrachten. Freilich gelangen sie in das Blickfeld des Themas peacefül change regelmäßig nur dann, wenn es um wesentliche Änderungen der internationalen Lage geht, die in konfliktträchtiger Weise umstritten waren oder sind. Sie haben nicht notwendigerweise, aber doch typischerweise einen territorialen Bezugspunkt. Jedoch geht es keineswegs immer um territoriale Änderungen. Auch Verträge, die Pflichten zur Abrüstung - etwa zur Vernichtung bestimmter atomarer Waffen - begründen, verpflichten zur friedlichen Änderung der bestehenden internationalen Lage, zum peacefül change. Solche Pflichten können sowohl aus bilateralen als auch aus multilateralen Verträgen folgen. Von besonderer praktischer Bedeutung sind multilaterale Verträge, die die Staaten zur Änderung ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung verpflichten, vor allem Gründungsverträge supranationaler Organisationen. So hat der EWG-Vertrag (jetzt: EG-Vertrag) die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet, ihre Wirtschaftsordnung den Kriterien des Vertrages anzupassen, insbesondere die Grundfreiheiten zu gewährleisten.

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Aufgrund dessen haben alle Mitgliedstaaten im Laufe der Zeit einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel durchmachen müssen. b) Änderungspflichten aus allgemeinem Völkerrecht, insbesondere aus ius cogens Auch alle anderen Völkerrechtsquellen - Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze - können Handlungspflichten begründen, die auf die Änderung des Status quo gerichtet sind. Praktisch bedeutsam dürfte vor allem das allgemeine Völkergewohnheitsrecht sein. Zwar tendiert dieses, wie das Völkerrecht insgesamt, eher zur Bewahrung des Status quo. Aber es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß es auf Überwindung des Status quo gerichtete Pflichten enthält oder künftig begründen wird. Solche Pflichten haben dann ganz besonderes Gewicht, wenn sie den Charakter von zwingendem Recht (ius cogens) haben, also vertraglich nicht abbedungen werden können. Das in unserem Zusammenhang wichtigste Beispiel für ein Völkerrechtsprinzip des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts, aus dem auch konkrete - auf Änderung der gegebenen Lage gerichtete - Handlungspflichten folgen können, ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker 4. Dieses Recht wird wohl vom überwiegenden Teil der Literatur als ius cogens angesehen5. Als offensives Selbstbestimmungsrecht6, das auf die Gründung eines neuen Staates oder auf eine sonstige Veränderung des bestehenden Territorialstatus gerichtet ist, wurde es in der Völkerrechtspraxis vornehmlich Kolonialvölkern zuerkannt, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht ihre staatliche Unabhängigkeit erreichten 7. Die Dekolonisierung kann daher zu großen Teilen als ein praktisches Beispiel für rechtlich gebotenen und erfolgreich durchgeführten friedlichen Wandel angesehen werden. Auch die Neukonstituierung

4 Zum gewohnheitsrechtlichen Charakter dieses Prinzips vgl. z.B. Karl Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, 1974. 5 Vgl. z.B. Hector Gros Espiell, Self-Determination and jus cogens, in: Antonio Cassese (ed.), UN Law; Fundamental Rights, 1979, S. 168; ders., The Right to SelfDetermination. Implementation of United Nations Resolutions, U N Doc. E/CN. 4/Sub. 2/405/Rev. 1 (1980), S. 11 ff.; Eckart Klein , Vereinte Nationen und Selbstbestimmungsrecht, in: Blumenwitz/Meißner, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1984, S. 107 (121); ders., Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, S. 56 ff. m.w.N.; a.A. z.B. Michla Pomerance, Self-Determination in Law and Practice, 1982, S. 63 ff. m.w.N. 6 Zu diesem Begriff Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Der Staat 23 (1984), S.523 (532 ff.). 7 Dazu ausführlich z.B. Daniel Thür er, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1976, S. 126 ff. 31*

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der Staaten im ehemaligen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion konnte sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen 8, gelang freilich in Jugoslawien nur teilweise friedlich, in Slowenien, während sie in Kroatien und Bosnien bitter erkämpft werden mußte.

c) Restitutionspflichten und Restitutionsansprüche Wesentlich häufiger als eine vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Verpflichtung, die originär auf Veränderung des Status quo gerichtet ist, wird in der Praxis die Situation gegeben sein, daß ein Staat eine völkerrechtliche Norm verletzt, welche das Territorium oder sonstige Rechtsgüter eines anderen Staates schützt. Die primäre Norm, die hier verletzt wird, schützt den Status quo, nämlich die bestehende völkerrechtliche Lage, beispielsweise den Territorialstatus eines Staates oder andere seiner Rechte, die seiner Souveränität zugerechnet werden können. Die Primärnorm ist hier eine Abwehrnorm, die sich gegen Eingriffe anderer Staaten in die eigene Rechtssphäre richtet, also dem Staat einen Unterlassungsanspruch gibt und anderen Staaten entsprechende Unterlassungspflichten auferlegt. Die Verletzung der Primärnorm, beispielsweise die militärische Besetzung eines Gebietsteils des Staates A durch Truppen des Staates Β (Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 UN-Charta), begründet sekundär einen Wiedergutmachungsanspruch des verletzten Staates gegen den verletzenden Staat. Sekundärnorm ist hier diejenige Norm, nach der jeder Staat zur Wiedergutmachung verpflichtet ist, wenn er ein völkerrechtliches Delikt begangen hat. Diese Sekundärnorm ist Bestandteil des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts. In Staatenpraxis, Rechtsprechung und Völkerrechtslehre besteht seit langem Einigkeit darüber, daß die Verletzung einer Primärnorm des Völkerrechts durch einen Staat dessen Verantwortlichkeit (im Sinne von Haftung) 9 gegenüber dem in seinen Rechten verletzten Völkerrechtssubjekt begründet10. Zum Teil wird auch die Auffassung vertreten, daß das Verantwortlichkeitsprinzip als allgemeines Völkerrechtsprinzip unabhängig vom Gewohnheitsrecht gelte11.

8

Vgl. Dietrich Murswiek, Die Problematik eines Rechts auf Sezession - neu betrachtet, in: AVR 31 (1993), S. 307-332. 9 Zum Sprachgebrauch vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, vor § 35 Rn. 1. 10 Vgl. z.B. Alfred Verdross /Bruno Simma, UniverseUes Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 1262; Ipsen, Völkerrecht, § 35 Rn. 1. 11 Vgl. Ipsen, Völkerrecht, § 35 Rn. 3.

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Die Verletzung der Primärnorm wird als völkerrechtliches „Delikt" bezeichnet. Rechtsfolge eines völkerrechtlichen Delikts ist haftungsrechtlich die Pflicht des verantwortlichen Staates zur Wiedergutmachung12. Ihr entspricht der subjektive Anspruch des durch das Delikt in seinen Rechten verletzten Staates auf Wiedergutmachung. Der Wiedergutmachungsanspruch ist in erster Linie ein Anspruch auf Naturalrestitution, also auf Wiederherstellung des durch das deliktische Verhalten gestörten Zustands. Sofern die Restitution nicht möglich oder nicht ausreichend ist, tritt anstelle bzw. neben die Wiederherstellungspflicht eine Pflicht zum Schadensersatz13. Der Restitutionsanspruch ist im Sinne unserer Fragestellung ein Anspruch auf peaceful change in einer konkreten Situation. Er ist gegeben bei Verletzung der territorialen Integrität eines Staates durch militärische Besetzung, bei Annexion eines Gebietsteils durch einen anderen Staat, bei Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, bei Ansiedlung einer ethnisch anderen Bevölkerung in einem bestimmten Territorium unter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder gegen Minderheitenschutzbestimmungen (beispielsweise mit dem Ziel, die autochthone Bevölkerung dort zu majorisieren), um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die rechtswidrig geschaffene Lage muß dann rückgängig gemacht, der rechtmäßige Zustand wiederhergestellt werden. Der rechtswidrige Status quo muß friedlich überwunden werden. Der Restitutionsanspruch ist ein Anspruch auf peaceful change zur Verwirklichung des Rechts. d) Ausschluß von peacefül change-Ansprüchen durch Vertrag Unter a) - c) wurde gezeigt, daß sich aus primären oder sekundären Normen des Völkerrechts Ansprüche auf peacefül change, auf Änderung des Status quo mit friedlichen Mitteln, ergeben können. Ein solcher Anspruch ist jedoch dann nicht (mehr) gegeben, wenn der betreffende Staat auf seinen Änderungsanspruch vertraglich wirksam verzichtet hat. Der Vertrag, den der An12 Vgl. z.B. Verdross /Simma, Universeües Völkerrecht, § 1294 m.w.N. - Aügemein zur völkerrechtüchen Verantwortüchkeit und zur Wiedergutmachungspfücht z.B. Ian Brownlie, System of the Law of Nations. State Responsibiüty, Part I, 1983; Ingo von Münch, Das völkerrechtüche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1963; Hans-Jürgen Schlochauer, Die Entwicklung des völkerrechtlichen Deliktsrechts, AVR 16 (1974/75), S. 239-277; Philip Kunig, Das völkerrechtüche Delikt, Jura 1986, S. 344-352; Bruno Simma, Grundfragen der Staatenverantwortüchkeit in der Arbeit der International Law Commission, AVR 24 (1986), S. 357-407; weitere Nachw. bei Ipsen, Völkerrecht, S. 489 f. 13 Vgl. z.B. Verdross /Simma, Universeües Völkerrecht, §§ 1295 f. m.w.N. - Je nach Faügestaltung kann alternativ oder zusätzüch Genugtuung in Betracht kommen; entscheidend ist, daß die völkerrechtskonforme Lage wiederhergesteüt wird, vgl. Verdross /Simma, Universeües Völkerrecht, § 1299; Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 35 Rn. 16.

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spruchsinhaber mit dem zur Änderung des Status quo Verpflichteten schließt, bildet dann eine neue Rechtsgrundlage des Status quo. Dieser ist fortan nicht mehr rechtswidrig. Beispielsweise kann durch einen Friedensvertrag die völkerrechtswidrige Annexion eines Gebietsteils bestätigt werden. Durch die vertragliche Zession des Gebietsteils wird eine neue Rechtslage geschaffen. Auf der Basis der durch den Friedensvertrag neu geschaffenen Rechtslage besteht dann kein Rückgabeanspruch in bezug auf das fragliche Territorium mehr. Voraussetzung dafür ist die Gültigkeit des Vertrages. Ein Vertrag ist ungültig (nichtig), wenn er gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (jus cogens) verstößt (Art. 53 WKRV). Die Bestimmungen eines nichtigen Vertrages haben keinerlei Rechtswirkungen. Im oben genannten Beispiel bliebe bei Nichtigkeit des Vertrages der Rückgabeanspruch bestehen14. Als eine jus-cogens-Norm, die beim Abschluß von Friedensverträgen zu beachten ist, könnte das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Betracht kommen15. e) Revision der Folgen rechtswidrig gewordener Verträge Ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Rechtsgrundlage des Status quo bildet, kann unter Umständen auch nachträglich ungültig werden. Dies ist dann der Fall, wenn nach Inkrafttreten des Vertrages eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts entsteht. Dies hat nach Art. 64 WKRV zur Folge, daß jeder Vertrag, der im Widerspruch zu dieser Norm steht, nichtig wird und erlischt. Somit entfällt dann die Rechtsgrundlage für den Status quo. Nach Art. 71 Abs. 2 lit. (a) WKRV sind dann die Parteien des Vertrages von jeder Verpflichtung frei, den Vertrag weiterhin zu erfüllen. Nach lit. (b) dieser Vorschrift beeinträchtigt allerdings die Beendigung des Vertrages keinerlei Recht, Verpflichtung oder die Rechtslage der Parteien, die durch die Ausführung des Vertrages vor seiner Beendigung entstanden sind, vorausgesetzt, daß dieses Rechte, Verpflichtungen oder die Rechtslage danach nur in dem Maße beibehalten werden können, daß ihre Beibehaltung selbst nicht in Widerspruch zu der neuen zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Soweit beispielsweise die Kolonialherrschaft eines Staates durch Vertrag des Kolonialstaates mit dem Repräsentanten des unterworfenen Stammes abgesichert war, konnte die Kolonialmacht den Vertrag dem Dekolonisierungsanspruch des der Kolonialherrschaft unterworfenen Volkes nicht mehr entge-

14 Zu den Pflichten, die bestehen, wenn im Vertrauen auf die Gültigkeit des Vertrages bereits Handlungen vorgenommen worden sind, s. Art. 71 Abs. 1 lit. (a) WKRV. 15 Siehe die Nachw. in Fn. 5.

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genhalten, seit das Selbstbestimmungsrecht zur zwingenden Völkerrechtsnorm erstarkt war 16. In einer solchen Lage besteht eine Verpflichtung, die gegebene Lage so zu ändern, daß sie in Übereinstimmung mit der neuen jus-cogens-Norm gebracht wird 17 , denn die Aufrechterhaltung der Lage verstößt gegen diese Norm und begründet - sofern nicht Spezialvorschriften eingreifen - den allgemeinen Restitutionsanspruch (oben c). Auch dies ist eine Verpflichtung zum peaceful change. f) Korrektur faktischer Lagen, die durch die Entstehung neuen Völkerrechts rechtswidrig geworden sind Ist der Status quo nicht vertraglich begründet oder nachträglich vertraglich abgesichert worden, sondern durch faktische Handlungen entstanden, so ist er rechtmäßig, wenn diese Handlungen rechtmäßig waren und auch die damit herbeigeführte faktische Lage mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Solange dies der Fall ist, kann keine Rechtspflicht und kein Rechtsanspruch auf Veränderung des Status quo gegeben sein. Es ist jedoch möglich, daß eine zunächst rechtmäßige faktische Lage nachträglich rechtswidrig wird, weil neue Völkerrechtsnormen entstehen, mit denen diese Lage nicht vereinbar ist. Diese Völkerrechtsnormen können gewohnheitsrechtlicher Natur sein - sie müssen nicht jus cogens sein - , und sie können vertragsrechtlicher Natur sein. Sobald gültige Rechtsnormen bestehen, mit denen der Status quo nicht mehr vereinbar ist, besteht eine Rechtspflicht der beteiligten Völkerrechtssubjekte, den gegebenen faktischen Zustand an die neue Rechtslage anzupassen. Auch hier ist also eine Rechtspflicht zum peaceful change gegeben. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Es gibt eine Vielzahl von Situationen, in denen die Beteiligten rechtlich verpflichtet sind, den Status quo zu ändern. Besteht in bezug auf einen bestimmten Status quo keine Rechtspflicht zur Abänderung, so ist peaceful change dennoch im Konsens der Betroffenen immer möglich. 4. Instrumente und Verfahren

des peaceful change

Im geltenden Völkerrecht gibt es nur eine Norm, die als spezielles Instrument des peaceful change verstanden werden kann, ohne daß sie dieses Thema 16

Fn. 5. 17

Nachw. zum Streit über den jus-cogens-Charakter des Selbstbestimmungsrechts Mit den sich aus Art. 71 Abs. 2 lit. (b) WKRV ergebenden Einschränkungen.

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allerdings explizit benennt, nämlich Art. 14 UN-Charta. Diese Vorschrift steht in der Nachfolge des Revisionsartikels der Völkerbundssatzung. Art. 19 der Völkerbundssatzung brachte die Idee des peacefül change erstmals in einem verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag zur Geltung. Diese Bestimmung lautete wie folgt: „Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte."

Der Sinn dieser Klausel liegt auf der Hand: Es war den beteiligten Staaten klar, daß in der Versteinerung untragbar erscheinender internationaler Verhältnisse bzw. diese Verhältnisse begründender oder bestätigender Vertragsinhalte Gefahren für den Weltfrieden resultieren könnten. Diese Gefahren auszuräumen, indem man die Konfliktursachen beseitigte, nämlich den friedensgefährenden Status quo auf friedlichem Wege überwandt, war der Zweck der Vorschrift. Der Friede sollte dadurch gesichert werden, daß er auf das Fundament der Gerechtigkeit gestellt wurde; Verhältnisse, die als so ungerecht empfunden wurden, daß sie die Ursache von Kriegen zu werden drohen, sollten überwunden werden. Dieser zentrale Gedanke kommt in der Vorschrift zwar nicht wörtlich zum Ausdruck, ergibt sich aber aus dem Sachzusammenhang von Kriegsächtung und Friedenssicherung und ist von der völkerrechtlichen Literatur durchgehend so verstanden worden18. Kunz hat deshalb betont, daß Art. 19 VBS nicht mit dem herkömmlichen Begriff der Vertragsrevision verwechselt werden dürfe. Dieser Artikel führe in völkerrechtliches Neuland. Seine epochale Bedeutung liege darin, daß er zum ersten Mal, als positivrechtliche Norm, das Problem des dynamischen Völkerrechts in voller Breite aufrolle, daß er das postivrechtliche Gegengewicht gegen die starre Statik zu bieten und die Antinomie zwischen der „Heiligkeit der Verträge" und der notwendigen Evolution, die in nichtkriegerischer Weise erfolgen solle, zu lösen versuche19. Daß Art. 19 VBS zur Verwirklichung dieses Zwecks nur ein allzu unvollkommenes Instrument sein konnte, lag schon bei rein positivrechtlicher Betrachtung des Normtextes auf der Hand: (1) Art. 19 stellte keinerlei materiellrechtliche Kriterien bereit, anhand derer entschieden werden konnte, welche Verträge „unanwendbar geworden" sind und welche internationalen Verhältnisse den Weltfrieden gefährden. 18

Z.B. D. Hammarskjöld, The Permanent Court of International Justice and its Place in International Relations, Internat. Äff. 9 (1930), S. 473.; dazu Otto Kimminich, in: Bruno Simma (Hg.), Charta der Vereinten Nationen, 1991, Art. 14 Rn. 3. 19 J.L. Kunz, The Law of Nations, Static and Dynamic, AJIL 27 (1933), S. 642; vgl. auch ders ., Die Revision der Pariser Friedensverträge, 1932, S. 300 f.

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Damit war die Uneinigkeit der jeweils Betroffenen über die Anwendbarkeit der Bestimmung vorprogrammiert. (2) Ob die Bundesversammlung des Völkerbunds die ihr von Art. 19 eingeräumte Möglichkeit wahrnahm, war in ihr Ermessen gestellt; es gab keine Verpflichtung, zum peaceful change tätig zu werden. (3) Die in Art. 19 vorgesehene Maßnahme war völlig unzulänglich. Der Völkerbund konnte die zur Friedenswahrung notwendig gewordene Überwindung ungerechter Verhältnisse nicht etwa notfalls mit Zwangsmitteln durchsetzen. Vielmehr durfte die Bundesversammlung den friedlichen Wandel lediglich dadurch initiieren, daß sie an die betreffenden Staaten eine „Aufforderung" richtete. Und sie durfte die betreffenden Staaten nicht einmal dazu auffordern, den Status quo - durch bestimmte Maßnahmen - zu überwinden, sondern sie durfte diese Staaten lediglich zur „Nachprüfung" der fraglichen Verträge bzw. Verhältnisse auffordern. Das war also ein denkbar schwaches Initiativrecht ohne Durchsetzungseffektivität, das die betreffenden Staaten zu nichts verpflichtete. (4) Verfahrensrechtlich kam erschwerend hinzu, daß die Anwendung von Art. 19 einen einstimmigen Beschluß der Völkerbundsversammlung erforderte. Diese schon verfahrensrechtlich unzulängliche Bestimmung wurde in der Praxis nur wenige Male zum Gegenstand von Beschlüssen, und immer mit negativem Ergebnis. In den Augen von John Foster Dulles war Art. 19 das Herz des Völkerbunds, doch es war, wie er resignierend feststellte, ein Herz, das niemals schlug20. Kimminich weist darauf hin, daß das größte Hindernis für die praktische Anwendung von Art. 19 die Angst der Siegermächte des Ersten Weltkriegs gewesen sei, daß dadurch das System der Friedensverträge von 1919 zerstört werden könnte21. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bereitschaft, das Konzept des peaceful change wieder aufzugreifen, nicht groß. Art. 14 UN-Charta ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den USA, die auf Initiative des Senators Vandenberg sich für eine Peaceful-change-Bestimmung einsetzten, und der Sowjetunion, entschieden opponierte. Die Vorschrift lautet: „Vorbehaltlich des Artikels 12 kann die Generalversammlung Maßnahmen zur friedlichen Bereinigung jeder Situation empfehlen, gleichviel wie sie entstanden ist, wenn diese Situation nach ihrer Auffassung geeignet ist, das allgemeine Wohl oder die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Nationen zu beeinträchtigen; dies gilt auch für Situationen, die aus einer Verletzung der Bestimmungen dieser Charta über die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen entstehen. " 20 21

Zitiert nach Lincoln P. Bloomfield, Evolution or Revolution?, p. 55. Kimminich, in: Simma (Hg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 14 Rn. 4.

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Anders als die Revisionsklausel der Völkerbundssatzung läßt dieser Artikel eine auf Überwindung des Status quo gerichtete Tendenz in seinem Wortlaut nicht erkennen. Der Peacefül-change-Bezug wird nur aus der Entstehungsgeschichte deutlich. Die Vorschrift ermächtigt die Generalversammlung, Empfehlungen - auch in bezug auf Peaceful-change-Probleme - zu erteilen, also unverbindliche Ratschläge zur Überwindung des Status quo zu geben. Diese Ratschläge können an alle Staaten, internationalen Organisationen, ihre Organe oder auch an Einzelpersonen und private Organisationen gerichtet werden. Diese Vorschrift hat sich als praktisch ineffektiv erwiesen; zugunsten des peaceful change ist sie kaum je angewandt worden. Erweist sich die einzige speziell dem peacefül change gewidmete Vorschrift als untauglich, so bleibt die Änderung des Status quo auf diejenigen Verfahren und Instrumente verwiesen, die das Völkerrecht allgemein den Staaten als Mittel ihrer Politik und ihrer Rechtsdurchsetzung zur Verfügung stellt. Ich will die wichtigsten hier nur ganz kurz aufzählen. Vertragsschluß und einvernehmliche Vertragsrevision stehen ganz im Vordergrund als die wichtigsten Instrumente der Rechtsänderung im Völkerrecht. Verhandlungsangebote und Verhandlungen sind notwendige Verfahrensschritte im Vorfeld. Außerdem kann alle anderen Mittel der friedlichen Streitbeilegung eingesetzt werden. Dazu gehören gerichtliche Entscheidungen, Schiedssprüche, Vermittlungen, Vergleiche. Alle diese Mittel beruhen auf dem Konsensprinzip. Sie setzen im Ergebnis eine Einigung der beteiligten Staaten voraus. Soweit eine verbindliche Entscheidung durch eine neutrale Instanz möglich ist - wie im gerichtlichen Verfahren -, setzt dies voraus, daß die Streitparteien sich der Entscheidung zuvor unterworfen haben. Daher sind diese Mittel nicht sehr effektiv, weil der Staat, der sich gegen den Wandel stemmt, in der Regel die Möglichkeit hat, eine verbindliche Entscheidung für den peacefül change zu verhindern. Für den Staat, der an einer Änderung des Status quo interessiert ist, kommt es daher darauf an, die Interessenlage so zu verändern, daß der durch den angestrebten peacefül change in seinen Interessen an der Aufrechterhaltung des Status quo betroffene Staat zum Nachgeben bereit ist. In Betracht kommen vor allem do-ut-des-Geschäüe. Kauf und Tausch werden nur selten in Frage kommen, aber es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, dem betreffenden Staat Vorteile - insbesondere ökonomische, aber auch z.B. außenpolitische Vorteile als „Gegenleistung" für die Einwilligung in den peacefül change in Aussicht zu stellen. Ebenso können ökonomische oder sonstige politische Nachteile für den Fall der Weigerung in Aussicht gestellt werden - natürlich immer nur im Rahmen des geltenden Völkerrechts. Ein besonders wichtiges Beispiel ist das Interesse des betreffenden Staates, Mitglied in einer internationalen oder supranationalen Organisation zu werden, in welcher der Staat,

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der in der konkreten Lage den peaceful change anstrebt, bereits Mitglied ist. Falls dieser einerseits die Aufnahme des anderen Staates betreiben (Anreizmittel) oder sie andererseits aufgrund seines Vetorechts bei der Aufnahme neuer Mitglieder verhindern kann (Druckmittel), hat er ein starkes Instrument, um auf den anderen Staat im Sinne des peaceful change einzuwirken. Die Beeinflussung der internationalen öffentlichen Meinung ist ein weiteres wichtiges Mittel, um die Interessenlage zugunsten des peaceful change zu verändern. Hierzu können auch rechtlich unverbindliche Empfehlungen der UN-Generalversammlung wesentlich beitragen. 5. Peaceful change als materielles Völkerrechtsprinzip? Peaceful change ist eine Völkerrechts/^ - ein Konzept, das der Sicherung des Friedens dienen will, indem es der Völkerrechtsordnung die nötige Flexibilität zu geben sucht, um sie neuen Lagen und Herausforderungen anpassen zu können, vor allem aber, um die zwischenstaatlichen Beziehungen auf Recht und Gerechtigkeit zu gründen. Denn nur eine gerechte Ordnung - nicht eine allein auf Macht und Gewalt gegründete Ordnung - kann eine dauerhafte Friedensordnung sein. Ist aber diese völkerrechtspolitische Idee auch zu einem Prinzip des geltenden Völkerrechts geworden? Die Betrachtung der geltenden Normen des Völkerrechts, aus denen sich Rechte und Pflichten bezüglich der Änderung des internationalen Status quo entnahmen lassen, hat gezeigt: Die einzige Vorschrift, die man speziell als Ausdruck des Peacefiil-change-Gedankens ansehen könnte - Art. 14 UNCharta - schreibt den friedlichen Wandel weder vor noch begründet sie ein wirksames Instrument zu seiner Durchsetzung. Die Idee des peaceful change bleibt auf die allgemeinen Normen des Völkerrechts verwiesen. Daher kann der Idee des peaceful change nicht die Funktion eines eigenständigen Völkerrechtsprinzips oder gar einer selbständig geltenden Völkerrechtsnorm zugesprochen werden. Völkerrechtliche Rechte und Pflichten begründet peaceful change nicht aus sich heraus, sondern bezieht sie aus Normen, die unabhängig von der Idee des peaceful change gelten. Die zum friedlichen Wandel verpflichtende Rechtswirkung folgt aus Völkerrechtsnormen, die unabhängig vom Begriff des peacefid change bestehen. Soweit es Pflichten zur Überwindung des Status quo gibt, folgen diese aus den Normen, deren Verletzung die Rechtswidrigkeit des gegebenen Zustands begründen. Die Pflicht zur Beseitigung andauernden Unrechts, zur Herstellung oder Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands, ist in den materiellen Völkerrechtsnormen implizit enthalten. Entsprechendes gilt für die Normen, die einen Handlungsrahmen abstecken oder die Mittel und Verfahren zur Verfügung stellen: Sie lassen sich für den peaceful change nutzbar machen, existieren aber unabhängig vom peaceful change. Peaceful change ist somit ein Topos,

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der diesen Normen nichts hinzufügt 22. Als Topos, also als Ausdruck, der ein bestimmtes Bedeutungsfeld hat, ist peacefül change jedoch geeignet, verschiedene Funktionen zu erfüllen: (1) Peacefül change steckt einen Handlungsrahmen für die Interaktionen der Völkerrechtsakteure ab. Der Topos macht deutlich, daß nicht der Status quo heilig ist, sondern das Recht. Innerhalb des Rechts und mit seinen Mitteln sind Änderungen möglich. Die Völkerrechtssubjekte dürfen diese Änderungen anstreben, aus welchen Gründen auch immer - zur Durchsetzung des Rechts, der Gerechtigkeit oder auch bloß ihrer eigenen Interessen. (2) Peacefül change umschreibt eine Aufgabe, nämlich die Aufgabe, Recht und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene zu verwirklichen, den Frieden auf eine gerechte Ordnung zu gründen. Diese Aufgabe wird allen Akteuren im Topos des peacefül change vergegenwärtigt. Peacefül change ist so gesehen eine völkerrechtliche Leitidee, an der sich das Handeln der Völkerrechtsgemeinschaft orientieren soll: Die Schaffüng einer „positiven", weil gerechten Friedensordnung, die gegenwärtig bestehende ungerechte Zustände überwindet. (3) Soweit das Streben nach Änderung des Status quo auf die Überwindung rechtswidriger internationaler Zustände abzielt, kann man peacefül change als abgeleitetes Völkerrechtsprinzip bezeichnen: Das Prinzip peacefül change verlangt von allen Staaten in rechtlich verpflichtender Weise, völkerrechtswidrige Zustände, für die sie selbst verantwortlich sind, zu überwinden und den rechtmäßigen Zustand herzustellen; es legitimiert die von diesen Zuständen benachteiligten Staaten sowie die Vereinten Nationen, auf die Verantwortlichen zu diesem Zwecke mit friedlichen Mitteln einzuwirken. D I . Peaceful change und die Durchsetzungsschwäche des Völkerrechts

Das Völkerrecht im allgemeinen leidet an seiner Durchsetzungsschwäche. Das ist für die Probleme nicht anders, die hier mit dem Topos „peacefül change" angesprochen wurden. Solange es keine Weltgesetzgebung gibt, keine verbindliche Rechtsgestaltung durch ein internationales Gremium, solange das Völkerrecht zwischenstaatliches Koordinationsrecht ist, man kann also sagen: solange das Völkerrecht Völkerrecht ist, ist peacefül change im wesentlichen auf das freiwillige Zusammenwirken der beteiligten Staaten angewiesen. Nur in sehr begrenzten Fällen gibt es einseitige Gestaltungsmög-

22

So bereits, auch zum folgenden, Dietrich Murswiek, Minderheitenfragen und peacefül change, in: Blumenwitz/Gornig, Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union, 1996, S. 55 (64 f.).

