Unsicherheiten des Rechts: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts-und Sozialphilosophie (IVR) im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg 3515125612, 9783515125611

Im Umgang des Rechts mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer freiheitlichen Gesellschaft ergeben sich U

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German Pages 338 [342] Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Sicherheit um jeden Preis
Einleitende Bemerkungen
Sicherheit, Freiheit, Risiko
Sicherheit durch denaturierte Freiheit?
Sicherheit im Namen der Freiheit
Gefahrenabwehr im Präventionsstaat
Sicherheit neu gedacht
Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?
Security Measures Abroad and Extraterritorial Human Rights Obligations
In dubio pro securitate?
Freie Rede, gefährliche Rede?
Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung
Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme
Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie
II. Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtum
Einleitende Bemerkungen
Verfassungsänderungen durch Zeitgeister, Medien, Rechtsprechung oder den einfachen Gesetzgeber?
Beziehungsprobleme
Subjektive Rechte als Fehlerkalkül
Falsche Tatsachen
Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme (in) der juristischen Methodenlehre
Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft
Können Kommentare irren?
Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung
Das Recht im Skandal seiner Irrtümer
Die Verfassung auf den Barrikaden
AutorInnen und HerausgeberInnen
Recommend Papers

Unsicherheiten des Rechts: Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts-und Sozialphilosophie (IVR) im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg
 3515125612, 9783515125611

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Unsicherheiten des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (I VR) im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg

Herausgegeben von Ruwen Fritsche, Philipp Gisbertz, Philipp-Alexander Hirsch, Franziska Bantlin, Rodrigo Cadore, David Freudenberg, Sabine Klostermann, Laura Wallenfels

Beiheft 162

archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechtsund Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M.

beiheft 162

UNSICHERHEITEN DES RECHTS Von den sicherheitspolitischen Herausforderungen für die freiheitliche Gesellschaft bis zu den Fehlern und Irrtümern in Recht und Rechtswissenschaft Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie ( JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg Herausgegeben von Ruwen Fritsche, Philipp Gisbertz, Philipp-Alexander Hirsch, Franziska Bantlin, Rodrigo Cadore, David Freudenberg, Sabine Klostermann und Laura Wallenfels

Franz Steiner Verlag

Umschlagbild: Justitia, Landgericht Ulm Quelle: shutterstock.com / Georg_89 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12561-1 (Print) ISBN 978-3-515-12567-3 (E-Book)

Im Gedenken an Ralf Dreier

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Sicherheit um jeden Preis – Bedingung und Herausforderung für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie RUWEN FRITSCHE / PHILIPP GISBERTZ / PHILIPP-ALEXANDER HIRSCH

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

MARION STAHL

Sicherheit, Freiheit, Risiko

Eine aktuelle Verhältnisbestimmung

19

JANNIS LENNARTZ

Sicherheit durch denaturierte Freiheit?

Zu Rousseaus Freiheitsbegriff

31

JONAS HELLER

Sicherheit im Namen der Freiheit

Die liberale Ordnung und das „Leben der Nation“

43

TOBIAS SCHOTTDORF

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Über Umbrüche in der staatlichen Sicherheitsarchitektur

59

JUDITH SIKORA

Sicherheit neu gedacht

Chancen und Risiken eines neuen „Sicherheitsrechts“

75

8

Inhaltsverzeichnis

STEPHAN WAGNER

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

ANGELA MÜLLER

Security Measures Abroad and Extraterritorial Human Rights Obligations

. . . . . . . . 103

VERA MOSER

In dubio pro securitate?

Ein Konflikt zwischen dem Ziel der Unschuldsvermutung und der Idee von sichernden Maßnahmen

115

SILVIA DONZELLI

Freie Rede, gefährliche Rede?

Prävention von Gewaltanstiftung: Perspektiven inner- und außerhalb des Strafrechts

129

PASCAL SÖPPER

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

. . . . . . . 143

MARKUS ABRAHAM

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

WULF LOH

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

II. Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtum – Das Problem der fehlerhaften rechtlichen Entscheidungen FRANZISKA BANTLIN / RODRIGO CADORE / DAVID FREUDENBERG / SABINE KLOSTERMANN / LAURA WALLENFELS

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

BERND RÜTHERS

Verfassungsänderungen durch Zeitgeister, Medien, Rechtsprechung oder den einfachen Gesetzgeber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

JAKOB FAIG

Beziehungsprobleme

Überlegungen zur Theorie des Fehlerkalküls

209

Inhaltsverzeichnis

JOHANNES BUCHHEIM

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

DAVID KUCH

Falsche Tatsachen

Über normative Ansprüche und „Irrtümer“ des Rechts

237

MAXIMILIAN SCHULZ

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme (in) der juristischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

CHRIS THOMALE

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

Zum Umgang der Zivilrechtsdogmatik mit Irrtümern

269

FRANZISKA BRACHTHÄUSER

Können Kommentare irren?

Der Rechtsirrtum in juristischen Kommentaren am Beispiel der Anwaltshaftung

281

ALEXANDER STÖHR

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

. . . . . . . . . . . . . . 295

PEDRO HENRIQUE RIBEIRO

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

Der Skandal als eine Plausibilisierungsform der Rechtsfehlersemantik aus einer rechtssoziologischen, systemtheoretischen Perspektive

309

NIKLAS PLÄTZER

Die Verfassung auf den Barrikaden

Ziviler Ungehorsam zwischen Revolution und Normenkontrolle nach Hannah Arendt AutorInnen und HerausgeberInnen

321

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

9

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert zwei Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie ( JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), die im April 2018 in Göttingen und im September 2018 in Freiburg stattfanden . Zu Beginn finden sich die Beiträge der Göttinger Tagung, die unter dem Titel „Sicherheit um jeden Preis – Bedingungen und Herausforderungen für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ stand und von Roberta Astolfi, Ruwen Fritsche, Philipp Gisbertz, Philipp-Alexander Hirsch sowie Maximilian Schulz organisiert wurde . Die Tagung widmete sich der grundlegenden Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat in ihrer rechtlichen, philosophischen sowie politikwissenschaftlichen Vielschichtigkeit . Die Beiträge der Referent*innen der Freiburger Tagung, die das Thema „Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtümer – Das Problem der fehlerhaften rechtlichen Entscheidungen“ zum Gegenstand hatten, befinden sich im zweiten Teil des vorliegenden Bandes . Ziel war es, sich dem rätselhaften Phänomen der ‚Rechtsfehler‘ aus verschiedenen juristischen wie nicht-juristischen Perspektiven zu nähern, um einerseits die blinden Flecken einer jeden Beobachtung zu reflektieren und andererseits Brücken zu schlagen zwischen den Diskursen der juristischen Grundlagenfächer und denen der Rechtsdogmatiken sowie zu verwandten nicht-juristischen Disziplinen im Interesse eines fächerübergreifenden Forschungsgesprächs . Der Dank der Herausgeberinnen und Herausgeber gilt den vielen engagierten Helfer*innen in Göttingen und Freiburg, die das Gelingen der beiden Tagungen erst ermöglicht haben . Für die Göttinger Tagung bedanken wir uns für die freundliche Unterstützung durch die Verlage Duncker & Humblodt, Mohr-Siebeck, NOMOS, Steiner und Velbrück sowie durch das Institut für Grundlagen des Rechts, das Kriminalwissenschaftliche Institut und das Philosophische Seminar der Universität Göttingen . Auf der Freiburger Seite möchten wir uns ebenfalls herzlich bei den schon genannten Sponsoren bedanken, die sich bereit erklärt haben, zweimal im selben Jahr Nachwuchskonferenzen im Rahmen einer JFR-Tagung zu fördern . Ergänzt wird unsere Danksagung noch um den Ausdruck tiefer Dankbarkeit gegenüber dem Institut für Staatswissenschaft & Rechtsphilosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, für

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Vorwort

die Tagung vertreten vor allen durch Herrn Professor Matthias Jestaedt . Es freut uns besonders, dass wir mit der Unterstützung durch das Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie die Tradition fortsetzen können, die Beiträge zu den Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie zu veröffentlichen . Göttingen und Freiburg im Juli 2019 Ruwen Fritsche, Philipp Gisbertz, Philipp-Alexander Hirsch Franziska Bantlin, Rodrigo Cadore, David Freudenberg, Sabine Klostermann und Laura Wallenfels

I. Sicherheit um jeden Preis – Bedingung und Herausforderung für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Einleitende Bemerkungen RUWEN FRITSCHE / PHILIPP GISBERTZ / PHILIPP-ALEXANDER HIRSCH

Die Sicherheit als Schlagwort, als Begriff, als Ziel oder Element einer Abwägung ist nicht nur in der politischen Debatte, sondern auch in aktuellen philosophischen und rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen ein populäres Thema . Technologischer Fortschritt, (gefühlte) Zunahme und Ausmaß von Gewaltverbrechen, internationaler Terrorismus, Migrationsfragen, wirtschaftlicher und sozialer Wohlstand, Big Data, internationale Gemeinschaften und Kooperationen – kaum ein Themenfeld, auf dem Sicherheit in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten keine zentrale Rolle spielt . Aber was genau besagt der Begriff „Sicherheit“? Lässt sich Sicherheit objektiv feststellen, bezeichnet sie ein kollektives (oder individuelles) Gefühl, einen Zustand oder ein Rechtsgut? In Zeiten politischer, sozialer und wirtschaftlicher Krisen wird im Namen der Sicherheit immer häufiger in Freiheitsrechte eingegriffen . Prinzipien, die gemeinhin als Forderungen der Rechtsstaatlichkeit gelten oder zumindest galten, etwa Beschuldigten- und Verfahrensrechte oder das Verständnis von pluralistischer Demokratie, werden im Zuge dessen neu verhandelt . Häufig wird angeführt, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie könnten erst durch Sicherheit bewahrt und bewehrt werden . Das Recht, die Politik, aber auch die Rechtsphilosophie müssen Antworten auf diese drängenden Fragen finden oder jedenfalls mitwirken, die richtigen Fragen zu formulieren . Denn wie wir das Verhältnis von Sicherheit auf der einen und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf der anderen Seite begreifen, ist nicht nur von enormer Bedeutung für ein Recht, das den neuen Herausforderungen gewachsen sein soll, sondern auch notwendige Bedingung einer politischen und gesellschaftlichen Verständigung über Fragen der Sicherheit . Dieses komplizierte Verhältnis in seiner Vielschichtigkeit aufzugreifen und anhand unterschiedlicher Fragestellungen in seiner rechtlichen, philosophischen sowie politikwissenschaftlichen Dimension zu analysieren, ist das Ziel der im Folgenden versammelten Beiträge . Im ersten Beitrag analysiert Marion Stahl (Regensburg) unter dem Titel „Sicherheit, Freiheit, Risiko . Eine aktuelle Verhältnisbestimmung“ das Verhältnis der Begriffe

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Ruwen Fritsche / Philipp Gisbertz /Philipp-Alexander Hirsch

„Freiheit“ und „Sicherheit“ . Nach einer geschichtlichen Darstellung beider Begriffe weist Stahl den ideengeschichtlichen Vorrang der Freiheit auf, der das ihr innewohnende Risiko akzeptiert . Sie konstatiert jedoch einen sich vollziehenden Wertewandel und stellt dessen problematische Folgen heraus . In „Sicherheit durch denaturierte Freiheit? Zu Rousseaus Freiheitsbegriff “ reformuliert Jannis Lennartz (Berlin) den Konflikt von Sicherheit und Freiheit als Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung . Ausgehend von einer kritischen Analyse des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit bei Jean-Jacques Rousseau zeigt er die Gefahren einer in der Semantik des Rechts ausbuchstabierten Moral für ein liberal-formales Rechtsverständnis auf . Mit dem Ziel einer philosophischen Verhältnisbestimmung von Sicherheit und Freiheit untersucht schließlich auch Jonas Heller (Frankfurt am Main) in „Sicherheit im Namen der Freiheit . Die liberale Ordnung und das ‚Leben der Nation‘“ die Wechselbeziehungen von Freiheit und Sicherheit im Fall des politischen Ausnahmezustands und versucht daran aufzuzeigen, wie aus einer Ordnung der Freiheit, also dem Ziel des Liberalismus, eine Freiheit der Ordnung werden kann, die sich gegen die Freiheit der Einzelnen stellt und dadurch illiberal wird . Hiervon ausgehend erschließen die folgenden Beiträge das Thema Sicherheit aus den Perspektiven der Rechts- und Politikwissenschaft . Tobias Schottdorf (Lüneburg) zeichnet in seinem Beitrag „Gefahrenabwehr im Präventionsstaat . Über Umbrüche in der staatlichen Sicherheitsarchitektur“ am Beispiel Deutschlands den Übergang von einem Rechts- zu einem Präventionsstaat nach und führt das neue präventionsstaatliche Paradigma auf die Herausbildung einer risikosensibilisierten Weltgesellschaft zurück, indem er die Rechtfertigungsstrategien des staatstechnischen Umbaus analysiert . Im folgenden Beitrag widmet sich Judith Sikora (Marburg) dem Thema „Sicherheit neu gedacht . Chancen und Risiken des ‚Sicherheitsrechts‘“ . Nach einem Überblick über das Rechtsgebiet des Sicherheitsrechts gelangt sie zu der Problemdiagnose, dass rechtsstaatliche Steuerungsmechanismen an Wirkungskraft verlieren . Dies führe zu verschiedenen Herausforderungen für den Rechtsstaat . Eine der daraus abgeleiteten Forderungen ist die Harmonisierung der verschiedenen Teilgebiete des Sicherheitsrechts unter Berücksichtigung der negativen Konvergenz- und Synergieeffekte . Im anschließenden Beitrag bereichert Stephan Wagner (Münster) das Thema der Sicherheit im Recht um eine psychologische Perspektive . Er widmet sich in „Sicherheit vs . Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?“ der Bedeutung von subjektiv gefühlter Sicherheit und Freiheit . Ausgehend von einer rechtsdogmatischen Bestandsaufnahme geht er zu einer psychologischen Analyse von Sicherheit und Freiheit als Gefühlen über, um hieran mögliche Probleme der gefühlten Sicherheit und Freiheit für den Umgang mit dem Recht aufzuzeigen . Nach der bisher geleisteten, grundlegenden Verhältnisbestimmung von Sicherheit und Freiheit im Recht greifen die weiteren Beiträge dieses Thema in seiner Ausprägung in konkreten Rechtsgebieten auf . Angela Müller (Zürich) beginnt mit einem Beitrag zum Thema „Security Measures Abroad and Extraterritorial Human Rights Obli-

Einleitende Bemerkungen

gations“ . Ausgehend von der Diagnose, dass staatliches Handeln im 21 . Jahrhundert vielfach extraterritoriale Konsequenzen für Menschen hat, widmet sie sich der Frage nach extraterritorialen menschenrechtlichen Verpflichtungen aus einer rechtsphilosophischen Perspektive . Eine überzeugende Konzeption von Souveränität muss gemäß ihrer These extraterritoriale menschenrechtliche Verpflichtungen berücksichtigen . Im Anschluss folgt ein Beitrag von Vera Moser (Bern) zum Thema „In dubio pro securitate?“ . Zentrale These des Beitrags ist, dass ein an dem Ziel der Sicherheit orientiertes Strafrecht, das gefährliche Personen im Rahmen des Maßnahmenrechts verwahrt, mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar ist . Das Ziel der Sicherheit im Maßnahmenrecht führe notwendigerweise zu einer Verdrängung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ . Die Unschuldsvermutung und das (Schweizer) Maßnahmenrecht seien somit miteinander unvereinbar . Schließlich befasst sich Silvia Donzelli (Berlin) in ihrem Beitrag mit dem Thema: „Freie Rede, gefährliche Rede? Prävention von Gewaltanstiftung: Perspektiven inner- und auβerhalb des Strafrechts“ . Dabei nimmt sie zunächst einen Vergleich der strafrechtlichen Ausgestaltung der Anstiftung im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht vor . Diese strafrechtliche Analyse zieht sie sodann heran, um die moralische Verantwortlichkeit in Anstiftungskonstellationen zu untersuchen . Zuletzt widmet sich der Sammelband dem kontrovers diskutierten Thema von Datenschutz und Privatheit im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit . Ausgangspunkt bildet die rechtliche Analyse von Pascal Soepper (Tokio), der sich dem aktuellen wie praxisnahen Thema „Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung“ widmet . Von der Diskussion über die verschiedenen Möglichkeiten, ein Recht an den eigenen Daten zu verstehen und auszugestalten, bis hin zu abstrakteren Fragen der Legitimität des Paternalismus untersucht er eine große Breite an Diskussionsfeldern in und um die Thematik des Datenschutzes . Im Anschluss betrachtet Markus Abraham (Hamburg) in „Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme“ das in der Volksrepublik China im Aufbau befindliche „social credit score“-System für Staatsbürger*innen . Ausgehend von einer Analyse des Ratingsystems stellt er hierbei nicht nur kritisch die bedenklichen Aspekte dieses Projekts heraus, sondern zeigt auch unter Bezugnahme auf die Sprachphilosophie Robert Brandoms auf, wie eine solche Praxis als sanktionales deontisches Kontoführen gerechtfertigt werden könnte . Zuletzt diskutiert Wulf Loh (Tübingen) fünf in der Literatur prävalente Begründungen, die „Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie“ in den Mittelpunkt stellen . Anhand der Funktionen, die eine politische Öffentlichkeit für demokratisches Regieren wahrnimmt, zeigt er, dass – unabhängig vom jeweils präferierten Demokratiemodell – informationelle Privatheit unabdingbar für die Möglichkeit politischer Partizipation und die Ausbildung von Bürgertugenden ist . Von der Philosophie bis zur Politikwissenschaft, vom Präventionsrecht über den internationalen Menschenrechtsschutz bis zum Datenschutzrecht: Überall stellen sich grundlegende Fragen, wie Freiheit und Sicherheit im Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu verstehen sind . So ähnlich die grundlegenden Fragestellungen sind, so

17

18

Ruwen Fritsche / Philipp Gisbertz /Philipp-Alexander Hirsch

hat die diesem Sammelband zugrundeliegende Göttinger Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie auch deutlich werden lassen, dass es keine einfache Antwort hierauf gibt . Wie im demokratischen Rechtsstaat Sicherheit und Freiheit zu verstehen und in Verhältnis zu setzen sind, bedarf einer vertieften interdisziplinären Betrachtung . Jeder der folgenden Beiträge trägt dazu in vielfältiger Hinsicht bei .

Sicherheit, Freiheit, Risiko Eine aktuelle Verhältnisbestimmung MARION STAHL (Regensburg)

In diesem Beitrag soll der Versuch einer Verhältnisbestimmung bezüglich der Kategorien von Freiheit und Sicherheit vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen unternommen werden . Unter Verweis auf historische Prozesse sowie konzeptionelle Analysen sollen diejenigen Dimensionen von Freiheit und Sicherheit eingegrenzt werden, die diesbezüglich von Relevanz sind, wobei die politische Dimension in den Vordergrund tritt . Im Rahmen der vorzunehmenden Verhältnisbestimmung möchte ich zudem den Begriff des Risikos verorten, wobei nicht vorrangig die sicherheitspolitische, sondern die politiktheoretische als auch die philosophische Perspektive von Relevanz sein werden . Die Frage nach einem ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Freiheit berührt letztlich auch die Thematik der – guten – politischen und gesellschaftlichen Ordnung . Des Öftern ist die Rede von einem „Risiko der Freiheit“– doch inwiefern kann nicht gleichermaßen auch von einem „Risiko der Sicherheit“ gesprochen werden? Inwiefern stellt gar eine Politik, die zu sehr auf einen Konsens bedacht ist, ein Risiko für die freiheitliche Ordnung dar? Geht man von einem nicht-anarchischen Konzept politischer Freiheit aus, so steht außer Frage, dass relevante Formen der Freiheit des Schutzes bedürfen . Dass der Schutz der Freiheit dabei nicht allein Aufgabe von Politik und Rechtsstaat ist, sondern vielmehr in die Sphäre individueller Verantwortung jedes einzelnen Bürgers fällt, soll insbesondere gegen Ende meines Beitrags deutlich werden . Insgesamt geht es mir darum zu zeigen, dass Sicherheit grundsätzlich primär von der Idee der Freiheit her verstanden werden muss und nicht andersherum . Dies gilt auch in Zeiten von globalen Krisen und vermehrt wahrgenommenen objektiven und subjektiven Bedrohungslagen . Ein solcher Ansatz setzt auch die Option einer klaren Grenzziehung, mitunter einer antagonistischen Positionierung hinsichtlich der Kategorien von Freiheit und Sicherheit voraus, deren Verschränkung zumeist stärker zu Tage tritt als deren Antagonismus .

20

Marion Stahl

I

Die Dimensionen von Freiheit und Sicherheit – eine Lagebestimmung

Freiheit und Sicherheit werden im Allgemeinen als – mitunter konträre – Wertbegriffe wahrgenommen, die sich in einem spezifischen Spannungsverhältnis zueinander positionieren und deren jeweiliger Wertegehalt keineswegs festgelegt ist .1 Grundsätzlich lassen sich verschiedene Dimensionen und Gegenstandsbereiche unterscheiden – neben der politischen, der rechtlichen und der sozialen Dimension können auch die ökonomische, die kulturelle oder die ökologische Dimension von Sicherheit und Freiheit angeführt werden, wobei diese verschiedenen Dimensionen mitunter überlappen und sowohl von tendenziell objektiven als auch subjektiven Faktoren begleitet sein können . Die konzeptionelle Verschränkung von Sicherheit und Freiheit tritt insbesondere in der Idee der politischen Freiheit zu Tage . Wie Otfried Höffe bemerkt, ist „politische Freiheit erstens nur als Freiheitseinschränkung möglich, die aber zweitens nicht zur Unterdrückung von Freiheit, sondern allein zu deren Sicherung legitim ist“ .2 In diesem Sinne greift die Idee der politischen Freiheit hinsichtlich des Aspekts der Freiheitssicherung in die Sphäre der Rechtssicherheit, aber auch in den Bereich staatlicher Sicherheit über . Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die Werthaftigkeit, die der genuinen Idee der Freiheit und der Idee der Sicherheit zugeschrieben wird, ihren Ausgang zunächst vom einzelnen Individuum nimmt und dabei mit einem bestimmten Gefühl assoziiert ist . Die kollektive Dimension tritt vor allem dann in Erscheinung, wenn die individuelle Dimension als bedroht erscheint .3 Der Blick in die Ideengeschichte des politischen Denkens offenbart, dass sich Liberalismus und Republikanismus in grundsätzlich verschiedener Weise zum Wert der Freiheit positionieren: Während der Republikanismus davon ausgeht, dass die staatliche Ordnung individuelle Freiheit erst ermöglicht, geht der Liberalismus von der Grundüberzeugung aus, dass die staatliche Ordnung der Freiheit des Individuums zum einen grundsätzlich entgegensteht, zum anderen der Staat aber auch für den Schutz des Individuums Sorge trägt und letztlich wieder gewisse freiheitliche Handlungsspielräume ermöglicht . Bezüglich der systematischen Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit betont die liberale Tradition dabei den Wert negativer Zur Kritik an einer Darstellung von „Freiheit und Sicherheit als Antinomie“, vgl . Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e . V ., Heft 79), 1983, 1 ff ., 21 ff . 2 Otfried Höffe, Kritik der Freiheit Das Grundproblem der Moderne, 2015, 236 . Als wesentliche Aspekte der politischen Freiheit betont Höffe die innere sowie die äußere Autonomie eines freien Gemeinwesens, vgl . Höffe, aaO ., 232 . 3 Eine differenzierte Analyse der verschiedenen Dimensionen sowie der objektiven und subjektiven Faktoren im Hinblick auf verschiedene Formen von Sicherheit findet sich bei Bernhard Frevel, Sicherheit Ein (un)stillbares Grundbedürfnis, 20162, 3 ff ., 11 ff . Eine grundlegende philosophische Untersuchung zum „Gefühl“ menschlicher Freiheit, auf das bereits Schelling in seiner Freiheitsschrift verwiesen hatte, legt etwa Thomas Buchheim vor . Vgl . Ders ., Unser Verlangen nach Freiheit . Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, 2006 . 1

Sicherheit, Freiheit, Risiko

Freiheit, im Sinne von Freiheit von staatlicher Einflussnahme, die republikanische Ordnung hingegen den Wert positiver Freiheit, im Sinne von Freiheit zu aktiver politischer Partizipation .4 Der Gedanke, dass der Bürger des Schutzes vor dem Staat bedarf, taucht erst in der Moderne auf . Dabei ist es zunehmend die im privaten Raum gelebte individuelle Freiheit, die anstelle der öffentlichen Freiheit an Relevanz gewinnt .5 Bei Kant wird Freiheit explizit als ein Rechtsanspruch des selbstbestimmten, sittlichen und gleichgestellten Vernunftsubjekts formuliert: „Freiheit […], sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht .“6 Dabei ist das Kantische Menschheitsrecht nicht anthropologisch fundiert, vielmehr erschließt es sich allein aus dem Faktum der reinen praktischen Vernunft, d . h . es kommt jedem Menschen nicht aufgrund seiner biologischen Gattungszugehörigkeit, sondern aufgrund seiner Verfasstheit als Vernunftwesen zu .7 Das deutsche Verfassungsrecht bildet – freilich auch vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte – grundsätzlich einen Vorrang der Freiheit und einen Nachrang der Sicherheit ab .8 In den im Grundgesetz sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundrechten kommt vorrangig die liberale Freiheitsauffassung zum Tragen, wonach die Freiheit und die Würde des Einzelnen in größtmöglicher Wei-

Vgl . Philipp Schink, Freiheit . Eine Einführung, in: Freiheit Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse, hg . von Philipp Schink, 2017, 7–68, 13 ff . Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit findet sich u . a . bereits bei Leibniz und Kant, zu einer festen Begrifflichkeit im ideengeschichtlichen Freiheitsdiskurs wurde sie durch Isaiah Berlin . Verwiesen sei auf Berlins berühmte Antrittsvorlesung mit dem Titel „Two Concepts of Liberty“, die er am 31 . Oktober 1958 an der University of Oxford hielt . Der Essay wurde im selben Jahr unter diesem Titel von der Clarendon Press abgedruckt . Vgl . hierzu die deutsche Übersetzung, Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe, in: Freiheit Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse, aaO ., 71–133, 84 f . Berlin selbst plädiert tendenziell für den Vorrang der negativen Freiheit, da er die Idee der positiven Freiheit in der Praxis für korrumpierbar hält . Bei Berlin heißt es hierzu: „Der Pluralismus mit jenem Maß an ‚negativer‘ Freiheit, das er mit sich bringt, scheint mir ein wahrhaftigeres und humaneres Ideal zu sein als die Ziele derer, die in großen, disziplinierten, autoritären Strukturen nach ‚positiver‘ Selbst-Beherrschung von Klassen oder Völkern oder der ganzen Menschheit suchen .“ Vgl . Berlin, aaO ., 132 . 5 Anders als etwa bei Hannah Arendts Konzept des Öffentlichen, bei dem in Anlehnung an die antike politische Philosophie und Praxis allein der öffentliche Raum (der Polis) als „Raum der Freiheit“ bestimmt wird, der private Raum hingegen als Raum der Unfreiheit, verorten wir Freiheit heute im Sinne eines liberalen Werteverständnisses wesentlich in der Sphäre des Privaten . Vgl . Hannah Arendt, Vita activa Oder Vom tätigen Leben, 201617, 33 ff ., 40 f ., 86 ff . u . a . Bei F . A . Hayek etwa heißt es: „Freiheit setzt daher voraus, daß dem Einzelnen ein privater Bereich gesichert ist, daß es in seiner Umgebung einen Bereich von Umständen gibt, in die andere nicht eingreifen können .“ Vgl . hierzu F . A . Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 19913, 17 . 6 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten [1797], in: Gesammelte Schriften, hg . von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd . 6, 237 . 7 Wolfgang Kersting, Kant über Recht, 2004, 48 ff . 8 Vgl . Andreas von Arnauld / Michael Staack, Sicherheit versus Freiheit? (Einleitung), in: Sicherheit versus Freiheit? hg . von Andreas von Arnauld / Michael Staack, 2009, 9–29, 11 . 4

21

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Marion Stahl

se vor staatlicher Einflussnahme geschützt werden soll .9 Neben der subjektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte kommt den Grundrechten auch ein objektiv-rechtlicher Gehalt zu, wonach der soziale Rechtsstaat die Voraussetzungen für Freiheit schaffen muss .10 Auch wenn sich im Grundgesetz Aussagen über Schutzgüter und Verfahren in Bezug auf die Gewährleistung von innerer Sicherheit finden, so ist ein explizites Grundrecht auf Sicherheit nicht im Grundrechtsabschnitt verankert .11 In der Forderung nach einem expliziten Recht auf Sicherheit liegt grundsätzlich die Gefahr, dass die Sicherheitsaufgabe des Staates nicht mehr als Mittel zum Zweck der Freiheitssicherung, sondern als Selbstzweck betrachtet wird und Sicherheitsinteressen der gleiche Rang wie Freiheitsrechten zugeschrieben wird .12 Ist der Begriff der Freiheit in philosophischen, politiktheoretischen, soziologischen sowie sicherheitspolitischen Diskursen Gegenstand zahlreicher und vielfältiger konzeptioneller Analysen, kann dies mit Blick auf den Begriff der Sicherheit nicht in gleicher Weise behauptet werden . So stehen im Zentrum der derzeitigen Sicherheitsforschung vor allem politische Diskurse und Akteure, nicht so sehr eine Analyse der Grundlagen und Elemente von Sicherheit als Wertbegriff . Eine ausführlichere konzeptionelle Analyse des Sicherheitsbegriffs, die auch historische Aspekte berücksichtigt, legte der Soziologe Franz Xaver Kaufmann Ende der 1960er Jahre vor .13 Kaufmann, der die Entwicklung des Sicherheitsbegriffs als ein dezidierter Wertbegriff nachzeichnet, zeigt dabei die enge Verschränkung des Sicherheitsbegriffs mit dem des Risikos auf .14 Die „politische Unsicherheit“ erscheine weniger, so

Zu den klassischen Funktionen der Grundrechte, vgl . Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 200723, 16 ff . Zu den Schutzpflichten sowie den einzelnen Kriterien und Begründungspflichten bezüglich der Einschränkung von Freiheitsrechten im Rahmen von sicherheitspolitischen Maßnahmen, vgl . Heiner Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, Deutsches Institut für Menschenrechte, Essay 1, 2004, 4–23, 15 ff . Zu den Parallelen sowie Divergenzen zwischen Kants Rechts- und Staatsphilosophie und der liberalen Grundrechtstheorie, vgl . hierzu Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 2007, 284 ff ., 288 f . 10 Vgl . Pieroth, aaO ., 20 f . 11 Vgl . hierzu Joachim Detjen, Die Werteordnung des Grundgesetzes, 2009, 98 ff . Josef Isensee etwa stellte die viel diskutierte These auf, das Grundgesetz enthalte ein implizites Grundrecht auf Sicherheit . Vgl . hierzu Isensee, u . a . 27 ff . Sigmar Gabriel hielt in einem Gastbeitrag der FAZ aus dem Jahr 2017 fest, dass Sicherheit ein „soziales Bürgerrecht“ sei, wobei er die Thematik um Maßnahmen der inneren Sicherheit mit der Thematik der sozialen Sicherheit verknüpfte . Vgl . hierzu Online-Archiv der FAZ, http://www .faz .net/aktuell/ politik/gastbeitrag-von-sigmar-gabriel-zur-inneren-sicherheit-14610452 .html . Abgerufen am 23 .10 .2018 . 12 Vgl . Bielefeldt, aaO ., 13 ff . 13 Vgl . hierzu Bärbel Heide Uhl, Die Sicherheit der Menschenrechte Bekämpfung des Menschenhandels zwischen Sicherheitspolitik und Menschenrechtsschutz, 2014, 55 ff ., 59 f . 14 Kaufmann verweist u . a . auf das frühe psychologische Werk „The persistence of primary-group norms in present-day society“ von W . I . Thomas aus dem Jahre 1917 sowie auf den Titel „World Politics and Personal Insecurity“ von H . D . Lasswell aus dem Jahr 1935 . Mit Blick auf die Etablierung des Sicherheitsbegriffs in Politik und Recht führt Kaufmann die Atlantik-Charta als auch die Erklärung der Menschenrechte an . Vgl . Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 19732, 10 ff ., 17 ff . Vgl . auch Uhl, aaO ., 55 ff . 9

Sicherheit, Freiheit, Risiko

Kaufmann, durch die Größe des Risikos, sondern vor allem durch die „Unbestimmtheit des Risikos“ als derart bedrohlich . Diese „Unbestimmtheit des Risikos“ sei nicht primär, wie im Allgemeinen angenommen, der technischen Entwicklung zuzuschreiben, sondern eher „durch die ‚Schwierigkeit der Weltorientierung‘ bedingt“ . Dabei sei diese kollektive „Unsicherheit der Orientierung“ in erster Linie als eine „Reaktion auf die Unbestimmtheit der Lebensbezüge, in denen sich ein Mensch vorfindet“ zu werten und nicht als eine Reaktion auf unmittelbar drohende Gefahren .15 Die von Kaufmann beschriebene Form kollektiver Unsicherheit, die von einem eher diffusen Gefühl allgemeiner existentieller Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bestimmt wird und dabei von subjektiven Faktoren beeinflusst sein kann, muss im Rahmen einer Verhältnisbestimmung der Kategorien Freiheit und Sicherheit stets berücksichtigt werden . Dies gilt umso mehr, da dieses eher unbestimmte Unsicherheitsempfinden nur schwer kalkulierbar ist und dennoch als bestimmender Faktor in den Vordergrund treten und das gesellschaftliche Klima maßgeblich beeinflussen kann . II

Vorrang und Risiko der Freiheit – ein historischer Umriss

Dass auch objektive, klar eingrenzbare Faktoren die politische Freiheit bedrohen und diese das kollektive Sicherheitsempfinden maßgeblich beeinflussen können, zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte . Durch die Erfahrung von anhaltender politischer Unsicherheit angesichts einer äußerst fragilen Weltordnung während des Wettrüstens in der Zeit des Kalten Krieges bildete sich ein weitreichendes innergesellschaftliches Bedürfnis nach Frieden, politischer Stabilität und Freiheit heraus, das sich mitunter in aktiven Formen gesellschaftlichen Widerstands gegen Krieg und Aufrüstung manifestierte .16 Mit zunehmender politischer Stabilität im Laufe der Entspannungspolitik schien auch der Grundwert der Freiheit, im Zusammenhang mit der politischen Absicht einer weltweiten Förderung der Menschenrechte, wieder an Gewicht zu gewinnen .17 In den außenpolitischen Leitideen sowohl der deutschen als auch der europäischen Außenpolitik sowie in den Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen schien sich zunehmend die liberale Idee von der Freiheit des Individuums widerzuspiegeln . Bedenkt man das Risiko einer Gewichtung der liberalen Freiheitsidee, die sich in Politik und Recht niederschlägt, so tritt die Idee der Verantwortung und ihre genuine, jedoch Vgl . Kaufmann, aaO ., 1973, 19 . Zu den Friedensbewegungen seit den 1960er Jahren, vgl . Susanne Schregel, Konjunktur der Angst . ‚Politik der Subjektivität‘ und ‚neue Friedensbewegung‘, 1979–1983, in: Angst im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg, Bd . 3), hg . von Bernd Greiner / Christian Th . Müller / Dierk Walter, 2009, 495–520 . 17 Vgl . Heinhard Steiger, Brauchen wir eine universale Theorie für eine völkerrechtliche Positivierung der Menschenrechte?, in: Recht auf Menschenrechte Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, hg . von Hauke Brunkhorst, Wolfgang R . Köhler und Matthias Lutz-Bachmann, 1999, 41–51, 45 ff . 15 16

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fragile Verschränkung mit der Idee der Freiheit zu Tage . In diesem Zusammenhang sei auf eine Rede von Hans-Dietrich Genscher verwiesen, die er am 24 . Mai 1979 bei seiner Ansprache anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen hielt, gerichtet an den damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Emilio Colombo: „Europa steht für die große geschichtliche Idee von der Freiheit und Würde des Menschen . […] Freiheit ist immer verbunden mit Risiko . Wir sind uns des Risikos bewußt, daß sich die Idee der Freiheit loslöst von der Idee der Verantwortung gegenüber dem Ganzen, daß sie zu schrankenlosem Egoismus der Einzelnen und der einzelnen Gruppen entarten kann . […] Es ist unsere Verantwortung für Europa und für die Welt, daß wir uns auch unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft als fähig erweisen, einen harmonischen Ausgleich zwischen der Freiheit des einzelnen und den Erfordernissen der Gemeinschaft herzustellen .“18

Die Frage nach dem „Risiko“ und dem Stellenwert von Freiheit und Sicherheit in einem demokratisch legitimierten Rechtsstaat berührt letztlich ein Kernthema der Demokratietheorie – es geht hierbei um die grundlegende Frage, wie wir miteinander leben möchten, welche Auffassung von Demokratie wir teilen und wie wir Demokratie konkret gestalten möchten . Dabei muss man im Bekenntnis zum freiheitlichen und gleichermaßen demokratischen Rechtsstaat wohl mit Böckenförde zunächst anerkennen, dass die vom Staat gewährte bürgerliche Freiheit nicht hinsichtlich ihrer genuinen Ursprünge, die im Inneren der Gesellschaft und letztlich in der ethischen Haltung jedes Einzelnen zu suchen sind, angetastet, bzw . reguliert werden darf, ohne gleichzeitig dem Prinzip der Freiheit grundlegend zu widersprechen .19 Im Phänomen des Erstarkens populistischer Strömungen in Europa und den USA wird deutlich, dass dieses Risiko zugunsten der Freiheit keineswegs abstrakt bleibt . Doch es bleibt zu hinterfragen, inwiefern das gegenwärtige Erstarken populistischer Tendenzen nicht gar begünstigt wurde durch eine bestimmte vorherrschende Auffassung von Demokratie sowie durch eine politische Praxis, die im primären Ziel, einen Konsens zu erzielen, Spannungen bezüglich divergenter Positionen von vornherein auszulöschen geneigt ist . So kritisiert etwa die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe das neoliberale Freiheitsverständnis sowie die heutzutage „vorherrschende Tendenz […], Demokratie fast gänzlich mit dem Rechtsstaat und der Verteidigung der Menschenrechte

Hans-Dietrich Genscher, Vom geistigen Charakter der Europäischen Gemeinschaft . Ansprache bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Emilio Colombo, am 24 . Mai 1979, in: Deutsche Aussenpolitik Ausgewählte Grundsatzreden 1975–1980, 1981, 241–249, 249 . 19 Vgl . hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, 60 . 18

Sicherheit, Freiheit, Risiko

zu identifizieren und das Element der Volkssouveränität, das als obsolet erachtet wird, beiseite zu lassen .“20 Hierdurch sei ein „Demokratiedefizit“ erzeugt worden, welches „gefährliche Auswirkungen auf die Bindungskraft demokratischer Institutionen haben“ könne .21 Die neoliberale Tendenz, durch eine konsensorientierte Politik die offene Konfrontation zwischen gegensätzlichen Positionen zu vermeiden, berge letztlich die Gefahr, eben jene Stabilität, die durch das politische Handeln angestrebt werden soll, zu zerstören . Dies zeige sich z . B . in einem Rechtsruck linker Positionen in der Politik, um so einen „Konsens im Zentrum“ zu erzeugen, „der zum einzigen Politiktypus erhoben wird“ .22 III

Wandel der Praxis, Wandel der Werte?

Infolge zunehmend komplexeren, interdependenten Strukturen, vernetzten globalen Entwicklungen und Krisen, der Gefahr durch terroristische Bedrohungen, aber auch aufgrund des Gefahrenpotentials, das sich durch moderne Informationstechnologien ergibt, hat sich die Sicherheitspolitik während der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend gewandelt, wobei sich der Schwerpunkt auf die Sicherheitsvorsorge verlagert hat .23 Für lange Zeit schien es Konsens in der öffentlich-politischen Debatte in Deutschland, dass der Wert der Freiheit über dem der Sicherheit steht, wobei sich die Sicherheitspolitik an dieser Grundannahme zu orientieren hatte . Die Entwicklungen der deutschen Sicherheitspolitik in den letzten 20 Jahren zeigen jedoch eine deutliche, vonseiten der Politik forcierte Verhältnisverschiebung bezüglich des fragilen Gleichgewichts zwischen Freiheit und Sicherheit, zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit . Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach als Korrektiv gegen einen staatlichen Aktionismus in der Sicherheitspolitik gewirkt, den man aufgrund der Beschneidung von Freiheitsrechten in seiner Gesamtheit auch als „Angriff auf die Freiheit“ bezeichnen mag .24 Wie Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, 2013, 21 . Ebd . Mouffe, aaO . 23 . Im Rahmen ihres Ansatzes einer „radikalen Demokratie“ fordert Mouffe anstelle eines konsensorientierten hingegen ein „agonistisches“ Demokratiemodell, bei welchem die offene Konfrontation zwischen gegensätzlichen Positionen nicht gescheut und dabei Antagonismen und Spannungen zugelassen werden . Vgl . Mouffe, aaO ., 31, 33 ff ., 85 ff . Vgl . auch Chantal Mouffe, On the Political Thinking in Action, 2005, 8 ff ., 29 ff ., 69 ff . Bezüglich ihrer Liberalismus-Kritik orientiert sich Mouffe zwar an Carl Schmitt, anders als Schmitt ist sie jedoch nicht der Auffassung, dass eine pluralistische Demokratiekonzeption grundsätzlich zur Auflösung der politischen Einheit führen könne . Vgl . Mouffe, Das demokratische Paradox, aaO ., 49 ff ., 64 f . 23 Vgl . hierzu Patricia Wiater, Sicherheitspolitik zwischen Staat und Markt Der Schutz kritischer Infrastrukturen (Sicherheit und Gesellschaft . Freiburger Studien des Centre for Security and Society, Bd . 6), 2013, 15 ff . 33 ff . 24 Angeführt seien an dieser Stelle das Urteil zum Großen Lauschangriff vom 3 . März 2004, BVerfGE 109, 279–391 sowie das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung gemäß der EU-Richtlinie 2006/24/EG vom 2 . März 2010, BVerfGE, 125, 260–385, auch EuGH, Urt . v . 21 .12 .2016, Az .:C-203/15;C-698/15 . Des Weiteren vgl . Ilija 20 21 22

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riskant eine grundlegende Schwerpunktverschiebung zugunsten der Sicherheit sein kann, zeigt sich am Beispiel der USA und der Anti-Terrorgesetzgebung nach 9/11: Hier wurden Maßnahmen, die für einen bestimmten Ausnahmezustand provisorisch und zunächst für einen begrenzten Zeitraum ergriffen wurden, teils dauerhaft etabliert und demokratische Normen dabei spürbar unterhöhlt .25 Die Gefahr einer langfristigen und tiefgreifenden Beschädigung der US-amerikanischen Demokratie wird freilich durch willkürliche Maßnahmen unter dem Deckmantel der „Nationalen Sicherheit“, wie etwa das im Jahr 2018 durch Präsident Trump verhängte Einreiseverbot für Menschen aus sechs, vorwiegend muslimischen Ländern, noch verstärkt . Durch den vermehrten Zustrom von Geflüchteten in den letzten Jahren hat nicht allein die Sicherheitspolitik auf nationaler und europäischer Ebene eine ganz neue Dimension erhalten, sondern auch die öffentliche Debatte, die grundlegende soziale und kulturelle Ängste im Zusammenhang mit Zuwanderung an die Oberfläche befördert hat . In diesem Kontext sei auf den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel verwiesen, der von einer ernstzunehmenden Bedrohung der kulturellen Identität westlicher Gesellschaften durch massenhafte Zuwanderung spricht und dabei auf die staatliche Pflicht verweist, die kulturelle Identität der nationalen, bzw . europäischen Mehrheitsgesellschaft zu schützen .26 Hiermit eröffnet er keine gänzlich neue Debatte, sondern schließt freilich an das breite Themenfeld um die Anerkennung fremder Identitäten, Konflikte der Kulturen und plurale Lebensformen in der modernen Welt an, das u . a . durch Huntingtons These des sog . „Clash of Civilizations“ maßgeblich geprägt wurde .27 Gerade die Debatte um Zuwanderung und Migration zeigt, dass sich objektive und subjektive Faktoren hinsichtlich der empfundenen Bedrohung keineswegs immer klar voneinander trennen lassen . Tiefgreifende soziale und kulturelle Ängste, aber auch eine durch Medien und Politik lancierte spezifische Darstellung von Migranten sind als Faktoren dafür anzuführen, dass sich Teile der Bevölkerung durch Zugewanderte in verschiedener Hinsicht bedroht fühlen . Doch auch der Eindruck staatlichen Kontrollverlusts im Umgang mit Fluchtbewegungen sowie das von vielen geteilte Empfinden, dass eine kontroverse und offene Debatte über das Thema Geflüchtete, Grenzen Trojanow / Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, 20112, 7 ff ., 53 ff ., 131 ff . u . a . Vgl . ebenso Harald Welzer, Die smarte Diktatur Der Angriff auf unsere Freiheit, 20162, 39 ff ., 261 ff . 25 Vgl . hierzu Annette Förster, Die Normalisierung der Ausnahme? 15 Jahre Ausnahmezustand in den USA, in: Ausnahmezustand Theoriegeschichte – Anwendungen – Perspektiven, hg . von Matthias Lemke, 2017, 303–319, 303 ff ., 314 f ., 317 f . 26 Vgl . hierzu Reinhard Merkel, Wir können allen helfen Wie man das Gute will, aber das Böse schafft: Die deutsche Flüchtlingspolitik ist ein moralisches Desaster, in: Feuilleton der FAZ vom 22 . November 2017, Nr . 271, 9 . 27 Vgl . Samuel P . Huntington, The Clash of Civilizations?, Foreign Affairs, vol . 72, no . 3, Summer 1993, 22–49 . Siehe auch Wilhelm Lütterfelds, Die Anerkennung fremder Kulturen und ihre Paradoxien . Einige begriffliche Bemerkungen, in: Globalisierung – Probleme einer neuen Weltordnung, hg . von Konrad Schüttauf und Gerd Brudermüller (Schriften des Instituts für angewandte Ethik e . V ., Bd . 7), 2007, 29–46 .

Sicherheit, Freiheit, Risiko

und Sicherheit von politischer als auch von medialer Seite teils unterdrückt bzw . bewusst in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde, mögen das Gefühl der Bedrohung, der Ohnmacht und des Unmutes auf kollektiver Ebene verstärkt und darüber hinaus einen sichtbaren Rechtsruck in der politischen Parteienlandschaft in Europa befördert haben .28 Mit Blick auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen kann man den Eindruck gewinnen, dass sich derzeit ein kontinuierlicher Wertewandel in westlichen Gesellschaften vollzieht, der die Ebenen von Politik und Gesellschaft gleichermaßen betrifft . Ein Wandel von einem liberalen Verständnis des Staates als Garant der Freiheitssicherung der Bürger, hin zu einer Auffassung von einem starken Staat als Garant für allgemeine Sicherheit . Als problematisch erweist sich ein solcher Wertewandel insbesondere dann, wenn der instrumentelle Wert der Sicherheit auf den gleichen Rang wie der ideelle Wert der Freiheit erhoben wird . Hierdurch entsteht eine gefährliche Schieflage, bei der das fragile Balanceverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit deutlich ins Wanken gerät, wobei die Achtung von Freiheitsrechten bei sicherheitspolitischen Maßnahmen nicht mehr vorrangig erscheint . An dieser Stelle sei nochmals auf den von Kaufmann angeführten Aspekt einer kollektiven „Unsicherheit der Orientierung“ verwiesen, wobei Kaufmanns Analyse im Zusammenhang mit dem konstatierten Wertewandel auf gesellschaftlicher Ebene durchaus aktuell erscheint .29 Sofern dieses eher diffuse Gefühl der Unsicherheit maßgeblich das gesellschaftliche Klima bestimmt, droht die Gefahr einer Kultur der Unfreiheit, wobei teils freiwillig, teils unfreiwillig und nicht selten unwissend Freiheitseinbußen hingenommen werden . IV

Schlussbemerkungen

Mag die Politik in den letzten Jahren den Fokus verstärkt auf den Wert der Sicherheit gelenkt haben, so gibt es in der gegenwärtigen Philosophie eine neue Freiheitsdebatte, die dem Wert der Freiheit in ihren verschiedenen Dimensionen wieder verstärkt an Gewicht verleiht .30 In diesem Zusammenhang sei abschließend auf Otfried Höffes jüngeres Werk Kritik der Freiheit Das Grundproblem der Moderne verwiesen, bei dem er eine kritische Analyse der Freiheit im Kantischen Sinne vorlegt .31 Höffe macht es

28 Vgl . Michaela Wendekamm, Die Wahrnehmung von Migration als Bedrohung Zur Verzahnung der Politikfelder Innere Sicherheit und Migrationspolitik, 2015, 204 ff . Vgl . auch Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken Eine Ethik der Migration, 2017, 145 f . u . a . 29 Kaufmann (Fn . 16) . 30 Vgl . hierzu Höffe, aaO ., 31 . 31 Höffe geht es auch darum, ein Gegengewicht zu der in der politischen Philosophie vorherrschenden Gerechtigkeitsdebatte zu schaffen, vgl . Höffe, aaO ., 158 f . Wie Dietmar von der Pfordten bemerkt, optiert Höffe „für die Freiheit als systematischen Anfangspunkt der politischen Ethik und damit für einen gemäßigten Liberalismus bzw . genuinen normativen Individualismus und gegen einen umfassenden Dezisionis-

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sich zum erklärten Ziel „die Freiheit auf den Prüfstand zu stellen und die Moderne einer Neuvermessung zu unterwerfen, die eine Kritik im ursprünglichen, judikativen Sinn des Wortes anstrebt“ .32 Auch wenn das Prinzip Freiheit „als Schlüsselprinzip der Moderne“ bestimmt werden könne, sei Freiheit jedoch gerade kein Epochenbegriff, sondern unabhängig hiervon ein „Konstitutiv für den Menschen“, das zudem eine grundlegende anthropologische Dimension aufweise .33 Das Grundproblem der gegenwärtigen Moderne sieht Höffe vor allem darin, dass gesellschaftliche Entwicklungen, trotz einer weitreichenden Liberalisierung der Lebenswelt, zunehmend zu einem Missbrauch und einer Schwächung der Freiheit beigetragen hätten, indem Freiheitsnormen auch unter dem Deckmantel der Sicherheit missachtet und Tugenden, die im Zeichen von Freiheit und sozialer Verantwortung stünden, kontinuierlich ausgehöhlt wurden . Der Sozialstaat und ein innenpolitisches Sicherheitsdenken zeigten beispielhaft, so Höffe, wie die zum Schutz der Freiheit etablierten Gegenkräfte und Kontrollinstitutionen gar „ihren leitenden Freiheitszweck gefährden“ können . Dennoch gäbe es weder zum Prinzip Freiheit noch zum Projekt der Moderne eine aus heutiger Sicht vernünftige Alternative, wobei Höffe jeweils deren stete „kritische Erneuerung“ fordert .34 Im Sinne eines aufgeklärten, gemäßigten Liberalismus sieht Höffe gerade im Zeitalter der Globalisierung die Bürgergesellschaft mit ihrem Gemeinsinn und ihrer Bürgeridentität in der Verantwortung, der Gesellschaft zu mehr Freiheit gegenüber dem Staat zu verhelfen und sich im Sinne eines Korrektivs „gegen die Etatisierung des Gemeinwesens“ zu richten .35 Die Bürgeridentität umfasst für Höffe zum einen eine wirtschaftliche bzw . soziale Dimension, zum andern auch die Dimension des „Weltbürgers“, allerdings „nicht als Ablehnung des Staatsbürgerseins, sondern als dessen Ergänzung .“36 Zunächst ist festzuhalten, dass die aus dem Geist der Aufklärung erwachsene philosophische Perspektive grundsätzlich ein wirksames Mittel sein mag, um zum einen mus bzw . Distributivismus“ . Vgl . Dietmar von der Pfordten, Eine Wende zum gemäßigten Liberalismus: Freiheit statt Gerechtigkeit als Grundlage der politischen Ethik, in: Das Risiko der Freiheit . Im interdisziplinären Gespräch mit Otfried Höffe (Bd . 2), hg . von Michael Kühnlein, 2018, 55–61, 61 . Anders als bei Höffe, der die personale Freiheit als den „freiheitstheoretischen Höhepunkt der Freiheit“ erachtet, ist es für Axel Honneth hingegen der Bereich des Sozialen, wo sich Freiheit nicht nur der Möglichkeit, sondern auch der Wirklichkeit nach entfaltet . Honneth plädiert in seinem Werk Das Recht der Freiheit in Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie für ein umfassendes Konzept von Freiheit, das entgegen dem neoliberalen Verständnis nicht die individuelle Freiheit über alles stellt, sondern vielmehr eine am Gemeinwohl orientierte soziale Freiheit in den Fokus rückt . So sind es die sozialen Sphären und Institutionen, innerhalb denen sich Anerkennungsverhältnisse ausbilden, welche wiederum für die Entfaltung moralischer Handlungsmuster von entscheidender Bedeutung sind . Vgl . Axel Honneth, Das Recht der Freiheit Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 2013, 232 ff . Vgl . Höffe, aaO ., 374 . 32 Höffe, aaO ., 13 . 33 Höffe, aaO ., 19 . 34 Höffe, aaO ., 373 ff . 35 Höffe, aaO ., 192 ff ., 275 ff . 36 Höffe, aaO ., 292 f .

Sicherheit, Freiheit, Risiko

den Blick wieder auf die Verantwortung des einzelnen, mündigen Bürgers zu richten, dem sowohl durch die Wahrnehmung seiner politischen Partizipationsrechte als auch in Form aktiven, bürgerlichen Engagements Mittel an die Hand gegeben sind, seiner bürgerlichen Freiheit Ausdruck zu verleihen und für diese einzustehen . Zum anderen mag diese Perspektive hilfreich dabei sein, den Fokus der Politik zu weiten und den Blick verstärkt auf Herausforderungen zu richten, deren Dringlichkeit zukünftig noch viel stärker hervortreten wird – wie etwa der Aspekt der ökologischen Sicherheit oder grundlegende gesellschaftliche und politische Herausforderungen im Zuge der Digitaliserung . Höffes Ansatz im Rahmen der jüngeren Freiheitsdebatte kann bezüglich des eingangs formulierten, normativen Anliegen insgesamt förderlich sein, das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit wieder im Ausgang von der Freiheit zu denken . Die Freiheit wieder an den Anfang zu stellen geht mit der Aufgabe einher, zunächst ihren genuinen Ort aufzusuchen: Der genuine Ort der Freiheit bezeichnet dabei wesentlich die Freiheit des einzelnen, selbstbestimmten Individuums . Ausgehend von diesem Bereich personaler Freiheit jedes einzelnen Menschen – dem, mit Höffe gesprochen, „freiheitstheoretischen Höhepunkt der Freiheit“37 – erschließt sich der Ort der politischen Freiheit, der dort zu finden ist, wo sich das Bekenntnis zu einer Gemeinschaft und die Herausbildung von Konventionen vollzieht: Mit Hannah Arendt gesprochen ist dies der öffentliche Erscheinungsraum, wo sich durch das Moment gemeinsamen Handelns ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“38 formiert .

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Höffe, aaO ., 374 . Arendt, aaO ., 213 ff ., 222 ff . u . a .

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Sicherheit durch denaturierte Freiheit? Zu Rousseaus Freiheitsbegriff JANNIS LENNARTZ (Berlin)

1.

Freiheit und Sicherheit: Zur Fügung beider Begriffe

Heute ist niemand gegen Freiheit, jeder hat seine Freiheit . Die Qualifizierung eines Belangs als „Freiheit“ öffnet den Weg in die Semantik der Rechte . Dies lädt zu einer ganzen Reihe von semantischen Operationen der Verformung und Umformung ein, bei denen Sicherheit jeweils als Sicherung von Freiheit figuriert . Die offene Struktur von Freiheit wie Sicherheit – Freiheit zu was, vor wem, Sicherheit wovon, wovor – macht beide Begriffe zu Gefäßen, die sich fast beliebig füllen und ins Verhältnis setzen lassen . Ob man einen Konflikt zwischen Personen als Freiheits- oder Sicherheitskonflikt ausbuchstabiert, hängt nur daran, ob man die Belange beider Personen oder nur einer von ihnen gelten lässt . Handeln, das nicht als legitime Freiheitsausübung figuriert, ist nur noch Gefahr – damit eine Frage der Sicherheit . Ob man über Freiheit oder Sicherheit spricht, bestimmt sich danach, welches Verhalten wir als legitim beurteilen . Weil wir Legitimität mangels substanziellen moralischen Konsenses durch Recht herstellen, ist das Gesetz der Kippschalter zwischen einer Semantik der Freiheit und einer Semantik der Sicherheit . Damit wird das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit zur Frage nach dem Verhältnis von individueller und kollektiver Freiheit, d . h . Gesetzgebung . Wie viel kann die politische Gemeinschaft dem Einzelnen vorgeben oder wegnehmen? 2.

Die Umformung des Freiheitsbegriffs: Schaubild Rousseau

Bei Hobbes und Locke ordnet das Gesetz das Mein und Dein, der Gesellschaftsvertrag sichert materielle Interessen . Die im Moralischen aufgehobene Symboldimension wird übersehen: Wenn Freiheit gut ist, dann ist die Auseinandersetzung über ihre

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Jannis Lennartz

Grenzen immer auch eine Verhandlung über die Selbstbeschreibung der Gesellschaft, nicht nur eine individuelle Zuordnungsfrage . Als erstes erkennt dies Rousseau . Er ist ein Schaubild für die Spannung zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung und die „Lösung“ dieser Spannung durch eine Moralisierung des Freiheitsbegriffs, der im Vertrauen auf das demokratische Verfahren von der natürlichen Freiheit geschieden und der politischen Gemeinschaft verfügbar gemacht wird . Abweichung von ihrem Willen ist dann nur noch eine Frage der Sicherheit, nicht mehr der Freiheit . Hier zeigt sich nicht zuletzt die Gefahr einer Überdehnung liberaler Semantik: Eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne als vollkommen frei beschrieben werden können muss, ist vielleicht besonders repressiv, weil moralisierend . Besonders interessant ist dies für ein Gemeinwesen wie die Bundesrepublik, in der subjektive Rechte (als Grund- und Menschenrechte) inzwischen den Kern der Selbstbeschreibung als politische (Werte-)Gemeinschaft bilden .1 Die Grundrechte sind dabei in zwei Arenen relevant: Juristisch als formale Rechte, in politischen und gesellschaftlichen Kontroversen als Wertträger, auf die man sich – ohne eigentlich juristisch zu argumentieren – beruft . Die offene Struktur des Freiheitsbegriffs zeigt sich paradigmatisch in Rousseaus Begriff der perfectibilité, der die Offenheit der menschlichen Natur fasst . Diese Offenheit wird durch eine kollektive Festlegung gefüllt – Gesetzgebung . Freiheit ist ihm dabei immer die gegenstrebige Fügung von Wollen und Sollen . Dabei geht ihm die Einsicht verloren, dass individuelle Freiheit nicht auf Tugend zielt, sondern in ihrer Formalität bei ihrer Ausübung gerade Freiheit von Rechtfertigung im konkreten Fall gewährt – ein Verständnis, wie es sich in der Gestalt subjektiver Rechte in den Rechtsordnungen des Westens ausdrückt . Rousseaus Moralisierung der Freiheit lässt keinen Raum mehr für eine Semantik, in der Recht und Moral gesondert sind, d . h . Recht einen Raum des moralisch gleich Guten oder aber zumindest des Hinzunehmenden markiert . Der Begriff hat gegenüber herrschenden Moralvorstellungen wenig normativen Selbststand, wenn man ihn moralisch domestiziert . Während die Kritik Rousseaus für sein identitäres Demokratieverständnis und seine Modifikation des Abstimmungssinnes zur Rechtfertigung der Aufgabe negativer Rechte heute Allgemeingut ist, taugt er auch als Hinweis auf die Gefahren innerhalb der Semantik der individuellen Rechte, die unter dem Schlagwort Menschenrechte seit den 70er Jahren Rechts-, Geistes- und Sozialwissenschaften koppelt und denen erheblicher Raum in der Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaft zukommt .2 Wenn man Moral in der Semantik der Rechte ausbuchstabiert, konsumiert sie die Formalität, die unabhängig vom konkreten Inhalt eines Rechtes individuelle Gestaltungsfreiheit schützt .

Jannis Lennartz, Eine Grammatik der Freiheit?, in: Heinig/Schorkopf (Hrsg .), 70 Jahre Grundgesetz, 2019, 67 ff . 2 Für einen heterodoxen Blick und die Konsequenzen siehe Samuel Moyn, The Last Utopia Human Rights in History, 2010, u . a . 9: „They were forced, slowly but surely, to assume the very maximalism they triumphed by avoiding .“ Siehe auch Samuel Moyn, Not Enough Human Rights in an Unequal World, 2018, 120 ff . 1

Sicherheit durch denaturierte Freiheit?

3.

Perfectibilité als anthropologischer Anker natürlicher Freiheit

Rousseaus politische Philosophie zwingt eine kontraktualistische Herrschaftsbegründung und republikanisches Tugendideal zusammen – sein Freiheitsbegriff oszilliert zwischen diesen schwer miteinander vereinbaren Polen . Dabei lässt er sich prima facie leicht geben: In negativer Hinsicht als Abwesenheit personaler Abhängigkeit, in positiver Hinsicht als Selbstbestimmung in der Form der Selbstgesetzgebung .3 Rousseau entwickelt seinen Gesellschaftsvertrag vor dem Hintergrund einer im Diskurs über die Ungleichheit elaborierten Naturzustandskonzeption, die zwar an die kontraktualistische Tradition bei Hobbes, Locke, Grotius und Pufendorf sowie die Dichotomie von status naturalis und status civilis anknüpft,4 diese aber durch ein differenzierteres Verständnis menschlicher Natur und Entwicklung dehnt . Er wirft anderen kontraktualistischen Denkern vor, die Notwendigkeit gespürt zu haben, „bis zum Naturzustand zurückzugehen, aber keiner von ihnen ist bei ihm angelangt .“5 Sie hätten vielmehr den ihnen bekannten, sozialisierten Menschen einfach in einen als staatenlos gedachten Zustand transferiert . Rousseau nimmt für sich in Anspruch, ein realistischeres Bild von der menschlichen Natur und damit dem Naturzustand zu geben . Heinrich Meier hat nachgewiesen, wie sehr Rousseaus Model durch Buffons Naturlehre geprägt ist, auch wenn er ihn kaum zitiert .6 Im Urzustand scheint der Mensch nicht als zoon politicon, sondern als une bête .7 Nur durch seine Sinne bestimmt und auf die Befriedigung einfacher körperlicher Bedürfnisse gerichtet,8 existiert er solitär lebend ohne Zeitsinn und Sprachbegabung .9 In seinem Handeln bestimmt ihn die amour de soi, die auf das eigene Wohlergehen bezogene Selbstliebe – der natürliche Mensch ist ein Egoist .10 Im Verhältnis zu seinen Mitgeschöpfen wird die Selbstliebe gemildert durch die pitié, das Mitleid .11 Diese angeborene, jeder Reflexion vorgehende Eigenschaft erweitert die

Etwa Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, 2010, 45, 71; Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 13 . Hier zeigt sich schon, wie banal Isaiah Berlins Unterscheidung positiver und negativer Freiheit ist – das Problem ist stets die Verbindung . Zur ideengeschichtlich wirksamen Kategorisierung siehe Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders ., Four Essays on Liberty, 1959, 15 ff . 4 Zum geistesgeschichtlichen Umfeld und den Einflüssen auf Rousseau: Robert Derathé, Rousseau et la science politique de son temps, 1950, 7 ff ., 63 ff . 5 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–2), 69 . 6 AaO ., 43, 277 (Kommentierung durch Heinrich Meier) . 7 AaO ., 107, in Anmerkung X (S . 323 ff .) spekuliert Rousseau über die Nähe von Orang-Utan und homme naturel . Schon im Vorwort wendet sich Rousseau gegen die Soziabilität als konstante menschliche Eigenschaft (S . 57) . Auch explizit als Tier: Jean-Jacques Rousseau, Brief an Beaumont, in: ders ., Schriften 1, 1981, 509 . 8 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–2), 107 . 9 AaO ., 111 (zur Zeit), 117 ff . (zur Sprache) . In einem vergleichbaren Zustand der Aufgehens in der Gegenwart wird der späte Rousseau am Bieler See sein Glück finden, vgl . Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, 2003, 82 ff .; vgl . auch Jean-Jacques Rousseau, 3 Brief an Malherbes (Fn . 7), 486–491 . 10 Rousseau (Fn . 3–2), 97 . 11 AaO ., 143 ff .; sowohl pitié wie amour de soi gehen der Vernunft vor (S . 57) . 3

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Selbstliebe auf andere Mitglieder seiner Spezies derart, dass durch die Identifikation mit einem Opfer Schmerz empfunden wird .12 Die später hinzutretende Vernunft i . S . v . Reflexion schadet dem Mitleid, lässt es doch die Differenz zwischen Ich und Anderem deutlich werden . Unterscheidungsmerkmal zu den Tieren ist nicht die Sprache voraussetzende und im Naturmensch nur potentiell angelegte Vernunft, sondern die perfectibilité des Menschen, der anders als die Tiere nicht durch ein festes Trieb- und Instinktschema bestimmt wird,13 sondern frei aus eigenem Willen über sein Verhalten entscheidet .14 Differentia specifica des Menschen ist seine Freiheit .15 In der perfectibilité findet sie ihre anthropologische Verankerung . Die perfectibilité ist ein Schlüsselbegriff in Rousseaus Anthropologie, einmal wegen ihrer Nähe zum Begriff der Freiheit, zum anderen weil sie den Hintergrund bietet für die „unendliche Schmiegsamkeit“16 des Menschen, die gehaltvollere Bestimmungen ausschließt . Bei aller negativer Anthropologie öffnet sie einen Blick auf ein Menschenbild, das im Ausgang durch Freiheit und Offenheit, der Fähigkeit zur Selbstgestaltung gekennzeichnet ist . 4.

Kultur als Denaturierung

Gerade die Entwicklungsoffenheit führte nach Rousseau zu der Entartung, weil in arbeitsteiligen Prozessen das Bedürfnis nach Anerkennung entstand . Der Mensch ist von da an in seinem Tun nicht mehr allein durch die natürliche, auf absolute („wahre“) Bedürfnisse gerichtete amour de soi, sondern mehr und mehr durch die auf Vergleich gerichtete amour propre bestimmt . Auf individueller Ebene nimmt diese dem Einzelnen seine Chance auf ein erfülltes Leben, da sie das Gleichgewicht aus Wunsch und Möglichkeit auf dessen Erfüllung zerstört, das beim Naturmenschen noch intakt war .17 In Gang kommt ein Prozess, an dessen Ende der fehlerhaft vergesellschaftete Mensch das Gefühl seiner Existenz allein aus dem Urteil der anderen bezieht: Der Mensch ist entfremdet .18 Das natürliche Mitleid kann das menschliche Verhalten nicht mehr konfliktschonend regulieren .19 Die natürliche Willkür ist damit ein Sicherheitsproblem . Eine an den Hobbesschen Naturzustand erinnernde Situation entsteht, an dessen AaO ., 57 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–1), 81 . AaO ., 99 . AaO ., 21: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch (…) verzichten .“ Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, 1956, 283, Rousseau (Fn . 7), 349), vgl . auch Rousseau (Fn . 3–2), 265: „… da das Menschengeschlecht eines Zeitalters nicht das Menschengeschlecht eines anderen Zeitalters ist …“ 17 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, 1974, 57: „Unser Unglück besteht also aus dem Missverhältnis zwischen unseren Wünschen und unseren Fähigkeiten .“ 18 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 16), 401: „Wenn man nicht in sich selbst, sondern in den anderen lebt, dann sind es ihre Urteile, die alles bestimmen .“ 19 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–2), 193 . 12 13 14 15 16

Sicherheit durch denaturierte Freiheit?

Ende der Lügenvertrag der Reichen steht .20 Ausweg kann nur die Auffindung einer angemessenen Form der Vergesellschaftung sein . Weil Freiheitsverzicht aber eine wesenswidrige Denaturierung darstellt, ist der Wille des Einzelnen kein allein genügendes Kriterium mehr zur Legitimierung einer politischen Ordnung, eine Unterwerfung, ein Rechtsverzicht ist mithin nicht „was das Recht zulässt“ .21 Denn der Mensch darf und kann sich seiner Freiheit nicht entäußern, ohne aufzuhören Mensch zu sein .22 Daher kann es Sklaverei als Rechtsverhältnis, kann es einen Unterwerfungsvertrag nicht geben . Gleichzeitig aber ist die Vergesellschaftung zur Selbsterhaltung notwendig . Der Mensch befindet sich folglich in einer Dilemma-Situation .23 Die von Rousseau entwickelte identitäre Demokratiekonzeption stellt sich nun vor diesem Hintergrund als einziger Weg zwischen Skylla und Charybdis, denaturierendem Freiheitsverlust einerseits und dem Chaos des späten Naturzustandes geschuldeten Risiko des Lebensverlusts andererseits, dar . 5.