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lichkeiten. In aller Regel aber ist der friedliche Wandel auf den Konsens der Beteiligten angewiesen. Dies läßt seine Realisierungschancen als schwach erscheinen. Allerdings gibt es das ganze Instrumentarium der Außenpolitik und Diplomatie, das zugunsten der Veränderung der bestehenden Lage eingesetzt werden kann. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, völkerrechtlich erlaubte Mittel einzusetzen, um einem betroffenen Staat seine Zustimmung zur Änderung des Status quo verlockend erscheinen zu lassen oder auch andererseits Druck auf diesen Staat auszuüben. Solange nicht Gewalt oder Drohung mit Gewalt eingesetzt wird, steht der Politik ein breites Spektrum von Anreizund Druckmitteln ökonomischer und politischer Art zur Verfügung. Was notwendig ist, um peaceful change zu verwirklichen, ist meist ein fester politischer Wille und vor allem ein langer Atem. Was kurzfristig als völlig unmöglich erscheint, kann auf lange Sicht gelingen. Und mitunter kommen fundamentale Änderungen der internationalen Lage sogar ganz schnell und überraschend zustande. Ein Beispiel dafür ist der Zusammenbruch des Sowjetsystems und die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Es gibt kein eindrucksvolleres Beispiel dafür, daß grundlegende Umwälzungen der internationalen Lage auf friedliche Weise möglich sind. Und zugleich ist dieses Beispiel ein Beleg dafür, daß auf Gewalt gestützte Systeme, die grundlegenden Gerechtigkeitsforderungen widersprechen, sich auf die Dauer nicht halten können. Eines der zentralen Gerechtigkeitskritierien für die Gestaltung der Völkerrechtsordnung ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Prinzip mag noch so schwach sein in seiner rechtlichen Erzwingbarkeit. Als rechtsgestaltende Idee hat es sich als mächtig erwiesen, nicht nur im Rahmen der Dekolonisierung, sondern auch jetzt bei der Neuordnung Europas. Der Fall der Mauer und die Auflösung der Sowjetunion und ihrer Herrschaft über Osteuropa sind freilich nicht erfolgt, weil Völkerrechtsnormen die Peaceful-change-Idee konkretisierend - dies geboten hätten, sondern weil die Macht der Sowjetunion, den (völkerrechtswidrigen, mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht zu vereinbarenden) Status quo aufrechtzuerhalten, sich erschöpft hatte. Was man aus diesem Beispiel lernen kann, ist jedenfalls folgendes: Auch wenn eine rechtswidrige oder ungerechtige internationale Lage noch so stabil und geradezu versteinert erscheint, ist auf lange Sicht gesehen ein friedlicher Wandel nicht ausgeschlossen. Wer den politischen Willen zur Änderung aufrechterhält, ist niemals völlig chancenlos. Die Wahrung von Rechtspositionen, die dem Wandel dienen, kann sehr wichtig sein, vor allem dann, wenn sie sogar einen Rechtsanspruch auf die Änderung des gegebenen Zustands vermitteln. Auch Ansprüche, die momentan nicht durchsetzbar sind, können sich beim Wandel der Verhältnisse als wichtiges Mittel des peaceful change

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erweisen. So hat die Aufrechterhaltung der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit 1989 die Ausreisewelle aus der DDR über Ungarn ermöglicht; dadurch entstand der Druck, der dann das Brandenburger Tor öffnete. Jens Hacker gehörte zu den wenigen Politik- und Rechtswissenschaftlern, denen diese Zusammenhänge schon immer klar waren. Er hat als Völkerrechtler und Politologe sich unermüdlich für das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands eingesetzt, gerade auch in Zeiten, als die Mehrzahl der Politikund Sozialwissenschaftler sich von diesem Ziel längst verabschiedet hatte. Er hat mit seinem wissenschaftlichen Wirken sich für beide Elemente eingesetzt, die peacefül change in Deutschland ermöglichen sollten: Rechtliches Offenhalten der Deutschen Frage, beharrliches Festhalten an der politischen Zielsetzung der Wiedervereinigung. Das erste Element ist von der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen durchgehalten worden, das zweite in der politischen Praxis beinahe bis zur Unkenntlichkeit abgebröckelt. Deutschland hätte auf die immensen Folgeprobleme der Wiedervereinigung wesentlich besser vorbereitet sein können, hätten sich Politik und Wissenschaft von dem Thema nicht schon längst abgewandt. Jens Hackers Schriften zur Deutschen Frage und auch seine Abrechnung mit all denjenigen, die die Wiedervereinigung längst ad acta gelegt hatten23, können daher als Belege dafür herangezogen werden, wie Wissenschaft und Politik sich zum Thema peacefül change praktisch verhalten können - oder auch nicht verhalten sollten.

23 Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershefer der SED-Diktatur im Westen, 1992.

Sicherheit und Kooperation im Ostseeraum Von Boris Meissner Das Ende des Kalten Krieges in Verbindung mit der revolutionären Umwälzung in Ostmitteleuropa hat den Eisernen Vorhang auch im Ostseeraum beseitigt, den er bis dahin geteilt hatte. Die Vielfalt von unabhängigen Staaten, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg im Ostseeraum bestanden hat, ist dadurch mit bestimmten territorialen Veränderungen wiederhergestellt worden. Mit der Möglichkeit der Schaffung engerer Beziehungen unter den Ostseeanrainern bot sich damit die Chance, den Ostseeraum als eine einheitliche Region in einem „neuen Europa", in dem die Europäische Union den Kern bildet, zu entwickeln. Die Hanse stellte dabei das Vorbild für die zahlreichen Initiativen zur Entwicklung engerer Zusammenarbeit vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet dar.1 Seit 1990 ist so ein dichtes Netz an Kontakten und Verbindungen im Ostseeraum geknüpft worden. Von vornherein war das Interesse an einer Verbesserung der Umweltbedingungen auf der Ostsee gegeben. Aufgrund einer polnisch-schwedischen Initiative kam es zu einer Umweltkonferenz in Ronneby 1990, aus welcher die Helsinki Commission (HELCOM) hervorgegangen ist. Auf deutsch-dänische Initiative erfolgte 1992 die Bildung einer jährlich tagenden Außenministerkonferenz in Gestalt des Ostseerates, dem alle neun Anrainerstaaten, einschließlich Rußland, Norwegen und Island angehörten.2 Auf das Drängen Schwedens ist eine verstärkte Institutionalisierung des Ostseerats erfolgt. 3 1 Vgl. die Beiträge über „Die Hanse in Geschichte und Gegenwart in den von der Ostsee-Akademie, Lübeck-Travemünde herausgegebenen Jahrbuch „Mare Balticum 1996". Zu den allgemeinen Problemen der Zusammenarbeit vgl. B. Meissner / D. A. Loeber / C. Hasselblatt (Hrsg.), Die Außenpolitik der Baltischen Staaten und die Internationalen Beziehungen im Ostseeraum, Hamburg 1994, S. 161 ff. 2 Dem Ostseerat gehört auch ein Vertreter der Europäischen Union an. Auf der sechsten Konferenz in Riga am 2. Juli 1997 war nach den USA und Frankreich die Ukraine als Beobachter vertreten. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 3 . 7 . 1997. Die Zulassung Weißrußlands als Beobachter ist umstritten. 3 Eine Tagung der Regierungschefs, die im Mai 1996 in Visby stattfand, ist zwar bisher nicht wiederholt worden, doch ist ein Sekretariat des Ostseerats als eine stän-

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Vom Ostseerat ist in Riga eine Euro-Fakultät, mit Ablegern in Tartu / Dorpat und Vilnius / Wilna errichtet worden. Dazu gehören die Projekte „Via Hanseatica" und „Via Baltica", Autoverbindungen, die ausgehend von Hamburg und Lübeck, Deutschland mit Polen, den baltischen Staaten sowie der Region um Kaliningrad / Königsberg und St. Petersburg in Rußland verbinden sollen. Ein weiteres Projekt, der „Baltische Ring", sieht die Schaffung eines Stromversorgungsnetzes rund um die Ostsee vor. Ein zusätzliches Projekt betrifft den Ausbau der Telekommunikationsverbindungen. Zur Verwirklichung dieser und anderer Projekte ist im Zusammenwirken mit der Europäischen Union ein Aktionsprogramm entwickelt worden.4 Zur Verstärkung der regionalen Zusammenarbeit haben die Fortschritte bei der Kooperation der drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen mit dem Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes beigetragen.5 Die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit erfolgt hauptsächlich im Rahmen des Baltischen Rates, der enge Beziehungen zum Nordischen Rat pflegt. 6 Von dem russischen Außenminister, damals Kosyrew, wurde der Ostseerat dazu benutzt, um den baltischen Staaten, insbesondere Estland und Lettland, vorzuwerfen, daß sie durch ihre Behandlung der „russischsprachigen" Bevölkerung Menschenrechte verletzen würden. Aus den Berichten der Kommissionen der KSZE (heute OSZE) in diesen Ländern und des Menschenrechtsbeauftragten der KSZE geht eindeutig hervor, daß dieses nicht der Fall war. 7 dige Einrichtung geschaffen worden. Vgl. FAZ vom 4. 7. 1997. Als wichtig haben sich auch die gemeinsamen Tagungen der nordischen und baltischen Außenminister erwiesen. 4 Zu den bisherigen Maßnahmen und den Perspektiven der Zusammenarbeit im Rahmen des Ostseerats vgl. H.-D. Lucas, Perspektiven der Ostseekooperation, in: Außenpoütik, 46. Jg., 1995, S. 23 ff.; Ch. Meier, Aktueüe Entwicklungstendenzen der poütisch-ökonomischen Zusammenarbeit im Ostseeraum, in: BiOst, Köln, Aktueüe Analysen, Nr. 49/1996. Einen wesentüchen Beitrag zur Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit hat die Vereinigung von 32 Handels- und Industriekammern im Ostseeraum, der Baltic Sea Chambers of Commerce Association BCCA, zusammen mit den von ihr geförderten Hanse-Wirtschaftstagen geleistet. 5 Auf dem Wege zum gemeinsamen baltischen Wirtschaftsraum ist das Freihandelsabkommen für Industriegüter vom 13. September 1993 am 17. Juni 1996 durch ein Abkommen über die Büdung einer Freihandelszone für Landwirtschaftsprodukte ergänzt worden. Vgl. D. Henning, Die baltischen Staaten, in: Jahrbuch der europäischen Integration, 1996/97, S. 429. 6 Die Büdung des „Baltischen Rates" erfolgte aufgrund der Wiederbelebung des Vertrages über Einheit und Zusammenarbeit der drei baltischen Staaten vom 12. September 1934 und fand noch vor der Wiederhersteüung ihrer staatüchen Unabhängigkeit statt. 7 Vgl. H.J. Uibopuu, Die OSZE-Mission in Estland und ihre bisherige Tätigkeit, in: OSZE-Jahrbuch, Bd. 1 (1995), Baden-Baden 1995, S. 150 ff.

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Trotzdem erklärten sich die baltischen Staaten mit dem russischen Vorschlag, im Rahmen des Ostseerates das Amt eines Kommissars für Menschenrechte zu schaffen, einverstanden. Andererseits diente der Ostseerat, ebenso wie die KSZE, als Forum, um Rußland auf die Verpflichtungen, seine Truppen aus den baltischen Staaten abzuziehen, hinzuweisen. Kosyrew begründete seinerseits die Notwendigkeit einer starken russischen Militärpräsenz im Ostseeraum mit der angeblichen Existenz revanchistischer Kräfte, die unter anderem Ansprüche auf Kaliningrad / Königsberg stellen würden. Jedenfalls hat das Drängen der anderen Staaten in der KSZE und im Ostseerat dazu beigetragen, daß Rußland seine Truppen erst aus Litauen 1993 und dann aus Estland und Lettland 1994 abgezogen hat.8 Es verzichtete außerdem auf seinen Atomstützpunkt in Paldiski (Baltischport) in Estland und die Radarstation in Skrunda in Lettland, wo nur eine Funkmeßstation zeitlich befristet verblieben ist. Durch die Intensivierung der Ostseekooperation und ihre Institutionalisierung ist angesichts des bedeutenden Konfliktpotentials im Ostseeraum eine bestimmte Entspannung erreicht worden. Das Konfliktpotential ist auf diese Weise verringert, aber nicht beseitigt worden. Dies liegt hauptsächlich daran, daß die russische Regierung bisher eine imperiale Politik verfolgt hat und die nationalistisch-kommunistische Mehrheit im Parlament nicht bereit ist, sich mit dem Verlust des Baltikums und damit eines ausgedehnten Zugangs Rußlands zur Ostsee abzufinden. In einer Diskussion außenpolitischer Experten in Moskau, bei der diese Einstellung deutlich zum Ausdruck kam, wurde von drei Zonen, die für die Außen- und Sicherheitspolitik Rußlands von besonderer Bedeutung sind, gesprochen.9 Die erste Zone bildet das Territorium der Rußländischen Föderation, die zweite Zone das „Nahe Ausland", zu dem neben den anderen GUS-Staaten auch die baltischen Länder gezählt werden, die dritte Zone die osteuropäischen Staaten, die früher überwiegend dem Warschauer Pakt angehört hatten. Die angestrebten Ziele sind die Erhaltung der territorialen Integrität der Rußländischen Föderation, die Wiederherstellung des russischen Imperiums durch Reintegration der nichtrussischen GUS-Staaten und Anschluß der baltischen

8

Vgl. B. Meissner, Die Baltischen Staaten im weltpolitischen und völkerrechtlichen Wandel, Hamburg 1995, S. 294 ff. 9 Vgl. Vnesnjaja politika Rossii bezgranicna, kak kosmos, Mezdunarodnaja zizn', 1994, Nr. 2, S. 99 ff. 32 Fcstschrifl Hackcr

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Republiken10 sowie die erneute Ausdehnung des russischen Einflusses auf die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten. Einer verstärkten Einbeziehung der baltischen Staaten in die engere Interessensphäre Rußlands kommt aus dieser Sicht sowohl für die russische Politik gegenüber der zweiten, als auch dritten Zone eine besondere Bedeutung zu. Damit würde Rußland zugleich die verloren gegangene Stellung im Ostseeraum wiedergewinnen. Die Angriffe gegen die Regierungen der baltischen Staaten haben daher auch nach dem Abzug der russischen Truppen nicht nachgelassen. Shirinowskij vertritt nicht allein die Auffassung, daß die baltischen Staaten liquidiert werden müssen.11 Das westliche Zugeständnis, daß Rußland seine konventionellen Streitkräfte an den Flanken verstärken kann, ist vom russischen Oberkommando ausgenutzt worden, um gepanzerte Verbände im größeren Umfange im Raum Pskow / Pleskau zu dislozieren. Besonders ernst zu nehmen ist die negative Haltung, die Rußland bisher bei den Grenzverhandlungen mit Estland und Lettland eingenommen hat. Es geht dabei um die Anerkennung der einseitigen und rechtswidrigen Änderungen, die von sowjetischer Seite während der Okkupation Estlands und Lettlands an den in den Friedensverträgen von 1920 festgelegten Grenzen vorgenommen worden sind. Die estnischen und lettischen Regierungen haben sich inzwischen dazu durchgerungen, diese faktisch bestehenden Grenzen anzuerkennen, wenn vertraglich einvernehmlich festgelegt wird, daß es sich dabei um eine Änderung des jeweils in Frage kommenden Grenzartikels in den Friedensverträgen handelt. Das lehnte die russische Regierung ab, da sie plötzlich die Weitergeltung der Friedensverträge nicht anerkennen wollte. Diese Auffassung fand sich auch in einem Schreiben von Präsident Jelzin an den amerikanischen Präsidenten Clinton vom 25. Juni 1996.12 Es wurde vor dem Treffen der Präsidenten der drei baltischen Staaten mit dem amerikanischen Präsidenten in Washington übersandt. Jelzin erklärte in ihm, daß der Frieden von Tartu / Dorpat „eine Grenze guthieß, durch welche 2000 qkm ur-russisches Land vereinnahmt wurde". Er führ fort: „Natürlich können wir den Frieden von Tartu nicht anerkennen, nicht einmal für eine halbe Stunde, wie viele

10 Nur ein Teilnehmer der Diskussionsrunde (Anm. 5) war bereit, die baltischen Staaten von einer Reintegration in den früheren Grenzen der Sowjetunion abzusehen, ebenda, S. 105. 11 Vgl. Meissner (Anm. 8), S. 315, Anm. 77. In einem Interview mit der estnischen Zeitung „Postimees" vom 28.4. 1996 brachte Shirinowskij die Bereitschaft, bei der Wiedergewinnung der baltischen Länder gegebenenfaüs Gewalt anzuwenden, zum Ausdruck. Wortlaut: deutsche Übersetzung aus dem „Postimees44, in: Baltische Briefe, 1996, Nr. 7/8, S. 3 f. 12 Wortlaut: Baltische Briefe, 1996, Nr. 7/8, S. 3.

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vorgeschlagen haben, denn als Estland Teil der Sowjetunion wurde, hörte es auf, ein Subjekt des internationalen Rechts zu sein, und seine geschlossenen Verträge und Abkommen verloren ihre Gültigkeit". An sich eine völkerrechtlich absurde These, die bisher vor allem vom russischen Außenministerium und der Duma vertreten wird, welche auf keinen Fall etwas eingestehen wollen, was der ganzen Welt bekannt ist. Ausgehend vom Hitler-Stalin-Pakt hat die Sowjetunion unter Vertragsbruch 1940 die drei baltischen Staaten nicht nur gewaltsam besetzt, sondern auch mit Hilfe kommunistischer Marionettenregierungen der Sowjetunion einverleibt, d.h. annektiert. Diese völkerrechtswidrige Annexion ist von der überwiegenden Mehrheit der Staaten in der Welt, darunter der Bundesrepublik Deutschland, nicht anerkannt worden.13 Sie hat im Falle Deutschland nach der Wiedererringung der Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten zu einer Wiederherstellung der durch die völkerrechtswidrige und daher nichtigen Annexion unterbrochenen gegenseitigen diplomatischen Beziehungen geführt. Auch bei den Grenzverhandlungen mit Lettland hat Rußland mit der gleichen Argumentation den Friedensvertrag von Riga von 1920 nicht anerkannt.14 Dagegen ist von russischer Seite der Friedensvertrag mit Litauen, der 1920 in Moskau abgeschlossen wurde, nicht in Frage gestellt worden. Die Begründung, die Jelzin dem russischen Vorgehen gegeben hat, ist gefährlich, weil sie die Grundlagen einer Friedensordnung untergräbt. Im Schreiben des russischen Präsidenten waren außerdem die üblichen Klagen enthalten, daß die russischen „Landsleute" ständigen Diskriminierungen ausgesetzt seien. Diese Behauptung steht im Widerspruch zu den tatsächlichen Feststellungen der für den Schutz der Menschenrechte zuständigen Institutionen. Der russische Angriff richtete sich dabei vor allem gegen Estland, das in seiner Nationalitätenpolitik an die gesetzlichen Regelungen der Vorkriegszeit, die damals in Europa allgemein als vorbildlich galten, anknüpft. Aus dem Schreiben Jelzins und weiteren noch schärferen Angriffen aus Moskau ist deutlich erkennbar, daß die „Volksrussen" gegebenenfalls als ein Instrument zur Erschütterung der inneren Ordnung Estlands und Lettlands mißbraucht werden sollen. Die baltischen Staaten mußten eine solche Einstellung, hinter der sich expansive Tendenzen bemerkbar machten, als eine unmittelbare Bedrohung ihrer Sicherheit empfinden. Das hat sie in ihrem Wunsch nach größerer Sicherheit im Rahmen der NATO bestärkt. 13

Vgl. Meissner, Die Sowjetunion, Die baltischen Staaten und das Völkerrecht, Köln 1956. 14 Vgl. D. Λ. Loeber, Rußland und Lettland im Territorialkonflikt um Abrene, in: Acta Baltica, Bd. X X X I V 1996, S. 9 ff. 32'

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Bei der Auseinandersetzung mit dem Westen über die Osterweiterung der NATO 15 ist von der russischen Führung vor allem der Beitritt der baltischen Staaten zur NATO entschieden abgelehnt worden. In dem Schreiben von Jelzin an Clinton heißt es: „... natürlich ist selbst die hypothetische Möglichkeit den Wirkungsbereich der NATO auf die baltischen Staaten auszuweiten, völlig ausgeschlossen. Eine derartige Aussicht ist für Rußland völlig unannehmbar und wir halten Schritte jeder Art in dieser Richtung für eine Herausforderung der Sicherheitsinteressen unseres Volkes und als Zerstörung der fundamentalen Strukturen der europäischen Stabilität." Die russischen Einwände und Drohungen von Gegenmaßnahmen haben im Hinblick auf die Kandidatur der baltischen Staaten für eine Mitgliedschaft in der NATO ihre Wirkung auf den Westen, der bestrebt war, Rußland in die europäische Sicherheitsstruktur einzufügen, nicht verfehlt. Auf der Gipfelkonferenz der NATO in Madrid im Juli 1997 wurde beschlossen, zunächst nur Polen, Tschechien und Ungarn als neue Mitglieder in der NATO vorzusehen.16 Aufgrund einer dänischen Initiative, von deutscher Seite unterstützt, wurde eine Formulierung im Schlußdokument erreicht, welche die Tür für einen späteren Beitritt der baltischen Staaten offen hielt. 17 Die amerikanische Außenministerin, Madeleine Albright, erklärte am 13. Juli 1997 inWilna: 18 „Ich bin auch hier, um den Völkern des Baltikums zu sagen, unsere Vision eines geeinten Europa schließt Sie ein und Sie sind die Partner beim Erreichen dieses Zieles. Europa kann ohne Sie kein Ganzes sein, Europa kann nicht sicher sein, wenn Sie nicht sicher sind." Sie fügte hinzu: „Die Vereinigten Staaten.... unterstützen die Bemühungen von Estland, Lettland und Litauen der NATO beizutreten, was geschehen kann, wenn sie sich bereit und in der Lage sehen, den Verpflichtungen einer NATO-Mit-

15 Auf die Auseinandersetzung um die Osterweiterung der NATO ist Jens Hacker näher eingegangen. 16 Vgl. die „Erklärung von Madrid" vom 8. Juü 1997, in: Internationale Poütik, 1997, Nr. 9, S. 102 ff. 17 Vgl. FAZ vom 14. 7. 1997. Bei seinem anschüeßenden Besuch in Kopenhagen würdigte der amerikanische Präsident Clinton den Einsatz der Dänen für die baltischen Staaten. Vgl. FAZ vom 18. 7. 1997. 18 Internationale Poütik, 1997, Nr. 9, S. 124.