Der Gesellschaftsvertrag – von der natürlichen zur politischen Freiheit

Dem Problem, dass Vergesellschaftung immer Freiheitsverzicht bedeutet, begegnet Rousseau durch die Identität von Souverän und Untertan in der Gestalt des Bürgers .24 Bedingung für diese ist der Gesellschaftsvertrag in der Form einer vollkommenen Entäußerung eines jeden Einzelnen an das Gemeinwesen als Ganzes .25 Dabei stellt sich jeder unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens, dessen Befolgung auch mit Zwang durchgesetzt werden kann .26 Subjekt der Herrschaft, Träger der unbegrenzten Souveränität ist das Gemeinwesen als Ganzes . Dieses moi commun lässt sich als Summe der Individuen nur dann verstehen, solange diese sich auf das Gemeinwohl verpflichtet fühlen .27 Es ist die vom Gemeinwillen geleitete Gesamtheit der Bürger, insofern eine intentional qualifizierte Gesamtheit . Die Gesamtheit der Bürger übt ihre Souveränität durch die Gesetzgebung aus . Das allgemeine, selbstgegebene Gesetz hebt den Gegensatz zwischen Freiheit und Zwang auf . Denn ein selbst auferlegtes Gesetz ist keine heteronome Verpflichtung . Dies setzt eine doppelte Allgemeinheit des Gesetzes voraus: Alle müssen über alle bestimmen,

AaO ., 211 (Krieg aller gegen Alle), 215 (Lügenvertrag) . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–1) ., 9; Derathé (Fn . 4), 374 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–1), 21 . AaO ., 33 . AaO ., 205 . AaO ., 33 . AaO ., 35 . Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie: Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 2 . Aufl . 1968, 100 .

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d . h . Subjekt und Objekt der Gesetzgebung müssen identisch sein .28 Für Rousseau sichert schon der Modus der Ausübung der Volkssouveränität die Rechte der betroffenen Individuen . Der Freiheitsschutz durch Selbstgesetzgebung wird aber in dem Moment brüchig, in dem der Beschluss eines Gesetzes auch gegen den Willen des Einzelnen möglich erscheint . Während der Gesellschaftsvertrag selbst einstimmig beschlossen werden muss, bedürfen Gesetze lediglich einer Mehrheit . Die Allgemeinheit hängt nicht an der Einstimmigkeit .29 Es kann folglich Situationen geben, in denen der Einzelne nur Objekt, und nicht auch Subjekt der Gesetzgebung ist, das ihn zwingende Gesetze daher prima facie nicht als Verbindung von Zwang und Freiheit, sondern als bloße Fremdbestimmung erscheint .30 Eine solche würde aber gerade die Selbstbestimmung verhindern, die nach Rousseau doch Bedingung einer akzeptablen Form der Vergemeinschaftung ist . Rousseau „löst“ das Problem durch eine Modifikation des Abstimmungssinns: Gefragt sei nicht nach Zustimmung oder Ablehnung je nach individueller Überzeugung oder Interessenlage, sondern vielmehr danach, ob die Vorlage dem Gemeinwillen entspricht . Weicht das Abstimmungsverhalten einer Person vom Mehrheitswillen ab, hat sich der Entsprechende über den Inhalt des Gemeinwillens geirrt – und gerade der Zwang zur Befolgung des durch den Gemeinwillen vorgegeben Gesetzes macht frei . Hätte der abweichende Sonderwille obsiegt, wäre der Einzelne nicht frei gewesen .31 Auch das nicht gewollte Gesetz macht frei, solange es nur vom Gemeinwillen geleitet ist .32 Er unterscheidet in der Folge die volonté général und die volonté de tous; während ersterer immer auf das Gemeininteresse gerichtet sei, sei die volonté de tous die Summe der individuellen Sonderwillen .33

Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–1), 81 . Die andauernde Wirkung von Rousseaus pathetischem Gesetzesbegriff auch in der Rechtsdogmatik zeigt sich etwa bei Raymond Carré de Malberg, La Loi, expression de la volonté générale: étude sur le concept de la loi dans la constitution de 1875, 1931, passim, wo die Bindungslosigkeit des Gesetzes ganz in Rousseau’scher Manier entwickelt wird . 29 AaO ., 57 . 30 Hier liegt das große Problem der Rousseauschen Konzeption, der Zwang zu Gesetzesbefolgung hingegen (AaO ., 43) ist nur ein abgeleitetes Problem; dies gilt auch für die Ausführungen zur Todesstrafe (AaO ., 77) oder zum Zwang, das eigene Leben für die Gemeinschaft zu opfern (AaO ., 73,75) . Solange Gesetze legitim sind, sind dies keine so ungewöhnlichen Folgerungen . 31 AaO ., 239 . 32 So auch schon auf AaO ., 43: Zwingen, dem Gemeinwillen zu folgen, heißt zwingen, frei zu sein . 33 Rousseau schlägt eine recht kryptische Rechnung vor, wie man durch „Abzug der Unterschiede“ vom Willen aller zum Gemeinwillen kommt (AaO ., 63) . Die einzige sinnhafte Interpretation dieser Formel besteht darin, dass man den Gesamtwillen als Summe der individuellen Präferenzen fasst und den Gemeinwillen als auf die allen Individuen gemeinsame Präferenz beschränkt . Beispielhaft ausgedrückt wäre bei zwei Individuen A und B mit den Präferenzen A: {a, b, c, d} und B: {d, e, f, g}der Gesamtwille {a, b, c, d, e, f, g}, der Gemeinwille aber nur {d} . Letzterer wird damit zu einer Art kleinster gemeinsamer Nenner . 28

Sicherheit durch denaturierte Freiheit?

6.

Die Moralisierung kollektiver wie privater Selbstbestimmung

Der Gemeinwille ist nicht lediglich eine Summe von auf Privatinteressen gerichteter Einzelwillen, sondern der Wille eines moralischen Körpers mit einem eigenem moi commun Rousseaus an den griechischen und römischen Klassikern geschultes republikanisches Ideal steht in einem Spannungsverhältnis mit seiner eigenen kontraktualistischen, von individuellen Interessen geleiteten, Begründung des Vertragsschlusses . Wenn er in seinem philosophischen Erstlingswerk, der Abhandlung über die Wissenschaft und Künste, die Gegenwart als verkommen und dekadent kritisiert, tut er dies, indem er ihr die antike Tugend vorhält . An sie gewendet klagt er: „Und du sanfte und bescheidene Tugend, bleibst allein ungeehrt . Blind sind wir inmitten des Lichts der Aufklärung .“34 Dem entgegengehalten wird die Gemeinschaft von Bürgern, in der sich jeder geleitet von einem tiefen Pflichtgefühl mit Freuden für die Gemeinschaft opfert .35 Cato als perfekter Republikaner ist größer als Sokrates .36 Nur in der idealisierten Schweiz seiner Kindheit und insbesondere in Sitte und Gesetz seiner Geburtsstadt Genf findet Rousseau noch einen matten Abglanz echter Tugend, doch auch dieser ist schon im Schwinden .37 Insgesamt: „Wir sind in allem gesunken .“38 Den Weg nach oben weist das republikanische Ideal . Hier findet der der Selbstgesetzgebung zugrundeliegende Imperativ der Selbstbestimmung seine Entsprechung auf Seiten der Sitte, etwa wenn Rousseau das Theater nicht nur wegen der Auswirkung der Stücke auf die Sitten, sondern noch viel grundsätzlicher verurteilt: Die Zuschauer schauen nur zu, statt selber tätig zu sein, ihre Verbindung untereinander erfolgt lediglich vermittelt über das Stück auf der Bühne, sie sind voneinander getrennt . Dem stellt Rousseau in seinem Brief an D’Alembert das Republikanische Fest entgegen, bei dem die Bürger miteinander feiern und so selbst den Inhalt abgeben, weshalb sie zugleich

Jean-Jacques Rousseau (Fn . 16), 362 . Im Discours d’economie politique gibt es einen in diesem Zusammenhang doppelt interessanten Passus ( Jean-Jacques Rousseau, On the Social Contract with Geneva Manuscript and Political Economy, 1978, 220): Rousseau lobt ein freiwilliges Opfer, verdammt gleichzeitig aber eine Regierung, die beim Einzelnen ein solches Verhalten erzwingen will, und bezeichnet sie als Tyrannis . Hierin liegt ein Widerspruch zum Du contrat social 73, 75 . Da der Gesellschaftsvertrag später erschien, ungleich wichtiger ist und Rousseau bei der Abfassung auch weniger Rücksicht auf Freunde aus dem Kreis der Encyclopedisten wie Diderot oder Grimm nehmen musste, kann man gut argumentieren, dass er seine Meinung eben verändert hat . Es mag, wie die Anmerkung 16 (zum 2 . Buch) in der dt . Ausgabe unterstellt, aber auch sein, dass sich Rousseau von republikanischen Tugend-Pathos zu einer Übertreibung hinreißen lässt, die nicht seiner wohlüberlegten Überzeugung entspricht . 36 Rousseau (Fn . 34), 219; vgl . Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, 1970, 18, 28 zum Primat der Ethik . 37 „Man darf es sich nicht verhehlen, die Absichten sind noch gut, aber die Sitten neigen bereits sichtbar zum Niedergang, und wir treten in die Spuren jener Völker, deren Schicksal wir unaufhörlich fürchten .“ (Rousseau (Fn . 16), 448) . In Rousseau, Briefe vom Berge, Schriften 2, 1981, 233: „Ihr seid weder Römer noch Spartaner, ja nicht einmal Athener .“ 38 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 16), 438 . 34 35

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Zuschauer wie Akteure sein können .39 Neben diesem partizipatorischen Wesenszug tritt aber in Rousseaus Republikanismus ein extrem paternalistischer, verkörpert in der Figur des Gesetzgebers als Demiurgen der sozialen Welt . In der perfekten Gesellschaft ist der Mensch in dem Sinne komplett denaturiert, dass er komplett durch die Gesellschaft bestimmt ist und sich mit ihr identifiziert . Im Moment des Übertritts in den „bürgerlichen Stand“ wird der Mensch ein anderer . An die Stelle der Triebe tritt die Vernunft, Moral wird relevant, und aus dem selbstgenügsamen Einzelgänger wird ein soziabler Bürger, der zu Sozialität und Umgang mit anderen ethisch verpflichtet ist: Wer sich absondert, ist böse .40 An die Stelle der als Unabhängigkeit verstandenen natürlichen Freiheit rückt eine politische Freiheit, in deren Konzeption der Einzelne frei ist gerade in seinem Teil-Sein .41 Freiheit liegt in der Einheit des Volkes, in der Teilhabe am moi commun . Die Extremität der geforderten Einordnung wird auch an den historischen Vorbildern deutlich, auf die Rousseau immer wieder verweist: Rom und Sparta .42 Er lobt dabei weniger die praktischen Folgen militärischer Ertüchtigung und soldatischer Tugend, vielmehr sind sie für ihn insofern Selbstzweck, als dass sie die Einheit der Bürger herstellten . Der Militärdienst ist für ihn dennoch verlockend, weil ihm der für sein Gemeinwesen kämpfende und sterbende Bürger das schönste Symbol für die Identifikation des Einzelnen mit dem Ganzen ist .43 Dieses Ideal auf einer kontraktualistischen, die individuelle Freiheit sichernden Grundlage zu konstruieren, erfordert eine Verformung des Freiheitsbegriffs . Damit die Legitimation durch den Willen der Bürger trägt, müssen nicht nur viele Randbedingungen erfüllt sein, sondern als relevanter Wille kommt nicht jeder empirisch vorhandene, sondern vielmehr nur ein gesollter, ein sittlich-moralischer Wille in Betracht . Der Gemeinwille stellt sich dar als „… a fusion of the generality (unity, communality) of antiquity with the will (consent, contract) of modernity “44 Wenn (republikanische) Tugend verstanden wird als Übereinstimmung mit dem Gemeinwillen, sagt sie indes noch nichts über den Inhalt des Gemeinwillens aus . Mit Rousseaus Republikanismus allein vermag man diesen also nicht zu fassen . Dennoch: Bei einem tugendhaften Bürger ist das Problem der fehlenden Identität von Subjekt und Objekt entschärft: Erstens natürlich, weil – so Rousseau – dessen Willen qua definitionem mit dem Gemeinwillen AaO ., 462 . Vgl . hierzu Jean Starobinski, Rousseau Eine Welt von Widerständen, 2003, 140 ff . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 16), 454 . Diese Aussage macht insofern stutzig, als Rousseau damit eine Aussage Diderots (in Fils naturel, 1757) übernimmt, die er als gegen sich selbst gerichtet ansah und die im 1778 bereits vollzogenen Bruch der beiden als Katalysator gewirkt hatte . Inhaltlich wurde er ihr so gar nicht gerecht – das Lob der Einsamkeit im 3 . Brief an Malherbes von 1762 oder später in den Träumereien legen davon Zeugnis ab . Rousseau würde dem wohl entgegenhalten, dass das Gebot nur in der idealen auf dem Gesellschaftsvertrag gründenden Gesellschaft gelten würde . 41 Jean-Jacques Rousseau (Fn . 4–1), 89: „… ein Dasein als Teil und ein moralisches Dasein zu setzen .“ 42 Zu Sparta: Jean-Jacques Rousseau (Fn . 16), 470; Sparta und Athen sind nicht zu vereinen, 336 . 1 . Abhandlung, 19; zur römischer Republik vgl . das 4 . Buch in Du contrat social . 43 Vgl . Shklar, Men and Citizens A Study of Rousseau’s Social Theory, 1969, 14 . 44 Patrick Riley, Will and Political Legitimacy, 1982, 109 . 39 40

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konform ist . Zweitens, weil es bei einem derart am Gemeinwohl orientierten Bürger tatsächlich möglich erscheint, dass sich dieser mit dem Gemeinwillen, auch wenn er nicht mit dem eigenen Willen übereinstimmt, identifiziert und als zu habenden, als gesollten Willen versteht und sich innerlich auf ihn verpflichtet fühlt . Der politische Wille muss moralischen Kriterien genügen: Alles was moralisch böse ist, ist auch politisch böse .45 Rousseau spricht – im Contrat Social – von sittlicher Freiheit als Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz . Vor dem Hintergrund der Parallelen von Rousseaus Begriff politischer und dem der sittlichen Freiheit lässt sich von letzterer auf den Begriff der volonté général schließen . Dieser erscheint dann als externalisierte, kollektive Form des Einzelgewissens . Oder wie Judith Shklar formuliert: „The general will is a transposition of the most essential individual moral faculty to the realm of public experience “46 Der Gemeinwille bringt damit die konträren Elemente der Rousseauschen Philosophie durch die Verbindung von Wille und Tugend zusammen . Wer nicht auf den Gemeinwillen hört ist unmoralisch oder zumindest unvernünftig . Ein renitentes Individuum, das ihn anzunehmen nicht bereit ist, wird von seiner amour propre auf eine Art beherrscht, wie sie der Sklaverei der Leidenschaften und Triebe entspricht . Ein derart bestimmter Wille ist normativ nicht relevant, vielmehr ein Sicherheitsproblem . Der Gesetzesübertreter wird, wie Rousseau im Contrat Social anlässlich der Todesstrafe ausführt, zum Feind der Gemeinschaft . Er kann die Bedingung der Selbstgesetzgebung aus sich heraus nicht erfüllen und muss – notfalls durch Zwang – zurechtgebracht und damit frei gemacht werden . Der Widerspruch zwischen Zwang und Freiheit wird also aufgelöst durch eine sittliche Qualifizierung des Willens . Damit geht die in dessen Formalität aufgehobene Möglichkeit zur individuellen Willkür verloren . Es ist nicht mehr der äußere Rahmen, in dem ein so oder so möglich ist . Der Raum des Wollens schrumpft auf das moralisch Gebotene . 7.

Der Gesetzgeber als Erzieher

Moralisierung hat bei Rousseau einen Agenten, den législateur, der gegenüber der Volksversammlung eine ungeklärte Initiativfunktion hat . Inhalt der Tugend und Ziel des législateur ist die Erzeugung der Übereinstimmung von individuellem und gemeinem Willen – durch Anpassung des individuellen .47 In der Formung der Wünsche, Ziele und Interessen der Bürger besteht seine Aufgabe . Rousseau löst also das Problem des Verlusts der Selbstbestimmung in der politischen Gemeinschaft, wenn der eigene Wille nicht mit dem Gemeinwillen übereinstimmt, durch eine Ordnung, in der die 45 46 47

Jean-Jacques Rousseau (Fn . 35), 445 . Judith Shklar (Fn . 43), 184 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 7), 510 .

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Einzelnen auf den Gemeinwillen hin erzogen werden . Denn wenn sie diesen wollen, kommt man ohne Zwang aus . Freiheit ist bei Rousseau immer bedingt durch eine autoritäre Figur, den Gesetzgeber, den Erzieher, den weisen Wolmar in Julie oder Die neue Heloise .48 Auch sein Hund, schreibt Rousseau, war frei, da er immer dasselbe wollte wie sein Herr .49 Im Emile schreibt er über seinen Zögling: „Mag er doch glauben, er sei der Herr, während in Wirklichkeit ihr es seid Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt: so nimmt man den Willen selbst gefangen “50 Der Gesetzgeber nimmt Zuflucht in der Religion, da das Volk nicht zur Einsicht und anders nicht zur Einwilligung zu bringen ist .51 Er arbeitet heimlich .52 Er zeigt ihr die Dinge nicht nur so wie sie sind, sondern auch so, wie sie erscheinen müssen .53 Der Gesetzgeber will – anders etwa als der Reiche, der den Lügenvertrag vorschlägt – nicht schaden, sondern nur das Beste für das Volk: So darf er die Unwahrheit sagen . Dazu passt Rousseaus vierter Spaziergang in den Träumereien, in dem er die moralisch verwerfliche Lüge nicht als Täuschung definiert, sondern als Täuschung mit dem Ziel zu schaden – die „moralische“ Wahrheit ist für ihn ehrwürdiger als die Wahrheit der Tatsachen .54 Der Erzieher, ob nun von Einzelnem oder Gesellschaft (législateur), bringt die ideale Gesellschaftsordnung und die Freiheit nur um den Verlust der normativen Kraft und des materiellen Gehalt von letzterer zustande . Freiheit verengt sich zur Freiheit, das Richtige zu tun; die Deutungshoheit darüber, was das Richtige ist, liegt bei der Gemeinschaft . Den Gesetzgeber kennzeichnet sein guter Wille, genau wie den Bürger seine Tugend . Rousseaus republikanisches Ideal, den Schritt zum Gefühl und die Einsicht in den Bekenntnischarakter politischer Legitimation kann man als Strandgut antiker Ordnungsmodelle beschreiben, aber auch als ersten Fingerzeig auf die arbitraire der Moderne verstehen, wenn man die Tugend des Gesetzgebers als Sorelschen Mythos avant la lettre deutet . 8.

Fazit

Im Ergebnis ist festzustellen, dass Rousseaus Versuch, ein republikanisches Ideal auf kontraktualistischer Basis zu begründen, eine doppelte Verformung des Freiheitsbegriffs erfordert . Freiheit ist im Contrat Social inhaltlich begrenzt durch den kollektiv bestimmten Raum des Moralischen und beschränkt sich mithin – ob des Wirkens des Gesetzgebers – auf das Gefühl, frei zu sein . Jenseits der Moral gibt es keine Freiheit, 48 49 50 51 52 53 54

Dazu Judith Shklar (Fn . 43), 127 ff . Jean-Jacques Rousseau, 3 . Brief an Malherbes (Fn . 7), 490 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 17), 105 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 3–1), 93 . AaO ., 121 . AaO ., 85; Jean Starobinski (Fn . 39), 152 . Jean-Jacques Rousseau (Fn . 9), 61, 67 .

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nur Gefahr . Damit bleibt die in der Formalität der Begriffe von Recht und Freiheit aufgehobene Distanz zur Moral auf der Strecke . Am Klassiker der Volkssouveränität zeigt sich daher, wie porös die Semantik der Rechte wird, wenn Rechtssetzung moralisch aufgeladen wird . Verhalten jenseits des Volkswillens ist nicht mehr Freiheitsausübung, sondern Sicherheitsproblem . Je emphatischer Freiheitszuschreibungen gehandhabt werden, desto eher muss im Fall von Konflikten ein Verhalten als Gefahr und Sicherheitsproblem delegitimiert werden .

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Sicherheit im Namen der Freiheit Die liberale Ordnung und das „Leben der Nation“ JONAS HELLER (Frankfurt am Main)

Für die liberale politische Ordnung ist die Spannung von Sicherheit und Freiheit konstitutiv . Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine Spannung zu handeln, die zwischen den beiden Elementen des Syntagmas „liberale Ordnung“ besteht: Als liberale Ordnung geht die Ordnung von der individuellen Freiheit aus, als liberale Ordnung richtet sie sich auf die Herstellung von Sicherheit . Zwischen dem Ausgangspunkt der Freiheit und der Gerichtetheit auf Sicherheit gibt es einen Zusammenhang: Die liberale politische Ordnung zielt auf die Sicherung einer als Wesenskern des Menschen verstandenen Freiheit . Besonders deutlich kommt dieser Zusammenhang in den ersten Artikeln der französischen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ zum Ausdruck . Artikel 1 stellt eine natürliche, von Geburt an bestehende Freiheit fest: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits .“ – „Die Menschen/Männer werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es .“ Weil die Freiheit von Natur aus besteht, ist sie der politischen Ordnung vorausgesetzt .1 Die Ordnung hat daher Freiheit nicht erst hervorzubringen, sondern lediglich zu bewahren: Zweck jeder politischen Vereinigung ist, wie Artikel 3 der Erklärung festhält, die Erhaltung – „la conservation“ – der natürlichen Freiheit und Rechte . Das Mittel zu diesem Zweck ist die Hervorbringung von Sicherheit: Um die vorausgesetzte Freiheit der Einzelnen zu verwirklichen, bedarf es befriedeter Verhältnisse . Hat die liberale Ordnung demnach ihre normative Voraussetzung in der individuellen Freiheit,2 so liegt ihr faktisches

Zur Logik der Voraussetzung und damit der Naturalisierung von Freiheit in der liberalen Ordnung vgl . Christoph Menke, Im Schatten der Verfassung, 2019 (im Erscheinen) . 2 In Verfassungen liberaler demokratischer Rechtsstaaten, etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, bildet die individuelle Freiheit insofern den normativen Ausgangspunkt, als die gleiche Freiheit aller Menschen – ihre Gleichheit 1

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Fundament in der kollektiven Sicherheit . Die genannte Spannung besteht, aus dieser Perspektive betrachtet, in der Möglichkeit eines Konflikts zwischen normativer Voraussetzung und faktischem Fundament . Denn Ordnung und damit Sicherheit herzustellen, bedeutet nicht allein, Freiheit zu verwirklichen, sondern sie zugleich – um ihrer allseitigen Verwirklichung willen – zu beschränken: Es gibt die Ordnung und damit verwirklichte Freiheit nur, wenn Regeln aufgestellt und durchgesetzt werden, an denen die Freiheit der Einzelnen ihre Grenze findet . Es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit . Insofern diese Spannung von Sicherheit und Freiheit am Grund der liberalen Ordnung liegt, ist sie für diese Ordnung konstitutiv . Diese Beschreibung ist aber nur eine und, wie ich denke, nicht die richtige Weise, die Spannung von Sicherheit und Freiheit in der liberalen Ordnung zu erläutern . Denn die liberale Ordnung ist nicht so zu verstehen, als fielen in ihr faktische Anforderung (Sicherheit der Verhältnisse) und normativer Anspruch (Freiheit der Einzelnen) auseinander . Würde die liberale Ordnung schlicht so beschrieben, dass es zunächst das Faktum der Ordnung braucht, damit sich, gleichsam im zweiten Schritt, die Freiheit realisieren kann, so blieben sich Freiheit und Ordnung äußerlich und fremd . Diese Beschreibung übersieht, dass es sich beim Liberalismus nicht bloß um eine auf Normativität – auf Freiheit – gerichtete Ordnung handelt, sondern um eine normative Ordnung . Es handelt sich um eine Ordnung, die nicht nur die faktische Voraussetzung von Freiheit darstellt, sondern der es in ihr selbst um die Freiheit geht . Mit anderen Worten: Der Liberalismus zielt nicht bloß auf eine Ordnung um der Freiheit willen, sondern auf eine freiheitliche Ordnung . Die individuelle Freiheit ist nicht bloß das, was durch die Ordnung gesichert werden, sondern was diese Ordnung strukturieren soll . Im Liberalismus soll die Freiheit nicht einfach auf die Seite der Einzelnen fallen, sondern sie soll der Ordnung selbst zukommen . In meinem Aufsatz will ich zeigen, auf welche spezifische Weise in diesem Anspruch, die Ordnung selbst als freiheitliche zu etablieren, zugleich ein Potential liegt, das zur Unfreiheit der Einzelnen führen kann . Um dieses Potential eines Umschlags von Freiheit in Unfreiheit zu verstehen, ist der enge Zusammenhang in den Blick zu nehmen, der in liberalen Ordnungen zwischen der Idee der Freiheit und der Institution der Rechte besteht . Ich will das Argument, das ich in diesem Aufsatz entwickeln werde, hier zunächst zusammenfassend darstellen . Zu einer freiheitlichen, durch Freiheit strukturierten Ordnung wird die moderne liberale Ordnung dadurch, dass sie den Rechten der Einzelnen einen besonderen Stellenwert, ja einen Vorrang einräumt, der ihnen in der Zeit davor, in vormodernen Ord-

in der Freiheit – den Grund für die fundamentale Gleichheit vor dem Gesetz darstellt (vgl . Art . 1–3 GG und Art . 8 BV) . In der Virginia Declaration of Rights von 1776 steht dieses Gleich-frei-Sein am Anfang des ersten Artikels: „That all men are by nature equally free and independent and have certain rights […] .“ Axel Honneth sieht in der modernen Idee der Gleichheit in erster Linie eine „Erläuterung“ individueller Freiheit; vgl . Honneth, Das Recht der Freiheit Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 2013, 35 Fn . 1 .)

Sicherheit im Namen der Freiheit

nungen, nicht zukam .3 In der Form von Rechten erhält die Freiheit der Einzelnen – und erhalten die Einzelnen als Freie – eine Repräsentation und Anbindung innerhalb der staatlichen Ordnung . Auf diese Weise wird die Ordnung, indem sie durch Rechte bestimmt ist, zu einer freiheitlichen Ordnung . Darin, dass die liberale Ordnung so selbst zur Trägerin von Freiheit wird, liegt zugleich ein die Freiheit der Einzelnen gefährdendes Moment . Trägerin von Freiheit zu sein, bedeutet dem liberalen Verständnis nach stets, ein Recht zu haben, denn Freiheit nimmt in der liberalen Ordnung die Form von Rechten an . Dies gilt nicht nur für die Freiheit der Einzelnen, sondern in einem übertragenen, aber – wie ich zeigen werde – nicht weniger wirksamen Sinn auch für die Freiheitlichkeit der Ordnung . Die Ordnung, die im Liberalismus an den Rechten der Einzelnen ihre Grenze haben und die die Rechte aller Einzelnen schützen soll, tritt so mit einem eigenen Anspruch auf und wird zu einer Größe „eigenen Rechts“ . Was heißt das und wie kommt es dazu? Aus dem Prädikat der Freiheitlichkeit ergibt sich in der liberalen Ordnung die Möglichkeit, dass sie den Rahmen, der ihr gesteckt ist, aus ihrer eigenen Logik heraus überschreitet . Dieser Rahmen der liberalen Ordnung ist in doppelter Weise gesteckt . Zum einen ist es ihr Merkmal, dass sie ihre Macht an den Rechten der Einzelnen begrenzt; zum anderen folgt eben daraus, dass sie die Rechte der Einzelnen nur insofern und insoweit beschränken darf, als diese Rechte mit den Rechten Anderer in Konflikt geraten . Da der Ordnung die Rechte der Einzelnen vorgehen, ist dies der einzig legitime Grund der Beschränkung . Darin, dass sie die Rechte allein im Interesse der Rechte der (anderen) Einzelnen und ihrer Freiheit, nicht aber aus eigenem Interesse beschränkt, liegt die Freiheitlichkeit der liberalen Ordnung . Durch diese ihr zukommende Freiheitlichkeit erwächst der Ordnung zugleich ein eigener Anspruch, aufgrund dessen die Rechte der Einzelnen im Ausnahmefall nicht nur an den Rechten der Anderen, sondern in ihrem eigenen „Recht“, im Namen des Rechts der Ordnung beschränkt werden .4 Darin liegt die dialektische Schlagseite der liberalen Ordnung . Der Umschlag, zu dem es kommen kann (nicht muss), vollzieht sich dadurch, dass die Freiheit, um deren willen Freiheit eingeschränkt wird, nicht die Freiheit der Einzelnen, auch nicht die Freiheit aller Einzelnen, sondern die Freiheit eines abstrakten Kollektivs ist . Um einen Umschlag handelt es sich, insofern von der Freiheit konkreter Individuen zu einer Freiheit eines abstrakten Kollektivs übergegangen wird; dialektisch ist dieser Umschlag, weil er aus der Logik der liberalen Ordnung selbst hervorgeht und einen inAls „moderne liberale Ordnung“ bezeichne ich hier staatliche Ordnungen, für deren rechtliche Verfasstheit (insbesondere hinsichtlich der Institution der Grundrechte) jener Wert gleicher Freiheit maßgebend ist, den die Virginia Declaration of Rights (1776) und die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1789) etablieren (vgl . dazu oben, Fn . 2) . Der Epochenbegriff „modern“ bezieht sich damit auf das Ende des 18 . Jahrhunderts; die im beschriebenen Sinn modernen rechtsstaatlichen Ordnungen, in denen die Idee gleicher Freiheit in positives Recht transformiert wurde, setzten allerdings erst später ein . 4 Dies werde ich in Abschnitt 3 am Beispiel des Ausnahmezustands erläutern, der in der Republik Türkei von Juli 2016 bis Juli 2018 bestand . 3

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neren Widerspruch bedeutet . Es folgt aus der Logik der liberalen Ordnung – aus dem Zusammenhang von individuellen Rechten und kollektiver Freiheitlichkeit –, dass die Ordnung in ihrem eigenen Namen die Rechte der Einzelnen einschränken oder suspendieren kann; zugleich widerspricht diese Weise der Beschränkung der Grundtatsache der liberalen Ordnung, der zufolge die Rechte der Einzelnen einen Vorrang gegenüber der Ordnung haben . Diesen Widerspruch der liberalen Ordnung möchte ich herausarbeiten und zeigen, wie aus einer Ordnung der Freiheit, dem Ziel des Liberalismus, eine Freiheit der Ordnung werden kann, die sich gegen die Freiheit der Einzelnen stellt und dadurch illiberal wird . Ich werde dazu in drei Schritten verfahren . In einem ersten Schritt (1) werde ich den grundlegenden Zusammenhang erläutern, der im Liberalismus zwischen Freiheit und Ordnung besteht . In einem zweiten Schritt (2) werde ich darlegen, wie dieser Zusammenhang im liberalen Rechtsstaat als die „Freiheitlichkeit“ der Ordnung selbst verstanden wird . Im dritten Schritt (3) will ich zeigen, wie sich aus dieser Freiheitlichkeit der Ordnung die Unfreiheit der Einzelnen ergeben kann . 1.

Die Bedingung der Freiheit: Liberalismus der Sicherheit nach Hobbes

Von einer nicht liberalen, etwa feudalen, Ordnung unterscheidet sich die moderne, liberale Ordnung dadurch, dass sie der Freiheit der Einzelnen einen Primat gegenüber der Ordnung einräumt . Das Fundament der liberalen Ordnung ist die individuelle Freiheit; Ziel und Aufgabe der liberalen Ordnung ist es, diese Freiheit zu garantieren und vor Eingriffen, insbesondere auch vor jenen durch die Ordnung, zu schützen . Dass sich die liberale Ordnung gegenüber der individuellen Freiheit zurücknimmt und von ihr fernhält, gilt als ihr Bestimmungsmerkmal . Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, den Vorrang der individuellen Freiheit vor allem darin zu sehen, dass diese Freiheit von der kollektiven Ordnung abgeschirmt wird . Der Einsatzpunkt des Liberalismus wäre unter diesem Gesichtspunkt die Trennung von Freiheit und Ordnung . Doch kommt der individuellen Freiheit letztlich nicht deshalb ihr zentraler Stellenwert zu, weil sie die Einzelnen von der Ordnung trennt, sondern umgekehrt gerade deshalb, weil sie es vermag, zwischen den Individuen und der Ordnung zu vermitteln . In diesem Sinn erläutert Axel Honneth die „Sogwirkung“ des modernen Freiheitsgedankens gerade aus dessen Vermögen, „zwischen dem individuellen Selbst und der gesellschaftlichen Ordnung eine systematische Verknüpfung herzustellen“ .5 Verknüpfend, nicht trennend, wirkt der Gedanke der individuellen Freiheit, weil diese nicht allein den Einzelnen zukommen, sondern auch die kollektive Ordnung in ihrer Struktur bestimmen soll . Zwar orientiert sich die Idee individueller Freiheit, so Honneth, zu-

5

Honneth (Fn . 2), 36 .

Sicherheit im Namen der Freiheit

nächst daran, „was für das Individuum das Gute ist“, doch enthalten ihre diesbezüglichen Vorstellungen „zugleich Anweisungen für die Einrichtung einer legitimen Gesellschaftsordnung“ .6 Die Freiheit ist nicht einfach das der Ordnung negativ Entzogene, sondern sie ist zugleich das, was positiv die Form der liberalen Ordnung prägt . Die liberale Ordnung „entlässt“ nicht nur Freiheit, sondern sie nimmt sie auf und absorbiert sie . In der spezifischen Weise, in der Freiheit absorbiert wird, liegt die Problematik, die meine Überlegungen herausarbeiten wollen . Es ist dafür als nächstes zu verstehen, wie die Freiheit von der Ordnung und in diese Ordnung integriert wird . Diese Integration ist, wie angedeutet, nicht einfach so zu verstehen, dass die Ordnung der Freiheit ‚Raum‘ gibt . Denn das hieße, dass die liberale Ordnung in sich selbst Freiheit und Ordnung (also: Individuum und Staat) voneinander trennt . Es handelte sich, so aufgefasst, um eine Ordnung, in der die individuelle Freiheit allein die Seite der Individuen, nicht aber die Seite der Ordnung bestimmte . Freiheit wäre dann das Unterscheidungskriterium, nicht aber das Verbindungsmoment von Individuen und Ordnung . Diese Ansicht greift zu kurz, denn dass die liberale Ordnung die individuelle Freiheit integriert, heißt auch, dass sich durch diese Integration von Freiheit ändert, was wir unter ‚Ordnung‘ überhaupt verstehen . In der liberalen Ordnung wird Freiheit integriert, indem sie institutionalisiert, nämlich verrechtlicht wird: Individuelle Freiheit wird in die Form von individuellen Rechten umgesetzt . Damit ist die liberale Ordnung, erstens, eine Ordnung der berechtigten Individuen . Diese Rechte sind dabei nicht nur Produkt der Institutionalisierung von Freiheit, sondern sie bestimmen in der liberalen Ordnung, zweitens, auch die Weise, in der die Institutionalisierung erfolgt, in der sich also die Einrichtung der Ordnung vollzieht . Freiheit in die Ordnung zu institutionalisieren bedeutet somit, die Institutionalisierung dieser Ordnung zu transformieren . Ich werde den ersten Punkt, die Integration der Freiheit in die Ordnung durch Rechte, in diesem Abschnitt mit Blick auf Hobbes erläutern . Den zweiten Punkt, die Institutionalisierung der Ordnung nach dem Gesichtspunkt der Freiheit, werde ich im folgenden Abschnitt (2) im Hinblick auf die Ordnung des liberalen Rechtsstaats erläutern, denn der liberale Rechtsstaat ist, im Unterschied zum Staat bei Hobbes, durch eben diese Institutionalisierung bestimmt . Dass die Berechtigung der Individuen das grundlegende Prinzip der liberalen Ordnung bildet, hat insbesondere Leo Strauss in seiner Auseinandersetzung mit Hobbes herausgestellt . Der Vorrang individueller Freiheit vor der Ordnung realisiert sich Strauss zufolge darin, dass die Ordnung ihre „moralische Grundtatsache“ nicht mehr in einer Pflicht, sondern in einem Recht hat .7 Die Ordnung basiert auf den Rechten der Einzelnen, denn „[a]lle Rechte der bürgerlichen Gesellschaft oder des Souveräns AaO . In dieser doppelten Orientierung – an den Einzelnen wie am Ganzen der Gesellschaft – sieht Honneth den Grund, warum die individuelle Freiheit als einziger Wert der modernen Gesellschaft deren Ordnung auch in institutioneller Hinsicht nachhaltig zu prägen vermochte (vgl . aaO ., 35) . 7 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, 1977, 188 . 6

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sind abgeleitet von Rechten, die ursprünglich dem Individuum gehörten .“8 Insofern Hobbes die Institutionalisierung der Ordnung nicht länger auf eine Pflicht, sondern auf ein Recht gründete, markiert er nach Strauss den Beginn des Liberalismus: „Wenn wir die politische Doktrin, die die Rechte des Menschen im Unterschied zu seinen Pflichten als politische Grundtatsache betrachtet und die Funktion des Staates im Schutz oder in der Sicherung dieser Rechte sieht, Liberalismus nennen dürfen, dann müssen wir sagen, daß der Gründer des Liberalismus Hobbes war .“9 Um diesen Zusammenhang von Liberalismus und Rechten zu verstehen, muss das genauere Verhältnis in den Blick kommen, das zwischen Freiheit und Rechten besteht . Hobbes definiert dieses Verhältnis zu Beginn des 14 . Kapitels des Leviathan folgendermaßen: „Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen . So unterscheiden sich Gesetz und Recht wie Verpflichtung und Freiheit, die sich in ein- und demselben Fall widersprechen .“10 Hobbes bestimmt ein Recht als Freiheit, nämlich zu handeln oder nicht zu handeln .11 Seine Definition des Rechts ist kontrastiv zu jener des Gesetzes: Ist das Recht Freiheit, so ist das Gesetz Verpflichtung; der Unterschied zwischen Recht und Gesetz ist der Unterschied zwischen Freiheit und Verpflichtung . Wenn Strauss in Bezug auf Hobbes formuliert, das Recht sei grundlegender als die Pflicht, ist dies so zu verstehen, dass das Recht den Gesetzen vorausgeht: Ein Recht ist für Hobbes nichts anderes als die den Gesetzen vorausgehende natürliche Freiheit der Individuen und die Gesetze sind nichts anderes als die Beschränkung dieser Freiheit . So definiert Hobbes am Ende des 26 . Kapitels des Leviathan: „Denn Recht ist Freiheit, nämlich die Freiheit, die das bürgerliche Gesetz uns läßt; das bürgerliche Gesetz aber ist eine Verpflichtung und nimmt uns die Freiheit“ .12 Mit Hobbes werden die Rechte zur „moralischen Grundtatsache“, weil er sie als Residuen versteht, in denen die anfängliche, natürliche Freiheit enthalten ist . Dieser Freiheit sind, als ihre Beschränkung, die Gesetze nachgeordnet . Darin liegt die Hobbessche Umstellung der Ordnung vom Vorrang der Pflicht (d . i . der Gesetze) zum Vorrang der Freiheit (d . i . der Rechte) . Erläutert ist damit zwar, wie sich im Liberalismus die Bestimmung der Ordnung ändert, indem die Ordnung vom Primat der Freiheit her verstanden wird . Allerdings erscheint die Freiheit der Individuen bei Hobbes noch als das von der Ordnung – von der Regelung durch Gesetze – Ausgesparte und Abgeschirmte, nicht als das diese

AaO ., 190 . AaO ., 188 . Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg . von Iring Fetscher, übers . von Walter Euchner, 1991, 99, Herv . im Orig . 11 Freiheit versteht Hobbes im Leviathan dabei nicht als Autonomie, sondern als die Abwesenheit äußerer Hindernisse, die der Ausführung einer Handlung im Weg stehen könnten: Frei ist, wen nichts Äußeres am Handeln hindert (vgl . hierzu Quentin Skinner, Freiheit und Pflicht Thomas Hobbes’ politische Theorie, 2008, 81–120 .) . 12 Hobbes (Fn . 10), 221, Herv . im Orig . 8 9 10

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Ordnung innerlich Bestimmende . Offen bleibt somit noch, wie die Ordnung selbst zu einer freiheitlichen Ordnung, zur Trägerin von Freiheit, wird . Diese Frage lässt sich im Ausgang von Hobbes, wenn auch nicht beantworten, so doch konturieren . Zwar denkt Hobbes die Ordnung nicht als freiheitlich – dafür ist sein Konzept der Souveränität zu dominant –, doch steht die Ordnung bei ihm gleichwohl in einer doppelten Beziehung zur Freiheit . Zum einen ist die Freiheit der Einzelnen die Voraussetzung staatlicher Ordnung, denn diese wird im freien Vertrag aller mit allen begründet . Zum anderen, und mit dem Vorigen verbunden, wird die Ordnung eingesetzt, um die uneingeschränkte Freiheit, die im Naturzustand eine allseitige tödliche Bedrohung darstellt, zu verrechtlichen und dadurch nicht nur zu beschränken, sondern erst in eine für alle lebbare Freiheit umzusetzen .13 Freiheit ist damit zum einen die Bedingung, zum anderen der Zweck der Ordnung . Das Mittel zu diesem Zweck – Sicherheit durch Einschränkung von Freiheit – ist in dieser Perspektive nicht Negation, sondern Affirmation von Freiheit, denn in dieser Beschränkung liegt, so Hobbes, die alleinige Möglichkeit, Freiheit lebbar und insofern wirklich zu machen .14 Eingeschränkt und dadurch verwirklicht wird die Freiheit nach Hobbes durch die Gesetze . Damit widersprechen sich Freiheit und Pflicht, Recht und Gesetz, zwar „in ein- und demselben Fall“, nicht aber grundsätzlich: Die Gesetze, die nichts anderes sein sollen als Garanten der Sicherheit, stehen der Freiheit (den Rechten) nicht äußerlich gegenüber, sondern haben ihre Orientierung insgesamt an der Realisierung von Freiheit . Zwar ist die souveräne Person befugt, ihre Stärke so einzusetzen, „wie sie es für zweckmäßig hält“, doch ist zugleich festgelegt, dass die souveränen Handlungen „für den Frieden“ und damit zum Zweck der Realisierung einer dauerhaften Freiheit erfolgen müssen .15 Sicherheit, d . h . die durch Gesetze gesicherte Ordnung, steht hier im Dienst der Freiheit . Auch die Ordnung selbst, das Gesetzeshandeln des Souveräns, ist bei Hobbes somit an die Freiheit gebunden . Dennoch lässt sich Hobbes’ Konzept der Ordnung nicht als freiheitlich auffassen . Dies nicht allein deshalb, weil die Gesetze, welche die Ordnung konstituieren, von Hobbes als Befehle des Souveräns definiert werden und die Inhalte der Gesetze folglich souveräner Willkür unterstehen . (Solche Willkür lässt sich, auch nach Hobbes, durch demokratische Teilhabe abfedern, insofern souveräner Gesetzgeber nicht nur ein Monarch, sondern, wie in einer Demokratie, auch „eine Versammlung von Menschen“ sein kann .)16 Mehr noch als die inhaltliche Willkür des Gesetzes ist es bei Hobbes seine Form, die der Freiheitlichkeit der Ordnung entgegensteht . Denn als Befehle sind die Gesetze in ihrer Form nicht allgemein; sie können sich auch individuell an einzelne Menschen richten, so dass sie „nur für diejenigen Gesetze sind, an

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Vgl . aaO ., Kap . 14 und Kap . 17 . Vgl . aaO ., Kap . 26, 205 . AaO ., Kap . 17, 135, Herv . im Orig . AaO ., Kap . 26, 204 .

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die der Befehl gerichtet ist, und für niemanden sonst“ .17 In der bei Hobbes fehlenden Allgemeinheit des Gesetzes besteht hingegen „die zentrale Idee des liberalen Rechtssystems“ .18 Es ist vor allen Dingen diese Idee, welche die liberale Ordnung zu einer rechtsstaatlichen Ordnung macht – und dass die liberale Ordnung eine rechtsstaatliche sei, ist die Bedingung dafür, dass es sich um eine ‚freiheitliche‘ Ordnung handelt . Daher gilt es im Folgenden den Schritt von Hobbes’ liberalem Autoritarismus zum Konzept liberaler Rechtsstaatlichkeit zu verdeutlichen . 2.

Träger von Freiheit: Der liberale Rechtsstaat

Rechtsstaatlichkeit und Freiheit stehen in der liberalen Ordnung in enger Verbindung . So haben es nicht nur liberale, sondern auch nicht-liberale Theoretiker_innen gesehen . Zu letzteren gehört Carl Schmitt . In der Freiheit sieht dieser die „Grundidee“ der modernen bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung .19 Diesen Typus der Verfassung zu systematisieren, ist das Ziel seiner 1928 erschienenen Verfassungslehre . Darin schreibt Schmitt: „Die moderne bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassung ist nach ihrem geschichtlichen Werden und ihrem heute noch herrschenden Grundschema zunächst eine freiheitliche Verfassung, und zwar im Sinne der bürgerlichen Freiheit . Ihr Sinn und Ziel, ihr τέλος, ist in erster Linie nicht Macht und Glanz des Staates […], sondern liberté, Schutz des Bürgers vor dem Mißbrauch staatlicher Gewalt .“20 Freiheit ist nach Schmitt der Sinn der bürgerlich-rechtsstaatlichen, d . h . der liberalen Verfassung: Sie ist das, was der Rechtsstaat verwirklichen soll . Was dieses allgemeine Ziel – Realisierung von Freiheit – betrifft, besteht kein Gegensatz zu Hobbes . Auch für Hobbes hatten die Beschränkungen, welche die Ordnung der natürlichen Freiheit in Form von Gesetzen auferlegt, den Sinn, die noch verbleibende Freiheit sicher, d . h . jenseits ständiger Todesfurcht lebbar zu machen . Wenn nun aber die bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassung die Verwirklichung der Freiheit vor allen Dingen als „Schutz des Bürgers vor dem Mißbrauch staatlicher Gewalt“ versteht, liegt darin ein bedeutender Unterschied zu Hobbes als dem ersten Liberalen . Zwar unterstreicht auch Hobbes: „Der Zweck des Gehorsams ist Schutz .“21 Doch ist damit in erster Linie der Schutz vor den anderen Individuen, nicht vor der schützenden Gewalt gemeint . Gegen die Zweckentfremdung eben dieser Gewalt ist bei Hobbes in der Ordnung selbst kein Mittel vorgesehen . Auf dieses Problem reagiert der liberale

AaO ., 203 f . Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, 1980, 214 und 245 . 19 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 2010, 126 . 20 AaO ., Herv . im Orig . 21 Hobbes (Fn . 10), Kap . 21, 171 . 17 18

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Rechtsstaat, insofern sein télos gerade im Schutz „vor dem Mißbrauch staatlicher Gewalt“ besteht: Anders als bei Hobbes soll sich die Sicherheit im liberalen Rechtsstaat weniger durch die Einsetzung der Gewalt als vielmehr durch ihre innere Beschränkung realisieren .22 Das Kriterium dieser Beschränkung ist die individuelle Freiheit . Sie ist nicht nur, wie bei Hobbes, Grund und Zweck des Staates, sondern zugleich das Prinzip seiner Organisation, d . h . das Prinzip, nach dem die rechtsstaatliche Ordnung selbst funktioniert . Dass die Freiheit nicht nur Ordnungszweck, sondern auch Ordnungsprinzip ist, hat direkte Konsequenzen für die Institutionalisierung der Ordnung . So schreibt Schmitt als nicht-liberaler Theoretiker des liberalen Rechtsstaats an der oben zitierten Stelle weiter, dass sich aus der Grundidee der Freiheit direkt die beiden wichtigsten Grundsätze des Rechtsstaats ergeben: einerseits die Grundrechte, welche die Freiheitssphäre der Einzelnen institutionalisieren, andererseits die Gewaltenteilung, welche die rechtlich garantierte Freiheit schützt, indem sie die staatliche Macht unterteilt und dadurch begrenzt . Indem der liberale Rechtsstaat in dieser Weise den Vorrang der individuellen Freiheit als Organisationsprinzip der Ordnung integriert, wird diese Ordnung selbst zu einer freiheitlichen, zur Trägerin von Freiheit .23 Dadurch nimmt das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit eine neue Gestalt an . Bei Hobbes bleibt die individuelle Sicherheit maßgebend: Wird diese Sicherheit vom Staat nicht garantiert, erhalten die betroffenen Individuen ihre natürliche Freiheit zurück und treten dadurch aus dem Zusammenhang des Staates aus .24 Die staatliche Ordnung hat hier ihren Zweck allein in den Individuen und damit in etwas ihr Äußerem . Dagegen hat der liberale Rechtsstaat, in seiner Eigenschaft als freiheitliche Ordnung, einen Zweck in sich, wodurch ihm ein selbständiger, weil innerer Wert zugeschrieben wird .25 Dem Postulat, dass die Ordnung selbst auch unabhängig von der Freiheit der Individuen zu verteidigen sei, liegt dieser Eigenwert der Ordnung – die ihr inhärierende ‚Freiheitlichkeit‘ – zugrunde: Die Verteidigung der Ordnung als Ordnung kann auf diese Weise im Namen der Entsprechend bemerkt Schmitt, „die Freiheit des einzelnen [ist] prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist“ (Schmitt (Fn . 19), 126, Herv . im Orig .) . 23 Gegen Schmitts Lesart ist kritisch einzuwenden, dass er an den Grundrechten und mehr noch an der Gewaltenteilung allein die Dimension individueller Freiheit feststellt und ihren konstitutiven Zusammenhang mit öffentlicher Autonomie, d . h . mit politischer Teilnahme, ganz ausblendet (diesen Hinweis verdanke ich Christoph Möllers) . Es ist allerdings gerade dieses Ausblenden, an dem die hier beschriebene Problematik des Liberalismus selbst ansetzt . 24 Das Recht, für seine Sicherheit notfalls selbst und mit gewaltsamem Widerstand zu sorgen, lässt sich nach Hobbes nicht vertraglich veräußern, weil die „Sicherheit der Person“ gerade den Zweck des Vertrags darstellt (Hobbes (Fn . 10), Kap . 14, 101 f . sowie ähnlich 107 .) . 25 Vgl . hierzu die in einem moralphilosophischen Kontext getroffene Bestimmung Kants: „[D]as aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d . h . einen Preis, sondern einen inneren Wert“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften (hg . v . d . Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften), Bd . IV, 1911, 435 .) . 22

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Freiheit erfolgen . An diesem Punkt, an dem sich die Freiheit ins Innere der Ordnung einschreibt, liegt das Potential des genannten Umschlags von Freiheit in Unfreiheit, das dem liberalen Rechtsstaat zu eigen ist . Ich werde dieses Potential im folgenden, dritten Schritt erläutern . 3.

Freiheitssicherung und Freiheitsverlust: Illiberalisierung der Ordnung

Das Postulat, die Ordnung zu verteidigen und verteidigen zu müssen, ergibt sich im liberalen Rechtsstaat aus der Freiheit, die in dieser Ordnung liegt . Besonders klar tritt dies im ‚Ernstfall‘ hervor, in dem eine Krise rechtlich ‚in Kraft‘ tritt, indem ein juristischer Ausnahmezustand einsetzt . Die Erklärung eines Ausnahmezustands stellt diesen zumeist in ein positives, ja affirmatives Verhältnis zur Freiheit, insofern die mit ihm einhergehenden Maßnahmen nicht einfach der Sicherheit im Allgemeinen, sondern spezifisch der Sicherung einer „freiheitlichen demokratischen Ordnung“ dienen . So stand es etwa in der letzten Verfassung der Republik Türkei, auf Grundlage von deren Artikel 120 am 20 . Juli 2016 der Ausnahmezustand erklärt wurde .26 Es ist in diesem Zusammenhang erhellend, Artikel 120 im Wortlaut zu betrachten: „Ergeben sich ernsthafte Anzeichen für sich ausbreitende Gewalthandlungen, die auf eine Aufhebung der durch die Verfassung begründeten freiheitlichen demokratischen Ordnung oder der Grundrechte und -freiheiten gerichtet sind, oder wird die öffentliche Ordnung ernsthaft gestört, so kann der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik zusammentretende Ministerrat […] den Notstand ausrufen .“27

Die Konsequenzen, die ein solcher Notstand hat, legt Artikel 15 der Verfassung fest: Im Notstand kann, soweit dies die Lage erfordert und nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstößt, „der Gebrauch der Grundrechte und -freiheiten teilweise oder vollständig ausgesetzt“ werden . Diese Bestimmung enthält eine feine Unterscheidung: Ausgesetzt werden nicht die Grundrechte und -freiheiten selbst, sondern ihr Gebrauch . Für die Betroffenen mag diese Differenz keinen fühlbaren Unterschied bedeuten, für die Legitimation des Notstands erscheint sie allerdings entscheidend . Diese Legitimation ist demnach so zu verstehen, dass die Sicherheitsmaßnahmen,

Der Ausnahmezustand trat mit dem 21 . Juli 2016 zunächst für drei Monate in Kraft . Er wurde daraufhin insgesamt sieben Mal verlängert und endete nach zwei Jahren am 19 . Juli 2018 . Der ihm zugrunde liegende Artikel 120 ist in der durch das Referendum vom 16 . April 2017 erheblich geänderten Verfassung, die den Notstand neu regelt, entfallen . 27 Zitiert nach der Übersetzung von Christian Rumpf, http://www .tuerkei- recht .de/downloads/Ver fassung_synoptisch .pdf, abgerufen am 10 .05 .2018 . Auch das deutsche Grundgesetz verweist bei der (nur aufgrund eines Gesetzes zulässigen) Beschränkung von Grundrechten in einem der Begründung nach ähnlichen Sinn, wenn auch im Umfang abweichend, auf den „Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“; vgl . u . a . Art . 10 Abs . 2 GG . 26

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welche den Gebrauch der Freiheit einschränken, dazu dienen (müssen), den Bestand der Freiheit vor ihrer Aufhebung zu schützen . Wird der Bestand der Freiheit von ihrem Gebrauch unterschieden, stellt sich die Frage, um welche oder wessen Freiheit es sich handelt, die bei ausgesetztem Gebrauch noch Bestand hat: Worin besteht die Freiheit jenseits ihres Gebrauchs? Um dies zu klären, ist eine weitere Unterscheidung in Betracht zu ziehen, die in dem oben zitierten Artikel 120 getroffen wird: die Unterscheidung zwischen der freiheitlichen Ordnung auf der einen und den Grundrechten und -freiheiten auf der anderen Seite . Insofern als die Ordnung, wie ich argumentiert habe, gerade dadurch zu einer freiheitlichen wird, dass sie durch Grundrechte und -freiheiten organisiert ist, scheint es zunächst bemerkenswert, dass diese beiden Aspekte – freiheitliche Ordnung und grundlegende Rechte – im Verfassungsartikel nicht durch ein „und“ verbunden, sondern durch ein „oder“ getrennt sind . Möglich wird diese Trennung auf der Grundlage, die ich weiter oben (2) erläutert habe: Wird die Ordnung selbst Trägerin von Freiheit, lässt sich diese Freiheit der Ordnung von der Freiheit der Einzelnen, von deren Grundrechten und -freiheiten, lösen . Die Freiheit der Ordnung hat Bestand, auch wenn der Gebrauch der Freiheit auf Seiten der Einzelnen ausgesetzt ist; beim Bestand der Freiheit handelt es sich um die Freiheit der Ordnung, bei ihrem ausgesetzten Gebrauch um die Freiheit der Individuen . Es mutet wie eine Antwort auf eine solche Trennung der Einzelnen vom Gebrauch ihrer Freiheit an, wenn die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung es als Gewissheit betont, „dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht“ . Doch auf eben dieser Möglichkeit der Spaltung der Freiheit in Bestand einerseits und Gebrauch andererseits beruht im liberalen Rechtsstaat die Rechtfertigung des Ausnahmezustands . Das Argument, das die Erklärung von Ausnahmezuständen regelmäßig begleitet, legt den Fokus allerdings zunächst auf die Seite der Einzelnen: Die kurzzeitige Aussetzung individueller Freiheit diene ihrem dauerhaften Erhalt . Es ist gerade diese behauptete Zweckorientierung an der gleichen Freiheit der Einzelnen, die mit Blick auf die Praxis in jüngeren Ausnahmezuständen fraglich wird . Während der Ausnahmezustände in Frankreich und in der Türkei wurden die erweiterten Befugnisse zu Maßnahmen eingesetzt, die sich ohne Bezug zum Anlass (Bekämpfung des Terrorismus bzw . eines Aufstands) gegen individuelle Freiheitsrechte richteten . So wurden in Frankreich zwei Dutzend Aktivist_innen, die im Dezember 2015 anlässlich der UN-Klimakonferenz COP21 demonstrieren wollten, unter Hausarrest gestellt und hunderte Gegner_innen der Arbeitsrechtsreform in ihrem Demonstrationsrecht beschränkt .28 In der Türkei umfassten die im Rahmen des Ausnahmezustands ergriffenen Maßnahmen neben der Entlassung öffentlicher Bediensteter auch die Schließung zahlreicher zivilgesellschaft-

28 Vgl . Lea Fauth, Frankreich: Der Ausnahmezustand als Regelfall, Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (2018), 9–12, hier: 10 .

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licher Organisationen, Anwaltsassoziationen sowie menschenrechtlicher und humanitärer Vereinigungen und richteten sich so gerade gegen jene Institutionen, welche die Sicherung individueller Rechte zum Ziel haben .29 In beiden Fällen liegt eine Entfremdung der Maßnahmen vom anlassbezogenen Zweck des Ausnahmezustands (und damit eine Verletzung von Art . 18 EMRK) vor . Die Maßnahmen zugunsten der Ordnung dienen dabei nicht zugleich den individuellen Rechten und der Freiheit der Einzelnen . Statt die gleiche Freiheit aller zu sichern, wird eine ungleiche Verteilung von Freiheit etabliert . Wer vom Gebrauch der Freiheit getrennt wird, erleidet in einem bestimmten Sinn einen Ausschluss aus der Ordnung, ist doch die Freiheit, wie eingangs erläutert, gerade jenes Moment, das in der modernen liberalen Ordnung die Verbindung der Einzelnen mit der Ordnung leistet .30 In dem Maß, in dem es in Ausnahmezuständen zur ungleichen Verteilung von Freiheit kommt, werden die Rechte selbst zum Mittel staatlichen Handelns, indem sie dort (und für diejenigen) zugelassen werden, wo sie den Zwecken der Ordnung entsprechen .31 Diese Zwecke können sich vom Zweck der Einzelnen und ihrer Freiheit lösen, wobei gerade die Inanspruchnahme der Freiheitlichkeit verdecken kann, dass der Bezug zur bezweckten (gleichen) Freiheit aller aufgelöst ist . Individuelle Freiheit und Freiheit eines Kollektivs – der Ordnung – treten auseinander . Wenn hier Freiheit suspendiert wird, um Freiheit sicherzustellen, so handelt es sich bei der suspendierten und der gesicherten Freiheit nicht um dieselbe Freiheit, sondern um die Freiheit im Zustand ihrer Trennung . Die Berufung auf die freiheitliche Ordnung ermöglicht es, dass die Einzelnen im Namen der Freiheit von ihrer Freiheit getrennt werden . Dies bedeutet nicht nur den Verlust individueller Freiheit, sondern auch die Kassierung der Voraussetzung, die es möglich machte, die Ordnung als eine freiheitliche zu begreifen . *** Die Argumentation des Ausnahmezustands lautet, dass Sicherheit – die Beschränkung von Freiheit – das Mittel zum Zweck der Freiheit ist und somit im Dienst der Freiheit steht . Demnach ist Sicherheit der Freiheit nicht entgegengesetzt, sondern ermöglicht sie: Sicherheit, d . i . Beschränkung der Freiheit, um der Freiheit willen und daher im Namen der Freiheit . Diese Logik der Sicherheit – auf ihr beruht die Legitimation des Ausnahmezustands und der in ihm ergriffenen Maßnahmen – ist allerdings schief . Vgl . Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR), Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East ( January-December 2017), 2018, Paragraphen 46 und 92 . 30 Vgl . oben, Abschnitt 1 . 31 Wie juridische Rechte staatliches Handeln nicht nur begrenzen, sondern zugleich „a form of state action“, eine Art von „public policy“ bilden, beschreibt Richard T . Ford, Beyond „Difference“: A Reluctant Critique of Legal Identity Politics, in: Left Legalism / Left Critique, hg . von Wendy Brown, Janet Halley, 2002, 38–79, hier: 63, Herv . im Orig . 29

Sicherheit im Namen der Freiheit

Denn bei der beschränkten und bei der gesicherten Freiheit handelt es sich nicht um eine, nicht um dieselbe Freiheit . Die beschränkte ist eine individuelle Freiheit; sie wird deshalb zumeist auch individuell beschränkt, wobei es Angehörige bestimmter Gruppen zumeist mehr trifft als Angehörige anderer Gruppen .32 Die dadurch gesicherte Freiheit ist hingegen nichts Individuelles, sondern ein kollektives Gut: das kollektive Gut einer ‚freiheitlichen Ordnung‘ . Die Aufhebung bedeutet daher nicht notwendig einen Aufschub von Freiheit um dieser selben Freiheit willen, sondern einen Konflikt zwischen einem kollektiven und einem individuellen Gut; der Verlust individueller Freiheit dient der Sicherung eines kollektiven Zustands der Ordnung . Hinsichtlich der Frage, wie sich dieser Verlust des Individuellen zugunsten des Kollektivs rechtfertigen lässt, liegt die folgende Antwort nahe: Der Bestand einer sicheren kollektiven Ordnung bildet die Voraussetzung dafür, dass sich die Freiheit der Individuen realisieren lässt; die kollektive Ordnung ist die Bedingung der Wirklichkeit individueller Freiheit . Doch mündet diese Antwort, wie beschrieben, leicht in die Umkehrung jenes Prinzips, auf dem die liberale Ordnung beruht: Der Primat der Einzelnen weicht dem Vorrang der Ordnung . Dieser Vorrang hat, wie erläutert, die Bedeutung eines Rechts . Die Umkehrung des Primats bringt daher den Tausch individueller Rechte mit dem Recht eines Kollektivs (der staatlichen Ordnung) mit sich . So kann in liberalen Rechtsstaaten tatsächlich eintreten, was Schmitt in der Politischen Theologie formuliert: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt .“33 Die Wendung „wie man sagt“ zeigt an, dass es sich dabei um ein Recht im übertragenen Sinn handelt, denn Freiheiten und Rechte kommen, das ist der Einsatzpunkt der liberalen Ordnung, in ihr zunächst nur als individuelle Freiheiten und Rechte vor . Dennoch erhält diese übertragene Redeweise im Ausnahmezustand zugleich einen durchaus realen Sinn, denn sie hat für die Einzelnen, deren Rechte im Namen dieses ‚Rechts‘ der Ordnung beschränkt werden, einschneidende Konsequenzen . Das Recht der Ordnung beruht auf ihrem in ihrer Freiheitlichkeit bestehenden Wert . Es ist gerade dieser eigene Wert, der es ermöglicht, dass die Ordnung mit der Freiheit der Einzelnen und dadurch mit ihrer eigenen Freiheitlichkeit – denn diese setzt die individuelle Freiheit voraus – bricht . In diesem Bruch liegt die Dialektik der Freiheit, die sich in der liberalen Ordnung entfalten kann . Wenn es zum Verlust der Freiheit kommt, muss sich der Primat der Ordnung schließlich in einem anderen Namen realisieren: nicht im Namen der ‚Freiheitlichkeit der Ordnung‘, sondern, wie ich abschließend erläutern werde, im Namen des ‚Lebens der Nation‘ .

So kam es etwa während des Ausnahmezustands in Frankreich (14 .11 .2015–01 .11 .2017) vor allem zu einer „präemptiven Stigmatisierung“ der muslimischen Bevölkerung; Tim Wihl, Der Ausnahmezustand in Frankreich . Zwischen Legalität und Rechtsstaatsdefizit, Kritische Justiz 50/1 (2017), 68–80, hier: 76 . 33 Carl Schmitt, Politische Theologie Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2009, 18 f ., Herv . J . H . 32

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Diese Differenz zwischen der Freiheitlichkeit der Ordnung und dem Leben der Nation lässt sich anhand von internationalen Menschrechtsverträgen aufzeigen .34 Dabei beziehe ich mich auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) sowie auf die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) .35 Beide Verträge enthalten Ausnahmeregelungen, die erläutern, wann die vereinbarten Rechte und Freiheiten beschränkt werden dürfen . Im UN-Zivilpakt ist dies Artikel 4, in der EMRK Artikel 15 .36 Als Grund für die Beschränkung der Freiheit wird jeweils nicht die Sicherung der freiheitlich-demokratischen Ordnung, sondern das Leben der Nation genannt . Artikel 4 des UN-Zivilpakts nennt den „Fall eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht“; in diesem Fall können Maßnahmen ergriffen werden, die sich gegen die im Vertrag vereinbarten Rechte richten . In Art . 15 EMRK heißt es: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen“ .37 Unter Berufung auf diesen Artikel 15 EMRK haben sowohl Frankreich nach den Terroranschlägen im November 2015 als auch die Türkei nach dem Putschversuch im Juli 2016 die Verpflichtungen der EMRK in dem dafür vorgesehenen Rahmen derogiert . Dafür wurde jeweils ein Notstand geltend gemacht, dessen Vorliegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter die Bedingung gestellt hat, dass er „Auswirkungen auf die gesamte Nation“38 hat und „eine Bedrohung des organisierten Lebens der Gemeinschaft, aus der sich der Staat zusammensetzt, bildet“39 . Das Leben der Nation bzw . der staatlichen Gemeinschaft und nicht die Freiheitlichkeit der Ordnung figuriert als Grund, die Freiheit der Individuen einzuschränken oder aufzuheben . Die Maßnahmen der Sicherheit greifen nicht im Namen der Freiheit, sondern im Namen der Nation . Damit verliert die Beschränkung individueller Freiheit, die sich zugunsten der Sicherheit vollzieht, ihren Bezug zur Freiheit – sowohl zur Freiheit der Einzelnen als auch zur Freiheitlichkeit der Ordnung . Vgl . dazu näher Jonas Heller, Mensch und Maßnahme Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten, 2018, 210–219 . 35 Der International Covenant on Civil and Political Rights (UN-Zivilpakt) trat am 23 . März 1976 in Kraft, die europäische Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (EMRK), die im Rahmen des Europarats erarbeitet wurde, am 3 . September 1953 . 36 Art . 15 EMRK beruht dabei auf dem Vorbild von Art . 4 des UN-Zivilpakts (vgl . Jens Meyer-Ladewig, Martin Nettesheim, Stefan von Raumer (Hg .), EMRK Europäische Menschenrechtskonvention Handkommentar, 2017, Art . 15 Rn . 1 .) . 37 Nach Art . 4 UN-Zivilpakt und Art . 15 EMRK stehen die Maßnahmen allerdings – ebenso wie in Art . 15 der Verfassung der Republik Türkei – unter der doppelten Beschränkung, über das von der Lage Erforderte nicht hinauszugehen und sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zuwider zu laufen . Über die Suspendierung der EMRK nach Art . 15 wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (vgl . dazu Meyer-Ladewig et al . (Fn . 36), Art . 15 Rn . 5 .) . 38 AaO ., Art . 15 Rn . 4 . 39 Christoph Grabenwarter, Katharina Pabel (Hg .), Europäische Menschenrechtskonvention Ein Studienbuch, 2016, § 2 Rn . 10 . 34

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Dieser Verlust von Freiheit, diese Illiberalisierung der Ordnung, geht aus ihrem liberalen Prinzip hervor . Bei diesem Prinzip handelt es sich um eine individuelle Freiheit, die jeder Einzelnen in ihrer Einzelheit zukommt . Dadurch, so der Grundgedanke der modernen liberalen Ordnung, erhält die Einzelne einen Schutz nicht nur vor den Übergriffen anderer, sondern auch vor der kollektiven Ordnung, die eben darum eine freiheitliche sein kann . Doch kommt der Ordnung dieses Attribut der Freiheit, gemäß ihrem liberalen Prinzip, wiederum individuell zu: Es handelt sich bei der Freiheitlichkeit, in welcher der Wert der Ordnung besteht, nicht um die gemeinsame Freiheit aller, sondern um die Freiheit eines Kollektivs . Wo dieses Kollektiv, die Ordnung, bedroht scheint, wird ihm ein Recht zugesprochen, das mit der Freiheit brechen und Maßnahmen in einem anderen Namen als dem der Freiheit zeitigen kann . So ist es gerade der Einsatzpunkt der liberalen Ordnung, nämlich der Primat der individuellen Freiheit, der für die Freiheit der Individuen in dieser Ordnung zu einer Bedrohung werden kann . Wie lässt sich auf diese Gefährdung der Freiheit antworten? Nicht dadurch, dass ein anderer Einsatzpunkt als jener der gleichen Freiheit gesucht wird; vielmehr muss in einer anderen und insistenteren Weise bei der gleichen Freiheit eingesetzt werden . An den genannten Beispielen der Ausnahmezustände in der Türkei und in Frankreich fällt auf, dass sich die Maßnahmen insbesondere gegen die zivilgesellschaftliche Teilnahme an politischen Prozessen richten: gegen die gleiche Freiheit, sich zu versammeln und sich in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zu organisieren . Denn es sind gerade diese partizipativen politischen Freiheiten, die die Monopolisierung von Herrschaft zu teilen und jene freiheitsbedrohende Verselbständigung der Ordnung zu unterbinden vermögen .40 In Hinsicht auf Begriff und Wirklichkeit der Freiheit ist daher jenes partizipative, herrschaftsteilende Moment zur Geltung zu bringen, um einer ‚Freiheitlichkeit‘ der Ordnung entgegenzuwirken, die diese Freiheit von der Teilnahme, auch von der Teilnahme an der Freiheit und damit von ihrem Gebrauch, zu isolieren versucht .

Den „gleichursprünglichen“ Zusammenhang zwischen privater und partizipativer Freiheit arbeitet Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, 112 ff . in beeindruckender und überzeugender Weise heraus . Es scheint mir dabei allerdings zentral, die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie nicht nur als wechselseitiges Bedingungsverhältnis zu verstehen (keine kommt vor der anderen, weil jede in der anderen ihre (äußere) Voraussetzung hat) . Gleichursprünglichkeit meint mehr als Gleichzeitigkeit, nämlich Ursprung nicht nur im gleichen Moment, sondern am gleichen Punkt: Private und partizipative Freiheit lassen sich in dem, was sie (an sich) sind, nur auseinander begreifen . 40

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Gefahrenabwehr im Präventionsstaat Über Umbrüche in der staatlichen Sicherheitsarchitektur TOBIAS SCHOTTDORF (Lüneburg)

I.

Einleitung

Unter dem Eindruck des neuartigen Terrorismus, der organisierten Kriminalität und den Herausforderungen des digitalen Kapitalismus sehen sich die liberalen Demokratien mit verstärkten Sicherheitserwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger konfrontiert . Der Staat müsse sich auf seine Schutzfunktion besinnen, so dass die öffentliche Ordnung auch in Krisenzeiten garantiert sei . Doch selbst wenn die subjektive, medial verzerrte Wahrnehmung jener Bedrohungen häufig von der tatsächlichen Gefährdungslage abweichen mag, so genügt bereits das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung, um protektive Maßnahmen des Staates, obgleich diese oftmals nur symbolische Wirkkraft entfalten mögen, in die Wege zu leiten . In jüngerer Zeit zeichnen sich auf diesem Wege die Umrisse einer neuen Sicherheitsarchitektur ab, innerhalb derer der Staat, unter Verweis auf das Interesse der öffentlichen Sicherheit, Kompetenzverschiebungen zugunsten der Exekutive mit dem Ziel der Gefahrenabwehr wissentlich in Kauf nimmt, um jenem empfundenen Bedrohungsgefühl Rechnung zu tragen . Die verabschiedeten Gesetzespakete zur Terrorbekämpfung nach den Ereignissen des 11 . September 2001 in den liberalen Demokratien, der wachsende Rückgriff auf das rechtliche Instrument des Ausnahmezustandes sowie die europäische Debatte um Vorratsdatenspeicherung sind nur einige Facetten einer umfassenderen zeitgenössischen Verschiebung im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit .1

Vgl . Matthias Lemke, Demokratie im Ausnahmezustand Wie Regierungen ihre Macht ausweiten, 2017; Jean-Claude Paye, Das Ende des Rechtsstaats Demokratie im Ausnahmezustand, 2005; Dorothee Szuba, Vor1

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Auf terminologischer Ebene finden diese sicherheitspolitischen Modifikationen Ausdruck in einer ganzen Reihe, mal deskriptiv, mal pejorativ oder affirmativ gemünzter Begriffe, mithilfe derer die Gestalt des gegenwärtigen Staates auf den Begriff gebracht werden soll . Ziel dieses Beitrages ist es, einerseits jene dominierenden sozialwissenschaftlichen Konzeptionen vor dem Hintergrund des präventionsstaatlichen Paradigmas zu systematisieren, sprich: die konkurrierenden Zustandsbeschreibungen miteinander schlüssig in Beziehung zu setzen . Im Zuge dessen wird die in jüngerer Zeit vertretene These eines Übergangs vom Rechts- zum Präventionsstaat in idealtypischer Form nachgezeichnet und in spezifischer Form verteidigt (II) . Andererseits begrenzt sich diese Analyse nicht auf eine bloße begriffliche Rekonstruktion, sondern begründet, inwieweit die Genese des Präventionsstaats mit der Herausbildung einer risikosensibilisierten Weltgesellschaft zusammenhängt, innerhalb derer neuartige Gefährdungen das staatliche Handeln vor bis dato unbekannte Herausforderungen stellen (III) . Ein Aspekt dieser Erklärung tangiert die Rechtfertigungsstrategien des staatstechnischen Umbaus . Jene sicherheitspolitischen Verlagerungen, nicht zuletzt auf Kosten individueller und kollektiver Selbstbestimmung, offenbaren sich nämlich nicht nur in konkreten Maßnahmen, sondern bereits in der angepassten Sprache, die zur Begründung präventiver Maßnahmen und Sondervollmachten in Krisenzeiten herangezogen wird . Die verschiedenen Argumentationsstränge lassen sich abschließend zusammenbinden, um das explanatorische Potenzial des Präventionsstaatsgedankens auszuloten sowie dessen Ambivalenz in normativer Hinsicht herauszustellen (IV) . II.

Rekonstruktion des sicherheitspolitischen Begriffstableaus

Die Kennzeichnung eines präventionsfokussierten Staates taucht bereits Ende der 1980er Jahre auf und entstammt einer rechtsphilosophischen Diskussion . Denninger nutzt sie, um einen vom Wohlfahrtsstaat initiierten Auflösungsprozess der klassischen Rechtssicherheit zu beschreiben . Zeichnete sich diese noch durch Sicherheit in der Rechtssetzung, Rechtskonkretisierung und Rechtsanwendung sowie der richterlichen Anwendungskontrolle aus, dränge ein dynamischer Grundrechtsschutz mithilfe „unbestimmter Optimierungsformeln“ auf die Gewährleistung von „Rechtsgütersicherheit“ .2 Der Gesetzgeber sehe sich daher genötigt, dort wo „Gefährdungslagen auftreten […] Regelungen mit unmittelbarer Intention auf Rechtsgüterschutz“ zu treffen . Selbst „altbewährte, dem Einzelnen Rechtssicherheit qua Rechtsgewißheit verbürgende rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung werden dann der Prävention geopfert .“3 Die ratsdatenspeicherung Der europäische und deutsche Gesetzgeber im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, 2011 . 2 Erhard Denninger, Der Präventions-Staat, Kritische Justiz 21 (1), 1988, 7 . 3 AaO . 9 .

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Tendenz einer sich ausdehnenden Präventionspolitik sei in verschiedenen Feldern – dazu gehören Sozialpolitik, Strafrecht, aber auch Umwelt- und Technikrecht – erkennbar und verweise auf eine größere Transformation des gesellschaftlichen Sicherheitsverständnisses . Der Staat bemühe sich, die Produktion und Distribution jener Güter in diesen Bereichen selbst in die Hand zu nehmen und die „mitproduzierten externen Risiken und negativen Folgen“ zu neutralisieren .4 Insofern müsse von zwei sich wechselseitig ausschließenden Funktionslogiken ausgegangen werden, die jedoch im gegenwärtigen Sicherheitsregime auf prekäre Weise amalgamiert vorliegen . Während der Rechtsstaat grundsätzlich „einer bemessenen und angemessenen Reaktion“ verpflichtet sei und auf Prinzipien wie „Bestimmtheit des Gesetzes“ und „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ poche, optiere der Präventionsstaat zugunsten proaktiver Instrumente, mit dem Ziel „der Realisierung von Risiken aller Art zuvorzukommen .“5 Innenpolitisch dehne sich der polizeiliche Sicherheitsauftrag von akuter Gefahrenabwehr und Strafverfolgung auf Gegenmaßnahmen im Vorfeld aus .6 Ähnlich starke Auswirkungen habe das angepasste Sicherheitsideal auf außenpolitisches Handeln, indem Selbstverteidigung eine Umdeutung im Sinne einer vorsorglich herzustellenden Praxis erfährt .7 Die Logik des Präventionsstaates sei strukturell expansiv, weil sie die „Grenzenlosigkeit der Verfolgung eines nie erreichbaren Ideals“ der Stabilität und Sicherheit impliziere: „Der Staat, der ‚Sicherheit‘ als Staatsaufgabe setzt, gibt ein Versprechen ab, das er nie voll befriedigend wir einlösen können, das ihn aber ständig zu neuer Aktivität anstachelt .“8 Zwar sei Prävention, wie auch Glaeßner anmerkt, „schon immer ein Aspekt der Ordnungsfunktion des Staates“ gewesen, doch sei ein faktischer „Paradigmenwechsel“ erkennbar, indem die vorbeugende Sicherheitspraxis eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ begründe .9 Die Konsequenzen der Inkompatibilität jener konträren Operationslogiken offenbaren sich insbesondere infolge des islamistischen Terrorismus, welcher das entfaltete Antlitz des „Sicherheitsstaates“ als das einer „totalen Risikoprävention“10 zutage fördere und auf den die Staatsmacht mit einer partiellen Sprengung der „Umzwängungen rechtsstaatlicher Begriffe“11 reagiere .

AaO . 15 . Erhard Denninger, Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, in: Recht in globaler Unordnung, hg . von Erhard Denninger, 2005a, 228 f . 6 Vgl . Gert-Joachim Glaeßner, Sicherheit und Freiheit, APuZ 10–11, 2002, 10 f . 7 Anfänglich wird der terminus technicus vor allem als deskriptive Figur eingesetzt, ohne übermäßig starke negative Konnotationen zu transportieren . Aus Sicht dieser vermittelnden Position sei es vielmehr nötig, die aktuelle Sicherheitslage zu akzeptieren und „die beiden polaren Momente der rechtsstaatlichen individuellen Freiheit und der gemeinwohlbezogenen präventiven Sicherheitsleistung in einem flexiblen, reaktionsschnellen und kooperativen Abwehrsystem zu integrieren .“ Erhard Denninger, Fünf Thesen zur Sicherheitsarchitektur, in: Recht in globaler Unordnung, hg . von Erhard Denninger, 2005b, 246 . 8 Denninger 2005a, 230 . 9 Glaeßner 2002, 12 . 10 Denninger 2005a, 223 . 11 AaO . 233 . 4 5

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Hier treten bereits erste terminologische Ungereimtheiten zutage, die einer systematischen Verhältnisbestimmung bedürfen . Ausgehend von den Vereinigten Staaten wurde die Rede von einem Sicherheitsstaat insbesondere von der kritisch-materialistischen Staatstheorie importiert, um die beiden zentralen staatlichen Herrschaftselemente des entfalteten Kapitalismus einzufangen: die „Verquickung von ‚Wohlfahrtsstaat‘ und technisch perfektioniertem ‚Überwachungsstaat‘ .“12 Diese Tradition eignet sich den Begriff also an, um eine grundlegende Modifikation der institutionellen Struktur bei der Miteinbeziehung des Staates in die „Reproduktion der Produktionsverhältnisse“ zu markieren .13 „Die Eigentümlichkeit dieser Entwicklung besteht darin, daß der Staat als Agent präventiver Normalisierung und Disziplinierung seine sozialstaatlichen und sozialisierenden Funktionen ausdehnt und gleichzeitig immer offener als außerkonstitutioneller Gewaltapparat […] auftritt“, argumentiert etwa Hirsch .14 Der Zugriff auf die Bevölkerung habe sich gleichermaßen generalisiert und individualisiert, insofern „subjektive Spontaneität und direkte Interessenwahrnehmung zum primären Sicherheitsrisiko“ erklärt und „der liberale Grundrechtsschutz in einen Staats- und Wohlfahrtsschutz“ umgemünzt wurde .15 Im Hintergrund stehe eine „Sicherheitsideologie“, mithilfe derer der Staat sich selbst legitimiere .16 Historisch betrachtet, muss der Begriff also dem Fordismus zugeordnet werden . Im Zuge der postfordistischen Globalisierung habe sich der Sicherheitsstaat dann in einen „nationale[n] Wettbewerbsstaat“17 transformiert, der mit einer „faktischen Entdemokratisierung“,18 einer materiellen Entleerung einhergegangen sei und die wohlfahrtsstaatliche Dimension im Gegensatz zur überwachungsstaatlichen Seite nicht intensiviert, sondern zurückgenommen habe . Dieser Interpretation zufolge, hat sich die politische Ordnung also dem Typus eines neoliberalen Etatismus angenähert . Die Bezeichnung einer präventiven Durchstaatlichung erscheint allerdings erst in dieser zweiten Etappe angemessen, in der die soziale Sicherheitsdimension an Relevanz verliert und in Richtung eines „aktivierenden“ Staates reinterpretiert wird .19 An diesem Punkt wird der Begriff des Sicherheitsstaates unscharf und sollte unter dem treffenderen Titel des Sicherungsstaates der Fordistischen Periode zurechenbar bleiben . Verzichtet man auf ihn, so wird es möglich, das sicherheitsspezifische Doppelgesicht des gegenwärtigen Staates als Wettbewerbsstaat, in sozialpolitischer, und Präventionsstaat, in klassisch-sicherheitspolitischer Hinsicht, zu erkennen . Der um Joachim Hirsch, Der Sicherheitsstaat Das „Modell Deutschland“, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, 1980, 8 . 13 AaO . 98 . 14 AaO . 111 f . 15 AaO . 115 . 16 AaO . 127 . 17 Joachim Hirsch, Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, 1998, 33 . 18 AaO . 35 . 19 Stefan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, 2013, 16 . 12

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Informationsgewinnung zentrierter Terminus des „Überwachungsstaates“ deckt dann nur eine übersteigerte Dimension des Präventionsstaates – die der Datenerhebung – ab, ohne die gesamten sicherheitspolitischen Entwicklungen zu reflektieren . Analog dazu konstatiert Lepsius ebenfalls einen qualitativ neuartigen staatlichen Aktionismus, der sich aus der Wahrnehmung einer „diffusen Gefahr“20 speise und mit einem „Perspektivwechsel im Menschenbild“21 zur Legitimation andersartiger Sicherheitsbefugnisse verbunden sei . Der Einzelne werde degradiert zu einem fungiblen Systemelement der gefährdeten Gesellschaft, was mit der Einschränkung subjektiver Freiheitsrechte einhergehe . Demgegenüber erfahre der Gesellschaftsschutz eine nachhaltige Aufwertung . Das Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern wachse; selbst das individuell rechtstreue Verhalten vermöge ihn nicht länger auf Abstand zu halten . „Die Freiheit des Einzelnen wird in dieser Konstellation […] nur noch als Reflex der Freiheit der Gesellschaft“ verteidigt, womit das Subjekt als „Teil der Gesellschaft“ schlicht deren „Freiheitsstatus“ teile . Da „individuelle Freiheit“ im Sinne einer „Freiheit unter Gesellschaftsvorbehalt“ ausgelegt werde, habe sich „das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit grundlegend“ gewandelt .22 Das wiederkehrende Verlangen nach einer durch Kompetenzerweiterungen garantierten „Selbstbehauptung des Rechtsstaats“23 in welchem Sicherheit, zum Staatszweck geworden, als „Untermaßverbot des Gesetzgebers“24 zu verstehen ist, begünstigt das Überschreiten absoluter rechtsstaatlicher Grenzen . Frankenberg sieht sich daher berechtigt von einem illiberalen staatstechnischen Methodenwandel zu sprechen: „Neu ist nicht die Prävention als solche . […] Als innovativ dürfen jedoch die Umstellungen von Gefahrenabwehr auf ein hyperpräventives Risikomanagement gelten, die das herkömmliche Rechtsstaatsverständnis dekonstruieren . Im Sicherheitsstaat gründet Staatstechnik ihre Legitimität mithin nicht auf Erfolge in puncto Rechtssicherheit, sondern zunehmend auch auf Gemeinwohlverwirklichung durch die Vermeidung von Zivilisationsrisiken . Unter dem Zeichen eines weit gefassten Rechtsgüterschutzes werden die Staatsaufgaben quantitativ entgrenzt und qualitativ umgewidmet .“25

Auch Haffke kennzeichnet diesen Umbau der staatlichen Sicherheitsarchitektur zuungunsten der Freiheit, die „unter der Herrschaft der Sicherheitslogik“ als tunlichst zu eliminierendes „Sicherheitsrisiko“ auftaucht, als „Paradigmawechsel“ .26 Er konstatiert

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Oliver Lepsius, Freiheit, Sicherheit und Terror: Die Rechtslage in Deutschland, Leviathan 32 (1), 2004,

AaO . 82 . AaO . 83 . Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, 8 . Erhard Denninger, Prävention und Freiheit . Von der Ordnung der Freiheit, in: Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, hg . von Stefan Huster / Karsten Rudolph, 2008, 95 . 25 Günter Frankenberg, Staatstechnik Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 2010, 120 . 26 Bernhard Haffke, Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat?, Kritische Justiz 38 (1), 2005, 20 . 21 22 23 24

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ebenfalls, dass die vom Rechtsstaat bewusst aufrechterhaltenen Sicherheitslücken, dank derer sich überhaupt erst Räume der Autonomie öffnen, mit Verweis auf vorrangige Schutzinteressen der Allgemeinheit für nicht tolerierbar befunden und in einem schleichenden Prozess geschlossen würden . „Freiheit ist in der Funktionslogik des Sicherheitsstaates ein Risiko, das kontrolliert, am besten: ausgemerzt werden muss . Rechtsstaatliche Ethik gründet demgegenüber auf Freiheit, Expansion von Wissen und Solidarität; sicherheitsstaatliche Ethik stattdessen auf Herrschaft, Wissenseingrenzung und Separierung .“27

Diese dichotome Sichtweise blieb nicht unangefochten . Ihr widersprechen Anhänger der Vorstellung, dass jeder Rechtsstaat immer schon Präventions- und Sicherheitsstaat sei, dass jene Tendenzen dem Begriff des Rechtsstaates selbst eingeschrieben seien und schlicht als graduelle Stufenfolgen eines Spektrums staatlicher Gewaltakkumulation vorliegen .28 Die Kritiker optieren, anders ausgedrückt, für einen rein quantitativen und keinen qualitativen Wandel im sicherheitspraktischen Netz der staatlichen Gewalt . Demgegenüber sind es jedoch vor allem drei Aspekte, die sich zugunsten der These einer tatsächlichen Neuartigkeit anführen lassen . Zum einen kann der sogenannte „Einschüchterungseffekt“ basierend auf einem Gefühl latenter Überwachung angeführt werden . Die Besonderheit jener Maßnahmen bestünde, wie Lepsius bemerkt, „nicht in der Eingriffsintensität, sondern in der Heimlichkeit .“29 Die Bürgerinnen und Bürger müssen mit der permanenten Möglichkeit von Grundrechtseingriffen rechnen und können durch die Anpassung ihres Verhaltens nicht sicherstellen, dass sie nicht doch staatlicher Überwachung unterliegen . Hinzu kommt die erhöhte „Streubreite“ ebendieser Praktiken, die, „gerade wenn sie präventiven Zwecken dienen, zahlreiche unbeteiligte Personen“ ohne deren Wissen mitumfasst .30 Darüber hinaus ist, drittens, die technische Möglichkeit zu nennen, mithilfe summierter Datenbestände ganzheitliche Persönlichkeitsprofile zu erstellen und den Betroffenen damit die Möglichkeit zu nehmen, wie in direktem sozialen Kontakt noch üblich, differenzierte Informationen und Aspekte der eigenen Identität preiszugeben . Problematisch an der Perspektive eines bloß quantitativen Schritthaltens mit den neuen Herausforderungen erscheint außerdem ihre Leugnung von „absolut geschützt zu“ betrachtenden Freiheitssphären, die einen voll umfänglichen Abwägungsprozess feilgeboten werden .31

AaO . 32 . Vgl . Manfred Baldus, Freiheitssicherung durch den Rechtsstaat des Grundgesetzes, in: Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, hg . von Stefan Huster / Karsten Rudolph, 2008, 111 . 29 Oliver Lepsius, Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis, in: Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, hg . Von Gunnar Folke Schuppert / Wolfgang Merkel / Georg Nolte / Michael Zürn, 2010, 28 . 30 AaO . 29 . 31 Baldus 2008, 117 . 27 28

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Die „feine, beinahe unsichtbare Grenze“32 zwischen beiden Verfahrenslogiken sollte, dies kann zusammenfassend festgehalten werden, nicht darüber hinwegtäuschen, dass qualitative Unterschiede durchaus erkennbar sind und sich diese nicht auf einen kontinuierlich emporschraubenden „Rüstungswettlauf “33 zur Anpassung des technologischen Repertoires zwischen Tätern und Ermittlern reduzieren lassen . Vielmehr stößt das erweiterte Kompetenzrepertoire einerseits die Herausbildung andersgearteter Bürger-Staat-Beziehungen in Form einer Entindividualisierung und Entrelationierung an, sowie, andererseits, die Neuausrichtung des institutionellen Settings in Richtung einer Entdifferenzierung . Anhand der folgenden Tabelle lässt sich die idealtypische Gegenüberstellung von Rechtsstaat und Präventionsstaat nochmals nachvollziehen: Tab. 1 Idealtypische Charakterisierung von Rechts- und Präventionsstaat Rechtsstaat

Präventionsstaat

Rechtssicherheit

Rechtsgütersicherheit

Individualbezug

Kollektivbezug

Unschuldsvermutung

Verdachtsgeneralisierung

Übermaßverbot

Untermaßverbot

Gefahrenabwehr

Risikomanagement

Freiheitslogik

Sicherheitslogik

Die neue „Unübersichtlichkeit“,34 von der Habermas spricht, die gesteigerte gesellschaftliche Komplexität aufgrund vielfältiger Sicherheitsrisiken, die in ihrem Auftreten und ihrer Schadensdimension kaum prognostizierbar, ebenso wenig lokalisierbar und systemisch vorliegen, scheinen die klassische rechtsstaatliche Abwehrstrategie grundlegend zu überfordern und das etablierte Normengefüge zu unterlaufen, so dass weitreichende Modifikationen der Regierungstechniken unumgänglich erscheinen . Als Antwort auf diese Herausforderungen kam es im Ergebnis zu mehreren sicherheitspolitischen und rechtspraktischen Anpassungen, die in Summe die Gestalt eines präventionsbasierten Staates annehmen . Anders als im traditionellen Rechtsstaat ist es den Bürgern nicht länger möglich, den Staat „durch normkonformes Verhalten […] auf Distanz zu halten“, da jeder und jede „ein potenzielles Risiko“ darstellt und unabhängig von Vorverdacht und Beweis-

Erhard Denninger, Freiheit durch Sicherheit? Anmerkungen zum Terrorismusbekämpfungsgesetz, APuZ 10–11, 2002, 23 . 33 Peter Schaar, Der Rüstungswettlauf in der Informationstechnologie, in: Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, hg . von Stefan Huster / Karsten Rudolph, 2008, 46 . 34 Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Die neue Unübersichtlichkeit Kleine politische Schriften V, hg . von Jürgen Habermas, 1985, 143 . 32

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lage zum „Objekt staatlicher Überwachung und Kontrolle werden“ kann .35 Das hat zur Folge, dass der etablierte Gleichheitsgrundsatz durchbrochen wird, indem Bürgerinnen und Bürger entlang gruppenspezifischer Risikomerkmale typisiert und als Angehörige dieser Minderheit unter Generalverdacht gestellt werden . Damit geht zudem die staatliche Fokussierung auf Informationserhalt und Wissenszuwachs einher, ohne die Straftaten kaum abwendbar sind . Datenerhebung und Kommunikationsüberwachung bilden das Rückgrat staatlicher Gefahrenabwehr, geraten jedoch allzu leicht in Konflikt mit rechtsstaatlichen Prinzipien wie informationeller Selbstbestimmung und Privatsphärengarantie . Darüber hinaus besteht ein weiteres Merkmal des Präventionsstaates in dessen Indifferenz gegenüber der rechtsstaatlichen Unterscheidung von Handeln und Denken . Dessen Kampf richtet sich nämlich bereits gegen jede „rechtsfeindliche Gesinnung“, noch bevor sich diese zu „Handlungen mit unabsehbaren Konsequenzen“ verdichtet .36 Das Innenleben des Subjekts wird von Seiten der Staatsgewalt kartographiert und nach außen gekehrt, so dass für bedrohlich erachtete Devianz – Untreue gegenüber der hegemonialen Werteordnung – gekennzeichnet und zweckdienliche protektive Maßnahmen in die Wege geleitet werden können . Die Schwierigkeit bei der Bemessung von Sicherheit besteht jedoch in der Unfähigkeit sie in Relation zu anderen fixierten Normen zu bringen . Bedrohungen durch unbestimmte Risiken lassen sich nicht in Beziehung setzen zu bestehenden und konkretisierten Freiheitsrechten . Sie entziehen sich mangels explizitem Vergleichsmaßstab einer Kontrolle der Verhältnismäßigkeit . „Die Gewährleistung von Sicherheit wird dann zu einem Blankettbegriff, der ohne weitere Präzisierung rechtsstaatlich nicht zu disziplinieren ist .“37 Zur Erklärung der Koinzidenz von präventionsstaatlichen Modifikationen und neuem Sicherheitsbedürfnis ist es sinnvoll, den sozialtheoretischen Zusammenhang von Modernisierung, Risikoproduktion und Stabilitätsverlangen näher zu untersuchen . Hierbei tritt eine strukturelle Verbindung zutage, indem die staatstechnischen Anpassungen als Stressreaktion auf ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein, ein verstetigtes Ungewissheitsempfinden, verstehbar wird . III.

Vorsorgende Gefahrenabwehr in der Risikogesellschaft

Der Risikobegriff hat in der „neueren Entwicklung des Gesellschaftssystems“ unbestreitbar an Relevanz gewonnen .38 Ein Risiko einzugehen bedeutet im Ungewissen zu agieren und auf Grundlage vorhandener Informationen eine kalkulationsgeleitete

Stefan Huster / Karsten Rudolph, Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat?, in: Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, hg . von Stefan Huster / Karsten Rudolph, 2008, 17 . 36 AaO . 37 AaO . 19 . 38 Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, 2003, 6 . 35

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Handlungsentscheidung zu treffen . Als dominierende Steuerungspraxis zur Normalisierung von Unsicherheiten setzt sich der Begriff erst in der Moderne durch, nämlich just in jenem Moment als Gefahren nicht länger für unbeherrschbar und unzurechenbar erachtet wurden .39 Der risikobasierte Blickwinkel eröffnet eine bestimmte Perspektive der Problematisierung von Realität, ein Schema der Rationalität, mithilfe dessen Zufall handhabbar und „ein ungewisses und potenziell gefährliches Geschehen regierbar“ wird .40 Dieser Weltzugriff macht vor keiner sozialen Sphäre halt, sondern erfasst, so zumindest die Überzeugung der Risikosoziologie, die Gesellschaft als Ganzes . Die Grundthese hinter dem Begriff der „Risikogesellschaft“, welcher sich auf einen diagnostizierten epochalen Bruch innerhalb der Moderne stützt,41 besagt ja gerade, dass die Modernisierung in ihrer reflexiven Form mit der „gesellschaftlichen Produktion von Risiken“ einhergeht .42 Es handelt sich dezidiert um „Modernisierungsrisiken“,43 die auf anderen Ursachen als altbekannten Bedrohungen fußen und in ihrer Reichweite ein globales Ausmaß annehmen . Gefährdungslagen des neuen Typs transzendieren nicht nur soziale Schichtung, sondern auch den nationalstaatlichen Rahmen . Aufgrund ihrer Universalität und Unvorhersehbarkeit, ihrer Evidenz und gleichzeitigen Irrealität verweisen Risiken auf drohende Zerstörungen, die zwar „noch nicht eingetreten“, doch „bereits heute“ reale Wirkungen entfalten .44 Allein die Möglichkeit ihres Eintretens beeinflusst menschliches Handeln . Entscheidend ist die Wahrnehmung von Risiken; subjektive Risikoeinschätzungen neigen zwar mitunter zu massiven Verzerrungen und Fehleinschätzungen, doch entfalten solche Präsumtionen höchst reale Wirkungen . Während die normative Grundausrichtung der Industriegesellschaft dem „Ideal der Gleichheit“ folgte, wird die Risikogesellschaft, Beck zufolge, verstärkt von Sicherheitsbelangen angetrieben . „An die Stelle des Wertesystems der ‚ungleichen‘ Gesellschaft tritt also das Wertesystem der ‚unsicheren‘ Gesellschaft . Während die Utopie der Gleichheit eine Fülle inhaltlich-positiver Ziele der gesellschaftlichen Veränderung enthält, bleibt die Utopie der Sicherheit

Vgl . Wolfgang Bonß, Vom Risiko Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, 1995, 50 ff . Andreas Folkers, Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz, 2018, 49 . Die beiden von Bauman und Beck gewählten Begriffe tragen einer geteilten Diagnose Rechnung, nämlich derjenigen, wonach die Moderne in eine neuartige Phase der „Mehrdeutigkeit“ eintritt, eine „Neuausrichtung“ unter Aufkündigung bestehender „Verbindlichkeiten“ erfährt . Die Theorie reflexiver Modernisierung integriert drei Elemente: das Theorem der Risikogesellschaft, das der Individualisierung und das der Kosmopolitisierung . Gemeinsam werden sie „als radikalisierte Formen der Modernisierungsdynamik gedacht, die an der Wende ins 21 . Jahrhundert, auf sich selbst gewendet, die Formel der einfachen Modernität auflöst .“ Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne, 2015, 12 f .; Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2015, 37 . 42 Ulrich Beck, Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, 25 . 43 AaO . 29 . 44 AaO . 44 . 39 40 41

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eigentümlich negativ und defensiv: Hier geht es im Grunde genommen nicht mehr darum, etwas ‚Gutes‘ zu erreichen, sondern nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern .“45

Die im Zuge des sozialen Wandels gewonnenen Freiheiten scheinen, so lässt sich mit Bauman ergänzend hinzufügen, eine Fluchtbewegung anzustoßen . „Ein Leben mit ein bisschen mehr Sicherheit und Gewißheit erscheint uns plötzlich als wesentlich attraktiver, selbst wenn wir dafür Einschnitte im Bereich der persönlichen Freiheit hinnehmen müßten .“46 Der „Umgang mit Angst und Unsicherheit“ kommt dann einer „zivilisatorischen Schlüsselqualifikation“ gleich .47 Insofern ist Bonß beizupflichten, wenn er betont, dass „sich mit der gesellschaftlichen Verarbeitung von Unsicherheiten vom Typus ‚Risiko‘ auch das gesellschaftliche Verständnis von Sicherheit“ dahingehend ändert, sie im Sinne einer explizit verhandelbaren Thematik zu universalisieren .48 Der Staat kann sich den an ihn adressierten Sicherheitserwartungen nicht entziehen, muss – im Gegenteil – einen Weg finden, die Sicherheitsbedenken der Bevölkerung innerhalb des dezentrierten Umfelds einer um Komplexität angereicherten Weltgesellschaft zu zerstreuen, um Responsivität anzuzeigen und Legitimität zu wahren . Anders als die klassische Gefahr entbehrt das Risiko konkreter Anhaltspunkte; allein die „abstrakte Möglichkeit eines Schadens“ genügt, um vorsorgende Interventionen in die Wege zu leiten .49 Die „allgemeine Prekarität“, die Machtlosigkeit angesichts der Unkontrollierbarkeit von Bedrohungen und nicht intendierten Handlungsfolgen wird damit „zur Grundlage für das Funktionieren des gegenwärtigen Systems“, die permanente „Unsicherheit zu einer Grundkonstante der Politik .“50 Beck drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: „Nicht die Unkontrollierbarkeit als konkrete Erfahrung in vielen alltäglichen Lebensbereichen ist ausschlaggebend, sondern daß das Leitbild der Rationalität und Kontrolle an Glaubwürdigkeit verliert und zerfällt, und dies in den praktischen Erfahrungen der Menschen aufgewiesen wird . […] Im Großen wie im Kleinen, im Ehealltag wie in der Weltpolitik befinden sich die Menschen auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit .“51

Nach Ende der globalen Bipolarität sehen sich die westlichen Nationalstaaten nicht länger vordergründig mit ökonomischen und ideologischen Unsicherheiten konfrontiert, sondern die klassische Sicherheitspolitik hat sich im Lichte anders gearte-

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AaO . 65 . Zygmunt Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, 2007, 118 . Beck 1986, 102 . Bonß 1995, 95 . Uwe Volkmann, Sicherheit und Risiko als Probleme des Rechtsstaats, Juristen Zeitung 59 (14), 2004, Tobias Singelnstein / Peer Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft Soziale Kontrolle im 21 Jahrhundert, 2012, Beck 2015, 367 .

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

ter terroristischer und krimineller Risiken neu aufgestellt . Grundsätzlich lassen sich verschiedene Verfahrensweisen im Umgang mit Risiken unterscheiden . Während allerdings die Inkaufnahme von Restrisiken nur schwer kommunizierbar ist und die Kompensation post eventum für unzureichend erachtet wird – in vielen Fällen ist sie schlicht unmöglich –, gelangt die Schadensvermeidung qua Prävention zu höchster Blüte . Mittels adäquater Vorsorge sei es möglich, vermeintlich unvermeidbare Schäden doch abzuwenden .52 „Prävention bestimmt die vorrangige Handlungslogik in der Risikogesellschaft . […] Im Präventionsstaat ist das Vorsorgeprinzip der Risikogesellschaft in den Bereich der inneren Sicherheit übertragen worden, mit der Folge, dass der Kern rechtsstaatlicher Prinzipien immer stärker relativiert wird .“53 Hierzu passt die Einsicht, dass Prävention „ihrer Natur nach tatsachenavers“ operiert und sich auf anfängliche Spekulationen, auf Hypothesen über Handlungsverläufe stützt .54 Vorsorge gründet sich auf Prognosen und Vermutungen, beruft sich also auf eine den tatsächlichen Gefahren vorausliegende Bedrohung, deren Eintreten es zu verhindern gilt . Damit unmittelbar verbunden ist die Aufweichung der bis dato institutionell garantierten freiheitsverbürgenden Rechtssicherheiten . Ende der 1990er Jahre kam Zürn noch zu dem Ergebnis, dass die Denationalisierung den Nationalstaat dazu nötige, auf die „Beeinträchtigung von Menschenrechten in seinem Herrschaftsbereich zu verzichten“ .55 Damals, vor dem Hintergrund eines sicherheitspolitisch sich erst in Entwicklung befindlichen Präventionsstaates, als bloße Möglichkeit eingeräumt, scheint das gesteigerte „Unsicherheitsgefühl“ aufgrund neuer Umstände „die rechtsstaatlichen Errungenschaften“ tatsächlich erneut infrage zu stellen und eine Erosion rechtlicher Standards zu begünstigen .56 Die „post-staatliche Sicherheitsagenda der Zweiten Moderne“ habe sich mit dem Faktum des „Nichtwissens“ auseinanderzusetzen .57 „Globale Risiken erzwingen eine neue Politik der Ungewißheit“, formuliert Beck .58 Ein Merkmal des Präventionsstaates liegt ja gerade darin, die klassische Trennung des inneren vom äußeren Sicherheitsauftrages zu nivellieren, um der globalen Natur bestehender Risiken zu begegnen .59 Die Umstellung auf präventive Mittel, der Ausbau des juristischen, technologischen und organisatorischen Instrumentariums, welches den Staaten trotz, oder gerade aufgrund

Vgl . Bonß 1995, 240 ff . Jürgen Förster, Taking Schmitt seriously . Über den Widerspruch von Freiheit und Sicherheit im aktuellen Sicherheitsdiskurs, Leviathan 38 (4), 2010, 626 . 54 Lepsius 2010, 47 . 55 Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998, 108 . 56 AaO . 115 . 57 Beck 2015, 83 . 58 AaO . 85 . 59 Vgl . Gert-Joachim Glaeßner, Sicherheit in Freiheit Die Schutzfunktion des demokratischen Staates und die Freiheit der Bürger, 2003, 146 . 52 53

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der „anti-staatlichen Bedrohungskonstellation“60 den scheinbar verloren gegangenen souveränen Handlungsspielraum zurückgewinnen soll, erscheint dann nur als konsequente Antwort . „Nicht die Abwehr erst der Gefahr, sondern bereits ihre Entstehung soll verhindert werden, Ziel ist die Gefahrenverhütung“, folgert auch Masing .61 Die terrorisierte Weltrisikogesellschaft, so spitzt Beck diesen Gedanken in Fortsetzung Agambens nochmals zu, welcher von einem Trend sprach, notstandstypische Handlungsweisen „in eine ständige Praxis des Regierens zu wandeln“,62 normalisiere den Ausnahmezustand, was bedeute, dass „Staaten zugleich entmächtigt (weil ihre etablierten Mittel untauglich werden) und ermächtigt werden, weil der Ruf nach der verlorengegangenen Sicherheit alles übertönt und rechtfertigt“ .63 Die geglättete Darstellung der sukzessiven Transformation des Rechtsstaates in einen Präventionsstaat, wie sie von verschiedenen kritischen Ansätzen der politischen Philosophie und Rechtstheorie vertreten wird, sowie die Erklärung dessen Genese anhand des gesellschaftstheoretischen Risikoparadigmas alleine genügt jedoch nicht, um die empirische Plausibilität und sozialwissenschaftliche Belastungsfähigkeit des Modells auszuweisen . Hierzu sind einerseits ergänzende untersuchungsmethodische Anmerkungen und andererseits die länderspezifische Diskussion exemplarischer Fälle vonnöten, die eine tatsächliche Verschiebung nicht nur des Sicherheitsdiskurses, sondern auch der staatlichen Praxis belegen . Erst danach wäre es möglich, Rückschlüsse auf die tatsächliche Tragweite des präventionsstaatlichen Umbaus zu ziehen und zu prüfen, welche normativen Probleme aus diesem erwachsen . Daher trägt der Alarmismus nicht weit, pauschalisierend von einer nach-präventiven „Sicherheitsgesellschaft“ zu sprechen, innerhalb derer es zu einer „Rechtsnegation“ oder gar zur „Rechtsvernichtung“ komme .64 Aus dieser Perspektive ist der Präventionsgedanke bereits überholt und von der hemmungslosen Vorstellung „flächendeckender Sicherheit“ abgelöst worden .65 Mit etwas zeitlichem Abstand hat sich diese Diagnose der westlichen Gesellschaften sicher als empirisch falsch erwiesen . Albrechts Vergleich mit dem nationalsozialistischen Gewaltstaat wirken übertrieben, denn keineswegs wurden nahezu sämtliche „Freiheitsrechte zu Gunsten des Zugewinns scheinbarer Sicherheit“ aufgegeben .66 Prävention scheint nach wie vor die staatliche Antwort auf neuartige Sicherheitsrisiken zu sein, doch hängen deren rechtsstaatliches Erosionspotenzial sowie

Beck 2015, 84 . Johannes Masing, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, Juristen Zeitung 66 (15/16), 2011, 756 . Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, 2014, 14 . Beck 2015, 84 . Peter-Alexis Albrecht, Das Strafrecht auf dem Weg zur Sicherheitsgesellschaft, in: Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, hg . von Gunnar Folke Schuppert / Wolfgang Merkel / Georg Nolte / Michael Zürn, 2010, 57 . 65 AaO . 60 . 66 AaO . 64 . Ähnlich obskur wirkt die Aussage, dass Menschen „weniger von Mitmenschen bedroht“ seien; stattdessen gingen Gefährdungen „von anonymen kommunikativen Prozessen“ aus . AaO . 66 . 60 61 62 63 64

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

deren freiheitsnivellierenden Effekte von ihrer demokratischen Einhegung und zivilgesellschaftlichen Kontrolle ab . IV.

Aussichten kontrollierter Prävention

Mit der Erweiterung des Sicherheitsverständnisses um eine vorsorgende Dimension, die dem neuartigen Risikobewusstsein der reflexiven Moderne entsprang, beginnt auch die präventionsbewusste staatliche Restrukturierung . Mithilfe der materialistischen Staatstheorie und der kritischen Rechtstheorie ist es möglich, das gewandelte Antlitz des Staates eingebettet in jene neuartigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu rekonstruieren . Der Sicherungsstaat des Fordismus hat sich, so das vorgebrachte Argument, entlang verschiedener Praxisfelder ausdifferenziert und sich unter postfordistischen Bedingungen sicherheitspolitisch dem Präventionsparadigma verschrieben . Freilich nimmt dieser Umbauprozess länderspezifisch divergierende Formen an – Präventionsstaaten teilen zwar wesentliche Charakteristika, gleichen sich aber nicht im Detail – und geht, mal unter stillschweigender Duldung, mal unter öffentlichem Protest vonstatten . Die Legitimation der „einvernehmlich schleichende[n] Aushöhlung und Überlagerung der Freiheitsrechte durch Sicherheitserwägungen“,67 die mit dem Präventionsdiktum typischerweise einhergeht, erfolgt vor allem durch kommunikative Praktiken der Versicherheitlichung,68 mithilfe derer die Delegierung erweiterter exekutiver Kompetenzen zur Gewährleistung der staatlichen Funktionsfähigkeit begründbar wird . Die normative Sicherheitszentrierung des Präventionsstaates, wie sie sich prominent in einem „Grundrecht auf Sicherheit“ darstellt,69 erscheint vor diesem Hintergrund zurückführbar auf öffentlichkeitswirksame Sprechakte verschiedener Vertreter des staatspolitischen „Feldes“,70 auf die Resonanz bei der Thematisierung von Sicherheitsfragen, mithilfe derer ein fortschreitender institutionell-regelungspraktischer Umbau

Glaeßner 2003, 277 . Vgl . Barry Buzan / Ole Wæver / Jaap de Wilde, Security: A New Framework for Analysis, 1998 . Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, 33; vgl . Faustin Vierrath, Gibt es ein Grundrecht auf Sicherheit? Herkunft, Motiv und Wirkung des Sicherheitsdiskurses, in: Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst Perspektiven einer demokratischen Sicherheit, hg . von Gisela Riescher, 2010, 155–175; Ulrich Thiele, Vom Sicherheitsstaat zum Rechtsstaat – und zurück, in: Sicherheit versus Freiheit Verteidigung der staatlichen Ordnung um jeden Preis?, hg . von Rüdiger Voigt, 2012, 101–123 . 70 Der von Bourdieu geprägte Begriff des sozialen Feldes soll an dieser Stelle dem Einwand entgegentreten, es ließe sich ein einheitlicher staatlicher Wille, gewissermaßen ein kohärenter Plan hinter der qualitativen Umgestaltung ausmachen . Demgegenüber hebt Bourdieu die ideologische Gemengelage innerhalb dieses „autonomen Mikrokosmos“ hervor und betont die, mit Gramsci gesprochenen Kämpfe um Hegemonie, um die Deutungshoheit mobilisierungsstarker „fundamentaler Ideen“ . Pierre Bourdieu, Das politische Feld, Schriften (hg . von Franz Schultheis / Stephan Egger), Bd . 7, 2013, 97, 107 . 67 68 69

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angestoßen und legitimiert wurde . Doch freilich sind es nicht Sprechakte und Regierungsvertreter alleine, die das Gefühl von Unsicherheit, der allgegenwärtigen Bedrohung stärken, sondern die komplexe Verbindung aus medial vermittelten Bildern und technischer Vernetzung generiert zusätzlich den Eindruck permanenter Gefährdungssituationen . Aus den mannigfaltigen Problemstellungen der Risikogesellschaft erwächst „ein ganz eigenes Bedürfnis nach Sicherheit“ .71 Während ferne Ereignisse in den Fokus und Nahraum der Menschen rücken, werden weniger einprägsame Informationen ausgeblendet . Die präventive Staatstechnik, die dem politiktheoretisch begründeten Primat der Sicherheit folgt, birgt eine expansive Logik in sich, da jeder und jede ein potenzielles Risiko darstellen, welches kontrolliert und zum Schutze der eigenen Freiheit einer Erfassung bedarf . Aus demokratietheoretischer Sicht muss dem präventiv agierenden Staat nicht per se mit Ablehnung begegnet werden . Dessen Kritik hat sich vielmehr an der Einschränkung subjektiver Abwehr- und politischer Partizipationsrechte zu messen . Das erweiterte Sicherheitskonzept, mittels dessen die Exekutive ihre Autonomie mit Verweis auf alternativlose Sachzwänge gegenüber den anderen Gewalten des innerstaatlichen Gefüges ausbauen kann, bedroht jedoch die legitimationsstiftenden Verfahren kollektiver Selbstbestimmung, ohne die Freiheit ihrer positiven Ausprägung beraubt wird . Das zeigt sich insbesondere auf dem internationalen Parkett, auf dem die „Vorfeldstrategie“ ebenfalls Fuß gefasst hat .72 Vor allem zwei Merkmale charakterisieren hier das staatliche Handeln in sicherheitspolitischen Belangen: Einerseits die Internationalisierung und zunehmende Verzahnung der Sicherheitspolitik, etwa auf europäischer Ebene, sowie die Privatisierung von Sicherheitsaufgaben zur vermeintlichen Steigerung der Flexibilität und Leistungsfähigkeit des staatlichen Verteidigungsapparates andererseits . Dieser kann dann noch früher auf Bedrohungen reagieren und gezielte Strategien zur Risikovorsorge einleiten, um den Anschein der Sicherheitssteigerung, und sei es nur durch symbolisches Handeln, aufrechtzuerhalten . Die Kehrseite dieser Politik besteht jedoch in der Entkopplung der jeweiligen Regierungen von ihren nationalen Parlamenten, sowie der demokratischen Öffentlichkeit .73 Die Sicherheitssorge fällt in ihrer präventiven Ausgestaltung noch stärker dem Aufgabenbereich der Regierung zu, sei doch nur sie in der Lage, schnell und umfassend auf Bedrohungen zu reagieren, mehr noch: Verhalten im Vorfeld als potenziell bedrohliches Risiko zu identifizieren, trägt zutiefst ambivalente Züge . Gewonnene Eingriffsberechtigungen werden nur in seltenen Fällen vollständig zurückgenommen . Prävention zu Lasten demokratischer Albrecht 2010, 63 . Volkmann 2004, 700; vgl . Denninger 2005b, 238; Benjamin Barber, Imperium der Angst Die USA und die Neuordnung der Welt, 2003, 87 . 73 Vgl . Nicole Deitelhoff / Anna Geis, Entkernt sich der Leviathan? Die organisatorische und funktionelle Umrüstung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik westlicher Demokratien, Leviathan 38 (3), 2010, 394; Klaus Dieter Wolf, Die Neue Staatsräson Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, 2000, 81 . 71 72

Gefahrenabwehr im Präventionsstaat

Einflussnahme, die, wenn überhaupt, retrospektiv, etwa durch die Etablierung parlamentarischer Kontrollgremien, erfolgen kann, hinkt zeitlich den Maßnahmen notwendigerweise hinterher, weshalb sie für Betroffene immer schon zu spät kommt . Die daraus sich ergebende normative Ambivalenz des Präventionsstaates schlägt ins Despotische um, sobald der Freiheitsbezug unter dem Primat der Sicherheit geopfert wird . Damit würde jedoch auch die Sicherheit selbst zugrunde gehen . Tatsächliche Sicherheit, insbesondere im Zeitalter des Präventionsstaates, bestünde also erst dann, wenn die Verfügbarkeit der präventionsstaatlichen Mittel demokratischen Kontrollen und rechtsstaatlichen Grenzen unterliegt, eine Voraussetzung, die in einigen Staaten der liberalen Welt nur bedingt erfüllt zu sein scheint .

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Sicherheit neu gedacht Chancen und Risiken eines neuen „Sicherheitsrechts“ JUDITH SIKORA (Marburg)

I.

Einleitung: Das Sicherheitsrecht als eigenständiges Rechtsgebiet

In Zeiten von Terrorismus und Flüchtlingskrise wird nicht nur der Begriff „Sicherheit“ inflationär gebraucht, sondern der Sicherheit zugleich eine steigende Bedeutung zugemessen . Dies lässt sich den täglichen gesellschaftlichen und politischen Debatten ebenso wie den philosophischen und juristischen Diskussionen entnehmen . Im Recht verdeutlicht sich die hohe Relevanz durch die Entstehung eines neuen Rechtsgebiets, des sog . Sicherheitsrechts . In diesem Beitrag werden die für ein neues Rechtsgebiet charakteristischen verbindenden Bezugspunkte, die zu einer neuen Kategorisierung und Systematisierung führen,1 zunächst für das Sicherheitsrecht beschrieben (II .) . So offensichtlich ein gemeinsamer Oberbegriff für das Sicherheitsrecht ist, umso schwieriger ist dessen Erfassung .2 Daher stellt sich die Frage, ob sich das Verständnis von Sicherheit durch das neue Rechtsgebiet ändert (III .) . Schließlich wird untersucht, was der Ansatz des Sicherheitsrechts zur aktuellen Debatte beitragen kann (IV .) .

Klaus Gärditz, Sicherheitsrecht als Perspektive, GSZ 2017, 1 mwN . Zu den Merkmalen eines Rechtsgebiets allgemein Helmut Schulze-Fielitz, Energie-Infrastrukturrecht im Prozess der Wissenschaftsentwicklung, in: Energie-Infrastrukturrecht, hg . von Sabine Schlacke / Mathias Schubert, 2015, 9, 10 f . mwN . 2 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen von Sicherheit s . in diesem Heft den Beitrag von Marion Stahl . 1

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II.

Kennzeichen: Prävention, Information, Internationalisierung

Das Sicherheitsrecht lässt sich durch die drei Schlagworte Prävention, Information und Internationalisierung charakterisieren, die das „Modethema“ zugleich in den rechtspolitischen und gesellschaftlichen Kontext einbetten .3 Zunächst und hauptsächlich wird das Sicherheitsrecht durch Prävention geprägt . Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass bereits im Vorfeld konkreter Gefahren oder Verdachtsmomente „proaktiv“ Maßnahmen zur Abwendung unerwünschter Ereignisse oder Zustände ergriffen werden . Der Staat soll bereits zu einem Zeitpunkt handeln, zu dem die Wahrscheinlichkeit für oder das Wissen über einen zu einem Schaden führenden Kausalverlauf zu gering ist, um eine konkrete Gefahr anzunehmen .4 Es sollen bloße Risiken ausgeschaltet werden; daher wird auch von „Risikovorsorge“ oder „Vorverlagerung“ gesprochen .5 Die Vorverlagerung bezieht sich auf die traditionelle Abgrenzung der Rechtsgebiete des Polizei- und Strafrechts sowie des Rechts der Nachrichtendienste, und verweist auf die Auflösung herkömmlicher Kategorisierungen wie die hinreichend konkretisierte Gefahrenlage im Bereich der Gefahrenabwehr und den hinreichenden Tatverdacht für die Strafverfolgung .6 Das repressive Strafrecht greift retrospektiv nach Begehung einer Straftat ein . Es regelt die gesellschaftliche Reaktion auf eine Normüberschreitung und sanktioniert regelmäßig eine Rechtsgutsverletzung .7 Demgegenüber ist der Anwendungsbereich des Polizeirechts schon eröffnet . Es ist Aufgabe der Polizei konkrete, d . h . alsbald mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren und somit Schäden für Rechtsgüter zu verhindern .8 Die Nachrichtendienste wiederum werden im Vorfeld von Gefahren tätig und sammeln Informationen über Sachverhalte, aus denen konkrete Gefahren entstehen könnten .9 Wenngleich diese klassische Aufteilung keine strikte war, da sich im repressiven Strafrecht seit jeher präventive Elemente finden lassen,10 so erreicht die Prävention doch eine neue Dimension .11 Dies lässt sich sowohl im materiellen Strafrecht, z . B . durch die Zunahme abstrakter Gefährdungsde-

Nach Ulrich Sieber, Grenzen des Strafrechts, ZStW 119 (2007), 1 . Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, 2003, 34; Ralf Poscher, Eingriffsschwellen im Recht der inneren Sicherheit – Ihr System im Licht der neueren Verfassungsrechtsprechung, Die Verwaltung 41 (2008), 345 (370 f .); Liv Jaeckel, Gefahrenabwehr und Risikodogmatik, 2010, 49 ff . 5 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986, 13; Dieter Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2 . Aufl . 2012, 31 f . 6 BVerfGE 141, 220, 325; in diese Richtung bereits BVerfGE 115, 320, 355 f . 7 Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4 . Aufl . 2006, 3, Manfred Wick, Gefahrenabwehr – Vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Legalitätsprinzip, DRiZ 1992, 217, 218 . 8 Bodo Pieroth / Bernhard Schlink / Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 9 . Aufl . 2016, § 4 Rn . 11 . 9 Mark A . Zöller, Zehn Jahre 11 . September – Zehn Jahre Gesetzgebung zum materiellen Terrorismusstrafrecht in Deutschland, StV 2012, 364, 369 ff . mwN; Nikolaos Gazeas / Thomas Grosse-Wilde et al ., Die neuen Tatbestände im Staatsschutzstrafrecht, NStZ 2009, 593 . 10 Zur Prävention in der Repression Klaus Gärditz, Strafprozeß und Prävention, 2003, 38 ff . 11 Jens Puschke, Legitimation, Grenzen und Dogmatik von Vorbereitungstatbeständen, 2017, 25 ff . 3 4

Sicherheit neu gedacht

likte, wie solche nach §§ 89a, 89b StGB, als auch im Strafverfahrensrecht beobachten,12 was als „Verpolizeilichung“13 oder „Vernachrichtendienstlichung“14 des Strafverfahrens bezeichnet wird . Auch die Gefahrenabwehr wird verstärkt ins Vorfeld konkreter Gefahren verlagert, sodass die Polizei ebenfalls „vernachrichtendienstlicht“15 wird .16 Insgesamt kann daher von einer „Versicherheitlichung“ des Rechts gesprochen werden . Das zweite Charakteristikum betrifft die Informationsvorsorge . Neu ist nicht das Informationspolizeirecht als solches, sondern der Umfang, die Intensität und die Relevanz der Datenverarbeitung,17 wie sich eindrücklich an der stetig steigenden Zahl von Datenbanken18 zeigt . Die informationellen Befugnisse werden quantitativ und qualitativ ausgeweitet, indem die Gesetzgeber laufend neue Kompetenzen zur Informationserhebung19 und zum Informationsaustausch20 schaffen bzw . die bereits bestehenden Befugnisse erweitern .21 Wenngleich sich durch den Wandel zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft die Datenmengen multiplizieren,22 erweist sich die Prävention als maßgebliche Triebfeder für diese Entwicklung . Soll die Polizei im Vorfeld

Fredrik Roggan, Zur Doppelfunktionalität von heimlichen Ermittlungsmaßnahmen am Beispiel der Online-Durchsuchungen, GSZ 2018, 52, 53; Zöller (Fn . 9) aaO . 13 Roland Hefendehl, Die Entfesselung des Strafverfahrens über die Methoden der Nachrichtendienste, GA 2011, 208 mwN . 14 Bernd Schünemann, Prolegomena zu einer zukünftigen Verteidigung, die in einem geheimdienstähnlichen Strafverfahren auftreten können, GA 2008, 314; Hans-Ullrich Paeffgen, Vernachrichtendienstlichung des Strafprozesses, GA 2003, 647 . 15 Henner Hess, Die Zukunft des Verbrechens KJ 1998, 145, 147; kritisch Lothar Jachmann, Das Konkurrenzverhältnis von Polizei und Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, KritV 1994, 252, 254 . 16 Vgl . mwN Marco König, Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2005, 97 ff ., 232 ff . 17 Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn . 8), § 1 Rn . 31; Kugelmann (Fn . 5), 159 . 18 Vgl . bspw . für EPRIS Sandro Dicker, European Police Records System – EPRIS, in: Prävention und Repression im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, hg . von Dieter Kugelmann / Peter Rackow, 2014, 137 ff .; zu ESS und ETIAS Julius Buckler, Auf dem Weg zu einer digitalen europäischen Grenzkontrollarchitektur, BayVBl 2018, 73 (74 f .); vgl . auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 24 .1 .2018, Auf dem Weg zu einer wirksamen und echten Sicherheitsunion – Dreizehnter Fortschrittsbericht, COM (2018) 46 final, 3, abrufbar unter https://eur-lex .europa .eu/LexUriServ/LexUriServ . do?uri=COM:2018:0046:FIN:DE:PDF (Stand 29 .9 .18) . 19 Bspw . die sog . Online-Durchsuchung nach § 100b StPO (BGBl . I 2017, 3202) und die DNA-Analyse zur Identifizierung, die auf Bundesebene (BR-Drs . 117/1/17) und in Bayern (BayLT-Drs . 17/20425) geplant ist . 20 Vgl . etwa §§ 25 ff . BKAG neu (BT-Drs . 11163, 25) . Für den inoffiziellen Datenaustausch, vgl . Christoph Gusy, Sicherheitsgesetzgebung, KritV 2012, 247, 254 und Frederik Rachor / Fredrik Roggan, Organisation der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste in Deutschland, in: Handbuch des Polizeirechts, hg . von Matthias Bäcker / Erhard Denninger / Kurt Graulich, 6 . Aufl . 2018, 161, 202 ff . 21 Vgl . nur die neu gefassten § 100a StPO (BGBl . I 2017/3202, 2630); Art . 34, 34a BayPAG (BayGVBl . 2017, 388) und die geplanten § 23b PolG BW-E (BWLT-Drs . 16/2741, 5), § 66 SächsPVDG-E (SächsLT Drs 6/14791) . 22 Sieber (Fn . 3), 3 . 12

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einer konkreten Gefahr oder eines Tatverdachts eingreifen, muss sie die potenziell abzuwehrenden Sach- und Humanrisiken, insb . sog . Gefährder,23 erst lokalisieren .24 Drittens wird der Kampf gegen die weltweit operierende und ihrerseits bestens vernetzte organisierte Kriminalität und den internationalen Terrorismus zunehmend internationalisiert . Die Staaten weltweit verstärken die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Kooperation ihrer Sicherheitsbehörden .25 Auch weil sich die globalen Strukturen dem regulativen Zugriff des Nationalstaats entziehen, wird dem Unions- und Völkerrecht mehr Einfluss auf das nationale Sicherheitsrecht zugestanden .26 Als aktuelles Beispiel auf europäischer Ebene lässt sich die „kleine Schwester“ der DSGVO27, die JI-RL, anführen, die die Datenverarbeitung für Justiz- und Polizeibehörden harmonisiert .28 III.

Geänderte Konzeption von Sicherheit?

Entscheidender als die tatsächlichen Veränderungen der Umgebungsbedingungen sind für die Entstehung eines neuen Rechtsgebiets jedoch die gesellschaftlichen und staatlichen Reaktionen auf diese Entwicklungen . Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Politik den Forderungen der Bürger nach mehr Sicherheit weitgehend hilflos ausgesetzt sieht, weil die Steuerungswirkung klassischer Regelungsinstrumente angesichts neuartiger Bedrohungen abnimmt .29 Als plakatives Beispiel werden Selbstmordattentäter angeführt, die sich durch Androhung einer langjährigen Haftstrafe wenig beeindruckt zeigen .30 Daher versucht der Gesetzgeber neue präventive Ansätze zu verZum Begriff BT-Drs . 15/3284, 16; BT-Drs . 18/7151, 1; BT-Drs . 18/11369, 2; kritisch Dominik Brodowski / Matthias Jahn / Charlotte Schmitt-Leonardy, Gefahrenträchtiges Gefährderrecht, GSZ 2017, 7, 8 ff . 24 Markus Möstl, Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts, DVBl 2007, 581; Christoph Gusy, Polizeiliche Datenverarbeitung zur Gefahrenabwehr, ZJS 2012, 155; Manfred Wick, Gefahrenabwehr – Vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Legalitätsprinzip, DRiZ 1992, 217, 221 . 25 Wolfgang Hetzer, Globalisierung und Innere Sicherheit, APuZ B05/2003, 27, 29 ff .; ders ., Europäische Kriminalpolitik im Spiegel einer „selbstverliebten Wissenschaft“, Kriminalistik 2004, 310, 313; Sieber (Fn . 3), 6 f .; Hans-Peter Bull, Trennungsgebot und Verknüpfungsbefugnis, in: „Für Sicherheit, für Europa“, hg . von Reinhard Hendler, 2005, 341, 352; Dieter Lutz, Was ist Terrorismus? in: Terrorismus: Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, hg . von Hans-Joachim Koch, 2002, 9, 20 . 26 Vgl . etwa Bettina Schöndorf-Haubold, Europäisches Sicherheitsverwaltungsrecht, 2010 . 27 Simon Schwichtenberg, Die „kleine Schwester“ der DSGVO, DuD 2016, 605 . 28 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27 . April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl . EU L 119/1 . Zum Anwendungsbereich im deutschen Recht s . näher Heinrich Wolff, in: Das neue Datenschutzrecht, hg . von Peter Schanz / Heinrich Wolff, 2017, Rn . 241 ff . 29 Plakativ Dieter Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, 7 . 30 Puschke (Fn . 11), 31; Niclas-Frederik Weisser, Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), NVwZ 2011, 142, 144; Veith Mehde, Terrorismusbekämpfung durch Organisationsrecht, JZ 2005, 815, 816; 23

Sicherheit neu gedacht

folgen, etwa indem er im Straf- und Polizeirecht die Eingriffsschwellen vorverlagert .31 Im Polizeirecht muss keine konkrete Gefahr mehr vorliegen, sondern es reichen u . U . „Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen“, dass eine konkrete Gefahr besteht .32 In Bayern genügt für Maßnahmen nach Art . 11 Abs . 3 BayPAG sogar eine „drohende Gefahr“ .33 Im Strafverfahrensrecht zeigt die Schwelle des konkreten Tatverdachts des § 152 Abs . 2 StPO ebenfalls Auflösungserscheinungen .34 Außerdem werden die Maßnahmen gegen Einzelpersonen erweitert . Im letzten Jahr wurden bspw . die sog . elektronische Fußfessel,35 die Präventivhaft36 und die intelligente Videoüberwachung37 eingeführt, sowie das polizeiliche Waffenarsenal um Explosivmittel ergänzt .38 Neben diesen Maßnahmen der Individualprävention werden die Kompetenzen der Sicherheitsbehörden rechtsgebietsübergreifend zur strategischen Aufklärung komplexer krimineller Strukturen, insb . der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus, ausgeweitet39 . Kamen früher nur den Verfassungsschutzbehörden sog . nachrichtendienstliche Befugnisse wie die Wohnraumüberwachung oder Online-Durchsuchung zu, können nun auch die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden große Lauschangriffe durchführen oder Staatstrojaner einsetzen .40 Auch dürfen teilweise Verdeckte Ermittler und V-Leute zu präventiven Zwecken eingesetzt werden .41 In einigen Bundesländern werden die Verfassungsschutzbehörden zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität eingesetzt42 – ein ehemals klassisches Aufgabengebiet der Polizei .43 Nähern sich die Ermächtigungsgrundlagen in den verschiedenen Teilbereichen des Sicherheitsrechts immer weiter an, wird eine Unterscheidung nicht nur schwieriger,

Johannes Saurer, Die Ausweitung sicherheitsrechtlicher Regelungsansprüche im Kontext der Terrorismusbekämpfung, NVwZ 2005, 275, 276 . 31 Poscher (Fn . 4) aaO; Oswin Müller, Der Abschied von der konkreten Gefahr, StV 1995, 602 . 32 Dazu Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn . 8), § 4 Rn . 52 . 33 Art . 11 Abs . 3 S . 1 BayPAG; dazu Markus Möstl, Polizeibefugnisse bei drohender Gefahr, BayVBl 2018, 156 . 34 Vgl . nur Sebastian Peters, in: Münchener Kommentar zur StPO, hg . von Hartmut Schneider, 31 . Edition, 15 .10 .2018, § 152 StPO Rn . 65 mwN . 35 § 56 BKAG; sukzessive Einführung in die Landespolizeigesetze, z . B . Art . 32 BayPAG, § 27c BWPolG, § 16 b NWPolG-E (NWLT-Drs . 17/1285, 5), § 25a ASOG-E (Bln-Drs . 18/0166, 2) . 36 Art . 20 Nr . 3 BayPAG . 37 § 21 Abs . 4 BWPolG . 38 § 54a BWPolG, Art . 69 BayPAG, § 79 NdsSOG . 39 Matthias Bäcker, Kriminalpräventionsrecht, 2015, 380 ff . 40 Hefendehl (Fn . 13), 211 . 41 Vgl . nur Art . 37, 38 BayPAG; § 19 NWPolG . 42 Vgl . Art . 3 S . 2 BayVSG; § 2 Abs . 1 S . 2, Abs . 2 S . 1 Nr . 5 HVSG; § 3 Abs . 1 Nr . 4 SVerfSchG . 43 Nils Bergemann, Nachrichtendienste und Polizei, in: Handbuch des Polizeirechts (Fn . 20), 1109, 1126; Marie-Theres Tinnefeld / Benedikt Buchner / Thomas Petri, Einführung in das Datenschutzrecht, 2012, 302; zur sog . Verpolizeilichung der Nachrichtendienste Claus Kreß / Nikolaos Gazeas, Terrorismus, in: Europäisches Strafrecht, 2011, hg . von Ulrich Sieber / Franz-Hermann Brüner et al ., § 19 Rn . 61; Michael Kniesel, „Innere Sicherheit“ und Grundgesetz, ZRP 1996, 482, 483; Hefendehl (Fn . 13), 208 mwN in Fn . 4 .

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sondern in letzter Konsequenz überflüssig .44 Daher ist das Urteil des BGH zu den sog . legendierten Polizeikontrollen nur folgerichtig . Der BGH entschied, dass die polizeirechtliche und die strafprozessuale Ermächtigungsgrundlage für Durchsuchungen nebeneinander anwendbar seien . Eine scharfe Abgrenzung sei weder notwendig noch möglich, da die Grenzen zwischen präventivem Handeln und repressivem Vorgehen fließend seien und sich je nach Sachlage kurzfristig und kaum vorhersehbar änderten .45 Diese Rechtsprechung lässt sich zwar als Rezeption der Befugnisangleichung durch den Gesetzgeber deuten;46 jedoch betrifft das Urteil gerade keine der parallel laufenden informationellen Vorfeldbefugnisse, sondern die verschiedenen Voraussetzungen – insb . einem Richtervorbehalt – unterliegende Durchsuchung . Der zunehmenden Schwierigkeit der Unterscheidung geschuldet und durch die Rechtsprechung von der Notwendigkeit der Abgrenzung befreit, differenziert die Verwaltung folglich ebenfalls weniger zwischen den unterschiedlichen Rechtsregimen . Bei der Wahl zwischen dem präventiven und repressiven Instrumentenkasten47 wird die Polizei je eher den präventiv-polizeilichen Ermächtigungsgrundlagen den Vorzug geben, umso stärker sie sich der Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft entziehen, Beschuldigtenrechte umgehen und niedrigere Eingriffsvoraussetzungen anvisieren möchte .48 Schließlich tragen auch die angesprochene Europäisierung und Internationalisierung und der stetig wachsende Einfluss des Unionsrechts auf das Sicherheitsrecht49 dazu bei, dass Prävention und Repression weiter „verschwimmen“ . Den meisten ausländischen Rechtsordnungen ist die strikte Trennung zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung fremd . Stattdessen setzen sie einheitlich auf „Rechtsdurchsetzung“ (law enforcement) .50 Diesen Ansatz übernimmt das Unionsrecht mit der „Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten“ .51 Im Zuge der – soweit überhaupt erforderlichen – Umsetzung in nationales Recht gibt der Gesetzgeber die Unterscheidung zwischen Prävention und Repression weiter auf .52 Dominik Brodowski, Verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht, 2016, 489; Roggan (Fn . 12), 52 . 45 BGH, NJW 2017, 3173, 3176 . 46 Markus Löffelmann, Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, Urteil vom 26 .04 .2017 (2 StR 247/16), JR 2017, 596, 597 . 47 Roggan (Fn . 12), 54 . Mit weiteren Beispielen Dominik Brodowski / Matthias Jahn / Charlotte Schmitt-Leonardy, Gefahrenträchtiges Gefährderrecht, GSZ 2018, 7, 8 . 48 Roggan (Fn . 44), aaO; Lenk, Vertrauen ist gut, legendierte Kontrollen sind besser …, StV 2017, 692, 695 f .; ähnlich Wick (Fn . 7), 222; Hefendehl (Fn . 13), 219 f .; Brodowski (Fn . 44), 352 ff . 49 Vgl . Annette Elisabeth Töller, Dimensionen der Europäisierung – Das Beispiel des Deutschen Bundestages ZParl 35 (2004), 25, 33; Puschke (Fn . 11), 37 ff . 50 Christoph Gusy / Christoph Ebeling, Die grundrechtliche Basis öffentlicher Sicherheit in Europa, in: Kugelmann/Rackow (Fn . 18), 25, 26; Kugelmann (Fn . 5), 304 . 51 Exemplarisch gewählte Formulierung der RL 2016/680 (Fn . 28) . Zum „holistischen“ Ansatz des Unionsrechts, vgl . Brodowski (Fn . 44), 417 ff . mwN . 52 Zur Diskussion um die Umsetzung der RL 2016/680 (Fn . 28) vgl . Paul Johannes, Das neue Datenschutzrecht bei Polizei und Justiz, hg . von Paul Johannes / Robert Weinhold, 2018, 51 f .; Heinrich Wolff, Dogma44

Sicherheit neu gedacht

Diese Entwicklungen lassen die Frage nach dem Inhalt der staatlichen Sicherheitsgewährleistung in einem anderen Licht erscheinen . Sicherheit mit der öffentlichen Sicherheit gleichzusetzen,53 erscheint vor dem Hintergrund der Prävention zwar naheliegend, greift aber zu kurz . Die Verwendung des polizeirechtlich konnotierten Begriffs birgt nicht nur die Gefahr, den eigenständigen Beitrag anderer Rechtsgebiete auszublenden54, sondern darüber hinaus auch den Gegenstand der „Staatsaufgabe Sicherheit“ zu bagatellisieren . Denn das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst jede Ordnungswidrigkeit, jede nicht befolgte Nebenbestimmung von Verwaltungsakten ebenso wie sämtliche privaten Rechte55 . Nichtsdestotrotz entfalten die Bestandteile der öffentlichen Sicherheit, namentlich der Rechtsgüterschutz und die Normstabilisation, auch für das Sicherheitsrecht Bedeutung .56 Von einer bereits geänderten Konzeption von Sicherheit zu sprechen, ist angesichts der sich noch wandelnden Sach- und Rechtslage verfrüht . Das Sicherheitsrecht befindet sich nach wie vor in Bewegung, wobei einzelne Tendenzen sich gegenseitig bedingen und verstärken . Dieser ganzheitliche Ansatz des Sicherheitsrechts birgt Vorteile, bringt aber auch Nachteile mit sich .

tische Umsetzungsfragen der europäischen Datenschutzreform aus Sicht der Länder, BayVBl 2017, 797; ders . (Fn . 28), Rn . 245 ff .; Tobias Herbst, RL 2016/680, in: DSGVO, BDSG, hg . von Martin Esser / Philipp Kramer et al ., 2018, Rn . 9 . 53 So Gärditz (Fn . 1), 1; Bäcker (Fn . 39), 1; Byungwoog Park, Wandel des klassischen Polizeirechts zum neuen Sicherheitsrecht, 2013, 32 f .; Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2003, 125 ff . 54 Volkmar Götz, Innere Sicherheit, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd . IV, hg . von Josef Isensee / Paul Kirchhof, 3 . Aufl . 2006, § 85 Rn . 4 . 55 Wenngleich die Polizei nur eingeschränkt zum ausschließlichen Schutz privater Rechte tätig werden darf, vgl . Pieroth/Schlink/Kniesel (Fn . 8), § 5 Rn . 42 ff . 56 Die Entwicklung eines genuin öffentlich-rechtlichen Sicherheitsbegriff fordert Benjamin Rusteberg, Auf der Suche nach dem verlorenen Normalzustand, in: 40 Jahre „Deutscher Herbst“ – Neue Überlegungen zu Sicherheit und Recht, hg . von Tobias Brings-Wiesn / Frederik Ferreau, 2019, 191, 202 .