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gliedschaft gerecht zu werden und wenn die NATO zu dem Schluß kommt, daß ihre Mitgliedschaft den Interessen des Bündnisses dient." Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle mit den Außenministern Polens, Tschechiens und Ungarns durch die Außenminister der 16 NATO-Staaten fand am 16. Dezember 1997 in Brüssel statt.19 Eine bestimmte Erhöhung der Sicherheit der baltischen Staaten, insbesondere Litauens, stellt die künftige Mitgliedschaft Polens in der NATO dar. Dies gilt heute, wo Polen aufgrund seiner territorialen Erweiterung im Westen in verstärktem Maße eine Ostseemacht bildet. Sie ist von einem Autor in geopolitischer Hinsicht als das „Herzland" des Ostseeraumes bezeichnet worden.20 Polen dürfte ein besonderes Interesse an der Sicherung der drei baltischen Staaten haben, die allein zu schwach sind, um sich wirkungsvoll zu verteidigen. Die gleiche Einstellung liegt auch bei Schweden vor, das historisch immer an der Sicherung der baltischen Gegenküste interessiert war. Es ließ sich jedoch von den Vereinigten Staaten nicht zu einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement bewegen. In jedem Falle trägt die inzwischen erfolgte Zugehörigkeit Schwedens und Finnlands zur Europäischen Union zu einer besseren Sicherheitslage der baltischen Staaten bei. Es hat sie in ihrem Streben nach Aufnahme in die Europäische Union, mit der sie eine Stärkung ihrer Sicherheit verbinden, ermutigt. Grundsätzlich erhob Rußland, wie Jelzin in seinem Brief an Clinton feststellte, keine Einwände gegen den Beitritt der baltischen Staaten zur Europäischen Union. Es erschwerte jedoch Estland und Lettland den Beitritt durch das Hinauszögern der Grenzverhandlungen und die unbegründete Kritik an ihrer Nationalitätenpolitik. Damit wurde der Eindruck erweckt, daß die Voraussetzungen, die aufgrund des Pariser Stabilitätspaktes erforderlich sind, bei ihnen noch nicht vorliegen. Um den Abschluß der Grenzabkommen mit Rußland zu beschleunigen, erklärten sich Estland und Lettland bereit, in ihnen auf die Erwähnung der Friedensverträge zu verzichten. Zu einer Einigung ist es trotzdem noch nicht gekommen, da der neue russische Außenminister J. Primakow den Abschluß des Grenzvertrages erneut von der Beendigung der angeblichen Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung abhängig gemacht hat. Jedenfalls ist durch das estnische und lettische Zugeständnis der BlockadeCharakter der russischen Politik für alle EU-Länder so klar geworden, daß die ausstehenden Grenzabkommen bei der Frage der Aufnahme von Verhandlun-

19 20

FAZ vom 17. 12. 1997. Vgl. J. v. Alten, Weltgeschichte der Ostsee, Berlin 1996.

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gen über den Beitritt der baltischen Staaten zur Europäischen Union keine Rolle gespielt haben. Bundeskanzler Dr. Kohl hatte auf der Gipfelkonferenz des Ostseerates auf Visby deutlich erkennen lassen, daß von deutscher Seite die gleichzeitige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit allen drei baltischen Staaten im Sinne des „Startlinienmodells" befürwortet würde. Die Europäische Kommission empfahl jedoch am 11. Juli 1997, die Beitrittsverhandlungen nur mit einer Gruppe von Staaten aufzunehmen, die den erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Kriterien am besten entsprachen.21 Zu ihnen wurden neben Polen, Tschechien, Ungarn sowie Zypern, Estland und Slowenien gezählt. Lettland und Litauen fühlten sich durch diese Empfehlungen zur Erweiterung der EU aufgrund veralteter Angaben zurückgesetzt und empfanden die Einheit der baltischen Region bedroht. Außenminister Kinkel versuchte mit dem Vorschlag eines „Stadionmodells", Lettland und Litauen möglichst frühzeitig in die Beitrittsverhandlungen einzubeziehen.22 Dafür traten auch Schweden und Dänemark ein. Die Außenminister der Europäischen Union, ebenso wie die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen in Luxemburg hielten an den sechs Vorreitern für die Erweiterung fest. 23 Mit ihnen sollen Anfang 1998 offizielle Verhandlungen aufgenommen werden. Gleichzeitig sollten die weiteren Aspiranten, neben Lettland und Litauen Rumänien, Bulgarien und die Slowakei beschleunigt an den Erweiterungsprozeß herangezogen werden. Dies bietet vor allem Lettland und Litauen, die ihren Abstand gegenüber Estland wesentlich vermindert haben, die Möglichkeit, frühzeitig zu den Beitrittsverhandlungen zugelassen zu werden. Als Mitglieder der Europäischen Union könnten die baltischen Staaten den Anspruch erheben, Vollmitglieder der Westeuropäischen Union (WEU) im Verlauf ihres weiteren Ausbaues24 zu werden. Die Bedeutung der WEU sollte 21

Vgl. FAZ vom 12. 7. 1997. Vgl. FAZ vom 18. 10. und 27. 10. 1997. Vgl. hierzu auch J. v. Altenbockum, Die baltische Wunde, in: FAZ vom 27. 10. 1997. 23 Vgl. FAZ vom 25. 11. und 15. 12. 1997. 24 Vgl. hierzu die Erklärung von Birminhang vom 7. Mai 1996 auf der Tagung des Ministerrates der Westeuropäischen Union, in: Buüetin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 1996, Nr. 48, S. 517 ff. Die baltischen Staaten sind vorläufig nur assozüerte Mitgüeder der WEU. Die WEU, die heute zehn Vollmitgüeder zählt, ist bestrebt, diese Zahl mögüchst bald um die neuen NATO-Mitgüeder zu erweitern. Vgl. FAZ vom 5. 12. 1997. Von dem CDU-Außenpoütiker Lamers ist die Büdung eines zweiten Eurokorps im Rahmen der W E U unter Einbeziehung der baltischen Staaten vorgeschlagen worden. Vgl. FAZ vom 10. 7. 1997. 22

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nicht unterschätzt werden, da sie eine automatische Beistandsleistung der Bündnispartner mit allen Mitteln, die bei dem Nordatlantikpakt in dieser Form nicht gegeben ist, vorsieht. Andererseits ist der Schutz durch die NATO, in der den Vereinigten Staaten eine führende Rolle zufällt, natürlich sehr viel wirkungsvoller. Da die baltischen Staaten mit einer baldigen Aufnahme in die NATO nicht rechnen können, ist dadurch im Ostseeraum eine „Grauzone" entstanden, für welche die „Partnerschaft für den Frieden" und die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen der baltischen Staaten25 nicht ausreichen, um genügend Sicherheit zu verbürgen. Der Abschluß der Grundakte zwischen der NATO und der Rußländischen Föderation vom 27. Mai 199726 und die Vereinbarung einer PartnerschaftsCharta zwischen der NATO und der Ukraine vom 9. Juli 199727 haben zum Gedanken einer ähnlichen Charta geführt, welche die NATO mit den baltischen Staaten, unter Einbeziehung einiger nordischer Staaten, insbesondere Schweden umfaßt. Die baltischen Staaten verhielten sich gegenüber diesem Gedanken zurückhaltend. Weder wollten sie das Ziel einer möglichst baldigen Mitgliedschaft in der NATO aufgeben, noch war eine solche Charta für sie genügend konkret. Sie zogen eine unmittelbare Partnerschafts-Charta mit den Vereinigten Staaten, nachdem zweiseitige Sicherheitsverträge mit Amerika nicht zu erreichen waren, vor. 28 Die US-Baltic-Charta ist am 16. Januar 1998 in Washington vom amerikanischen Präsidenten und den drei baltischen Staatspräsidenten unterzeichnet worden. 29 Sie enthält keine Garantieerklärung für die baltischen Staaten, kommt ihr aber nahe. Sie ist ein Beleg dafür, daß sich die Vereinigten Staaten für die staatliche Unabhängigkeit und territoriale Integrität und damit volle Souveränität der baltischen Staaten verpflichtet ansehen. Für eine enge amerikanisch-baltische Zusammenarbeit soll eine gemeinsame Partnerschaftskommission sorgen, die vom stellvertretenden amerikanischen Außenminister Talbott geleitet werden wird. Das durch die Partnerschafts-Charta bewirkte Engagement der Vereinigten Staaten im Ostseeraum hat die Sicherheit der baltischen Staaten und der ge-

25 Vgl. P. H. Lange, Sicherheit abseits der NATO, Baltische Briefe, 1996, Nr. 11, S. 3; The Defence Forces. Organization and Development, Estonia Today vom 18. 12. 1996. 26 Wortlaut: Internationale Politik, 1997, Nr. 9, S. 76 ff. 27 Wortlaut: Ebd., S. 113 ff. 28 Vgl. 7. v. Altenbockum, Amerikanisch-baltische Charta, FAZ vom 16. 1. 1998. 29 Vgl. Kölner Stadt-Anzeiger vom 17. 1. 1998.

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samten Region wesentlich erhöht. Die Chancen für einen späteren Beitritt der baltischen Staaten zur NATO haben sich dadurch vergrößert. Der Abschluß der Grundakte mit der NATO hat die russische Führung mit der Osterweiterung der NATO, die sie als den „schwersten Fehler seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs" hält, nicht ausgesöhnt. Sowohl von Jelzin, als auch dem Duma-Vorsitzenden Selesnjow ist angedroht worden, die Grundakte zu revidieren, falls die Mitgliedschaft der baltischen Staaten zur NATO ernsthaft in Erwägung gezogen würde. 30 Auf der anderen Seite haben mehrere Vorgänge die Bereitschaft der Kremlführung, eine Änderung in der bisherigen russischen Baltikum-Politik, die mehr auf Druck als auf Diskussion beruhte, durchzuführen, erhöht. An erster Stelle ist die Stabilisierung der Sicherheitslage im Ostseeraum, die zur besseren Sicherung der baltischen Staaten beiträgt, zu nennen. Zweitens ist Rußland an einem weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Ostseeraum, für den von baltischer Seite eingetreten wird, interessiert. 31 Auch dürfte auf russischer Seite die Erkenntnis gewachsen sein, daß eine Normalisierung der Beziehungen mit den baltischen Staaten für das russische Eintreten für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, das hauptsächlich auf der OSZE aufbaut 32, förderlich sein könnte. Den Anstoß zu einem solchen Normalisierungsprozeß gab eine Erklärung über die langfristige strategische Linie Rußlands gegenüber den baltischen Staaten, die im Auftrage Präsident Jelzins ausgearbeitet worden war und am 11. Februar 1997 veröffentlicht 33 sowie vom russischen Außenministerium näher kommentiert wurde. 34 Als Ziel wurde der Ausbau und die Verbesserung der Beziehungen zwischen Rußland und den baltischen Staaten auf außen- und sicherheitspolitischem sowie wirtschaftlichem Gebiet genannt und die Bedeutung der Gewährleistung der Rechte der russischsprachigen Bevölkerungsteile in Estland und Lettland besonders betont.

30

Vgl. Chr. Hoffmann , Jelzin schmoüt in Kareüen, FAZ vom 10. 7. 1997. Vgl. J. v. Altenbockum, Frischer Wind in den Segeln. Neue Hoffnungen auf bessere Zusammenarbeit unter den Ostsee-Anrainern, FAZ vom 1. 12. 1997. Vom lettischen Außenminister Birkavs wurde eine Wirtschaftsunion rund um die Ostsee in Verbindung mit einer Freihandelszone aüer Ostsee-Anrainer vorgeschlagen. Vgl. FAZ vom 19. 11. 1997. 32 Vgl. A. Rotfeld, Poiski sistemy koüektivnoj bezopastnosti, Mezdunarodnaja zizn', 1994, Nr. 10, S.54ff.; Sovet bezopastnosti dlja edinoj Evropy, Krasnaja Zvesda vom 14. Juü 1994. 33 Wortlaut: ITAR-TASS vom 11.2. 1997. 34 Vgl. Diplomaticeskij Vestnik, 1997, Nr. 3, S. 63 f. 31

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Einen ersten größeren Schritt in dem mit dieser Erklärung eingeleiteten Normalisierungsprozeß bildete der Staatsbesuch des litauischen Präsidenten Brazauskas im Herbst 1997 in Moskau und der Abschluß eines Grenzvertrages zwischen Rußland und Litauen am 24. Oktober 1997 in dem auch die russischen Transitrechte nach Kaliningrad (Königsberg) geregelt wurden.35 Es war der erste Grenzvertrag, der von Rußland mit einer früheren Unionsrepublik der Sowjetunion geschlossen wurde. Aus diesem Anlaß wurde von Jelzin eine einseitige Sicherheitserklärung gegenüber Litauen und den anderen baltischen Staaten abgegeben. Sie sollte eventuell völkerrechtlich durch ein „Abkommen über gute Nachbarschaft und gegenseitige Gewährleistung der Sicherheit", das Rußland mit den drei baltischen Staaten entweder einzeln oder gemeinsam abschließen würde, abgesichert werden. Im Pressedienst des russischen Präsidenten wurde anschließend erklärt: 36 „Wir sind bereit, den Sicherheitsgarantien für die baltischen Staaten multilateralen Charakter zu verleihen, indem wir beispielsweise die USA, Deutschland, Frankreich und einige weitere westliche Länder hinzuziehen. Auch die Idee eines regionalen Stabilitäts- und Sicherheitsraumes unter Einbeziehung der nordeuropäischen Länder finden wir erwägenswert. Eine entsprechende internationale Übereinkunft, abgesichert durch ein Bündel regionaler vertrauensbildender Maßnahmen im wirtschaftlichen, humanitären und ökologischen Bereich, könnte man in eine Art regionalen Sicherheits- und Stabilitätspakt aufnehmen". Entsprechende ausführliche Vorschläge sollten vom russischen Außenministerium den baltischen Staaten unterbreitet werden. Von den baltischen Staaten wurden einseitige russische Sicherheitsgarantien, nicht zuletzt in Erinnerung an ähnliche sowjetische Erklärungen, zurückgewiesen.37 Eine Änderung trat, auch nachdem Jelzin seine Garantieerklärung bei seinem anschließenden Staatsbesuch in Schweden wiederholte, nicht ein.38 Der russische Verteidigungsminister Sergejew erklärte bei einem Besuch in Norwegen, daß die baltischen Staaten von Rußland nichts zu befürchten hät-

35 Vgl. R. M. Tracevkis, Vilnius, Moscow take first step in border treaty, The Baltic Times, Vol. 2, 1997, Nr. 2, S. 1, 8; ders., First Russian border treaty signed, Ebenda, Nr. 83, S. 1, 8. Vgl. hierzu auch FAZ vom 25. 10. 1997. 36 ITAR-TASS vom 24. 10. 1997. 37 Vgl. R. M. Tracevkis , Lithuania and Estonia reject Russian security guarantees, The Baltic Times, Vol. 2, 1997, Nr. 84, S. 1, 8; FAZ vom 28. 10. 1997. 38 Vgl. Α. Schmelz, Yeltsin takes Baltic issues to Sweden, The Baltic Times, Vol. 2, 1997, Nr. 88, S. 1 , 8 ; J. Heintz, Yeltsin concludes dramatic visit to Sweden, ebd., Nr. 89, S. 2.

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ten, auch wenn sie das Angebot Rußlands ihnen militärischen Schutz und Sicherheitsgarantien zu gewähren, zurückweisen würden39. Äußerungen von russischer Seite, wie sie gegenüber estnischen und lettischen Regierungsmitgliedern gemacht worden sind,40 lassen auf einen baldigen Abschluß des Grenzabkommens hoffen. Es kommt jedoch nicht nur auf die Unterzeichnung dieser Abkommen, sondern auch auf ihre Ratifizierung an und die ist bei der gegenwärtigen Zusammensetzung der Duma unsicher. Solange sie von einer nationalistisch-kommunistischen Mehrheit beherrscht wird und ungewiß ist, wer der künftige Nachfolger von Präsident Jelzin sein wird, bleibt die Gefahr für die staatliche Unabhängigkeit der baltischen Staaten und die Sicherheit im Ostseeraum bestehen. Ebenso, wenn den baltischen Staaten der Beitritt zur NATO nicht gewährt wird und eine Entmilitarisierung und wirtschaftliche Umgestaltung des Gebietes Kaliningrad (Königsberg), das in seiner gegenwärtigen Struktur eine Bedrohung darstellt, nicht erfolgt. 41

39

Vgl. FAZ vom 26. 11. 1997. Vgl. Estonian-Russian relations on the mind, The Baltic Times, Vol. 3, 1998, Nr. 21, S. 3. 41 Die Forderung nach einer Entmüitarisierung des Kaliningrader Gebiets ist von der Baltischen Versammlung in Wilna am 14. 11. 1994 erhoben worden. Vgl. ITARTASS vom 16. 11. 1994. Zum Gebiet Kaliningrad / Königsberg vgl. P. Joenniemi, Kaliningrad: A Region in Search for a Past and a Future, Mare Balticum, 1996, S. 84 ff . ; H. Neuschäffer, Aktueüe Entwicklungen im Gebiet Kaliningrad/Königsberg, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. Bd. X X V I I 1993, Berlin 1994, S. 53 ff.; M. Hoff / H. Timmermann, Kaliningrad (Königsberg). Eine russische Enklave in der baltischen Region. Stand und Perspektiven aus europäischer Sicht, ebd., S. 63 ff. Aus russischer Sicht das Sonderheft: „Rossija na B a ltike-Kaliningrad", Mezdunarodnaja Z I Z N \ 1995, Nr. 6; 0.Γ. Bogomolov, The Kaliningrad Region in the System of new European Coordinates, Mare Balticum 1996, S. 78 ff.; J. M. Zverev, Probleme und Perspektiven der wirtschaftüchen Entwicklung der Oblast' Kaüningrad, ebd., S. 119 ff. 40

.Mitteleuropa" Ein komplexer und ambivalenter politischer Terminus und die kontroverse Diskussion über ihn in den achtziger und neunziger Jahren

Von Christian Weimer

1.

Wer sich heute mit dem Schicksal der Idee und der politischen Vision „Mitteleuropa" auseinandersetzt, stellt fest, daß die revolutionäre Zäsur des Jahres 1989 auf den politischen und gesellschaftlichen Stellenwert dieser Metapher in Ost und West nachhaltig abfärbte. Die seit Beginn der neunziger Jahre zu beobachtenden Entwicklungen, die das Bild der internationalen Politik prägen und die sich vordergründig widersprechen, spiegeln sich auch in der Debatte um „Mitteleuropa" wider. Wir unterliegen, ob wir wollen oder nicht, dem Trend zur Globalisierung und zur weltweiten Vernetzung. Parallel dazu schreitet die Regionalisierung und Fragmentierung der Welt fort. Integration und Desintegration vollziehen sich insofern gleichzeitig. Die supranationale Politikverflechtung geht einher mit nationaler und regionaler Auffächerung der Staaten. Mit dem Ende der antagonistischen Ost-West-Konfrontation haben sich das komplexe internationale System, vor allem die Lage in Europa und in besonderem Maße die geopolitischen Koordinaten im Zentrum unseres Kontinents fundamental verändert. Denn bis 1989 schien es, als ob die Frage von Krieg und Frieden lediglich durch die Existenz und Stabilität zweier antagonistischer Blöcke beantwortet werden könne. Und man mußte befürchten, daß die Spaltung Europas und Deutschlands allseitig als internationale Rahmenbedingung anerkannt sei. Jens Hacker hatte in seinen zahlreichen Studien und Veröffentlichungen zur Deutschen Frage und zur bundesdeutschen Ostpolitik der Nachkriegsära immer wieder eindringlich darauf hingewiesen, daß der territoriale und politische Status quo in Europa irrigerweise für sakrosankt gehalten werde. Hackers wissenschaftlich fundierte und Völker- wie verfassungsrechtlich begründete Kritik am zeitgeistorientierten Denken und Handeln setzte an den absoluten Urteilen zur Einordnung politischer Entscheidungen, an den ahistorischen Urteilen über die zukünftige europäische Ordnung und in erster Linie

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an den Fehleinschätzungen und Irrtümern zu deutschlandpolitischen Positionen an. Seine deutlichen Worte schmeckten vielen in Politik, Wissenschaft und Publizistik nicht. Wir erinnern uns: Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Ost und West in Europa galt selbst 1988/89 „noch für geraume Zeit [als] eine unlösbare Aufgabe ul und die nationale Einheit Deutschlands selbst im Moment des Falles der Mauer als „keine vernünftige realitätsnahe Perspektive. " 2 Vor allem in den beiden Jahrzehnten zuvor waren hinsichtlich der Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas Denktabus aufgebaut worden, die gepflegt werden wollten. Aus opportunistischen Gründen wurde vielfach die Realität kurzerhand ausgeklammert oder zumindest aus den Augen verloren. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen politische Konstellationen und daraus abgeleitete Handlungsmuster als verbindlich und unabänderlich erklärt wurden, um den Status quo in Europa und vor allem den seiner Mitte nicht zu gefährden. Nur aufgrund dieser Selbstblockade des Denkens konnte die miterlebte „Zeitenwende" überraschen und konzeptionelle Hilflosigkeit hervorrufen. Die epochalen Umwälzungen des Jahres 1989 erschütterten nicht nur die sowjetischen Vorfeldstaaten. Sie brachten im Zeitraffer und mit revolutionärem Impetus ein globales Weltbild zum Einsturz. Der Umbruch in Osteuropa und die Sehnsucht der Menschen in der DDR nach einem einigen Vaterland zwangen dazu, liebgewonnene außen- und deutschlandpolitische Handlungsansätze ebenso wie wissenschaftliche Thesen in Frage zu stellen.3 Die alten Ost-West-

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So beispielsweise Hermann Graml in seinem Beitrag „Die Außenpolitik", in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band I: Politik, Frankfurt am Main 1989, S. 261. 2 So der damalige hessische SPD-Landesvorsitzende und heutige Ministerpräsident Hans Eichel, der in der Mitgliederzeitschrift „Wir Hessen" vom November 1989 (!) unter der Überschrift „Jetzt: Konkrete deutsch-deutsche Politik" schrieb: „Die deutsche Frage steht derzeit als akute Frage der Wiedervereinigung ... nicht auf der weltpolitischen Tagesordnung. ... Diejenigen, die derzeit von Wiedervereinigung daherreden, haben aus der Geschichte nichts gelernt und darum auch keine vernünftige realitätsnahe Perspektive. ... Und auch die gebetsmühlenartig wiederholte Phrase der Wiedervereinigung bringt weder Wohnungen noch Arbeit für alle. Zusätzlich unterminiert das Wiedervereinigungsgetöne alle Ansätze einer vernünftigen deutsch-deutschen Politik und geht, so wie es jetzt gefihrt wird, am Selbstbestimmungsrecht der Deutschen hüben wie drüben vorbei. " 3 Ein besonderes Verdienst bei der Aufarbeitung der deutschlandpolitischen Fehldiagnosen, Verharmlosungen und Tendenzen zur Selbsttäuschung angesichts der augenfälligen totalitären Ausprägung des SED-Staates kommt Jens Hacker zu. Er hat in seinen umfassenden Studien und genauen Analysen der Deutschlandpolitik aus zeitgeschichtlicher und politischer, verfassungs- und völkerrechtlicher Perspektive mit erfreulicher Klarheit Fehler und Irrtümer benannt, Defizite angesprochen und mit Legenden aufgeräumt.

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Schemata des Kalten Kriegs verschwanden über Nacht. Das vertraute Koordinatensystem hatte sich verschoben, die bisherige politische Verfaßtheit des europäischen Kontinents stand zur Disposition. Muster mußten revidiert werden. Neue Chancen und Perspektiven brachen auf. Bewegung kam in die internationale Politik. Und auch heute, fast ein Jahrzehnt nach dem annus mirabilis , ist noch immer keine Ruhe eingekehrt. Europa ist unruhiger und ungeordneter geworden.

2. Wenige Jahre vor der Jahrtausendwende sucht Europa also noch immer nach einem neuen, gemeinsamen Orientierungsmuster. Vieles ist im Fluß, die Verwirrung ist groß, Ordnungspunkte sind nur im Ansatz vorhanden. Europa diskutiert über seine zukünftige Gestalt im 21. Jahrhundert. Im Vordergrund steht das Bestreben, die östliche Mitte des Kontinents neu zusammenzufügen und diese Zone des postkommunistischen Europa im Rahmen westlicher Integrationssysteme zu stabilisieren. Der Kontinent verändert sein Gesicht. Aus einer erstarrten Konfrontation der Blöcke ist ein dynamischer Prozeß neuer internationaler Konstellationen geworden. Der grundlegende Wandel, die schwerwiegenden Verschiebungen und die gewonnenen und zerronnenen Perspektiven im Ringen um neue Ordnungsmodelle und in der Suche nach Orientierung in Europa werden klarer, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Ausformungen, Wendungen und Entwicklungen die internationale Debatte um das politische Motiv und die Idee „Mitteleuropa" seit Anfang der achtziger Jahre bis heute genommen hat. Wie kein zweiter Begriff dokumentiert die vielschichtige Metapher „Mitteleuropa" die gescheiterten Utopien, die verblaßten Hoffnungen, die zerstobenen Phantasien, aber auch die realisierbaren Vorhaben und erreichbaren Ziele in der Frage nach einer neuen Ordnung der Mitte unseres Kontinents. Die Diskussion um den spezifisch politischen Mitteleuropa-Begriff ist zweifelsohne eines der interessantesten Kapitel der politischen Ideengeschichte der jüngsten Zeit - vielleicht auch deshalb, weil der komplexe Begriff auf beliebige politische, gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen projiziert werden konnte und davon ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Ich will versuchen, im folgenden eine nüchterne Bestandsaufnahme dieser Debatte zu geben.

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3.

Vor annähernd fünfzehn Jahren hatte in den intellektuellen Milieus der „realsozialistischen" Staaten des damaligen „Ostblocks", zunächst in der ÎSSR und Ungarn, dann auch - jedoch mit größerer Zurückhaltung - in Polen, Rumänien und Jugoslawien, eine Debatte über die Realitäten, Hintergründe und Aussichten Europas und vor allem seiner Mitte eingesetzt. Diese Diskussion mit ihrem ungeheuren Reichtum an Assoziationen und Phantasie entfaltete produktive Unruhe vor allem in der Dissidentenszene der osteuropäischen Staaten, die auch in den westlichen Zentren des Exils hörbar widerhallte. Der Wortwechsel über die Idee „Mitteleuropa" sollte sich in seinem weiteren Verlauf wegen seiner differenten politischen Substanz, seiner mannigfaltigen Schattierungen und schillernden Blüten durch viel Aufregung und Spekulation, jedoch wenig Konkretisierung und fehlende politische Umsetzung auszeichnen. Die heutigen retrospektiven Urteile über die Idee „Mitteleuropa" schwanken zwischen den Extremen: der Ablehnung als „Träumerei", „Phantasmagorie", „Mythos", „Utopie" „Illusion", „Fiktion" oder „Niemandsland" auf der einen, der Wahrnehmung als chancenreiches Projekt, makroregionalistisches Ordnungskonzept, autonomistische Protestbewegung und supranationales Modell auf der anderen Seite. Diese scharfen Ablehnungen oder idealistischen Verklärungen der Mitteleuropa-Gedankenspiele zeichneten sich an ihrem Ausgangspunkt zu Beginn der achtziger Jahre freilich noch nicht ab. 4.

Die Debatte über das Schicksal Mitteleuropas, die in ihrer östlichen Variante auf die Kreise der osteuropäischen Dissidenten und Exilanten4 beschränkt bleiben sollte, nahm ihren Ausgang in einer dezidiert kulturell-literarischen Rückbesinnung auf einen historischen Raum besonderen Zuschnitts, der über die Grenzen hinweg eine gemeinsame Kultur konserviert habe. Seine Protagonisten hoben heraus, daß Mitteleuropa jahrhundertelang wegen seiner gemeinsamen historischen Erfahrungen und eines ähnlichen kulturellen Codes eine besondere Qualität bildete. Die Inhalte und Posititionen dieser historisch vertieften Reflexionen wurden zunächst in Westeuropa kaum wahrgenommen und wenn, dann kritisch-distanziert vermerkt. Die Idee „Mitteleuropa" als Wille und Vorstellung in seiner östlichen Variante bündelte sich zunächst in 4

Als ursprüngüeher Auslöser der poütisierenden Mitteleuropa-Diskussion wird der Essay des tschechischen Romanciers Milan Kundera über die „Tragödie Mitteleuropas" gesehen, der unter dem Titel „Un Occident Kidnappé ou la tragédie de l'Europe centrale" erstmals im Herbst 1983 in der französischen Zeitschrift „Le Débat" erschien.