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IV.

Chancen und Risiken des Sicherheitsrechts

Als Kennzeichen des Sicherheitsrechts wurde die Prävention herausgestellt, die verbreitet als „Erosion“57, „Entgrenzung“58 oder „Abschied vom […] Rechtsstaat“59 kritisiert wird . Dramatische Verkürzungen wie „Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat“60 scheinen zwar übertrieben, legen ihren Finger aber in die Wunde: Die klassischen Mechanismen rechtsstaatlicher Programmierung des Verwaltungshandelns büßen angesichts der neuen Herausforderungen und Ausrichtung des Rechts an Steuerungsfähigkeit ein .61 Dabei ist es ein vordringliches Anliegen des Sicherheitsrechts, staatliches Handeln nicht nur einseitig zu begrenzen, sondern zugleich Handlungsformen, Instrumente und Maßnahmen zur Verfügung zu stellen, die der Exekutive die effektive Gewährleistung von Sicherheit ermöglichen (sog . Bereitstellungsfunktion) .62 Risiken des neuen Sicherheitsrechts lassen sich vor allem an zwei Stellen ausmachen: Zum einen gelangen althergebrachte Steuerungsmechanismen an ihre Grenzen .63 Zum anderen werden die Begrenzungen der einzelnen Rechtsgebiete gegeneinander ausgespielt und verlieren so ihre Wirkung . 1.

Risiken: Klassische Begrenzungskriterien verlieren an Steuerungskraft

Die naheliegendste Steuerungsmöglichkeit staatlichen Handelns ist der Vorbehalt des Gesetzes . Er verpflichtet den Gesetzgeber selbst festzulegen, wann und unter welchen Voraussetzungen in Grundrechte eingegriffen werden darf .64 Im Sicherheitsbereich wird ein zunehmender „Aktionismus“ des Gesetzgebers kritisiert, der den status quo des exekutiven Handelns normiere oder den Forderungen nach mehr sicherheitsbehördlichen Befugnissen nachgebe, ohne selbst Einschränkungen und insb .

Hans-Heinrich Trute, Die Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge, in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch – Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, hg . von Wilfried Erbguth / Friedrich Müller et al ., 1999, 403 . 58 Manfred Baldus, Entgrenzungen des Sicherheitsrechts – Neue Polizeirechtsdogmatik?, Die Verwaltung 47 (2014), 1; Markus Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2012 . 59 Friedrich Schoch, Abschied vom Polizeirecht des liberalen Rechtsstaats, Der Staat 43 (2004), 347; Bernd Schünemann, Die Zukunft des Strafverfahrens – Abschied vom Rechtsstaat?, ZStW 119 (2007), 945 . 60 Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, hg . von Stefan Huster / Karsten Rudolph, 2008 . 61 Allgemein Klaus Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Wachsende Staatsaufgaben – Sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, hg . von Dieter Grimm, 1990, 51 ff . 62 Zu den Funktionen des Rechts allgemein Claudio Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), 335 mwN . 63 So auch Brodowski (Fn . 44), 490 . 64 BVerfGE 120, 378, 408; 133, 277, 345; Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, hg . von Matthias Herdegen / Hans Klein, 83 . EL 04/2018, Art . 20 Rn . 75 ff . mwN . 57

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grundrechtliche Sicherungen vorzusehen .65 Daher übernahm in den letzten Jahren das BVerfG verstärkt die Rolle des Begrenzers, das dem Gesetzgeber „in den Arm fiel“66 und die „wuchernde Sicherheitsgesetzgebung zurückstutzte“67 . Jedoch versuchte das BVerfG durch Erweiterung und Präzisierung des Gesetzesvorbehalts insb . im Datenschutzrecht den Ball an den Gesetzgeber zurückzuspielen .68 Für den Bereich des Informationsaustausches bspw . „verdoppelte“ es das Erfordernis einer spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, indem es je eine Befugnisnorm zur Übermittlung und eine zum Empfang der Daten verlangt .69 Eng verbunden mit dem Vorbehalt des Gesetzes ist der Bestimmtheitsgrundsatz . Es reicht nicht aus, dass der Gesetzgeber Regelungen trifft, sondern diese müssen hinreichend bestimmt sein, d . h . bereichsspezifisch, normenklar und präzise Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs festlegen . Dies soll sicherstellen, dass sich der betroffene Bürger auf die Eingriffe einstellen kann, die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle durchführen können .70 Im Sicherheitsbereich steigen einerseits aufgrund der Eingriffsintensität der Maßnahmen die Bestimmtheitsanforderungen .71 Andererseits lässt sich staatliches Handeln umso schwieriger im Vorhinein determinieren, je weiter es im Vorfeld stattfindet . Zukunftsgerichtete und komplexe Aktivitäten wie die von Sicherheitsbehörden lassen sich gedanklich nicht vollständig vorwegnehmen und daher nur begrenzt in generell-abstrakte Normen fassen .72 Hinzu kommt, dass im Sicherheitsrecht die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe „nur sehr eingeschränkt im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle“ möglich ist .73 Schließlich wird angeführt, dass die Sicherheitsbehörden gerade angesichts neuer und unbekannter Bedrohungsszenarien über einen gewissen Spielraum verfügen müssten, um im Ernstfall schnell, flexibel und situationsadäquat reagieren zu können und sich daher eine zu starre Normierung verbiete .74 Rusteberg (Fn . 56), 198 f .; Guy Beaucamp, Ist die Kritik am BKA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts plausibel?, DVBl 2017, 534, 541 . 66 So die Einschätzung des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Mazière, vgl . Constanze Kurz, Kastrierter Trojaner hört mit, FAZ v . 02 .05 .2016, 12 . 67 Beaucamp (Fn . 65), 539 ff ., insb . 541; Wolfgang Durner, Anmerkung zu BVerfG, Urt . v . 20 .04 .2016–1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09, DVBl 2016, 780, 782 . 68 Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, 218 . 69 BVerfGE 130, 151, 184; 141, 220, 334; ausdrückliche Benennung als „Doppeltürmodell“ erstmals in BVerfG NJW 2014, 1581 . 70 St . Rspr ., vgl . nur BVerfGE 100, 313, 359 f .; 110, 33, 53; 113, 348, 375 . 71 Durner (Fn . 67), 784 . 72 Grimm (Fn . 68), 218 ff . 73 BVerfGE 141, 220, 265, dazu Benjamin Rusteberg, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtsgesetz, KritV 2017, 24, 33 . 74 Fredrik Roggan, Die „Technikoffenheit“ von strafprozessualen Ermittlungsbefugnissen und ihre Grenzen, NJW 2015, 1995 mwN . 65

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Weiter begrenzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz staatliches Handeln dahingehend, dass es einem legitimen Ziel dienen und zur Erreichung desselben geeignet, erforderlich und angemessen sein muss . Schützenswerte Positionen, insb . Grundrechte, dürfen nur beeinträchtigt werden, wenn dafür hinreichend gewichtige Gründe vorliegen und sich die Beschränkung in Abwägung mit dem Ziel als angemessen darstellt . Dafür kommt es auf den Rang und die Bedeutung der kollidierenden Rechtsgüter, die Intensität der Einschränkung und das Ausmaß der drohenden Beeinträchtigung an .75 Bei den vorherrschenden Anschlagsszenarien, bei denen hundertfach Leib und Leben von Personen und Sachen von bedeutendem Wert und u . U . die Sicherheit und der Bestand des Bundes oder eines Landes76 bedroht sind, lassen sich kaum höherwertige Rechtsgüter vorstellen . Der Verhältnismäßigkeitsmaßstab verliert nicht nur angesichts der potenziellen massiven Schäden, sondern auch durch die Eigendynamik des Vorsorgegedankens an Begrenzungskraft: Da Vorbeugungsmaßnahmen immer potenzielle Schäden verhindern, sind sie stets verhältnismäßig .77 Mit der Zunahme der quantitativen und qualitativen Bedeutung des polizeilichen Informationsrechts spielt auch einer der grundlegenden Sicherungsmechanismen des Datenschutzrechts, der sog . Zweckbindungsgrundsatz, eine immer wichtigere Rolle . Nach diesem dürfen personenbezogene Daten nur zu einem hinreichend bestimmten Zweck erhoben und nur zu diesem verwendet werden .78 Mit der schleichenden Verwischung traditioneller Zwecke polizeilichen Handelns verliert auch der Zweckbindungsgrundsatz an Steuerungskraft .79 Außerdem werden verstärkt Ausnahmen vom Zweckbindungsgrundsatz, sog . Zweckänderungen zugelassen, wenn die Erhebung für den geänderten Zweck ebenfalls rechtmäßig gewesen wäre .80 . Mit dem sog . hypothetischen Ersatzeingriff wird eine originär strafprozessuale Figur auf andere Bereiche des Sicherheitsrechts übertragen .81 Zwar wird so ein neuer Steuerungsmechanismus für den präventiven Bereich eingeführt, dessen Effektivität aber gleichzeitig konterkariert: Denn ein Kriterium, das an die unterschiedliche Reichweite der Kompetenzen in den verschiedenen Teilgebieten des Sicherheitsrechts anknüpft, muss durch die bereichsübergreifende Befugnisangleichung an Steuerungskraft verlieren .

Grimm (Fn . 68), 215 . Vgl . nur BVerfGE 141, 220, 267 . Poscher (Fn . 4), 349; Christoph Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, VVDStRL 64 (2005), 7, 45 ff .; Möstl (Fn . 53), 229 ff .; Trute (Fn . 57), 408 ff .; Dieter Neumann, Vorsorge und Verhältnismäßigkeit, 1994, 115 ff ., insb . 142 . Zur generellen Ungeeignetheit der Verhältnismäßigkeit als objektiver Maßstab, Durner (Fn . 67), 782 . 78 St . Rspr . seit BVerfGE 65, 1, 62 . 79 Dennis Bodenbenner, Präventive und repressive Datenverarbeitung unter besonderer Berücksichtigung des Zweckbindungsgedankens, 2017, 11, 93 ff .; Wolfgang Ehrenberg / Wilfried Frohne, Doppelfunktionale Maßnahmen der Vollzugspolizei, Kriminalistik 2003, 737 (744 f .) mwN; aA Brodowski (Fn . 44), 349 . 80 Seit BVerfGE 125, 260, 333 . 81 Markus Löffelmann, Novellierung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes, BayVBl 2017, 253, 262 . 75 76 77

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Als weiteres den Informationsfluss zwischen Sicherheitsbehörden begrenzendes Prinzip wird der Trennungsgrundsatz postuliert . Demnach sind die Verfassungsschutz- und Polizeibehörden funktionell, organisatorisch, kompetenziell und informationell getrennt .82 Durch die verstärkte Kooperation und Vernetzung, gemeinsame Projektdateien, sowie der zunehmenden Überschneidung der Aufgabenbereiche und Angleichung der Befugnisse bekommt diese Trennwand immer mehr Risse .83 2.

Chancen: Einheitliche und kohärente Regelung

Das Sicherheitsrecht birgt gleichzeitig aber auch die Chance, auf rechtsstaatliche und grundrechtliche Gefährdungslagen einzugehen und den Regelungsbereich auf kohärente und widerspruchsfreie (Rechts-)Grundlagen zu stellen . Statt des einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes könnten allgemeine Abwägungsleitlinien entwickelt werden, die typische Regelungssituationen vorkonturieren und je nach Eingriffsintensität abgestufte Eingriffsvoraussetzungen vorsehen . Ansatzweise geschieht dies bereits bei der Zweckänderung von personenbezogenen Daten . Bspw . werden für die Übermittlung zwischen verschiedenen Behördentypen erhöhte oder abgestufte Anforderungen vorgesehen . Andere Konstellationen betreffen etwa den Schutz besonders sensibler Daten oder aus besonderen Erhebungssituationen stammende Daten .84 Die hohen Anforderungen des BVerfG an den Bestimmtheitsgrundsatz überfordern den Gesetzgeber regelmäßig .85 Stattdessen sollten die Eingriffsbefugnisse behutsam flexibilisiert und die verdeckten Überwachungsmaßnahmen so technikoffen gestaltet werden, dass nicht jede Neuerung, wie etwa das Darknet,86 die Sicherheitsbehörden vor massive Probleme stellt . Statt den Erhebungszweck weit i . S . e . einheitlichen Staatsaufgabe Sicherheit87 oder einer umfassenden polizeilichen Aufgabe zu verstehen, wird

Codrin Timo, Das Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz, VR 2017, 121, 122; Alexander Hirsch, Die Kontrolle der Nachrichtendienste, 1996, 95 mwN . 83 Lothar Jachmann, Das Konkurrenzverhältnis von Polizei und Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, KritV 1994, 252, 255; Veith Mehde, Terrorismusbekämpfung durch Organisationsrecht, JZ 2005, 815, 819; Weisser (Fn . 30), 144; Martin Morlok / Julian Krüper, Sicherheitsgewährleistung im kooperativen Verfassungsstaat, in: Auf der Suche nach neuer Sicherheit, hg . von Hans-Jürgen Lange / Peter H . Ohly et al ., 2 . Aufl . 2009, 331, 335 . 84 Insb . Daten aus Online-Durchsuchungen und großen Lauschangriffen, vgl . mwN Bodenbenner (Fn . 79), 177 ff . 85 Thorsten Kingreen / Jürgen Kühling, Weniger Schutz durch mehr Recht: Der überspannte Parlamentsvorbehalt im Datenschutzrecht, JZ 2015, 213, 215; kritisch auch Ulf Buermeyer, Drs . 18(4)806 E, 2 „Copy & Paste“–Technik des Gesetzgebers . 86 Benjamin Krause, Ermittlungen im Darknet – Mythos und Realität, NJW 2018, 678, 679 . 87 Rupert Scholz / Rainer Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, 123 . 82

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der Zweck eng verstanden und je nach Grad der Zweckänderung abgestufte Anforderungen gestellt88 . Dagegen vertritt das BVerfG im BKA-Urteil mit der zweckkonformen Weiternutzung einen weiten Zweckbegriff .89 Schließlich sollten Wertungswidersprüche durch Angleichung der präventiven und repressiven Eingriffsschwellen90 und des Grundrechtsschutzes durch Organisation und Verfahren vermieden91 und ein „Befugnis-Shopping“92 so überflüssig werden . Praktisch stellt sich freilich das Problem der unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen93 . Der Trennungsgrundsatz in seiner informationellen Ausprägung sollte als Ausfluss des Gewaltenteilungsprinzips ernst genommen werden .94 Gleichzeitig dürfen die aufgrund der Zentralisierung zunehmenden Doppelzuständigkeiten nicht dazu führen, dass Daten nicht bzw . nur unzureichend erhoben oder an die zuständigen Stellen weitergegeben werden und mehrere Behörden daher simultan die gleiche Zielperson überwachen . Die Behördenzusammenarbeit muss neu gestaltet und effektuiert werden .95 V.

Ausblick: Ungebremste Dynamik des Sicherheitsrechts

Es zeigt sich, dass alle drei Gewalten der Sicherheit einen immer höheren Stellenwert einräumen . Momentan geht in der allgemeinen, insb . der parlamentarischen Diskussion unter, dass Sicherheit immer nur relativ in Bezug auf Gefahrenlagen bestimmt werden kann und dass absolute Sicherheit als Idealzustand unerreichbar bleibt .96 Gerade

Bodenbenner (Fn . 79), 96 f ., 119 mwN . BVerfGE 141, 220, 325 ff .; dazu Dirk Müllmann, Zweckkonforme und zweckändernde Weiternutzung, NVwZ 2016, 1692; Thomas Schwabenbauer, Informationsverarbeitung im Polizei und Strafverfahrensrecht, in: Handbuch des Polizeirechts (Fn . 20), 763, 777 . 90 Brodowski (Fn . 44), 293 ff . 91 Das gilt v . a . aber nicht nur für den Richtervorbehalt, wie in BGH, NJW 2017, 3173 und BGH, NJW 2015, 2878 . 92 Dominik Brodowski, Anmerkung zu BGH, Urt . v . 26 .4 .2017–2 StR 247/16, JZ 2017, 1124, 1126; Brodowski/Jahn/Schmitt-Leonardy (Fn . 44), aaO . 93 S . dazu nur mwN Schwabenbauer (Fn . 89), 1070 ff . 94 Bereits BVerfGE 65, 1, 69; dazu Hans Peter Bull, Informationsrecht ohne Informationskultur?, RDV 2008, 47, 50; Michael Kloepfer, Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlaß, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?, DJT 1998, D 5, D 54 f .; Erhard Denninger, Einführung in Probleme des Amtshilferechts, insbesondere im Sicherheitsbereich, JA 1980, 280, 281, 284 . 95 Das gilt auch für die europäische Ebene, vgl . Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 28 .4 .2015, Die Europäische Sicherheitsagenda, VOM (2015) 185 final, abrufbar unter https://ec .europa .eu/home-affairs/ sites/homeaffairs/files/e-library/documents/basic-documents/docs/eu_agenda_on_security_de .pdf (Stand 29 .9 .18) . 96 Stefan Middel, Innere Sicherheit und präventive Terrorismusbekämpfung, 2007, 20, 85 ff .; Hans-Peter Bull, Visionen und Wirklichkeit einer Kriminalitätspolitik für Europa, KritV 1995, 313, 316 . 88 89

Sicherheit neu gedacht

deswegen ist und bleibt das Sicherheitsrecht eines der dynamischsten Rechtsgebiete .97 Dies gilt nicht nur für die europäischen Bestrebungen hin zu einer „Sicherheitsunion“98, sondern auch auf nationaler Ebene . Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht v . a . in Hinblick auf die divergierenden Eingriffsbefugnisse in den verschiedenen Teilbereichen des Sicherheitsrechts unter Berücksichtigung der negativen Konvergenz- und Synergieeffekte . Diese Harmonisierung könnte – quasi als Nebenwirkung des Reformbedarfs – im Zuge des geplanten Musterpolizeigesetzes99 angegangen werden . Nicht zuletzt stellt sich weiter die Frage nach der verfassungsrechtlichen Durchdringung des Sicherheitsrechts .

Dieter Kugelmann, Entwicklungslinien eines grundrechtsgeprägten Sicherheitsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 47 (2014), 25 (28 f .) . 98 Näher Judith Sikora, Die schwierige Lage des Rechts im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Brings-Wiesn/Ferreau (Fn . 56), 59, 61 ff . 99 Vgl . veröffentlichte Beschlüsse der 206 . Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 12 .–14 .06 .17 in Dresden, abrufbar unter https://www .innenministerkonferenz .de/ IMK/DE/termine/to-beschluesse/2017-06-14_12/beschluesse .pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Stand 29 .9 .2018), 43; Kurt Graulich, Aufgaben und Befugnisse des Bundeskriminalamts im digitalen Rechtsraum, KriPoZ 2017, 278, sieht ein solches bereits im neuen BKAG, aA Buermeyer (Fn . 85), 3 . 97

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Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle? STEPHAN WAGNER (Münster)

Im folgenden Beitrag sollen vom normativen und dogmatischen Befund ausgehend die Begriffe der Sicherheit und Freiheit als Bestandteile (grund-)rechtlicher Abwägungsentscheidungen analysiert werden . Dabei soll gezeigt werden, dass diese auch eine affektive Komponente besitzen, und daran anschließend deren rechtliche und tatsächliche Relevanz untersucht werden . Schließlich soll am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung auf die Gefahren und mögliche Ansätze ihrer Bewältigung hingewiesen werden, die damit aus psychologischer Sicht für eine rationale (rechtliche) Entscheidungsfindung verbunden sind . I.

Sicherheit und Freiheit: Normativer Befund

1.

Sicherheit

Wenn im Folgenden vom Begriff der Sicherheit die Rede ist, ist zunächst die innere Sicherheit gemeint . Die ideengeschichtlich und materiell mit der inneren eng verbundene äußere Sicherheit, die etwa in Art . 24 Abs . 2 GG erwähnt ist, findet sich damit ausgeklammert, obwohl die materielle Konvergenz beider Begriffe in letztlich eine (im Endpunkt) physische Sicherheit der Bürger im Angesicht von Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus heute aktueller zu sein scheint denn je . Diese Begrenzung ist schon deshalb notwendig, aber auch zulässig, da die im Folgenden in den Blick zu nehmenden, zunächst Konflikt- und dann Abwägungsverhältnisse von Sicherheit und Freiheit sich im Inneren, d . h . im zivilen Leben auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zeigen . Der Begriff der inneren Sicherheit ist im Grundgesetz nirgends explizit verankert, zu selbstverständlich fungiert ihre Gewährleistung als Grundlage der von ihm etablierten

90

Stephan Wagner

Rechts- und Friedensordnung .1 Er weist jedoch einen breiten materiellen Überschneidungsbereich mit dem Begriff der öffentlichen Sicherheit auf .2 Bei diesem handelt es sich um die spezifisch polizeirechtlich operable Variante der inneren Sicherheit, welche deren polizeirechtlich zu schützenden Bestandteile inkorporiert . Der Begriff der öffentlichen Sicherheit wird im Grundgesetz dreimal erwähnt, zweimal in Art . 13 GG und einmal in Art . 35 Abs . 2 S . 1 GG . Nach allgemeiner Definition umfasst die öffentliche Sicherheit die Unversehrtheit der Rechtsordnung, die subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen und die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates .3 Die Gefährdung dieser Schutzgüter fungiert im Polizeirecht als eingriffsermächtigende Tatbestandsvoraussetzung für ein polizeiliches Einschreiten und damit verbundene Eingriffe in grundrechtlich geschützte Freiheitssphären . Für den verfassungsrechtlich relevanten Begriff der (inneren) Sicherheit lassen sich hieraus wesentliche Begriffsinhalte gewinnen, er ist mit diesem aber nicht identisch .4 Zu seinen Kernbestandteilen zählen die materiell auch schon von Hobbes markierten, unter Geltung des Grundgesetzes durch grundrechtliche Schutzpflichten objektivwie subjektiv-rechtlich abgesicherten Grundrechte der Bürger sowie die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates .5 Hierzu zählen ferner die hinter den Normen des einfachen, namentlich Straf- und öffentlichen Rechts stehenden Schutzgüter und -interessen, sofern sie nicht ohnehin bereits den ersten beiden Kategorien unterfallen . Wenn §§ 29 ff . BtMG beispielsweise (auch) die Volksgesundheit schützen,6 dann ist dieses (von der Gesundheit des Einzelnen gerade verschiedene) Schutzgut Bestandteil der inneren Sicherheit im verfassungsrechtlichen Diskurs . Das Beispiel weist bereits auf eine gewisse Unschärfe, die dem Begriff der inneren Sicherheit anhaftet: Während er im Kern auf die physische Sicherheit der Bürger nach Hobbesscher Prägung zurückgeführt und in fundamentalen Grundrechten wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum verfassungsnormativ verortet werden kann, diffundiert dieses materielle Substrat zunehmend aus, je abstrakter und distanzierter es von einfachrechtlichen Normen in den Blick genommen wird . Ob daher das Schutzgut bzw . -interesse jeder Norm (oder auch nur jeder Strafnorm), die als Bestandteil der Rechtsordnung der öffentlichen Sicherheit unterfällt, zugleich der inneren Sicherheit i . e . S . zuzurechnen ist, erscheint daher vor diesem Hintergrund jeden-

Christian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl 2003, 1096, 1096 f . 2 Volkmar Götz, Innere Sicherheit, in: Handbuch des Staatsrechts, hg . von Josef Isensee / Paul Kirchhof, Bd . IV, 3 . Aufl . 2006, § 85 Rn . 4 . 3 Erhard Denninger, Polizeiaufgaben, in: Handbuch des Polizeirechts, hg . von Matthias Bäcker / dems . / Kurt Graulich, 6 . Aufl . 2018, D . Rn . 16 ff . 4 Götz (Fn . 2), Rn . 4 . 5 Götz (Fn . 2), Rn . 1 . 6 Näher Mustafa Oğlakcıoğlu, in: Münchener Kommentar zum StGB, hg . von Wolfgang Joecks / Klaus Miebach, Bd . 6, 3 . Aufl . 2017, Vorb . zu § 29 BtMG Rn . 7 ff . 1

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

falls fraglich – man denke an abstrakte Gefährdungsdelikte wie den Missbrauch von Titeln nach § 132a StGB oder die Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels nach § 284 StGB . Zu den Kernbestandteilen der inneren Sicherheit werden demnach jedenfalls die Bekämpfung der Kriminalität – wobei insofern die gerade vorgenommene Einschränkung zu beachten ist – sowie der Schutz der physischen Integrität der Bürger und ihres Eigentums vor Übergriffen anderer, insbesondere in Form von Gewalt gezählt .7 Die insoweit verfassungsrechtlich ausgedeutete innere Sicherheit kann wiederum mithilfe präventiv oder repressiv ausgerichteter Normen, m . a . W . also durch das Gefahrenabwehrrecht i . e . S . und durch das Strafrecht geschützt werden . 2.

Freiheit

Dieser Befund leitet über zur Freiheit . Sie ist seit Locke je nach Sichtweise das natürliche staatstheoretische Antonym respektive Komplement der Sicherheit . Gefährdungen und Beeinträchtigungen der Sicherheit im hier maßgeblichen Verständnis erfolgen durch menschliche Handlungen, ihr Schutz folglich durch präventiv oder repressiv agierende Unterbindung dieser Handlungen durch den Staat . Sicherheit kann ferner durch den Zugriff auf Unbeteiligte maximiert werden, die selbst keine Gefahren für die Sicherheit setzen, mittels deren Inanspruchnahme der Staat aber zu einer effektiveren Abwehr solcher Gefahren in der Lage ist .8 In all diesen Fällen bedingt die Gewährleistung von Sicherheit die Einschränkung von Freiheit . Freiheit meint in der Rechtsordnung des Grundgesetzes zuallererst grundrechtsgeschützte Freiheit . Im Gegensatz zur Sicherheit findet sich das Freiheitsprinzip im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes ausführlich und umfassend verfassungsnormativ hinterlegt . In der Folge müssen sich staatliche Eingriffsakte, die dem Schutz der inneren Sicherheit dienen, vor den Grundrechten als Freiheitsrechten rechtfertigen . Dies resultiert wiederum in Verbindung mit dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt in einem umfangreichen Normrepertoire des Gefahrenabwehrrechts und Strafrechts, das zu sicherheitsgewährleistenden Grundrechtseingriffen ermächtigt . II.

Sicherheit und Freiheit: Dogmatischer Befund

Unmittelbar gegenüber treten sich Sicherheit und Freiheit in Verhältnismäßigkeitsprüfungen, die normative Entscheidung über das reale Ausmaß ihrer jeweils konkurrierenden Verwirklichung ist dogmatisch in ihnen lokalisiert .

7 8

Götz (Fn . 2), Rn . 5, 8; Calliess (Fn . 1), 1001 f . Dazu Denninger (Fn . 3), Rn . 140 ff .

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1.

Abwägung der materiellen Sicherheits- und Freiheitsinteressen

Im Rahmen von polizeilichen Ermessensentscheidungen und ihrer richterlichen Kontrolle erfolgt diese Verhältnismäßigkeitsprüfung jeweils konkret, individuell und real, will heißen: nach Maßgabe der tatsächlichen Betroffenheit der sich in der Realität gegenübertretenden materiellen Freiheits- und Sicherheitsinteressen . Im Fall einer bewaffneten räuberischen Erpressung geht es für die einschreitenden Polizisten m . a . W . um den Schutz des (im Extremfall) konkreten Lebens, der konkreten Gesundheit und der konkreten Willensfreiheit des realen Opfers sowie eines konkreten Bargeldbestandes in seiner Brieftasche, auf der anderen Seite um die ganz konkrete Handlungsfreiheit, die konkrete Gesundheit und (im Extremfall) das konkrete Leben des realen Täters . Demgegenüber erfolgt die grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung als verfassungsrechtliches Hintergrundprogramm abstrakt-genereller Sicherheitsgesetze, insbesondere, aber nicht nur strafrechtlicher Provenienz, distanzierter, aber nicht losgelöst von den tatsächlichen Betroffenheiten . Die Abwägung der konkurrierenden Grundrechtspositionen erfolgt abstrakt-generell, besitzt aber dennoch mit den von den jeweiligen Normen in der Realität erfassten Fallkonstellationen ein materielles Substrat . Wenn also eine Norm wie § 250 Abs . 2 Nr . 1 StGB (i . V . m . §§ 253, 255 StGB) die bewaffnete räuberische Erpressung mit der Strafandrohung – und einem korrespondierenden Freiheitseingriff – einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren belegt, abstrahiert sie von dem genannten Fallbeispiel und damit auch von den konkret und individuell betroffenen Interessen und (Grund-)Rechtsgütern, will aber dennoch genau diese Fälle für die Zukunft verhindern und die insoweit jeweils betroffenen materiellen Interessen und Rechtsgüter damit auch in genau dieser Weise schützen respektive einschränken .9 Im sicherheitsrechtlichen Standardfall kollidieren damit jeweils materielle Freiheits- und Sicherheitsinteressen miteinander . Sie können mit den üblichen (verfassungs-)rechtlichen Lösungsroutinen zuverlässig und belastbar abgewogen werden . Im Rahmen der erforderlichen Abwägung materieller Grundrechtspositionen löst sich im Übrigen der formal-dogmatische Vorrang der Freiheit vor der Sicherheit auf: Sicherheit und Freiheit sind an dieser Stelle keine kategorischen Antonyme, keine strukturellen Gegenspieler mehr, sondern gehen in ausschließlich relational zu bestimmenden und sich kontingent gegenübertretenden materiellen Interessen auf . An dieser Stelle besteht keine strukturelle Differenz, keine prinzipielle, abstrakt-formale Höhergewichtung des einen vor dem anderen .10

9 10

Vgl . Ivo Appel, Verfassung und Strafe, 1998, 437, 453 f ., 458 ff . Siehe auch Calliess (Fn . 1), 1102 ff .

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

2.

Einbeziehung sämtlicher Belange und Interessen in die Abwägung

Die auf Ebene der Verhältnismäßigkeit i . e . S . erforderliche umfassende Güter- und Interessenabwägung weist jedoch über diese materielle, gewissermaßen handfeste Bedeutung des Sicherheits- und Freiheitsbegriffs hinaus . Sie ist sowohl auf abstrakter als auch auf konkreter Ebene auf eine Einbeziehung grundsätzlich sämtlicher betroffener Belange und Interessen ausgerichtet .11 Diese sind nicht auf die jeweils kollidierenden materiellen Freiheits- und Sicherheitsinteressen beschränkt . Zwar ist in dem genannten Beispiel eines bewaffneten Raubes der Konflikt der materiellen Interessen und Schutzgüter derart akut und besitzen diese zudem ein derart hohes Gewicht, dass sich die zu treffende Abwägungsentscheidung regelmäßig auf diese konzentriert und andere, zumal abstrakte Belange und Interessen vergleichsweise selten eine Rolle spielen . Die Schleyer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeigt aber beispielsweise, dass dies keineswegs immer gilt: Hier besaß in einem hinsichtlich der betroffenen Schutzgüter grundsätzlich vergleichbaren Fall letztlich der abstrakte Belang der Staatsräson, das Interesse des Staates, nicht den Anschein zu erwecken, von Terroristen erpressbar, und von diesen nicht kalkulierbar zu sein, letzten Endes das entscheidende Gewicht,12 das sich sogar – wie der tragische Ausgang des Falls offenbarte – gegenüber dem Leben des Opfers durchsetzte . Erst recht gilt für gesetzgeberische Abwägungen, dass diese grundsätzlich auf eine umfassende Einbeziehung sämtlicher betroffener Belange und Interessen ausgerichtet sind . Neben – wie gezeigt ebenfalls abstrahiert erfassten – materiellen Sicherheitsund Freiheitsinteressen erstrecken sich diese etwa auf so abstrakte Schutzgüter und Interessen wie die Volksgesundheit (§§ 29 ff . BtMG), die Sicherheit des Rechtsverkehrs (§ 267 StGB) oder das Vertrauen der Bevölkerung in einen wehrhaften Rechtsstaat (§ 145d StGB) . Bereits mit der Auswahl des Schutzguts bzw . -interesses der Norm, das wie gesehen ein sehr abstraktes sein und sich von dahinterstehenden materiellen Freiheits- und Sicherheitsinteressen teleologisch weit distanzieren kann, kann der Gesetzgeber den Raum hierfür jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt nahezu beliebig eröffnen .13

Detlef Merten, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg . von dems . / Hans-Jürgen Papier, Bd . III, 2009, § 68 Rn . 71 f . 12 BVerfGE 46, 160, 165 . 13 Zum damit angesprochenen, letztlich die alten aristotelischen „Zielketten“ (Nikomachische Ethik, I . 1 . 1094a) wiedergebenden Phänomen der gesetzgeberischen „Zweckstaffelung“ siehe auch Andreas v . Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, 233 f . 11

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III.

Sicherheit und Freiheit: Analytischer Befund

Durch die rechtsdogmatische Analyse ist der Weg geöffnet für eine analytische Betrachtung von Sicherheit und Freiheit als Globalbegriffe für die im Rahmen der erforderlichen Güterabwägungen miteinander in Widerstreit tretenden Rechtsgüter, Belange und Interessen . Neben ihren materiellen, in den handlungs- und integritätsschützenden Grundrechtspositionen normativ zum Ausdruck kommenden Substraten besitzen diese wie gezeigt auch eine hiervon abstrahierende und darüber hinaus auch eine affektive Komponente . Physische Sicherheit und materielle Freiheit werden insoweit flankiert von einem Sicherheits- und Freiheitsgefühl . 1.

Sicherheits- und Freiheitsgefühl als reale psychisch-emotionale Phänomene

Dass eine gefühlte Sicherheit und eine gefühlte Freiheit sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene als reale psychisch-emotionale Phänomene existieren, dürfte sich zunächst nicht bestreiten lassen . Während ich mich im Hinblick auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung auf Evidenz und Medienpräsenz berufen kann, gibt der vom John Stuart Mill-Institut für Freiheitsforschung an der SRH Hochschule Heidelberg und dem If D Allensbach entwickelte Freiheitsindex beispielsweise Aufschluss über letzteres . In beiden Fällen ist die jeweils gefühlte zwar auf die reale, materielle Freiheit respektive Sicherheit bezogen, aber als psychologisches Phänomen hiervon epistemologisch unabhängig . Sie ist deren subjektive emotionale Projektion im Vorstellungsbild des respektive jedes Einzelnen . Das neben reale Bedrohungen der im Sicherheits- und Freiheitsbegriff gebündelten materiellen Rechtsgüter tretende Sicherheits- respektive Freiheitsgefühl ist dabei zwar regelmäßig latent, aber dennoch präsentisch und damit durchaus konkret . 2.

Rechtliche Schutzwürdigkeit von gefühlter Sicherheit und gefühlter Freiheit

Trotz ihrer affektiven Herkunft und der ihnen damit möglicherweise innenwohnenden Tendenz zur Irrationalität sind diese Gefühlszustände keine (verfassungs-)rechtlich zu vernachlässigenden Größen . Ganz im Gegenteil: Sie dürften zu den Konstituenzien der Voraussetzungen gehören, von denen freiheitliche demokratische Verfassungsstaaten leben und die sie daher im Rahmen ihrer (verfassungs-)rechtlichen Möglichkeiten zu garantieren haben . Entfaltung und Prosperität einer freiheitlichen Gesellschaft setzen ebenso wie ein freier demokratischer Prozess voraus, dass Freiheit und Sicherheit von den Bürgern nicht nur wahrgenommen, sondern zuvor auch als solche wahrgenommen werden . Individuelle Handlungsentscheidungen werden aus subjek-

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

tiven emotionalen und kognitiven Gründen getroffen .14 Das jeweilige Sicherheits- und Freiheitsgefühl besitzt demgemäß eine hohe Bedeutung für die individuelle Motivation zur Ausübung von Freiheit . Ein mangelndes Sicherheitsgefühl führt zu Misstrauen und Abschottung gegenüber anderen, zu übertriebenen privaten Sicherheitsvorkehrungen, tendenziell zur Eskalation von Konflikten und insgesamt zu einer Hemmung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verkehrs .15 Prinzipiell Ähnliches gilt für ein mangelndes Freiheitsgefühl, welches ebenfalls zu einem Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Mitbürgern, zu einem Rückzug aus dem Öffentlichen sowie zu einer Abschirmung des Privaten führt und damit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verkehr ebenso hemmt . Beide emotionalen Defekte führen mithin zwangsläufig zu schädlichen Effekten für das Zusammenleben in freiheitlichen Gesellschaften . 3.

Rechtlicher Schutz von gefühlter Sicherheit und gefühlter Freiheit

In diesem Sinne werden Sicherheits- und Freiheitsgefühl auch als Schutzgüter im juristischen Diskurs wahrgenommen . So wird das kollektive oder individuelle Sicherheitsgefühl geschützt durch Strafvorschriften wie §§ 126, 145d, 241 StGB . Belege für die rechtliche Relevanz des Freiheitsgefühls finden sich vor allem in der Rechtsprechung: So beziehen sich Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof in ihren Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung auf das „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“16, worauf gleich zurückzukommen ist . Die Maxime der grundrechtsfreundlichen Auslegung von Meinungsäußerungen als weiteres Beispiel rekurriert auf die Überlegung, dass die Furcht vor einer zu restriktiven gerichtlichen Auslegungspraxis zu Einschüchterungseffekten hinsichtlich der Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit führen würde, welche die für eine pluralistisch-demokratische Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung „konstituierende“ freie geistige Auseinandersetzung hemmen und auf Dauer unterminieren würde .17 Sicherheitsgefühl und Freiheitsgefühl setzen sich in den jeweiligen rechtlichen Abwägungsentscheidungen jeweils materiellen Freiheits- und Sicherheitsinteressen entgegen: Im Hinblick auf die genannten Straftatbestände führt das Sicherheitsgefühl zu einer Einschränkung materieller Handlungs- und im (extremen) Sanktionsfall auch Bewegungsfreiheit .18 Gefühlte Privatsphäre und Freiheit stehen gegen materielle Sicherheitsinteressen, so wird etwa im Fall der Vorratsdatenspeicherung die Aufklärung

14 15 16 17 18

Näher Lyle E . Bourne / Bruce R . Ekstrand, Einführung in die Psychologie, 5 . Aufl . 2008, 262 ff . Siehe auch Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd . I, 4 . Aufl . 2006, § 2 Rn . 27 . BVerfGE 125, 260, 335; EuGH, NJW 2014, 2169, 2170 . BVerfGE 114, 339, 349 f . Vgl . Appel (Fn . 9), 490 ff .

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schwerer Straftaten erschwert, so jene nicht oder nur sehr eingeschränkt zugelassen wird . Insgesamt bestehen mithin im Hinblick auf grundrechtliche Abwägungsentscheidungen Parallelregimes von materiellen Sicherheits- und Freiheitsinteressen und einem jeweiligen Sicherheits- und Freiheitsgefühl, die jeweils untereinander und miteinander in Konflikt geraten können . IV.

Sicherheit und Freiheit: Psychologischer Befund

1.

Gefahr kognitiver Verzerrungen

Nachdem Sicherheits- und Freiheitsgefühl als affektive psychische Zustände ausgemacht worden sind, gilt es nun, sich diesen Phänomenen aus psychologischer Sicht zuzuwenden . An dieser Stelle kann lediglich auf einige Punkte hingewiesen werden, die problematisch erscheinen und weiterer, fachlich fundierter interdisziplinärer Untersuchung bedürften: Wie bereits erwähnt sind das jeweilige Sicherheits- und Freiheitsgefühl auf die reale, materielle Sicherheit bzw . Freiheit bezogen, aber als psychologisches Phänomen hiervon epistemologisch unabhängig . Sie sind deren subjektive emotionale Projektion im individuellen respektive kollektiven Vorstellungsbild . Das bedeutet, dass sie im Ausgangspunkt durchaus die reale Sicherheit respektive Freiheit abbilden – Sicherheitsund Freiheitsgefühl sind ja gerade das jeweils innere Abbild der äußeren Sicherheit und Freiheit des Subjekts . Das bedeutet aber auch, dass das Sicherheits- und Freiheitsgefühl als subjektive psychologische Befunde abhängig sind von den Wahrnehmungsverzerrungen und kognitiven Verarbeitungsfehlern, mit denen wir unsere subjektive Welt vielfach fehlerhaft konstruieren .19 Hierzu zählen bespielhaft und nicht abschließend eine verzerrte Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung von Risiken nach Maßgabe von Verfügbarkeitsheuristik, Repräsentativitätsheuristik und Affektheuristik, die im Rahmen der Repräsentativitätsheuristik feststellbare Umfangsignoranz, die Ignoranz der Basisrate, die Übergewichtung salienter Reize und Vorstellungen, das Beharren auf einmal getroffenen Urteilen bei gleichzeitiger Wahrnehmungsverzerrung zugunsten von affirmativen und Wahrnehmungsignoranz gegenüber widersprechenden Argumenten, kognitive und emotionale Friktionen aufgrund räumlicher, zeitlicher und kausaler Distanz sowie emotionales Schlussfolgern . Zumindest ein wesentlicher Teil dieser Heuristiken und kognitiven Verzerrungen lässt sich dem übergreifenden Prozess der Attributsubstitution zuordnen: Dieser beschreibt allgemein einen omnipräsenten kognitiven Vorgang, in dem schwierige, weil Siehe hierzu die Beiträge in Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, hg . von Daniel Kahneman / Paul Slovic / Amos Tversky, 1982 und Heuristics and biases: The psychology of intuitive judgment, hg . von Thomas Gilovich / Dale Griffin / Daniel Kahneman, 2002 . 19

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

komplexe und/oder abstrakte Urteile bzw . einzelne ihrer Bestandteile (Attribute) durch den mentalen Rückgriff auf einfacher, direkter und/oder schneller zugängliche Repräsentanzen bzw . Assoziationen ersetzt (substituiert) werden .20 Beispielsweise beantworten wir die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir durch einen Terroranschlag oder Flugzeugabsturz sterben werden, unter Rückgriff auf mental präsente (weil beispielsweise aktuell und/oder intensiv medienvermittelte) Ereignisse deutlich verzerrt gegenüber allgemeinen, aber statistisch viel höheren Lebensrisiken .21 Es sind insbesondere diese psychologischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfehler, die das Sicherheitsgefühl mit dem Makel des Subjektiven und Irrationalen behaften .22 Sie haften jedoch – wie gleich noch gezeigt werden soll – auch dem Freiheitsgefühl an . Aus psychologischer Sicht steht daher die Vermutung im Raum, dass ein irrational verzerrtes Sicherheits- und Freiheitsgefühl die materielle Sicherheit und Freiheit vor allem dann flankiert und zum Teil möglicherweise auch substituiert, je abstrakter respektive distanzierter und statistisch unwahrscheinlicher sich Gefährdungen bzw . Beeinträchtigungen letzterer präsentieren . Der konkret wahrnehmbare Gefühlszustand fungiert insoweit möglicherweise als direkter zugängliches Substitut für die nicht konkret wahrnehmbaren realen Gefährdungen und Beeinträchtigungen, zumal wenn diese in komplexen und nur bedingt kommensurablen Abwägungsrelationen stehen . Das betrifft das Sicherheits- und Freiheitsgefühl der Bürger, wie es als psychologischer Befund einen möglichen Belang rechtlicher Abwägungsentscheidungen bildet (insofern ersetzt das Gefühl die reale Gefahr und ist möglicherweise als Gefühl rechtlich relevant) . Das betrifft aber auch – und insofern in zweifach problematischer Weise – das möglicherweise individuell verzerrte Sicherheits- und Freiheitsgefühl des rechtlichen Entscheidungsträgers (insofern ersetzt das individuelle Gefühl möglicherweise das kollektive Gefühl als möglicherweise rechtlich relevanten Belang der Abwägungsentscheidung und ersetzt das individuelle Gefühl möglicherweise die reale Gefahr als weiteren und in jedem Fall rechtlich relevanten Belang der Abwägungsentscheidung) . 2.

Beispiel Vorratsdatenspeicherung

Am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung möchte ich diese Probleme im Folgenden demonstrieren . Ich muss mich auch hier kurzfassen und möchte und kann vor allem auch nicht inhaltlich zu dieser in der Tat grundrechtlich hochdiffizilen Problematik

Daniel Kahneman / Shane Frederick, A Model of Heuristic Judgment, in: The Cambridge Handbook of Thinking and Reasoning, hg . von Keith J . Holyoak / Robert G . Morrison, 2005, 267, 269 . 21 Paul Slovic / Baruch Fischoff / Sarah Lichtenstein, Facts versus fears: Understanding perceived risks, in: Kahneman / Slovic / Tversky (Fn . 19), 463, 466 ff . 22 Vgl . Götz (Fn . 2), Rn . 26 . 20

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Stellung nehmen, möchte aber auf zwei Punkte hinweisen, wo ich die beschriebenen kognitiven Verzerrungen am Werke sehe . a)

Freiheitsgefühl

Der erste betrifft die Intensität des Grundrechtseingriffs durch die gesetzliche Anordnung der Vorratsspeicherpflicht . Dieser ist materiell betrachtet nämlich entgegen der Auffassung von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof eben nicht „besonders schwer“23, sondern besitzt trotz seiner Breitenwirkung als solcher ein vergleichsweise geringes und bestenfalls mittleres Gewicht . Zur juristischen Präzision gehört insoweit nämlich zum einen die Erkenntnis, dass es sich in Bezug auf die Kommunikationsteilnehmer um einen mittelbaren Grundrechtseingriff handelt,24 und zum anderen, diese von der eventuell möglichen, in Relation zur Gesamtheit der Betroffenen aber höchst unwahrscheinlichen Abfrage der Daten durch staatliche Organe zu unterscheiden .25 Letztere stellt ohne Frage einen erheblichen Grundrechtseingriff dar, unterliegt aber – jedenfalls nach der (ehemaligen) deutschen Umsetzungsregelung – ganz anderen, nämlich viel strengeren und im Ergebnis jedenfalls angemessen gestaltbaren Voraussetzungen .26 Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der bloßen Speicherung jedenfalls der Verkehrsdaten bei privaten Telekommunikationsanbietern materiell betrachtet um einen Vorgang, der zu Abrechnungszwecken massenhaft sowie mit Kenntnis und Einwilligung der Bürger geschieht bzw . jedenfalls bis vor nicht allzu langer Zeit massenhaft und nahezu flächendeckend geschehen ist .27 Er wird vom Gesetzgeber in den §§ 96, 97 TKG durch das wirtschaftliche Interesse der Telekommunikationsanbieter legitimiert, bei dem es sich zwar fraglos um kein unerhebliches, aber sicher nicht um ein Interesse handelt, das einen besonders schweren (materiellen) Grundrechtseingriff rechtfertigen kann . Im Vergleich dazu ist die gesetzlich verpflichtende Vorratsdatenspeicherung zwar möglicherweise graduell intensiver, da sie ausnahmslos und umfassend angelegt ist . Sie wird dadurch aber noch nicht zu einem materiell besonders schweren Eingriff . Gerade weil die Speicherung von Daten auf Servern der Telekommunikationsanbieter ein distanziertes und mental nur schwer zugängliches Phänomen ist und hieran anknüpfende Gefährdungen materieller Interessen zunächst nur abstrakt und verknüpft über weitere Kausalketten denkbar sowie im Übrigen statistisch höchst unwahrscheinlich sind, handelt es sich bei ihr um einen Kandidaten für die Attributsubstitution .

BVerfGE 125, 260, 318; EuGH, NJW 2014, 2169, 2170 . Wie hier die Sondervoten der Richter Schluckebier, BVerfGE 125, 260, 365 ff . und Eichberger, BVerfGE 125, 260, 380 f . 24 Anders BVerfGE 125, 260, 311 . 25 Dies nicht beachtend BVerfGE 125, 260, 319 . 26 BVerfGE 125, 260, 328 ff . 27 Siehe Sondervotum Schluckebier, BVerfGE 125, 260, 371 f . 23

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

Kognitiv unmittelbar präsent ist demgegenüber der tatsächliche Abruf der Daten durch staatliche Organe, die reale, Kenntnisnahme oder jedenfalls Verarbeitung der Daten voraussetzende staatliche Überwachung und das damit verknüpfte bedrohliche Gefühl, die daher als Substitut fungieren . Dieses Bild zeichnen omnipräsente Beispiele aus medial vermittelter Realität und fiktionaler Kunst so durchdringend und mit so großer Schärfe, dass diese Assoziation unweigerlich hervorgerufen werden dürfte . Bezeichnenderweise rekurrieren Bundesverfassungsgericht und ihm folgend Europäischer Gerichtshof gerade in diesem Zusammenhang auf das „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“ .28 Dieses Gefühl ist – wie es das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt – „diffus“ und statistisch betrachtet höchst irrational . Die Annahme, der Staat würde die auf dem Server eines Telekommunikationsanbieters gespeicherten Verkehrsdaten eines „normalen“, d . h . in diesem Zusammenhang: nicht in den Verdacht der Begehung einer schweren Straftat geratenen Bürgers zur Kenntnis nehmen oder verarbeiten, ist bei Lichte betrachtet, d . h . bei Außerachtlassung unglücklicher und statistisch kaum signifikanter Umstände, realitätsfremd (und wäre in den Verdacht der Begehung einer schweren Straftat geratenen Bürgern im Übrigen zuzumuten) . Aber auch die Unterstellung, ein solches Gefühl sei in der Bevölkerung verbreitet, dürfte materiell betrachtet kontrafaktisch, jedenfalls aber empirisch nicht belegt sein .29 Wie der allgemeine Umgang mit persönlichen Daten beispielsweise in sozialen Netzwerken zeigt, dürfte die Sensibilitätsschwelle der Bevölkerung hier tatsächlich deutlich höher liegen . Dies gibt zusammengenommen m . E . einen ausreichenden Beleg dafür, dass das Bundesverfassungsgericht bzw . genauer: die urteilstragende Mehrheit der Richter das mit der Speicherung der Verkehrsdaten verbundene grundrechtliche Gefährdungspotential durch ein auf die Abfrage dieser Daten durch den Staat bezogenes Freiheitsbedrohungsgefühl substituiert hat . Die Attributsubstitution lässt sich schließlich nicht zuletzt in der begrifflichen Maßlosigkeit identifizieren, die der Vergleich mit tatsächlich besonders schweren Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis wie dem realen Abhören von Telefongesprächen offenbart .30 Letztere lässt sich nur mit dieser irrationalen Angst vor dem tatsächlichen Überwachtwerden, mit der Substituierung von Speicherung durch Abruf erklären . b)

Sicherheitsgefühl

Als Beispiel für an das Sicherheitsgefühl anknüpfende Verzerrungen in diesem Zusammenhang ist die Bekämpfung des Terrorismus zu nennen . Der Terrorismus trägt die Verbreitung von (irrationaler) Angst und Schrecken, die Diskrepanz von realer und 28 29 30

BVerfGE 125, 260, 320, 335; EuGH, NJW 2014, 2169, 2170 . So auch Sondervotum Eichberger, BVerfGE 125, 260, 380 f . Siehe Sondervotum Schluckebier, BVerfGE 125, 260, 367 .

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gefühlter Bedrohung schon im Namen bzw . völkerrechtlicher Definition und macht sich einen guten Teil der genannten kognitiv-emotionalen Verzerrungen strategisch zunutze . Sie sind auch im Kontext der Vorratsdatenspeicherung zu beobachten . So fehlt es an gesicherten empirischen Belegen, dass die Vorratsdatenspeicherung zur präventiven Verhinderung von Terroranschlägen überhaupt geeignet ist .31 Nach einer Studie der TU Darmstadt kann eine Vorratsdatenspeicherung insoweit durchaus einen gewissen Effekt haben, ausgerechnet eine längere Speicherung der Daten ist dem aber nach den Ergebnissen der Studie abträglich .32 Dennoch stellt die Verhinderung von Terroranschlägen eines der Hauptargumente in der öffentlichen Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung dar und wurde auch vom europäischen wie nationalen Gesetzgeber anlässlich ihrer Einführung bemüht . Vor dem Hintergrund, dass diese im unmittelbaren, vom europäischen Gesetzgeber ausdrücklich aufgegriffenen Kontext der Terroranschläge von London im Juli 2005 erfolgte, steht hier die Vermutung im Raum, dass dieses Ereignis bzw . die generell mit Terroranschlägen assoziierten Bilder i . V . m . dem Gefühl der Fassungs- und Machtlosigkeit das tatsächliche Gewicht dieses Sicherheitsaspekts (das aufgrund der geringen Verhinderungswahrscheinlichkeit im Grunde gegen Null geht) substituiert hat und lediglich das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bedient werden sollte . V.

Sicherheit und Freiheit: (verfassungs-)rechtliche Herausforderungen

Abschließend stellt sich die schwierige Frage, ob und wie die beschriebenen Gefühlszustände in grundrechtlichen Abwägungsentscheidungen juristisch operationalisiert und insbesondere die genannten kognitiven Verzerrungen möglichst aus ihnen eliminiert werden können . Wie schwierig sie ist, wird bereits daran deutlich, dass sie in Literatur und Rechtsprechung kaum reflektiert, ja man kann sagen: dass ihr – wohl mehr unbewusst als bewusst – ausgewichen wird . Fest dürfte mit dem Gesagten stehen, dass Sicherheits- und Freiheitsgefühl grundsätzlich zu berücksichtigende Belange in grundrechtlichen Güterabwägungen darstellen und insoweit nicht gänzlich ignoriert werden können . Dies ergibt sich (verfassungs-)normativ aus ihrer konstitutiven Bedeutung für eine freiheitliche demokratische Gesellschaft und wird faktisch dadurch bestätigt, dass sie von Gesetzgeber und Rechtsprechung als schützenswerte Belange anerkannt werden . Insoweit geht es Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Schutzlücken durch Wegfall der Vorratsdatenspeicherung? Eine Untersuchung zu Problemen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung bei Fehlen gespeicherter Telekommunikationsverkehrsdaten, 2 . Fassung 2011, abrufbar unter: https://www .mpg . de/5000721/vorratsdatenspeicherung .pdf (zuletzt abgerufen am 1 .8 .2018), 219 . 32 Kay Hamacher / Stefan Katzenbeisser, Public Security: Simulations Need to Replace Conventional Wisdom, in: Proceedings of the 2011 New Security Paradigms Workshop, abrufbar unter: https://www .nspw . org/papers/2011/nspw2011-hamacher .pdf (zuletzt abgerufen am 1 .8 .2018), 115 ff . 31

Sicherheit vs. Freiheit – (auch) ein Kampf der Gefühle?

zunächst darum, einen im Ausgangspunkt individuellen psychisch-emotionalen Zustand für rechtliche Abwägungsentscheidungen zu objektivieren und als kollektives Sicherheits- bzw . Freiheitsgefühl zu generalisieren . Soweit es für die vorzunehmende Abwägung tatsächlich auf dieses ankommt, ist eine empirische respektive demoskopische Abdichtung erforderlich, die wiederum zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren ist . Subjektive Wahrnehmungsverzerrungen dürfen trotz ihrer ubiquitären Verbreitung normativ nicht entscheidungserheblich sein . Fest dürfte ferner stehen, dass die angesprochenen Substituierungsprozesse nicht auf Seiten der rechtlichen Entscheidungsträger die Einschätzung realer Gefahrenund Bedrohungslagen oder die Beurteilung der Effektivität von Schutzmaßnahmen und damit die materiellen Gewichtungen und Ergebnisse der grundrechtlichen Güterabwägungen verzerren dürfen . Insbesondere ist der entscheidungspsychologisch naheliegenden Gefahr entgegenzutreten, dass ein individuell stark ausgeprägtes Sicherheits- bzw . Freiheitsbedrohungsgefühl eine nicht vergleichbar hohe tatsächliche Gefahrenlage repräsentiert und mit ergebnisrelevantem Einfluss substituiert . Als zuverlässigster Indikator dient der Blick auf die materielle Lage . Das Freiheits- und Sicherheitsgefühl ist wie gezeigt nichts anderes als deren jeweils subjektive Antizipation bzw . Projektion . Die Lösung kann daher nur in die Richtung gehen, diese Gefühlszustände möglichst um alle individuell-subjektiven Verzerrungen zu bereinigen (was freilich wohl nie ganz gelingen wird) . Hier hilft möglicherweise nicht zuletzt Transparenz .33 Möglicherweise müssen gerade die Gerichte (allen voran das Bundesverfassungsgericht) und der Gesetzgeber diese herstellen, indem sie die Gefahr von Wahrnehmungsverzerrungen explizit adressieren und mit möglichst viel empirischem Material relativieren . Bezüge auf ein etwaiges „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“ dürfen sich dann beispielsweise in Verfassungsgerichtsurteilen nicht finden ohne den Zusatz, dass eine ständige Überwachung durch den Staat mit der Vorratsdatenspeicherung eben nicht erfolgt, die Speicherung von Verkehrsdaten bei den privaten Anbietern kaum über das bis dato Zulässige hinausgeht und eine Abfrage der Daten durch den Staat nur in bestimmten und nach Möglichkeit statistisch quantifizierten Fällen erfolgt .34 Auf ähnliche Weise wäre etwa auch der pauschale Hinweis auf die Bekämpfung des Terrorismus durch den Gesetzgeber mit empirischen Fakten zu konfrontieren . Eine wirkungsvolle Strategie zur Identifizierung und Eliminierung von mit der Attributsubstitution zusammenhängenden Gewichtungsverzerrungen stellt es ferner dar, einzelne Abwägungspositionen zunächst durch Bildung von Vergleichskategorien in einen möglichst breiten Bezugsrahmen zu setzen und auf einer so gebildeten relativen Intensitätsskala abzutragen, anstatt ihre Beeinträchtigungsintensität isoliert zu bestimmen .35 Ansonsten helfen Deliberation, In diese Richtung auch BVerfGE 125, 260, 335 ff . So jedenfalls in Ansätzen BVerfGE 125, 260, 320 ff ., 347 f . Vorbildliche Umsetzung dieser entscheidungspsychologischen Strategie des „Broad Framing“ im Sondervotum Schluckebier, BVerfGE 125, 260, 367 . 33 34 35

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Dogmatik, Diskurs,36 Unbefangenheit, Unvoreingenommenheit, Sachlichkeit, Methodenehrlichkeit, Unaufgeregtheit, richterliche und gesetzgeberische Neutralität und eine Distanzierung von konkreten Anlässen und Personen, insbesondere von den Partikularinteressen gut organisierter und lautstarker Interessengruppen, sowie nach Möglichkeit eine Minimierung von zeitlichen Zwängen und Entscheidungsdruck als altbekannte – aber wohl nie vollständig erfüllbare – Desiderate rationaler und insbesondere rechtlicher Entscheidungsfindung .

Zur Bedeutung des iterativen Dreiecks: Deliberation, Dogmatik, Diskurs für die Korrektur kognitiv verzerrter emotionaler Intuitionen auch John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, 36 ff ., 68 . 36

Security Measures Abroad and Extraterritorial Human Rights Obligations1 ANGELA MÜLLER (Zürich)

1

Introduction

International human rights law (IHRL) was initiated after the Second World War as part of public international law, which in turn had been based on the Westphalian concept of exclusive territorial sovereignty . As a result, IHRL has been informed by this territorial paradigm: A state is, first and foremost, obligated to respect, protect and fulfil human rights of those located on its territory . In light of today’s globalization processes, the enormous social, political and economic transnational interdependence, and risks and opportunities entailed by new means of communication and technology, this approach creates a protection vacuum . Targeted killings by unmanned aerial vehicles (UAVs) or trans-border surveillance systems, as the paramount examples of security interventions of our time, reflect this: Today, states can violate human rights without having to set foot on the territory the victim resides on . Extraterritorial intelligence strategies that establish “legal black holes” are on the rise . Not only cyberattacks and big data but also terrorism, climate change or global migration all introduce novel dimensions of security challenges and multiply the scope of individuals a state can and does affect – at home as well as abroad . The security-related measures states adopt in these domains often come into conflict with human rights . In which way does the foundational idea that state conduct is constrained by human rights also

This contribution forms part of a research project on “The Legal Philosophy of Extraterritorial Applications of Human Rights”, funded by the Swiss National Science Foundation and led by Prof . Matthias Mahlmann at the University of Zurich . An earlier version was presented in a workshop during the IVR World Congress 2017 in Lisboa . The author thanks the participants for their valuable feedback . 1

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pertain to these transnational, diagonal relations between states and “outsiders”2? This contribution intends to comment on the legitimacy of states’ extraterritorial human rights obligations from the perspective of legal philosophy .3 Many scholars involved in the debate take the general legitimacy of extraterritorial obligations for granted (and rather focus on determining their exact scope or details of implementation) . However, this is in tension with, first, political reality and the fact that some states (thus the duty-bearers at stake) still reject that IHRL puts them under any duties abroad – in general and/or in concrete cases .4 Current tendencies to revert to concepts of nationalism, exclusion and sovereignty indicate that this opposition is unlikely to disappear anytime soon . Though new, transnational institutions may have divested the state of its unique significance, it still amounts to a central agent – especially when it comes to human rights protection .5 Second, while many experts and interpretive bodies tend to allow for extensive extraterritorial application of IHRL,6 the starting point of one of the most influential institutions in the field, the European Court of Human Rights (ECtHR), still seems to be one of territorial application, so that it is the expansion of duties beyond territory that is in need of justification – at least this is what its case law implies . Lastly, in normative theory, the general idea of universal human rights has been confronted with increasing revisionist criticism .