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einer Suche nach kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten und Werten sowie in dem Beharren auf die eigene Identität. Der wegen seiner mehrdeutigen Geschichte5 lange aus dem politischen Sprachgebrauch verbannte Begriff „Mitteleuropa" wurde reaktiviert und zum Topos der osteuropäischen Opponenten für einen alternativen Reformierungsansatz bei der Suche nach einem Zukunftsmodell Europas. „Mitteleuropa" wurde ein programmatischer Begriff, der auf eine evolutionäre Überwindung des Status quo im damals noch existenten Ost-West-Gegensatz abzielte. Vor allem aber umschrieb „Mitteleuropa" die Sehnsucht nach kultureller und politischer Freiheit. Das Reden von „Mitteleuropa" diesseits und jenseits des Eisernen Verhangs stellte zunächst und vordringlich einen Aufruf an die westlichen Demokratien Europas dar, den östlichen Teil Gesamteuropas, dessen eigentliche Mitte, nicht zu vergessen. Dieser Appell an die europäische Identität sollte die Nachkriegsordnung in und für Europa in Frage stellen und das »Divergenzsystem von Jalta" (György Konräd) überwinden helfen. Parallel zu dieser politisch-historischen und kulturellen Identitätssuche verschaffte sich die nationale Differenzierung innerhalb Osteuropas politische Relevanz. Die Völker östlich des Eisernen Vorhangs sahen sich in den Augen der Mitteleuropa-Verfechter als Teil einer rein europäischen und nicht sowjetischen bzw. russischen Kultursphäre und -tradition. Sie versuchten, ihre Aversion gegen das kommunistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem mit Berufung auf ein „Europa diesseits von Ost und West" (György Konrâd) zu artikulieren und gegen den ideologischen und machtpolitischen Widerstand der herrschenden Machteliten auf dem Wege einer ,friedlichen Dynamisierung" (Zdenek Hejzlar) zunächst einen systemimmanenten Wandel durchzusetzen. Die Protagonisten dieses Diskurses, die Dissidenten innerhalb des Ostblocks und im westlichen Exil 6 , sahen in der Überwindung der Bipolarität in der internationalen Politik und in einem demokratischen System in der Osthälfte Europas das Ziel und Ergebnis, jedenfalls nicht den Beginn eines komplizierten Prozesses. Für sie war „Mitteleuropa" „eine kulturelle und letztlich politische Gegen-Hypothese" 7 zum Status quo der Nachkriegsordnung.

5 Zur Geschichte des Mitteleuropa-Terminus siehe Meyer, Henry C. : Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945, Den Haag 1955 und Droz, Jacques: L'Europe Centrale. Évolution historique de l'idée de „Mitteleuropa", Paris 1960. 6 Zu nennen sind hier stellvertretend: Müan Kundera, Vaclav Havel, Zdenek Mlynaf, György Konrâd, Miklos Molnar, Leszek Kolakowski, Czeslaw Müosz, Adam Zagajewski, Adam Krzemzinski. 7 Sontag, Susan: Europa. Noch eine Elegie, in: Schirrmacher, Frank (Hrsg.): Im Osten erwacht die Geschichte. Essays zur Revolution in Mittel- und Osteuropa, Stuttgart 1990, S. 15.

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5. In der starken Akzentuierung der kulturellen Aspekte „Mitteleuropas" und in der Betonung europäischer zivilisatorischer Traditionen sahen die „mitteleuropäischen" Autoren die Chance, die Staaten Osteuropas aus der hegemonialen Dominanz der Sowjetunion herauszulösen, ohne im Gegenzug jedoch die innere Kohärenz der Sowjetunion als ideologischer und politischer Einheit zu gefährden. Diese emanzipatorischen Mitteleuropa-Überlegungen fielen dabei - wohl nicht zufallig - zeitgleich mit der Neueinschätzung der „Block"-Situation durch die Sowjetunion. Seit 1987 war diese Umorientierung in den Stellungnahmen und Verlautbarungen der sowjetischen Führung feststellbar. Das 1988 erstmals propagierte „Prinzip der freien Wahl" bei der Gestaltung der inneren Ordnung nahm als ein Konzept der Entscheidungsfreiheit für die Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes mit eine Schlüsselposition innerhalb des „Neuen Denkens" des Gorbatschow-Apparats ein. Dieser zarte Ansatz innerer Autonomie bildete somit den Ausgangspunkt für die schrittweise Abkehr von der Breschnew-Doktrin. Im Kontext des neu eingeräumten und erweiterten außenpolitischen Spielraumes für die Warschauer Pakt-Staaten sowie mit der ausdrücklichen Ermutigung aus Moskau an die kommunistischen Machthaber zu innenpolitischen Veränderungen, formulierten die Oppositionskräfte dieser Staaten mit ihren Mitteleuropa-Gedankenspielen konkrete Absetzungstendenzen, die zwangsläufig über die reduzierten Autonomiezugeständnisse hinausgingen und quasi außenpolitische Handlungsfreiheit einforderten. Hinzu kam, daß die ungebrochene Kontinuität im nationalen Bewußtsein der Völker des ostmitteleuropäischen Raumes, aber auch das Gefühl einer schicksalhaften Zusammengehörigkeit den Wunsch nach politischer Souveränität der Region intensivierte. Mit der Einforderung einer „zivilen Gesellschaft" und dem „Niedergang des sowjetischen Imperiums" waren die Motive und Perspektiven des Umbruchs im revolutionären Jahr 1989 schon frühzeitig formuliert. Die Besinnung auf „Europa als kulturellen Wert" und der Wunsch nach rechtsstaatlichen und demokratisch-pluralistischen Politik- und Konfliktstrukturen zur Durchsetzung größerer gesellschaftlicher Freiheiten und liberaler Werte bestimmten diese „mitteleuropäische" Strömung. Im Zentrum dieser Diskussion über die schmerzhafte Lage Ostmitteleuropas stand die intellektuelle Suche nach Antworten auf die „Entführung" (Milan Kundera) der europäischen Mitte an ihre Peripherien, auf die kulturelle Überfremdung, auf den geistigen Verlust des Zentrums Europas. Diese intellektuelle und politische Suche in den Staaten der sowjetischen Einflußzone nach einer „mitteleuropäischen" Identität als Alternative zur Blockexistenz unter sowjetischer Observanz und die kulturelle Wiederentdeckung der „vergessenen Hälfte des Kontinents" 8 war ein einschneidendes gesellschaftspolitisches Ereignis in den Staaten zwischen dem Eisernen Vorhang und der Sowjetunion. Die konzep-

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tionelle Aufarbeitung der Mitteleuropa-Chiffre in den Dissidentenzirkeln dieser Länder stellte den Versuch dar, sich unter Berufung auf eine „mitteleuropäische" Identität von der mit dem Begriff Osteuropa verbundenen sowjetischen Vorherrschaft zumindest mental zu lösen. Die politische Dimension „Mitteleuropas" lag in der postulierten Vorstellung eines vereinigten, „europäisierten" Europas, das sich von den Großmächten löst und ihnen souverän entgegentreten kann. „Mitteleuropa" wurde der „Hoffnungsbegriff gegen das Blockdenken" (Helmut L. Müller), gespeist aus dem postulierten Revisionsbedarf der durch die „Ordnung von Jalta" geprägten Europabilder des Westens.9 Die sozialistische Vision einer internationalen Völkergemeinschaft und damit die kommunistische Integrationsperspektive war spätestens mit der Zerschlagung der autonomen Bestrebungen in Polen 1980/81 und der Verhängung des Kriegsrechts bei den Intellektuellen Ostmitteleuropas desavouiert. In Verbindung mit der als tiefe moralische Krise der sozialistischen Staaten diagnostizierten Perspektivlosigkeit trat unter der Chiffre „Mitteleuropa" an die Stelle sozialer Utopie und ideologischem Internationalismus die Betonung der nationalen und regionalen Identität, die sich gegen den Status quo, vor allem gegen den sowjetischen Herrschaftsanspruch richtete. Motiv dafür, „Mitteleuropa" einzufordern, war, die Herrschaft der Sowjetunion über ihre Vorfeldstaaten zu delegitimieren. „Mitteleuropa" sollte einerseits zur Überwindung der Entfremdungserscheinungen in der Mitte des Kontinents beitragen, andererseits den Systemgegensatz weiter relativieren. Mit der wiedergewonnenen Aktualität der „mitteleuropäischen" Idee als Identitätsbegriff und ihrer demokratischen und supranationalen Impulse versuchten die oppositionellen Gruppen Osteuropas ein Gegenideal zu den bisherigen ost-westlichen Denkmustern zu setzen und entwarfen die Möglichkeit einer umfassenden geopolitischen Neuordnung Europas. Diese Identität wurde im Rückgriff auf die Vergangenheit als Appell an ein „verschüttetes" Bewußtsein der historischen Zusammengehörigkeit der mitteleuropäischen Region abgeleitet. Die Initiierung dieses Gedankens durch die ostmitteleuropäischen Dissidenten war nichts anderes als der Ausdruck der Unzufriedenheit mit der politischen Realität des Status quo. Sie zweifelten an der historischen Endgültigkeit der europäischen Teilung und der bestehenden Systeme. Und sie sprachen dem Westen das Recht ab, unter Hinweis auf die Nachkriegsentwicklung den „gekidnappten"

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Siehe hierzu Reißmüller, Johann Georg: Die vergessene Hälfte. Osteuropa und wir, München/Wien 1986. 9 Vgl. Müller, Helmut L.: Die unvollendete Revolution in Osteuropa: Charakter und Ziele des politischen Umbruchs von 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1993, Heft Β 10/93, S. 20. 3

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(Milan Kundera), östlichen Teil Europas abzuschreiben und auf Dauer der sowjetisch-russischen Hegemonie auszuliefern. Hierin trafen sich die politischen Vorstellungen der „mitteleuropäischen" Visionäre der sowjetischen Vorfeldstaaten.

6. So berechtigt der Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, der sich in der Idee „Mitteleuropa" manifestierte, war, so wirklichkeitsfremd erwiesen sich bei näherer Analyse deren Inhalte. Eine der gravierendsten Fehleinschätzungen der „östlichen" Mitteleuropa-Verfechter war, daß fast alle politischen Lageanalysen, die auf blocktranszendierende und den Bipolarismus überwindende „mitteleuropäische" Lösungen hinausliefen, in ihrer Mischung von eigenwilligen Interpretationen, übersteigerten Hoffnungen, Illusionen und Träumen von vereinfachenden Prämissen und Verkürzungen ausgingen. Die historischen Bezüge, die in ihrer Funktion als argumentative Untermauerung der „Rekonstruktionsversuche" (Thomas Ross) oftmals lediglich instrumenteilen Charakter hatten, griffen auf ein teilweise harmonisiertes und zu positives Bild von „Mitteleuropa" und auf eine idealisierte Erinnerung an die gemeinsame Geschichte zurück. Als ein weiterer Kritikpunkt muß angeführt werden, daß der Ost-West-Antagonismus mehr oder weniger relativiert wurde. Die ideologische, machtpolitische und systembedingte Konfrontation sowie die Block- und Allianzbildung als Ursache der Spaltung Europas wurde nicht akzeptiert, sondern als machtpolitische Absprache zwischen den globalen Flankenmächten Sowjetunion und USA dargestellt. In diesem Zusammenhang wuchs geradezu ein „Jalta-Komplex" (Rudolf Jaworski) heran. Das Abkommen der Krim-Konferenz vom Februar 1945 wurde als der epochale Sündenfall in der internationalen Politik gebrandmarkt und polemisch als eine von den beiden Supermächten von außen aufgezwungene, widernatürliche und ahistorische Ordnung interpretiert. Das „Dilemma Jalta" symbolisierte in den Augen der Wortführer der Mitteleuropa-Idee den „Urgrund" der europäischen Zweiteilung und der globalen Bipolarität. „Jalta" 1 0 markierte für sie die Ursache für die „Tragödie Mitteleu10 Daß im übrigen auf der Konferenz von Jalta von den Allüerten keine Verabredung der Teüung des Kontinents erfolgte und nicht die Schaffung von Interessensphären abgesprochen wurde, beruht auf einer Fehlinterpretation der Jalta-Dokumente. Jens Hacker hat eindrucksvoü herausgearbeitet, daß die antagonistische internationale Blockbüdung eine Folge der 1945 einsetzenden poütischen Entwicklung ist, einer Entwicklung, die im Laufe des von der UdSSR ausgelösten Ost-West-Konfliktes, des Stalinschen Expansionismus und des Kalten Krieges seit 1947 insbesondere zur Spaltung Europas und zu der damit verbundenen Schaffung zwei Machtzentren in Ost und West geführt hat.

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ropas", eines Raumes, der „geographisch in der Mitte, kulturell im Westen und politisch im Osten" (Milan Kundera) liege. In diesem Kontext wurde, explizit in Richtung der westlichen Demokratien, der Vorwurf erhoben, die internationale Staatengemeinschaft habe komplett die in Jalta beschlossene Blockbildung als endgültigen Status quo akzeptiert. Der Westen habe sich damit in seiner Selbstbezogenheit von den Problemen der Mitte distanziert. 7.

Wo immer in Ostmitteleuropa unter dem beschwörenden Signet „Mitteleuropa" eine Veränderung der als ungerecht empfundenen politischen Nachkriegsordnung angestrebt wurde, lebte die politische Neuorientierung von einem starken nationalen Impuls. Universelle politische Prinzipien, wie die Respektierung der Menschenrechte, die Forderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, verbanden sich mit dem Anspruch auf nationale Selbstbestimmung und Selbständigkeit. Dieser Wunsch nach Selbstbehauptung ihrer nationalen Identität vollzog sich in den Assoziationen der Intellektuellen als Flucht in eine mitteleuropäische" Identität und richtete sich ausdrücklich gegen die Uniformierung der ostmitteleuropäischen Gesellschaften nach sowjetischem Muster. Sie richtete sich aber auch gegen die Annäherung an das westliche Zivilisations- und Kapitalismusmodell. Das Ziel „mitteleuropäischer" Überlegungen war eine Liberalisierung der inneren Verhältnisse, nicht eine Kopie des von den USA geprägten Westens. Diese „Befreiung" von der apathischen kommunistischen Gesellschaftsordnung sollte jedoch nicht als „Refolution" (Timothy Garton Ash), als Mixtur von Revolution und Reform, sondern als graduelle Abkehr vom Sozialismus erfolgen. Angestrebt wurde eine zivile Gesellschaft, pluralistisch und mit den im Westen durchgesetzten individuellen Bürgerrechten ausgestattet. Diese an den Topos „Mitteleuropa" gekoppelte Diskussion im „blinden Winkel" (Christoph Ransmayr) Europas wurde erst mit Verzögerung, mit deutlichen Akzentverschiebungen und in markanter Differenz zur osteuropäischen Sichtweise auf der westlichen Seite der Systemgrenze registriert. 11 Aus Sicht der Osteuropäer war der unter anderem vom ungarischen Literaten György Konrâd, einem der großen Befürworter des Gedankens „Mitteleuropa", vorgebrachte Vorwurf nicht unbegründet, daß ihre westlichen Nachbarn allzu starr auf die Vollendung des proklamierten europäischen Binnenmarktes mit seinen ökonomischen Vorteilen für die teilhabenden Staaten fi11 Vgl. Burmeister, Hans-Peter/Boldt, Frank /Mészàros, György (Hrsg.): Mitteleuropa. Traum oder Trauma? Überlegungen zum Selbstbüd einer Region, Bremen 1988; ebenso Hetterich, Frank /Semler, Christian (Hrsg.) Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt am Main 1989. 33 :

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xiert waren. Der Appell des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski an den Westen, „in den Kategorien des ganzen Europa zu denken 4412, spiegelte die Wünsche und Hoffnungen der osteuropäischen Bevölkerung wider. Das in Westeuropa propagierte Ziel eines supranationalen Zusammenschlusses zur Europäischen Union korrespondierte mit der forcierten Suche nach neuen Strukturen „jenseits der Nationalstaaten44 und ließ die desintegrativen, kulturbetonten Autonomiebestrebungen in den „Ostblock44-Staaten als politisch nicht zeitgemäß, als liebenswürdige Phantasie, als „lächerliche Visionen dissidentischer Träumer 44 (Jiff Dienstbier)13 erscheinen. So blieb es anfangs im Westen nur bei zaghaften und partiellen Analysen und Interpretationen dieser alternativen Perspektiven und Orientierungen, die im „anderen Europa 44 - so der Buchtitel des französischen Politikwissenschaftlers Jacques Rupnik14 hinter der Systemgrenze geäußert wurden. 8.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde der schon in seiner osteuropäischen Diskussionsvariante, die im übrigen vielfach deutsch-distanziert war 15, nuancenreiche Mitteleuropa-Begriff dann auch in der Bundesrepublik Deutschland als Instrument und perspektivisches Ziel der Politik entdeckt. Die Attraktivität des Begriffs lag dabei für viele Protagonisten in seiner Unbestimmtheit. Den äußeren Anstoß zur Reanimierung des Mitteleuropa-Topos, der in seiner großdeutschen Tradition, durch seine Bezeichnung als Kriegsziel des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg 16 und als Synonym für die Raumordnungspläne und Lebensraumideologie der Nationalsozialisten für die ersten Nachkriegsjahrzehnte in Deutschland seine Unschuld verloren hatte, bildete die intensive Suche nach einer tiefer grundierten nationalen und supranationalen Identität Deutschlands. Es ging in dieser Debatte, so stellten KarlRudolf Körte und Werner Weidenfeld 1991 fest, „um das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu sich selbst 44. Und sie führten weiter aus: „Die sich dabei vermischenden kultur- und zivilisationskritischen Strömungen w ren jedoch weniger Ausdruck des Unbehagens an der Nation als an der Verfaßtheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Frage nach der Identi

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Kolakowski, Leszek: Mitteleuropa, das ist mehr als nur ein Mythos. Interview mit Adalbert Reif, in: Die Welt vom 2.11.1987. 13 Dienstbier, Jifi: Mit den Augen eines Mitteleuropäers. Eine Strategie für Europa, in: Die Neue Geseüschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 35, 1988, Nr. 4, S. 384. 14 Siehe Rupnik, Jacques: L'Autre Europe, Paris 1994. 15 Vgl. Busek, Erhard/Wilflinger, Gerhard (Hrsg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents, Wien 1986. 16 Vgl. Naumann, Friedrich: Mitteleuropa, Berlin 1915.

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tat der Deutschen ... bündelte somit kulturelle Dispositionen." 17 „Mitteleuropa" wurde zu einem kennzeichnenden Symbol dieser kulturellen und politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik der späten achtziger Jahre.

Zunächst war der in bundesdeutschen Intellektuellen- und Publizistenkreisen aufgegriffene und mit utopisch-unrealistischen Komponenten befrachtete Mitteleuropa-Terminus ein kulturelles Schema und Identitätsersatz, das sich dadurch auszeichnete, daß er keine festen Strukturen und keine konkret definierbaren Inhalte aufwies 18. Relativ schnell verließ die Protestvokabel gegen »die Alleinherrschaft des Ost-West-Denkens in unserem Kopf" (Karl Schlögel) jedoch die Feuilletonseiten, hielt Einzug in den politischen Bereich und bestimmte maßgeblich die außenpolitischen und nationalstaatlichen Kontroversen der achtziger Jahre. Im Zuge der sicherheits- und entspannungspolitischen Debatte dieser Zeit als Stichworte sollen die verschärfte Blockkonfrontation nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, die Nachrüstungsdebatte und die Irritationen innerhalb des Atlantischen Bündnisses genügen - war verstärkt die Frage nach dem politischen Standort der Bundesrepublik Deutschland in Europa und der Welt gestellt worden. In dieser „Art klimatischem Orientierungsvakuum" (Claudia Schute) bildeten sich zwei politikrelevante Optionen heraus, die mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen, Methoden und Instrumenten eine Aufwertung der Rolle Deutschlands im europäischen und internationalen System anstrebten. Neben der „Westeuropa"/Westbindungs-Option mit der Forcierung der ökonomischen und politischen Integration und eingebettet in die NATO-Bündnisstruktur zur Stärkung der Position des „Westens" auf kontinentaler und globaler Ebene symbolisierte die „Mitteleuropa"-Option unterschiedliche Konzeptionen einer regionalen militärischen, ökonomischen und politischen Neuordnung. 9.

Die Chiffre „Mitteleuropa", die im Osten Europas durch Dissidenten, Oppositionelle und Intellektuelle, aber nicht von der herrschenden politischen Machtelite verwendet wurde, wurde in der Bundesrepublik aufgegriffen und immer mehr in eine deutsch-zentrierte Debatte um eine neue außenpolitische Orientierungsalternative und um die Stellung Deutschlands in der europäi17

Körte, Karl-Rudolf/Weidenfeld, Werner: Deutsche Frage/Deutschlandpolitik, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik, München 1991, S. 94. 18 Als Auslöser der bundesdeutschen Beschäftigung mit der Mitteleuropa-Thematik güt vielfach das Buch des Publizisten und Hochschullehrers Schlögel, Karl: Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986.

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sehen Staatenordnung umfunktioniert. „Mitteleuropa" wurde somit im westdeutschen politischen Tagesgeschäft operationalisiert. In der politischen Diskussion der Bundesrepublik wurde darüber hinaus die Frage gestellt, was die Mitteleuropa-Perspektive beim Nachdenken über die Überwindung der deutschen Teilung und damit gleichzeitig der ost-westlichen Blockadekonfrontation leisten könne. Die „mitteleuropäische Frage" wandelte sich in der bundesdeutschen Betrachtungsweise zur Umschreibung der „deutschen Frage", in der die Suche nach nationaler Identität und außenpolitischer Orientierung gebündelt lag.

Die Debatte zentrierte sich bei uns ganz um Deutschland. Es ging um die Verfassung Deutschlands in der europäischen Staatenordnung. Und es ging darum, die Staatsräson Deutschlands aus der Trias Nation, Europa und Westbindung in Frage zu stellen.19 Vor allem standen also die beiden deutschen Staaten, die verschwommene nationalpolitische Situation und die geopolitische Lage Deutschlands im Zentrum der bundesdeutschen Mitteleuropa-Diskussion. Die „mitteleuropäische" Problematik stand also synonym zur deutschen Frage. Das Mitteleuropa-Argument spielte folglich, wie rückblickend Jens Hacker 1997 zu Recht feststellt, besonders in der Deutschlandpolitik eine wichtige Rolle, indem es bei einigen Publizisten, Wissenschaftlern und Politikern dazu diente, „die Teilung Deutschlands für richtig, gerecht und notwendig zu erachten. Mit den Gedanken an Mitteleuropa wurde der Wunsch ver knüpft, es aus dem Ost-West-Konflikt herauszulösen, da dieser von den Gr machtinteressen, nicht jedoch von System-Verschiedenheiten und Wertunterschieden geprägt sei." 20 Das Spektrum der westdeutschen Mitteleuropa-Debatte reichte dabei von Disengagement- und Neutralisierungsplänen als Fortsetzung der Entspannungspolitik über Konföderationspläne zur Herstellung der deutschen Einheit bis zur Neuordnung Mitteleuropas unter deutscher Hegemonie. Nahezu alle deutschen Beiträge zur Mitteleuropa-Debatte entdeckten in der Metapher einen instrumenteilen Charakter zur Wiedererlangung einer staatlichen Einheit der Deutschen in einem größeren Rahmen. Wie bereits erwähnt, erlebte „Mitteleuropa" als politischer Begriff, der lange Zeit nur noch in (geschichts-)wissenschaftlichen Arbeiten Verwendung gefunden hatte, in der politischen Auseinandersetzung der Bundesrepublik eine unerwartete Renaissance. „Mitteleuropa" wurde Schlagwort eines ebenso vagen wie facettenreichen Syndroms einer Distanzierung vom Westen, besonders von den Vereinigten Staaten von Amerika. Die öffentliche Aufarbeitung dieses zum „Schlüsselwort" gewordenen Topos verselbständigte sich hierzu19

Siehe hierzu Hacker, Jens: Integration und Verantwortung. Deutschland als europäischer Sicherheitspartner, Bonn 1995, hier S. 280. 20 Hacker, Jens: Die Lebenslüge der Bundesrepublik. Publizisten, Poütiker, Wissenschaftler und die deutsche Einheit, in: FAZ vom 18.4. 1997.

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lande im rechten wie linken politischen Spektrum. „Mitteleuropa" kristallisierte sich als Symbol der politischen Re- und Neuorientierungen der Außenpolitik der Bundesrepublik. Trotz dieser sinnbildlichen Zentrierung war die westdeutsche Diskussion verstreut, unsystematisch, begrifflich oft unscharf und von einer Heterogenität der als „mitteleuropäisch" bezeichneten Interessen gekennzeichnet. Das Schwadronieren von „Mitteleuropa" war politisch „in". Es fallt auf, daß diese „Mitteleuropa"-Euphorie durch eine zurückhaltende Sympathie mit den von der Sowjetunion besetzten und von einer totalitären Ideologie unterdrückten Völkern der östlichen Hemisphäre Europas geprägt war. Menschenrechtsfragen, Grundwerte und Freiheits- und demokratische Mitwirkungsrechte, für deren Garantien und Einhaltung die „östlichen" intellektuellen Dissidenten in ihren Mitteleuropa-Modellen kämpften, wurden von den westdeutschen Protagonisten „mitteleuropäischer" Politik-Versionen gar nicht oder nur ausweichend angesprochen. Eine kritische Bilanz offenbart, daß das deutsche „Mitteleuropa" vielmehr als Vehikel dienen sollte, die sicherheitspolitische Einbindung aufzuweichen und die Westorientierung der Bundesrepublik Deutschland als conditio sine qua non deutscher Außenpolitik in Frage zu stellen. Der instrumentell eingesetzte Terminus sollte gleichzeitig eine Perspektive für die Überwindung der „als Stahlkorsett empfundenen" (Stefan Melnik) Teilung Deutschlands beziehungsweise Europas offerieren. Die „Äquivalenz" (Joscha Schmierer) der beiden Blocksysteme sollte mit Hilfe „mitteleuropäischer" Optionen vorgeführt werden. Wie Rudolf Jaworski richtig beobachtet hat, war diese deutsche Diskussion daneben teilweise monomanisch auf die „deutsche Einheit" und die „deutsche Mittellage" in Europa fixiert und von der Tendenz bestimmt, das Schicksal Mitteleuropas mit der Zukunft Deutschlands zu koppeln.21

10. Diese sicherheits- und entspannungspolitischen Variationen waren nur ein Gesichtspunkt der um den Mitteleuropa-Topos zentrierten außenpolitischen Alternativpositionen seit Mitte der achtziger Jahre. In der Analyse von Ideologie und Nation berührten sich die im linken politischen Spektrum einzuordnenden Diskussionsbeiträge begrifflich mit einer konservativen, nationalen Perspektive. Auch in dieser Denkrichtung wurde das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Westintegration und Deutschlandpolitik mit „mitteleuropäischen" Lösungsvorschlägen beantwortet. In einem Rückschwenk auf ältere Positionen antiwestlichen Denkens wurde Adenauers 21 Siehe Jaworski, Rudolf: Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift, Bd. 247, 1988, H. 3, S. 532.