The terms “outsiders” and “non-members” are used for denoting individuals who are not located on a state’s territory, as opposed to “insiders”, “residents”, or “members” . 3 “Extraterritoriality” refers to the application of norms outside a state’s territory . The question here is whether IHRL norms, to which state A is bound, are to be applied vis-à-vis person X who is not located on A’s territory . It is irrelevant where the actions of A take place on territory or not: The decisive criterion for extraterritoriality is the location of X, the addressee of the norm and the potential victim of violations, cf . Menno T . Kamminga, Extraterritoriality, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), ed . by Rüdiger Wolfrum, 2012, [accessed 21 .10 .2017], chap . A1 . Further, the focus on states does not imply that these are necessarily the only bearers of moral and legal human rights duties . Lastly, states often do not de facto turn a blind eye to the misery abroad, e . g . by providing development aid . But the problem arises when it is denied that they are obliged to do so, when it is viewed as supererogatory acts of charity rather than as a way of discharging stringent duties . 4 See e . g . CCPR, Concluding Observations Israel, CCPR/C/ISR/CO/4, 21 .11 .2014, § 5; CCPR, Concluding Observations USA, CCPR/C/USA/CO/4, 23 .4 .2014, § 4; Submission of the United Kingdom, Discussion on ICESCR Draft General Comment 24, 2017, [accessed 29 .6 .2018], 2; Submission of Norway, Discussion on ICESCR Draft General Comment 24, 2017, [accessed 29 .6 .2018], 3 f . It is also domestic courts that deny extraterritorial reach, e . g . Human Rights Watch Inc & Ors v The Secretary of State for the Foreign & Commonwealth Office & Ors, [2016] UKIPTrib15_165-CH, 16 .5 .2016, §§ 49 ff ., 60 ff . 5 Cf . David P . Forsythe, Human Rights in International Relations, 4th edn, 2018, 250 f ., 372, 390 ff . 6 Cf . e . g . IAComHR, Coard et al v United States, 10 .951, 29 .9 .1999, OEA/Ser .L/V/II .106, Doc .6 rev . (1999), § 37; CCPR, General Comment 31 (80), CCPR/C/21/Rev .1/Add .13, 26 .5 .2004, § 10; ICJ, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory (Advisory Opinion), ICJ Reports 2004 (9 .7 .), 136, § 109; CAT, General Comment 3, CAT/C/GC/3, 13 .12 .2012, § 22; AfComHPR, General Comment 3, 18 .11 .2015, § 14 . 2

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The persistence of the territorial paradigm is significant when considering the manifold modern security measures that do not require any form of territorial authority: Can states escape human rights by sending UAVs or hacking e-mails from abroad? Moreover, it indicates research should still include foundational theoretical work on the general normative justification of extraterritorial obligations . To this aim, it is essential to systematically identify and address arguments on which a territorial view could be grounded . After a brief outline of an example from jurisprudence, this is what the present contribution aims to do . Thereby, it ultimately hopes to strengthen the normative foundation on which extraterritorial duties rest and to contribute to bridge the gap between political reality, scholarship and jurisprudence . 2

Illustrating the Legal Framework

The jurisprudence of the ECtHR provides the most extensive case law on the question of extraterritorial applicability, which is why it serves to illustrate the problem at hand . The European Convention on Human Rights (ECHR) holds that States Parties “shall secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms (…) of this Convention” .7 In line with most other IHRL treaties, this makes the exercise of jurisdiction the central criterion for determining spatial applicability .8 In the landmark decision of Banković on NATO states’ bombing of Belgrade in 1999, the ECtHR interpreted this threshold criterion restrictively: It denied applicability of the Convention to this extraterritorial case based on a de iure conception of state jurisdiction derived from public international law, where it denotes the legal entitlement to prescribe, enforce and adjudicate regulation .9 Based on this understanding, the Court concluded that jurisdiction is inherently related to territory and that its extraterritorial exercise is limited to most extraordinary circumstances,10 such as when a state “through the effective control of the relevant territory”, established by occupation or home state consent, “exercises all or some of the public powers” .11 In addition, it emphasized the

Art . 1 ECHR, emphasis added . E . g . Art . 1 American Convention on Human Rights; Art . 2(1) Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment; Art . 2(1) Convention on the Rights of the Child; Art . 3, 6, 14(1) International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination . Famously, the International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) refers in Art . 2(1) to “all individuals within its territory and subject to its jurisdiction” . Today, it is widely agreed that this includes both people on territory and people under jurisdiction, cf . ICJ, Wall Opinion (Fn . 6), § 109; CCPR, López Burgos v Uruguay, 52/1979, 29 .7 .1981, CCPR/C/13/D/52/1979, § 12 .3 . 9 ECtHR, Banković and Others v Belgium and Others (dec ) [GC], 52207/99, 12 .12 .2001, ECHR 2001-XII, §§ 55, 59 f . On jurisdiction in public international law, Kamminga (Fn . 3), §§ 1 f . 10 ECtHR, Banković v Belgium (Fn . 9), § 61 . 11 Ibid ., § 71 . 7 8

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“espace juridique”12 and the essentially regional character of the ECHR, which “was not designed to be applied throughout the world, even in respect of the conduct of Contracting States” .13 Arguably, the implication of Banković was that there is not necessarily a problem with violating ECHR rights of people abroad, as long as there is no substantial control exercised over the area they are located on – which is insightful with respect to modern interventions via airstrikes or UAVs . This is in tension with the object and purpose of the treaty, which “aims at securing the universal and effective recognition and observance of the Rights therein declared”,14 as well as with the principle to interpret IHRL in dynamic ways in order to make it effective in addressing contemporary challenges .15 Most centrally, de iure jurisdiction is not an appropriate applicability threshold for human rights: The question of whether it is lawful that a state’s acts have effects abroad (the question of de iure jurisdiction) is distinct from the question of whether a state is bound by human rights when its acts have effects abroad (regardless of how they came about) . In IHRL, the question must be the latter, namely whether jurisdiction is de facto exercised .16 In the aftermath of Banković, the ECtHR has incrementally acknowledged a wider scope of applicability abroad by recognizing a de facto notion of jurisdiction, which can, moreover, also stem from personal authority a state agent exercises over an individual .17 In the prominent case of Al-Skeini, it introduced a hybrid approach of both spatial and personal control, finding jurisdiction derived from state agent authority in a

Ibid ., § 80; ECtHR, Cyprus v Turkey [GC], 25781/94, 10 .5 .2001, ECHR 2001-IV, § 78 . ECtHR, Banković v Belgium (Fn . 9), § 80 . Preamble ECHR, emphasis added . ECtHR, Banković v Belgium (Fn . 9), § 64 . Moreover, Banković also implicitly rejected the previously used alternative model of jurisdiction as state agent authority exercised over an individual, used e . g . in EComHR, Ramirez Sánchez v France (dec ), 28780/95, 24 .6 .1996, DR 86-B, 155, 161 f .; EComHR, Stocké v Germany (dec ), 11755/85, 9 .7 .1987, Report of 12 .10 .1989, § 166; EComHR, Cyprus v Turkey (dec ), 6780/74, 6950/75, 26 .5 .1975, DR 2, 125, 136 . 16 This is widely shared, see e . g . Walter Kälin / Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 3rd edn, 2013, 146; Marko Milanović, Extraterritorial Application of Human Rights Treaties, 2013, 26 ff ., 198 f .; Michael Duttwiler, Authority, Control and Jurisdiction in the Extraterritorial Application of the European Convention on Human Rights, NQHR 30 (2012), 137–163, 140; CAT, General Comment 2, CAT/C/GC/2, 24 .1 .2008, § 7 . Some authors explain the outcomes of Banković by the political environment shortly after the 9/11 terrorist attacks, in which the Court may just have feared the consequences of opening doors to people from all over the world to claim violations by ECHR states involved in the “War on Terror”, see e . g . Marko Milanović, Extraterritoriality and Human Rights: Prospects and Challenges, in: Human Rights and the Dark Side of Globalisation, ed . by Thomas Gammeltoft-Hansen / Jens Vedsted-Hansen, 2016, 57; Mark Gibney, International Human Rights Law: Returning to Universal Principles, 2nd edn, 2016, 74 f .; Loukis Loucaides, Determining the Extra-Territorial Effect of the European Convention, EHRLR 4 (2006), 391–407, 400 f . 17 E . g . ECtHR, Öcalan v Turkey [GC], 46221/99, 12 .5 .2005, ECHR 2005-IV, § 91; ECtHR, Issa and Others v Turkey, 31821/96, 16 .11 .2004, unreported, § 71; ECtHR, Ilaşcu and Others v Moldova and Russia [GC], 48787/99, 8 .7 .2004, ECHR 2004-VII, § 314 . 12 13 14 15

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situation in which a state exerted at least some public powers over the respective territory – even if located outside the espace juridique of the ECHR .18 However, while these later cases mirror a more generous approach, none of them has actually departed from the territorial paradigm . By emphasizing the significance of territorial authority (even if only instantiated through a checkpoint19) and by repeatedly confirming the essentially territorial nature of jurisdiction in almost all relevant cases,20 the ECtHR upholds its “presumption against the extraterritorial application” .21 Its concept of jurisdiction appears symptomatic of the underlying territorial paradigm in IHRL . In what follows, one potential cluster of arguments behind such a paradigm will be critically discussed .22 3

The Objection from Sovereignty

Sovereignty describes the supreme authority to decide, set rules and be obeyed on a specific territory and over the population located therein . Rooted in the Westphalian system, it belongs to the main pillars upon which international law has been built .23 While some early writers have conceptualized sovereignty as nearly absolute,24 it is acknowledged that a contemporary notion is one that is constrained . It has long been accepted that the recognition of sovereign equality of other states curtails external sovereignty, motivated primarily by the idea of enabling co-existence: Sovereignty ends ECtHR, Al-Skeini and Others v the United Kingdom [GC], 55721/07, 7 .7 .2011, ECHR 2011, §§ 130 ff ., 142, 149 . ECtHR, Jaloud v the Netherlands [GC], 47708/08, 20 .11 .2014, ECHR 2014, § 152 . E . g . ECtHR, N D and N T v Spain, 8675/15, 8697/15, 3 .10 .2017, unreported, §§ 50 f .; ECtHR, Jaloud v the Netherlands (Fn . 19), § 131; ECtHR, Hirsi Jamaa and Others v Italy [GC], 27765/09, 23 .2 .2012, ECHR 2012, §§ 71 f .; ECtHR, Al-Skeini v United Kingdom (Fn . 18), §§ 131 f . 21 Nina Blum, The European Convention on Human Rights beyond the Nation-State, 2015, 2; Sigrun Skogly, Extraterritorial Obligations and the Obligation to Protect, in: The Changing Nature of Territoriality in International Law, ed . by Martin Kuijer / Wouter Werner, NYIL 47 (2016), 217–244, 243; Duttwiler (Fn . 16), 151 f .; Cedric Ryngaert, Clarifying the Extraterritorial Application of the European Convention on Human Rights, Merkourios 28 (2012), 57–60, 57 f .; Mark Gibney, Universal Duties: The Responsibility to Protect, the Duty to Prevent (Genocide) and Extraterritorial Human Rights Obligations, Global Responsibility to Protect 3 (2011), 123–151, 150 . 22 Other theoretical frameworks in which arguments for a territorial view could be developed include theories of International Relations realism, particularism, patriotism, hierarchical nationalism and supremacism, social contract theories, or relativism . 23 Daniel Philpott, Sovereignty, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, ed . by Edward N . Zalta, Summer 2016 edn, [accessed 7 .4 .2018], chap . 1; Christine Kaufmann, Elemente des Staates, in: Staatsrecht, ed . by Giovanni Biaggini / Thomas Gächter / Regina Kiener, 2nd edn, 2015, 12–21, 17; Anne Peters, Humanity as the A and Ω of Sovereignty, EJIL 20 (2009), 513–544, 515 ff . 24 Jean Bodin, On Sovereignty: Four Chapters from the Six Books of the Commonwealth, ed . by Julian Harold Franklin, 1992; Thomas Hobbes, Hobbes’s Leviathan, 1952; Carl Schmitt, Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 10th edn, 2015 . Bodin and Hobbes accept some restraints to sovereignty stemming from divine or natural law but none from any human-made law . 18 19 20

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where sovereignty of others begins . What is distinct of more modern conceptions is the claim that internal sovereignty exhibits not only a factual component of enforcing authority but also a substantive normative one, requiring that it be enforced in legitimate ways: It comes with the responsibility for protecting residents’ human rights .25 At the same time, the Westpalian-inpired sovereignty principle still powerfully informs the foundations of the international system26: Sovereignty has not been “dethroned”27 yet – as current political tendencies to fall back on ideas of far-reaching sovereignty and non-interference illustrate . Coming to the topic at issue, even a modern conception of sovereignty that accepts some internal human rights constraints to sovereignty could reject the idea that it is also abridged by individual rights of outsiders: In order to serve its function as a protector of goods, a guarantor of well-being, autonomy and security of its population, a state must have certain privileges . Among them, so it might be claimed, is the privilege to be free from direct duties to individual non-members . Foreign states do not bear any human rights duties to them – and international law should not put them under such . If any duties to outside persons exist at all, these are not generated by their individual rights but are a consequence of duties to other states . In treaty law, states could then consent to assume obligations to individuals abroad, but these are fully voluntary and supererogatory undertakings, which they are (morally) allowed to withdraw at any moment . States are also permitted to de facto contribute to human rights enjoyment abroad (as long as this does not infringe other states’ sovereignty), but there are neither pre-legal nor direct and consent-independent obligations to do so .28 Thus, even conceptions of sovereignty that accept material limits to domestic sovereignty could provide a starting point for arguments against extraterritorial human rights duties . They are grounded on the nationalist worry of a fundamental conflict

Philpott (Fn . 23), chap . 3; Matthias Mahlmann, Konkrete Gerechtigkeit, 4th edn, 2019, 81 ff .; Kaufmann (Fn . 23), 17 f . This is mirrored in the evolution of the “Responsibility to Protect” (R2P) principle, which suggests that disregard for human rights internally results in a partial loss of external sovereignty rights, allowing others to intervene . While R2P is not yet a generally recognized binding norm, the existence of the debate highlights the change of perspective from sovereignty as a right to sovereignty as a responsibility . 26 The Charter of the United Nations emphasizes the sovereign equality of states (Art . 2(1)), prohibits attacks on independence and integrity (Art . 2(4)) and interventions in the domain réservé, the areas “essentially within the domestic jurisdiction” (Art . 2(7)) . For an overview, Samantha Besson, Sovereignty, in: MPEPIL (Fn . 3), 2011, [accessed 31 .1 .2018], §§ 89, 95 ff . 27 Eyal Benvenisti, Sovereigns as Trustees of Humanity, AJIL 107 (2013), 295–333, 296 . 28 Such a view might e . g . be derived from Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, 1983, 47 ff ., or Thomas Nagel, The Problem of Global Justice, Phil & Pub Aff 33 (2005), 113–147, who both grant only highly limited principles of aid to outside strangers . To illustrate, a similar view of constitutional rights inspired the US Supreme Court when it held that “the purpose of the Fourth Amendment was to protect the people of the United States against arbitrary action by their own Government; it was never suggested that the provision was intended to restrain the actions of the Federal Government against aliens outside of the United States territory”, United States v Verdugo-Urquidez, 494 U . S . 259 (1990), 266 . 25

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between universal human rights and (popular) sovereignty: Sovereignty ultimately intends to protect the sovereign’s members . As a result, constraints from individual rights are only acceptable if they benefit those who make up the sovereign . The position thereby defended is that sovereignty can only be safeguarded by domesticating human rights .29 Objecting to the Sovereignty Objection

Is accepting some human rights-based limits to sovereignty compatible with maintaining that these limits only apply to a part of states’ actions, namely those with effects on territory, but not to others, namely those that affect people abroad? Foundational normative considerations suggest otherwise . First, human rights are not only limits to sovereignty . Judicially, sovereignty is not a pre-legal, self-standing principle on which international law is based . It is the other way round: It is constructed, ascribed, conditioned and organized by international law, as it was e . g . confirmed by the German Constitutional Court .30 Sovereignty is not about being free from any authority . It is compatible with being subjected to international law – and today, the latter is a legal system which acknowledges individuals as direct legal subjects and of which human rights form an essential part . Normatively, given that some individual-rights-based limits to sovereignty are accepted (namely those stemming from rights of insiders), it must also be accepted that the general value of sovereignty is of an instrumental nature: It is not assigned to states for its own sake but to enable them to protect individual goods . It is not only other states’ sovereignty but also individuals’ sovereignty that constrains states – expressed in fundamental human rights that secure basic prerogatives of the individual’s ability to realize goods, fulfil interests and satisfy needs in the first place .31 Importantly, these human rights do not just curtail but rather determine the legitimate scope of state sovereignty: Human rights are not mere conflicting considerations to be weighed against it . Rather, they define and lend value to sovereignty in the first place, implying a presumption in favor of human rights from the outset .32 But if sovereignty is based on human rights, it is inconsistent to use it as exactly the opposite, namely as a bulwark against human rights obligations33 – even if the latter origCf . discussion in Cristina Lafont, Sovereignty and the International Protection of Human Rights, Journal of Political Philosophy 24 (2016), 427–445, 431 . 30 BVerfG, Judgment of the Second Senate of 30 June 2009–2 BvE 2/08 – §§ 1–421, 223; see also Besson (Fn . 26), § 109; Peters (Fn . 23) . 31 Mahlmann (Fn . 25), 80 ff . 32 Peters (Fn . 23), 514, 544 . 33 Margot E . Salomon, Global Responsibility for Human Rights, 2007, 26; cf . Sigrun I . Skogly, Global Responsibility for Human Rights, OJLS 29 (2009), 827–847, 839 f . 29

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inate abroad . If it is used as such, its foundation collapses . If one proposes a territorial human rights regime, one still proposes a human rights regime . By embarking on the idea behind human rights, one cannot deny that they are by their very nature held qua being human thus qua something that all human beings universally share and that applies to all of them equally .34 If human rigths are accepted as constraints, so it seems, then the burden of proof is with those who maintain that these constraints do not pertain to expressions of sovereignty the effects of which happen to materialize beyond a state’s borders . Second, the concept of sovereignty must be defined with regard to the nature of the entities it is ascribed to, namely (for present purposes) states . The moral status of states is not self-standing: They are essentially collective institutions the purpose of which is the realization of individual and common goods . Further, states are entitled to means of authority to which no other agent is: They are authorized to coerce and sanction people, to take their property in order to fund collective institutions and enable redistribution, to design education systems, or to use (military) force for self-defense . States can frame and impact individuals’ lives like, arguably, no other agent can . In addition, states are agents with enormous factual power at their disposal, like infrastructure, police, armies, in addition to vast amounts of other financial, technological, personal and natural resources . Given this distinctive nature, the idea behind human rights obligations of states is motivated by the recognition that states’ entitlements cannot be unlimited, that individuals have to be protected from their use and potential abuse of power . Basic human interests must be defended by special means against this powerful agent – and human rights amount to such a mean . It is under these premises that principles that pertain to states, such as sovereignty, are ascribed and determined . That they generate a permission to disregard basic rights – whoever’s basic rights – does not appear in line with what states are here for in the first place . What does this all mean for the problem of extraterritoriality? If universality is a feature of human rights, it should also apply in determining the scope of addressees of obligations .35 The question is not only whether rights apply to outsiders, but also whether a state (that is morally and legally bound by certain norms and, moreover, has voluntarily consented to them) may allow its agents and institutions to disobey these principles, depending on where the effects of their conduct take shape . Human rights are grounded on the very nature of human beings, while human rights obligations apply to the state by virtue of the distinctive nature of this collective agent: Statehood is not Plausibly, one cannot deny that these rights are grounded on something all human beings share . This is not only one of the “vague and often misleading gestures to the universality of human rights”, Samantha Besson, The Extraterritoriality of the European Convention on Human Rights: Why Human Rights Depend on Jurisdiction and What Jurisdiction Amounts To, LJIL 25 (2012), 857–884, 858 . A justificatory theory of extraterritorial human rights obligations needs to be based on a theory of what this something consists in, but this goes beyond the scope of the present paper . 35 Skogly (Fn . 33), 833 f . 34

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a necessary but a sufficient condition for being subject to them . States are the agents which mean the most serious threat to human rights enjoyment and, at the same time, they are those best equipped for protecting human rights . If such obligations apply by virtue of the state’s nature, then they apply to all of its conduct, regardless of where its effects are felt .36 Human rights obligations constrain states, because states are the way they are, and human rights are intended for what they are intended . Consequently, they constrain all of their conduct, legal or illegal, executive, legislative, administrative or judicative, actions as well as omissions,37 on territory as well as abroad: If people shall generally be protected from this extraordinary power with its huge potential of abuse, then border-transcending relations between individuals and third states should also be structured accordingly . As domestic violations are of international concern and contradict sovereignty (which is the very idea behind modern IHRL), extraterritorial violations cannot be protected by the sovereignty principle:38 In Anne Peters’ words, “no state can claim that its state sovereignty forbids cross-border concern for humanity: to make a sovereign claim is to declare oneself open to inspection in that regard” .39 Otherwise, this would leave a significant protection vacuum . Importantly, this last point is reinforced by the aspect that outsiders are usually not able to impact the decision-making process that governs state conduct . In order to be assured that third states’ conduct is not beyond law and morality, they are reliant on other protective instruments – most importantly, on human rights guarantees . These can function as a substitute that provides minimal protection for outsiders in their relations to third states, in which they lack (democratic) instruments typically available to insiders .40 Summing up, the idea that sovereignty is internally limited by rights of individuals but externally only by rights of other states is normatively not convincing41 – plus, it does neither correspond to contemporary international law, which accepts individuals as direct legal subjects, nor to global reality, in which states have countless security measures at their disposal through which they can impact people abroad . As statehood is not a necessary condition for being a human-rights duty-bearer, this claim does neither commit one to exclude moral and/or legal human rights obligations of non-state actors . 37 The question on how far positive extraterritorial obligations go is intensely discussed but beyond the scope of this article . Plausibly, at least states’ acts and omissions with direct, foreseeable and significant effects on human rights enjoyment of individuals should be covered, see Yuval Shany, Taking Universality Seriously: A functional approach to Extraterritoriality in Human Rights Law, LEHR 7 (2013), 47–71, 69 . 38 Sigrun I . Skogly / Mark Gibney, Transnational Human Rights Obligations, HumRtsQ 24 (2002), 781– 798, 798 . 39 Peters (Fn . 23), 543 . 40 Similarly Allen Buchanan, Why International Legal Human Rights?, in: Philosophical Foundations of Human Rights, ed . by Rowan Cruft / S . Matthew Liao / Massimo Renzo, 2015, 244–262, 256 . Lafont importantly objects that not only democratic states exhibit such flaws, Lafont (Fn . 29), 43 f . 41 Moreover, the objection would implicitly assume that not being under duties to individual non-members is compatible with not violating other states’ sovereignty . Yet, when UK state agents violate human rights of Iraqi residents, e . g . by contributing to torture, it is doubtful whether this is in compliance with respect for Iraq’s sovereignty . 36

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Coming Back to Legal Implementation

Linking the interpretation of legal norms to a philosophical normative background theory is of paramount importance in the domain of human rights, given their conceptualization and the intention behind them . In the question at issue, it can contribute to the development of coherent, well-informed principles in interpreting the applicability threshold jurisdiction . The theoretical conception that should underlie jurisdiction is a widely debated issue . In the position as developed here, it is neither effective overall control (as the ECtHR suggests) nor the exercise of normative authority (i . e . authority that exhibits a reason-generating dimension that calls for compliance and is exercised with a claim to legitimacy, as some authors propose42) that subjects states to human rights obligations . With respect to human rights, not only those subject to effective control or normative authority but everyone is a stakeholder . Next to their unique ability to exercise normative authority, states are also agents with enormous de facto power and it is also by virtue of this dimension that they can gravely impact individuals’ lives . As a result, everyone affected by state conduct shall be safeguarded by this minimally protective instrument that human rights offer .43 This is one of the crucial intentions behind internationalizing human rights law: Human rights are a means to protect those affected from state conduct in light of the fact that they do not have the instruments typically available to those who are more substantially subjected and who often are, in addition, protected by domestic fundamental rights guarantees . From that perspective, the element of some form of (territorial) normative authority, such as a checkpoint,44 might be an indication but not a necessary condition for jurisdiction . This is most relevant in the field of modern security measures: If states affect people without exercising any form of normative authority (which is often the case e . g . when it comes to extraterritorial surveillance that is commanded on their own territory), they are still bound to human rights . States cannot, by acting as mere de facto powers, establish a human-rights-free zone . An important objection to such a view points to prudential considerations that call for constraining at least legal obligations to territory: While agreeing with the overall goal of realizing universal human rights enjoyment, one might argue that a territorial distribution of duties would most effectively and efficiently realize this goal – in light of the unenforceability of extraterritorial duties, the difficulty of allocating them to multiple duty-bearers, the limited foreseeability of effects abroad and the complexity of causal chains, the fragmentation of responsibility, the risk of overload for both

Besson (Fn . 34), 860 ff ., 864 f ., 873 f .; similarly Duttwiler (Fn . 16), 157 ff . See also David Cole, Rights over Borders, Cato Supreme Court Review (2008), 47–61, 60, who underlines that democratic procedures alone do not yet guarantee respect for human rights . 44 ECtHR, Jaloud v the Netherlands (Fn . 19), § 152 .

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courts and states as well as the danger of self-interested interventions under the guise of human rights . A discussion of these points goes beyond the scope of this paper, but one general consideration shall be alluded to: The assumption of universal rights and obligations is perfectly compatible with maintaining that such norms are in need of contemporary, context-specific implementation and that particular challenges states face, such as the one of extraterritoriality, can legitimately be considered in determining legal accountability in concrete cases .45 Yet, while such extraterritorial duties are demanding, stringent and inconvenient, it is also true that they apply to states as institutions, which are precisely intended for meeting stringent demands . Moreover, such prudential concerns are necessarily contingent, depending on political, social, economic and technological circumstances . In today’s world, with the many extraterritorial instruments it offers, it is unlikely that generally allowing states to disregard human rights beyond borders will provide the most effective protection system . Thus, mere practical reasons do not suffice for justifying a systematic exclusion of duties to those abroad . Accepting the extraterritorial reach of IHRL amounts to a contemporary requirement, too . 5

Conclusion

It is not denied that states, territorial associations and sovereignty continue to be of relevance . What must be denied is that they allow states to fully disregard non-members’ claims in the area of human rights . At least for this actor (state) on this level (institutional) and within this field (human rights), such principles do not curtail obligations . The territorial paradigm, often portrayed as reflecting both commonsense morality and opinio iuris, is in tension with why we have human rights in the first place . In the context of security, theoretically informed reinterpretation of the applicability trigger jurisdiction must aim at reinforcing the capability of IHRL to meet threats that contemporary security measures mean to human rights – at home or abroad . States must be bound by human rights even if they do not exert any territorial but only factual or virtual control .46 There are no human-rights-free zones when it comes to state conduct that affects human beings . Acknowledging the legitimacy

Cf . e . g . S . Matthew Liao, Human Rights as Fundamental Conditions for a Good Life, in: Cruft/Liao/ Renzo (Fn . 40), 79–100, 95 ff .; Carl Wellman, The Moral Dimensions of Human Rights, 2011 . 46 On virtual control, e . g . Francesca Bignami / Giorgio Resta, Human Rights Extraterritoriality: The Right to Privacy and National Security Surveillance, GWU Law School Public Law Research Paper 67 (2017), [accessed 3 .10 .2017], 5 . 45

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of extraterritorial human rights obligations is not taken to be the solution to all security-related problems or to amount to a thorough account of global justice . But it is one of the many necessary roads that need to be taken, not least in light of the global status quo . DOI 10 .25162/arsp-2019-0028

In dubio pro securitate?1 Ein Konflikt zwischen dem Ziel der Unschuldsvermutung und der Idee von sichernden Maßnahmen2 VERA MOSER (Bern)

1.

Einleitung

Ein Staat hat diverse Mittel, die Freiheit von Menschen rechtmäßig einzuschränken . Eines dieser Mittel ist das Strafrecht . In der strafrechtsphilosophischen Debatte wird diesbezüglich darüber diskutiert, weshalb der Staat überhaupt legitimiert ist, die Freiheit von Menschen auf eine so drastische Weise einzuschränken, wie dies das Strafrecht vorsieht .3 In diesem Zusammenhang wird über Sinn und Zweck von Strafe und Strafrecht disputiert, wobei häufig die Ansicht vertreten wird, dass der Zweck der Strafe Prävention sei . Darunter versteht man die Verhinderung von Verbrechen4, was erreicht werden soll, indem der Staat von Menschen ausgehende Gefahren abwendet, um dadurch für die Sicherheit seiner Bürger und Bürgerinnen zu sorgen .5 Eine Strafe darf einer Person aber nur dann auferlegt werden, wenn sich diese im strafrechtlichen Sinne schuldig gemacht hat .6 Nun gehen manchmal jedoch Gefahren von Menschen

Ich danke Silvano Galli, Dr . Markus Moser, Michael Müller und insbesondere Prof Dr . Martino Mona ganz herzlich für ihre wertvollen und kritischen Anregungen . 2 Im deutschen Recht wird statt von „Maßnahme“ von „Maßregel“ gesprochen . 3 Vgl . bspw . Karl-Ludwig Kunz / Martino Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2 . Auflage, Stuttgart 2015, 236 ff . oder Norbert Hoerster, Was ist Recht?, Grundfragen der Rechtsphilosophie, 2 . Auflage, München 2012, 106 ff . 4 „Verbrechen“ ist hier nicht in einem strafrechtlichen, sondern in einem soziologischen Sinne gemeint . 5 Vgl . bspw . Beatrice Brunhöber, „Ohne Sicherheit keine Freiheit“ oder „Umbau des Rechtsstaats zum Präventionsstaat“, in: Strafrecht im Präventionsstaat, hg . von Beatrice Brunhöber, Stuttgart 2014, 9 ff . 6 Vgl . bspw . Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4 . Auflage, Bern 2011, 147, N 22 . 1

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aus, die keine Schuld im strafrechtlichen Sinne tragen, während von einem Staate verlangt wird, seine Bürger und Bürgerinnen auch vor solchen Leuten zu schützen . Da diesen jedoch keine Strafe auferlegt werden kann, muss ein Staat andere Optionen haben, gefährliche aber nicht strafbare Menschen davon abzuhalten, andere zu schädigen . Die Sanktionsart der Maßnahme ist eine solche Option . Mit einer Maßnahme kann nämlich auch die Freiheit von Menschen, die sich nicht schuldig gemacht haben, auf eine gleich drastische Weise wie mittels einer Strafe rechtmäßig eingeschränkt werden, wenn diese eine potentielle Gefahr für die Gesellschaft darstellen .7 Inwiefern ein Staat die Freiheit von Einzelnen einschränken soll oder überhaupt darf, um für die Sicherheit von Vielen zu sorgen, ist jedoch umstritten .8 Mit vorliegendem Beitrag möchte ich anhand des schweizerischen Strafrechts auf einen Konflikt hinweisen, der in einem Rechtssystem angelegt ist, welches sowohl sichernde Maßnahmen als auch eine Unschuldsvermutung kennt . Dazu werde ich aufzeigen, dass ein solcher Konflikt entsteht, weil mit einer Unschuldsvermutung und sichernden Maßnahmen zwei Ziele angestrebt werden, die sich fundamental widersprechen . Um dies deutlich zu machen, gehe ich einerseits näher auf das Maßnahmenrecht und andererseits auf die Unschuldsvermutung ein . Des Weiteren werde ich drei Auswege aus diesem Konflikt thematisieren und darauf aufmerksam machen, welchen Weg die Schweiz eingeschlagen hat . 2.

Maßnahmenrecht

Der Begriff „Maßnahmenrecht“ bezeichnet einen Teil unseres Strafrechts, nämlich denjenigen, welcher die Voraussetzungen für Anordnung und Vollzug von Maßnahmen regelt .9 Auf den genauen Unterschied zwischen den Sanktionsarten der Strafe und der Maßnahme muss hier nicht auf umfassende Weise eingegangen werden . Einige Erläuterungen dazu, wie Maßnahmen den Weg ins Strafrecht fanden, eine kurze Charakterisierung der Idee von Maßnahmen und ein paar Bemerkungen zu deren Eingriffsschwere im Vergleich zu derjenigen von Strafen sollten genügen, um einen Einblick in den Bereich des Maßnahmenrechts zu erhalten, welcher für den aufzuzeigenden Konflikt ausschlaggebend ist .

Vgl . bspw . Marianne Heer, Kommentierung vor Art . 56, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, Art 1–110 StGB und Jugendstrafgesetz, Hg . von Marcel Alexander Niggli / Hans Wiprächtiger, 3 . Auflage, Basel 2013, 1171, N 1 . 8 Vgl . bspw . Anna Coninx, Unsere Sicherheit – die Freiheit der anderen? Das Problem der selektiven Freiheitsbeschränkungen in der Sicherheitspolitik, ZSR 2014 I, 103–129 . 9 Vgl . Art . 56 ff . Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21 . Dezember 1937, Stand 1 . März 2018, SR 311 .0 (im Folgenden: sStGB); vgl . § 61 ff . Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13 . November 1998, BGBl . I S . 3322, Stand 30 . Oktober 2017, BGBl . I S . 3618 . 7

In dubio pro securitate?

Wie Maßnahmen ins Strafrecht kamen

Obwohl der Begriff der Maßnahme im Sinne des heutigen Rechts im 19 . Jahrhundert noch nicht eingeführt worden ist, entstand damals durch das aufkommende positivistische Verständnis der Wissenschaft das Gedankengut, auf welchem diese Sanktionsart aufbaut . Kurzgefasst versteht man unter diesem Verständnis, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer auf Beobachtungen zurückzuführen sind .10 Dieser Gedanke beeinflusste auch das Strafrecht . Ausgehend von den Überlegungen Cesare Lombrosos versuchte die italienische positivistische Schule anhand empirischer Befunde deliktisches Verhalten zu erklären . Durch diverse Beobachtungen teilte man Verbrecher in verschiedene Kategorien ein .11 Diese Einteilung wurde im deutschen Sprachraum von Franz von Liszt aufgenommen, welcher fortan von besserungsbedürftigen und unverbesserlichen Verbrechern sprach .12 Aufgrund dieser Unterscheidung war er der Ansicht, dass es im Strafrecht ein Mittel brauche, um differenziert gegen Kriminelle vorzugehen . Im Auftrag des schweizerischen Bundesrates hatte Carl Stooss um die Jahrhundertwende vom 19 . ins 20 . Jahrhundert einen Gesetzesvorschlag zu einem neuen Sanktionssystem gemacht, wobei er sich auf die Arbeiten von Liszts bezog . Die Idee war, zusätzlich zu der Sanktionsart der Strafe Maßnahmen einzuführen 13 Diese sogenannte Zweispurigkeit des Sanktionssystems wurde 1934 in Deutschland und 1942 in der Schweiz ins Gesetz aufgenommen .14 Die Idee von sichernden Maßnahmen

Das Schweizer Strafgesetzbuch (sStGB) unterscheidet zwischen therapeutischen Maßnahmen, Verwahrung und anderen Maßnahmen .15 Unter „andere Maßnahmen“ fallen beispielsweise die Landesverweisung oder Kontakt- und Rayonverbote .16 Während solche in der Lehre als persönliche oder sachliche Maßnahmen bezeichnet werden, gelten therapeutische Maßnahmen und die Verwahrung als sichernde . Die sichernden Maß-

Vgl . Bernhard Plé, Positivismus, in: Enzyklopädie Philosophie, Band 2 I-P, hg . von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, 2099 f .; vgl . Friedrich Stadler, Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung“, Wien 1982, 18 . 11 Vgl . Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, 6 . Auflage, Bern 2011, 44 ff . 12 Vgl . Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Baden-Baden 1882/83, 42 ff . 13 Vgl . Carl Stooss, Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil, Basel und Genf 1893 (im Folgenden: Vorentwurf sStGB); vgl . Peter Kaenel, Die kriminalpolitische Konzeption von Carl Stooss im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung von Kriminalpolitik und Straftheorien, Bern 1981, 97 ff . 14 Vgl . das Gesetz vom 24 .11 .1933 RGB1 . I S . 995; vgl . sSTGB . 15 Vgl . Art . 56 ff . sStGB . 16 Vgl . Art . 66a und 66abis sStGB . 10

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nahmen werden weiter in therapeutische und isolierende eingeteilt .17 Mit dieser Einteilung wird die Unterscheidung von Liszts zwischen Besserungsbedürftigen und Unverbesserlichen aufgenommen: Mit therapeutischen Maßnahmen möchte man gegen besserungsbedürftige, mit isolierenden gegen unverbesserliche Täter und Täterinnen vorgehen . Gegenstand des vorliegenden Beitrages sind die sichernden, insbesondere die isolierenden Maßnahmen, welche ihren Ursprung im Vorentwurf zum sStGB finden . Nachfolgend soll zunächst die Grundidee sichernder Maßnahmen aufgezeigt werden, da das darin enthaltene Ziel deren Charakter wesentlich prägt und weil der Konflikt zwischen dem Ziel der Unschuldsvermutung und dem Maßnahmenrecht von dieser Idee abhängt . Um diese Grundidee aufzuzeigen, werde ich auf zwei Artikel des Vorentwurfs eingehen, obwohl die geltenden Gesetze nicht genau das Gleiche fordern wie der Vorentwurf . Die Artikel des Vorentwurfs werden dennoch hilfreich sein, das Maßnahmenrecht besser verständlich zu machen, zumal sie die Grundidee von sichernden Maßnahmen in adäquater Weise abbilden . Unter dem Titel „Verwahrung von Unzurechnungsfähigen“ steht in Artikel 10 des Vorentwurfs Folgendes: „Erfordert die öffentliche Sicherheit die Verwahrung des Unzurechnungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen in einer Anstalt, so ordnet sie das Gericht an .“18

Um nachvollziehen zu können, welche Personen als unzurechnungsfähig oder vermindert zurechnungsfähig gelten, ist Artikel 8 des Vorentwurfs mit dem Titel „Unzurechnungsfähigkeit“ aufschlussreich: „Wer zur Zeit der That geisteskrank oder blödsinnig oder bewusstlos war, ist nicht strafbar .“19

Aus dem Titel und dem Wortlaut der aufgeführten Norm ist zu schließen, dass eine Person als unzurechnungsfähig gilt, wenn sie – in der Ausdrucksweise des Vorentwurfs – geisteskrank, blödsinnig oder bewusstlos ist .20 Da diese Eigenschaften in gradueller Abstufung auftreten können, kann eine Person auch vermindert zurechnungsfähig sein . Diese beiden Artikel weisen auf zwei zentrale Merkmale einer sichernden Maßnahme hin . Erstens muss die für die rechtmäßige Anordnung einer Strafe notwendige Bedingung, dass die zu bestrafende Person strafbar sein muss, für die Anordnung einer sichernden Maßnahme nicht gegeben sein . Zweitens muss die öffentliche Sicherheit eine solche Maßnahme erfordern, was erfüllt ist, wenn die betroffene Person eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt . Die wegweisende Voraussetzung einer sichernden

Daniel Jositsch / Gian Ege / Christian Schwarzenegger, Strafrecht II, Strafen und Maßnahmen, 9 . Auflage, Zürich 2018, 38 . 18 Art . 10 Vorentwurf sStGB . 19 Art . 8 Vorentwurf sStGB . 20 Heute werden nicht mehr dieselben Ausdrücke verwendet wie im Vorentwurf zum sStGB, beispielsweise spricht das sStGB heute von „psychisch gestört“ statt von „geisteskrank“ . 17

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Maßnahme ist also in der von einer Person ausgehenden Gefahr zu suchen und nicht wie bei einer Strafe in der Verantwortung dieser Person, also nicht darin, dass man der betroffenen Person ein Unrecht persönlich vorwerfen können muss; nicht darin, dass sie schuldhaft gehandelt hat . Auch das geltende Schweizer Strafrecht sieht vor, dass für die Anordnung einer Maßnahme die betroffene Person nicht schuldhaft gehandelt haben muss,21 sondern dass sie die öffentliche Sicherheit gefährdet .22 Die Eingriffsschwere einer sichernden Maßnahme im Vergleich zu derjenigen einer Strafe

Nachdem die Idee von sichernden Maßnahmen dargelegt wurde, soll nun deren Eingriffsschwere im Vergleich zu derjenigen von Strafen diskutiert werden . Denn der Konflikt, welchen ich vorliegend aufzeigen möchte, hängt nicht nur von der Idee sichernder Maßnahmen ab, sondern auch vom Verhältnis der Eingriffsschwere verschiedener Sanktionierungen . Da eine sichernde Maßnahme ihrer Natur nach solange andauern muss, bis keine Gefahr mehr von der betroffenen Person ausgeht, sich die Dauer einer Strafe hingegen an der Schwere eines begangenen Delikts misst, muss der auf einer Maßnahme beruhende Freiheitsentzug im Gegensatz zu demjenigen einer Strafe zeitlich unbestimmt sein .23 Aufgrund dessen ist gesetzlich vorgesehen, dass sichernde Maßnahmen auf unbestimmte Zeit angeordnet24 oder, falls erforderlich, verlängert werden .25 Faktisch kann eine als gefährlich eingestufte Person demnach ihr ganzes Leben in einer freiheitsentziehenden Anstalt untergebracht werden, was theoretisch auch möglich sein muss, da sichernde Maßnahmen gerade dazu dienen, die Gesellschaft vor gefährlichen Personen zu schützen . In der Schweiz kann sogar von Vorneherein eine lebenslängliche Verwahrung ausgesprochen werden, falls davon ausgegangen wird, die betroffene Person sei nicht therapierbar,26 also unverbesserlich im Sinne Franz von Liszts . Hinsichtlich der Intensität des Freiheitseingriffes spricht theoretisch jedoch nichts dagegen, dass Maßnahmen milder ausgestaltet werden als Strafen . Im Vollzug könnte es beispielsweise mehr Freizeitangebote geben oder es könnten häufiger Besuche erlaubt sein . Weil Maßnahmen gegenüber Strafen tatsächlich auch milder ausgestaltet sein sollten, da der damit verbundene Freiheitseingriff keinen Schuldvorwurf voraussetzt, sieht das deutsche Recht vor, dass Maßnahmen

21 22 23 24 25 26

Vgl . Art . 19 Abs . 1 und 3 sStGB . Vgl . Art . 56 Abs . 1 sStGB . Vgl . Daniel Jositsch / Gian Ege / Christan Schwarzenegger (Fn 17), 30 . Vgl . Daniel Jositsch / Gian Ege / Christan Schwarzenegger (Fn 17), 30 . Vgl . Art . 59 Abs . 4 sStGB . Vgl . Art . 64 Abs . 1bis sStGB .

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nicht in denselben Anstalten vollzogen werden wie Strafen .27 In der Schweiz ist dieses sogenannte Abstandsgebot jedoch nicht gesetzlich festgehalten,28 was dazu führt, dass es Justizvollzugsanstalten gibt, in welchen sowohl Strafen als auch Maßnahmen vollzogen werden .29 Damit der Freiheitseingriff durch eine Maßnahme aber insgesamt milder wäre als derjenige durch eine Strafe, müsste nicht nur die Intensität des Eingriffs weniger einschneidend sein, sondern auch die Dauer einer Maßnahme müsste, wie bei einer Strafe, bestimmt sein . Denn bereits aufgrund der Dauer, insbesondere der Ungewissheit darüber, sind die betroffenen Personen psychischen Belastungen ausgesetzt, was persönlichkeitsschädigend wirkt .30 Die Verwahrung gilt sogar deshalb als einschneidendste Sanktionsform, weil dadurch einer Person auf unbestimmte Zeit die Freiheit entzogen werden kann .31 3.

Unschuldsvermutung

Nach diesem kurzen Überblick über die Maßnahmen soll nun auch die Idee der Unschuldsvermutung vermittelt werden, damit der Konflikt zwischen dem Ziel der Unschuldsvermutung und der Idee von sichernden Maßnahmen, verdeutlicht werden kann . Dazu wird nachfolgend erstens dargelegt, wie die Unschuldsvermutung ins Recht kam, zweitens deren Ziel aufgezeigt und drittens erläutert, wie dieser rechtsstaatliche Grundsatz im Schweizer Recht ausgestaltet ist . Wie die Unschuldsvermutung ins Recht kam

Seit wann in den Köpfen der Menschen die Idee einer Unschuldsvermutung existiert, kann nicht genau festgestellt werden . Hinweise darauf findet man aber bereits im kanonischen Recht .32 In der Zeit der Aufklärung verstärkt sich der Gedanke,33 je-

Vgl . BVerfG, Urteil vom 5 . Februar 2004, 2 BVR 2029/01; vgl . BVerfG, Urteil vom 4 . Mai 2011, 2 BVR 2365/09 . 28 Vgl . Art . 64 Abs . 4 sStGB 29 Bspw . JVA Pöschwies . 30 Vgl . Thomas Uwer / Jasper von Schlieffen, Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, in: Policy Paper der Strafverteidigervereinigungen, hg . von der Strafverteidigervereinigungen, Berlin 2016, 6 ff .; vgl . Benjamin Steinhilber, Entwicklungspotentiale der „Schwurgerichtslösung“ – Strukturelle Defizite des Procedere bei lebenslanger Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld, ZIS 2013 9–10, 396 . 31 Vgl . Daniel Jositsch / Gian Ege / Christan Schwarzenegger (Fn 17), 211 . 32 Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin und New York 1998, 14 f .; vgl . bspw . die Nachweise bei Jan Zopfs, Der Grundsatz ‚in dubio pro reo‘, Baden-Baden 1999, 107 ff . 33 Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 24 ff . 27

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doch nimmt seine Relevanz im 19 . Jahrhundert besonders in Deutschland wieder ab,34 er schien dort sogar bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Vergessenheit geraten zu sein .35 In Italien setzten sich aber sowohl die positivistische als auch die klassische Schule in diesem Jahrhundert mit der Idee einer Unschuldsvermutung auseinander . Während die Anhänger der klassischen Schule um Carmignani und Carrara diesen Grundsatz forderten, kritisierte ihn die positivistische Schule und zwar aufgrund des oben bereits erwähnten Verständnisses der Wissenschaft und der Einteilung von Kriminellen in Verbesserungsbedürftige und Unverbesserliche .36 Die positivistische Schule forderte also nicht nur eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Tätertypen hinsichtlich einer Sanktionierung, sondern auch im Hinblick auf eine Unschuldsvermutung . Enrico Ferri, ein wichtiger Vertreter dieser Schule, war der Ansicht, dass bei Verbesserungsbedürftigen eine Unschuldsvermutung angewandt werden sollte, bei Unverbesserlichen jedoch nicht . Diese Unterscheidung begründete er damit, dass die Anwendung einer Unschuldsvermutung bei Unverbesserlichen dem öffentlichen Interesse schade .37 Auch im 20 . Jahrhundert lehnten sowohl die deutschen Nationalsozialisten als auch die italienischen Faschisten die Unschuldsvermutung als Grundsatz ab . Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein solcher Grundsatz sowohl ins internationale Recht als auch in nationale Rechte aufgenommen .38 Für den deutschen Sprachraum ist die wohl wichtigste Kodifizierung dieses Grundsatzes Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) . In der Schweiz finden sich weitere Normierungen in der Bundesverfassung (BV) sowie in der Strafprozessordnung (sStPO) . Das Ziel der Unschuldsvermutung

Im Folgenden wird dem Ziel der Unschuldsvermutung nachgegangen . Dabei steht nicht eine spezifische Auffassung, zum Beispiel die des Schweizer Rechts im Vordergrund, vielmehr soll der Grundgedanke aufgezeigt werden, indem die Kodifizierung der EMRK betrachtet wird . Der Fokus liegt dabei einerseits auf Artikel 6 Absatz 2 EMRK und andererseits auf der Präambel dieser Konvention . In Artikel 6 Absatz 2 EMRK unter dem Titel „Recht auf ein faires Verfahren“ steht Folgendes:

34 35 36 37 38

Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 37 ff . Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 39 . Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 40 ff . Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 42 . Vgl . bspw . die Nachweise bei Carl-Friedrich Stuckenberg (Fn . 32), 44 ff .

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„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig .“39

Wie dem Titel zu entnehmen ist, geht es bei der Unschuldsvermutung darum, dass der Staat in einem Strafverfahren fair zu handeln hat . Man könnte dieses faire Handeln also als Ziel der Unschuldsvermutung ansehen . Um dieses Ziel besser zu verstehen, muss aber auch das Ziel der gesamten EMRK betrachtet werden . Gemäß der Präambel der EMRK sollen die dort aufgestellten Grundsätze den Glauben an Gerechtigkeit und die Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bekräftigen .40 Ein weiterer zentraler Aspekt der EMRK ist es, grundlegende Rechte aller Menschen zu schützen .41 Auch die Unschuldsvermutung ist ein solches Recht, welches für alle Menschen gelten soll .42 Das Ziel der Unschuldsvermutung kann also folgendermaßen formuliert werden: Aufgrund von Freiheits-, Gerechtigkeits- und Rechtsstaatlichkeitsüberlegungen sollte das Recht aller Menschen auf ein faires Handeln des Staates geschützt werden . Die Unschuldsvermutung im Schweizer Recht

Artikel 6 Absatz 2 EMRK ist auch im Schweizer Recht aufgenommen worden und wird in der BV sowie in der der sStPO in einer etwas abgewandelter Form aufgeführt: Art . 32 Abs . 1 BV: „Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig .“43 Art . 10 Abs . 1 sStPO: „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig .“44

Obwohl im Schweizer Recht von „rechtskräftigen Verurteilung“ die Rede ist, ist damit das Gleiche gemeint wie in der EMRK: Eine Person gilt als unschuldig, bis ihre Schuld gerichtlich bewiesen ist .45 In der sStPO sind nach dieser Formulierung der Unschuldsvermutung noch zwei weitere Artikel aufgeführt: Art . 6 Abs . 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4 . November 1950, Stand 32 . Februar 2012 (im Folgenden: EMRK) . 40 Vgl . die Präambel der EMRK . 41 Vgl . Art . 1 EMRK . 42 Vgl . Jens Meyer-Ladewig / Stefan Harrendorf / Stefan König, Kommentierung Art . 6, in: EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, Hg . von Jens Meyer-Ladewig, 4 . Auflage, Baden-Baden 2017, 188 f . 43 Art . 32 Abs . 1 Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18 . April 1999, Stand 1 . Januar, 2018, SR 101 (im Folgenden: BV) . 44 Art . 10 Abs . 1 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5 . Oktober 2007, Stand 1 . März 2018, SR 321 .0 (im Folgenden: sStPO) . 45 Vgl . Franz Riklin, Kommentierung Art . 10, in: StPO, Schweizerische Strafprozessordnung mit JStPO, StBOG und weiteren Erlassen, 2 . Auflage, Zürich 2014, 103, N 1 . 39

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Art . 10 Abs . 2 sStPO: „Das Gericht würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung .“46 Art . 10 Abs . 3 sStPO: „Bestehen unüberwindliche Zweifel an der Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat, so geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus .“47

Absatz 2 bringt zum Ausdruck, dass das Gericht zu einer Überzeugung darüber gelangen soll, ob eine Tatsache bewiesen ist oder nicht . Dies bedeutet, dass der Richter oder die Richterin aufgrund von Gutachten, Zeugenaussagen oder anderen Mitteln, die das Vorliegen von Tatsachen begründen könnten, persönlich überzeugt werden muss und es keine gesetzlichen Beweisregeln gibt, die beispielsweise bestimmen, welchen Zeugen mehr Glauben geschenkt werden soll .48 Absatz 3 stellt eine Ausnahme dieser Regelung dar und lässt sich aus der Unschuldsvermutung ableiten . Bekannt ist diese Ausnahme der freien Beweiswürdigung als „in dubio pro reo“-Grundsatz .49 4.

Ein Konflikt im schweizerischen Strafrecht

Nachfolgend werde ich in einem ersten Schritt aufzeigen, dass im schweizerischen Strafrecht ein Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und dem Maßnahmenrecht angelegt ist, weil sich sichernde Maßnahmen ihrer Natur nach nicht mit dem Ziel der Unschuldsvermutung vereinbaren lassen . Beim Aufzeigen dieses Konflikts wird der mit der Unschuldsvermutung in systematischem Zusammenhang stehende „in dubio pro reo“-Grundsatz im Vordergrund stehen . In einem zweiten Schritt lege ich dann dar, dass diese Unvereinbarkeit von sichernden Maßnahmen und der Unschuldsvermutung transparenter gemacht werden muss und inwiefern dies geschehen könnte . Die Unvereinbarkeit von sichernden Maßnahmen und der Unschuldsvermutung

Um zu verstehen, weshalb sich sichernde Maßnahmen nicht mit dem „in dubio pro reo“-Grundsatz, welcher mit der Unschuldsvermutung in einem systematischen Zusammenhang steht, vereinbaren lassen, soll das nachfolgende Gedankenexperiment dienlich sein . Gehen wir davon aus, ein Gericht muss prüfen, ob eine Angeklagte we46 47 48 49

Art . 10 Abs . 2 sStPO . Art . 10 Abs . 3 sStPO . Franz Ricklin (Fn 45), 104, N 3 . Franz Ricklin (Fn 45), 105, N 8 .

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gen vorsätzlicher Tötung50 zu bestrafen ist . Stellen wir uns vor, die Angeklagte hätte tatbestandsmäßig und rechtswidrig gehandelt, jedoch konnte ihre Schuld nicht ohne unüberwindliche Zweifel festgestellt werden, es konnte also nicht in Erfahrung gebracht werden, ob sie zum Tatzeitpunkt fähig war, ihre Tat als Unrecht zu erkennen; ob beispielsweise eine psychische Störung vorlag, welche eine solche Einsicht ausgeschlossen hätte . In diesem Fall bestehen Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen der Schuld . Ziehen wir das Gedankenexperiment weiter und nehmen an, die Frau stellt eine Gefahr für die Gesellschaft dar . Um den „in dubio pro reo“-Grundsatz anzuwenden, müsste das Gericht zum Urteilszeitpunkt feststellen können, ob eine Schuldannahme oder eine Nicht-Schuldannahme zu einer milderen Sanktionierung führt . Dass das Gericht dies jedoch nicht feststellen kann, soll nachfolgend begründet werden . Unabhängig davon, wie das Gericht hinsichtlich der Schuld entscheidet, ordnet es aufgrund der Gefährlichkeit der Angeklagten eine sichernde Maßnahme an . In der Schweiz könnte unter Umständen sogar eine lebenslängliche Verwahrung ausgesprochen werden . Falls die Angeklagte auch als schuldig angesehen wird, würde das Gericht zusätzlich eine Strafe anordnen . Solange die Angeklagte aber als gefährlich eingestuft wird, würde sich dabei an der Dauer der Sanktionierung nichts ändern, da die Dauer von Strafen und Maßnahmen miteinander verrechnet werden .51 Damit das Gericht nun so urteilen kann, dass die für die Angeklagte mildere Sanktionierung folgt, müsste es darüber Bescheid wissen, wie die verschiedenen Konsequenzen, welche sich aus dem in Zweifel stehenden Sachverhalt ergeben, auf die Angeklagte wirken . Um die Wirkung dieser Konsequenzen festzustellen, müssten wir in Erfahrung bringen können, welchen Einfluss ein künftiger Freiheitseingriff auf eine Person hat . Da sichernde Maßnahmen ihrer Natur nach zeitlich unbestimmt sind und Strafen theoretisch in ihrer Intensität einschneidender sein könnten als Maßnahmen, müsste dabei auch in Erfahrung gebracht werden, inwiefern die unbestimmte Dauer sowie die Intensität eines solchen Eingriffs die Psyche der Angeklagten belasten wird . Dieser Blick in die Zukunft bleibt uns jedoch verwehrt . Man könnte dennoch mittels empirischer Studien zu ermitteln versuchen, wie verschiedene Sanktionierungen im Allgemeinen auf Betroffene wirken . Von der sich daraus ergebenden Datenlage ausgehend, könnte dann eine Prognose über die künftigen Wirkungen auf die betroffene Person erstellt werden . Damit aber festgestellt werden kann, welche Sanktionierung für die betroffene Person weniger einschneidend ist, müsste die Intensität eines Freiheitseingriffs mit der unbestimmten Dauer eines solchen aufgewogen werden können . Die Intensität eines Freiheitseingriffs dessen Dauer gegenüberzustellen und diese gegeneinander abzuwägen, erscheint mir jedoch bereits auf theoretischer Ebene unmöglich, da zwei

50 51

Vgl . Art . 111 sStGB . Vgl . Art . 57 Abs . 3 sStGB .

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Dinge verschiedener Art nicht miteinander verglichen werden können . Des Weiteren hängt eine Abwägung der Schwere verschiedener Freiheitseingriffe von individuellen Gesichtspunkten ab, weshalb eine Prognose der Wirkungen aufgrund allgemeiner Forschungsergebnisse in Bezug auf die Angeklagte nicht befriedigend sein wird . Denn es ist nur möglich die Wirkungen bereits vollzogener Freiheitseingriffe zu untersuchen; die tatsächlichen Wirkungen auf die betroffene Person können wir zum Zeitpunkt des Urteils nicht in Erfahrung bringen . Das Gericht im dargelegten Gedankenexperiment kann also nicht feststellen, welche Sachlage zu der für die Angeklagte günstigeren Konsequenz führt, da einerseits die Wirkungen verschiedener Sanktionsarten vorgängig untersucht werden müssten und andererseits eine Abwägung der Eingriffsschweren der infragestehenden Sanktionierungen aufgrund des Vergleichs von Intensität und Dauer bereits auf theoretischer Ebene unmöglich erscheint . Sichernde Maßnahmen stehen also in einem Konflikt mit dem „in dubio pro reo“-Grundsatz, solange nicht festgestellt werden kann, welche der infragestehenden Sanktionierungen für eine betroffene Person günstiger ist .52 Wenn aber der „in dubio pro reo“-Grundsatz auf der Schuldebene bei gefährlichen Personen nicht angewandt werden kann, weil für die Anordnung sichernder Maßnahmen nicht die Schuld, sondern die Gefährlichkeit maßgebend ist, kann man dem Ziel der Unschuldsvermutung nicht gerecht werden . Denn diesem Ziel zufolge sollte die Unschuldsvermutung und der mit ihr in systematischem Zusammenhang stehende „in dubio pro reo“-Grundsatz für alle Menschen gelten und ein faires Handeln des Staates garantieren . Dies ist jedoch nicht möglich, solange ein Staat sichernde Maßnahmen kennt, da die Unschuldsvermutung überhaupt nicht greifen kann, wenn eine Sanktionierung nicht von der Schuld, sondern der Gefährlichkeit abhängt . Gefährliche Personen werden also aufgrund ihrer Beschaffenheit von der Unschuldsvermutung ausgeschlossen, was dem Grundgedanken von Menschenrechten widerspricht . Nun könnte die Unschuldsvermutung beim Entscheid, ob eine sichernde Maßnahme anzuordnen ist, zu einer Ungefährlichkeitsvermutung umgestaltet werden . Somit würde der Grundsatz dennoch für alle Menschen gelten . Im Gegensatz zu der Unschuldsvermutung hängt eine Ungefährlichkeitsvermutung aber von Prognosen ab, welche immer erhebliche Zweifel enthalten, da uns künftige Tatsachen unzugänglich sind . Ob sichernde Maßnahmen bei Geltung einer Ungefährlichkeitsvermutung überhaupt noch zur Anwendung kommen, kann also ernsthaft in Frage gestellt werden .

Eine Vereinbarung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes mit dem bestehenden Schweizer Maßnahmenrecht ist sogar ausgeschlossen, da im Schweizer Recht kein Abstandsgebot vorgesehen ist . Ohne getrennten Vollzug kann nämlich bereits in Frage gestellt werden, ob Maßnahmen hinsichtlich der Intensität des Freiheitseingriffs milder sind als Strafen . 52

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Transparenz der Unvereinbarkeit

Um eine konstruktive Diskussion darüber führen zu können, wie wir mit diesem Konflikt umgehen möchten, werde ich nun aufzeigen, inwiefern die Unvereinbarkeit von sichernden Maßnahmen und der Unschuldsvermutung, insbesondere des „in dubio pro reo“-Grundsatzes, besser ans Licht gebracht werden könnte . Die Unschuldsvermutung und der „in dubio pro reo“-Grundsatz müssen selbstverständlich angewendet werden, bevor klar ist, welche Sanktion jemandem auferlegt wird . Dies bedeutet, dass das beurteilende Gericht, nachdem es die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit geprüft hat, die Schuld der angeklagten Person beurteilen muss, bevor es über deren Gefährlichkeit befindet . Wenn nun die Schuld nicht bewiesen werden kann und das Gericht deshalb die Unschuldsvermutung und den „in dubio pro reo“-Grundsatz anwendet, weiß man in diesem Moment noch nicht, ob die angeklagte Person bei der darauffolgenden Gefährlichkeitsprüfung als gefährlich eingestuft wird . Ohne zu wissen, ob eine Gefährlichkeitsprüfung positiv ausfallen wird, kann sich ein Gericht aber nicht auf eine Sanktionierung festlegen . Falls jedoch bereits eine Gefährlichkeitsprüfung stattgefunden hätte und positiv ausgefallen wäre, könnte das Gericht hinsichtlich der Schuld den „in dubio pro reo“-Grundsatz überhaupt nicht mehr anwenden, weil dieser, wie oben dargelegt, in diesem Fall keinen Sinn ergibt . Da aber in der Praxis die Schuld und die Gefährlichkeit häufig anhand derselben psychiatrischen Gutachten beurteilt werden, wird der Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und sichernden Maßnahmen verschleiert . Der Konflikt könnte jedoch ans Licht gebracht werden, wenn die Gerichte die Gefährlichkeit einer Person immer vor der Schuld prüften . Denn dadurch würde deutlich werden, dass die Sanktionierung von gefährlichen Personen nicht von ihrer Schuld abhängt und wir somit gewisse Menschen aufgrund ihrer Beschaffenheit von einem Recht ausschließen, obwohl die Schweiz, erst ca . 30 Jahre nachdem die sichernden Maßnahmen eingeführt wurden, die EMRK ratifizierte und sich somit verpflichtete, die Unschuldsvermutung für alle Menschen anzuwenden . 5.

Auswege aus dem Konflikt

Dass zum Zeitpunkt der Ratifizierung der EMRK die Unschuldsvermutung mit dem damals bereits geltenden Maßnahmenrecht in einem Konflikt gestanden hat, wurde damals entweder noch nicht erkannt oder nicht berücksichtigt . Um aus diesem Konflikt herauszufinden, können drei verschiedene Wege gegangen werden, wobei einer dieser Wege meines Erachtens nicht gänzlich ausreicht, den Konflikt zu lösen . Dennoch soll er im Folgenden angesprochen werden . Ein möglicher Weg wäre, als gefährlich eingestufte Personen vom Grundsatz der Unschuldsvermutung generell auszuschließen . Unser präventionsorientiertes Straf-

In dubio pro securitate?

recht deutet daraufhin, dass dies der Weg ist, welchen wir eingeschlagen haben . Um diesen Weg aufrichtig zu gehen, kann aber dem Ziel der Unschuldsvermutung und somit der EMRK nicht Rechnung getragen werden . Da die EMRK jedoch erst ratifiziert wurde, nachdem sichernde Maßnahmen ins Gesetz aufgenommen wurden, scheint es, als ob die Schweiz oder zumindest ein Teil der Bevölkerung schon damals der Meinung war, wir sollten Menschen nicht aufgrund ihrer Beschaffenheit von denjenigen Rechten ausschließen, welche in der EMRK aufgeführt sind und die den Anspruch haben, für alle Menschen zu gelten . Ein anderer möglicher Weg wäre, sichernde Maßnahmen aus dem Strafrecht zu nehmen, solange empirisch nicht belegt ist, dass sichernde Maßnahmen für die Betroffenen milder sind als Strafen . Dass ein solcher empirischer Nachweis unmöglich erscheint, wurde in Ziffer 4 dargelegt . Möchte man dennoch versuchen, zu zeigen, dass sichernde Maßnahmen, also zeitlich unbestimmte Sanktionen, für die Betroffenen milder sind als Strafen, also als zeitlich bestimmte Sanktionen, müssten sichernde Maßnahmen und Strafen getrennt vollzogen werden . Ein Abstandsgebot wäre also eine Voraussetzung dafür, sowohl die Unschuldsvermutung für als gefährlich eingestufte Personen anzuwenden als auch sichernde Maßnahmen im Strafrecht beizubehalten . Es ist also denkbar, dass der Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und den sichernden Maßnahmen durch ein Abstandsgebot aufgehoben werden könnte . Damit der Konflikt dadurch aber gänzlich gelöst werden kann, reicht ein Abstandsgebot nicht aus . Es müsste zusätzlich nachgewiesen werden, dass sichernde Maßnahmen für die Betroffenen tatsächlich milder sind als Strafen . Sobald dies belegt wäre, könnte ein Abstandsgebot aber ein dritter möglicher Weg sein, den Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und sichernden Maßnahmen aufzulösen . Da mir ein solcher Beleg jedoch unmöglich erscheint, muss meines Erachtens einer der anderen beiden Wege eingeschlagen werden, um den Konflikt gänzlich zu lösen . Von diesen beiden Wegen wäre derjenige, welcher sichernde Maßnahmen aus dem Strafrecht nimmt, der humanere, da er im Gegensatz zum anderen den Ansprüchen der Menschenrechte gerecht werden kann . Wenn die Schweiz nicht den widersprüchlichen Weg weitergehen möchte, welchen sie mit der Ratifizierung der EMRK eingeschlagen hat, obwohl sie schon damals ein zweispuriges Sanktionssystem kannte, muss sie also einen dieser beiden Wege wählen, solange empirisch nicht nachgewiesen ist, dass durch ein Abstandsgebot gewährleistet wird, dass sichernden Maßnahmen für die Betroffenen milder sind als Strafen . 6.

Fazit

Im 20 . Jahrhundert sind sowohl sichernde Maßnahmen als auch der rechtsstaatliche Grundsatz der Unschuldsvermutung ins Strafrecht aufgenommen worden . Während mit der neuen Sanktionsart mehr Sicherheit geschaffen werden soll, möchte man durch die Kodifizierung der Unschuldsvermutung jedem Menschen ein Recht auf ein faires

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Handeln des Staates gewährleisten . Alle Menschen fair zu behandeln und zugleich die Gesellschaft vor gefährlichen Menschen zu schützen, ist jedoch kein einfaches Unterfangen . Denn eine unschuldige Person kann durchaus eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellen; gerade wenn eine Person nicht schuldhaft gehandelt hat, weil sie das Unrecht ihrer Tat nicht zu erkennen vermochte, ist es möglich oder sogar wahrscheinlich, dass diese Person aufgrund ihrer Uneinsichtigkeit anderen schaden wird . Dass das Ziel der Unschuldsvermutung dem Maßnahmenrecht widerspricht, wurde vorliegend aufgezeigt, indem dargelegt wurde, wie diese beiden Vorstellungen den Weg ins Recht gefunden haben, die dahintersteckenden Ideen erläutert wurden und anhand der Ausgestaltungen sowohl der Unschuldsvermutung als auch der sichernden Maßnahmen im Schweizer Recht Unvereinbarkeiten zwischen den beiden aufgedeckt worden sind . Solange sich ein Staat an die Unschuldsvermutung halten möchte, darf er Unschuldigen keine Sanktion auferlegen, welche einschneidender ist als eine von einer persönlichen Schuld abhängende Strafe . Denn die Gerichte müssen, falls erhebliche Zweifel an der Erfüllung der Voraussetzungen einer angeklagten Tat bestehen, von derjenigen Sachlage ausgehen, welche für die angeklagte Person günstiger ist . Eine Sachlage, aufgrund welcher jemand in ihrer oder seiner Freiheit stärker eingeschränkt wird als durch eine Strafe, kann für die betroffene Person nicht günstiger sein als die Sachlage, welche diese Strafe nach sich zieht . Die Schweiz hat sich den dargelegten Widersprüchlichkeiten verpflichtet, indem sie sowohl das Maßnahmenrecht als auch die Unschuldsvermutung der EMRK in ihre Gesetze aufgenommen hat . Um sich von diesen Widersprüchlichkeiten zu lösen, muss sie meines Erachtens eines der beiden Dinge aufgeben . Der momentane kriminalpolitische Kurs, welcher sich immer mehr an der Verhinderung künftiger Verbrechen orientiert, spricht dafür, dass sich die Schweiz gegen die Unschuldsvermutung entscheidet . Die menschengerechtere Lösung wäre jedoch das Aufgeben von sichernden Maßnahmen, sofern nicht ausreichend belegt ist, dass mit sichernden Maßnahmen weniger stark in die individuelle Freiheit eingegriffen wird als mit Strafen .

Freie Rede, gefährliche Rede? Prävention von Gewaltanstiftung: Perspektiven inner- und außerhalb des Strafrechts SILVIA DONZELLI (Berlin)

Der Konflikt zwischen individueller Freiheit und staatlichem Zwang, ein zentrales Thema der politischen Philosophie, ist gegenwärtig in den Fokus der öffentlichen Sicherheitsdebatte gerückt . Ein Schlüsselbegriff der gegenwärtigen Diskussion um die Legitimität staatlicher Eingriffe in die individuelle Freiheitssphäre ist Gewaltprävention . Nun lässt sich feststellen, dass Gewalttaten von unterschiedlichen Faktoren und Akteuren gefördert werden können, und darüber hinaus, dass die aktuell befürchteten Formen diskriminierender und terroristischer Gewalt eine starke soziale und ideologische Dimension aufweisen . Daher widmet sich der Diskurs um Gewaltprävention, neben den mutmaßlichen Tätern mitunter auch den Akteuren, die ohne jegliche Gewalt auszuüben, diese dennoch unterstützen . Die Förderung von Gewalt kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, zum Beispiel durch Lieferung von Waffen und Logistik . Gewalttaten können aber auch auf der psychischen Ebene unterstützt werden, nämlich durch Einwirken auf die Motivation des Täters . Das Mittel, das dabei zum Einsatz kommt, ist die Rede . Eine als präventive Maβnahme gedachte Einschränkung der Redefreiheit stellt sich allerdings als besonders problematisch dar . Als Vehikel der Selbstbekundung, Bedingung für den Austausch von Gedanken und Meinungen und daher unentbehrliche Voraussetzung einer demokratischen Ordnung genießt die freie Meinungsäußerung unter den liberalen Grundrechten einen Sonderstatus . Während die Legitimität der Einschränkung der Redefreiheit eine viel debattierte Herausforderung für die politische Philosophie darstellt, wird doch die Notwendigkeit der Einschränkung dieses Grundrechtes im strafrechtlichen Begriff der Anstiftung bereits anerkannt . Es sei wohlbemerkt, dass es bei dieser Strafnorm in erster Linie nicht um psychische Schäden geht, wie es zum Beispiel bei verletzenden Worten und Hassrede (hate speech)

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der Fall ist, sondern um die Fähigkeit der Rede, die Zuhörer zur Gewalt zu motivieren . Die Begründung für strafrechtliche Sanktionen liegt bei Anstiftungsfällen im Schutz potentieller Opfer vor indirekten physischen Schäden . Der Anstiftungsbegriff, also die Idee, dass Rede Gewalttaten hervorrufen kann, bereitet eine Vielzahl an theoretischen und empirischen Schwierigkeiten . Zunächst einmal weisen Anstiftungsfälle eine dreifache Struktur auf, deren Glieder – Anstifter, Haupttäter und Opfer – Individuen oder Gruppen sein können . Diese relationale Logik erschwert die Bestimmung der Verantwortung des Anstifters, da sowohl seine Absicht als auch die kausale Wirkung seiner Handlungen stets in Bezug auf die Handlungen des Haupttäters gedacht werden müssen . Darüber hinaus ist der Gedanke, dass man lediglich aufgrund gesagter Worte für die physischen Schäden mitverantwortlich sein kann die Andere zufügen, im Hinblick auf den fraglichen kausalen Zusammenhang zwischen Rede und Handlung problematisch . Denn die Wirkung einer Rede ist von einer Vielzahl an Faktoren abhängig, beispielsweise dem historisch-gesellschaftlichen Kontext, der psychologischen Lage der Zuhörer – schließlich der Reaktivität der Zuhörer auf die Kommunikation . Aus diesem Grund ist es schwierig, die moralische und strafrechtliche Verantwortung eines Anstifters retrospektiv, also ex post facto nachzuverfolgen . Noch schwieriger ist es jedoch, die potentielle Gefährlichkeit der Rede im Voraus zu bestimmen und daher mögliche Kriterien für die Einschränkung der Rede ex ante facto festzulegen . Angesichts der prominenten Rolle, welche die Anstiftung bei Fällen von Gruppengewalt sowie als Legitimierungs- und Normalisierungsstrategie diskriminierender Gewalt spielt, ist die Suche nach einem normativen Rahmen für potentiell anstiftende Rede allerdings unabdingbar . Die heikle Frage nach einer angemessenen normativen Definition von Anstiftung, welche den Herausforderungen der Verantwortungszuschreibung gerecht wird und die Balance zwischen Redefreiheit und Gewaltprävention berücksichtigt, ist für Moralphilosophie, Politische Theorie und Rechtswissenschaft von brennender Aktualität . Es lohnt sich zu erkunden, welche Lösungen das Strafrecht für die Herausforderungen des Problems der Gewaltanstiftung bietet . Im Folgenden wird zunächst auf die Verantwortung des Anstifters fokussiert . Die leitende Frage dabei ist, welche Bedingungen sich für die Verantwortungszuschreibung in Anstiftungsfällen sinnvollerweise aufstellen lassen – und zwar solche, die sowohl in Hinblick auf die moralische als auch auf die strafrechtliche Verantwortung relevant sind . Hierfür werde ich Ansätze aus dem Strafrecht Deutschlands und der Vereinigten Staaten kritisch überprüfen . Ein besonderes Augenmerk werde ich einem normativen Kriterium schenken, das vom Obersten Gericht in den U . S . A . für die Bestimmung der Strafbarkeit anstiftender Rede entwickelt wurde . Verglichen mit der Definition im deutschen Strafrecht sieht das Modell aus den Vereinigten Staaten eine zusätzliche Bedingung für die Definition von Anstiftung vor, nämlich die Anforderung, dass die Rede eine zeitlich unmittelbare Tat hervorruft . Diese Bedingung sowie einige mögliche Interpretationen ihrer Bedeu-

Freie Rede, gefährliche Rede?

tung werde ich genauer untersuchen und zeigen, dass sie als Kriterium für die Verantwortungszuschreibung nicht plausibel ist . Allerdings kann Gewaltprävention, die auf Anstiftung fokussiert, auch unabhängig von der Frage nach der Verantwortungszuschreibung und Sanktionierung des Anstifters verfolgt werden . Vorgestellt wird ein internationales Projekt, das die Rolle der Rede bei Fällen von Massengewalt erforscht und dabei eine präventive Strategie verfolgt, die auf strafrechtliche Sanktionen grundsätzlich verzichtet und die potentielle Gefährlichkeit der Rede mit anderen Mitteln zu kontern versucht . Folgende Bemerkungen möchte ich voranstellen: im Folgenden wird der Terminus Anstiftung weitgehend als Sammelbegriff verwendet, um das Phänomen der Motivation von Gewalttätern durch kommunikative Mittel in seinem vollen Umfang zu bezeichnen . Daher wird der Frage nach der Verantwortung des Anstifters unabhängig davon, ob die Rede sich an bestimmte Zuhörer oder an die Öffentlichkeit richtet, nachgegangen . Das anschließend vorgestellte Projekt zur Gewaltprävention fokussiert hingegen auf anstiftende Rede, die öffentlich verbreitet wird . Weiterhin möchte ich für die Anstiftungsfälle, um die es im Folgenden geht, zwei Bedingungen aufstellen: Erstens ist der Gewalttäter für die eigenen Handlungen verantwortlich und zweitens handelt es sich um schwerwiegende Gewalttaten, die das Recht auf Unversehrtheit der Opfer erheblich beeinträchtigen . Gewaltanstiftung im deutschen Strafrecht

Der Anstifter ist für die fremd zugefügten Schäden verantwortlich, weil er, durch die eigenen (Sprech-)Handlungen, die Gewalttat unterstützt und fördert . Es handelt sich wohlgemerkt um keine stellvertretende Verantwortung, da der Gewalttäter für die eigens zugefügten Schäden seinerseits haftet . Aus moralphilosophischer Sicht erfordert die Zusprechung von Verantwortung – vorausgesetzt, dass der Akteur autonom und ohne Zwang handelt – die Erfüllung von intentionalen und kausalen Bedingungen . In diesem Sinne ist der normativ relevante Handlungsbegriff, welcher der moralischen Verantwortung zugrunde liegt, dem strafrechtlichen Begriff verwandt – in beiden Fällen geht es darum, Fragen zur mens rea und zum actus reus zu klären . Wie bei anderen strafrechtlichen Systemen, legt auch das deutsche Strafrecht den Vorsatz des Anstifters als intentionale Bedingung fest . § 26 StGB lautet: „Als Anstifter wird gleich einem Täter bestraft, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidrigen Tat bestimmt hat“ . Da die Anstiftungshandlung als das Bestimmen zum Tatentschluss definiert wird, gilt sie als gelungen, sobald der Haupttäter den Tatentschluss gefällt und zur Tat angesetzt hat, unabhängig vom Erfolg, also vom Eintreten der Schäden . Es liegt auf der Hand, dass die Verantwortung des Anstifters nicht lediglich durch seine mens rea begründet werden kann . Ein böser Wille ist möglicherweise als mo-

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ralisch verwerflich zu betrachten, doch von moralischer Verantwortung für Schäden kann erst dann die Rede sein, wenn der Vorsatz in eine kausal wirksame Handlungsentscheidung umgesetzt wird . Das gilt umso mehr für die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung, will man die Anstiftung nicht als „Gedankenverbrechen“ bestrafen .1 Nun ist die Bestimmung der kausalen Wirkung der Rede, wie eingangs erwähnt, eine schwierige Aufgabe . Es ist unmöglich, die Auswirkung einer Kommunikation nur auf Basis des Inhaltes zu bestimmen, da ein und derselbe Satz in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedlich rezipiert werden kann . Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Rede und Haupttat lassen sich im Strafrecht grundsätzlich zwei Ansätze unterscheiden .2 Beim ersten Ansatz umfasst die Definition von Anstiftung sowohl den kommunikativen Akt als auch dessen Wirkung auf den Täter . Das ist im deutschen Strafrecht der Fall . In der Tat definiert § 26 StGB eine gelungene Anstiftung ex post factum, im dem der Anstifter als derjenige beschrieben wird, der den Haupttäter „bestimmt hat“ . In anderen strafrechtlichen Systemen bezeichnet Anstiftung nur den kommunikativen Akt, unabhängig von der Wirkung auf den Täter .3 Bei diesem Modell entspricht Anstiftung dem, was im deutschen Strafrecht als versuchte Anstiftung bezeichnet wird . Bei strafrechtlichen Systemen, die diesem Modell folgen, ist die Wahrscheinlichkeit der Wirkung der Rede, oder aber die Tauglichkeit der Anstiftungsmittel als kausale Bedingung ausdrücklich erforderlich .4 Auch im deutschen Strafrecht ist die Bedingung der Tauglichkeit der Anstiftungsmittel expressis verbis im § 130 StGB zu finden, in der Aufforderung, dass Volksverhetzungshandlungen ausgeführt werden „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ .5 Was die Definition der versuchten Anstiftung im § 30 StGB angeht, so sind keine Anforderungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs, oder der Tauglichkeit der Anstiftungsmittel ausdrücklich vorgesehen . Zwar legt § 23 StGB eine minimale Bedingung der Möglichkeit fest: nicht strafbar ist der Versuch, der nach Art des Gegenstandes oder der Mittel „überhaupt nicht zur Vollendung führen könnte .“ Doch darüber hinaus, da der Begriff des Versuchs eine zielgerichtete Absicht impliziert, darf man annehmen, dass die Tauglichkeit der Mittel implizit vorausgesetzt wird: Wer ernsthaft anzustiften versucht, wird wohl seine Erfolgschancen durch den Einsatz geeigneter Mittel sichern . Darüber hinaus lässt sich die Bedeutung der Tauglichkeit der Anstiftungsmittel bei der versuchten Anstiftung im Lichte der – meines Erachtens, plausiblen – Begründung ihrer Strafbarkeit eruieren: diese liegt in der Gefährdung des Rechtsguts von Dritten, Vgl . Frederick M . Lawrence, Violence-Conductive Speech: Punishable or Protected?, in: Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, hg . von David Kretzmer / Francine Kershman Hazan, 2000, 22–23 . 2 Joseph Jaconelli, Incitement: A Study in Language Crime, Crim Law and Philos . 12 (2018) 248–249 . 3 Zum Beispiel im englischen Strafrecht, ss44–45 SCA 2007 und im italienischen Strafrecht, Art . 414 c . p . 4 Siehe Cassazione penale 16 .10 .2008 n . 40684 . 5 Für den Hinweis danke ich den Teilnehmern der JFR-Tagung „Sicherheit um jeden Preis“, 19 .–21 .4 .2018, Göttingen . 1

Freie Rede, gefährliche Rede?

und eine Gefährdung kann nur dann entstehen, wenn der Anstifter Mittel einsetzt, die im jeweiligen Kontext geeignet sind, den Tatentschluss hervorzurufen . Zusammenfassend werden im deutschen Strafrecht folgende Bedingungen für die Verantwortungszuschreibung eines Anstifters aufgestellt: mens rea, der Vorsatz des Anstifters, und actus reus, der Einsatz von Mitteln, die geeignet sind, den Tatentschluss beim Haupttäter hervorzurufen, durch den das Rechtsgut von Dritten gefährdet wird . Bei diesem Modell wird keine weitere Einschränkung der Anstiftungsmittel vorgesehen . Demnach kann prinzipiell jede Form des Ausdrucks als Anstiftung gelten und eingeschränkt werden, wenn die Kriterien der Intentionalität und der potentiellen Gefährlichkeit erfüllt sind . Anders sieht das strafrechtliche Modell aus den U . S . A . aus, welches eine andersartige Einstellung zur Einschränkung der Redefreiheit widerspiegelt . Redefreiheit und Gewaltanstiftung in den U. S. A.

In der strafrechtlichen Literatur aus den Vereinigten Staaten lässt sich traditionell eine starke Orientierung gegen die Einschränkung der Redefreiheit feststellen, die im ersten Verfassungszusatz (First Amendment) fußt .6 Gesetzliche Einschränkungen der Redefreiheit werden vom ersten Zusatzartikel prinzipiell ausgeschlossen . Die Geschichte der Rechtsprechung zeigt allerdings Spannungen zwischen dem Anspruch auf absolute Einschränkungsfreiheit und den unvermeidbaren Bedenken hinsichtlich möglicher Konsequenzen . Entscheidungen vom Obersten Gericht und entsprechende Urteilskommentare bezeugen das Bedürfnis, einen Spielraum für die strafrechtliche Einschränkung der Kommunikation für Sicherheitszwecke offen zu lassen . Aus den Urteilen und der entsprechenden Literatur entwickelte sich schließlich ein normatives Kriterium für die Einschränkbarkeit der Rede aus Sicherheitsgründen . Dieses Kriterium wurde, nach einer auf Richter Holmes zurückgehenden Definition, Clear and Present Danger genannt . Dessen letzte und noch heute angewendete Version stammt aus der Entscheidung des Obersten Gerichtes in Brandenburg versus Ohio,7 einem Fall, auf den ich später noch zu sprechen kommen werde . Sie lautet: „the constitutional guarantee of free speech and free press do not permit a State to forbid or proscribe advocacy of the use of force or of law violation except where such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action“ .8 Folgende Bedingungen lassen sich eruieren: Erstens,

Siehe Helen Knowles, Steven Lichtman (Hg .), Judging Free Speech: First Amendment Jurisprudence of US Supreme Court Justices, 2015; Ronald Collins, Exceptional Freedom – The Roberts Courts, The First Amendment, and the new Ansolutism, Albany Law Review 76 (2013), 409–466 . 7 Brandenburg v Ohio, 395 U . S . 444 (1969) . 8 AaO ., 448–449 . Hervorhebungen von mir . 6

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muss der Anstifter vorsätzlich handeln; seine Rede muss also auf das Hervorrufen des Tatentschlusses gerichtet sein (directed to) . Zweitens muss sich das Hervorrufen der Gewalttat als wahrscheinlich voraussehen lassen (likely to) . Allerdings enthält das oben genannte Prinzip eine weitere Bedingung, nämlich die Aufforderung, dass die Rede eine zeitlich unmittelbare Tat (imminent lawless action) hervorruft . Inwiefern diese Klausel als Kriterium für die Verantwortungszuschreibung von Bedeutung ist, bleibt zunächst unklar . Es lohnt sich, einen Blick in Rechtsprechung und Literatur zu werfen, um zu klären, ob die Bedingung der Unmittelbarkeit – außer für den offensichtlichen Zweck, den Bereich der nicht geschützten Rede möglichst einzuschränken – normativ plausibel ist . Clear and Present Danger

Die zusätzliche Anforderung, dass die Rede eine zeitlich unmittelbare Haupttat hervorruft, wurde im Laufe einer komplexen Geschichte der Rechtsprechung entwickelt . Die Kernargumente für die Bedingung der Unmittelbarkeit lassen sich anhand folgender Etappen ihrer historischen Entwicklung illustrieren . Im Masses Publishing Co v Patten (1917) unterschied Richter Learned Hand zwischen zwei Kategorien von Rede, abhängig von der Art und Weise, in der Worte auf die Zuhörer handlungswirksam sein können: als „keys of persuasion“, oder als „triggers to action“ .9 Nur letztere dürften gesetzlich eingeschränkt werden . Richter Hand ging es darum, die Strafbarkeit des Anstifters anhand des Inhaltes seiner Rede zu begründen: Worte, die zur rechtswidrigen Tat ausdrücklich auffordern, sollten demnach nicht den Schutz der Verfassung genießen . Obwohl der inhaltzentrierte Ansatz von Richter Hand sich von der konsequentialistischen Perspektive des Clear and Present Danger Tests wesentlich unterscheidet, wurde seine Differenzierung der Rede auf Basis der Dichotomie persuasion/action als Argument von den Vertretern des Testes fruchtbar gemacht; darauf komme ich noch zu sprechen . Zwei Jahre später verkündete Richter Oliver Holmes: „The question in every case is whether the words used are used in such circumstances and are of such nature as to create a clear and present danger that they will bring about the substantive evil that Congress has a right to prevent .“10 Dabei legte Holmes das berühmte Beispiel eines Mannes dar, der in einem überfüllten Theater fälschlicherweise „Feuer“ schreit, um die Legitimität der Einschränkung der Rede aus Sicherheitsgründen exemplarisch zu illustrieren . Der von Holmes formulierte Test wurde 1927 von Richter Brandeis im Rahmen einer leidenschaftlichen Verteidigung des ersten Zusatzartikels folgender-

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Masses Publishing Co v Patten, 244 F . 535 S . D . N . Y . (1917) . Schenk v U S , 249 U . S . 47 (1919) .

Freie Rede, gefährliche Rede?

maßen begründet: „no danger flowing from speech can be deemed clear and present, unless the incidence of the evil apprehended is so imminent that it may befall before there is opportunity for full discussion . If there be time to expose through discussion the falsehood and fallacies, to avert the evil by the processes of education, the remedy to be applied is more speech, not enforced silence .“11 Der Clear and Present Danger-Test zeigt einen ausgeprägten konsequentialistischen Ansatz, da die Absicht des Anstifters nicht als notwendige Bedingung für seine strafrechtliche Haftung festgelegt ist . Das änderte sich 1969 in Brandenburg v Ohio, einem aufsehenerregenden Fall, bei dem der Test nicht nur im Sinne seiner heutigen Form modifiziert wurde, sondern auch einige irritierende Implikationen seiner Anwendung offenbarte .12 Clarence Brandenburg, ein Anführer des Ku-Klux-Klan in Ohio, wurde wegen Aufruf zur Gewalt angeklagt und schuldig gesprochen . Grund dafür war eine Rede, die er zwar im kleinen Kreis gehalten hatte, die jedoch für ein viel breiteres Publikum gedacht war, da Brandenburg zwei Reporter eingeladen hatte . Seine Rede lautete: „We are not a revengent organisation, but if our President, our Congress, our Supreme Court, continues to suppress the white, Caucasian race, it’s possible that there might have to be some revengeance [sic] taken .“13 Auch mehr oder weniger verschleierte Drohungen gegenüber Juden und Afroamerikanern waren auf der Videoaufnahme zu hören: „Send the Jews back to Israel“, „bury the niggers“, „this is what we are going to do to the niggers“ gehörten dazu .14 Brandenburg wurde zu einer Geld-, sowie einer Haftstrafe verurteilt . Jedoch hob das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten das Urteil später, mit der Begründung einer Verletzung des ersten Verfassungszusatzes auf . Befürwortung von Gewalt dürfte nicht verboten werden, „except where such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action“ .15 Während durch die Einführung der Bedingung einer zielgerichteten Anstiftungshandlung (directed to) die mens rea des Anstifters als wesentlicher Faktor für die Verantwortungszuschreibung anerkannt wird, bleibt der Sinn der Bedingung der Unmittelbarkeit, nach wie vor, unklar . Anhand der oben umrissenen historischen Meinungen sowie neuerer Positionen lassen sich folgende Argumente für die Unmittelbarkeits-Klausel aufspüren .

Whitney v California, 274 U . S . 357 (1927) . Hervorhebung von mir . Brandenburg v Ohio, 395 U . S . 444 (1969) . Aao ., 446 . Aao ., 446 . Vgl . Susan Gilles, Brandenburg v . State of Ohio: an „accidental“, „too easy“, and „incomplete“ landmark case, Capital Univ L Rev (2010), 517, Fn . 3 . 15 Brandenburg v Ohio, Fn . 5, 448–449 . Hervorhebungen von mir . 11 12 13 14

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Unmittelbarkeit

Eine Argumentationslinie operiert mit der Unterscheidung zwischen Rede und Tat . Demnach sei die Anstiftung, welche Gewalt unmittelbar hervorruft, keine eigentliche Rede, sondern einer physischen Handlung gleichzusetzen .16 Die Vertreter dieser Position befinden sich allerdings vor der Schwierigkeit, ein begründetes Kriterium für die Unterscheidung zwischen Rede und Handlung zu bieten .17 Darüber hinaus bleibt offen, inwiefern eine solche Dichotomie in Hinblick auf die Verantwortung des Anstifters für die vorsätzliche Gefährdung der Opfer von Bedeutung ist . Eine andere Variante dieses Argumentes beruht ebenfalls auf der Grundidee einer Unterteilung der Rede in zwei Kategorien, jedoch in Hinblick darauf, ob die Worte die rationalen Prozesse der Zuhörer adressieren . Dieser Ansatz liegt der Position von David Strass zugrunde .18 Sein persuasion principle – eine Bezeichnung, bei der Richter Hands’ Definition der schutzwürdigen Worte als „keys of persuasion“ anklingt – sieht den uneingeschränkten Schutz aller Formen der Kommunikation vor, welche an die rationale Entscheidungsfähigkeit der Zuhörer appellieren . Nicht schützenswert sei hingegen die Kommunikation, welche die Rationalität der Zuhörer, und damit ihre Autonomie, umgeht . Als Musterbeispiel für diese Art der Rede nennt Strauss die Lüge . Dieses Prinzip sei auch in der Lage, die Bedingung der Unmittelbarkeit bei Anstiftungsfällen zu begründen: „The persuasion principle, as I have defined it, directly justifies the requirement of imminence: the risk of law violation can justify suppression of speech only if the speech brings about the violation by bypassing the rational process of deliberation .“19 Es fragt sich, welche Fälle von Anstiftung einer solchen Beschreibung entsprechen können, da Strauss sich leider nicht um die exemplarische Verdeutlichung seiner Einsicht bemüht . Eine Rede, welche die rationalen Entscheidungsprozesse umgeht und dabei eine zeitlich unmittelbare schädigende Handlung hervorruft, lässt Richter Holmes’ oben angeführtes Beispiel des Mannes, der fälschlicherweise „Feuer“ im überfüllten Theater schreit, in den Sinn kommen . Doch dabei handelt es sich, wenn überhaupt, um eine sehr besondere Form der Anstiftung, bei der die Haupttäter zugleich die Opfer einer unkontrollierten und panikbedingten Reaktion sind . Überhaupt scheint das Merkmal der reflexartigen Reaktion bei dieser Auffassung der unmittelbaren Anstiftung doch charakteristisch zu sein: Fälle dieser Art wären im Kontext einer bereits höchst erhitzten Stimmung denkbar, zum Beispiel während einer Revolte oder bei einem Akteur, der mit gezogener Waffe schussbereit ist .

Thomas Emerson, The System of Freedom of Expression (1970) . Kritisch zur Dichotomie speech/action: Frederick Schauer, On the Distinction between Speech and Action, Virginia Public Law and Legal Theory Research Paper 68 (2014) . 18 David Strauss, Persuasion, Autonomy, and Freedom of Expression, Colum L Rev . 91 (1991), 334–371 . 19 Aao ., 339 . 16 17

Freie Rede, gefährliche Rede?

Allerdings erweist sich das Autonomie-Argument ausgerechnet in diesen Fällen als problematisch: Denn der Haupttäter trifft auch hier, und trotz der gereizten emotionalen Lage, eine rationale Handlungsentscheidung, auf deren Basis seine Verantwortung begründet wird . Eine, wie von Strauss definierte, Manipulation des Haupttäters schließt keineswegs die Möglichkeit seiner autonomen Entscheidung aus; das Vorhandensein einer gefühlsgeladenen Stimmung ist, unabhängig davon, wie diese hervorgerufen worden ist, bestenfalls als ein mildernder Umstand zu betrachten . Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Rationalität und Anstachelung der Gefühle bei Anstiftungsfällen wesentlich komplexer als Strauss suggeriert . Weiterhin bleibt offen, ob die Unmittelbarkeit des Eintretens der Schäden im Sinne einer gefühlsbedingten reflexartigen Reaktion, wie Strauss auf das Beispiel des Feuerrufs anknüpfend darlegt, oder aber im Sinne eines zeitlich nahen Vollzugs der Haupttat zu deuten sei .20 Laut der oben angeführten Argumente ist die unmittelbare Anstiftung deshalb einschränkbar, weil sie aufgrund ihrer Merkmale den Schütz des ersten Zusatzartikels nicht Wert ist . Diese Argumentationslinie blendet die Frage nach den Konsequenzen der Rede, beziehungsweise nach der Verantwortung des Anstifters, aus und fokussiert auf die Eigenschaften der Rede, die sie schützenswert machen . Das Problem dabei ist, dass die Anstiftung deshalb ein heikles Thema in den westlichen Demokratien darstellt, weil der Wert der Redefreiheit grundsätzlich als unbestritten gilt . Der Grund, warum sich überhaupt die Frage nach der Einschränkbarkeit der anstiftenden Rede stellt, ist die mögliche Schädigung von Dritten – und die Notwendigkeit, dieser vorzubeugen . Ein anderer Argumentationsstrang erstellt einen direkten Bezug zwischen der Bedingung der Unmittelbarkeit und Präventionsfragen und fokussiert auf die Möglichkeit, die Wirkung der anstiftenden Rede durch Gegenargumente zu kontern . Dieser Ansatz scheint deshalb vorteilhaft, weil er der Gefahr anstiftender Rede ohne Einschränkungen der Redefreiheit entgegentritt . Laut dem more speech Argument sei auf strafrechtliche Sanktionen nur dann zurückzugreifen, wenn keine Möglichkeit zur Gegenrede besteht; die Anstiftung zu unmittelbarer Gewalt sei strafbar, weil sie keinen zeitlichen Spielraum für nicht strafrechtliche Strategien wie die Gegenrede gewährt . Dieser Argumentationslinie lässt sich entgegenhalten, dass der Einsatz von counterspeech von unterschiedlichen Faktoren verhindert werden kann, von denen der Zeitmangel nur einer ist . Bei Anstiftungsformen, welche die Bedingung der Unmittelbarkeit nicht erfüllen, kann die Strategie der Gegenrede beispielsweise aufgrund der sozio-politischen Lage nicht umsetzbar sein oder unwirksam bleiben . Darüber hinaus weist dieser Ansatz das grundsätzliche Problem auf, durch Fokussierung auf nicht-strafrechtliche Maβnahmen die Frage nach der Verantwortung des Bezugnehmend auf Hess v . Indiana, 414 U . S . 105 (1973), Donohue schreibt : „the Court suggested that imminent lawless action amounted to a matter of hours-or at most, several days“ . Laura K . Donohue, Terrorist Speech and the Future of Free Expression, Cardozo Law Review 27 (2005), 324–341 . 20

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Anstifters zu umgehen . Da die Bedingung der Unmittelbarkeit als eine Voraussetzung für die Strafbarkeit des Anstifters festgelegt wird, wird jedoch erwartet, dass sie für die Bestimmung seiner Verantwortung von Bedeutung ist . Um die Bedeutung der Unmittelbarkeit im Lichte der Verantwortungsfrage zu erklären wäre folgendes Argument denkbar: Wenn Rede nicht unmittelbar anstiftet, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Haupttäter den Entschluss zur Gewalttat nicht fällt . Das wäre allerdings nur in Hinblick auf die Verantwortung des Haupttäters von Bedeutung . Was die Verantwortung des Anstifters angeht, so ist diese auf der Ebene der potentiellen Gefährdung verankert, welche bereits durch den Anstiftungsversuch gegeben ist . Der Anstiftungsversuch stellt eine Gefährdung von Dritten dar und ist deshalb unabhängig vom Erfolg strafbar, weil der Anstifter dabei einen Prozess in Gang setzt, der von ihm nicht mehr kontrollierbar ist .21 Aus dieser Perspektive ist die Unmittelbarkeit des Eintretens der Schäden irrelevant . Da die Unmittelbarkeit an und für sich kein für die Verantwortungszuschreibung relevanter Faktor zu sein scheint, fragt sich, ob sie in Hinblick auf die anderen zwei Bedingungen, nämlich die potentielle Gefährlichkeit der Rede und die mens rea des Redners, eine Rolle spielt . Eine Rede ist sicherlich nicht deshalb gefährlicher, weil sie eine unmittelbare Gewalttat hervorruft . Terroristische Angriffe in großem Maßstab werden oft durch Rede angestiftet, dennoch erfordern sie zweifellos eine lange Vorbereitungszeit . Darüber hinaus wurde bei den Nürnberger Prozessen sowie bei den ad hoc Gerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Rwanda der systematische und allmähliche Charakter der Hasspropaganda als Gewaltanstiftender Faktor hervorgehoben .22 Daran sieht man auch, wie wenig hilfreich das persuasion principle ist, um das Anstiftungsproblem ernsthaft anzugehen . Aber auch in Hinblick auf die mens rea des Anstifters ist die Bedingung der Unmittelbarkeit belanglos . Wer anstiften will, bemüht sich um den Einsatz von Mitteln, die im jeweiligen Kontext geeignet und daher potentiell handlungswirksam sind . Die direkte Anstachelung, die zu unmittelbarer Gewalt auffordert, kann in manchen Kontexten das adäquate Mittel darstellen; in anderen geradezu kontraproduktiv sein . Vielleicht wusste das Clarence Brandenburg, als er in seiner Rede ausdrücklich von einer möglichen zukünftigen Rache sprach . Um sein Ziel zu erreichen, muss der Anstifter erkennen, ob im jeweiligen Kontext das Anspornen, die systematische Propaganda, oder aber „die raffinierten Methoden der Beeinflussung“23 am besten geeignet sind .

Claus Roxin, AT II 2003, § 28 Rn . 5, 82 . Anstiftung, beziehungsweise Volksverhetzung werden unter anderem in Deutschland, Italien, Schweiz, England, U . S . A, und überwiegend auch im internationalen Strafrecht als inchoate offences aufgefasst . 22 Siehe Wibke Kristin Timmermann, Incitement in International Criminal Law, International Review of the Red Cross 88, 864 (2006), 823–852 . 23 Ingeborg Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, 102 . 21

Freie Rede, gefährliche Rede?

Allerdings lassen sich nicht alle Anstiftungsfälle auf eine zielgerichtete böse Absicht zurückführen . Häufiger wird die kontextabhängige Gefährlichkeit der Rede fahrlässig missachtet . Um einen fahrlässigen Anstifter zur Verantwortung ziehen zu können ist allerdings erforderlich, dass er sich der wahrscheinlichen Auswirkung seiner Rede bewusst ist . Daher wäre die Erforschung und öffentliche Bewusstmachung der kontextabhängigen Auswirkung der Rede eine primäre Aufgabe, die sowohl im Dienste strafrechtlicher Anliegen als auch für die Erarbeitung von zwangslosen Maβnahmen der Gewaltprävention fruchtbar gemacht werden kann . Diese Einsicht leitet das Projekt Dangerous Speech, das im Folgenden vorgestellt wird . Dangerous Speech

Das Dangerous Speech Projekt wurde 2010 von Susan Benesch, einer amerikanischen Professorin und Menschenrechtlerin, mit dem Ziel der Erforschung der Dynamiken öffentlicher Gewaltanstiftung zum Zweck der Prävention ins Leben gerufen .24 Der von Benesch eingeführte Begriff dangerous speech fokussiert auf die kontextabhängige Gefährlichkeit einer Rede, ein Aspekt, der beim geläufigeren Terminus hate speech in den Hintergrund tritt . Tatsächlich bezeichnet Hassrede den Inhalt der Äußerung, die in unterschiedlicher Form direkte und indirekte Schäden verursachen kann, während der Begriff gefährliche Rede auf das Hervorrufen von Gewalttaten fokussiert . Die zwei Begriffe überschneiden sich nur teilweise . Denkbar sind Situationen, bei denen Hassrede zwar beleidigend, doch keineswegs potentiell gewaltanstiftend ist . Gewalt kann hingegen auch von Äußerungen hervorgerufen werden, die sich in keiner Form als Hassrede bezeichnen lassen . Die leitende Idee beim Dangerous Speech Projekt ist es, aus der Untersuchung historischer Beispiele von Massengewalt Einsichten in die Dynamiken der anstiftenden Rede zu gewinnen und wiederkehrende Muster zu erkennen, die möglicherweise einen für den Erfolg der Anstiftung günstigen Kontext schaffen . Der aktuelle Entwurf von Richtlinien für die Überprüfung der Gefährlichkeit der Rede sieht fünf Variablen, die im unterschiedlichen Maß vorhanden sein können, vor . Die erste betrifft den Redner, dessen Autorität, Bekanntheit und Charisma eine positive Einstellung der Zuhörer gegenüber der Rede bewirken können . Darüber hinaus spielt das Publikum eine wichtige Rolle, insbesondere das Vorhandensein von Ängsten und Groll, die vom Redner gezielt kultiviert werden können . Wohlgemerkt, es ist bei der Rede, die eine breite Öffentlichkeit erreicht, von einer gewissen Heterogenität des Publikums hinsichtlich seiner Gefühle, Haltung und Einstellung zur Gewalt auszugehen, welche die

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https://dangerousspeech .org/

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Wahrscheinlichkeit erhöht, dass unter den Zuhörern zumindest einer ist, der sich zur Gewalt anstiften lässt . Dieser Punkt ist im Zusammenhang mit zwei weiteren Faktoren zu betrachten, nämlich dem wirtschaftlichen und sozio-politischen Kontext sowie den Kanälen der Verbreitung der Rede . Eine wirtschaftlich und politisch unsichere Lage begünstigt geradezu Unzufriedenheit, Frust und Ängste, die vom Anstifter ausgenutzt werden können . Weiterhin kann man festhalten, dass die „epistemische Abhängigkeit“ des Publikums von einem bestimmten Vehikel zur Verbreitung der Rede eine große Rolle spielen kann .25 Ohnehin können Vertrauen und Zuneigung zu einem Redner, beziehungsweise zu einem bestimmten Medium, von Solidaritäts- und Identifikationsgefühlen mit einer Gruppe begünstigt werden, die auch in Hinblick auf die Relativierung der Verwerflichkeit von Gewalt eine entscheidende Rolle spielen können . In diesem Zusammenhang widmet sich das Dangerous Speech Projekt auch der Untersuchung der Spezifika der Social Media . Die genannten Faktoren sollen nicht als ein Set notwendiger Bedingungen verstanden werden, sondern als ein flexibler Referenzrahmen für die Untersuchung potentiell gefährlicher, weil für die Wirksamkeit der Gewaltanstiftung günstiger Kontexte . Mit Hilfe dieses Referenzrahmens kann die fünfte Variable, also der Inhalt der Rede, sinnvoll überprüft werden . Hierbei werden beim Projekt Ergebnisse aus der Forschung fruchtbar gemacht, die sich mit Strategien der Entmenschlichung der Opfer sowie mit der allmählichen Normalisierung von Diskriminierung und Gewalt innerhalb einer Gesellschaft befassen . Darüber hinaus ist der Referenzrahmen nicht als Grundlage für strafrechtliche Sanktionen zu verstehen . Als Vertreterin der Redefreiheit betont Susan Benesch ausdrücklich die moralischen und praktischen Nachteile, welche Redeverbote mit sich bringen können . Die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung als Opfer seitens der sanktionierten Individuen oder Gruppen ist nur eine der gegen die Interessen von Gewaltprävention wirkenden praktischen Konsequenzen des Redeverbots . Im Projekt werden kontextsensible Strategien für die Eindämmung gefährlicher Rede, wie die Verbreitung von Argumenten gegen Gewalt und die Sensibilisierung für die Tatsache, dass man zu Gewalttaten gezielt manipuliert werden kann, erarbeitet . Dieser Ansatz wurde auf internationaler Ebene sehr positiv rezipiert; der von den UN erarbeitete „Rabat Plan of Action on the prohibition of advocacy of national, racial or religious hatred that constitutes incitement to discrimination, hostality and violence“ vertritt ähnliche Einsichten und Strategien .26

Jonathan Leader Maynard / Susan Benesch, Dangerous Speech and Dangerous Ideology: An Integrated Model for Monitoring and Prevention, GSP 9 (2016), 79 . 26 https://www .ohchr .org/Documents/Issues/Opinion/SeminarRabat/Rabat_draft_outcome .pdf, 11 . 25

Freie Rede, gefährliche Rede?

Fazit

Ausgehend von der Feststellung, dass Gewalttaten durch Rede erheblich gefördert werden können und in Anbetracht des Konfliktes zwischen dem Recht auf Redefreiheit und Sicherheitsinteressen wurde der Frage nach tauglichen Kriterien für die Strafbarkeit der Gewaltanstiftung nachgegangen . Hierfür wurden die in Deutschland und in den Vereinigten Staaten vertretenen Definitionen von Anstiftung verglichen . Der in den U . S . A . vom Obersten Gericht entwickelte Test für die Strafbarkeit der Anstiftung wurde in Hinblick auf die erforderte Bedingung, dass die Rede unmittelbare Schäden hervorruft, kritisch untersucht . Die Analyse der diese Bedingung befürwortenden Argumente hat gezeigt, dass die Unmittelbarkeit weder zu Gewaltpräventionszwecken, noch für die Bestimmung der Verantwortung des Anstifters ein taugliches Kriterium sein kann . Hinsichtlich der Prävention erlaubt das Kriterium zwar die Einschränkung einer bestimmten Form der Anstiftung, verfehlt jedoch andere Formen der anstiftenden Rede strafrechtlich zu berücksichtigen, die insbesondere bei Gewalttaten im groβen Maβstab sowie bei Fällen systemischer Gewalt eine durchaus wichtige Rolle spielen . Dementsprechend wird das Kriterium der Unmittelbarkeit der Verantwortungsfrage nicht gerecht, da die Autoren gewaltanstiftender Rede, die dem Kriterium der Unmittelbarkeit nicht genügen, für die Gefährdung von Dritten nicht zur Verantwortung gezogen werden können . Insgesamt verfehlt der Ansatz aus den Vereinigten Staaten zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Formen der Rede in unterschiedlichen Kontexten wirksam und daher gefährlich sein können – eine Tatsache, die sowohl das italienische Strafrecht als auch § 130 StGB durch die explizierte Anforderung der (kontextabhängigen) Tauglichkeit der Anstiftungsmittel anerkennen . Die Untersuchung der Faktoren, welche die motivierende Auswirkung einer Rede begünstigen und daher das Risiko von Gewalt erhöhen können, sowie die öffentliche Sensibilisierung für die Dynamiken der Gewaltanstiftung stellen sich als primäre Aufgaben dar, die sowohl im Dienste des Strafrechts als auch für die Erarbeitung von nicht-strafrechtlichen Präventionsstrategien fruchtbar gemacht werden können . Obwohl die Grenzziehung zwischen zwangslosen und strafrechtlichen Maβnahmen nach wie vor problematisch bleibt, kann das Kriterium der Unmittelbarkeit keine taugliche Lösung darstellen und ist daher zu verwerfen .

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Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung PASCAL SÖPPER (Tokyo)

I.

Einführung

Seit dem 25 . Mai 2018 gilt in der Europäischen Union (EU) bzw . im gesamten europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) .1 Nach längerer Entwicklung der Datenschutzgesetzgebung in Europa, wurde damit flächendeckend ein einheitliches verbindliches Regelwerk eingeführt, welches weitreichende Konsequenzen für auf dem europäischen Markt agierende Unternehmen mit sich bringt . In weiteren Jurisdiktionen rund um den Globus sind ähnliche Gesetzesvorhaben bereits beschlossen (so kürzlich in Kalifornien2 oder Brasilien3) oder in Arbeit (so z . B . in Indien4) . Europa, und hier wiederum insbesondere Deutschland, kann grundsätzlich als Vorreiter im Bereich Datenschutz angesehen werden (angefangen mit dem weltweit ersten formellen Datenschutzgesetz im Lande Hessen von 1970,5 dem Bundesdaten-

Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/ EG; vgl . Art . 99 (2) DSGVO . 2 Lothar Determann, „Analysis: The California Consumer Privacy Act of 2018,“, https://iapp .org/ news/a/analysis-the-california-consumer-privacy-act-of-2018/, zuletzt besucht am 03 .06 .2018 . 3 Pereira Neto, „Brazil Enacts a Full-Fledged Data Protection Law,“ https://www .pnm .adv .br/brazilenacts-a-full-fledged-data-protection-law/?lang=en, zuletzt besucht am 15 .08 .2018; Renato Leite Monteiro, „The New Brazilian General Data Protection Law – a Detailed Analysis,“, https://iapp .org/news/a/ the-new-brazilian-general-data-protection-law-a-detailed-analysis/, zuletzt besucht am 15 .08 .2018 . 4 „India Releases Draft Personal Data Protection Regulation“, https://www .lexology .com/library/detail . aspx?g=f8798ea2–697a-4dd1-a70a-7da189f0550a, zuletzt besucht am 15 .08 .2018 . 5 https://datenschutz .hessen .de/ueber-uns/geschichte-des-datenschutzes, zuletzt besucht am 22 .09 .2018 . 1

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schutzgesetz – BDSG – von 1977,6 der Konvention Nr . 108 des Europarates von 1981 – Datenschutzkonvention –,7 dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts – BverfG – von 1983,8 der Datenschutzrichtlinie der EU von 1995,9 bis hin zur DSGVO seien an dieser Stelle nur einige wenige Beispiele genannt; auf internationaler Ebene sei zusätzlich noch die OECD Richtlinie zum Datenschutz von 1980 erwähnt10) . Im Folgenden soll Datenschutz zunächst als ein Teilbereich von Privatsphäre definiert werden . Dieser Beitrag möchte darauf eingehen, wie Datenschutz Privatsphäre ermöglichen, und aktuelle Gesetzgebung einen Teil ihrer Ausformung leisten kann . Es soll daher zunächst kurz auf den Begriff Privatsphäre eingegangen werden, bevor zwei konzeptionell unterschiedliche Sichtweisen auf personenbezogene Daten dargestellt werden – als Wirtschaftsgut bzw . Freiheitsgut . Es wird daraufhin erklärt, wie der europäische Gesetzgeber mit der DSGVO sich konsequenterweise der letzteren Konzeption angeschlossen hat . Trotz der Anwendbarkeit der DSGVO auch auf staatliche Stellen (s . Definition des Verantwortlichen in Art . 4 Nr . 7, welcher ausdrücklich auch Behörden mit umfasst)11 soll im Rahmen einer kurzen Diskussion zu paternalistischem Staatshandeln dargestellt werden, dass staatliche Stellen außerordentlich datenhungrig agieren . In einem abschließenden Fazit wird dazu Stellung genommen, wie der Schutz personenbezogener Daten, als Teil der Privatssphäre, eine Grundvoraussetzung der persönlichen Freiheit darstellt . Dies muss jedoch gleichermaßen im privaten wie auch staatlichen Bereich gelten . II.

Privatsphäre

Privatsphäre umfasst verschiedene Teilbereiche des menschlichen Lebens, von denen Datenschutz lediglich einen Teilbereich darstellt . Trotz unterschiedlicher Definitionen lassen sich mindestens drei Teilbereiche von Privatsphäre unterscheiden . Dies sind (a) das Recht in Ruhe gelassen zu werden, (b) der Schutz eines persönlichen Bereiches privater Entscheidungsfindung, sowie (c) das Recht über die eigene Person betreffende Informationen frei zu entscheiden (vor allem in Hinblick auf Zugang,

Gesetz zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz – BDSG) v . 27 . Januar 1977, BGBl . I S . 201 . 7 Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (Konvention Nr . 108) . 8 BVerfGE 65, 1 . 9 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24 . Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr . 10 OECD Guidelines on the Protection of Privacy and Transborder Flows of Personal Data . 11 Ausnahmen bestehen jedoch z . B . für Strafverfolgungsbehörden, EU-Institutionen oder Mitgliedstaaten, für die es jeweils speziellere Regelungen gibt (vgl . hierzu z . B . Art . 2 (2) und (3) sowie EG 16, und 17 DSGVO) . 6

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

Nutzung sowie Veröffentlichung) .12 Letzteres wird im deutschsprachigen Raum spätestens seit dem Volkszählungsurteil des BVerfG aus dem Jahre 1983 auch als Recht auf informationelle Selbstbestimmung bezeichnet .13 Dies ist derjenige Teilbereich der Privatsphäre, welcher den Datenschutz betrifft . Privatsphäre im Sinne von (a) und (b) spielen für die vorliegende Diskussion nur eine indirekte Rolle . Es soll im Folgenden daher ein kurzer Überblick über Entwicklung und Inhalt von (c), sowie daran anschließend zwei unterschiedliche Konzeptionen von Privatsphäre für den Bereich von personenbezogenen Daten gegeben werden: Persönliche Daten als Wirtschaftsgut bzw . Freiheitsgut . 1.

Entwicklung & Inhalt

Das Verständnis von Privatsphäre als Recht über die, die eigene Person betreffenden Informationen frei zu entscheiden, kann historisch zurückverfolgt werden bis zu einem Aufsatz von Samuel Warren and Louis Brandeis im Harvard Law Journal im Dezember 1890 mit dem treffenden Titel – „The Right to Privacy“ .14 Ähnlich den Entwicklungen der letzten Jahre bis hin zur DSGVO, so waren auch Warren/Brandeis inspiriert durch neuartige Technologien, welche zu einer Weiterentwicklung im Recht führten .15 Das Aufkommen von Fotografie und der Tagespresse Ende des 19 . Jahrhunderts führte beispielsweise dazu, dass zum ersten Mal über das Recht am eigenen Bild entschieden werden musste . Warren/Brandeis erwähnen hier einen seitens einer Broadwaydarstellerin dem New York Supreme Court angetragenen Prozess, in welchem diese sich dagegen wehrte, dass ein Reporter während einer Aufführung aus der Loge heraus ein Bild von ihr machte .16 Genau wie das Aufkommen von Fotografie und Tagespresse für ein Umdenken in der Rechtssetzung und -sprechung Ende des 19 . Jahrhunderts geführt hat, so kann man technischen Fortschritt als Ursache für die Entwicklung der Datenschutzgesetzgebung

Zur unterschiedlichen Konzeption und historischen Entwicklung: Judith DeCew, „Privacy,“ in The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Hrsg . Edward N . Zalta, Spring 2018 (Metaphysics Research Lab, Stanford University, 2018), https://plato .stanford .edu/archives/spr2018/entries/privacy/; Jeroen van den Hoven et al ., „Privacy and Information Technology,“ in The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Hrsg . Edward N . Zalta, Spring 2016 (Metaphysics Research Lab, Stanford University, 2016), https://plato .stanford .edu/ archives/spr2016/entries/it-privacy/ . 13 BVerfGE 65, 1, Leitsätze 2, 4 sowie Rn 154, in welcher das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausformung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art . 2 (1) i . V . m . Art . 1 (1) GG im Urteilstext zum ersten Mal erwähnt wird . 14 Samuel D . Warren / Louis D . Brandeis, „The Right to Privacy“, in: Harvard Law Review 4, Nr . 5, 15 .12 .1890, S . 193–220 . 15 „Political, social, and economic changes entail the recognition of new rights, and the common law, in its eternal youth, grows to meet the demands of society .“, aaO . S . 194 . 16 AaO . S . 195 (insb . Fn 7) . 12

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der letzten Jahrzehnte ausmachen . Die ersten Diskussionen zu Privatsphäregesetzgebung in den USA in den 1960er und 70er Jahren sowie das hessische Datenschutzgesetz von 1970 waren beeinflusst durch das erste Aufkommen von automatisierter Datenverarbeitung . Die OECD Richtlinien sowie die Datenschutzkonvention des Europarates waren beeinflusst durch deren Ausweitung vor allem durch Heimcomputer . Die EU-Datenschutzrichtlinie war die Antwort auf das Aufkommen des World Wide Web und der privaten Internetnutzung Anfang der 1990er Jahre .17 Die neueste Entwicklung rund um die DSGVO,18 die 2013 erneuerten OECD Richtlinien sowie die 2018 erneuerte Konvention des Europarates wiederum sind vor dem Hintergrund des nunmehr flächendeckend verbreiteten Internets durch Smart Devices, IoT, Big Data und vor allem den Ängsten des sich neu aufkommenden Informationszeitalters zu sehen, in welchem Nationalstaaten zunächst einiges an Macht einbüßen mussten und man zeitweise von Cyberspace als rechtsfreien Raum sprach,19 bis man langsam Ende der 90er Jahre begann das Internet zu verrechtlichen .20 Weiterhin dürfen die Größe von datenverarbeitenden multinationalen Unternehmen wie Google und Facebook sowie die um diese Unternehmen in den letzten Jahren entstandenen Kontroversen in Hinblick auf die Nutzung personenbezogener Daten21 sowie zu guter Letzt (und sicherlich neben einigen weiteren Faktoren) die Enthüllungen Edward Snowdens22 als Anstoß und Begleiter der Rechtssetzung um Privatsphäre und persönliche Daten angesehen werden . Worauf ein Recht auf Schutz der Privatsphäre, welches als schützenswert angesehen werden sollte, überhaupt gegründet werden kann, sowie die Frage nach dessen genauer inhaltlichen Ausgestaltung, kann über verschiedene Ansätze unterschiedlich beantwortet werden . Warren/Brandeis versuchen dies für den Bereich des Common Law Vgl . EG 4 DS-RL sowie die Einleitung zu der OECD Richtlinie . EG 6 DSGVO: „Rasche technologische Entwicklungen und die Globalisierung haben den Datenschutz vor neue Herausforderungen gestellt . Das Ausmaß der Erhebung und des Austauschs personenbezogener Daten hat eindrucksvoll zugenommen . Die Technik macht es möglich, dass private Unternehmen und Behörden im Rahmen ihrer Tätigkeiten in einem noch nie dagewesenen Umfang auf personenbezogene Daten zurückgreifen . Zunehmend machen auch natürliche Personen Informationen öffentlich weltweit zugänglich . Die Technik hat das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben verändert und dürfte den Verkehr personenbezogener Daten innerhalb der Union sowie die Datenübermittlung an Drittländer und internationale Organisationen noch weiter erleichtern, wobei ein hohes Datenschutzniveau zu gewährleisten ist .“ 19 Vgl . z . B . John Perry Barlow, „A Declaration of the Independence of Cyberspace“, 08 .02 .1996, https:// www .eff .org/cyberspace-independence, zuletzt besucht am 30 .09 .2018 . 20 Eine hervorragende Nachzeichnung dieser Entwicklung findet sich bei Jack L . Goldsmith / Tim Wu, Who Controls the Internet? Illusions of a Borderless World . New York: Oxford University Press, 2006 . 21 Man denke beispielsweise an den Cambridge Analytica Skandal, welcher direkt den Erfolg des Volksbegehrens um ein Datenschutzgesetz in Kalifornien beflügelte und damit den Weg für den neuen California Consumer Privacy Act of 2018 ebnete; Nicholas Confessore, „The Unlikely Activists Who Took On Silicon Valley – and Won,“ The New York Times, 14 .08 .2018, https://www .nytimes .com/2018/08/14/magazine/fa cebook-google-privacy-data .html, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 22 S . u . unter III .2 . 17 18

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

systematisch herzuleiten . Zunächst wird eine Position, welche auf strafrechtliche Tatbestände wie übler Nachrede und Beleidigung gestützt wird von Ihnen verworfen .23 Weiterhin wird auf Privatsphäre als Ausformung des Eigentumsrechts, hier vor allem des geistigen Eigentums eingegangen, welches sich z . B . im Copyright verwirklicht hat . Dies sei jedoch nur eine mögliche Ausformung eines Rechts auf Privatsphäre . Der Schutz von personenbezogenen Daten gehe über ein solches Eigentumsrecht hinaus, da zum Beispiel auch die Veröffentlichung von persönlichen Briefen verboten sei, selbst wenn diese keinen literarischen oder monetären Wert haben (Copyright schützt die Art der Nutzung nach der Veröffentlichung der Werke, also das Wie der Veröffentlichung, wohingegen das Ob einer Veröffentlichung dem Autor überlassen bleibe) . Darüber hinaus seien selbst Informationen über eine Person geschützt, nicht nur Werke die eine Person schaffe .24 Auch Parallelen zu Vertrauenstatbeständen, Vertragsbruch oder Geheimnisverrat (z . B . bezüglich Handelsgeheimnissen25) werden gezogen . Letztlich seien dies jedoch lediglich Beispiele für ein allgemeines Recht auf Privatsphäre .26 Dieses sei dem Common Law bereits immanent als „Ausformung eines unverletzlichen Persönlichkeitsrechts .“27 2.

Persönliche Daten als Wirtschaftsgut

Die Idee dem Einzelnen eine Art Eigentumsrecht an seinen persönlichen Daten zuzusprechen, ist auch in jüngerer Zeit erneut aufgekommen . Lawrence Lessig beschäftigte sich in seinem Aufsatz ‚The Law of the Horse – What Cyberlaw Might Teach’ (1999) mit der Regulierung von Cyberspace . Für den Bereich des Schutzes von Privatsphäre schreibt er, dass zum einen die Architektur des Cyberspace es einfach mache persönliche Daten zu sammeln, ohne das hierfür eine Zustimmung des Einzelnen erforderlich sei . Zum anderen bestehe für den Datensammler kein Grund eine solche Einwilligung einzuholen, da dem Einzelnen kein Eigentumsrecht an seinen persönlichen Daten zustehe . Eine Lösung sei hier unter anderem dem Einzelnen ein solches Eigentumsrecht zuzusprechen, was wiederum einen Anreiz für eine Änderung der Architektur schaffe, um Einwilligungen sinnvoll einholen zu können .28

Warren/Brandeis (Fn . 14), S . 197 . AaO . S . 199 ff . AaO . S . 212 . AaO . S . 207 ff ., 213 . „The principle which protects personal writings and all other personal productions, not against theft and physical appropriation, but against publication in any form, is in reality not the principle of private property, but that of an inviolate personality .“; aaO . S . 205 . 28 „The trick would be to change the legal entitlements in a way sufficient to change the incentives of those who architect the technologies of consent . The state could (1) give individuals a property right to data 23 24 25 26 27

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Auch der Ende Juni 2018 verabschiedete California Consumer Privacy Act (CCPA) schlägt eine ähnliche Richtung ein . Paragraph 1798 .125 sieht in Abschnitt (a) (1) zunächst ähnlich der DSGVO vor, dass eine Diskriminierung ausgeschlossen sein soll, soweit ein Nutzer von seinen Rechten in Hinblick auf persönliche Daten Gebrauch mache . Abschnitt (2) geht dann jedoch darauf ein, dass es einem Anbieter unbenommen bleibe, unterschiedliche Preismodelle oder Servicelevel für einen Nutzer zur Verfügung zu stellen, soweit die Unterschiede in sachlichem Zusammenhang mit dem Sammeln der persönlichen Daten stehen, welche ein solches unterschiedliches Angebot rechtfertigen .29 Persönliche Daten als Eigentum anzusehen zeugt von der darunter liegenden Auffassung von personenbezogenen Daten als Wirtschaftsgut . Einige dogmatische Probleme lassen sich damit lösen und Wirtschaftsmodelle von großen Internetriesen wie Google und Facebook lassen sich gut damit vereinbaren . Der Nutzer ‚zahlt‘ für die Nutzung des ansonsten kostenlosen Services mit seinen Daten, welche von der Plattform für umfassende Datenverarbeitungsprozesse genutzt werden können . Deren Wirtschaftsmodell wiederum besteht in dem Verkauf von gezielter Werbung . Schwierigkeiten ergeben sich in einer solchen Konzeption jedoch in Hinblick auf die Tragweite sowie tatsächliche Freiwilligkeit von Einwilligungen, als auch auf die Bewertung von persönlichen Daten . Ist es überhaupt möglich in jedwede Nutzung seiner persönlichen Daten im Vorhinein einzuwilligen, wenn man bedenkt wie rasant die technische Entwicklung voranschreitet und immer weitere Nutzungsmöglichkeiten eröffnet? Weiterhin mögen für Internetunternehmen Daten erst dann wertvoll werden, wenn sie kombinierte Datensets einer großen Nutzerbasis auswerten können . Wie soll der Wert eines einzelnen Datensets bestimmt werden? 3.

Persönliche Daten als Freiheitsgut

Mit der DSGVO hat der Verordnungsgeber bewusst oder unbewusst einen anderen Weg eingeschlagen . Die DSGVO sieht in Art . 6 eine Reihe von Verarbeitungsgrundlagen vor, von denen die Einwilligung in Abschnitt (1) (a) konzeptionell die schwächste

about themselves, and thus (2) create an incentive for architectures that facilitate consent before turning that data over .“, Lawrence Lessig „The Law of the Horse: What Cyberlaw might teach“, in: Harvard Law Review 113 (1999), S . 519; Als Beispiel für eine solche technische Lösung nennt Lessig das P3P Protokol, welches es dem Nutzer erlaube, Voereinstellungen für seine Privatsphäre vorzunehmen (S . 520) . Ein Beispiel aus neuerer Zeit wäre z . B . die Do-Not-Track Funktion von Browsern oder die automatische Ablehnung von Third-Party-Cookies durch den Browser . Nicht alle diese Funktionen sind jedoch effektiv genug, um sinnvoll zum Schutz der Privatsphäre im Internet beizutragen . 29 1798 .125 (a) (2) CCPA: „Nothing in this subdivision prohibits a business from charging a consumer a different price or rate, or from providing a different level or quality of goods or services to the consumer, if that difference is reasonably related to the value provided to the consumer by the consumer’s data .“

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

Grundlage darstellt . Eine rein auf der Einwilligung der betroffenen Person erfolgende Datenverarbeitung hat sofort zu unterbleiben und die Daten sind zu löschen, soweit keine andere Grundlage für die Datenverarbeitung besteht und die betroffene Person ihre Einwilligung widerruft . Ein Widerruf ist nach Art . 7 (3) S . 1 jederzeit möglich . Zusätzlich stellt Erwägungsgrund 43 S . 2 fest: „Die Einwilligung gilt nicht als freiwillig erteilt, […] wenn die Erfüllung eines Vertrags, einschließlich der Erbringung einer Dienstleistung, von der Einwilligung abhängig ist, obwohl diese Einwilligung für die Erfüllung nicht erforderlich ist .“ Hiermit wird ein Kopplungsverbot der Einwilligung an die Erbringung einer Dienstleistung formuliert . In bestimmten Konstellationen wird aufgrund eines erhöhten Kräfteungleichgewichts oder einer Abhängigkeitsverbindung eine Einwilligung von vornherein als schwierig einholbar bis völlig ausgeschlossen angesehen, wie etwa für Einwilligungen seitens eines Arbeitnehmers .30 Diese Vorschriften zeigen, dass lediglich Daten verarbeitet werden dürfen, soweit dies für den jeweils darunter liegenden Zweck erforderlich ist (vgl . auch Art . 7 (4) DSGVO) . Die Erbringung einer Dienstleistung oder Erfüllung eines Vertrages sollen gerade nicht von der Preisgabe persönlicher Daten abhängig gemacht werden . Wirtschaftliche Erwägungen spielen somit nach der Konzeption des Verordnungsgebers für die Einwilligung grundsätzlich keine Rolle . Im Gegenteil sollen wirtschaftliche Anreize für die Datensammlung gerade außen vor bleiben . Die DSGVO gibt somit dem Einzelnen die Herrschaft über seine Daten unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen . Die DSGVO macht ferner deutlich, dass der Schutz personenbezogener Daten an sich ein Grundrecht darstellt . Art . 1 (2) DSGVO lautet: „Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten .“31 Die DSGVO übernimmt damit die Konzeption von persönlichen Daten als eines Freiheitsgutes, deren Schutz zur Wahrnehmung der Grundrechte und -freiheiten notwendig ist . III.

Zwei Arten von Paternalismus

Nach der soeben vorgenommenen Einordnung sollen im Folgenden zwei Arten von paternalistischem Staatshandeln gegenübergestellt werden,32 welches personenbezogene Daten betrifft . Zum einen Staatshandeln, welches die Auflösung eines verVgl . „Opinion 2/2017 on Data Processing at Work“ der Art . 29 Datenschutzgruppe v . 08 .06 .2017, S . 6 f .; wohingegen in Deutschland durch die Neufassung des § 26 Abs . 2 S . 2 BDSG zumindest im Falle von daran anknüpfenden Vorteilen für den Arbeitnehmer oder gleichgelagerten Interessen eine Einwilligung möglich bleibt . 31 Vgl . auch EG 1–4 . 32 Mit Paternalismus ist hier, in Anschluss an Krönke, die „[…] Vorstellung von „Vater Staat“, der seine Bürgerinnen und Bürger nolens volens schützend umsorgt […]“ gemeint . Vgl . Christoph Krönke, „Daten30

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meintlichen Kräfteungleichgewichts zwischen privaten Akteuren zum Ziel hat . Zum anderen solches, welches als Ziel hat die Bevölkerung vor Terror und Kriminalität zu schützen . In beiden Fällen möchte der Staat seine Bürger schützen, jedoch mit unterschiedlichen – ja entgegengesetzten – Mitteln . Einerseits soll die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch private Stellen stark eingeschränkt werden . Andererseits möchten staatliche Stellen zur (vermeintlichen) Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung so viele Daten wie möglich – unter Umständen auch ohne Wissen oder gegen den Willen der Betroffenen – erheben, speichern und sonst für ihre Zwecke verarbeiten . Wenn auch ersteres Staatshandeln mit der Konzeption von personenbezogenen Daten als Freiheitsgut gut vereinbar ist, ja gar eine Ausformung dieser Konzeption zu sein scheint (dazu 1 .), so scheinen beide Konzeptionen von personenbezogenen Daten – sowohl als Wirtschafts- als auch als Freiheitsgut – jedoch inkompatibel mit dem unter 2 . darzustellenden Datenhunger staatlicher Stellen zu sein . 1.

Datenschutz

Das Datenschutzrecht inhärent paternalistisch ausgeprägt ist, soll als Prämisse vorangestellt werden, ohne im Detail hierauf einzugehen . Krönke beschreibt diesen Umstand in ausschöpfender Weise und geht hier kritisch insbesondere auch auf die Unterscheidung zwischen klassischen Paternalismen (hier vor allem die schärfere Anforderung an eine Einwilligung des Betroffenen zur Verarbeitung seiner Daten als an eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung),33 libertären Paternalismen (sog . ‚Nudges‘, wie z . B . der Grundsatz des Privacy by Default)34 sowie der Unterscheidung zwischen der Anleitung des Bürgers zu einem Tun oder Unterlassen bzw . zur Wahrung der Rechte des Einzelnen ein . Angelehnt daran, dass Datenpaternalismus zur Stärkung der Rechte des Einzelnen beitragen solle,35 plädiert Krönke letztlich für ein Umdenken hin zu einem „… nach konkretem Gefährdungspotenzial abgestufte[n], weniger paternalistische[n] Datenschutz …“ .36 Es soll an dieser Stelle vermieden werden Paternalismus insgesamt als positiv oder negativ darzustellen, da es vielfältige Abstufungen paternalistischer Regelungen gibt, wie auch von Krönke treffend herausgestellt . Ähnlich anderer Bereiche, wie z . B . dem Arbeitsrecht, Jugend- oder Verbraucherschutz, wird auch im Anwendungsbereich des Datenschutzrechts, d . h . der Datenverarbeitung von persönlichen Daten durch private

paternalismus . Staatliche Interventionen Im Online-Datenverkehr Zwischen Privaten, Dargestellt Am Beispiel Der Datenschutz-Grundverordnung“, in: Der Staat 55, Nr . 3 (September 2016), S . 319 . 33 AaO . S . 325 ff . 34 AaO . S . 329 f . 35 AaO . S . 339 . 36 AaO . S . 347 .

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

oder staatliche Akteure, ein Kräfteungleichgewicht gesehen, dessen Auswirkungen für die ‚unterlegene‘ Partei durch das Recht aufgelöst oder zumindest abgemildert werden sollen . In all diesen Bereichen zieht diese rechtliche Intention eine Einschränkung der Privatautonomie nach sich, soweit Vorschriften nicht nur im Verhältnis zum Staate, sondern auch zwischen Privaten Anwendung finden . Insbesondere die DSGVO kann als Antwort auf die Datensammlung und -verarbeitung von großen Internetfirmen wie Google und Facebook angesehen werden .37 Der Gesetzgeber greift hier also in das Verhältnis zwischen Privaten ein und legt dem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen eine Reihe von Pflichten auf, die bei der Datenverarbeitung zu beachten sind . Der einzelne wird teilweise von der Pflicht entbunden, sich selbst um den Schutz seiner persönlichen Daten zu bemühen . Für Internetunternehmen bedeutet dies ein Umdenken ihrer Geschäftsmodelle, die bisher auf der Bereitstellung von für den Nutzer ‚kostenlosen‘ Diensten beruhen, welche diese mit ihren persönlichen Daten ‚bezahlt‘ haben . Für den Einzelnen bedeutet es jedoch eine Stärkung seiner Freiheitsrechte, da er die Letztentscheidungshoheit über seine persönlichen Daten behält und diese auch in einfacher Weise gegen weitaus stärkere Wirtschaftsteilnehmer durchsetzen kann .38 2.

Datenhunger

Entgegen den Einschränkungen im privaten Bereich, agieren staatliche Stellen jedoch außerordentlich datenhungrig, und dies in teilweise offener, teilweise geheimer Art und Weise . Von totalitären Regimes wie der ehemaligen DDR weiß man, dass diese ihre Bürger systematisch überwachte, soweit es der damalige Stand der Technik erlaubte .39 Das staatliche Stellen auch in modernen demokratischen Staaten gerne das Auch wenn Krönke hier richtigerweise kritisiert, dass auch der Bäcker um die Ecke mit seinem Brötchenlieferservice von den strengen Regeln erfasst wird; aaO . S . 345 . 38 Der Verordnungsgeber geht hier sogar noch einen Schritt weiter, indem er vom Territorialitätsprinzip abweichend auch außereuropäische Verantwortliche unter den Voraussetzungen von Art . 3 DSGVO seiner Jurisdiktion unterwirft und damit seine Bürger vor der Gesamtheit der grenzenlosen Datenverarbeitung schützt . Es soll vorliegend nicht auf die Problematik der Durchsetzbarkeit einer solchen Konzeption eingegangen werden . Zu einer kritischen Würdigung von Art . 3 DSGVO siehe Paul de Hert and Michal Czerniawski, „Expanding the European Data Protection Scope beyond Territory: Article 3 of the General Data Protection Regulation in Its Wider Context,“ in: International Data Privacy Law 6, Nr . 3 (August 2016), S . 230–43 . 39 Das Besondere am Beispiel DDR ist das erhaltene Archiv der Aktivitäten der ostdeutschen Staatssicherheit und letztlich die unermüdliche Aufarbeitungsarbeit, welche seitens der Stasi-Unterlagen Behörde in den letzten Jahren geleistet worden ist und in zahlreichen Veröffentlichungen gemündet hat . So ist es heute möglich die Protokolle von Telefon- und Wohnungs- bzw . Personenüberwachungen detailliert nachzulesen und auszuwerten; siehe z . B . Alexander Cammann, „Knacken in der Leitung“ in: Die Zeit Nr . 42/2014, verfügbar unter: https://www .zeit .de/2014/42/ddr-stasi-ueberwachung, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 37

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gesamte Privatleben ihrer Bürger (sowie das anderer Staaten) überwachen möchten sollte ebenfalls nicht erst seit den Enthüllungen Edwards Snowdens bekannt sein .40 Bereits lange vor den Snowden Enthüllungen wurde z . B . das weltweite Abhör- und Spionagenetzwerk Echelon bekannt, um nur ein Beispiel zu nennen .41 Auch das BVerfG stellte bereits 1983 in seinem Volkszählungsurteil fest, dass „[m]it dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung […] eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar [wären], in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß .“42 In Europa sollten durch die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie43 Telekommunikationsanbieter dazu veranlasst werden, Kommunikationsdaten ihrer Nutzer (genauer: nicht der Inhalt der Kommunikationsdaten, sondern Daten wie der Standort mobiler Geräte, Rufnummern, Dauer eines Telefonats, Benutzerkennungen, IP-Adressen und ähnliche sogenannte Metadaten einer Kommunikation)44 verdachtsunabhängig für eine bestimmte Zeitspanne zu speichern, so dass Strafverfolgungsbehörden im Verdachtsfall darauf zugreifen könnten . Die Verteidiger der Vorratsdatenspeicherung mussten sich von Anfang an gegen mannigfaltige Kritik, insbesondere an den jeweiligen rechtlichen Ausformungen der Vorrastdatenspeicherung durch die Mitgliedsstaaten, wehren . Eine Verfassungsbeschwerde gegen das erste Umsetzungsgesetz in Deutschland war 2010 erfolgreich,45 im Jahre 2014 wurde die Richtlinie vom Europäischen Gerichtshof für ungültig erklärt, da diese „[…] einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkt“ beinhalte .46 Darüber hinaus hat der EuGH im Dezember 2016 in Hinblick auf zwei Rechtsakte aus Schweden Dank der beinahe unerschöpflichen Masse an Daten, welche Edward Snowden 2013 an die Reporter des Guardian übergab, war es möglich ein ähnlich genaues Bild über die Aktivitäten der US Geheimdienste zu erhalten, wie dies im Nachhinein über die DDR Archive der Fall war (auch wenn das gesamte Ausmaß der Snowden Enthüllungen auch fünf Jahre später noch nicht vollumfänglich erfasst ist) . Ein Archiv von Enthüllungen kann (neben vielen weiteren Quellen) auf der Website des Guardian eingesehen werden, unter: https://www .theguardian .com/us-news/the-nsa-files, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 41 Vergleiche z . B . „Q&A: What you need to know about Echelon“, http://news .bbc .co .uk/2/hi/sci/ tech/1357513 .stm, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 42 BVerfG 65, 1, Rn 154 ff . 43 RICHTLINIE 2006/24/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 15 . März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG . 44 Vgl . Art . 5 Vorratsdatenspeicherungs-RL . 45 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 02 . März 2010–1 BvR 256/08 – Rn . (1–345), http://www .bverfg . de/e/rs20100302_1bvr025608 .html . Das BVerfG stellte jedoch fest, dass nicht die Vorratsdatenspeicherung per se, sondern ihre konkrete Ausgestaltung mit dem Grundgesetz unvereinbar sei . 46 Gerichtshof der Europäischen Union, PRESSEMITTEILUNG Nr . 54/14, Luxemburg, den 8 . April 2014, verfügbar unter: https://curia .europa .eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2014–04/cp140054de . pdf, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 40

Datenschutz zwischen Paternalismus und freiheitlicher Selbstbestimmung

und dem Vereinigten Königreich festgestellt, dass eine allgeimene Verpflichtung und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung nicht mit der Grundrechtecharta in Einklang zu bringen ist .47 Ein ernuetes Umsetzungsgesetz in Deutschland aus dem Jahre 2015, welches 2017 in Kraft treten sollte und gegen welches eine erneute Verfassungsbeschwerde anhängig ist, ist momentan durch eine Entscheidung des OVG Münster suspendiert .48 Sowohl das Bundesverfassungsgericht (seitens der Bundesregierung) sowie das Bundesverwaltungsgericht (seitens der Bundesnetzagentur) wurden angeregt das deutsche Gesetz dem EuGH zur Prüfung der Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta vorzulegen .49 Die Bundesregierung kann oder will die Vorratsdatenspeicherung trotz aller Widrigkeiten nicht aufgeben . Auch in Hinblick auf die Snowden Enthüllungen stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 13 . September 2018 fest, dass die Massenüberwachungen durch den britischen Überwachungsdienst gegen Art . 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Privatsphäre) verstoßen haben . Die Reaktion der britischen Regierung hierzu war lediglich, dass nunmehr durch den Investigatory Powers Act 2016 eine Rechtsgrundlage gegeben sei, welche von der Entscheidung des EGMR nicht umfasst sei .50 Sowohl die deutsche Bundesregierung als auch die britische Regierung lassen eine kritische Auseinandersetzung mit der Materie vermissen . Als Begründung für diese und weitere Überwachungskompetenzen (ob nun geheim oder per Rechtsakt) wird Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung angeführt . Auch hier befinden wir uns im Bereich des Paternalismus, allerdings in einer anderen Konzeption als oben aufgezeigt . Will der Staat auf der einen Seite seine Bürger mittels Datenschutzgesetzgebung vor dem eigenen unvernünftigen Verhalten sowie vor Kräfteungleichgewichten schützen, so möchte er auf der anderen Seite Massenüberwachung dazu einsetzen diese vor sonstigem Bösen zu bewahren . Wie die Umsetzung dieser beiden Schutzziele zu beurteilen ist, soll im Folgenden abschließend bewertet werden .