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Junktim zwischen Westintegration und Lösung der deutschen Frage in dieser Perzeption außen- und nationalpolitischer Alternativen als „Illusion" hingestellt. Der westliche Teil Deutschlands solle seine Handlungsfähigkeit dadurch zurückerlangen, indem er sich aus der Bindung an die liberalen Demokratien des Westens löse und wieder eine „Mittlerstellung" zwischen Ost und West einnehme. Vornehmlich von „neuen" Neokonservativen wurde als weiterer Aspekt in der Mitteleuropa-Debatte beredt Klage über die „deutsche Neurose", über den Verlust einer an die Bismarcksche Reichseinheit anknüpfenden nationalen Identität geführt. Davon war eine programmatische Richtung zu unterscheiden, die weniger „Mitteleuropa" als vielmehr die Mittellage Deutschlands ausdrücklich thematisierte. Diese historisch-geopolitischen Perspektiven sahen die deutsche Geschichte primär determiniert durch die geopolitische Lage des Landes im Zentrum des Kontinents beziehungsweise als „Europas Mitte". Diese Autoren leiteten aus ihrem Verständnis „mitteleuropäische" politische Verhaltensmuster der Bundesrepublik ab, ohne jedoch daraus einen deutschen Sonderweg zu fordern. Für Hermann Rudolph gewann die Diskussion über „Mitteleuropa" in der Bundesrepublik ihre Schärfe erst durch ihre Einstellung in diese älteren Konfliktmuster. Für ihn wurde die Mitteleuropa-Debatte in gewissem Sinn zu „einem Stellvertreterkrieg". 22 Der Mitteleuropa-Begriff veranschaulichte außenpolitische Alternativen zur Westorientierung der Bundesrepublik und insistierte teilweise auf die Delegitimierung der europäischen Staatenordnung. In der Bundesrepublik Deutschland stellten die Mitteleuropa-Perspektiven also anders als in der östlichen Debatte eine alternative, nach politischen Prioritäten zu unterscheidende, außenpolitische Orientierung dar. Ihr politisch-konzeptioneller Wert wurde jedoch dadurch gemindert, daß in der Mehrzahl der Diskussionsbeiträge die Vergangenheit wie die Zukunft mit idealisierenden Reminiszenzen und unrealistischen Perspektiven verklärt wurden und nur eine unzureichende, oft einseitige Analyse der Gegenwart offeriert wurde. Neben dem Nachzeichnen der wichtigsten Elemente beziehungsweise Richtungen der Debatte in der Bundesrepublik, ihrer einzelnen Konzeptionen und Perspektiven sowie der orientierungsalternativen Formulierungen dürfen aber auch die warnend-kritischen „mitteleuropäischen" Deutungsmuster nicht außer Acht gelassen werden. Die Kritik richtete sich zunächst gegen die (unreflektierte) Wiederverwendung des Terminus „Mitteleuropa" - der für Gabriele Riedle »ein(en) begrifflich(en) wie reale(n) Gemischtwarenladen"

22

Rudolph, Hermann: Stellvertreterkrieg, in: Papcke, Sven/Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Traumland Mitteleuropa? Beiträge zu einer aktueüen Kontroverse, Darmstadt 1988, S. 138.

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bezeichnete, „in dem sich seit je alle bedienten, was letztlich zu seinem Ausverkauf und Untergang führte". 23 11.

Die zahlreichen negativen Stimmen in der Bundesrepublik zu den Mitteleuropa-Konzepten bezogen sich fast ausschließlich auf die bundesdeutschen Varianten und deren deutschlandspezifischen Konnotationen. Auf die östlichen Aspekte der dortigen Intellektuellendiskussion dagegen wurde selten oder meist nur am Rande eingegangen. Wenn dies erfolgte, dann wurden die „mitteleuropäischen" Aussagen mit Bezug auf ihre visionären Wünsche, Hoffnungen und Ziele einer Überwindung der sowjetischen Hegemonie, auf ihren Protest gegen die systembedingten Beschränktheiten und auf ihre europäische Orientierung durchaus wohlwollend aufgenommen. Ähnlich war auch die Reaktion in den westlichen Nachbarstaaten. Die Reflexionen aus dem westlichen Ausland beobachteten beunruhigt und besorgt das öffentliche Nachdenken in der Bundesrepublik über die Rolle Deutschlands in Europa und beurteilten kritisch die westdeutschen Analysen der Lage Deutschlands in Europas Mitte, die „Rückgewinnung mitteleuropäischer Perspektive und Sicherheit ",24 Diese kamen zu dem Befund, daß ein „deutscher Sonderweg", eine aus der westlichen Allianz herausgelöste Bundesrepublik oder ein wiedervereinigtes, neutrales und entmilitarisiertes Deutschland mit einem „wiedererwachten Sonderbewußtsein der Mitte" (Renata Fritsch-Bournazel) für das internationale System nicht akzeptabel seien. Das Bestreben eines heterogenen und überschaubaren Teiles der bundesdeutschen politischen Klasse, über „Mitteleuropa" ihre nationale Einheit wiederherzustellen, wurde als gefährliche Destabilisierung der Lage in Europa gewertet. Die historische Grundentscheidung der Bundesrepublik für die westliche, freiheitliche Demokratie dürfe nicht durch die inhaltlich völlig unklaren Propagierungen eines „Mitteleuropa" verwischt werden. In dieser Perzeption stimmten aber auch viele bundesdeutsche Analysen von Mitteleuropa-Ansätzen mit den in den westlichen Ländern geäußerten Vorbehalten überein. Diese kritischen Rezeptionen der „unfesten, fließenden, ortlosen Relation" (Michael Rutschky), als die „Mitteleuropa" identifiziert wurde, und seiner Instrumentalisierung bei der nationalen und kulturellen Identitätssuche der Bundesrepublik sahen in der „deutschen Frage an Mittel-

23 Riedle, Gabriele: Mitteleuropäische Saltos, in: Die Tageszeitung (taz) vom 28. 8. 1986. 24 Vgl. Fritsch-Bournazel, Renata: Das Land in der Mitte. Die Deutschen im europäischen Kräftefeld, München 1986, S. 87.

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europa" wieder einmal den verhängnisvollen Hang der Deutschen zu Sonderwegen beziehungsweise zu hegemonialen Träumen bestätigt.

Ich wies schon darauf hin, daß sich gegen diese illusorischen MitteleuropaPlanspiele mit ihrer „Raummystik, erheblicher Formunklarheit und allerlei ideologischen Bedenklichkeiten 4425 nicht nur Widerstand innerhalb der Bundesrepublik regte. Die Richtung und Dynamik der kontroversen deutschen Mitteleuropa-Konzepte irritierte vor allem Betrachter in den westlichen Nachbarstaaten, die diesen Ideen von „Mitteleuropa44 in ihrer neutralistisch-antiatlantischen Attitüde sehr wohl Bedeutung als „Einfallstor für antiwestliches Denken 44 beimaßen.26 Die Kritiker der deutschen Mitteleuropa-Überlegungen monierten vor allem, wie Thomas Jäger zusammenfassend feststellt, „die Verfolgung von Mitteleuropa-Plänen ginge auf Kosten liberaler Werte, der Entwick lung und Steuerbarkeit innerwestlicher Kooperation und der Krisenstabilität im Ost-West-Konflikt, weil eine mitteleuropäische Ordnungsstruktur kein fun tionales Subzentrum im Strukturkonflikt darstellte, sondern eine grundlegend Neuordnung des Gesellschafts- und Staatensystems in Europa". 21

12. So inflationär der Begriff „Mitteleuropa44 in der Debatte um außen- und deutschlandpolitische Positionen eingesetzt worden war, so schnell geriet er in der innerdeutschen Diskussion auch wieder außer Mode. Die bundesdeutsche Mitteleuropa-Diskussion flaute nach dem inneren Aufbrechen der DDR rasch ab. Überrollt vom Mauerfall und von den politischen Notwendigkeiten des Dynamik gewinnenden Einigungsprozesses wurden die propagierten „mitteleuropäischen44 Konzeptionen obsolet. „Mitteleuropa44 spielte weder in der öffentlichen Diskussion noch in den offiziellen Verhandlungen eine Rolle. Mit dem unmißverständlichen Beharren auf der Position der Westbindung und der militärischen Integration Deutschlands in der NATO durch die Bundesregierung wurden der deutsche Standort in Europa und die deutschen Perspektiven in der Staatenwelt frühzeitig festgelegt. Auch das wiedervereinigte Deutsch25

Papcke, Sven /Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Traumland Mitteleuropa? Beiträge zu einer aktueüen Kontroverse, Darmstadt 1988, S. VIII. 26 Der französische Publizist Joseph Rovan formuüerte eine vehemente Absage an Mitteleuropa: Der Begriff stehe „eine erschreckende Banaüsierung des totaütären ... Charakters" der Regime „#im östüchen Teü Europa" dar, sei eine „gefähriiche Sprengladung gegen die poütische Integration des Europas der Freiheit - mit mögücherweise tödüchen Folgen für dieses „gemeinsame Vaterland". Siehe Rovan, Joseph: Mitteleuropa gegen Europa, in: Papcke, Sven/Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Traumland Mitteleuropa?, a.a.O., S. 1-14, hier S. 14. 27 Jäger, Thomas: Europas neue Ordnung. Mitteleuropa als Alternative?, München 1990, S. 442.

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land sollte wirtschaftlich, politisch und geistig - durch seine Verfassung, durch institutionelle Verflechtungen und das Lebensgefühl seiner Bürger fest im Westen verankert werden. Nur als integraler Bestandteil der europäischen Staatengemeinschaft, so der Tenor in der politischen Klasse, ließen sich Deutschlands Interessen im internationalen Kräftespiel wahren. Mit diesem parteiübergreifenden Standpunkt war die Karte „Mitteleuropa" im Kontext des Wiedervereinigungspokers aus dem Spiel. Auch in der östlichen Hälfte Europas verblaßte die Attraktivität „Mitteleuropas" in den neunziger Jahren zunehmend. Die Diskussion einer kulturellen und politischen Spurensuche wurde im Zuge des einsetzenden Transformationsprozesses immer stärker zurückgedrängt. Die Suche nach einer „mitteleuropäischen" Identität kollidierte vor allem mit den rasch aufkeimenden partikularen nationalen oder ethnischen Interessen. Die Debatte zerstob, ohne daß die zugrundeliegenden Konzepte auf ihre Tragfähigkeit getestet werden konnten. Nicht eine trügerische „mitteleuropäische" Ordnung, sondern die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung im Westen wurde als realpolitische Chance gesehen. Der „Wettlauf nach Westen" wurde teils in Kooperation, teils in Konkurrenz, und mit höherer Geschwindigkeit aufgenommen. Die differenten Entwicklungen innerhalb der einzelnen Staaten rechtfertigten in den Augen der Politiker diese separaten Konzepte zu einer möglichst raschen Aufnahme in die Europäische Union. Im Rückblick auf die Rolle und Berechtigung des Begriffs „Mitteleuropa" in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion wird hier und da resümiert, »die Idee eines innerlich verbundenen Mitteleuropas [habe] nur eine kurze Phase der Wiederbelebung nach 1989 [erlebt]" 28 und sei „sang und klanglos in der Rumpelkammer der Geschichte gelandet". 29 Und selbst die Idee, nach dem Ende des antagonistischen Blockzeitalters gebe es zwangsläufig eine Konvergenzbewegung aller mittel- und osteuropäischen Staaten zwischen Rußland und Deutschland, hätte nur kurz gewährt und sich als Illusion gezeigt. Die Idee von „Mitteleuropa" habe als Ordnungsfaktor keine Wirkung erzielt. 30 Ganz so abwertend fällt mein Urteil über die Relevanz „mitteleuropäischer" Überlegungen in den postkommunistischen Staaten in den neunziger Jahren nicht aus. Zwar ist es richtig, daß die anfänglich betonten Gemeinsam28 Rüb, Matthias: Wettlauf nach Westen. Wie die Nato-Osterweiterung Staaten ins Niemandsland stößt, in: FAZ vom 29. 4. 1997.

29

Weinzierl, Ulrich: Die Literatur ist ein Wesen mit drei Augen. Das neue Mitteleuropa hat Schiffbruch erlitten: Schriftsteller treffen sich in Vilenica, in: FAZ vom 14.3 9. 1995. 0 Siehe beispielsweise Steinbach, Peter: Die Mitteleuropa-Idee - ein Integrationsfaktor für Nationalitäten?, in: Liberal, Jg. 39, 1992, Nr. 1/92, S. 89-99.

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keiten immer stärker akzentuierten Verschiedenartigkeiten und Unterschiedlichkeiten wichen. Und was sich anschickte, in gemeinsamer Formation nach Europa aufzubrechen, splitterte angesichts des angeschlagenen Integrationstempos in einzelstaatliche Anbindungsbemühungen auf. Das wenige Jahre zuvor virulente Mitteleuropa-Gefühl eines einheitlichen Raumes, der sich auch politisch autonom zwischen Ost und West einrichten wollte/sollte, wurde vom egoistischen Streben der einzelnen Staaten nach Aufnahme in die westliche Gemeinschaft überlagert. Nicht mehr „mitteleuropäische" Emanzipation, sondern regionale Desintegrationsprozesse bis zum Zerfall multiethischer Staatsgebilde prägten die erste Hälfte der neunziger Jahre in der Osthälfte Europas. Aus dem einstigen Disput über eine Selbstbestimmung Mitteleuropas ist eine Auseinandersetzung über dessen Einbindung, über das Tempo und die Aufnahmebedingungen der ostmitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union geworden. Der Schwerpunkt einer möglichen Integration hat sich in den Westen verlagert. Während sich auf der symbolischen Ebene eine „Rückkehr nach Europa" in der Perspektive der postsozialistischen Länder als ein historisch-kultureller Anspruch darstellt, geht es faktisch um einen Prozeß wirtschaftlicher und verwaltungsmäßiger Integration in die Europäische Union unter den institutionellen Vorgaben des Westens. Diese Integration der ehemaligen kommunistischen Länder vollzieht sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher Intensität und hat höchst unterschiedliche Ergebnisse. Gemeinsam bleibt das Ziel, nicht mehr der Weg. 13.

Unmittelbar an der Zeitenwende 1989/90 und in den ersten beiden Jahren danach hatte die „mitteleuropäische Welt" noch anders ausgesehen, schien die Chance eines eigenständigen „mitteleuropäischen" Weges durchaus gegeben. Die wichtigsten Proponenten der Demokratisierung der Staaten Ostmitteleuropas waren durchgehend der Meinung, daß die langanhaltende politische und geistige Sowjetisierung ihrer Länder überwunden werden müsse. Tempo und Ausmaß der Umgestaltung wurden zwar differenzierend bewertet, die Überwindung der Demodernisierung gesellschaftsinterner Mechanismen in der Realität des Sozialismus sollte jedoch ein Motiv zu gemeinsamer supranationaler Kooperation bilden. Die lebhaften Diskussionen über konkrete mitteleuropäische Ordnungsmodelle setzten - mit dem für diesen Epochenwechsel typischen Pragmatismus - also unmittelbar bei den gemeinsamen revolutionären Umbruchserfahrungen an. Einigkeit herrschte bei der Bewertung dieser Wende. Die utopie- und fast gewaltlosen Revolutionen in den Staaten Mittelund Osteuropas hatten sich in einer Art Kettenreaktion und in ähnlichen Abläufen vollzogen. In dem Zerfall der jahrzehntelangen kommunistischen

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Zwangsherrschaft, wie in dem Ziel einer civil society , sah man gemeinschaftsbegründende Analogien. Diese gemeinsamen Werte wurden unter Berufung auf gemeinsame zivilisatorische Wurzeln und Errungenschaften der Gegenwart ins Feld geführt. Die daraus gezogene Schlußfolgerung, die gemeinsamen revolutionären, politischen, geschichtlichen und zivilisatorischen Erfahrungen bildeten auch die Grundlage für ein zukünftiges Zusammengehörigkeitsgefühl, ließen Hoffnungen wachsen. So versuchten die durch freie Wahlen an die Macht gekommenen Politiker - nicht selten die dissidenten Intellektuellen und „Antipolitiker" während der kommunistischen Ära —, diesen Impuls der gemeinsamen historischen Erfahrung von Opposition, Unterdrükkung, Befreiung und Neuanfang aufzunehmen. Nach dem Ende des Totalitarismus sollte „Mitteleuropa" nicht mehr bloße Fiktion bleiben, sondern konkrete Realität werden. Die historische Erinnerung an die Phase der Unübersichtlichkeit und Unbeständigkeit in der östlichen Mitte Europas in der Zwischenkriegszeit mahnte dabei zu schnellen Handeln. Politiker und Geostrategen sahen voll Unruhe in der Mitte des Kontinents wieder ein gefährliches Machtvakuum und eine Zone der Instabilität und inneren Zerrissenheit, die mit politischen (wirtschaftlichen und militärischen) Bündnissen gefüllt und zusammengehalten werden sollten. Die vorsorgliche Verwendung des positiv besetzten Begriffs „Mitteleuropa" sollte das Reden von einem neuen „Zwischeneuropa" zum Schweigen bringen. Seit den zwanziger Jahren hatte sich nämlich für diese Region der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit in der östlichen Seite Mitteleuropas die Bezeichnung „Zwischeneuropa" herausgebildet. Die Ursache dieser Staatenfront der Unsicherheit westlich von Rußland sah man darin, daß sie, geopfert auf dem Altar des nationalstaatlichen Prinzips nach dem Ersten Weltkrieg, nicht hinreichend in das europäische Staatengefüge integriert war. „Zwischeneuropa" fühlte sich vom Westen im Stich gelassen. Dieses lastende Versäumnis der Politik in den zwanziger Jahren spornte die verantwortlichen Politiker in den Staaten Ostmitteleuropas an, der sicherheitspolitischen Leere entgegenzuarbeiteten und eine Fragmentierung zu verhindern. Der Wunsch nach Einbindung in die westlichen Politik- und Sicherheitsstrukturen war die unwiderrufliche Absage an ein „Zwischeneuropa". Die „Rückkehr nach Europa" - geographisch, kulturell und politisch - war die verbreitete Metapher für das Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft, des ökonomischen Umbaus hin zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung und der Neuorientierung in der Außenpolitik. Die Intellektuellen und Literaten verwiesen neben diesen elementaren Transformationsvorhaben weiter auf die gemeinsamen Wurzeln „Mitteleuropas" als verbindenden Kitt für diese Region. „Mitteleuropa" sei ein gemeinsamer geistiger Raum, ein „Hoffhungsland " (Krzystof Glass). Für diese Denker war und ist die kulturelle Zusammengehörigkeit des „mitteleuropäischen" Raums evident, die Existenz eines

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mitteleuropäischen Kulturraumes spürbar - zumindest als Welt der symbolischen Realitäten.31 Dem geistigen Konstrukt „Mitteleuropa" sollte deshalb auch ein realer außen- und sicherheitspolitischer Rahmen gegeben werden. Ziel war, eine starke, handlungsfähige, integrationsfördernde „mitteleuropäische" Komponente Gesamteuropas im Sinne einer geschichtsverwandten Subregion zu schaffen. Noch im November 1989 wurde in Budapest die sogenannte Quadrangonale gegründet, bestehend aus Italien, Österreich, Jugoslawien und Ungarn. In dieser makroregionalistischen Struktur sollten Perspektiven für die sich anbahnende Überwindung der europäischen Teilung entworfen werden, um eine stabile europäische Mitte zu garantieren und eine Grauzone der Unsicherheit zu verhindern. Die gemeinsame Erklärung Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns zur Verbesserung der Zusammenarbeit vom Februar 1991 erfolgt, um auf intergouvernementaler Ebene die Kooperation zu vertiefen. Diese sogenannte ViSegräd-Initiative diente dem Ziel, zusammen einen Beitritt zur EU anzustreben. In diesem „ViSegräder Dreieck" sollte also ein gemeinsamer „mitteleuropäischer" Weg in die Europäische Gemeinschaft gesucht werden. In diesen Foren der Zusammenarbeit wurde zwar ausgiebig die besondere Identität der „Mitteleuropäer" beschworen. Und gespeist aus der Auffassung, daß ihre Staaten und Völker gemeinsame Interessen, gemeinsame Vergangenheiten und gemeinsame Zukunftschancen hätten, blieb auch der Gedanke „Mitteleuropa" auf der Tagesordnung. Doch der frühere ideologietranszendierende Charme eines Modells zwischen Ost und West stellte sich nicht mehr ein. Die Zukunftsaussichten und realpolitischen Chancen der MitteleuropaIdee wurde nunmehr kritisch hinterfragt. Immer deutlicher wurde der Zwang, alternative Perspektiven im europäischen Selbstverständnis zu entwickeln, die auf die weitreichende Transformation in den postkommunistischen Staaten angelegt waren. Die unterschiedlichen Erfolge auf dem Weg der politischen und wirtschaftlichen Transformation hin zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft wurden betont, die eigene nationale Identität hervorgehoben. Die Modelle regionaler Kooperationspraxis bezogen sich nur noch in ihrer geographischen Zusammensetzung auf Mitteleuropa, nicht mehr in seinen Inhalten. Das Reden von „Mitteleuropa" wurde auf politischer Ebene zu einer Gratwanderung zwischen einer im Rückblick auf die achtziger Jahre von Enthusiasmus getragenen Apotheose und einer nüchternen Bestandsaufnahme angesichts aufgetretener fundamentaler Schwächen im programmatischen und

31 Siehe hierzu beispielhaft Dor, Milo: Mitteleuropa. Mythos oder Wirklichkeit. Auf der Suche nach der größeren Heimat, Salzburg 1996.

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operationellen Bereich der Transformationsabläufe. 32 Und auf dem Weg zu realpolitischen Integrationsschritten gewannen auch die institutionalisierten Formen „mitteleuropäischer" Diskussion auf kultureller Ebene bald das zweifelhafte Prädikat ritueller Treffen. Das „.Zauberwort »Mitteleuropa«" versprühe nicht mehr den früheren Charme und lebe „eingemottet" nur noch in der „heroischen Erinnerung" an vergangene Dissidentenzeiten, spottete Ulrich Weinzierl 1996 bilanzierend.33 Die »kulturalistische Vision Mitteleuropa" (Peter Glotz) hatte für viele seine ehedem systemüberwindende Bedeutung und damit seine intellektuelle Anziehungskraft verloren. Ein Gedanke, dessen subversive Konnotation nicht mehr gegeben war, hatte selbst in den Augen seiner Befürworter seine Perspektive verspielt.34 Als möglicher politischer, wirtschaftlicher wie sicherheitspolitischer Integrationsansatz litt „Mitteleuropa" nunmehr an seiner Unbestimmtheit und Schwammigkeit, vor allem aber an seiner früheren intellektuellen Bindung an die akzentuierte Systemfrage. Die ehedem intellektuelle Stärke war zum realpolitischen Dilemma geworden. Es fehlte der politische Schub, der es erlaubte und zugleich dringend nahelegte, daß aus Ideen und Visionen politische Realität wurde. Zu offenkundig war, daß sich zwischen den Machtpolen mit Westeuropa und Nordamerika auf der einen, Rußland auf der anderen Seite, ein einheitliches politisches Gravitationszentrum in der Mitte nicht herausbilden ließ. Entscheidend war, daß nunmehr auch die Diskontinuität der „mitteleuropäischen" Identität offen zutage trat. Nicht eine transnationale regionale Identität, sondern ein teils krisenhaftes, teils aggressives nationales Bewußtsein hatte den imperial geprägten und national zerklüfteten ostmitteleuropäischen Raum erfaßt. Das Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaatsidee und den Minderheiten sollte sich bis zum Zerfall des staatlichen Gebildes der Tschechoslowakei und zum grausamen Krieg auf dem Balkan überdehnen. „Mitteleuropa" als politische Konzeption mit transnationalem Charakter und mit regionalem Zuschnitt stand im Gegensatz zur Renationalisierung des zentraleuropäischen Raumes. 14.

Was als historisch-kulturell hergeleitete politische Ordnungsidee angedacht worden war und als Modell einer regionalen Eigenständigkeit „konkrete Uto32 Vgl. Gerlich, Peter /Glass, Krzystof (Hrsg.): Der schwierige Selbstfindungsprozeß. Regionalismen, Nationalismen, Reideologisierung, Wien 1995. 33 Weinzierl, Ulrich: Im Reich der Miniermotte, in: FAZ vom 13. 9. 1996. 34 Vgl. zu den Inhalten und Aussichten der Mitteleuropa-Idee Gerlich, Peter /Glass, Krzystof/Serloth, Barbara (Hrsg.): Neuland Mitteleuropa. Ideologiedefizite und Identitätskrisen, Wien 1995.

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pie" (Herbert Kremp) hätte werden können, mutierte lediglich in eine lose regionale Kooperation zur Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Die Quadrangonale und die ViSegräd-Initiative verschmolzen zur Mitteleuropäischen Initiative (MEI), die in ihrer geographischen Unübersichtlichkeit ihr gehören mittlerweile 16 Staaten an —, ohne institutionellen Rahmen und mit schwacher Formalisierung nicht als tragende politische Einheit anzusehen ist. „Mitteleuropa war unübersichtlich im Kern, ausgefranst an den Rändern. Das strategische Ziel einer starken Mitte löste sich auf die intellektuellen Diskussionen über eine Identität der Mitte erlahmten.", so Matthias Rüb35 resümierend. Die jährlichen informellen Treffen sind fortan primär der Betonung gutnachbarlicher Beziehungen gewidmet. Der im Dezember 1992 von den ViSegräd-Staaten gegründeten Mitteleuropäischen Freihandelsvereinigung (CEFTA) als ausbaufähigem Organisationsrahmen gehören inzwischen neben Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei auch Slowenien und Rumänien an. Und sie soll weiter wachsen. Diese lose Organisation ohne gemeinschaftliche Institutionen und Rechtsstatus dient in erster Linie der Erweiterung der intraregionalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen als konstitutives Hilfsinstrument der Vorbereitung auf das übergeordnete Ziel einer künftigen EU-Mitgliedschaft. All diese mitteleuropäischen Konstruktionen36 flankieren also primär die Anstrengungen ihrer Mitgliedsstaaten zur wirtschaftlichen Ausrichtung nach Westen und zur sicherheitspolitischen Einbindung in die NATO-Architektur. Dieser Prozeß einer breit gefächerten regionalen Zusammenarbeit läuft ohne konkrete „mitteleuropäische" Visionen ab. Das Interesse der vielfach funktionalistisch denkenden Realpolitiker in den Reformstaaten an „mitteleuropäischen" Fiktionen schwindet im gleichen Maße, in dem immer engeren Beziehungen zur EU gesucht werden. Das Streben nach „Mitgliedschaft im Club" gründet wiederum auf dem Bedürfnis, die Zugehörigkeit zum Westen - politisch, sicherheitspolitisch und wirtschaftlich - unumkehrbar festzuschreiben. Bei der Debatte über die unterschiedlichen Vorstellungen eines neuen Sicherheits- und Friedenssystems nach dem Ende der Blockkonfrontation zeigte sich, daß idealistische und romantische Ideen über eine gemeinsam zu gestaltende Sicherheit unter „mitteleuropäischen" Vorzeichen schnell von traditionellen, allianzbetonten Konzepten abgelöst wurden. Dieser Prozeß der Desillusionierung oder die „Entwicklung vom Romantizismus zum Realismus", wie August Pradetto ihn nennt37, führte dazu, 35

Rüb, Matthias: Wettlauf nach Westen, in: FAZ vom 29. 4. 1997. Eine weitere Organisation auf diesen Gebieten ist die Initiative zur Zusammenarbeit in Südosteuropa (Southeast-European Cooperation Initiative - SECI), deren erstes Vorbereitungstreffen im Dezember 1996, deren erste Arbeitstagung Ende Januar 1997 stattfand. 37 Vgl. Pradetto, Alfred: Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit, Opladen 1997. 36

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daß eine „mitteleuropäische" Lösung als mögliches Ordnungs- und regionales Sicherheitskonzept nicht länger in Betracht gezogen wurde. 15. Als Behelf für einen nachdrücklichen Mitteleuropa-Begriff erweist sich die Strategie zur forcierten Annäherung an Europa und dessen institutionellen Strukturen. Diese Strategie ging bis heute für den Kern ostmitteleuropäischer Staaten voll auf. Das Drängen eines Teils der Reformstaaten auf die möglichst schnelle Einbindung in den EU-Erweiterungsprozeß und der Wunsch nach einer militärischen Integration in die Nordatlantische Verteidigungs- und Wertegemeinschaft war von Erfolg gekrönt. Mit den Beschlüssen des Luxemburger EU-Gipfels vom Dezember 1997 zur Aufnahme von offiziellen Verhandlungen (Agenda 2000) - neben Zypern - mit Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Estland, sehen sich diese Länder ihrem Ziel der endgültigen, nämlich quasi statusrechtlichen, Rückkehr nach Europa nahe. Und nach der Entscheidung des westlichen Verteidigungsbündnisses, ebenfalls einen Teil der ostmitteleuropäischen Staaten zu Beitrittsverhandlungen einzuladen, hat der Prozeß, den Raum westlicher Stabilität auf Ostmitteleuropa auszudehnen, endgültig begonnen. Die NATO und die EU sind ins Zentrum der Bemühungen um eine Neuordnung in Europas östlicher Mitte gerückt. Die Differenzierung zwischen den ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten hat jedoch die Frage aufgeworfen, ob mit der schrittweisen Erweiterung von EU und NATO nicht neue Grenzen geschaffen würden und der Stabilitätstransfer nur regional begrenzt greife. Hierzu stehen überzeugende Antworten weiterhin aus.

16. Für die Mitteleuropa-Debatte heißt dies, daß nunmehr der Terminus „Mitteleuropa" nicht mehr ein regionalistisches Ordnungskonzept bezeichnet, sondern in Anlehnung an eine vorrevolutionäre Chiffre als Metapher für das Bekenntnis der Staaten in der Mitte des Kontinents zu „Europa als einer Gemeinschaft der Werte und der Mitverantwortlichkeit fur diese Werte" wandt wird. „Mitteleuropa" als die Mitte Europas; es fällt auf, daß neben dem kulturellen Anspruch „Mitteleuropa" selbst in den ostmitteleuropäischen Staaten vorwiegend nur noch in seiner räumlichen Ausrichtung gedeutet wird. Die Weichen scheinen endgültig gestellt: in Richtung auf Europa, nicht mehr „Mitteleuropa".

38 Havel, Vâclav : Eine Gemeinschaft der Werte und der Mitverantwortlichkeit, in: FAZ vom 8. 11. 1996. 34 Festschrift Hacker

38

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Damit schließt sich der Kreis wieder. Der Begriff „Mitteleuropa" reduziert sich auf seine geographische Bezeichnung. Ist diese Idee deshalb eine „gescheiterte Hoffnung" 39! Das Schicksal des Mitteleuropa-Begriffs lag von Anfang an in seiner Komplexität und in der Divergenz seiner Interpretationen begründet. Die politischen Inhalte und Absichten des Terminus standen in korrelativen Abhängigkeiten von einer Vielzahl historisch-zeitlicher und örtlich-regionaler Gegebenheiten. Der Ausdruck entstand zwar aus der realen Entwicklung der ostmitteleuropäischen Region, aus den Erfahrungen der von der kommunistischen Ordnung Gezeichneten, er bildete aber gleichzeitig den jeweiligen Blickwinkel, aus dem heraus erst eine „mitteleuropäische" Eigenheit erkennbar wurde, die sodann mit analytischer oder programmatischer Absicht zu einer Idee abstrahiert wurde. Dieser Gedanke ließ sich dann mehr oder weniger losgelöst von der realen Situation in der Mitte Europas spinnen. Als dann jedoch die Relevanz der Idee an den realpolitischen Anforderungen zu messen war, hielt ihre Tragfähigkeit den Belastungen nicht stand. So bleibt die Debatte über „Mitteleuropa" in den achtziger und neunziger Jahren jeweiligen Wiederbelebungsversuchen zum Trotz 40 wohl nur ein weiteres schillerndes Kapitel in den Annalen der politischen Ideengeschichte dieses Jahrhunderts.

39 40

Steinfeld, Thomas: Präsident, in: FAZ vom 26. 5. 1997. Beispielsweise Busek, Erhard: Mitteleuropa. Eine Spurensicherung, Wien 1997.

Die Verkehrung des Utopischen Der Atomare Realismus als Antwort auf die globale Bedrohung

Von Ulrich Bartosch

Einleitung: Politische Weltsicht als Zeitprodukt

Wir leben in einer neuen Zeit. Leben wir tatsächlich in einer neuen Zeit? Ich wäre vor 1989 nicht einmal auf die Idee gekommen, daß ich in einer Festschrift für Jens Hacker mitwirken würde, die dessen Schaffen vor dem historischen Hintergrund der glücklichen Beseitigung einer fürchterlichen Grenze quer durch Deutschland würdigen könnte. Meine persönliche Weltsicht - vor unserer neuen, der heutigen Zeit - war demnach geprägt von einer selbstverantworteten Einschränkung meiner Ideen. Verbinden wir das, was ich gerade meine Ideen genannt habe, mit dem Begriff Politik. Ohne Zweifel war ja meine eingegrenzte Vorstellung davon mitbestimmt, welche politische Weltsicht vertretbar ist, also der Realität entspricht. Unter den gegebenen politischen Umständen mußte mir wohl z. B. eine grundsätzliche Änderung eher unmöglich erscheinen. Heute ist das geeinte Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Versetze ich mich mit diesem Wissen nur wenige Jahre zurück, hätte diese Möglichkeit auch damals als realistische Option der nahen Zukunft bestanden. Dazu wäre lediglich die politische Idee einer veränderten nationalen und internationalen Lage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, nötig gewesen. Diese politische Idee einer so veränderten Zukunft drängte sich mir nicht auf. Anders gesagt, die realistische - meine realistische - Sicht der damaligen Gegenwart beschränkte die Zukunftsvorstellung in einer Weise, die sich heute als nicht mit der Wirklichkeit identisch herausstellt. Die damalige Sichtweise könnte ich vom heutigen Standpunkt aus als nicht realistisch bezeichnen, verschärfend könnte man sie sogar idealistisch nennen. Sie ging ja - so nehmen wir einmal an - von der Idee einer bleibenden politischen Ordnungsstruktur der Welt aus, deren stabilisierende Faktoren sich als Fiktion erweisen mußten. Die Tatsache, daß ich allein mit dieser logischen Operation eine direkte Verbindung von unserer neuen Zeit in die damalige Gegenwart schaffe, enthebt die Rede von der neuen Zeit ihrer strengen Grundlage. Ich befinde mich in derselben Zeit, allerdings in einer anderen Gegenwart. Und das Attribut neu hatte sich nur einschleichen können, weil meine Zeitvorstellung in einer ver34*

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gangenen Situation nicht von genügender Offenheit geprägt war. Als neue Zeit - im Sinne von gänzlich anderer Situation - muß dann eine Gegenwart erscheinen, die zum vergangenen Zeitpunkt als nicht denkbar galt, weil sie dem vorgestellten Modell politischer Ordnung nicht entsprechen konnte. Nun ist damit für einen politikwissenschaftlichen Forschungsgedanken mehr gesagt als nur die Feststellung, daß sich unter neuen Verhältnissen auch die Fragestellungen und Aufgaben neu fassen lassen. Vielmehr zeigt sich, daß diese Fragestellungen und Aufgaben nicht allein dem Diktat der Gegenwart unterworfen sein können. Dies wird um so deutlicher, wenn man erkennen muß, daß die Problemstellungen der unordentlichen Gegenwart bereits seit langem erkennbar sind. Auch sie sind nicht neu, sondern müssen nur als neu erscheinen. Damit will ich nicht behaupten, daß es zur Zeit des Ost-West-Konflikts sinnvoll gewesen wäre, von diesem völlig abzusehen, seine reale Existenz einfach zu negieren. Aber es muß die Frage gestellt werden, ob er in seiner „disziplinierenden Wirkung" (Czempiel) für die internationale Politik nicht als eine tatsächlich zeitweilige Erscheinung behandelt hätte werden können, jenseits dessen man den wahrhaften Aufgaben zukunftssichernder Politik eine dominierende Stellung einräumt. Es gab solche Ansätze, die aus der Gefahrenwahrnehmung der atomaren Bedrohung erwuchsen. Sie standen vor dem Problem, von einer Realität ausgehen zu müssen, die nicht verabsolutiert werden darf, wenn jene wirklichen Aspekte der Politik ins Licht treten sollen, die eine gesicherte Zukunft gefährden. Sie mußten dabei die Gefahr in Kauf nehmen, daß ihre Gedanken als idealistisch und utopisch eingeschätzt würden, da sie allesamt von der Möglichkeit grundlegender Veränderungen - der Politik und der Menschen - auszugehen hatten. Im Rahmen des vorliegenden Bandes braucht nicht betont zu werden, daß die Problematik des Irrtums, sei er politisch oder wissenschaftlich, nicht auf die nun von mir näher beleuchtete Thematik beschränkt bleiben kann. Ich habe einleitend versucht anzudeuten, warum eine abwertende Einschätzung solcher Bemühungen im Verlauf der Zeit auf sich selbst zur Anwendung kommen kann. Ich stelle also fest, daß eine politische Weltsicht (auch als wissenschaftlich begründete) als Produkt der Zeit zu sehen ist. Dies hat weitreichende Konsequenzen für jeden Versuch, ein realistisches Bild der Welt zu entwickeln. 1. Die Verkehrung des Realismus?

Beginnen wir, uns mit einem Zitat von Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahre 1957 die Konsequenzen vor Augen zu führen: „Für einen Marsmenschen, der ohne Kenntnis dessen, was wir Poütik nennen, die letzten 12 Jahre der Erdenmenschheit von außen betrachtet hätte, wären die Atom-

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bomben wahrscheinlich der schlagende Beweis für den infantilen Charakter der technischen Zivilisation auf der Erde: Nicht einmal, wenn es an ihr eigenes Leben geht, können sie das Spielen lassen. Wir Erdenmenschen wissen es freilich besser. Wir sind Realisten. Wir wissen: Außenpolitik und Krieg haben ihre ewigen Gesetze, daran ändern auch die Atomwaffen nichts. Im sicheren Bewußtsein von der menschlichen Natur stürmen wir dem dann ebenso unabänderlich über uns verhängten Untergang entgegen. Oder wollen wir uns wehren?"1

Die wesentlichen Aspekte des Problems sind in dieser mit Ironie versehenen Äußerung enthalten: Mit der Existenz der Atombombe ist eine qualitativ veränderte Welt gegeben. Dies drückt sich in der Fähigkeit der Menschheit aus, ihre Existenz zu vernichten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit besteht die objektive Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten: Sie kann ihre Zukunft verhindern. Diese Tatsache erfordert einen neuen Blickwinkel für die Sicht auf die Politik. Aus herkömmlicher Sicht muß dieser Blickwinkel gleichsam »außerirdisch* erscheinen. Er führt nämlich dazu, die „ewigen Gesetze", die der menschlichen Natur und der ihr entsprechenden Politik zugrunde liegen, als veränderungsnotwendig und -fähig einzuschätzen. Mit der Einsicht, daß ein erstrebenswerter zukünftiger politischer Zustand nur in einer friedlichen Welt erreichbar bleibt, würden die Menschen ihre »atomaren Äxte4 zur Seite legen und fortan freundlichen Umgang miteinander pflegen. So verstanden, würde sich diese Position in eine politiktheoretische Tradition einreihen, die im Disput zwischen politischem Realismus und politischem Idealismus auf der illusionären, der idealistischen Seite einzuordnen wäre. Charakterisieren wir diesen Disput mit Reinhard Meyers so: „Während sich der Realist mit der Beobachtung und Analyse politischer Fakten beschäftigt ..., Theoriebüdung als ein Unternehmen begreift,... Tatsachen festzustellen und ihnen durch Vernunft Sinn zu verleihen ... und dazu neigt, künftige Konfigurationen des internationalen Systems aus dessen Vergangenheit und Gegenwart zu deduzieren ... widmet sich der Idealist eher, ... ,den Idealen einer besseren Welt 4 ... und strebt danach, herauszufinden ..., ,wie die egoistischen Triebe und Verhaltensweisen der Individuen und der Gruppen, ihr Sicherheitsstreben und ihr Selbstinteresse4 ... zugunsten eines rationalen Ideals »harmonischer politischer Zustände4 ... überwunden werden können."2

Nun zeigt sich aber sogleich, daß eine eindeutige Zuordnung doch nicht möglich ist. Denn Ausgangspunkt der obigen Position war ja die Beobachtung und Analyse politischer Fakten. Die Atombombe beginnt, mit den Worten 1

C. F. v. Weizsäcker: Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, 7. Aufl. Göttingen 1986, S. 16. 2 Reinhard Meyers: Idealistische Schule, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. 5. Internationale Beziehungen. Theorien - Organisationen Konflikte, hrsg. von Andreas Boeckh, München / Zürich 1984, S. 192.

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Weizsäckers, „schon die Natur dessen umzugestalten, was man Politik, was man Krieg heißt".3 Also die realistische Sicht der Dinge führt dazu, künftige Konfigurationen des internationalen Systems zu deduzieren. Soweit finden wir also eine klare Übereinstimmung mit den Grundsätzen der realistischen Schule. Wo entsteht der Bruch? Die Deduktion läßt sich nicht nur aus der faktischen Vergangenheit und Gegenwart herbeiführen. Sie nimmt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die bis dahin nur möglichen Optionen der Zukunft zum Ausgangspunkt. Das ist aus realistischer Sicht ein Unding. Bestenfalls könnte man sich darauf einigen, mögliche Verbesserungen nicht grundsätzlich auszuschließen. Als Anleitung für das jeweilige konkrete politische Handeln könnten sie nur untergeordnete Bedeutung haben. Für den Idealisten hingegen bestünde dahingehend keine Schwierigkeit. Der vernunftgemäße Entwurf einer guten politischen Ordnung spräche für sich selbst. Ihn zur Verwirklichung zu führen, muß die Aufgabe vernünftiger Politik sein. Hierbei dürfte sie sich von widersprechenden gegenwärtigen Fakten nicht maßgeblich beeinflussen lassen. Dies ist aber ein zweiter Bruch. Die durch Weizsäcker bezeichnete Position nimmt gerade die Fakten zum Ausgangspunkt. Nur sie eröffnen dann den Zugriff auf die Optionen der Zukunft. Verfolgen wir nun nicht mehr die Position Idealismus. Ich halte dies für vertretbar, weil es eine reine Form dieser Schule real nie gab.4 Betrachten wir stattdessen, was geschieht, wenn die realistische Position die Existenz der Atombombe als Weltveränderung wahrnimmt und die Theorie danach ausrichtet. Wir finden etwa folgende Situation: Die Weltpolitik mit der Bombe wird von den gegenwärtigen und durch die Vergangenheit gelehrten Faktoren bestimmt. Hierzu gehört, daß Kriegführung immer eine reale Option der Politik bleibt. Wenn aber der Krieg nicht mehr geführt werden soll, muß eine Strategie gefünden werden, die den konkreten Waffengang durch ein rationales Kalkül ersetzt. Die Durchführung der kriegerischen Auseinandersetzung muß demnach praktisch - und dies nachweisbar durch Waffenpräsenz - gesichert sein und in Ansehung ihrer Folgen für alle Parteien genau dadurch verhindert werden. Die Fortentwicklung des politischen Denkens bleibt exakt den traditionellen strategischen Überlegungen der voratomaren Zeit verpflichtet und bietet Gewähr für eine bestmögliche Friedenssicherung. Nun ist damit eine politische Zielsetzung in die realistische Position eingerückt, die - nüchtern betrachtet - dort seltsam anmuten muß. Wir erhalten eine Weltfriedensordnung, die im eigentlichen realistischen Sinne eine Weltkriegsordnung darstellt, in der Krieg nicht mehr durchführbar sein soll. Es liegt auf der Hand, daß sich einige Grundannahmen eingeschlichen haben, die 3 4

Ebd., S. 7.

Sie ist vielmehr eine konstruierte Gegenposition von der aus absetzend, die Vertreter der reaüstischen Schule ihr eigenes Profil zu bestimmen suchten.

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mit der realistischen Ausgangsposition nur schwerlich vereinbar sind, so z. B. die als Gewißheit ausgegebene Vermutung, daß kriegerische Auseinandersetzungen nur einem rationalen Kalkül erwachsen könnten, oder daß eine permanente Aufrüstung zu permanentem Frieden führen könnte. Hier handelt es sich strenggenommen um zukünftige Politikentwürfe, die gerade aus einer Anschauung von Geschichte und Gegenwart nicht gewonnen werden können. Sie entsprechen idealistischer Denkweise. Die Position wäre nun als idealistischer Realismus besser bezeichnet, weil sie das Faktum des Zukunftsbezuges nicht im gegenwärtigen Kalkül berücksichtigt. Sie stellt sich damit nicht den objektiven Anforderungen der eigenen Realitätsauffassung. Ich will sie, um den Charakter ihrer fundamentalen Änderung deutlich zu machen, Atomarer Idealismus nennen. Damit sei also eine Position bezeichnet, die dem Auftreten der Atombombe mit dem Glauben begegnet, Weltpolitik allein nach Maßgabe vorhergegangener und gegenwärtiger Erfahrung gestalten zu können. Dagegen sei als Atomarer Realismus jeweils die Position benannt, die mit der Existenz der Bombe die Notwendigkeit einer völlig neuen Gestaltung der Weltpolitik verbindet, zu deren Entwicklung historische und gegenwärtige Erfahrung ebenso herangezogen werden muß, wie der Vorgriff auf eine faktisch mögliche Zukunft. Die folgende Analyse solch eigenständiger Ansätze soll jene Bestandteile sichtbar machen, die durchgängig auftreten müssen, wenn die Aufgabe der Zukunftssicherung in diesem Sinne zum Gegenstand der Überlegung gemacht werden. Wir erhalten so den Problemhorizont der Konzeption „Weltinnenpolitik". Ich werde die Kernpunkte des Atomaren Realismus aus drei Quellen entwickeln, zunächst aus den Stellungnahmen der sog. „Atomforscher" (Otto Hahn, Max Bora, Werner Heisenberg), dann aus den Schriften von Karl Jaspers und Georg Picht. Alle erarbeiten ein je in sich vollständiges Konzept, das ich hier zum Zwecke einer schrittweisen Darstellung des Atomaren Realismus immer nur auszugsweise zur Darstellung bringen werde. 2. Der Atomare Realismus

2.7. Erster Schritt: Eine neue Sicht der gegenwärtigen Welt Ich habe oben behauptet, der Atomare Realismus sei mit einer politischen Situationsbestimmung verbunden. Zentraler Kristallisationspunkt für die Erfassung und Deutung der Welt in ihrer neuen Realität sei die Existenz der Atombombe. Viele der Wissenschaftler, die - sei es direkt oder indirekt - am Prozeß militärischer Nutzung der Kernenergie beteiligt waren, fühlten sich aufgerufen, die Öffentlichkeit über die absehbaren Folgen ihrer Forschungsleistungen zu informieren. Jene strengen Naturwissenschaftler formulierten politische Forderungen, die utopisch-idealistischen Charakter aufweisen.

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Vertretend hierfür kann man z. B. auf eine Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 1958/59 von Max Born verweisen.5 Er betont darin, daß die überlieferte Politik unmöglich geworden sei. Gerade weil die neuen Waffen nicht zum Gebrauch taugen, führe eine weitere Aufrüstung mit dem Ziel, das Abschreckungssystem zu perfektionieren, letztlich dazu, daß wirkliche Politik immer weniger machbar wird. 1963 schreibt Bora: „Das einzige, was uns retten kann, ist ein alter Traum der Menschheit: Weltfriede durch Weltorganisation. Sie galten als unerreichbar, als Utopie... Heute kann man das nicht mehr gelten lassen. Der Weltfriede in einer kleiner gewordenen Welt ist keine Utopie mehr, weü er eine Notwendigkeit ist, eine Bedingung für das Überleben des Menschengeschlechts. Die Meinung, daß das so ist, breitet sich immer weiter aus. Die unmittelbare Folge davon ist eine Lähmung der Politik, weü sich noch keine überzeugende Methode ergeben hat, politische Ziele ohne die Drohung mit Gewalt, mit Krieg als letztem Hilfsmittel, zu erreichen." 6

In den Äußerungen der Atomforscher erscheinen die utopisch anmutenden Forderungen oft als Konsequenz des (naturwissenschaftlichen) Einblicks in ein neues Weltbild der Physik mit seinen politischen Folgen. Bei allen Anklängen an idealistische, ja utopische Traditionen politischer Ideengeschichte, verstehen sich die Wissenschaftler als realistisch im eigentlichen Sinne, gerade weil sie nicht an philosophisches Gedankengut anknüpfen. Garantie für die Richtigkeit ihrer Schlußfolgerungen ist die Fähigkeit der Naturwissenschaftler, „diese aus unseren Forschungen hervorgegangenen Probleme auf unsere einfache, illusionslose Weise durchzudenken"7 Ihre nüchterne Betrachtung muß dann zur Erkenntnis der „harten Tatsachen" führen, „daß die Massenvernichtungsmittel, welche die Wissenschaft ermöglicht hat, eine Fortsetzung der Politik in der überlieferten Weise unmöglich machen"8. Die neue Weltsituation ist also grundlegend damit bezeichnet, daß herkömmliche politische Vorstellungen nicht mehr tragfähig sind, weil die Menschheit jetzt vor zwei grundlegende Alternativen gestellt ist. Mit den Worten Otto Hahns: „Die Energie kernphysikalischer Reaktionen ist in die Hand der Menschen gegeben. Soll sie ausgenützt werden für die Förderung freier wissenschaftlicher Erkenntnis, sozialen Aufbau und Erleichterung der Lebensbedingungen der Men-

5

Max Born: Eine Neujahrsansprache, [Zum Jahreswechsel 58/59 im Süddeutschen Rundfunk gehalten], in: ders.: Von der Verantwortung des Naturwissenschaftlers. Gesammelte Vorträge, München 1965. 6 Max Born: Die Hoffnung auf Einsicht aller Menschen in die Größe der atomaren Gefährdung, in: ders.: Von der Verantwortung des Naturwissenschaftlers. Gesammelte Vorträge, München 1965, S. 201. 7 Max Born: Die Grenzen des physikalischen Weltbüdes, in: ders.: Physik und Politik, Göttingen 1960, S. 48. 8 Max Born: Eine Neujahrsansprache, a.a.O. (Anm. 5), S. 76.

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sehen, oder soll sie mißbraucht werden zur Zerstörung dessen, was die Menschen in Jahrtausenden geschaffen haben?"9

Was Otto Hahn hier in seiner Nobelpreisrede vom Dezember 1946 gegenüberstellt, kann nicht beliebig entschieden werden. Selbstzerstörung ist keine denkbare vernünftige Option, aber sie ist - und dies unterstreicht den realistischen Kern aller weitergehenden Forderungen - eine mögliche reale Entwicklung. Sie zu verhindern, muß Zielsetzung jeder Politik werden. Notwendig muß die Politik ihren kriegerischen Charakter ablegen: „Heute ist der Krieg nicht mehr ,die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln*. In einem Bombenkrieg gibt es nicht mehr Sieger und Besiegte."10

So Otto Hahn in einem Text von 195511. Für die internationale Politik ergibt sich „...die Notwendigkeit einer wahrhaft internationalen Kontroüe über die Entwicklung der Atomwaffen oder besser: eines friedüchen Zusammenlebens der Völker, auch wenn deren Ideologien so verschieden sind wie heute die von Ost und West." 12

Die große Trennung der Welt in zwei politische Lager kann also die politische Handhabung der Atomwaffen nicht anleiten. Die ideologischen Kontroversen müssen der globalen Sicherheitsfrage untergeordnet werden. Die Welt muß sich im Zeichen der atomaren Drohung als Einheit begreifen und demgemäß handeln. In aller Deutlichkeit kommt dies in der Erklärung der Nobelpreisträger von 1955 zum Ausdruck. Sie war wesentlich auf Betreiben von Otto Hahn zustande gekommen.13 Schlußsatz und Kernaussage der Mainauer Erklärung war: „Ahe Nationen müssen zu der Entscheidung kommen, freiwilüg auf die Gewalt als letztes Mittel der Poütik zu verzichten. Sind sie dazu nicht bereit, so werden sie aufhören, zu existieren. "

9 Otto Hahn: Von den natürüchen Umwandlungen des Urans zu seiner künstüchen Zerspaltung. Festvortrag, gehalten am 13. Dezember 1946 in Stockholm anläßüch der Nobelpreis-Verleihung, in: ders.: Mein Leben, München 1968, S. 264. 10 Otto Hahn: Cobalt 60 - Gefahr oder Segen für die Menschheit?, in: Universitas, 10. Jahrg., 1955, Heft 3, S. 232. 11 Erwähnenswert ist, daß Adenauer zur gleichen Zeit Heisenberg angehalten hatte, sich nicht mehr zu Atomfragen zu äußern, bis die Pariser Verträge ratifiziert seien. Dieser Vorgang bekräftigte Hahn in semer Unternehmung. Vgl. Otto Hahn. Begründer des Atomzeitalters. Eine Biographie in Büdern und Dokumenten, hrsg. von Dietrich Hahn, München 1979, S. 245. 12 Otto Hahn: Cobalt 60, a.a.O. (Anm. 10), S. 228. 13 Abgedruckt in: Otto Hahn. Begründer des Atomzeitalters, a.a.O. (Anm. 11), S. 250.