Jedoch sei eine gezielte Regelung, welche sich auf die Aufklärung schwerer Straftaten beschränke, unter engen Voraussetzungen möglich; vgl . Gerichtshof der Europäischen Union, PRESSEMITTEILUNG Nr . 145/16, Luxemburg, den 21 . Dezember 2016, verfügbar unter: https://curia .europa .eu/jcms/upload/ docs/application/pdf/2016–12/cp160145de .pdf, zuletzt besucht am 29 .09 .2018 . 48 OVG Münster Beschluss v . 22 .06 .2018, Az . 13 B 238/17 . 49 Kai Biermann, „Vorratsdatenspeicherung: Europäischer Gerichtshof soll deutsche Vorratsdaten beurteilen,“ in: ZEIT ONLINE, 31 .08 .2018, https://www .zeit .de/politik/deutschland/2018–08/vorratsdaten speicherung-vds-bundesverfassungsgericht-eugh . 50 Owen Bowcott, „GCHQ Data Collection Regime Violated Human Rights, Court Rules,“ The Guardian, 13 .09 .2018, https://www .theguardian .com/uk-news/2018/sep/13/gchq-data-collection-violated-hu man-rights-strasbourg-court-rules . 47

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IV.

Fazit

Soweit persönliche Daten, wie oben aufgezeigt, grundsätzlich als Freiheitsgut und Datenschutz sodann als Ausformung eines allgemeinen Schutzes eines Rechts auf Privatsphäre anzusehen sind, wie es bereits Warren/Brandeis vor beinahe 130 Jahren festgestellt hatten, so mutet es widersprüchlich an, wenn der Staat auf der einen Seite versucht die Freiheit des Einzelnen mittels des Schutzes von Daten und andererseits mittels des Sammelns von Daten zu schützen . Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus . Dies muss jedoch für alle Mitspieler gleichermaßen gelten, sowohl für private, als auch staatliche Stellen . In Hinblick auf die Konzeption von Grundrechten als Abwehrrechten gegen den Staat, ist gar zu erwarten, dass staatlichen Stellen schärfere Schranken auferlegt werden als privaten Akteuren . Die Gefahren von Seiten staatlicher Stellen für den Einzelnen sind aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols unweit höher als von privater Seite . Soweit Facebook und Google Persönlichkeitsprofile von Nutzern anlegen, geschieht dies zum Zwecke der gezielten Schaltung von Werbung . Mit dieser Erhebung und Verarbeitung von Daten ist ein relativ geringer Eingriff in die freie Entscheidungsfindung verbunden . Was jedoch der Staat mit Andersdenkenden zu tun vermag, lässt sich historisch wiederum am Beispiel der ehemaligen DDR veranschaulichen . Die These, dass westlich liberale Demokratien nicht mit solch autoritären Regimen vergleichbar seien und staatliche Überwachung in gerade diesen Demokratien niemals zur Verfolgung politisch Andersdenkender eingesetzt würde, lässt sich insbesondere vor dem Hintergrund der vielfach aufgedeckten Grundrechtsverletzungen auch von Seiten demokratischer Regierungen nicht ohne Weiteres aufrechterhalten . Demokratische Regierungen sollten daher mit Augenmaß und Vorsicht die Neuerungen des digitalen Zeitalters nutzen und dabei die Gefahren von grenzenloser Speicherung und Verarbeitung von Daten sowie deren Missbrauchs berücksichtigen, genau wie sie es letztlich in Europa mit der DSGVO angemahnt haben .

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme MARKUS ABRAHAM (Hamburg)

I.

Eutrust – ein Gedankenexperiment

Zur Herstellung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“1 initiiert die Europäische Kommission in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Bankenverband, WhatsApp, Amazon EU und Google die Einführung eines Ratingverfahrens, das auf Grundlage eines holistischen Datenprofils jedem Rechtssubjekt eine Kennziffer seiner Vertrauenswürdigkeit zuweist . Auch der europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutet an, dass die Methode dieses sogenannten eutrust-Verfahrens zwar die informationelle Selbstbestimmung verletzt, dies allerdings im Rahmen der weiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers durch das vorgetragene überwiegende Allgemeininteresse gerechtfertigt werden kann: Zum einen werde auf diese Weise ein effektiver Schutz vor Terrorgefahren möglich . Zum anderen diene eutrust dem optimalen Funktionieren des EU-Binnenmarkts wie auch den Verbraucherinteressen, zumal unzutreffende Bonitätseinschätzungen und damit die Gefahr einer erneuten Kredit- und Finanzkrise effektiv unterbunden würden . Der Eingriff in das Datenschutz-Grundrecht sei auch deswegen gerechtfertigt, weil dem Einzelnen jederzeit ein unmittelbarer Informationszugang über Speicherung und Verwendung der Daten eingeräumt worden sei . II.

Nicht Orwell, sondern gamified obedience

Klingt ein derartiges Instrument unerhört und unvorstellbar, so wird es zur Schaffung von „sincerity, self-discipline, trust-keeping and mutual trust“2 im Jahr 2020 wohl Realität, zwar nicht in Europa, aber in China, nämlich unter staatlicher Leitung und in Europäischer Rat, Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, Amtsblatt der Europäischen Union, 2010/C 115, 4 . 2 State Council of the People’s Republic of China, Planning Outline for the Construction of a Social Cre1

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Zusammenarbeit mit den entsprechenden Counterparts der aufgeführten privatwirtschaftlichen Akteure . Die Idee ist, dass jede natürliche und jede juristische Person auf einer einheitlichen Skala eine Kennziffer erhält, die den Grad ihrer Glaubwürdigkeit angibt . Dadurch soll ein Klima gegenseitigen Vertrauens entstehen, das Individuen und Unternehmen dazu Anreiz gibt, vermehrt Investitionen auf Kreditbasis zu tätigen . Hierdurch werde die Allokation von Ressourcen optimiert und somit die Wettbewerbsfähigkeit der Volksrepublik gesteigert .3 Einige private Unternehmen haben bereits damit begonnen, die entsprechenden technischen Mechanismen zu entwickeln . Hervorzuheben ist insbesondere das Amazon-Äquivalent Alibaba mit dem konzernzugehörigen sesame credit score . Wenn auch die genaue Funktionsweise des Algorithmus unbekannt ist,4 sind doch folgende fünf Faktoren laut Auskunft des Unternehmens bewertungsrelevant: die bisherige Zahlungshistorie der Nutzerin, ihr Verhaltensprofil im Netz, ihre Zahlungskraft, die Vollständigkeit der angegebenen persönlichen Daten und schließlich Charakteristiken ihrer Freunde . Daten von Behörden und Banken ergänzen das Profil .5 Welch große Bedeutung die chinesische Staatsführung diesem digitalen Ratingsystem beimisst, lässt sich aus mehreren Indizien schließen: So benennt der China-Experte Sebastian Heilmann das social credit system als eine der wesentlichen Innovationen von Xi Jinpings Führungsstil .6 Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich aus der Ausgereiftheit des von der chinesischen Regierung kommunizierten Sanktionskatalogs aus dem Jahre 2016: So werden für einen Vertrauensbruch in detaillierter Weise Tätigkeitsverbote angekündigt, die sowohl innerhalb sensibler Wirtschaftsbereiche als auch im öffentlichen Dienst und der Partei gelten sollen .7 Besonders informativ ist die im Sanktionskatalog aufgeführte Beschränkbarkeit des Prestigekonsums („conspicuous consumtion“): So kann die Nutzung von Nachtzügen und Reisen erster Klasse, Sternelokalen und -hotels, der Zugang zu Privatschulen, der Erwerb von Versicherungs-Produkten mit Kapitalwert, sowie Hausbau und Renovierung untersagt werden .8 Der Eindruck der Ernsthafdit System (2014–2020), veröffentlicht am 14 . Juni 2014, abrufbar über China Copyright and Media (www chinacopyrightandmedia wordpress com), hg . von Rogier Creemers, I . (3), abgerufen am 30 . Juli 2018 . 3 State Council of the People’s Republic of China (Fn . 2), II . (2) . 4 Rachel Botsman, Who Can You Trust?, 2017, 152 . 5 Fabian Warislohner, Dystopia wird Wirklichkeit: Was ist dran an Chinas „Social Credit System“?, in: www netzpolitik org vom 2 . Mai 2018, abgerufen am 30 . Juli 2018 . Vgl . die Auskunft vom 28 . Januar 2015 auf der Homepage der Alibaba Group: www .alibabagroup .com/en/news/article?news=p150128, 30 . Juli 2018 . 6 Harvard University Asia Center, Event Recap – Leninism Upgraded: Restoration and Innovation under Xi Jinping, veröffentlicht auf www .asiacenter .harvard .edu, abgerufen am 30 . Juli 2018 . 7 Chinese Communist Party, Central Committee General Office, State Council General Office, Opinions concerning Accelerating the Construction of Credit Supervision, Warning and Punishment Mechanisms for Persons Subject to Enforcement for Trust-Breaking, veröffentlicht am 25 . September 2016, abrufbar über China Copyright and Media (www chinacopyrightandmedia wordpress com), hg . von Rogier Creemers, II . (1) bis II . (6), abgerufen am 30 . Juli 2018 . 8 Chinese Communist Party, Central Committee General Office, State Council General Office (Fn . 7), II . (7) . Auch konkrete Überlegungen über Korrekturmechanismen für mögliche Fehlbeurteilungen über ein Beschwerde- und Rechtsmittelsystem sind angestellt, siehe ebd ., IV . (2) Nr . 3 .

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme

tigkeit des Projekts wird schließlich von der geplanten Reichweite des social credit system bestärkt: Die Gesellschaft soll vollständig durchdrungen, die Aufrichtigkeit zu einem Bestandteil der kulturellen Identität werden („sincerity culture“) . Über sämtliche Medien sollen Vorzeigebürger als Vorbilder zur Schau gestellt werden, thematische Veranstaltungen sollen die Öffentlichkeit aktivieren . So sind zur Bewerbung diverse Aktivitäten geplant wie etwa eine „Sincerity Activity Week“, eine „Sincere Trading Propaganda Week“ sowie ein „Credit Record Care Day“ .9 Um das volle Potential des Ratingsystems und seine Eignung als Regulierungsinstrument zu erfassen, muss man sich neben den in Regierungsankündigungen hauptsächlich angeführten ökonomischen Gründen auch die Internetpolitik insgesamt vergegenwärtigen . Nach Rogier Creemers werde das Internet gezielt als Instrument der politischen Stabilisierung und Lenkung eingesetzt .10 Eine Maßnahme stellt etwa das Erfordernis zur Angabe des Klarnamens für die Teilnahme an diversen Plattformen dar .11 Zudem wurde ein Gesetz geschaffen, das die Onlineveröffentlichung falscher Information mit bis zu drei Jahren Gefängnis etwa für den Fall bewehrt, dass die Information eine gewisse Reichweite erreicht .12 Der ausgefeilte Sanktionskatalog, die angekündigte Bewerbung und der offenbarte Wille, das Internet als Stabilisierungsmedium einzusetzen, lassen zusammengenommen die Bestimmung des social credit scores als Instrument der Gesellschaftssteuerung erahnen . Herauszustellen ist hierbei – und das unterscheidet das geplante social credit system erheblich von der häufig bemühten Orwell’schen Überwachungsdystopie –, dass die „Überwachung“ hier maßgeblich durch die Akteure selbst erfolgt . Des Weiteren ist die Beobachtung wichtig, dass es sich trotz des geschilderten Katalogs an Repressalien nicht primär um Verhaltenssteuerung durch negative Verstärkung handelt .13 Normkonformes Verhalten soll hier vornehmlich nicht durch Angst vor Sanktionen, sondern durch positive Anreize bewirkt werden .14 Die jederzeitige Zugriffsmöglichkeit auf den score und die aus (Computer-)Spielen bekannten psychologischen Motivatoren (Rating, Ranglisten, Levels, Highscores) führen zu einer Form des spielerischen Gehorsams:15 „gamified obedience“16 . Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Erst-

State Council of the People’s Republic of China (Fn . 2), III . (2) . Rogier Creemers, Cyber China: Upgrading Propaganda, Public Opinion Work and Social Management for the Twenty-First Century, Journal of Contemporary China 26 (2017), 85–100, 97 f . vgl . insgesamt die Analyse bei 89 ff . 11 Dieses Gesetz wurde in einigen Feldern bereits weitgehend umgesetzt: Im Jahr 2015 waren 80 Prozent der WeChat-Nutzer mit Klarnamen registriert, so Creemers (Fn . 10), 96 . 12 500facher Retweet bzw . 5000facher Zugriff auf die Nachricht, so Creemers (Fn . 10), 92 f . 13 Katika Kühnreich, Gamified Control? China’s Social Credit System, Vortrag vom 27 . Dezember 2017 auf dem 34C3 in Leipzig, s . media .ccc .de/v/34c3–8874-gamified_control/playlist, abgerufen am 30 . Juli 2018 . 14 Darauf, dass sich das schnell ändern könne, verweist Creemers (Fn . 10), 99 . 15 Kühnreich (Fn . 13) . Unter Hinweis auf das Youtube-Video von „Extra Credits“ mit dem Titel Propaganda Games: Sesame Credit – The True Danger of Gamification, veröffentlicht am 16 . Dezember 2015, abgerufen am 30 . Juli 2018 . 16 Botsman (Fn . 4), 159 . 9 10

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anwender in eine Art Wettkampf um Bestwerte stürzen werden17 – auch die Ausschreibung eines Wettbewerbs um den besten score unter Studenten18 weist in diese Richtung . Die Pflege des eigenen Ratingwertes könnte dazu verführen, sich zu einem Wettlauf der Selbst-Optimierung, der gespielten Höflichkeit und des Sich-Umgebens mit vergleichbar gut angesehen Freunden hinreißen zu lassen .19 Ablesen lässt sich diese Entwicklung bereits heute, wenn man auf diejenigen privatwirtschaftlichen Systeme sieht, die wohl als Vorläufer des für das Jahr 2020 geplanten staatlichen Glaubwürdigkeitssystems angesehen werden können: Für einen hohen sesame credit score winken neben der sozialen Reputation allerlei Privilegien wie etwa die Kautionsfreiheit bei einer Automiete, schnelleres Einchecken in Hotels, einfacherer Zugang zu Krediten, erleichtertes Reisen und schnellere Visa-Verfahren .20 III.

Die allzu einfache Empörung

Das beschriebene social credit system lässt sich auf mehreren Ebenen kritisieren . Schon systemimmanent stellen sich gewaltige Probleme: Wie etwa können solche Bewertungen verhindert werden, die den jeweiligen Kontext eines Verhaltens unzureichend berücksichtigen, z . B . wenn Säumigkeit durch Drittverschulden zustande kommt? Sind mögliche Folgerungsbeziehungen in der Informationsbeschaffung nicht viel zu invasiv und in ihrer Schlussfolgerung viel zu gewagt, wenn etwa Computerspielen zur Bewertung als „faul“, der Einkauf von Windeln zur Bewertung als „verantwortungsvoll“ führen würde?21 Wie soll eine „Kultur der Aufrichtigkeit“ entstehen, wenn die Ausgestaltung des Algorithmus weitgehend intransparent ist? Wie will man verhindern, dass Akteure das System austricksen? Wo etwa eine Nutzerin, die regelmäßig die Homepage der parteinahen Zeitung liest, positiv bewertet wird, ließe sich eine Applikation erstellen, die das tägliche Aufrufen simuliert .22 Und: läuft nicht die Überlegung, die Glaubwürdigkeit von Freunden für die eigene Kreditwürdigkeit heranzuziehen, auf Sippenhaft und die Ausübung massiven, sozial exkludierenden Drucks hinaus?23

Kühnreich (Fn . 13) . Der Wettbewerb wurde von Sesame Credit ausgeschrieben, s . Warislohner (Fn . 5) . Botsman (Fn . 4), 163 f . Dieses Bild zeichnet die – von Botsman angeführte – dystopische Zukunftsszenarien behandelnde Serie Black Mirror zu eben diesem Thema in der ersten Folge der dritten Staffel: „Nosedive“ . 20 Botsman (Fn . 4), 155 . 21 Felix Lee, Die AAA-Bürger, Zeit Online vom 30 . November 2017, abgerufen am 30 . Juli 2018 . 22 Die Frage, wie lange es dauert, bis jemand – in der Versuchsstadt Rongcheng – ein entsprechendes Programm erstellt, stellt Lee (Fn . 21) . 23 Kühnreich (Fn . 13) . 17 18 19

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme

Abgesehen von systemimmanenter Kritik lassen sich immense datenschutzrechtliche Bedenken vorbringen24 – und gewissermaßen als deren Gipfel das Missbrauchsrisiko, das insbesondere dann entsteht, wenn holistische Bewertungen angelegt und gespeichert werden . Ebenso mag man die höchst unerwünschten Konsequenzen betonen, die ein derartiges System womöglich mit sich brächte: Zu befürchten wäre ein Konformitätsdruck, der Freiheit, verstanden als Befähigung zu Innovation und Kreativität, aber auch als Konzept von Privatheit, zu beseitigen droht . Eine dazu komplementäre Kritik könnte das Panopticon mit seinen Disziplinierungstechniken am Werke sehen: Bereits das potentielle Gesehen-Werden führt zur realen Veränderung des Verhaltens . Die durch äußere Sanktionen aufoktroyierten Machtverhältnisse werden vom Beobachteten „internalisiert“ und so zum „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“25 .26 All diese Kritik ist wichtig und muss ausbuchstabiert werden . Doch sollte uns dies nicht in einen paralysierenden Zustand der Empörung versetzen – allein schon deswegen nicht, weil auch hier „bei uns“ die Entwicklung umfassender Reputationssysteme so fern nicht liegt . Es existieren etwa bereits Ausbildungs- und Arbeitszeugnisse, Genehmigungen, Lizenzen, Schufa und polizeiliches Führungszeugnis sowie Gutachten über die Gefährlichkeit von Personen .27 Zu vergessen ist auch nicht die Masse an privatrechtlichen Einrichtungen wie Gütesiegel, Plattformen für die Bewertung von Dienstleistungen (wie Hotels, Restaurants, Ärzten) oder Reputationssysteme in Online-Communities . Die naheliegende Selbstberuhigung, sich vom Chinesischen social credit sytem weit entfernt zu wähnen, ist ein allzu sanftes Ruhekissen . Das ergibt sich nicht erst aus der vagen Verunsicherung, die angesichts der Tracker, Cookies und der ungelesenen, aber dennoch abgegebenen Einverständniserklärungen zur Verwendung der eigenen Daten resultiert . Handfest wird die These der irrigen Beschwichtigung bereits, wenn man sich ein Patent vor Augen führt, das Facebook unlängst angemeldet haben soll: Diesem Patent zufolge soll der angefragte Kreditgeber die Facebook-Freun-

Zu erinnern ist – neben der europäischen Datenschutzgrundverordnung und der für den straf- und sicherheitsrechtlichen Bereich relevanten Richtlinie, Richtlinie (EU) 2016/680, ABl . L 199, S . 89 ff ., insbesondere an das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 1983: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß . (…) Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt (…) den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus .“ (BVerfGE 65, 1, 43) . 25 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, übers . v . Walter Seitter, 1976, 260 . 26 Diesen aktualisierenden Bezug zur Foucaultschen „Theorie der Macht“, die „die tatsächliche Ausübung der Macht überflüssig werden lässt“, liefert – in anderem Zusammenhang – Jochen Bung, Grundlagenprobleme der Privatisierung von Sanktions- und Präventionsaufgaben, ZStW 125 (2013), 536–550, 538 f . 27 Partiell wird man das Projekt des chinesischen social credit score auch als ein Nachholen eines zuverlässigen Kreditratings ansehen müssen, das in China bislang nicht vorhanden war . 24

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de des Kreditbewerbers überprüfen – und nur wenn diese über ein bestimmtes Minimum an Kreditwürdigkeit verfügen, wird die Kreditanfrage weiterbearbeitet .28 Zwar scheint mir die Warnung davor, beim Anblick des chinesischen social credit system reflexhaft in eine abwinkende Haltung zu verfallen, bereits an sich von Wert zu sein . Im Folgenden möchte ich noch zwei weitere Gesichtspunkte herausarbeiten: zum einen den Hinweis, ein bestimmtes sprachphilosophisches Konzept zur Analyse des social credit system fruchtbar machen zu können (IV .), zum anderen den Appell, bei aller gebotenen Vorsicht, über mögliche positive Elemente eines solches Systems nachzudenken (V .) . IV.

Deontisches Kontoführen

Um einen produktiven, theoretischen Zugang für das social credit system zu ermöglichen, möchte ich auf eine Parallele zur Sprachphilosophie hinweisen, und zwar zu Robert Brandoms Vorstellung darüber, was uns als sprachliche Akteure auszeichnet, nämlich die Tätigkeit des Buchführens mit und über Sprache .29 Brandom buchstabiert damit eine Überlegung von David Lewis aus, die dieser in Beobachtung des Baseballspiels entwickelte: „Language as a scorekeeping game .“30 Wir würden uns an einer sozialen Praxis betätigen, die darin besteht, dass wir unseren Aussagen und Verhaltensakten gegenseitig „auf den Fersen bleiben“ .31 Diese registrierende Tätigkeit erfüllt dabei nicht bloß einen archivarischen Zweck, sondern führt dazu, dass die Buchführenden sich gegenseitig die von ihnen getätigten Aussagen und daraus resultierende Berechtigungen und Verpflichtungen zu künftigen Verhaltensakten zuweisen . Der grundlegende Zug in diesem Spiel ist das Aufstellen einer Behauptung . Eine Sprecherin sagt beispielsweise „Dort sitzt ein himmelblauer Schmetterling“ . Durch diese Aussage ist sie auf eben diese Behauptung sowie auf weitere Behauptungen festgelegt, etwa diejenige, dass der Schmetterling, der dort sitzt, ein blauer ist; andere Behauptungen wiederum sind durch ihre Festlegung hingegen ausgeschlossenen . Der Verhaltensakt der Behauptung ist nun nicht nur für die Berechtigung zu Folgeakten von Relevanz . Jede Behauptung geht zugleich auch mit einer Verpflichtung einher, nämlich derjenigen, für das Behauptete bei Bedarf Gründe zu liefern .32 Wie potentielle Gründe genau aussehen, kann an dieser Stelle offenbleiben; eine Möglichkeit der Begründung besteht jedenfalls darin – zumal die Behauptungsakte in Beziehung der Schlussfolgerung zuei-

Warislohner (Fn . 5) . Robert Brandom, Expressive Vernunft, 2000 . Als Referenztext dient im Folgenden die von Eva Gilmer und Hermann Vetter besorgte Übersetzung von Brandoms 1994 erschienenen Making it Explicit . 30 David Lewis, Scorekeeping in a Language Game, Journal of Philosophical Logic 8 (1979), 339–359 . 31 Brandom (Fn . 29), 220 (Zitat umgestellt) . 32 Brandom (Fn . 29), 261 . 28 29

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme

nander stehen33 – eine weitere, stützende Behauptung anzuführen, z . B .: „Es ist gerade die Zeit des Jahres, zu der solche Schmetterlinge schlüpfen“ oder „das Ding flatterte“ . Die Akteure registrieren aus ihrer jeweiligen Warte, zu welchen Zügen sie selbst und auch die anderen berechtigt und verpflichtet sind . Sie sind „deontische Kontoführer“ .34 Und diese Kontoführungspraxis wird von jedermann betrieben – jeder ist Erzeuger und Beobachter von Verhaltensakten, die er als berechtigt bzw . nicht-berechtigt behandelt . Die Struktur der Praxis lässt sich nun als eine sanktionale charakterisieren:35 Die Akteure reagieren Brandom zufolge nämlich mit positiven Sanktionen auf Akte, die sie für berechtigt befinden; umgekehrt reagieren sie mit negativen Sanktionen auf diejenigen Akte, die aus ihrer Sicht einer Berechtigung entbehren .36 Mit ihrer Reaktion halten die Gemeinschaftsmitglieder den normativen Status einer bestimmten Verhaltensweise (berechtigt/nicht-berechtigt) aufrecht, strafrechtlich gesprochen: sie widersprechen einem Normbruch und stabilisieren so die Geltung der Norm . Die grundlegende Sanktion eines solchen Modells besteht, wie ich an anderer Stelle auszuführen versucht habe, dabei nun darin, den Akteur zu dem infrage stehenden Verhaltensakt als nicht-berechtigt (somit den Akt als zu Folgeakten nicht-berechtigend) anzusehen37 – und unter gewissen Umständen gibt das Anlass, den Akteur vorübergehend als nicht-vertrauenswürdigen Kontoführer zu betrachten .38 Die Beschreibung unserer menschlichen Praxis als ein sanktionales Kontoführen macht die Parallele zum chinesischen social credit system augenscheinlich: Wir bewerten gegenseitig unsere Verhaltensakte, führen Buch über sie . Es läge daher nahe, zur Analyse des Systems den sprachphilosophischen Ansatz Brandoms fruchtbar zu machen . Insbesondere provoziert das beschriebene Modell die Frage, ob die basale Sanktionseinheit, nämlich diejenige, einen Verhaltensakt als berechtigt beziehungsweise nicht-berechtigt zu behandeln, nicht in stärkerem Maße als eigenständige Sanktion beziehungsweise als zentrales Element ausgewiesen und operationalisiert werden sollte . Und dies dürfte für ein Modell eines social credit system und ebenso für kriminalrechtliche Sanktionspraktiken gelten .39

s . Brandom (Fn . 29), 253 ff . Brandom (Fn . 29), 220, näher zum Modell bei 274 ff . Die Wortbildung „sanktional“ stammt von Sebastian Knell, Propositionaler Gehalt und diskursive Kontoführung, 2004, 58 u . 108 f . 36 Brandom (Fn . 29), 89 f . u . 270 . 37 Brandom beschreibt diese Sanktionsart als „interne Sanktion“, s . Brandom (Fn . 29), 270 f . u . 90 ff ., dazu Markus Abraham, Sanktion, Norm, Vertrauen, 2018, 186 ff . 38 s . Abraham (Fn . 37), 204 ff . 39 s . zu letzterem Abraham (Fn . 37), 251 ff . Eine weitere Frage, die sich aus dem Modell ergibt, betrifft die Entstehung von Normativität . Zu einer diesbezüglichen Interpretation von Brandoms Ansatz siehe ebd ., 188 ff . 33 34 35

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V.

Großexperiment kritisch begleiten

Neben dieser Idee zur theoretischen Handhabbarmachung möchte ich dazu anregen, praktisch und konstruktiv über das social credit system nachzudenken . Lässt sich eine rechtsstaatliche Version vorstellen, die die oben angedeuteten Bedenken ausräumt oder zumindest abmildert? Ein unabdingbarer Schritt wäre sicherlich die drastische Reduktion der einfließenden Informationen . Lediglich manche Akte dürften verbindlich festgehalten werden, vielleicht bestimmte Säumigkeitsschulden, unterlassene Unterhaltsleistungen, hate comments, sonstige Straftaten . Möglicherweise wären auch Faktoren zu berücksichtigen, die die soziale Glaubwürdigkeit steigern, wie bestimmte Zertifikate oder Berechtigungen, z . B . Führerschein, Umgang mit Kindern, Expertisen . Statt diesen Gedanken hier weiter zu nachzugehen, möchte ich versuchen zu erläutern, weshalb ein solches konstruktives Nachdenken sinnvoll erscheint: Denn auch losgelöst von den erhofften ökonomischen und verhaltenssteuernden „positive[n] Auswirkungen“40 ergäben sich womöglich Chancen eines solchen Systems . Eine derartige Chance könnte sich auf der Rückseite der Sanktionierung ergeben, also bei der Frage, was der Einschätzung, einen nicht-berechtigten Verhaltensakt getätigt zu haben, zeitlich nachfolgt: Hier könnte ein social credit system neue Wege eröffnen . Was ich meine ist die Frage der Reintegration des Sanktionierten, also die Frage der Wiederherstellung der Vertrauenswürdigkeit des Akteurs . Zwar könnte man das System des social credit score auch diesbezüglich als fatal erachten, da es zu shame sanctions, zu Exklusion und Ächtung führen dürfte . Dies ist jedoch keine notwendige Implikation . Auch das chinesische System sieht ausdrücklich Möglichkeiten zur Rehabilitierung vor .41 Vielleicht liegt in der Eröffnung von Rückkehrwegen sogar die Legitimation des staatlichen Strafens überhaupt: Der Gedanke wäre folgendermaßen zu konstruieren: Der Staat darf strafen, damit der Verurteilte den an sich legitimen, in ihrer Intensität und Durchführung jedoch willkürlichen Sanktionierungen jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes, zu entgehen vermag . Das Strafrecht bietet dem Beschuldigten die Möglichkeit dazu, in einem rechtsstaatlich abgesicherten Verfahren wieder als vertrauenswürdiger Akteur angesehen zu werden . Bekannt ist eine derartige Legitimationsüberlegung bei der Strafprozessordnung: Die Prozessordnung garantiert dem Beschuldigten einen fairen Prozess und sichert ihn damit gegen willkürliche Privatverurteilungen und gegen Nicht-Einhaltung rechtsstaatlicher Beweisstandards . Doch nicht nur der öffentliche Strafprozess kann dem Beschuldigten gegenüber durch diese Funktion legitimiert werden . Auch das Strafurteil, also der Schuldspruch und die weiteren Sanktionen, lässt sich dem Beschuldigten gegenüber gerade insoweit legitimieMirjam Meissner, Chinas gesellschaftliches Bonitätssystem, Präsentation vom 3 . August 2017, 10, abrufbar unter: www .merics .org (Mercator Institute for China Studies), abgerufen am 30 . Juli 2018 . 41 Chinese Communist Party, Central Committee General Office, State Council General Office (Fn . 7), IV . (2) . 40

Gesellschaftssteuerung durch Reputationssysteme

ren, als das staatliche Strafurteil das auf den Tatnachweis Nachfolgende in rechtsstaatlicher Weise strukturiert: Die verurteilte Person wird in die Lage versetzt, sich durch den Sanktionsvorgang gegenüber den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft als wieder vertrauenswürdige Person zu erweisen . Und das in einer transparenten und die Allgemeinheit bindenden Weise – sie wird dadurch geschützt vor zeitlich sowie der Intensität nach willkürlichen Sanktionen aller anderen Gesellschaftsmitglieder .42 Gerade wenn man nicht an schmerzzufügende, sondern an restitutive, das Vertrauen wiederherstellende Reaktionen denkt, könnte das System der Bewertung von Vertrauenswürdigkeit dahingehend sinnvoll operationalisiert werden .43 Wie auch immer man zur Einführung des social credit system in China stehen mag: Es erscheint angezeigt, nicht reflexhaft in Empörung zu verfallen . Vielmehr sollten wir uns darum bemühen, ein fundiertes Verständnis dieses gesellschaftlichen Großexperiments zu entwickeln . Auch wenn in der tatsächlichen Ausgestaltung des Systems noch vieles undurchsichtig bleibt, wird es von Beobachtern bereits als Export-Technologie44 gehandelt .

Abraham (Fn . 37), 265 . Anknüpfungspunkte lägen etwa bei der situational crime prevention, Fragen der Bewährungsauflagen (z . B . modernere Varianten der elektronischen Fußfessel) oder neuen Formen restitutiver Bemühungen . 44 Meissner (Fn . 40), 11 . 42 43

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Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie1 WULF LOH (Tübingen)

I.

Einleitung

Der Wert informationeller Privatheit wird schon länger nicht mehr allein im Schutz oder in der Ausübung individueller Autonomie gesehen .2 Auch die politische Autonomie des Individuums in seiner demokratischen Doppelfunktion als „Autor wie Adressat von Gesetzen“3 gerät zunehmend in den Blick .4 Dies gilt einerseits für die Ausübung staatlich garantierter Partizipationsrechte, da sich hier aufgrund staatlicher Massenüberwachung von Demonstrationen, Bürgerbewegungen und anderen politischen Beteiligungsformen die Partizipationsschwelle für die Bürgerinnen5 u . U . erhöhen kann .6 Schon in seinem Volkszählungsurteil von 1983 weist das BVerfG auf diese Gefahren hin und mahnt, dass „mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung

1 Ich danke den Herausgeber*innen des Bandes für wertvolle Hinweise und Kommentare sowie den Teilnehmer*innen der Tagung „Sicherheit um jeden Preis“ für viele wichtige Anmerkungen . Besonderer Dank gebührt Laura Schelenz, die dem Text den letzten Schliff gegeben hat . 2 Samuel Warren / Louis Brandeis, The Right to Privacy, in Philosophical dimensions of privacy, hg . von Ferdinand Schoeman, 1984, 75–103; Beate Rössler, Der Wert des Privaten, 2001 . 3 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, 52 . 4 Robin Celikates, Digital Publics, Digital Contestation, in Transformations of democracy, hg . von Robin Celikates / Regina Kreide / Tilo Wesche, 2015, 159–174; Beate Rössler, Wie wir uns regieren, WestEnd (2016), 103–118; Max Winter, Demokratietheoretische Implikationen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, in Informationelle Selbstbestimmung im digitalen Wandel, hg . von Michael Friedewald / Jörn Lamla / Alexander Roßnagel, 2017, 37–48 . 5 Ich verwende die weibliche wie männliche Form zufällig und abwechselnd, immer aber in dem Gedanken, dass sie an der jeweiligen Stelle auch stellvertretend für alle anderen Geschlechtsidentitäten steht . 6 Titus Stahl, Indiscriminate mass surveillance and the public sphere, Ethics and Information Technology 18 (2016), 33–39 .

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Wulf Loh

[…] eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar [wäre], in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß .“7 Andererseits rückt auch die zunehmende Verdatung durch kommerzielle Akteure in den Fokus, führt sie doch möglicherweise dazu, dass zum einen private Rückzugsräume verloren gehen und so das Reservoir für eine freie politische Betätigung in der Öffentlichkeit in Gefahr gerät, zum anderen durch Echokammern und Micro-Targeting die Fragmentierung öffentlicher Diskursräume eine neue Dimension erreicht . Damit sind drei zentrale Funktionsbedingungen, die informationelle Privatheit für politische Partizipation garantieren soll, näher benannt: erstens die Möglichkeit, sich gefahrlos und ohne Sorge für um die Konsequenzen politisch betätigen zu können; zweitens der Freiraum, um sich als „Vorbedingung allen […] Erscheinens“8 in der Öffentlichkeit aus dem Licht derselben wirksam zurückziehen zu können; und drittens der Schutz vor Vereinzelung durch die ubiquitäre Sammlung und Aggregation von personenbezogenen Daten . Im Folgenden soll die in Demokratien immer prekäre Balance zwischen den für sie unerlässlichen Erfordernissen der Transparenz, Privatheit und Sicherheit demokratietheoretisch neu ausgelotet werden, indem die Wichtigkeit informationeller Selbstbestimmung für die vier grundlegenden Funktionen von Demokratie – Aggregation, Übersetzung, Kontrolle, Sozialintegration – nachgezeichnet wird . Auf Grundlage dieser Funktionen werden fünf Gefahren für die politische Partizipation der Bürgerinnen angerissen, die je einen spezifischen Schutz informationeller Privatheit nahelegen . Dabei wird sich zeigen, dass eine aufgeklärte Einwilligung zur Verdatung allein nicht in jedem Fall das Gut politischer Partizipation effektiv zu schützen vermag, so dass u . U . auch extern-institutionelle Zugangsbeschränkungen ihre Berechtigung haben . II.

Funktionen von Demokratie

Normative Demokratietheorien legen ihren Fokus für gewöhnlich auf je unterschiedliche Aspekte demokratischen Regierens . Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie demokratischen Institutionen im Allgemeinen vier basale Funktionen zuschreiben: Sie müssen in der Lage sein (a) Interessen oder Gemeinwohlvorstellungen zu aggregieren, (b) zivilgesellschaftliche Forderungen für die politischen Institutionen zu übersetzen, (c) eine effektive Kontrolle über diese Institutionen ausüben können sowie (d) mindestens eine rudimentäre Form der Sozialintegration leisten .

7 8

BVerfGE 65, 1 . Hannah Arendt, Was ist Politik?, 1993, 45 .

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

Die Aggregationsfunktion steht dabei in Abhängigkeit von der jeweiligen Demokratietheorie . Mit Blick auf die Frage, was aggregiert werden soll, lassen sich grob liberale von republikanischen Modellen unterscheiden .9 Während sich liberal-demokratische Theorien auf die Aggregation von Einzelinteressen konzentrieren, die in Form von Wahlen erhoben und gegen grundrechtliche Minderheitsregelungen abgewogen werden, wollen republikanische Demokratiemodelle je individuelle Überzeugungen darüber aggregieren, was nach Meinung der Bürgerinnen das Beste für das Gemeinwohl ist . Im letzteren Fall dient die Demokratie nicht nur der Akkumulation verschiedener Interessen, sondern hat darüber hinaus eine epistemische Funktion: Jede Bürgerin ist aufgefordert, ihre wohlinformierten Überlegungen dazu, was das Gemeinwohl ist und welche policies ihm am Ehesten dienlich sind, darzulegen und in Wahlen zu vertreten . Deliberative Demokratietheorien fokussieren dagegen nicht so sehr auf die Aggregation selbst, sondern konzentrieren sich besonders auf die Übersetzungsfunktion politischer Öffentlichkeiten . Diese sollen zwischen der Zivilgesellschaft und den politischen Institutionen medial vermitteln: „Das deliberative Modell begreift die politische Öffentlichkeit als Resonanzboden für das Aufspüren gesamtgesellschaftlicher Probleme und zugleich als diskursive Kläranlage, die aus den wildwüchsigen Prozessen der Meinungsbildung interessenverallgemeinernde und informative Beiträge zu relevanten Themen herausfiltert und diese ‚öffentlichen Meinungen‘ sowohl an das zerstreute Publikum der Staatsbürger zurückstrahlt wie an die formellen Agenden der zuständigen Körperschaften weiterleitet .“10

Weiterhin müssen Demokratien in der Lage sein, politische Institutionen und Handlungen zu kontrollieren und die gewählten Regierungsbeamten zur Rechenschaft zu ziehen . Damit ist die oben erwähnte Kontrollfunktion von Demokratie angesprochen . Neben der internen und wechselseitigen Aufsicht politischer Institutionen im Sinne von checks & balances und der externen Beobachtung durch zivilgesellschaftliche Akteure, stehen hier nach wie vor die klassischen Massenmedien als vierte Gewalt im Mittelpunkt . Sie sollen durch ihre Recherchearbeit Fehlverhalten, Intransparenz und Machtmissbrauch aufdecken und in die öffentliche Debatte einspeisen . Und schließlich müssen Demokratien ein Mindestmaß einer „Bürgersolidarität unter Fremden“11 bereitstellen, um effektiv und reliabel die Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die durch die Aggregationsdimension bestimmt werden . Nur wenn demokratische Institutionen von der Mehrheit der Bürgerinnen als Ausdruck von

Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in Die Einbeziehung des Anderen, 1999, 277–292 . 10 Jürgen Habermas, Hat die Demokratie noch eine epistemische Funktion?, in Ach, Europa, 2008, 138– 191, 150 . 11 Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 49 . 9

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„common goals, shared projects or a common fate“12 phänomenal erfahrbar werden, können sie aus den „richtigen Gründen“13 stabil sein . Diese sozialintegrative Funktion wird einerseits durch politische Bildung erreicht, andererseits aber auch durch eine „public pedagogy“ in Form öffentlicher politischer Debatten . Aus diesen kurzen Überlegungen wird deutlich, warum aktive Bürgerbeteiligung für das Funktionieren jeder demokratischen Ordnung unerlässlich ist . Einerseits ist Partizipation essenziell, um ein möglichst vollständiges Bild hinsichtlich der Interessenaggregation bzw . der Aggregation von Gemeinwohlüberzeugungen zu erhalten . Auch wenn eine vollumfängliche Partizipation u . U . unerreichbar bleibt und möglicherweise auch gar nicht notwendig ist,14 wirft eine Bürgerbeteiligung unterhalb eines bestimmten Niveaus Bedenken hinsichtlich der epistemischen Solidität der jeweiligen Aggregation auf . Andererseits muss auch die Übersetzungsfunktion leiden, wenn das „Aufspüren gesamtgesellschaftlicher Probleme“15 in politischen Öffentlichkeiten aufgrund mangelnder Beteiligung oder zunehmender Fragmentierung nur noch unvollständig bzw . verzerrt möglich ist . Dies gilt insbesondere, wenn bestimmte Gruppen oder Meinungen strukturell marginalisiert und vom politischen Diskurs ausgeschlossen werden . Drittens bedarf es auch für die Kontrollfunktion der aktiven Partizipation der Bürgerinnen . Diese sind nicht nur aufgefordert, sich kritisch in verschiedenen medialen Arenen einzubringen, offen gegen Macht- und Autoritätsmissbrauch zu protestieren und als falsch empfundene Regierungsentscheidungen zu kontestieren . Darüber hinaus ist es wichtig, dass sie sich in zivilgesellschaftlichen Institutionen engagieren, um deren strukturellere demokratische Kontrollfunktion aufrecht zu erhalten . Aus diesem Grund kann Partizipation nicht nur ad hoc ausgeübt werden, sondern ist eine fortlaufende Anstrengung, die u . U . nicht unerhebliche Opportunitätskosten mit sich bringen und manchmal sogar ein risikoreiches Unterfangen sein kann .16 Bürgerbeteiligung in diesem Sinne darf nicht mit kurzfristigen Sympathien und emotionalen Reaktionen in sozialen Medien verwechselt werden, die als „Slacktivismus“ gebrandmarkt wurden,17 da sie zwar mit sehr geringen Partizipationshürden und Opportunitätskosten einhergehen, aber kaum nachhaltig sind . Schließlich ist aktive Beteiligung wichtig, um bürgerschaftliche Solidarität zu entwickeln und zu gestalten . Auch wenn prinzipiell andere Solidaritätsressourcen in-

Rahel Jaeggi, Solidarity and Indifference, in Solidarity in health and social care in Europe, hg . von Ruud ter Meulen / Wil Arts / Ruud J . A . Muffels, 2001, 287–308, 291 . 13 John Rawls, Politischer Liberalismus, 1993, 4 . Vorlesung . 14 Philip Pettit, Varieties of public representation, in Political representation, hg . von Ian Shapiro, 2009, 61–89 . 15 Habermas, Hat die Demokratie noch eine epistemische Funktion?, a . a . O ., 150 . 16 Malcolm Gladwell, Small Change, The New Yorker (2010) . 17 Christopher Keelty, Dear White People, Your Safety Pins Are Embarrassing, The Huffington Post (12 .11 .2016) . 12

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

nerhalb einer Gesellschaft zur Verfügung stehen,18 sind demokratische Institutionen gleichermaßen in der Lage, eine „demokratisch-legitimatorische“ Bürgersolidarität zu erzeugen . Dies erreichen sie jedoch nur über die phänomenale Erfahrung der einzelnen Bürgerinnen, Teil eines gemeinsamen Projekts zu sein, dessen rechtliche Rahmenbedingungen sie als Autorinnen wie Adressatinnen gemeinsam schaffen .19 Um also ihre vier Funktionen adäquat erfüllen zu können, ist die Demokratie auf die aktive Partizipation ihrer Bürger angewiesen . Diese müssen willens und in der Lage sein, in die Öffentlichkeit zu treten, dort ihre Interessen und politischen Überzeugungen zu vertreten und sich an politischen Debatten wie auch zivilgesellschaftlichen Strukturen zu beteiligen . Dafür müssen einerseits öffentliche Räume im Sinne von „institutionalized arena[s] of discursive interaction“20 bereitgestellt werden, die trotz aller Fragmentierung immer wieder auch wechselseitig Debattenbeiträge aufnehmen können . Andererseits muss gewährleistet sein, dass sich die Bürgerinnen in diesen Räumen bewegen können, ohne Sorge haben zu müssen, dass dies negative Auswirkungen auf ihr Leben haben wird . III.

Informationelle Selbstbestimmung

Die Debatte über die Frage „Was ist Privatheit?“ hat zu verschiedenen Theorien der Privatheit im Allgemeinen und informationeller Privatheit im Speziellen geführt, die Privatheit bspw . als Recht, allein gelassen zu werden, als die Möglichkeit zum Rückzug, als ein Recht auf Nichteinmischung oder auch als Kontrolle über – bzw . den Zugang zu – persönlichen Daten beschreiben .21 Aus Platzgründen wird „informationelle Privatheit“ im Rahmen dieses Aufsatzes als die Möglichkeit der Kontrolle über die Preisgabe der eigenen Daten bzw . die Einschränkung des Zugriffs auf diese verstanden . Dadurch vermeide ich die platzraubende Herleitung einer Beschreibung von informationeller Privatheit auf der Mesoebene aus der sozialontologisch-praxistheoretischen Definition, die ich an anderer Stelle vertrete .22 Damit folge ich lose Moors und Tavanis „restricted access / limited control“-Theorie (RALC) von Privatheit .23 Diese doppelte Qualifizierung von Privatheit ist deshalb

Wulf Loh / Stefan Skupien, Die EU als Solidargemeinschaft, Leviathan 44 (2016), 578–603 . Jaeggi, Solidarity and Indifference, a . a . O ., 292 . Nancy Fraser, Rethinking the Public Sphere, in Habermas and the public sphere, hg . von Craig Calhoun, 2008, 109–142, 110 . 21 Zu einem Überblick vgl . bspw . Herman Tavani, Philosophical theories of privacy, Metaphilosophy 38 (2007), 1–22 . 22 Wulf Loh, A Practice-Theoretical Account of Privacy, Ethics and Information Technology 20 (2018), 233–247 . 23 James Moor, Towards a Theory of Privacy in the Information Age, Computers and Society 27 (1997), 27–32; Tavani, Philosophical theories of privacy, a . a . O . 18 19 20

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sinnvoll, da Datenschutz ebenfalls auf zwei Wegen erreicht werden kann: Einmal als Selbstdatenschutz, indem das Individuum in die Lage versetzt wird, in einer wohlinformierten Entscheidung über die eigenen Daten zu verfügen (limited control), zum anderen als Systemdatenschutz, in dem staatliche Organe den Zugriff auf persönliche Informationen beschränken, um bspw . das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen (restricted access) .24 Dabei wird sich im Folgenden zeigen, dass gerade der Selbstdatenschutz mit Blick auf die Bedeutsamkeit informationeller Selbstbestimmung für die vier Funktionen von Demokratie schnell an seine Grenzen stößt . Dies liegt vor allem an den Voraussetzungen, die an die Bedingungen der Wohlinformiertheit geknüpft werden: Eine wohlinformierte Entscheidung im Bereich digitaler Verdatung erfordert ein hohes Maß an ökonomischem wie technischem Vorwissen und wird durch eine Reihe von epistemischen Hürden erschwert, wie bspw . den für die Nutzer häufig unverständlichen AGBs, der Diskrepanz zwischen einmaliger Einwilligung und kontinuierlicher Datenaggregation, der oftmals dem Nutzer nicht präsenten Möglichkeit des In-Beziehung-Setzens zwischen Zugangs- und Inhaltsdaten, der Unvorhersehbarkeit zukünftiger Nutzungsmöglichkeiten für dauerhaft gespeicherte Daten und schließlich der psychomotivationalen Effekte, die aus Mechanismen wie dem Micro-Targeting entstehen können . Mehr noch, die weiter unten beschriebenen Gefahren der Pseudoöffentlichkeiten und insbesondere der fragmentierten Diskursräume entstehen erst aufgrund der selbstbestimmten Preisgabe persönlicher Daten durch die Nutzerinnen sozialer Medien . In diesem Fall ist durch den primären Fokus auf informationelle Selbstbestimmung als Selbstbestimmung der Schutzzweck dieses Grundrechts nicht zu garantieren, der in der „Sicherung der allgemeinen Handlungsfreiheit, des Willensbildungsprozesses und der Meinungsfreiheit des Einzelnen, aber auch [in der] Gewährleistung der Grundlagen für einen freiheitlich demokratischen Rechtsstaat“25 besteht . Wie sich zeigen wird, sind die Funktionsbedingungen der vier demokratischen Funktionen effektiv nur mithilfe eines Systemdatenschutzes zu sichern, der jedoch auch wiederum durch politische Öffentlichkeiten abgesichert werden muss . Dies führt in ein Dilemma: Es bedarf politischer Partizipation und öffentlicher Diskurse, damit die Demokratie ihre Kontrollfunktion effektiv ausüben kann, mithilfe derer sie auch die Transparenz datensammelnder Instanzen und die Einhaltung der rechtlichen Beschränkungen kontrolliert . Diese Transparenz und Zugriffsbeschränkung sind also gleichzeitig die Voraussetzung für die politische Partizipation und das Ergebnis ihrer Wirkung in Form öffentlicher Kontrolle . Umso wichtiger ist es, eine funktionierende Öffentlichkeit auch unter den veränderten Vorzeichen digitaler Medien und massenhafter Verdatung zu gewährleisten, Silke Jandt, Informationelle Selbstbestimmung, in Handbuch Medien- und Informationsethik, hg . von Jessica Heesen, 2016, 195–202 . 25 Jandt, Informationelle Selbstbestimmung, a . a . O ., 196 . 24

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

um auf diese Weise in einem „dynamischen Grundrechtsschutz“26 das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung speziell in seinem Aspekt der „Gewährleistung der Grundlagen für einen freiheitlich demokratischen Rechtsstaat“ zu schützen . Im Folgenden werde ich fünf potenzielle Gefahren für eine oder mehrere der vier Funktionen von Demokratie vorstellen und daraufhin analysieren, auf welche Weise sie diese Funktionen untergraben könnten . IV.

Gefahren für politische Partizipation

1.

Offene Überwachung

Offen zur Schau gestellte Überwachungsmechanismen wie bspw . im öffentlichen Raum aufgestellte Überwachungskameras oder das deutlich sichtbare Filmen von Demonstrationszügen vonseiten der Polizei sind schon von ihrer Logik her auf Abschreckung ausgerichtet .27 Dies zeigen nicht nur die vielfach aufgestellten Hinweis- und Warnschilder, die auf eine Videoüberwachung aufmerksam machen . Auch das Filmen von Demonstrationen und anderen politischen Versammlungen zielt als Polizeistrategie über die reine Dokumentation von Straftaten hinaus auch auf Deeskalation und Deliktprävention, auch wenn die „anlassunabhängige“ Videoüberwachung verfassungswidrig ist .28 Derartige Dokumentationen politischer Partizipation werden in dem Moment problematisch für die oben genannten Funktionen demokratischer Systeme, wenn die Betroffenen soziale – oder gar rechtliche – Sanktionierung befürchten müssen .29 In diesem Zusammenhang hat das BVerfG schon im Volkszählungsurteil von 1983 festgestellt: „Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art . 8, 9 GG) verzichten .“30

In seiner Extremform lässt sich das Ergebnis einer solchen Form der Überwachung am Sozialkreditsystem ablesen, wie es China in Pilotstädten wie Rongcheng und anderen eingeführt hat . Hier wird rechtliches Vergehen, aber auch lediglich sozial abweichendes Verhalten, in einem Punktesystem langfristig erfasst und über Vergünstigungen

26 27 28 29 30

BVerfGE 49, 89 ff . Julian Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, 2016 . BVerfGE 122, 342 . Celikates, Digital Publics, a . a . O ., 165 . BVerfGE 65,1 .

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oder Einschränkungen durchgesetzt . In einem solchen System wissen die Bürgerinnen, dass ihr Sozialverhalten behördlich registriert und in einer zentralen Datenbank zusammengefasst wird, und vermeiden daher abweichendes Verhalten .31 Auch wenn die Einführung einer derartigen Tugenddiktatur in freiheitlichen demokratischen Systemen wohl bis auf Weiteres nicht zu befürchten steht, reicht u . U . die Ungewissheit darüber aus, ob solche Nachteile entstehen könnten, um die Partizipation bestimmter – insbesondere sowieso schon marginalisierter bzw . vulnerabler Gruppen – einzuschränken . Dies kann Rückwirkungen auf die Aggregation von Gemeinwohlvorstellungen (republikanisches Modell) haben, wenn bestimmte politische Positionen und Ereignisse aufgrund der Sorge um Nachteile nicht mehr in den öffentlichen Diskurs eingespeist werden und so vom restlichen Elektorat nicht als in die eigenen Gemeinwohlüberlegungen aufzunehmende Faktoren erkannt werden können . Aber auch für das liberale Modell der reinen individuellen Interessenaggregation besteht die Gefahr einer psychomotivationalen Demobilisierung von Individuen mit ähnlichen Präferenzstrukturen, wenn – bspw . im Vorfeld einer Wahl – aus Angst vor Konsequenzen bestimmte Interessen gar nicht erst im öffentlichen Diskurs auftauchen . Im schlimmsten Fall führt dies innerhalb der demografischen Gruppe mit diesem Interessenset zu Politikverdrossenheit und der subjektiven Wahrnehmung, im politischen Prozess überhaupt nicht mehr gehört zu werden . Im Ergebnis kann dies in der Abwendung einer ganzen Gruppe mit ähnlichen Interessen von den demokratischen Mechanismen resultieren . Insbesondere im Fall der turnusmäßigen Wahl von Regierungsvertretern verzerrt eine sinkende Wahlbeteiligung speziell marginalisierter und vulnerabler Gruppen die liberal-demokratische Aggregationsfunktion individueller Interessen und untergräbt so die „epistemische Funktion“32 von Demokratie . Daneben erschwert eine solche Form der Selbstzensur aus Angst vor möglichen Konsequenzen die Übersetzungsfunktion von politischen Öffentlichkeiten zwischen institutionellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, wenn bestimmte abweichende politische Überzeugungen nicht mehr in die „ethisch-politischen Selbstverständigungsdiskurse“33 einer Gesellschaft eingespeist werden . Im Ergebnis führt dies möglicherweise zu einem „kollektiven Konservatismus“34, in dem bestimmte politische Vorstellungen als Mainstream tonangebend sind und zunehmend weniger herausgefordert werden . Auch hier gerät die epistemische Funktion von Demokratie, unterschiedlichste politische Positionen öffentlich zu verhandeln, unter Druck . Damit einher geht ein schwerwiegendes Problem für die Kontrollfunktion demokratischer Öffentlichkeiten: Wenn öffentliche Proteste und die Arbeit in Bürgerbewe-

Yongxi Chen / Anne Sy Cheung, The Transparent Self under Big Data Profiling, Journal of Comparative Law 12 (2017), 356–378 . 32 Habermas, Hat die Demokratie noch eine epistemische Funktion?, a . a . O . 33 Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, a . a . O ., 284 . 34 Celikates, Digital Publics, a . a . O ., 166 . 31

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

gungen, NGOs u . ä . aus Sorge um Konsequenzen von Bürgerinnen gemieden werden, erreichen diese u . U . nicht mehr die nötige mediale Aufmerksamkeitsschwelle, um gesellschaftsweit sichtbar zu werden . Besonders für das Aufdecken und Anprangern institutionellen Fehlverhaltens kann sich dies als fatal erweisen . Zuletzt hat eine solche Entwicklung auch das Potenzial, die sozialintegrative Funktion von Demokratie zu erschweren, sofern sich marginalisierte Gruppen vom politischen Diskurs abwenden, weil sie Sanktionen befürchten . In diesem Fall schwindet möglicherweise das Vertrauen in den demokratischen Prozess selbst, bis schließlich die vorherrschende politische Kultur primär als unterdrückerisch und undemokratisch wahrgenommen wird .35 Anders als im Fall liberaler Interessenaggregation leidet hier nicht nur die epistemische Funktion von Demokratie, sondern auch ihre sozialintegrative Funktion – mit dem möglichen Ergebnis von polarisierten Gesellschaften, die sich wechselseitig gegenüber der anderen Seite immunisieren . 2.

Das Panoptikum

Jeremy Benthams „Panoptikum“36 steht in vielen Auseinandersetzungen mit der Frage von „privacy in public“37 – und hier speziell der Anonymität politischer Partizipation – paradigmatisch für einen strukturellen Konformitätszwang aufgrund der reinen Möglichkeit der Beobachtung . Im Panoptikum, einem von Bentham entworfenen Gefängnis, sind die Zellen so angeordnet, dass ein einzelner Wächter alle Gefangenen in ihren Zellen überwachen kann . Das perfide Ergebnis besteht darin, dass sich die Gefangenen aus Furcht vor Beobachtung regelkonform verhalten werden, obwohl der Wächter physisch gar nicht in der Lage ist, alle gleichzeitig im Auge zu behalten . Mit der reinen Möglichkeit einer Massenverdatung und damit einhergehenden Datenaggregation kann ein solches Panoptikum als strukturelles Hindernis für die politische Partizipation der Bürgerinnen entstehen . Dieser Logik folgt auch schon das BVerfG, wenn es im Volkszählungsurteil zu folgendem Schluss kommt: „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen .“38

Wohlgemerkt geht es hier nicht darum, ob derartige Wahrnehmungen zutreffend sind, sondern allein darum, welchen Einfluss sie auf die Sozialintegration demokratischer Systeme haben . 36 Jeremy Bentham, Panopticon, in The Panopticon writings, hg . von Miran Božovič, 2010, 29–95 . Vgl . auch: Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 1976 . 37 Helen Nissenbaum, Protecting Privacy in an Information Age: The Problem of Privacy in Public, Law and Philosophy 17 (1998), 559–596 . 38 BVerfGE 65,1 . 35

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Damit erklärt das BVerfG das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zur „Grundlage einer freien und demokratischen Kommunikationsverfassung“39, indem es darauf abstellt, dass ein solcher Panoptikum-Effekt „nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen [würde], sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist .“40

Selbst also die reine Möglichkeit ubiquitärer Überwachung – und nicht erst ihre Realisierung – birgt als „Chilling-Effekt“ die Gefahr negativer Auswirkungen für die Funktionen von Demokratie . Analog zu der gerade beschriebenen offenen Überwachung werden auch hier potenziell Bürgerinnen verunsichert und dazu gebracht, aus Angst vor möglichen Konsequenzen vermeintlich konformes Verhalten an den Tag zu legen . Letztlich ergeben sich mit dem Panoptikum-Effekt also die gleichen Schwierigkeiten: Rückzug aus der Partizipation vonseiten der Bürger führt u . U . zu einer Verzerrung der Aggregations- und Übersetzungsfunktion und schränkt die Kontroll- und Sozialintegrationsmöglichkeiten von liberalen Demokratien ein . Gegen die These des Panoptikum-Effekts lässt sich das sogenannte „Privacy Paradox“ ins Feld führen, d . h . die psychomotivationale Diskrepanz zwischen der Bejahung informationeller Selbstbestimmung und dem gleichzeitigen oftmals allzu sorglosen Umgang mit den eigenen Daten .41 Anders gesagt: Wenn die Bürgerinnen tatsächlich aus Sorge vor möglichen Konsequenzen ihre politische Partizipation überdenken, müssten sie besonders erpicht sein, möglichst wenig Daten preiszugeben . Damit wären zwei Entwicklungen zu erwarten: Zum einen sollte sich die Prävalenz des Panoptikum-Effekts deutlich erhöhen, zum anderen müsste eine eklatant verstärkte Sensibilität im Umgang mit den eigenen Daten entstehen . Dass dies nicht geschieht, spricht dafür, dass wir es hier mit einer Ausprägung des Privatheitsparadox zu tun haben . Insbesondere mit Blick auf die politische Partizipation lassen sich zwei primäre kognitive Hürden ausmachen, die sowohl eine leichtsinnige Datenpreisgabe als auch die Verharmlosung heimlicher Datenakquise und -aggregation begünstigen: Zum einen wiegt die Unvorhersehbarkeit künftiger Skalierbarkeits- und Anwendungspotentiale dauerhaft gespeicherter digitaler Daten die Betroffenen in eine trügerische Sicherheit, zum anderen bleiben gerade „die Folgen

Stephan Doerfel / Andreas Hotho / Aliye Kartal-Aydemir / Alexander Roßnagel / Gerd Stumme, Informationelle Selbstbestimmung im Web 2 0, 2013, 25 . 40 BVerfGE 65, 1 . 41 Vgl . Spyros Kokolakis, Privacy attitudes and privacy behaviour, Computers & Security 64 (2017), 122– 134 . 39

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

für das demokratische Zusammenleben weitgehend abstrakt“42, so dass die Bürger sich – wenn überhaupt – vordringlich um ihre individuelle Privatheit sorgen . Sofern sich aber der Einzelne seiner zunehmenden Verdatung entweder gar nicht bewusst ist oder aber die Gefahr notorisch unterschätzt, kann der Panoptikum-Effekt gar nicht eintreten . Hier wird die Wichtigkeit des Aspekts der Kontrolle und des Selbstdatenschutzes deutlich: Risikofreudigere – oder, je nach Sichtweise, naivere – Bürger geben u . U . ohne größeres Zögern mehr Daten von sich preis, ohne dass sie dem Panoptikum-Effekt unterliegen . Daher spielt in diesem Zusammenhang die individuelle wohlinformierte Entscheidung darüber, wie mit den eigenen Daten umgegangen wird und welche Daten die Einzelne von sich preisgeben möchte, eine viel größere Rolle, um den Panoptikum-Effekt abzuwenden oder wenigstens abzumildern, als die Zugriffsbeschränkung von außen im Sinne eines Systemdatenschutzes . 3.

Die Erziehung zum Citoyen und die Ausbildung von Bürgertugenden

Aus den entwicklungspsychologischen Argumenten für Privatheit, denen zufolge die Ausbildung eines gelungenen Selbstverhältnisses bzw . einer authentischen oder selbstbestimmten Identität mindestens Phasen der Privatheit benötigt,43 lässt sich ein weiterer Zusammenhang zwischen informationeller Privatheit und politischer Partizipation destillieren: Ohne eine solche authentische bzw . selbstbestimmte Identität sind Individuen nicht in der Lage, als mündige Bürger politisch verantwortlich zu handeln . Mit anderen Worten, die politische Erziehung, die aus einem „bourgeois“ erst einen „citoyen“ macht,44 muss ohne ein Mindestmaß an Privatheit in der Entwicklungsphase unvollständig bleiben . Um dieses Argument besser zu verstehen, lohnt es sich, zunächst einen allgemeinen Blick auf die entwicklungspsychologische These der Ontogenese zu werfen, die wohl am treffendsten von Hannah Arendt formuliert wird: „Alles Lebendige, nicht nur das Vegetative, kommt aus einem Dunkel, und wie sehr es in seiner Natur liegen mag, in ein Helles zu streben, so braucht es doch die Geborgenheit eines Dunkleren, um überhaupt wachsen zu können . Dies mag auch der Grund sein, warum die Kinder berühmter Eltern so oft mißraten . Der Ruhm dringt in den Privatraum der vier Wände, er schleppt, vor allem in modernen Verhältnissen, die Helle der Öffentlichkeit und die Erbarmungslosigkeit, mit der sie alles ans Licht zieht, in das Privatleben der

Winter, Demokratietheoretische Implikationen, a . a . O ., 40 . Vgl . hierzu bspw .: Alan Westin, Privacy and freedom, 1967; Hannah Arendt, Die Krise in der Erziehung, in Zwischen Vergangenheit und Zukunft, hg . von Ursula Ludz, 1994, 255–276; Rössler, Der Wert des Privaten, a . a . O . 44 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, 2000, 1 . Buch, Kap . 6, Fn . 1 . 42 43

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Betroffenen, so daß die Kinder nicht mehr den Raum der Geborgenheit haben, in dem sie gedeihen können .“45

Nur in diesem „Raum der Geborgenheit“, dem „Dunklen“ der Privatheit, können sich Heranwachsende ausprobieren, in verschiedene Rollen schlüpfen und sich diese spielerisch und ohne das „erbarmungslose“ Auge der Öffentlichkeit aneignen und ihre eigenen konfligierenden Wünsche und Selbstbilder in Einklang bringen .46 In diesem Fall geht es vor allem um den zweiten Aspekt informationeller Privatheit, d . h . den Aspekt der Zugriffsbeschränkung und des Systemdatenschutzes, da hier die Einwilligung in die Verdatung keine Rolle spielt . Selbst eine wohlinformierte Entscheidung schränkt ab einem bestimmten Punkt die ungehinderte Entwicklung zum autonomen Individuum und zur verantwortlichen Bürgerin ein . Für die Belange politischer Partizipation ist hierbei besonders das Ausprobieren und Aneignen von Rollenzuschreibungen wichtig, denn die Entwicklung zum Citoyen hängt mit dem Annehmen bestimmter Rollenerwartungen und -verpflichtungen zusammen, die mit der Rolle der Bürgerin einhergehen . Dafür bedarf es einerseits der Möglichkeit, dass sie sich „in diesen Rollen darstellen kann und [ihr] diese Selbstdarstellung in der Kommunikation mit anderen zurückgespiegelt wird .“47 Andererseits muss sie sich aber auch aus der „Helle“ des sozialen und politischen Kommunikationsraums zurückziehen können, um diese Bürgerrolle auszuprobieren, mit ihrem sonstigen Selbstbild in Einklang zu bringen und als handlungsleitendes Normenset „wholeheartedly“48 anzunehmen . Sofern dies nicht mehr möglich ist, besteht die Gefahr, dass sie ihre politische Bürgerverantwortung nicht akzeptiert oder sich gar gänzlich apolitisch verhält und aus jeglicher politischen Partizipation zurückzieht . Als Folge mag zwar die Aggregationsfunktion eines liberalen Demokratiemodells im Sinne der Aggregation individueller Interessen unberührt bleiben – jedenfalls, solange sie überhaupt noch zur Wahl geht . Dagegen muss die Aggregationsfunktion von Gemeinwohlvorstellungen, wie sie ein republikanisches Modell avisiert, leiden, da sie als Bürgerin u . U . ihre Verantwortung, eine Gemeinwohlüberzeugung auszubilden und in den politischen Prozess einzuspeisen, für sich nicht angenommen hat . Dies gilt umso mehr für die Übersetzungsfunktion der Demokratie . Die Gefahr besteht darin, dass eine Person, die ihre Bürgerrolle nicht adäquat verinnerlicht hat, entweder nicht bereit ist, sich überhaupt an öffentlichen politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen . Oder aber sie ist nicht in der Lage, die Mindestanforderungen an die

Arendt, Die Krise in der Erziehung, a . a . O ., 267 . Rössler, Der Wert des Privaten, a . a . O ., 137; Doerfel et al . Informationelle Selbstbestimmung, a . a . O ., 24 . Doerfel et al ., a . a . O . Harry Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, in Responsiblity, Character, and the Emotions, hg . von Ferdinand Schoeman, 1987, 27–45 . 45 46 47 48

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

„Zivilisiertheit“ der öffentlichen Debatte zu verstehen und einzuhalten,49 geschweige denn die Erfordernisse einer „öffentlichen Vernunft“ nachzuvollziehen .50 Wenn dies zutrifft, leiden auch die Kontroll- und sozialintegrative Funktion der Demokratie . Die Bürgerin wird sich maximal dann an politischem Protest beteiligen, wenn dies ihren eigenen Interessen dient . Mit Blick auf die sozialintegrative Funktion von Demokratie besteht außerdem die Sorge, dass sie nicht gelernt hat, sich mit dem politischen Projekt eines demokratischen Gemeinwesens zu identifizieren . 4.

Pseudoöffentlichkeiten

Schon die frühe Kritik an den modernen Massenmedien in den 1960er Jahren betrachtet die Entstehung einer „gesellschaftlichen“ Pseudoöffentlichkeit – in Form von Boulevardmedien bzw . einem auch in anderen Medien immer stärkeren Fokus auf Meldungen über Prominente, Kurioses, Kriminalität und Unfälle – skeptisch . So argumentiert bspw . Habermas, dass „anstelle der literarischen Öffentlichkeit […] der pseudo-öffentliche oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums“ tritt .51 Mit der medienvermittelten Massengesellschaft weicht das „Räsonnement“ der Bürger als Privatleute (literarische Öffentlichkeit) einem passiven Konsumverhalten, in dem die politisch relevanten Themen vom scheinöffentlichen Bereich des Boulevards überdeckt werden . Auch wenn Habermas selbst dreißig Jahre später zugibt, dass seine Analyse der massenmedial durch One-to-Many Medien vermittelten politischen Kultur die Resilienz politischer Öffentlichkeiten unterschätzt hat, stellt sich mit dem Aufkommen der sozialen Medien die Frage erneut: Die These des „slacktivism“52 – wie bspw . das fast schon mechanische Unterzeichnen von Petitionen, das Färben des Facebook-Profilbildes in verschiedenen Nationalfarben oder auch der quasi-habituelle Empörungsimpuls, der sich in kurzen Shitstorms entlädt – behauptet, dass nachhaltige politische Beteiligung durch Politikkonsum ersetzt wird . Partizipation wird hierbei reduziert auf das kurzfristige, quasi-rauschhafte Ausleben eines Erregungs- und Empörungsimpulses, der zwar mitunter eine hohe Aufmerksamkeit generieren kann, aber aufgrund der Konsumorientierung der Partizipierenden keinerlei nachhaltige Wirkung zeitigt . Auf der anderen Seite wird über die hybride Struktur der Facebook-Timelines und Twitter Feeds die Trennung zwischen privat und öffentlich zunehmend untergraben . Für die Nutzerin verschwimmen politische Themen immer mehr mit Boulevardthemen und den Posts von Akteuren aus dem privaten Nahbereich . Dabei besteht das Problem nicht einmal so sehr in dem inzwischen notorisch gewordenen Facebook-Al49 50 51 52

Vgl . hierzu bspw .: Marie-Luisa Frick, Zivilisiert streiten, 2017 . John Rawls, Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft, in Das Recht der Völker, 2002, 165–218 . Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1990, 248 . Keelty, Small Change, a . a . O .