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In einer traditionellen Sicht der Politik mußte dies wie eine irreale Wunschvorstellung erscheinen. Für die Naturwissenschaftler war dagegen ihre Erfahrung, innerhalb der scientific community schon längst eine internationale Gemeinschaft verwirklicht zu haben, grundlegend. Jedenfalls läßt sich diese sicherlich nicht unproblematische - Feststellung vielfach nachweisen. So hatte z. B. Max Born bereits im Juli 1944 in einem Brief an Einstein die funktionale Mitwirkung der Naturwissenschaftler an einer vernünftigen Weltordnung beschworen: „Yet I think that we must have an international organisation, and, even more important, an international code of behavior on ethics (like the very strict rules which the British physicians have inside their profession), by which our scientific community could act as a regulating and stabilising power in the world, not as at present, being nothing than tools of industries and governments. I am of course quite clear, apart from teaching honesty and truthfulness in observation and calculation. There is a definite standard upon which all religions agree, Christian, Jewish, Moslem and Hindu. But some branches of biological science, logically backward and based on poor evidence, have been tools in the hand of criminal politicans for throwing us back in the state of the jungle. There must be a way of prohibiting a repetition of such things. We scientists should unite to assist the formation of a reasonable world order. If you have any definite plans please let me know. I am rather powerless, sitting at this pleasent but backward place." 14

Ahnliche Rückbesinnungen auf eine gemeinsame verbindliche Basis führten auch in der Tat zu praktischen Ausprägungen wie der Mainauer Erklärung, oder - was hier jetzt nicht weiter verfolgt werden kann - zu internationalen Vereinigungen wie der Pugwash-Gruppe. Ebenfalls häufig nachweisbar ist die Bezugnahme auf die potentiell global verbindende Eigenschaft der großen Weltreligionen. Ich fasse zusammen, welche Kernpunkte sich aus dem bisher Gesagten für die Position des Atomaren Realismus ergeben haben: (1) Mit der Existenz der Atombombe ist eine völlig neue Weltsituation treten. (2) Die Menschheit muß die Verantwortung gen.

fur ihre Fortexistenz

einge

bewußt tra

(3) Die internationale Staatenwelt ist gezwungen den Globus als eine reale politische Einheit zu begreifen, in der Kriege nicht mehr als Fortsetzung der Politik erlaubt sein dürfen.

(4) Die Realisierung einer zeitgemäßen neuen Politik ist mit der Durchsetzung einer neuen, weltweit verbindlichen Ethik zu verknüpfen.

14 Albert Einstein - Hedwig und Max Born. Briefwechsel 1916-1955 kommentiert von Max Bora, München 1969, S. 198.

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Vor diesen Prämissen verkehrt sich die Realitätssicht der „alten Politik44, wie es etwa Werner Heisenberg ausdrückt: „Wirtschaftliche und poütische Macht, Erpressung durch Drohung mit Waffen, güt den meisten, insbesondere außerhalb Deutschlands, immer noch als reaüstisch, auch wo sie längst das Gegenteü davon geworden ist. 4 4 1 5

2.2. Zweiter Schritt: Die Vernunfteinheit in einer gemeinsamen Welt

der Menschen

Die erkannte Notwendigkeit einer neuen Ethik als Basis einer friedlichen Weltordnung bietet noch keinen Anhaltspunkt für deren prinzipielle Möglichkeit. Anders ausgedrückt: Es ist eine Sache, mit klarem Blick die Realität zu erfassen, aber eine andere, daraus Folgerungen abzuleiten, die sich nicht aus der Analyse der Realität gewinnen lassen. Hierzu bedarf es zunächst zweier Fragestellungen, die im eigentlichen Sinne mit der Position des Atomaren Realismus unauflösbar verbunden sind: Warum sollte die Menschheit prinzipiell fähig sein, sich als Einheit zu begreifen, also ein Bewußtsein für Einigkeit zu entfalten? Und: Ist eine politische Welteinheit überhaupt möglich? Gehen wir diesen Fragestellungen mit Karl Jaspers nach, der sie implizit eröffnet, wenn er am Ende des folgenden Zitats sagt: Wissen wir, was zu tun ist? „Eine schlechthin neue Situation ist durch die Atombombe geschaffen. Entweder wird die gesamte Menschheit physisch zugrunde gehen, oder der Mensch wird sich in seinem sittüch-poütischen Zustand wandeln. Diese doppelt irreal anmutende Alternative versucht mein Buch zur Klarheit zu bringen. Bei scheinbarer Ruhe des Alltäglichen ist heute die furchtbar drohende Entwicklung anscheinend unwiderstehüch im Gange. Die aktueüen Aspekte ändern sich schneü. Aber der Gesamtaspekt wird der gleiche bleiben: Entweder der plötzüche Ausbruch des Atomkrieges, vieüeicht nach Jahren, nach Jahrzehnten, oder die Konstituierung eines Weltfriedenszustandes ohne Atombomben mit neuen, wirtschaftlich auf Atomenergie gegründeten Leben. Der Weg dorthin wäre aüein durch poütische und juristische Operationen noch nicht beschritten. Auch mit dem im Sprechen einmütigen bloßen Nein zur Bombe ist das Entscheidende noch nicht erreicht. Daß der erste Schritt auf die Ermögüchung des Weltfriedens hin eigentüch noch nicht getan ist, kommt heute zum Bewußtsein. Wissen wir, was zu tun ist?"16

15

Werner Heisenberg: Der Teü und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 8. Aufl. 1984, S. 261. 16 Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Poütisches Bewußtsein in unserer Zeit. Mit einem Nachwort von Rolf Hochhuth, Gütersloh o.J. [1987], S. 5; Ausgangspunkt der Schrift war ein Vortrag der im Herbst 1956 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Abgedruckt in: Die Gegenwart, 11. Jahrg., Nr. 21 vom 20. Oktober 1956 S. 665-670. Unverändert in: Karl Jaspers: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Poütik 1945-1965, München 1965, S. 153-172.

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Wir finden in diesem Abschnitt erneut jene Alternative, die Otto Hahn in seiner Nobelpreis-Rede aufgeworfen hat. Auch wiederholen sich im Prinzip die oben festgestellten Kernpunkte. Wenn vordergründig Einigkeit zu bestehen scheint, so darf doch nicht auf eine gemeinsame Ausgangslage von Jaspers und den Naturwissenschaftlern geschlossen werden.17

Die politische Faktenlage führt gemäß Jaspers zur Philosophie. Mit ihrer Denkart kann man sich der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen Weltordnung der Zukunft stellen. Ja, innerhalb der Philosophie kann diese Frage überhaupt erst sinnvoll gestellt werden. Sie erlaubt di kritische Prüfung vermeintlich realistischer Weltsicht ebenso wie die Kri weltferner idealistischer Gedankenkonstruktionen. Genau darauf ist schließlich die Politik angewiesen: „Auf den Vorwurf, die Philosophie sei weltfremd, irreal, daher in der Politik nichts als Traum, Utopie, Torheit, ist die Antwort, man möge ihr die Realitäten zeigen, die sie verkennt. Wer phüosophiert, wül wissen, was faktisch ist, wül das Reale nicht übergehen, dann aber vor allem: das Mehr-als-Reale, von dem die politische Realität mitbestimmt wird, wenn sie Dauer, Sinn und Größe gewinnt, nicht verraten... Der „Irrealismus" der Philosophie kann sich auf die Dauer als der treffendere Realismus erweisen. Man verwechsle Philosophen nicht mit Staatsmännern, die den Rat für das Gegenwärtige wissen. Aber man nutze die philosophische Denkungsart als Licht, mit dem in konkreter Situation über die wesentlichen Dinge die Orientierung besser gelingt. Die Motivationen werden heller, die Realitäten klarer. Man kann solche Gedanken nicht abtun mit Sätzen wie: Sie seien philosophisch interessant, aber nicht Gegenstand unserer Politik. Sie sind in der Tat nicht Gegenstand, aber Bewegungskraft unserer Politik." 18

17 Dies ließe sich im einzelnen an seiner Kritik der Göttinger Erklärung nachweisen. Hier soll jedoch zur Klarstellung lediglich auf zwei kritische Passagen verwiesen werden, worin Jaspers Distanz zum Ausdruck kommt: „Die politischen Urteüe der Forscher haben ihren Grund in ihrer Unruhe. Denn Forscher sind doch nicht nur Forscher, sondern Menschen und Staatsbürger. Dann aber sprechen sie nicht als Physiker. Der Zusammenschluß als Physiker zum Zwecke einer politischen Erklärung ist sinnwidrig. Autorität der Physiker und Autorität politischer Weisheit geraten irreführend ineinander." (Atombombe S. 302) An anderer Stelle schreibt Jaspers: „Die Denkungsart der Forscher kann nur eine Voraussetzung an materialer Kunde bringen. Die Probleme entstehen nicht auf der Ebene ihrer Denkungsart. Ein ganz anderer Ursprung kommt hier zur Geltung." (Atombombe S. 295) Mit dem Verweis auf eine neue Ethik bewegen sich die Naturwissenschaftler in der Tat in einem Feld jenseits ihrer Denkungsart. Ich muß jetzt die wesentlichen Differenzen übergehen und statt dessen festlegen, daß Jaspers mit seinen Überlegungen faktisch am letztgenannten Kernpunkt des Atomaren Realismus anknüpft. Genau deshalb scheint mir die Synthese der Ansätze - entgegen ihrer inkommensurablen Selbsteinschätzung - schließlich möglich und notwendig. 18 Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung (1960), in: Der.: Hoffnung und Sorge. Schriften zur Deutschen Politik 1945-1956, München 1965, S. 193f.

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Jaspers geht von einer gegenseitigen Ergänzung von Politik und Philosophie aus.19 Deshalb wird die Ergänzungsfähigkeit zur jeweiligen Voraussetzung für wahre Poilitk und wahre Philosophie.20 Philosophie muß politisch werden können, und Politik kann sich dem philosophischen Gedanken nicht verschließen: „Das heißt nicht, daß die poütische Erscheinung abzuleiten wäre aus einem Begriffsgebäude. Sondern die Denkungsart des Phüosophierens und die Denkungsart in der Poütik koinzidieren oder kommen aus der gleichen Queüe. Und so wie die Phüosophie über das Phüosophieren zur Erscheinung kommt in der Lebenspraxis des einzelnen Menschen und nicht nur im geredeten Satz, so kommt sie auch zur Erscheinung in der Poütik. Darum ist zu verwerfen, daß man sagt, Poütik sei ein Bereich für sich, habe an sich mit Phüosophie nichts zu tun. So wenig wie man von Phüosophie sagen kann, sie sei ein Bereich für sich. Dagegen kann man sehr wohl sagen: Chemie ist ein Bereich für sich. Poütik erfordert sehr viel Kunde. Sie ist aber als Poütik nicht etwas anderes als Phüosophie. Beide ergreifen den ganzen Menschen. Beide beteiügen sich, wenn es ihnen ernst ist, an dem Gesamtgeschick des Menschen in unserer Welt. Wo die Beteüigung nicht ist, da ist auch keine Poütik. Ich wiederhole: Die These des Zusammenhangs von Phüosophie und Poütik ist so wesentüch, daß man sagen kann: wenn das eine fehlt, ist auch das andere nicht da." 21

Die gemeinsame Quelle von Politik und Philosophie kann, so Jaspers, über den Kantischen Gedanken der Aufklärung erschlossen werden. Nach Jaspers ist es die Aufgabe des Philosophen, mit seiner Reflexion „das Umgreifende des Überpolitischen"22 für die Allgemeinheit zu erschließen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger darf sein Ziel sein. Erst durch die Präsenz des Möglichen - verfügbar durch die Öffentlichkeit des Denkens - kann politische Entwicklung in Praxis geschehen. Das Denken des Philosophen kann nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Weltsituation gelingen. Wie alles menschliche Denken muß es in den Prozeß der Entwicklung selbst eingebunden sein.

19 Hier wird nicht eingegangen auf die Entwicklung der Phüosophie von Jaspers. Vgl. dazu: Helmut Fahrenbach: Zeitanalyse, Poütik und Phüosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: Dietrich Harth (Hrsg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Poütik und Philosophie, Stuttgart 1989, S. 139-183, besonders ab S. 148. 20 Wichtig ist hierfür der Verweis auf das „Überpoütische". Es ist Teü des Poütischen, aber von diesem nicht voüständig repräsentiert. Die phüosophische Erhebung offenbart erst die Orientierungsmögüchkeiten der Poütik. Vgl.: Helmut Fahrenbach: Zeitanalyse, Poütik und Phüosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: Dietrich Harth (Hrsg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Poütik und Phüosophie, Stuttgart 1989, S. 166 f. 21 Karl Jaspers: Wie kommen Sie zu ihrem Urteü, Herr Professor? Ein Interview von Armin Eichholz (1966), in: ders.: Provokationen. Gespräche und Interviews. Herausgegeben von Hans Saner, München 1969, S. 187 22 Karl Jaspers: Atombombe, a.a.O. (Anm. 16), S. 7.

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Es gibt keine archimedische Position. Sich dieser Grundsituation bewußtwerdend, verbietet es sich für den Philosophen, ein Konstrukt der Voraussetzungen frei zu entwerfen. In der Loslösung eines freien Denkens von der Realität verlöre sich seine potentielle Realisierbarkeit. Der Bereich des Umgreifenden, das, wie der Begriff andeutet, verbunden ist mit der bestehenden Weltsituation, wäre verfehlt. Das Resultat müßte Ideologie werden, was zuletzt einer Zwangsvorstellung gleicht, die mit Gewalt in die Tat umzusetzen sei. Hingegen bildet die Idee, durch ihre Rückversicherung im Bestehenden, eine Richtschnur für politisches Handeln in der aktuellen Realität. Sie kann und darf nicht zur Vollendung zwingen.23 Ihre prinzipielle Eigenschaft bleibt immer die Offenheit für eine tatsächliche Entwicklung. Die Leitfrage der Politik lautet also nicht: kommen wir durch diesen oder jenen Schritt der Idee näher? sondern: wird durch die heutige Handlung die Realisierung der Idee für die Zukunft unwahrscheinlicher? Man kann für die atomare Bedrohung hinzufügen: Wird durch den Einsatz atomarer Waffen die Idee überhaupt unerreichbar? Noch haben wir damit keine positive Vorstellung von der Idee einer menschlichen Zukunft gewonnen. Unter welchen Voraussetzungen wäre dies möglich? Jaspers entwickelt die Bedingungen der Möglichkeit einer einheitlichen friedlichen Weltordnung über die Auseinandersetzung mit den Begriffen Freiheit, Vernunft und Aufklärung. Ich kann seinen Gedankengang hier nur andeuten: In engstem Anschluß an Kant sieht Jaspers alle menschliche Entwicklung an die Gewährung von Freiheit gebunden. Nur die Freiheit des öffentlich gemachten Denkens bietet die Chance, vernünftige Zukunftsgestaltung anzuregen. Eine Auslöschung der Menschheit würde das Ende aller Freiheit bedeuten. Aber nicht nur die physische Beseitigung der Menschheit, sondern auch die Lebenssicherung in einem Weltsystem ohne Freiheit wäre das Ende jeglichen Menschseins überhaupt. Diese Feststellung führt zur Aufgabe, das zu bestimmen, was Menschsein im wesentlichen ausmacht: die Vernunft. „Vernunft scheint wie der Entwurf des erhofften Menschseins, soweit es an uns selber hegt, es hervorzubringen. Es ist ein Menschsein, das allen Menschen zugänglich ist, sie verbindet, und zugleich ihre geschichtliche Erfüllung bis in die ie einzige unersetzliche Existenz jedes Einzelnen nicht nur zuläßt, sondern fordert."

23

Jaspers bewegt sich auch hier ganz eng an seiner Kant-Interpretation. Zu Kants politischer Idee schreibt er: „Weü die Vollendung nur Idee, nicht mögliche Realität ist, ist die Welt nach menschlichem Plan als Ganzes nicht richtig einzurichten wie eine Maschinerie. Weü aber die Vollendung eine Idee ist, erwächst durch sie die Aufgabe, nach ihrem Maßstab im ständigen Einrichten unserer Welt im besonderen so zu handeln, als ob wir der Vollendung näherkämen." Karl Jaspers: Kant. Leben, Werk, Wirkung, 3. Aufl., München / Zürich 1985, S. 157. 24 Karl Jaspers: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. Drei Vorlesungen, München / Zürich 3. Aufl. 1990, S. 50.

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Die Vernunft trennt den Menschen von der Natur. Damit ist er herausgestellt aus dem Verbund aller übrigen Einzelheiten der Natur, die für sich im Naturganzen getrieben und aufgehoben sind.25 Aus dieser Ausgangsposition erwächst zugleich die Voraussetzung für eine Gemeinschaft der menschlichen Subjekte. Denn nicht das Natürliche verbindet die Menschen, sondern die Gegenstellung zur Natur. Die Vernunftbegabung ist allen Menschen gemein und muß deshalb die Grundlage für Gemeinschaft sein. Jaspers sucht und findet hier die Bedingungen der Möglichkeit für diese Gemeinschaft, er findet den potentiellen Ursprung für eine friedliche Entwicklung der Menschheit. Er kann damit die Hoffnung auf eine Entwicklung, die von anderen Autoren „Bewußtseinswandel" (C.F.v. Weizsäcker) genannt wird, begründen. Jaspers entzieht der politischen Idee einer gemeinsamen friedlichen weltweiten Ordnung die konkrete Realisierungssicherheit.26 Aber sie wird überhaupt erst möglich, wenn der Mensch seiner Freiheit gewahr wird, das anstreben zu wollen, was sein kann. Die Freiheit ist unabdingbare Vorbedingung einer wünschenswerten Entwicklung. Wenn man nun einfügt, daß Jaspers die Transzendenz - er nennt sie auch Gott - zum Bezugspunkt der Sinnhaftigkeit menschlichen Denkens und Handelns erklärt, möchte man versucht sein, die grundsätzliche Irrealität seines Ansatzes festzustellen. Mag das Gebäude auch ästhetisch ansprechend sein, so scheint doch die Basis für realistische Politik abhanden gekommen zu sein.27 25 Vgl. dazu: Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9. Aufl., München 1988, S. 269. 26 In seiner Schrift zur Schuldfrage hat Jaspers diese Unsicherheit in besonderer Weise charakterisiert. Ausgehend von der Frage der Schuld des Deutschen Volkes verweist er auf die gemeinsame Sorge aller Menschen „um das Menschsein im ganzen". Deutschlands Schicksal muß als Erfahrung für aüe gewertet werden. Vor der Aufgabe der friedüchen Menschheitszukunft verwischen die scharfen Grenzen zwischen Siegern und Besiegten: „Wir sehen mit Schrecken die Gefühle der moraüschen Überlegenheit: Wer sich der Gefahr gegenüber absolut sicher fühlt, ist schon auf dem Wege, ihr zu verfaüen. Deutschlands Schicksal wäre eine Erfahrung für aüe. Möchte diese Erfahrung verstanden werden! Wir sind keine schlechtere Rasse. Überaü haben Menschen die ähnüchen Eigenschaften. Überaü gibt es die gewaltsamen, verbrecherischen, vital tüchtigen Minoritäten, die bei Gelegenheit das Regime ergreifen und brutal verfahren. "(S. 128) Karl Jaspers: Die Schuldfrage, 1946, in: ders.: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Poütik 1945-1965, München 1965, S. 126-129. 27 Jaspers sieht diese Kritik: Man könnte in der Tat seine Konstruktion als Träumerei identifizieren, da er von Dingen spricht, die es nicht gibt. Er entgegnet, daß es sie nicht gibt „...als Gegenstand einer sie feststehenden Erkenntnis, sondern nur als Gehalt des Entschlusses." (Ursprung und Ziel der Geschichte S. 50) Der Entschluß steht und faUt aber nur mit der Freiheit, ihn zu treffen. Er ist immer zugleich poütisch, da er in die Welt und damit in die Geschichte einzubringen vermag, was hier Wirksamkeit entfalten könnte. Die Verleugnung des freien Entschlusses durch Rückverweis auf die erkannte Reaütät in der Welt ist deshalb keine konstruktive, diszipü-

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Für Jaspers dagegen führt der politische Realismus zu einer Politik ohne konstitutiven Einbezug der Freiheit, die keine Begrenzung auf das Machbare, sondern nur eine Ausgrenzung des Möglichen beinhaltet. Hier vollzieht sich eine Umwandlung des Realismusbegriffs. Das Ideal hat in der Politik der Realität »vorauszugehen*. Will man dagegen politische Zielsetzungen nur aus dem gegebenen gegenständlich gewordenen Erfahrungsschatz gewinnen, verhindert man, daß Realität werden könnte, was prinzipiell möglich wäre. Die Handlung geschieht in der irrigen Sicherheit, alles im nachweisbaren Sinne Menschenmögliche zur Entfaltung kommen zu lassen. In Jaspers' Auffassung muß dieses Politikverständnis selbst als irreal bzw. idealistisch gelten: „Sage ich: das gibt es nicht, so bedeutet das: ich will es nicht. Aber Vernunft ist nicht dadurch, daß ich sie weiß, sondern nur dadurch, daß ich sie vollziehe, in den Wissenschaften, in der Praxis und in geistigen Schöpfungen, die tiefer in die Wahrheit dringen als Wissenschaften es vermögen. " 2 8

Ich postuliere an dieser Stelle, daß Jaspers uns eine schlüssige Erklärung dafür bietet, warum die Menschheit als gesamte die Voraussetzung für einen Bewußtseinswandel in sich trüge. Vernunft kommt danach durch den freien Entschluß des einzelnen zur Erscheinung und ist als solche allen gemeinsam. Die je individuelle Teilhabe an der Vernunft einigt im Prinzip alle Menschen. Sie stellt die Bedingung der Möglichkeit von Einigkeit dar. Unsere erste Frage ist beantwortet. Nun ist diese Voraussetzung auch bereits vor der Atombombe gegeben und konnte gerade nicht zu der oftmals geforderten Friedfertigkeit aus reinen Vernunftgründen führen. Warum aber sollte Welteinheit denn jetzt möglich sein? Was unterscheidet unsere Gegenwart von vergangenen Zuständen und macht sie zur „schlechthin neuen Situation"? Jaspers blickt auf die Geschichte. Er sucht Anhaltspunkte dafür, daß es eine gemeinsame Menschheitsgeschichte gibt und daß künftig eine fortschreitende Gemeinsamkeit der Menschen denkbar ist. 29 Er findet als empirischen Tatbestand eine Situation um etwa 500 vor Christus, in der nierte Enthaltsamkeit. Realistische Politik will sich so selbst sehen. Danach würde vernünftige Politik erst dann möglich, wenn man sich an die Tatsachen hält und jegliche 'Träumerei' ausschließt. Was nicht nachweisbar ist, könnte konstruktive Politik nur gefährden. Gleichwohl könnte man das bedauern und hohe Ideale im Privatbereich anstreben, aber mit öffentlicher Verantwortung wäre es schlicht unvereinbar. 28 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9. Aufl., München/Zürich 1983, S. 51. 29 Jaspers versucht eine „Weltphilosophie" zu erarbeiten. Wobei dieses Programm mit fortschreitendem Alter in den Vordergrund rückt. Hans Saner charakterisiert das Konzept so: „Weltphilosophie erhellt den planetarischen und überzeitlichen Raum, in dem das Denken aller Zeiten und aller Orte in jeweils neuer Verwandlung - nämlich im Rahmen je unserer spezifischen geschichtlichen Situation - zum Weltgespräch

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„...geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann, wo die überwältigendste Fruchtbarkeit in der Gestaltung des Menschseins geschehen ist in einer Weise, die für das Abendland und Asien und aüe Menschen, ohne den Maßstab eines bestimmten Glaubensinhalts, wenn nicht empirisch zwingend und einsehbar, doch aber auf Grund empirischer Einsicht überzeugend sein könnte, derart, daß für aüe Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtüchen Selbstverständnisses erwachsen würde. Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu hegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß. Dort hegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben." 30

Jaspers nennt diesen Zeitraum die „Achsenzeit".31 Als empirischer Tatbestand hat er für alle Menschen, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, Gültigkeit. Ohne nun die Geschichtsphilosophie Jaspers' weiterverfolgen zu müssen, kann angegeben werden, welche Konsequenzen die Bestimmung der Achsenzeit hat. Sie gibt uns die Möglichkeit, die Einheit der Menschheit als

werden kann. Sie ist also einmal neue Aneignung des bisher Gedachten, um neues geschichtüches Denken zu ermögüchen - Historie somit, die in Geschichtüchkeit mündet. Damit sie dies sein kann, muß sie das Historische zugleich auf das Mögüche hin überschreiten. Weltphüosophie ist deshalb auch die Erheüung der Denkmögüchkeiten schlechthin - die Erhebung also der Ursprünge mögüchen Denkens, und zwar der ganzen Weite des Denkbaren. - In diesen beiden Funktionen ist sie das Denken des Denkens, zugleich in seiner empirisch-historischen und in seiner genereü-mögüchen Universaütat." Hans Saner: Jaspers' Idee einer kommenden Weltphüosophie, in: Rudolf Lengert (Hrsg.): Phüosophie der Freiheit. Karl Jaspers 23. Februar 1883 - 26. Februar 1969, mit Beiträgen von Peter Gottwald u.a., Oldenburg 1983, S. 53. 30 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9. Aufl., München / Zürich 1983, S. 19. Fortführend heißt es bei Jaspers: „In dieser Zeit drängt sich Außerordentüches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden aüe Richtungen der chinesischen Phüosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, - in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden aüe phüosophischen Mögüchkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materiaüsmus, bis zur Sophistik und zum Nihiüsmus, wie in China, entwickelt, - in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbüd des Kampfes zwischen Gut und Böse, - in Palästina traten die Propheten auf von Eüas über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, - Griechenland sah Homer, die Phüosophen - Parmenides, Heraküt, Plato - und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Aües was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten. Das Neue dieses Zeitalters ist in aüen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. [...] In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreügionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan." (S. 20f.) 31 Zur 'Chiffre' der Achsenzeit vgl. die kurze Erklärung bei Jeanne Hersch: Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk. Aus dem Französischen von Friedrich Griese, 4. Aufl., München / Zürich 1990, S. 78. 35 Festschrift Hackcr

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konkrete zu denken. 32 Sie enthebt zudem den Entwurf einer Entwicklungsfähigkeit der Menschheit zu »wahrhaftem Menschsein4 der puren Spekulation. Sie belegt, daß so ein Entwurf dann eine reale Grundlage hat, wenn er mit den Inhalten, die seither Bestandteil der menschlichen Kulturen sind, korrespondiert. Die Idee einer friedlichen Weltordnung erhält ihre geschichtliche Wurzel. Erst von ihr aus erlangen die realen Gegebenheiten der Gegenwart ihre politische und philosophische Brisanz und Konsequenz.33 Jetzt zwingt die Realität zur Verwirklichung der gegebenen Anlage. In unserem Jahrhundert besteht neben der prinzipiellen Einigkeit der Menschheit erstmals eine tatsächliche Einheit der Menschheit: „Jetzt ist das Ganze zur Frage und Aufgabe geworden. Damit tritt eine völlige Verwandlung der Geschichte ein. Entscheidend ist: Es gibt kein Draußen mehr. Die Welt schließt sich. Die Erdeinheit ist da. Neue Gefahren und Chancen zeigen sich. Alle wesentlichen Probleme sind Weltprobleme geworden, die Situation eine Situation der Menschheit. " M

In dieser Situation wird es zur Aufgabe, die politische Einheit der Welt herzustellen.35 Diese Aufgabe wird zwingend mit dem Auftreten des atomaren Vernichtungspotentials. Um sie zu bewältigen, ist die Entwicklung des Bewußtseins aller Menschen unverzichtbar. Die Aufklärung hat eine lebenswichtige Funktion erhalten. Sie steht nicht nur im Dienst des wahren Menschseins, das sie möglich halten soll, sondern im Dienst des Überlebens der Menschheit insgesamt. Der Weg führt über die freie Kommunikation aller. Kommunikation ist nicht nur technisch möglich geworden, sondern auch als prinzipielle Eigenschaft des vernunftbegabten Menschen erkannt.36 32 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9 Aufl., München / Zürich 1983, S. 42. 33 Ebd., S. 162 f. 34 Ebd. 35 Vgl. auch Karl Jaspers: Über die Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, 1949, in: ders.: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 277. Dort wird auf den „Zerfall der geschichtlichen Erinnerung" verwiesen, der durch Technik und Politik ausgelöst wurde. Der ' Verkehrseinheit ' der Welt wird also eine Zersplitterung der früheren gemeinsamen abendländischen Welt gegenübergestellt. Fast könnte es den Anschein haben als hätte eine gemeinsame Welt bestanden. Jedoch ist Jaspers mit dieser Ansatzhöhe auf die europäische Welt beschränkt, was - wie gezeigt wurde - an anderer Stelle überschritten wird. Dennoch sei hierauf hingewiesen. 36 Kommunikation nimmt eine zentrale Stellung in der Philosophie von Jaspers ein, sowohl auf der individuellen wie auch auf der allgemeinen Seite der Problemstellungen. Hierfür sei verwiesen auf: Jeanne Hersch: Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk, 4. Aufl., München / Zürich 1990, S. 31; Helmut Fahrenbach: Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: Dietrich Harth (Hrsg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Phüosophie, Stuttgart 1989, S. 172-173; besonders Hannah Arendt: Karl Jaspers: Bürger der Welt

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Wenn auch der Begriff „Weltinnenpolitik44 nicht explizit angeführt wird, kann man Jaspers' Ausführungen zur Weltordnung doch darunter fassen. 37 Bereits in seiner Schrift „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte44 aus dem Jahre 1949 hat er die wesentlichen Aspekte der „neuen Politik 4438 dargelegt und spricht vom Ende aller Außenpolitik: „AUes Geschehen ist nun von ,innen*. Von einem Außerhalb, wie es für die Universalreiche der Vergangenheit doch immer noch bestand, können keine fremden Mächte, keine Barbarenvölker mehr einbrechen. Es wird weder Limes noch Chinesische Mauer geben (nur im Übergang eines vorläufigen Abschlusses der Großräume gegeneinander). Die Welteinheit wird einzig, aüumfassend, abgeschlossen, daher mit den früheren Imperien nicht ohne weiteres vergleichbar sein. Wenn kern Bedrohung von außen mehr ist, so fehlt die Außenpolitik, es fehlt die Notwendigkeit, die Ordnung abzustehen auf eine Verteidigungsnotwendigkeit gegen äußere Angriffe." 39

Jaspers betont, daß eine solche Ordnung nur über den freiwilligen, rechtlich gefaßten Souveränitätsabbau der Staaten geschehen könne. Die Rechtsordnung allein kann aber den Wandel nicht bewirken. Vielmehr werden die abfolgenden Rechtsordnungen den Freiraum für die „Bildung eines öffentlichen Menschheitsgeistes der Sitte44 stellen müssen. Dessen Entwicklung ist Vorbedingung für den Fortschritt der Rechtsordnung. Weder die tatsächliche Gestalt noch der Erfolg der Entwicklung sind vorhersehbar. Ist nun Jaspers' Ansatz am Ende nicht doch irreal zu nennen? Seine Idee einer friedlichen Weltordnung ist so unbedingt an eine Erziehungsfähigkeit des Menschen gebunden, daß ihr der Bezug zur Realität abhanden zu kommen scheint. Jaspers verweist allerdings zu Recht darauf, daß bereits die Idee der Demokratie Politik zur erzieherischen Aufgabe macht.40

(1957), in: Hans Saner (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskussion, mit Beiträgen von Hannah Arendt, u.a., München 1973, 407-417, bes. S. 410 f. 37 Vgl. Hans Saner : Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Büddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 109. 38 Vgl. Karl Jaspers: Atombombe, a.a.O. (Anm. 16), S. 545. 39 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München, 9. Aufl., Zürich 1983, S. 248f. Jaspers entwickelt seine Grundsätze mit explizitem Verweis auf Kants Schrift zum ewigen Frieden. 40 Daß die Demokratie selbst nur eine Idee ist, verweist auf zwei Schlußfolgerungen: Erstens die Erfahrung aüein reicht nicht aus, um die poütische Handlung zu leiten, und zweitens, was uns in der Erfahrung als Demokratie begegnet, ist gefährdet, wenn es als Endzustand angesehen würde. Vgl. dazu Karl Jaspers: Das Gewissen vor der Bedrohung durch die Atombombe, 1950, in: ders.: Rechenschaft und Ausbück. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 319; sowie ders.: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Rundfunkvortrag, Oktober 1956, in: ders.: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Poütik 1945-1965, München 1965, S. 177 f. 35 :

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Ich fasse wiederum zusammen, welche weiteren Kernpunkte wir über Jaspers für die Position des Atomaren Realismus gewonnen haben:

(5) Zur Bestimmung der ethischen Grundlagen einer neuen Politik ist eine kri tische philosophische Reflexion unerläßlich. (6) Die Menschheit ist prinzipiell qua Vernunft wußtseinswandel ist möglich.

zur Einheitlichkeit

fähig, Be-

(7) Die Gegenwart birgt die faktischen Voraussetzungen für eine politische Einheit, die friedliche Weltordnung ist machbar.

(8) Alles reale politische Handeln muß die weitere Verwirklichungsmöglichkeit der Welteinheit zur Richtschnur haben und den Prozeß der Aufklärung vo antreiben. Auch für Jaspers verkehrt sich vor diesen unabänderlichen Tatsachen eine Politik, die eine vernünftige Entwicklung der Menschen für nicht realistisch hält, in ihr Gegenteil: „Aber welcher Irrealismus steckt in diesem ,Realismus4! Alle Politik, die nicht nur Geschicklichkeit für den Augenblick, sondern Gründung und Fortgründung, Kontinuität der Wirkung ist, also die Politik auf Dauer, ist immer auch zugleich Erziehung eines Volkes. Politik ist getragen von der Wirklichkeit in der Verborgenheit aller, deren Wesen in dem, was politisch geschieht, und sei es nur in Wahlen, öffentlich wird. Die Stillen im Lande sind die Träger des sittlichen Geistes, von dem alle Politik abhängt. Sie haben ihre Existenz durch Erziehung, vor allem in der Familie, dann in den Schulen. Schwindet die sittliche Substanz, so werden alle insgesamt von der Realpolitik in den Abgrund geführt. " 4 1

2.3. Dritter Schritt: Die Erkenntnis der zukünftigen

Utopie

Abschließend will ich noch zwei weitere Kernpunkte des Atomaren Realismus über Georg Picht entwickeln, die nun den wesentlichen Aspekt des Atomaren Realismus direkt ins Auge fassen: die Zukunft. Bisher haben wir den Atomaren Realismus als eine kritische Bestandsaufnahme des Gegebenen kennengelernt. Er bildet eine Möglichkeit, die Gegenwart in ihrer wirklichen Realität zu sehen. Allein diese Realtitätssicht deckt schon den irrealen Charakter jener Positionen auf, die das wirklich Neue nicht erkennen wollen oder können. Der Atomare Realismus greift darüber hinaus in zweifacher Weise auf die Zukunft über: Zum einen - wie gezeigt - negativ als Erkenntnis der realen Möglichkeit der Selbstvernichtung, zum anderen als Erkenntis der realen Möglichkeit des Überlebens. Mit Jaspers konnten wir sehen, daß ein Überleben in einer friedlichen Welt vom Prinzip und von der Faktenlage her als möglich gedacht werden kann. Was noch nicht zur Darstellung kam, ist, 41

Karl Jaspers: Atombombe, a.a.O. (Anm. 16), S. 508.

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wie die friedliche Welt entwickelt werden sollte und wie sie auszusehen hätte. Es wäre also darzulegen, welche konkreten Merkmale ein politischer Entwurf für die Zukunft haben müßte und wie wir das, was erst zukünftig sein könnte, bereits in der Gegenwart einer sicheren Erkenntnis zuzuführen hätten. Ich nehme die letzten Kernpunkte vorweg:

(9) Die Utopie verliert ihren Charakter eines beliebigen politischen Entwurfes, sie wird zum Zwang. (10) Die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis aus, um diese Zwanghaftigkeit zu begründen.

der Zukunft reichen

Von Georg Picht ist folgender Satz: „Es steht uns nicht frei, uns je nach Beheben für oder gegen utopisches Denken zu entscheiden. Wir sind zur Utopie gezwungen. u42

Picht eröffnet also, wie die anderen behandelten Autoren, eine Denkfigur der Umkehrung von realistischer und idealistischer Sichtweise, die etwa so lautet: Bislang gab es eine Möglichkeit der freien politiktheoretischen Spekulation. Deren Aussagekraft konnte daran gemessen werden, inwieweit ihre Inhalte wünschbaren Charakter hatten. Gemessen an der Realität konnten und mußten jene Entwürfe als realitätsfern eingeordnet und bewertet werden. Ja, es ist nachgerade die bedingungslose Freiheit des Entwurfes, die ihn kennzeichnet. Ob und wie er verwirklicht werden könnte, mußte als untergeordnete Frage gesehen werden. Die Utopie konnte auch als reines gedankliches Gegenbild mit der Wirklichkeit ,negativ* korrespondieren, um diese in ein kritisches Licht zu tauchen, mithin zur schrittweisen Überprüfung der Realität anzuregen. Dagegen ist die Realität nun aber fundamental gewandelt: „Der Zwang, die Schranke zur Zukunft zu durchbrechen und damit eine Revolution zu vollziehen, die tiefer greift und größere Folgen haben kann als die Eroberung des Weltraums, ergibt sich aus einer geschichtüchen Lage, die sich schon seit dem 17. Jahrhundert vorbereitet hat, aber erst durch die Konstruktion der Atomwaffen der Öffentüchkeit und der Wissenschaft selbst ins Bewußtsein getreten ist. Die Menschen verfügen heute durch Wissenschaft und Technik über die Macht, das Leben auf dem Erdbaü zu vernichten. Sie haben also im negativen Sinn die Verfügungsgewalt über ihre eigene Geschichte errungen. Aüein schon dadurch, daß es mögüch ist, der Geschichte der Menschheit ein Ende zu setzen, hat sich eine quaütative Veränderung der gesamten menschlichen Geschichte vollzogen. " 4 3

Die Zukunft offenbart sich demnach nicht mehr als Horizont möglicher politischer Zielsetzungen, sondern als Feld notwendiger politischer Planung. Gleichwohl bleibt heute der Blick in die Zukunft mit den gleichen Schwierig42 Georg Picht: Mut zur Utopie. Die großen Zukunftsaufgaben. Zwölf Vorträge, München 1969, S. .86. 43 Georg Picht: Mut zur Utopie, a.a.O. (Anm. 42), S. 14.

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keiten und Einschränkungen verbunden, die schon immer die Utopie als das auszeichneten, was sie ist: ungewiß. Genau die Ungewißheit aber, und hier liegt ein Kernpunkt für die Umbewertung der Realismus/Idealismus-Sichtweise, hat für die Menschheit eine entscheidende Veränderung vollzogen. Vergangene Utopieentwürfe konnten im sicheren Horizont einer Zukunft der Menschheit nach dem ungewissen Möglichen suchen. Es blieb sogar die Chance, die prinzipielle unendliche Entwicklung anzunehmen und damit das sichere Eintreten der Utopie - irgendwann - zu erwarten. Heute muß der utopische Entwurf die Ungewißheit der menschlichen Existenz zum Ausgangspunkt machen, um nach politischen Strategien, die sich durch einen hohen Grad an Gewißheit auszeichnen, zu suchen.44 Vor diesem Hintergrund kann die erneute Hinwendung zur Utopie keine schlichte Fortsetzung einer bestehenden Tradition bedeuten. Das utopische Denken muß, in der neuen Situation seiner Notwendigkeit45, selbst neu reflektiert werden.46 Picht führt eine Unterscheidung utopischer Denkansätze ein, die den aufgezeigten Differenzen Rechnung tragen soll. „Blinde" Utopien sind „Traumbilder einer unwirklichen Welt, also die Projektionen der bewußtlosen Wünsche, der blinden Hoffnungen und des irrationalen Wollens."47 „Kritische" Utopien „sind eine Form von literarischen Utopien, die im Spiegel erdichteter Welten gewisse Zustände oder Möglichkeiten der gegenwärtigen Welt, in der wir leben, erkennen lassen und kritisch reflektieren". 48 Dagegen ist eine neue, man könnte sagen pragmatische Utopieform zu setzen:

44 Vgl. Georg Picht: Prognose, Utopie, Planung, in: ders.: Zukunft und Utopie. Mit einer Einführung von Enno Rudolph, Stuttgart 1992, S. 27: „Der Mensch erobert seine eigene Endlichkeit. Er demoliert den Spielraum der Phantasie. Das muß zu einem ungeheuren Umschlag in seinem Selbstverständnis führen und wird für die innere Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt der alles beherrschende Tatbestand sein. Der Anprall an die Schranken der Endlichkeit rechtfertigt nicht die Preisgabe des Begriffes der Utopie, aber er zwingt, diesen Begriff auf den begrenzten Spielraum der realen Möglichkeiten menschlichen Handelns einzuschränken. " 45 Vgl. auch Georg Picht: Technik und Utopie, in: ders.: Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Band II, Stuttgart 1981, S. 349. 46 An dieser Stelle, so sollte festgehalten werden, geht Picht über die bisher vorgestellten Positionen der Physiker und von Jaspers hinaus. Während die Physiker die ganze Reichweite ihrer wissenschaftlichen Denkweise reflektieren und offenlegen wollten, Jaspers einem vollständig entwickelten Kantverständnis Platz machen wollte, geht Picht durch eine Verknüpfung beider Ebenen weiter. Er sieht Philosophie vor der neuen Aufgabe „Hier und Jetzt" neue Denkwege zu suchen. Daß dies in engster Weise mit dem Bemühen C. F. v. Weizsäckers korrespondiert, wird später noch besonders aufzuzeigen sein. 47 48

Georg Picht: Mut zur Utopie, a.a.O. (Anm. 42), S. 85. Ebd.

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„Von beiden Formen des utopischen Denkens unterscheide ich den Entwurf von Bildern jener Zustände, die durch zielbewußtes Handeln herbeigeführt werden können. Im Gegensatz zu jenen Gebilden, die wir sonst Utopien zu nennen pflegen, ist diese Form der Antizipation von Zukunft auf den Bereich der realen Möglichkeiten eingeschränkt. Ich nenne sie die aufgeklärte Utopie. " 49

Wie denkt sich Picht die Einschränkung „auf den Bereich der realen Möglichkeiten"? Anders gefragt: was an der Ausschöpfung der realen Möglichkeiten könnte den utopisch sein? Wozu fuhrt also die Umbewertung der Realismus/Idealismus-Kontroverse konkret? Im Angesicht der Drohung eines selbstverschuldeten Menschheitsendes muß jeder positive Zukunftsentwurf naiv erscheinen, wenn er nicht die fundamentale Gefährdung selbst im Zentrum hält. Wird dies aber geleistet, so beschränkt sich der Entwurf in der Festlegung jener Grundsätze, die eine globale Auslöschung verhindern. Zur Richtschnur der gelungenen Gefahrenabwehr können dann zunächst nur jene Grundsätze werden, die eine weitere Gefahrenabwehr möglich machen. Die Gefahr selbst bleibt mit der Fortexistenz der Menschheit unauflösbar verbunden. Die einzige Chance der permanenten Gefahrenbewältigung bietet die menschliche Vernunft. Sie allein kann dauerhaft auf die Sicherung menschlicher Existenz hinwirken. Vernunft ist in der Lage, menschliches Denken so anzuleiten, daß weiterhin vernünftige Entwicklung möglich bleibt. Als solche bleibt die Vernunft reine Möglichkeit noch unbekannter inhaltlicher Ausprägungen. So kann die Überlegung nur zu einer allgemeinen Konstruktion führen. Die aufgeklärte Utopie kann nicht die Welt zeigen und beschreiben, wie sie sein wird. Sie muß, zunächst negativ, „einen obersten Grundsatz, aus dem sich positiv die Struktur aller überhaupt zulässigen Zielsetzungen menschlichen Denkens und Handelns ableiten läßt" bilden.50 Aus diesen Überlegungen heraus formuliert Picht seinen Grundsatz als Prinzip Verantwortung, lange bevor Hans Jonas sich in ähnlicher Problematik zu Wort meldet: „Er heißt: eine zukünftige Geschichte der Menschheit wird es nur geben, wenn es gelingt, einen Weltzustand herbeizuführen, in dem vernunftgemäßes Denken und Handeln mögüch ist und sich durchsetzen kann. Auch dieser Satz ist in sich evident. Jede Zielsetzung, jede Planung, jedes poütische Handeln und jedes Denken, das diesem Satz widerspricht, ist falsch." 51

Die aufgeklärte Utopie muß, will sie diesem Grundsatz folgen, mit dem „Hier und Jetzt"52 unauflösbar verbunden sein. Ein losgelöster, zeitloser Ent49

Ebd. S. 85 f. Ebd., S. 87. 51 Ebd., S. 88. 52 Dieses Begriffspaar büdet zugleich einen Buchtitel, der von Picht selbst herausgegebenen Aufsätze: Georg Picht: Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Band I und Band II, Klett-Cotta: Stuttgart 1980 und 1981. 50

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wurf ist nicht möglich. Sie „muß der negativen Bedingung genügen, daß sie die vorgegebenen Realitäten so erkennt und in Rechnung stellt, wie sie wirklich sind". 53 Damit liegt ihr utopischer Charakter bereits in der Gegenwart und zwar in zweifacher Art: Sie muß den eigentlich zukünftigen Sinn der aufgeklärten Utopie bereits in der Gegenwart als Rahmen vorwegnehmen ,54 Des halb muß sie zusätzlich sämtliche denkbaren Möglichkeiten und Mittel der wissenschaflich-technischen Gegenwart offenlegen und so zur Wirkung bringen, daß die Grenzen des herrschenden, naiv utopischen Weltbildes sichtbar werden und überschritten werden können. Aufgeklärt utopisch ist also das Vorhaben, die Menschheit über ihre naiven Utopien in Wissenschaft und Politik aufzuklären. Und „...so erweist sich die Realisierung von Vernunft als die zentrale Aufgabe der zukünftigen Geschichte der Menschheit".55 Nun beschränkt sich Picht jedoch weder auf eine Zusammenfassung aller wissenschaftlich erschließbaren Probleme noch auf die Bündelung aller wissenschaftlichen Rationalität zum Zwecke der Zukunftsbewältigung. Dies wurde ja bereits oben im Begriff der „aufgeklärten Utopie" sichtbar. Picht postuliert, unter Berufung auf die Menschheitsgeschichte als Entfaltung von Vernunft, die nicht nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeit geschieht, daß „in einem qualitativen Sprung, eine neue Stufe der kollektiven Moral und eine neue Stufe der kollektiven Vernunft zu erreichen" 5 6 ist. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, „für den es in der bisherigen Geschichte kein Vorbild gibt" 57 .

Picht stellt sich dem Problem, die Zukunft zu denken aus der Erkenntnis heraus, daß die Gegenwart in völlig neuer Form für die Zukunft Verantwortung trägt: Sinnfälligstes Signal dafür ist die Existenz der Kernspaltung/Atombombe. Nun ist aber die Feststellung dieser Verantwortung für die Zukunft nur eine folgenlose Vermutung, solange kein Nachweis geführt wird, daß eine solche Verantwortung überhaupt wahrgenommen werden kann. Die Gestaltung der Zukunft muß sich als ein Horizont möglicher Optionen belegen lassen, welcher dem menschlichen Denken erschließbar ist. Mithin müssen die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Denkens diesen Überstieg aus der sicheren Erkenntnis der Gegenwart auf die unsicheren Entwicklunge zukünftigen Geschehens erlauben. Menschliche Geschichte muß in den verschränkten Modi der Zeit - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - gedacht werden können. Deshalb muß das Verhältnis von Zeit und der im Denken er53

Georg Picht: Mut zur Utopie, a.a.O. (Anm. 42), S. 87. Vgl. nochmals Georg Picht: Prognose, Utopie, Planung, a.a.O. (Anm. 44), S. 26 f. 55 Georg Picht: Mut zur Utopie, a.a.O. (Anm. 42), S. 88. 36 Ebd., S. 145. 57 Ebd. 54

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kannten Wahrheit neuerlich kritisch reflektiert werden. Damit ist eine neue Aufgabe für menschliches Denken benannt: „Ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß aües, was in der bisherigen Geschichte der Menschheit gedacht worden ist, neu gedacht werden muß, wenn wir die unauflösüche Verbindung von Zeit und Wahrheit einmal verstanden haben. " 5 8

Ob es diese prinzipiell bewältigen kann, hängt für Picht davon ab, ob menschliches Denken per se - also schon immer - konstitutiv aus der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seine schöpferische Kraft entwickeln kann. Picht vollzieht also eine kritische Reflexion der Vernunft auf sich selbst. Hierauf kann nun nicht weiter eingegangen werden.59 Ich kann also nur feststellen:

Pichts Philosophie ist, so abstrakt sie teilweise erscheinen mag, eminent politisch. Erst vor dem Hintergrund einer neuen aufgeklärten Bestimmung der menschlichen Freiheit wird die Übertragung einer Verantwortung für die Schöpfung auf den Menschen praktisch wirksam. Die Beschränkung auf eine naturwissenschaftlich-technische Denkweise wird als Verantwortungslosigkeit sichtbar. In der philosophischen Bestimmung eines fortbestehenden Programms der Aufklärung entwickelt sich die Forderung nach einer Politik, die einen weltweiten Bewußtseinswandel ermöglichen kann, überhaupt erst als pragmatisch und zwingend. Mit der Bestimmung des Menschseins als vorausschauend wirkendes Subjekt, das in der gleichen Zeit existiert wie alles, w jenseits von ihm selbst ist, wird schließlich auch der politische Entwurf als Teil des Humanum aufgedeckt: „Wenn sich das Dasein auf seine Mögüchkeit hin entwirft, so ist es, indem es seine Zukunft antizipiert. Der Mensch ist, indem er sich dem öffnet, was er noch nicht 58 Georg Picht: Die Erkenntnis der Zukunft, in: ders.: Zukunft und Utopie. Mit einer Einführung von Enno Rudolph, Stuttgart 1992, S. 182. 59 Grundlage für dieses Vorhaben muß die Transzentalphüosophie Kants sein. Sie steüt die Methode der verstandesgemäßen Selbstbefragung. Eine wesentüche Erweiterung ist aüerdings unumgängÜch. Um die Verbundenheit vom Phänomen jenseits des Denkens - also im konkreten Faü die Naturzerstörung - mit der Frage der Zeitüchkeit erfassen zu können, ist das Verfahren der existenzialen Analytik anzuwenden. Pichts zweiter großer Ausgangspunkt ist daher Heideggers „Sern und Zeit". Picht unterscheidet die gewonnenen Zeitbegriffe nach der zugrundeüegende Verfahrensweise. Eine vertiefte Darsteüung kann hier nicht gegeben werden, wenn auch das Zeitproblem noch weitergehend berührt wird. Es sei bezügüch der aügemeinen Begründung der zwei Zugangswege zum Zeitverständnis verwiesen auf den 23. Abschnitt „Kritische Überprüfung der phänomenalen Analyse" und den 24. Abschnitt „Phänomenale und transzendentale Zeit - die zeitimmanente Interpretation von Zeit" in Georg Picht: Glaube und Wissen. Mit einer Einführung von Christian Link, Stuttgart 1991, S. 207-218.

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ist. Die Antizipation von Zukunft oder, wie wir dafür auch sagen können: die Erkenntnis von Zukunft, macht also die Seins Verfassung von Dasein erst möglich. Die Frage nach der Erkenntnis von Zukunft kann, wenn man das eingesehen hat, nicht mehr so aufgefaßt werden, als ob der Mensch ein Lebewesen wäre, das es gibt, und das dann zusätzlich nach freiem Belieben sich auch um die Erkenntnis seiner möglichen Zukunft bemühen kann. Die Zukunft ist nicht irgendein Objekt, das man aus einer Unzahl anderer Objekte hervorholen und zum Gegenstand seiner Neugier machen kann. Der Mensch ist vielmehr so konstituiert, daß er gar nicht umhin kann, sich in irgendeiner Weise auf eine antizipierte Zukunft zu orientieren. Nur durch die Antizipation von Zukunft, nur in der Orientierung auf das, was kommt, kann der Mensch eine Gegenwart haben; unentschieden ist lediglich die Frage, ob ihn bei der Vorwegnahme seiner zukünftigen Möglichkeiten ein Wissen und eine Erkenntnis leiten, oder ob er die Zukunft blindlings antizipiert und dann für seine Verblendung bezahlen muß. Das bedeutet: die Frage nach der Erkenntnis der Zukunft ist identisch mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Daseins überhaupt.