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gorithmus . Viel wichtiger sind die aufmerksamkeitsökonomischen Implikationen, wenn zwischen privaten Posts vereinzelt politische Meldungen auftauchen . Im Ergebnis zeitigt eine zunehmende Durchmischung des Privaten und des Öffentlichen motivationspsychologische und aufmerksamkeitsökonomische Problemlagen, die sowohl die Möglichkeit zur Partizipation aufgrund der Herabsenkung des Nachrichtenwerts politischer Meldungen, als auch die Qualität der Partizipation aufgrund einer Konsumhaltung vis-à-vis politischer Diskurse in Gefahr sehen . Daraus ergeben sich ähnliche Probleme für alle vier Funktionen demokratischer Öffentlichkeiten, wie ich sie weiter oben schon beschrieben habe: Die Aggregationsfunktion kann Interessen bzw . Gemeinwohlvorstellungen der Bürgerinnen nur unvollständig abbilden, wenn sie Politik lediglich als kurzfristigen „Wohlfühl-Aktivismus“53 konsumieren oder aufgrund der Überlagerung politischer Themen durch pseudoöffentliche News-Items von vielen politischen Auseinandersetzungen abgeschnitten werden . In gleichem Maße gerät die Kontrollfunktion unter Druck, wenn kontrollrelevante Informationen zwar wahrgenommen werden, aber nur kurzfristige Reaktionen hervorrufen, die sich von den Verantwortlichen aussitzen lassen . Dabei besteht ständig die Gefahr, dass derartige Informationen aufgrund eines nivellierten Nachrichtenwertes im allgemeinen Informationsstrom untergehen . Ähnliches gilt für die Übersetzungsfunktion, wenn sich politische Institutionen nicht mehr darauf verlassen können, dass öffentliche Empörungen auch tatsächlich das Bestehen politischer Missstände anzeigen bzw . deren Ausbleiben als implizite Zustimmung zu Regierungshandeln gedeutet werden kann . Besonders prekär stellen sich die hier vorgestellten Problemlagen der Pseudoöffentlichkeit dar, insofern nicht einmal klar ist, ob die Stärkung informationeller Privatheit hier Abhilfe schaffen kann . Es ist gut möglich, dass weder eine stärkere Zugriffsbeschränkung besonders privatwirtschaftlicher Akteure auf persönliche Daten, noch eine verbesserte Kontrolle der eigenen Daten im Endeffekt zu einer wieder stärkeren medialen Trennung zwischen „Privat“ und „Öffentlich“ führt . Die Hoffnung ist jedoch, dass sich durch derartige Maßnahmen zumindest das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer solchen Trennung stärken lässt . 5.

Fragmentierte Diskursräume

Spätestens seit der US-Wahl 2016 sind Filterblasen, Echokammern und das sogenannte „Micro-Targeting“ ins Erklärungsvisier für die gestiegene Polarisierung und wechselseitige Immunisierung innerhalb moderner Gesellschaften geraten .54 Ob diese Erklä-

53 54

Peter Steinlechner, Wohlfühlaktivismus statt Debattenkultur, Golem (26 .01 .2016) . Daniel Kreiss, Yes We Can (Profile You), Stanford Law Review 64 (2012), 70–74 .

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

rungsmuster – gerade als monokausales Geschehen – zutreffen oder nicht, kann hier nicht geklärt werden . Entscheidend für die Frage nach dem Verhältnis von informationeller Privatheit und Demokratie ist in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass die Preisgabe persönlicher Informationen eine Personalisierung der dargebotenen politischen Informationen ermöglicht . Dabei spielt es zunächst einmal keine große Rolle, ob dies über die algorithmische Anpassung des eigenen Newsfeeds geschieht oder über das gezielte Verschicken maßgeschneiderter politischer Informationen . Entscheidend ist, dass, je mehr Informationen über Bürgerin B im Umlauf sind, sie desto gezielter mit politischen Informationen versorgt werden kann und dementsprechend umso eher in ihren News-Feeds Nachrichten erhält, die sich mit ihrem bisherigen Informationsverhalten decken . Im Ergebnis führt dies dazu, dass B sich umso leichter in einer Filterblase wiederfindet, je mehr Informationen über sie im Umlauf sind, die insbesondere politische Parteien und andere Norm-Entrepreneure nutzen können . In einer solchen Blase sind von ihr geteilte Überzeugungen vorherrschend, während andere politische Positionen nicht nur unterrepräsentiert, sondern im schlimmsten Fall sogar dämonisiert und zur Propaganda erklärt werden .55 Für die Sicherstellung informationeller Privatheit markieren diese Tendenzen eine besondere Herausforderung, da die Nutzerinnen in diesem Fall ihre Daten ja bereitwillig preisgeben . Darüber hinaus betreffen diese Tendenzen nicht nur den Selbst-, sondern auch den Systemdatenschutz, insofern B sich nicht nur potenziell selbst in eine Filterblase manövriert, sondern auch Personen in ihrem Nahbereich, deren Daten sie freiwillig-unfreiwillig mitpreisgibt . Hierdurch ergeben sich potenziell eine ganze Reihe von Problemen für die vier demokratischen Funktionen: Hinsichtlich der Aggregationsfunktion besteht eine Schwierigkeit darin, dass zwischen den einzelnen Filterblasen als fragmentierten Teilöffentlichkeiten kaum Austausch über politische Belange stattfindet . Aus diesem Grund werden die epistemischen Möglichkeiten einer Aggregation von Gemeinwohlüberzeugungen nicht ausgeschöpft . Besonders wenn gegenläufige Überzeugungen fehlen, vergibt eine künstlich homogenisierte Debatte das epistemische Potenzial anderslautender Argumente . Aber auch die liberal-demokratische Aggregation individueller Interessen wird u . U . dann verzerrt, wenn diese nur noch in einem engen Diskursraum sozialer Echokammern widergespiegelt werden . Auch in diesem Fall bleiben die Bürgerinnen hinter den epistemischen Möglichkeiten einer größeren Öffentlichkeit zurück . Darüber hinaus leidet die Kontrollfunktion unter einer politischen Immunisierung zwischen einzelnen Filterblasen, da institutionelles Fehlverhalten – je nach politischer Neigung – entweder übertrieben oder kleingeredet wird, so dass eine effektive Kontrolle zunehmend erschwert wird .

Zeynep Tufekci, Is The Internet Good or Bad? Yes . https://medium .com/matter/is-the-internet-goodor-bad-yes-76d9913c6011, 19 .08 .2018 . 55

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Besonders schädlich ist eine derartige Immunisierung jedoch für die sozialintegrative Funktion von Demokratie . Immunisierung führt zu Polarisierung, Polarisierung vereinfacht die Arbeit der Fake-News- und Halbwahrheitsstrategen, stark einseitige bis offensichtlich falsche Berichterstattung verstärkt wiederum die Immunisierung . Diese komplexe Wechselwirkung kann u . U . in einen Immunisierungs-Teufelskreis führen, den sich Populismen zunutze machen, indem sie eine „Ideologie des Antagonismus“56 diskursiv konstruieren, die lediglich darauf ausgerichtet ist, den politischen Gegner zu diskreditieren und dämonisieren . In diesem Fall besteht nicht nur die Gefahr, dass das demokratische System als Ganzes Spielball populistischer Übertreibungen und Umbauversuche wird . Darüber hinaus entsteht damit die Bedrohung einer sich zunehmend radikalisierenden Gesellschaft, die letztlich in mehrere Lager zerfällt . Sofern aber die Überzeugung, Teil eines gemeinsamen (demokratischen) Projekts zu sein, verloren geht, weichen die solidarischen Bindungen auf . In diesem Fall werden häufig andere, zumeist national gerahmte „kulturell-identitäre“57 Solidaritätsressourcen in Stellung gebracht, die das liberal-demokratische Gefüge als Ganzes gefährden können . V.

Schluss

Wie sich gezeigt hat, bedarf die Demokratie als ein sich immer „im Kommen“58 befindliches Unterfangen der informationellen Privatheit ihrer Bürgerinnen, um ihre vier Funktionen (Aggregation, Übersetzung, Kontrolle, Sozialintegration) adäquat erfüllen zu können . Als „government of the people, by the people, for the people“59 muss Demokratie neben institutionellen Strukturen der politischen Meinungsbildung, demokratischen Kontrolle und gerichtlichen Überprüfung auch öffentliche Arenen bereitstellen . Diese wiederum müssen nicht nur die sorgen- und angstfreie Partizipation der Bürgerinnen sicherstellen, sondern auch die notwendigen Partizipationsbedingungen in Form möglichst wenig fragmentierter, übergreifender politischer Öffentlichkeiten und die Vermittlung einer demokratischen politischen Kultur gewährleisten . Für all diese Voraussetzungen und Aufgaben politischer Öffentlichkeiten spielt die individuelle informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen eine gewichtige Rolle . Mehr noch, u . U . kann es sogar sein, dass diese Selbstbestimmung zugunsten einer

Karin Priester, Das Syndrom des Populismus . http://www .bpb .de/politik/extremismus/rechtspopulis mus/240833/das-syndrom-des-populismus, 04 .04 .2017 . 57 Vgl . hierzu auch: Loh/Skupien, EU, a . a . O ., 583 . 58 Jacques Derrida, Schurken, 2003, Kap . 8 . 59 Abraham Lincoln, The Gettysburg Address . http://www .abrahamlincolnonline .org/lincoln/speeches/ gettysburg .htm . 56

Informationelle Privatheit als Bedingung für Demokratie

stärkeren Regulierung und Privatisierung von persönlichen Informationen zurückstehen muss, wenn die Bürger Gefahr laufen, sich durch leichtfertige Preisgabe individueller Daten in eine Position zu begeben, von der aus sie nicht mehr in der Lage sind, frei und offen an politischen Prozessen zu partizipieren . Die Überlegungen in diesem Aufsatz zeigen mehrere Situationen auf, wo eine solche Beschränkung möglicherweise notwendig sein kann, um politische Partizipation zu gewährleisten und damit die Funktionsbedingungen demokratischen Regierens zu erfüllen . Wenn diese Analysen richtig sind, besteht die Gefahr, dass eine Gesellschaft, die informationelle Selbstbestimmung ausschließlich als individuelle Verfügungsgewalt über die eigenen personenbezogenen Daten versteht, demokratiepraktisch einen performativen Widerspruch begeht . Um diesen Verdacht zu erhärten, bedarf es weiterer empirischer Studien, die die im Vorhergehenden angesprochenen psychomotivationalen, ontogenetischen und algorithmischen Effekte noch detaillierter untersuchen .

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II. Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtum – Das Problem der fehlerhaften rechtlichen Entscheidungen

Einleitende Bemerkungen FRANZISKA BANTLIN / RODRIGO CADORE / DAVID FREUDENBERG / SABINE KLOSTERMANN / LAURA WALLENFELS

1.

Rechtsfehler als rechtswissenschaftliches Thema und Problem

„Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig?“, wurde von dem jungen Carl Schmitt anno 1912 als „die entscheidende Frage“ in seiner Erstlingsschrift „Gesetz und Urteil“ aufgeworfen1 und im vergangenen Jahrhundert vielfach behandelt und erweitert . Die vom 25 . bis 27 . September 2018 in Freiburg abgehaltene 26 . Tagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie drehte mit ihrem Titel „Recht, Rechtswissenschaft(en) und Irrtum – Das Problem der fehlerhaften rechtlichen Entscheidungen“ diese Frage um . Was passiert, wenn eine rechtliche Entscheidung nicht richtig ist? Anders formuliert ließen wir ins Zentrum der Aufmerksamkeit die Frage rücken: Wie geht das Recht mit Rechtsfehlern um und wie sollte es dies tun? Es handelte sich um das Unterfangen, das Recht und die Rechtswissenschaften von den Rechtsfehlern her zu denken . Die Tagung hat sich damit das „peinliche Faktum“ der rechtswidrigen Rechtsakte, des „doppelten Rechtsbodens“2 zum Thema gemacht . Denn „er ist überall da“3 oder „niemals vorhanden“4 . Je nach Perspektive und Blickwinkel zeigt sich der Rechtsirrtum anders, wird entweder unterschiedlich wahrgenommen oder gänzlich geleugnet . In vielförmigen Gestalten sind Rechtsirrtümer allen Juristinnen und Juristen aus den diversen Rechtsgebieten bekannt, wenn auch selten in einem übergreifenden Konzept verbunden . So bietet das Strafrecht mit dem Diskurs über die sogenannten Fehlurteile abundante Beispiele: die Sorge um das Risiko der Verurteilung eines Un-

Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, 1912, 1 . Beide Zitate in Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechts, Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1927/1928), 221–250 (248) . 3 Ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft: Eine psychologisch-juristische Untersuchung, 1879, 1 . 4 Fritz Sander, Merkls Rechtslehre, Prager Juristische Zeitschrift IV (1924), 16–31 (31) . 1 2

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Franziska Bantlin / Rodrigo Cadore / David Freudenberg / Sabine Klostermann / Laura Wallenfels

schuldigen ebenso wie um den Freispruch eines Täters präsentiert sich als konstant . Die Zivilrechtlerinnen und Zivilrechtler sind mit dem Phänomen des Willensmangels im Bereich der Rechtsgeschäfte bestens vertraut . Im öffentlichen Recht wird die Erscheinung rechtswidriger aber rechtswirksamer Verwaltungsakte heute unaufgeregt zur Kenntnis genommen . Die Unterscheidungen von gleichsam flagranter und einfacher Rechtswidrigkeit, von Nichtigkeit und bloßer Vernichtbarkeit, mussten aber bekanntlich unter anderen durch Otto Mayer in seiner Lehre vom (fehlerhaften) Verwaltungsakt erst ausbuchstabiert werden,5 sind also Produkt des Nachdenkens über Rechtsfehler, welches die Bedingungen der Rechtmäßigkeit freilich auch als Rechtserzeugungsbedingungen reformulieren könnte und teilweise hat . Auch die Verantwortlichkeit der die Entscheidung treffenden Organe für und wegen fehlerhafter rechtlicher Entscheidungen wird langsam, aber sicher zum lebendigen Thema in den unterschiedlichsten Gebieten der Rechtspraxis . Gleich wohin man schaut, bringt die Delegation rechtlicher Entscheidungsmacht das Risiko fehlerhafter Rechtsanwendung bzw . Rechtserzeugung mit sich . Doch nicht nur der Umgang des positiven Rechts, sondern auch die Auseinandersetzungsmöglichkeiten der Rechtswissenschaft(en) mit Rechtsfehlern müssen reflektiert werden: Welche Rolle nehmen die Rechtswissenschaften bei der Identifizierung, Benennung, Behandlung oder gar Behebung von Rechtsfehlern ein? Sind diesbezügliche Leistungen der Rechtswissenschaft(en) – und falls ja: welche? – innerhalb des Bereichs der Rechtserkenntnis oder auch der Rechtserzeugung zu verorten? Welche Strukturen und Mechanismen hält das Recht für den Umgang mit Fehlern bereit und wie sind diese rechtswissenschaftlich zu rekonstruieren? Was genau können Rechtsdogmatiken, die bestimmte Bedingungen für die Entscheidbarkeit von Rechtsfällen formulieren,6 bei der Rechtsfehlerverarbeitung leisten? Diese zweite, die Aufgabe der Rechtswissenschaft(en) im Umgang mit Rechtsfehlern adressierende Fragenkonstellation bietet Anlass, die rechtswissenschaftsinterne Arbeitsteilung zwischen Rechtstheorie und Rechtsdogmatik sowie der Rechtsdogmatiken untereinander zu thematisieren . Juridische Entscheidungen als ‚fehlerhaft‘, ‚unrichtig‘ oder ‚unbegründet‘ zu kritisieren, gehört zu den täglichen Beschäftigungen von Juristinnen und Juristen unterschiedlichster Überzeugungen . In den verschiedenen Bereichen der deutschsprachigen Rechtsdogmatik finden sich mehr oder weniger etablierte Diskurse zum Problem der ‚Rechtsfehler‘ . Eher selten aber treten diese ausdifferenzierten Diskurse in Dialog zueinander, nehmen die unterschiedlichen Disziplinen Forschungsergebnisse der jeweils anderen zur Kenntnis . Die Freiburger JFR-Tagung 2018 wollte gleichsam der Semantik und Syntax wie der Pragmatik der ‚Rechtsfehler‘ im Recht und in den Rechtswissenschaften nachgehen . Diese Tagung stellten wir uns als Möglichkeit zur

5 6

S . etwa Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd . 1, 2 . Aufl . 1914, S . 95–99 . Vgl . Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 17 ff .

Einleitende Bemerkungen

Initiierung eines offenen Gesprächs vor, das auf die Ausarbeitung einer gemeinsamen Grammatik zum Thema der „fehlerhaften rechtlichen Entscheidung“ zielte, ohne das rechtswissenschaftliche Vokabular als solches von der Kritik auszunehmen: Ist es überhaupt sinnvoll, rechtswissenschaftlich von so etwas wie fehlerhaften Rechtsakten zu sprechen?7 2.

Die Rechtsirrtümer und die wissenschaftlich Irrenden: Überblick über die Tagungsbeiträge

Die Tagung beanspruchte demnach, fächerübergreifend relevante rechtswissenschaftliche Diskussionen in Gang zu setzen und hat dazu nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den unterschiedlichen juristischen Fachsäulen, sondern auch nicht-juristischer Disziplinen eingeladen, um so einen Raum für produktive Verfremdungen zu schaffen . Der Tagungsgegenstand sollte damit von möglichst unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet, die Pfadabhängigkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Perspektiven und diskursiven Validationssysteme zum Bewusstsein gebracht und dabei der Versuchung widerstanden werden, die verschiedenen Deutungsschemata synkretistisch zu vermengen . Den am 25 .09 stattgefundenen Eröffnungsvortrag übernahm Prof . Dr . Dr . h . c . Bernd Rüthers (Konstanz), dem wir an dieser Stelle dafür nochmals unseren herzlichsten Dank aussprechen möchten . Zur Einleitung in die Tagungsthematik beleuchtete und hinterfragte er die Veränderbarkeit des Rechts auf Verfassungsebene durch rechtsendogene wie -exogene Faktoren . Die Fragestellung der Tagung erwies sich schon an ihrem Ausgangspunkt deutlich als eine der „persistent questions“8 der rechtstheoretischen wie rechtsdogmatischen Beschäftigung mit dem Recht . In den folgenden eineinhalb Tagen widmeten sich die zum Vortrag eingeladenen und gewonnenen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler in variierenden Perspektiven der Irrtumsproblematik in vier dafür designierten Panels . Das erste Panel gruppierte am nächsten Tag (26 .09) die Vorträge von Jakob Faig (Karlsruhe), Johannes Buchheim (Berlin) und David Kuch (Würzburg) unter der Überschrift „Fehler im (Rechts-)System“ . Dabei wurden verschiedenartige Ansätze der Fehlerverarbeitung durch das Recht auf die Probe gestellt . Von der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung von Rechtsfehlern als rechtswissenschaftliche Platzhalter für Meinungsunterschiede zwischen Rechtsbetroffenen und Rechtsautoritäten (Faig) über die Rekonstruktion der Figur subjektiver Rechte als Fehlerkalkül auch im Sinne der Fehlervorsorge (Buchheim) bis zur Neukalibrierung der Kategorie des Vgl . dazu Kyriakos Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht . Zur Aufgabe des Tatrichters, Juristenzeitung 72 (2017), 123–132 . 8 Wendung in Herbert L . A . Hart, The Concept of Law, 1961, 1 . 7

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Rechtsirrtums über den Weg der praktischen Irrtümer (Kuch) wurden fundamentale Probleme der Einordnung fehlerhafter Entscheidungen im positiven Recht entfaltet und erforscht: Dabei ging es darum, die Strukturen, Mechanismen und das institutionelle Setting des modernen positiven Rechts zur Ermittlung, Reaktion und Vermeidung möglicher Rechtsfehler zu analysieren und sie in ein überzeugendes, jeweils eigenes Theorieangebot zu integrieren . Im zweiten Panel zum Themenkreis „Irrtümer vor dem rechtswissenschaftlichen Gericht“ hielten Maximilian Schulz (Göttingen) und Chris Thomale (Heidelberg/ Wien) ihre Vorträge und gingen damit zu den anwendungsbezogenen Rechtsfehlerdiskursen über . Die in ihrem Akzent und ihrer Aufmachung sehr unterschiedlichen Beiträge wiesen einerseits mit Schulz auf legitimationstheoretische Defizite der gängigen ‚juristischen Methodenlehre‘ hin, die oft ohne weiteres von ihrer Berechtigung zur Korrektur der von ihr als Fehlleistungen interpretierten Handlungsergebnisse der Gesetzgeber ausgehe . Thomale deckte seinerseits irrtumstheoretisch ausdifferenzierte Strategien der Zivil(prozess)rechtsdogmatik bei der Rekonstruktion fundamentaler Institute des Zivil(prozess)rechts im Umgang mit Rechtsfehlern auf . Das dritte Panel (27 .09 .) wendete den Blick auf die Problematik der „Rechts-Wissen-schafft(s)-Fehler“, der sich die Referate von Franziska Brachthäuser (Berlin) und Alexander Stöhr (Frankfurt) annahmen . Behandelt wurde die oft ausgeblendete, Juristinnen wie Juristen in Verlegenheit bringende Frage nach durch nicht-fundiertes Rechtswissen generierten Rechtsfehlern: Was, wenn die Rechtswissenschaften den das Recht Anwendenden mangelhaftes Orientierungs- wie Verfügungswissen an die Hand geben, d . h . wenn die Rechtswissenschaften Rechtsfehler in der Rechtswelt hervorrufen oder zumindest veranlassen? Brachthäuser betrachtete dies aus der Perspektive einer Rechtsanwältin, die sich infolge irrtumsbehafteter Kommentarliteratur (dieser „notwendige[n] Ausdrucksform der Jurisprudenz“9) dem Vorwurf fehlerhafter Rechtsberatung ausgesetzt sieht . Stöhr lieferte einen instruktiven Überblick über die unterschiedlichsten kognitiven Verzerrungen, die einer fehlerfreien Rechtsanwendung in den Rechtswissenschaften oft unterthematisierte Schwierigkeiten bereiten können . Beschlossen hat die Tagung das vierte Panel mit dem Titel „Das Recht im Irrtum“, zu welchem Pedro Henrique Ribeiro (Frankfurt/Monterrey) und Niklas Plätzer (Paris) beigetragen haben . Dieses interdisziplinär gefasste Panel brachte einen sozialwissenschaftlich ausgebildeten Juristen mit einem Politikwissenschaftler zu einer Grenzerfahrung des Rechtssystems ins Gespräch: Was geschieht, wenn das ganze Rechtssystem gesellschaftlich als fehlerhaft gedeutet wird? Ribeiro ging der Semantik von Rechtsfehlern nach und plausibilisierte sie mit einem rechtssoziologisch-systemtheoretischen Ansatz, der die Erscheinungsform der Rechtsfehler in sozialen Skanda-

Adolf Julius Merkl, Das Recht im Spiegel seiner Auslegung, Deutsche Richterzeitung 8 (1916), 584–592 (587) . 9

Einleitende Bemerkungen

lisierungsprozessen modellierte . Plätzer setzte sich abschließend mit der Potenzialität der Neubeschreibung und Aktualisierung des normativen Gehalts der Verfassung durch die Praxis zivilen Ungehorsams als eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit in Fällen von als fehlerhaft wahrgenommenen autoritativen Entscheidungen auseinander . Dies war der Plot der Freiburger JFR-Tagung; ein Plot, der hier zur Struktur des Tagungsbands wird . Es war der Tagung ein besonderes Anliegen zu versuchen, die Diskurse der verschiedenen Fachsäulen innerhalb der Rechtswissenschaften sowie diese wiederum mit jenen anderer Geistes-, oft sogenannten Nachbarwissenschaften zusammen zu führen, um den spannenden Debatten und Lösungsansätzen innerhalb der jeweiligen Disziplinen ein gemeinsames Forum zu bieten . 3.

Einige Worte zur Ermöglichung dieses Projekts …

Dies möglich gemacht haben nicht zuletzt unsere zahlreichen Unterstützer und Sponsoren, die sich nicht gescheut haben, den Austausch von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern im Bereich der Grundlagen des Rechts auf vielfältige Weise großzügig zu fördern . Herrn Professor Matthias Jestaedt (Freiburg), der sich insoweit als begeisterter, großzügiger und kreativitätsfördernder Rechtswissenschaftsdiplomat betätigt hat, gilt unsere tiefe Dankbarkeit für die nachhaltige Begleitung der Tagungsorganisation – von der Konzeptionalisierung des call for papers über eine Eröffnungsrede im Namen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg bis zur Aftermath: Von und mit ihm lernen wir ständig die Hingabe zur Wissenschaft . Herrn Professor Ralf Poscher (Freiburg) gebührt unser Dank für die Ermutigung und die uneingeschränkte Förderung unseres Projekts, eine ambitionierte Nachwuchs-Konferenz in Freiburg zu veranstalten . Aufs Herzlichste bedanken möchten wir uns auch bei unseren zuverlässigen und interessierten studentischen Hilfskräften am Lehrstuhl Jestaedt, Jan Berger, Yannik Morath, Jakob Olbing, Anne Papke, Christopher Scheit und Luca Silvani, deren zuweilen stilles Wirken der Tagung erst die Reibungslosigkeit ihres Ablaufs sichern konnte . Für ihre Unterstützung, Aufmunterung und Inspiration hinsichtlich der Organisation der Tagung danken wir auch nochmals dem seinerzeitigen Vorstand des Jungen Forums Rechtsphilosophie, Markus Abraham, Sascha Ziemann und Sabrina Zucca-Soest . Ohne ihre ständige Bereitschaft zum helfenden Dialog wäre die Durchführung der Tagung nicht möglich gewesen . Schließlich danken wir unseren Sponsoren, dem Verein „Freunde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Freiburg e . V .“, dem Verein „Freiburg Alumni e . V .“ ebenso wie der Kanzlei Sparwasser und Heilshorn . Aus dem Verlagswesen ist uns umfängliche Unterstützung zuteil geworden durch die Verlage Mohr Siebeck, C . H . Beck, Duncker & Humblot – Berlin, Nomos sowie schließlich vor allem den Franz Steiner Verlag, welcher den Druck dieses Bandes erst möglich macht .

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Franziska Bantlin / Rodrigo Cadore / David Freudenberg / Sabine Klostermann / Laura Wallenfels

So haben sich viele Teile glücklich gefügt, um dieses Zusammenkommen des Jungen Forums zu einem aus unserer Sicht gewinnbringenden, weil aufschlussreichen und anschlussfähigen Austausch werden zu lassen und wir hoffen, dass alle Teilnehmenden sowie alle den Beiträgen zu wünschenden Leserinnen und Leser dies ebenso empfinden . In inhaltlicher Hinsicht sind nicht zuletzt die Beiträge der Referentinnen und Referenten hervorzuheben, ohne deren geistreiche, kreative sowie anregende Vorträge die Tagungsidee Programm geblieben wäre und denen daher unser aller besonderer Dank gilt . Nicht zuletzt bedanken wir uns bei den über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Freiburger Tagung, die durch wissenschaftliches Engagement und nachhaltigen Enthusiasmus bereichernde Diskussionen in Bewegung gebracht und andere noch größere Fragen zu stellen gemeinsam erlernt haben .10 Und so können wir dieses Vorwort beschließen, indem wir Cicero Philippica 12, 5 an unser Tagungsmotto anpassen: Cuiusvis hominis est errare, nullius nisi insipientis de erroribus non disputare .

Der vorliegende Tagungsband dokumentiert und präsentiert den heutigen Stand unseres kollektiven Wissenschaftsirrtums . Mögen sich die Leserinnen und Leser dazu veranlasst fühlen, diesen vorübergehenden Ergebnissen eigene Errata hinzuzufügen und dadurch die initiierten Forschungsgespräche bereichernd weiterzuführen, welche darauf zielten, Unsicherheiten des Rechts als Thema in Form von geteilten Zweifeln und Unbehagen explizit zu machen, wiewohl das wissenschaftliche Fragen solche Unsicherheiten zunächst zu vertiefen scheint .

Vgl . João Guimarães Rosa, Grande Sertão: Veredas, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Curt Meyer-Clason übersetzt, 1987, 378 . 10

Verfassungsänderungen durch Zeitgeister, Medien, Rechtsprechung oder den einfachen Gesetzgeber? BERND RÜTHERS1 (Konstanz)

I .

Für meine Generation (Studium 1950–1954, Promotion 1958, Habil . 1967) war es eine späte, langsam gewachsene Einsicht, dass in der gesamten Juristenausbildung die NS-Zeit und die Methoden der „völkischen Rechtserneuerung“ sorgfältig „beschwiegen“ wurden . Warum? Etwa 80 % oder mehr unserer Professoren hatte diesen Beruf schon vor 1945 ausgeübt und den Eid auf den Führer geleistet .

II .

Deutschland hat zwischen 1918 und 1989, also in sieben Jahrzehnten je nach Zählweise sieben verschiedene Verfassungen und politische Systeme erlebt: Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Regime, vier Besatzungsregimes, alte Bundesrepublik, SED-Regime, Wiedervereinigung, die neue Bundesrepublik mit ihrer Integration in die EU . Jedes System verlangte von seinen staatsnahen Funktionseliten Loyalität zu seinen „Grundwerten“ . Der Verwaltungsrechtler Fritz Hartung schrieb 1971 ein wenig gelesenes Alterswerk mit dem Titel: „Jurist unter vier Reichen“ 2 Jurist zu sein, kann also bei „ungnädigem“ Geburtszeitpunkt individuelle und kollektive Existenzprobleme mit sich bringen . Ich habe davon in meinem Studium (ab Sommersemester 1950 in Münster) nichts gehört .

Der Autor ist Prof . em . für Zivilrecht und Rechtstheorie der Universität Konstanz . Köln, Berlin, Bonn, München 1971 . Hartung hatte „generationstypisch“ drei Eide auf gegensätzliche Verfassungen geschworen . 1 2

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Bernd Rüthers

III .

Die neue Staatsmacht wollte 1949 nach der Gründung der Bunderepublik möglichst schnell eine neue Rechtsordnung nach den politisch etablierten „Grundwerten“ des Grundgesetzes realisieren . Wie kann man das erreichen? Der neue Staat war dabei auf die überwiegend aus der NS-Zeit übernommenen Funktionseliten angewiesen . Ihre Fachkompetenz hatten sie bei der „völkisch-rassischen Rechtserneuerung“ erworben und bewiesen . Sie setzten ihre Karrieren in der Nachkriegszeit ganz überwiegend fort und werden von ihren Schülern und Enkeln noch heute als „Klassiker“ verehrt . Dieses Problem war zur Zeit meines Studienbeginns (Sommersemester 1950) in allen westdeutschen Rechtsfakultäten gegeben . Die NS-Vergangenheit des ganz überwiegenden Teiles der Funktionseliten in der jungen Bundesrepublik war über Jahrzehnte hin ein Tabu in allen Gesellschaftsbereichen, nicht nur in den Universitäten .

IV .

Die im jeweiligen System tätigen Juristen haben in allen Berufen die Aufgabe, die jeweilige „Staatsideologie“ umzusetzen und zu verwirklichen . Das ist ihre zentrale rechtspolitische Funktion, ob sie das wissen und wissen wollen oder nicht .

V .

Verfassungswechsel bringen regelmäßig sog . Rechtserneuerungen mit sich . Sie können „völkisch-rassisch“, „demokratisch“, „marxistisch“, „freiheitlich“, „neoliberal“, „kapitalistisch“, an den wechselnden Zeitgeistern oder am Staatsideal einer Besatzungsmacht (DDR/Sowjetunion) orientiert sein .

VI .

Das Spannende war, dass die jeweils neue Staatsmacht in Jurisprudenz und Justiz mit den vorhandenen Funktionseliten möglichst schnell eine neue Rechtsordnung nach den von ihr verkündeten „Grundwerten“ realisieren wollte . Wie kann man das erreichen?

VII .

Die Gesetzgebung erwies sich nach jedem dieser Umbrüche als zu langsam, um die von der neuen Staatsführung jeweils geforderte, umfassende „Rechtserneuerung“ schnell zustande zu bringen . Die Erfahrung lehrt: Nach jeder Wende haben die Justiz und die Rechtswissenschaft die jeweilige Rechtsordnung zur Zufriedenheit der jeweils neuen Machthaber im Sinne der neuen „Grundwerte“ umgestaltet . Das geschah durch die entsprechende „Auslegung“, oft auch eher durch die „Einlegung“ der rechtspolitisch gewünschten Ergebnisse in die überkommenen Gesetze . Dabei haben sie von „Wende zu Wende“ Instrumente entwickelt und verfeinert, wie man überkommene Gesetze im Sinne der neuen Wertvorstellungen umdeuten kann . Auf diese Weise sind die deutschen Juristen „Wende-Experten“, quasi „Weltmeister“ in der Kunst der Umdeutung ganzer Rechtsordnungen geworden . Das hat die Ge-

Verfassungsänderungen durch Zeitgeister, Medien, Rechtsprechung oder den einfachen Gesetzgeber?

setzesbindung der Justiz, besonders die der letzten Instanzen, in ihrem Selbstverständnis zunehmend gelockert und dadurch zusätzlich die Dominanz des Richterrechts als Rechtsquelle bewirkt .3 Das gilt für alle letzten Gerichtsinstanzen, auch für das Bundesverfassungsgericht . Eine Jubiläumsschrift von 2011 für das BVerfG von vier Staatsrechtslehrern trägt den bezeichnenden Titel „Das entgrenzte Gericht“ .4 VIII .

Die Technik der Umdeutung von Rechtsgrundbegriffen ist also nicht etwa eine Parole der Vergangenheit, sondern ein aktuelles Problem der gegenwärtigen Methodenpraxis . Rechtserneuerungen sind also, locker formuliert, interpretative Wendemanöver, quasi „Olympiaden der Umdeutung“ überkommener Gesetze und Rechtsfiguren . Einer der Großmeister der „völkischen Rechtserneuerung“ (Carl Schmitt) hat das 1934 freimütig und treffend formuliert: „Wir denken die Rechtsbegriffe um … Wir sind auf der Seite der kommenden Dinge .“5

Er proklamierte damit, programmatisch für viele Kollegen, eine neue Aufgabe, nämlich die Umwertung der gesamtem Rechtsordnung im Sinne der NS-Weltanschauung . IX .

Hier werden die Aktualität und die Bedeutung der juristischen Methodenlehre für alle juristischen Berufe beispielhaft deutlich . Nach den genannten Verfassungsumbrüchen war es üblich, die Methodengeschichte des abgelösten Systems, soweit die alten Funktionseliten den Verfassungsumbruch im Beruf überlebt hatten, weitgehend zu verschweigen und zu vergessen . Durch dieses Verdrängen der Methodengeschichte und der Auslegungseskapaden der deutschen Jurisprudenz und Justiz in den beiden deutschen totalitären Diktaturen haben die nachfolgenden Juristengenerationen zwischen 1950 und 1970 im Studium und in ihrer Ausbildung selten etwas über die Instrumente erfahren, mit denen man eine ganze Rechtsordnung interpretativ „umwerten“, ja auf den Kopf stellen kann . Die universitäre wie die justizielle Juristenausbildung haben falsche Geschichtsbilder vermittelt .6

X .

Methodenfragen sind Machtfragen und Verfassungsfragen . Die Methodenwahl der Rechtsanwender bestimmt oft ihr „Auslegungsergebnis“ . Das führt zu der

Bernd Rüthers, Deutsche Funktionseliten als Wende-Experten, Konstanz 2017 . Christoph Möllers, Christoph Schönberger, Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Das entgrenzte Gericht, Frankfurt a . M . 2011 . 5 Carl Schmitt, in: Deutsches Recht 1934, 225–229 (228 f .) . 6 Bernd Rüthers, Verfälschte Geschichtsbilder deutscher Juristen?, NJW 15/2016, 1058–1074 . 3 4

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umstrittenen Frage: Enthält das Grundgesetz verbindliche Gebote für die Methode der Rechtsanwendung, also einen „verbindlichen Methodenkanon“?7 Das wird von der herrschenden Lehre und Praxis bestritten . Das Bundesverfassungsgericht hat lange in ständiger Rechtsprechung die Ansicht vertreten: „Eine bestimmte Auslegungsmethode … schreibt die Verfassung nicht vor .“ (BVerfG 88, 145 (166 f .)

Noch weiter ging Winfried Hassemer, damals Vizepräsident des BVerfG, mit der These: „Methodisch ist der Richter in der Wahl der Interpretationsregeln frei .“8

XI .

Diese These von der richterlichen Freiheit der Methodenwahl ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich bedenklich, ja verfehlt . Sie erlaubt dem Rechtsanwender, sich diejenigen Methoden auszusuchen, die zu einem von ihm gewünschten, „vorgefassten“ Entscheidungsergebnis führen . Die methodisch bewirkte subjektive „Einlegung“ wird fälschlich als „objektive Auslegung“ etikettiert . Die These des BVerfG, es gebe keinen verbindlichen, in der Verfassung vorgegebenen Methodenkanon, übersieht die Grundsätze des Rechtsstaates und der Demokratie im Grundgesetz, ferner die geschilderten historischen Verstrickungen von Jurisprudenz und Justiz in das NS-Regime . Die lange verdrängte Disziplingeschichte hat nachhaltige Folgen bis heute . Meine Gegenthese lautet: Das Grundgesetz enthält zwingende methodische Vorgaben für die Rechtsanwendung . Sie gelten für alle Rechtsgebiete, auch für die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes . Gesetze sind Gebote an die Gesetzesanwender (Art . 20 Abs . 3 GG) . Ihre Auslegung setzt die Kenntnis dessen voraus, was die Normsetzer mit den anzuwendenden Normen regeln wollten und wie sie dieses Problem gestalten wollten . Der zwingende erste Schritt jeder Gesetzesanwendung ist also die Frage nach dem ursprünglichen Normzweck und dem Regelungsziel der Gesetzgebung . Wer auf diese Fragen verzichtet, will nicht „auslegen“, sondern „einlegen“, also das Recht ändern . Rechtsnormen sind gerade in der Demokratie Gestaltungsinstrumente . Sie sollen die Herrschaft von Menschen durch demokratisch verabschiedete Gesetze ersetzen .

Bernd Rüthers, Welcher Methodenkanon sollte für die Rechtsprechung verbindlich sein? In: Methodenlehre zwischen Wissenschaft und Handwerk, Susanne Hähnchen (Hrsg .), Tübingen 2019, S . 81–90 . 8 Winfried Hassemer, in: Ders . / U . Neumann / F . Saliger (Hrsg .), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9 . Aufl . 2016, 264 . 7

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XII .

Die Tatsache, dass die Jurisprudenz untrennbar mit der jeweils politisch etablierten Wertordnung verknüpft ist, war mir aus dem Studium unbekannt . Tatsache ist: Die Jurisprudenz stößt in jeder Rechtsnorm auf ein Werturteil der Normsetzer . Max Weber, ein Jurist, dem die Jurisprudenz zu realitätsfremd erschien und der ein Begründer der Soziologie wurde, löste um die Jahrhundertwende den „Werturteilsstreit“ aus . Alle Sozialwissenschaften diskutierten ihn über Jahrzehnte hin . Jurisprudenz und Justiz nahmen ihn lange nicht zur Kenntnis . Bis die Interessenjurisprudenz seine Bedeutung für die Rechtsordnung offenlegte . Sie förderte die Einsicht: Alles Recht besteht aus normativ geronnenen Wertentscheidungen der Normsetzer .

XIII .

Mit Harry Westermann, Theo Zimmermann, Hans Brox, Dietrich Reinicke und Johannes Wessels bildete sich in Münster nach 1945 ein neuer Schwerpunkt der Interessenjurisprudenz, die Philipp Heck zusammen mit anderen um die Jahrhundertwende begründet hatte . Bezeichnender Weise gab es während meines Studiums und der Promotion keine eigene Lehrveranstaltung zur juristischen Methodenlehre . Die Vorlesungen zur Rechtsphilosophie hörten regelmäßig mit der Weimarer Zeit auf . Der Nationalsozialismus und der Marxismus wurden ausgespart .

XIV .

Die Jurisprudenz enthält in jeder ihrer Rechtsnomen ein Werturteil der Normsetzer . Der von Max Weber ausgelöste „Werturteilsstreit“, der alle Sozialwissenschaften über Jahrzehnte hin beschäftigte, wurde in der Jurisprudenz und Justiz lange nicht zur Kenntnis genommen . Harry Westermann erkannte zuerst, dass die Interessenjurisprudenz den falschen Namen trug . Sie beruhte auf den normativen Bewertungen der normsetzenden Instanzen . Er nannte sie „Wertungsjurisprudenz“ .9

XV .

Die Entgrenzung, also die zunehmende Lockerung der Bindung der Gerichte an das Gesetz (Art . 20 Abs .3 GG), geschah durch bestimmte, dazu geeignete Rechtsanwendungsmethoden . Das Dauertraining der Justiz und Jurisprudenz in den „Wendezeiten“ nach 1919, 1933, 1945/49, 1989/90 hat Erstaunliches bewirkt . Die in diesen Ausnahmelagen geübten und „bewährten“ Methoden haben alle Umbrüche überdauert und sie juristisch akzeptabel gemacht . Fritz Hartung hat dazu das erwähnte, leider fast vergessene Alterswerk geschrieben . Es sollte zur Pflichtlektüre jeder Juristenausbildung gehören . Von den Profes-

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Harry Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, Münster 1955 .

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soren, Richtern und Staatsanwälten seiner Generation wurden nicht selten in einem Berufsleben drei verschiedene Amtseide geleistet . Zur Normsetzungsfunktion der Gerichte: Das Richterrecht

XVI .

Der Gesetzesstaat hat sich, zunächst fast unbemerkt und heimlich, in einen Richterstaat verwandelt . Die Dominanz des Richterrechts und seiner Methodenpraxis lässt die Methode der Rechtsanwendung zu einer Schlüsselfrage der Erhaltung der zentralen Grundsätze der Demokratie und des Rechtsstaates werden .

XVII .

Lange Zeit haben die Richter aller Bundesgerichte, gerade die des BGH und des BAG, ihre eigene, normsetzende und damit rechtspolitische Funktion verkannt, geleugnet oder zu vertuschen versucht . Ich erinnere mich eines lebhaften persönlichen Diskurses mit dem damaligen Präsidenten des BAG Rudolf Kissel (1981–1994) und seinem Vizepräsidenten Dirk Neumann (1984–1990), beide von mir hochgeschätzt . Auf meinen Hinweis, dass alle Grundsatzentscheidungen des BAG Elemente gesetzesähnlicher richterlicher Normwirkung enthielten, etwa beim Kündigungsschutz rechtspolitische Weichenstellungen für den gesamten Arbeitsmarkt, zumal für das Tarif- und Arbeitskampfrecht, wiesen sie diese Vorstellung weit von sich, ja geradezu empört zurück . Sie entschieden aus ihrer Sicht immer nur die vorliegenden Einzelfälle ohne jede Normwirkung für die betroffenen Fallgruppen . Die Wahrnehmungsverweigerung gegenüber der realen Normwirkung war offensichtlich . Die dauerhaft erbrachten, von der Gesetzgebung und von der Gesellschaft akzeptierten Leistungen der richterlichen „Ersatzgesetzgebung“ (vor allem durch die Bundesgerichte) haben die letzten Instanzen zu selbstbewussten Normsetzern („Ersatzgesetzgebern“) gemacht . Zur Erinnerung: Alle mächtigen Institutionen, also auch das BVerfG, neigen nach einem organisationssoziologischen Erfahrungssatz dazu, ihre Kompetenzen auszureizen, auch zu überdehnen . Im Gegensatz zu den häufigen Verleugnungen richterlicher Rechtspolitik von Seiten der Richter entwickelte sich in der Rechtsprechung der Bundesgerichte eine verbreitete Tendenz zum richterrechtlichen Ausbau der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Gesetze hinaus oder auch gegen sie . Die vom BAG und anderen Bundesgerichten häufig verwendete sog . „typologische Rechtsfindung“ ist ein „Tarnbegriff “, ein Instrument verdeckter interpretativer Rechtsetzung . Angewendet wird er dort, wo ein unbestimmter

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Rechtsbegriff nicht gesetzlich definiert ist und auf vielfältig verschiedene Sachverhalte und Fallgruppen hin konkretisiert werden muß . Das methodische Problem liegt darin, daß die richterliche Normsetzung fälschlich als Methode der Gesetzesauslegung ausgegeben wird . Es ist daher irreführend, wenn, wie bei Larenz und beim BAG üblich, von typologischer „Rechtsfindung“ geredet wird . Unter diesem Titel wird das Recht nicht „gefunden“, sondern von den Akteuren gesetzt .10 Eine Nebenbemerkung zum Richterrecht im Bereich der Gesetzeslücken: Der geschickt manipulierte Begriff der Gesetzeslücke, sei es einer vorhandenen oder auch einer von den Gerichten „erfundenen“ Gesetzeslücke, ist der scheinlegale Zugang zu beliebigen Gesetzesabweichungen entgegen Art . 20 Abs . 3 GG . Das Thema würde für einen eigenen Vortrag reichen . Zum Richterrecht im Verfassungsrecht

XVIII . Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik besteht schon wegen der geringen Regelungsdichte des Grundgesetzes ganz überwiegend aus ‚Richterverfassungsrecht‘. Die rasant steigende Veränderungsgeschwindigkeit unserer Gesellschaft in allen Lebens- und Rechtsgebieten steigert fortwährend das Wachstum des Richterrechts . Das ist unvermeidbar . Auch hier gilt, wie im Arbeitsrecht, die Einsicht: „Auch das Verfassungsrichterrecht bleibt unser Schicksal .“11 Die Normsetzungskompetenz über das Verfassungsrecht verlagert sich also, besonders wegen der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit für Verfassungsänderungen, kontinuierlich von den Gesetzgebungsorganen (Bundestag und Bundesrat) auf das Bundesverfassungsgericht . Real ist das Bundesverfassungsgericht durch den Zwang zur Fortbildung des Grundgesetzes im „Lückenbereich“ zum ‚Verfassungsersatzgesetzgeber‘ 12 geworden . Das Thema ist heikel . Denn: Geschaffen wurde das Bundesverfassungsgericht nach den Erfahrungen der Beseitigung der Weimarer Verfassung durch „Notverordnungen“ nach Art . 48 WRV mit der zentralen Aufgabe, ein zuverlässiger „Hüter der Verfassung“ zu sein . Seine Entscheidungen sind für alle Staatsorgane verbindlich (Art . 93 GG, § 31 Abs . 1 BVerfGG) . Sie bestimmen zugleich

10 11 12

Kritisch zur typologischen Methode Volker Beuthin / Thomas Wehler, RdA 1978, 2 . Franz Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385 (445) . Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, Tübingen 2016, 94 ff ., 107 ff .

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rechtskräftig den Inhalt des Grundgesetzes . Das führt zu der Frage nach den Grenzen des Verfassungsrichterrechts . Dabei ist festzuhalten: 1. Verfassungsänderungen sind dem Bundesverfassungsgericht schlechthin verboten (Art. 79 GG). Sie sind, nach den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung mit guten Gründen, an enge Voraussetzungen geknüpft und für bestimmte Fragen durch die „Ewigkeitsgarantie“ gänzlich ausgeschlossen (Art . 79 Abs . 3 GG) . Andererseits gehört die Fortbildung der Verfassung im Lückenbereich, wie schon gesagt, zu den verfassungsgemäßen Aufgaben des BVerfG . Die Setzung von Verfassungsrichterrecht durch das BVerfG ist ein brisantes Dauerproblem .13 Die Grenzziehung zwischen der notwendigen Fortbildung und der unzulässigen Änderung der Verfassung ist, wie eine ganze Reihe von umstrittenen Entscheidungen des Gerichts zeigt, höchst aktuell und umstritten . Dabei ist beim BVerfG – wie bei allen letztinstanzlichen Gerichten – festzustellen, dass die ständig erforderliche und legitime Rechtsfortbildung im Bereich der Gesetzes- und Gebietslücken14 das Selbstbewusstsein prägt . Das Risiko von Kompetenzüberschreitungen ist unverkennbar . Dabei zeigen sich – auch innerhalb des Gerichts und der Senate – bemerkenswerte Unterschiede . Lange hat das Gericht der Erforschung der Entstehungsgeschichte und des ursprünglichen Normzwecks (Regelungszieles) der anzuwendenden Rechtsnormen einen geringen Stellenwert bei der Festlegung des Auslegungsergebnisses zugeschrieben .15 2. Die These, die Verfassung schreibe keine bestimmte Methode der Gesetzesauslegung vor,16 ist zweifelhaft. Gerade Verfassungen erhalten in aller Regel ihren Sinn und Zweck aus schmerzlichen historischen Erfahrungen . Ihr Inhalt soll der Wiederholung solcher Vorgänge vorbeugen . Das war und ist gerade für das Grundgesetz ein zentraler Normzweck gewesen . Es ist genau aus einer solchen Situation heraus entstanden . Sein Inhalt hat in den grundlegenden Bestimmungen, gerade in den Art . 1 bis 20 den erkennbaren Zweck, Wiederholungen ähnlicher Katastrophen wie den Nationalsozialismus und die „Diktatur des Proletariats“ im SED-Staat zu verhindern . Dazu gehört auch die Regelung des Art . 79 GG, der für Verfassungsänderungen besonders hohe Schranken vorschreibt .

AaO, 148 f . Zum Begriff vgl . Bernd Rüthers / Christian Fischer / Axel Birk, Rechtstheorie, 9 . Aufl ., München 2016, Rdnr . 855 ff ., 887, 906 ff . 15 BVerfGE 1, 299 (312); 10, 234 (244); 11, 126 (130), std . Rspr; vgl . Rüthers/Fischer/Birk (Fn . 14), Rdnr . 798 ff . 16 BVerfGE 88, 145 (167) . 13 14

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XIX .

Zur Diskussion möglicher Kompetenzüberschreitungen durch das BVerfG haben in den letzten Jahren mehrere Entscheidungen Anlass gegeben. Als Beispiele sind zu nennen etwa: – Entscheidungen zum Persönlichkeitsrecht und Ehrenschutz Das im Grundgesetz garantierte Recht der persönlichen Ehre (Art . 2 und 5 Abs . 2 GG) ist zeitweilig aus dem Sprachgebrauch des BVerfG nahezu verschwunden und in dem unbestimmten Rechtsbegriff des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgegangen („Ehre als eine vordemokratische Kategorie“17) . Die weitgehende Liquidation des Ehrbegriffes verkennt, dass eine funktionsfähige Demokratie den Schutz und die Achtung der persönlichen Ehre aller Bürger („Menschenwürde“ Art . 1 GG) und besonders derer voraussetzt, die sich für den liberalen Verfassungsstaat öffentlich exponieren . – Als Entscheidungen an den Kompetenzgrenzen des Gerichts sind ferner zu nennen: „Soldaten sind Mörder“, das „Kruzifix-Urteil“ sowie die Entscheidung, dass die bildliche Darstellung des „Urinierens auf die Bundesfahne“ unter die Gewährleistung der Kunstfreiheit fallen könne („Freier Kunstbegriff “) . – Eine besonders umstrittene Entscheidungsreihe begann mit dem Beschluss des Zweiten Senats zum „Ehegattensplitting für homosexuelle Paare“ . Der Streit geht nicht um die vom Gericht entschiedene Sachfrage, ob nämlich das „Ehegattensplitting“, bisher ausschließlich für Ehegatten geltend, auch auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften erstreckt werden kann . Über eine gesetzliche Regelung dieses Inhalts kann man je nach weltanschaulichen und religiösen Vorverständnissen verschiedener Meinung sein . Die Gesetzgebung hat hier im verfassungsmäßigen Verfahren ein weites Regelungsermessen . Es geht vielmehr um die Kompetenzfrage: Hat dieser Beschluss des Zweiten Senats das Grundgesetz ausgelegt oder geändert? Ist das BVerfG befugt, die volle Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit „Ehe und Familie“ entgegen Art . 6 Abs . 1 GG und entgegen dem Willen der Verfassungsgeber anzuordnen? Dazu gehen die Meinungen in der juristischen Literatur und in den Medien weit auseinander . Wer ist für eine solche Regelung im Hinblick auf Art . 6 Abs . 1 GG zuständig?

Vgl . dazu die Übersicht bei Horst Sendler, ZRP 1994, 343 ff .; Ralf Stark, JuS 1995, 689 ff .; Georgios Gounalakis, NJW 1996, 481 ff .; José Carlos del Ama Gonzalo, Ehre und öffentliche Meinung, Aachen 2001, 371; Friedrich Kübler, NJW 1999, 1281, nach denen den Beleidigungstatbeständen ein vordemokratischer Ehrbegriff zugrundliegt . 17

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Dort steht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung .“ Art . 79 Abs . 1 S . 1 GG lautet: ‚Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, welches den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt .‘

Dem einfachen Gesetzgeber ist die Änderung des verfassungsgesetzlich durch eine Einrichtungsgarantie geschützten Ehebegriffs verboten . Das gilt ebenso oder erst recht für das Bundesverfassungsgericht . Es darf und muss die Verfassung fortbilden und ergänzen, wo diese Lücken aufweist . Es darf die im Grundgesetz geregelten verfassungsgesetzlichen Grundbegriffe und Einrichtungsgarantien aber nicht dem Wandel des Zeitgeistes und einer beliebigen gesellschaftlichen „Praxis“ anpassen . Das Gesetz „Ehe für Alle“ führt zu der Frage: XX .

Ist eine Verfassungserosion durch die gemeinschaftlich praktizierte „Umdeutung“ mehrerer Verfassungsorgane von Verfassungsgrundbegriffen und Einrichtungsgarantien zulässig? Der folgende Abschnitt ist, soweit ich sehe, die erste kritische Thematisierung einer bemerkenswerten, vielleicht strategisch gewollten Kooperation von Verfassungsorganen zur Umgehung einer möglichen abstrakten Normenkontrolle nach Art . 93 Abs . 1 GG .18 Die eingeschränkte Kommunikationsbereitschaft ist vielleicht ein Zeitzeichen für die wachsende Unsicherheit des juristischen Umgangs mit der Verfassungsgarantie von Demokratie und Rechtsstaat? I. Der neue einfachgesetzliche Ehebegriff Der Bundestag verabschiedete am 30 . Juni 2017 einen Gesetzentwurf des Bundesrates „zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ mit großer Mehrheit . Der § 1353 Abs . 1 S . 1 des BGB lautet jetzt: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen .“ Der Bundesrat stimmte dem Gesetz eine Woche später, am 7 . Juli 2017, fast einstimmig zu . Das geschah sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat ohne jede Diskussion der Frage, ob die in dem Gesetz vorgesehene Änderung des Ehebegriffes gegen Art . 6 Abs . 1 des Grundgesetzes verstößt . Auch die gesellschaftspolitische Dimension dieser einschneidenden Änderung des Ehebegriffes wurde in beiden gesetzgebenden Körperschaften nicht erwähnt .

Ich habe diesen Text in anderer Fassung im Dezember 2017 sowohl der NJW-Redaktion als auch der JZ-Redaktion angeboten . Beide waren nicht interessiert . Ein vergleichbarer kritischer Hinweis aus der deutschen Staatsrechtslehre ist mir nicht bekannt . 18

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Weltanschaulich motivierte Änderungen des Ehebegriffes sind in der deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte, wie die Geschichte der mehrfachen deutschen politischen System- und Verfassungswechsel im 20 . Jahrhundert zeigt, nichts Neues . Neu ist allerdings, dass nun gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften unter den in Jahrhunderten gewachsenen und unveränderten Begriff der „Ehe“ fallen sollen . Wegen dieser Geschichte hielten es die Mütter und Väter des Grundgesetzes für geboten, den Ehe- und Familienbegriff in Art . 6 Abs . 1 GG unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung zu stellen . Sie folgten dabei der Weimarer Reichsverfassung . Art . 119 Abs . 1 WRV lautete: ‚Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Mehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung .‘

Ähnliche Bestimmungen finden sich in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948 und später im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ der UNO von 1966 (Art . 23) . Die vom Parlamentarischen Rat gewählte verkürzte Fassung des Art . 6 Abs . 1 GG bedeutete keine inhaltliche Veränderung des traditionellen Ehebegriffes . Er wurde 1949 nach der geltenden Rechtslage im Familien- und Eherecht als selbstverständlich vorausgesetzt, sollte also keine „offene Generalklausel“ sein . II. Wie es zu dem Gesetz kam Am Montag, dem 26 . Juni 2017, sagte die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel bei einer Abendveranstaltung mit der Frauenzeitschrift „Brigitte“ zu der umstrittenen Frage „Ehe für alle?“, dem Anschein nach beiläufig, sie wünsche sich eine Diskussion im Bundestag, die „eher in Richtung einer Gewissensentscheidung geht“ . Sofort nach dem Bekanntwerden dieser Äußerung ergriffen die SPD und die Grünen die sich bietende Gelegenheit und beantragten eine Entscheidung des Bundestages . Dieser verabschiedete am Freitag derselben Woche die Gesetzesvorlage des Bundesrates im Minutentakt mit großer Mehrheit . Dabei wurden die in der Fachpresse und den Medien vertretenen, vielfach erörterten verfassungsrechtlichen Bedenken aus Art . 6 Abs . 1 GG nicht diskutiert . Eine Rüge dieses „Blitzverfahrens“ der Gesetzgebung fand nicht statt . Die Abstimmung endete in einem bis dahin im Plenum unbekannten Konfetti-Regen der „Sieger“ . Auch der sonst wachsame Präsident des Bundestages Norbert Lammert äußerte sich dazu nicht . In der folgenden Woche stimmte der Bundesrat dem Gesetz ebenfalls ohne inhaltliche Diskussion zu . Die Initiative zu dem Verfahren und der Ablauf dieser Gesetzgebung sind bemerkenswert und, im Hinblick auf die Bedeutung und Tragweite des Gesetzes sowie der verfahrensrechtlichen Besonderheiten, geradezu skurril .

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III. Die Ehe als Verfassungsbegriff Die entscheidende Frage lautet: Ist der einfache Gesetzgeber zuständig und berechtigt, noch dazu in einem diskussionslosen Schnellverfahren, den Ehebegriff des Grundgesetzes neu zu regeln? Angesichts der rechtskulturellen und bevölkerungspolitischen Dimension dieser Frage fällt auf, daß in den Debatten dazu die zentral wichtige Frage vermieden oder mit unzutreffenden Argumenten weggewischt wurde, nämlich: Ist der Ehebegriff durch Art . 6 Abs . 1 GG ein Verfassungsbegriff, der nur unter den Voraussetzungen des Art . 79 GG, also mit Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Verfassungsorganen, geändert werden kann? Das Grundgesetz wurde 1949 als Antwort auf die Unrechtserfahrungen des NS-Regimes geschaffen . Das gilt gerade für die rassepolitischen Maßnahmen dieses Staates . Der NS-Gesetzgeber erließ 1938 ein von seinen rassepolitischen Zielen geprägtes Ehegesetz . Der Schlüsselbegriff dieses Gesetzes war das „Wesen der Ehe“ . Der NS-Gesetzgeber ließ die Richter bei der Definition des „Wesens der Ehe“ nicht allein . Der Familienrechtsauschuss der „Akademie für Deutsches Recht“ definierte: ‚Ehe ist die von der Volksgemeinschaft anerkannte, auf gegenseitiger Treue, Liebe und Achtung beruhende, dauernde Lebensgemeinschaft zweier rassegleicher, erbgesunder Personen verschiedenen Geschlechts zum Zwecke der Wahrung und Förderung des Gemeinwohls […] und zum Zweck der Erzeugung rassegleicher erbgesunder Kinder und ihrer Erziehung zu tüchtigen Volksgenossen .“

Die methodische Besonderheit liegt darin, dass der Alliierte Kontrollrat 1946 nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes dieses Ehegesetz von 1938 mit unwesentlichen Streichungen als EheG 1946 fortgelten ließ . Es wurde also sowohl für die Bundesrepublik wie für die DDR bis zum Erlass eigener Gesetze lange Zeit das verbindliche deutsche Eherecht . An der gegensätzlichen Interpretation des „Wesens der Ehe“ in den beiden Folgestaaten erweist sich: Der Ehebegriff wurde als konstitutiver und „systemrelevanter“ Verfassungsbegriff in den drei Staaten, in denen das Gesetz galt, von den zuständigen obersten Gerichten definiert, und zwar jeweils im Sinne der neu etablierten Grundwerte und Staatsideologien im NS-Staat, in der Bundesrepublik und in der DDR . Der BGH folgerte aus dem institutionellen Sinn der Ehe anfangs deren wesenhafte „Unauflöslichkeit“ mit der Folge stark reduzierter Ehescheidungen . Das Oberste Gericht (OG) der DDR entschied, bei der Anwendung des § 48 EheG 1946 sei von dem Wesensbegriff auszugehen, den die Ehe in der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung des neuen Staates“ habe . Die Ehe sei nicht nur

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eine individuelle Angelegenheit der Eheleute, sondern sie habe auch gesellschaftlichen Idealen zu dienen, nicht zuletzt die Arbeitsfreude zu fördern . Die Beispiele zeigen einerseits den Verfassungsrang und den dramatischen Inhaltswechsel des Ehebegriffs im Wechsel der politischen Systeme und Ideologien . Andererseits belegt Art . 79 GG mit seinen hohen Schranken für jede Änderung des Grundgesetzes, dass die darin enthaltenen Verfassungsgarantien nicht erneut dem schwankenden Zeitgeist und beliebigen gesellschaftlichen Umdeutungen unterworfen sein sollten, sondern es zu jeder Verfassungsänderung entsprechender Mehrheitsbeschlüsse der zuständigen Verfassungsorgane bedürfe . Vor diesem historischen Hintergrund ist die Verankerung des besonderen Schutzes von „Ehe und Familie“ (Art . 6 Abs . 1 GG) in der Verfassung der Bundesrepublik zu sehen . Es sollte eine Verfassung geschaffen werden, welche die Veränderungen und Verschiebungen der Verfassungsgrundbegriffe durch vermeintliche „Auslegung“ verhindern oder mindestens erschweren sollte . Der Ehebegriff sollte nicht den wechselnden Strömungen der Zeitgeister geöffnet, sondern gerade gegenüber Begriffsvertauschungen in der Verfassung geschützt werden . Es darf nach der damaligen Rechtslage als ausgeschlossen gelten, dass der Ehebegriff in Art . 6 Abs . 1 GG der einfachen Gesetzgebung oder der richterlichen Rechtsfortbildung zu inhaltlichen Strukturveränderungen geöffnet werden sollte, etwa im Sinne einer Gleichstellung von Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft . Der Ehebegriff des Grundgesetzes ist also keine inhaltlich auswechselbare, von den Gerichten nach dem jeweiligen Zeitgeist neu auszurichtende „Generalklausel“ im Sinne einer ideologischen Gleitklausel . Er ist vielmehr ein durch seine Entstehungsgeschichte und die Rechtstradition festgefügter, systemrelevanter Wertmaßstab . Er lässt sich nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz nach Art . 79 GG verändern . XXI .

Könnte es sich hier um eine einvernehmliche Verfassungsumgehung durch die beteiligten Verfassungsorgane handeln? – Der ‚scheinautomatische Verfassungswandel‘ durch eine verschwiegene Umdeutung? Es handelt sich bei dem Erlass dieses Gesetzes („Ehe für alle!“) aus dieser Sicht um einen verfassungsrechtlich einmaligen Vorgang: Die Kanzlerin äußert in einem Abendgespräch mit der Presse – mehr oder weniger absichtsvoll? – die Meinung, die Abstimmung über die „Ehe für alle“ als eine Gewissenentscheidung zu betrachten . Der Bundestag hält es in einer kurzfristig angesetzten Abstimmung nicht für geboten, die in der juristischen Literatur breit erörterte Frage eines Verfassungsverstoßes durch das von ihm „durchgewinkte“ Gesetz in dieser Sache auch nur zu erörtern . Der sonst wachsam auf

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die Kompetenzen und die Würde des Bundestages bedachte Bundestagspräsident äußert zu diesem Vorgehen keine Bedenken . Die Bundeskanzlerin, die dieses „Blitzverfahren“ durch ihre beiläufige Bemerkung bei einem privaten Abendgespräch auslöste, stimmte dann „aus Überzeugung“ gegen das Gesetz . Die Abstimmung endet in einem seltsamen „Konfetti-Regen“ . Der Bundesrat schließt sich mit seiner diskussionslosen Zustimmung der gemeinsamen Verschweigung der verfassungsrechtlichen Probleme an . Wurde die verfassungsrechtliche und die verfassungspolitische Dimension solcher verdeckten und verschwiegenen Verfassungsänderungen verkannt? Das hat zu dem Thema der schleichenden Erosion des Grundgesetzes geführt . Seit Längerem wird in den einschlägigen Disziplinen und in den Leitmedien die Frage erörtert: ‚Stehen wir in einer Erosion von Demokratie und Rechtsstaat?‘ Der geschilderte Vorgang betrifft genau diese Entwicklung . Die Bundeskanzlerin eröffnet mit ihrer Bemerkung, ob gewollt oder nicht, die Möglichkeit zu diesem gesetzgeberischen Winkelzug . Die beiden Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat verabschieden ein Gesetz, dessen Verfassungsmäßigkeit in einer Grundsatzfrage nach der Überzeugung führender Staatsrechtler dem Grundgesetz und dazu noch früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in schwerwiegender Weise widerspricht . Zu den Widersprechenden zählten der ehemalige Präsident Papier und weitere ehemalige Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts . Alle beteiligten Bundesorgane kannten diese Verfassungsbedenken . Aus gegensätzlichen Motiven wurde der (geplante?) mögliche Verfassungsverstoß von der Regierung, den Parteien und den Organen der Gesetzgebung gebilligt und verschwiegen . Die taktisch praktizierte Einigkeit beschränkte sich, trotz der fundamentalen inhaltlichen Gegensätze, darauf, das brisante Thema gemeinsam kurz vor der Wahl zum Bundestag „vom Tisch zu räumen“ . Bei der „abstrakten Normenkontrolle“ eines erlassenen Gesetzes sind antragsberechtigt nur die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages (Art . 93 Abs . 1 Ziff . 2 GG) . Alle an der fragwürdigen Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorgane konnten deshalb (wiederum einvernehmlich!) davon ausgehen, dass eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes durch das BVerfG wegen der beschränkten Antragsberechtigung nicht zustande kommen würde . Hier haben wir ein Beispiel, wie mit den obersten Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates gespielt und die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ausgeschaltet werden kann nach der Strategie: „Wo kein Kläger, da kein Richter!“ Die gemeinschaftlich angestrebte Vermeidung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch mehrere Verfassungsorgane hat einen juristischen Hintergrund . Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung vom 17 . Juli 2002 mit zahlreichen Hinweisen auf seine frühere Rechtsprechung selbst ausdrück-

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lich hervorgehoben, dass das Grundgesetz die Ehe als eine dauerhafte Lebensgemeinschaft eines Mannes mit einer Frau unter den besonderen Schutz des Art . 6 Abs . 1 GG stellt . Es hat zudem festgestellt, dass die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ von diesem Schutz nicht erfasst wird . Das Gesetz vom 30 . Juni 2017 verletzt diese Schranke, indem es die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft unter den Begriff der Ehe stellt . Das erinnert an die bereits zitierte, berüchtigte Parole von Carl Schmitt aus dem Jahre 1934: „Wir denken die Rechtsbegriffe um … Wir sind auf der Seite der kommenden Dinge!“ Durch gezielte Veränderungen von einzelnen Grundbegriffen der Rechtsordnung kann man, wie gerade die Rechts- und Methodengeschichte Deutschlands zeigt, die ganze Rechtsordnung auf den Kopf stellen . Sollte es entgegen der „Umgehungsstrategie“ der an dieser Gesetzgebung beteiligten Staatsorgane noch zu einem Normenkontrollverfahren (Art . 93 GG) kommen, so stünde das BVerfG, wenn es dieses Gesetz billigen wollte, vor einer doppelten Hürde: 1 . Es müsste von einer eigenen ständigen Rechtsprechung abweichen, wenn es der einfachen Gesetzgebung gestatten wollte, den verfassungsrechtlichen Ehebegriff auf die „Ehe für alle“ zu erweitern . 2 . Das Gericht müsste ferner begründen, dass und wie diese offensichtliche Verfassungsänderung entgegen den strengen Voraussetzungen des Art . 79 GG zustande gekommen wäre . XXII . Für Abweichungen der Justiz von einfachen Gesetzen hat der Erste Senat des BVerfG 2009 in der Methodenfrage eine deutliche Trendwende19 seiner Rechtsprechung vorgenommen.20 Er hat in einer verfassungsrechtlich wie methodisch bedeutsamen Grundsatzentscheidung zum Unterhaltsanspruch geschiedener Ehegatten die Gesetzesbindung der Gerichte an den eindeutigen Normzweck betont und als unverrückbare Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung bezeichnet . Vorausgegangen war ein Sondervotum von drei Staatsrechtslehrern und Senatsmitgliedern (Voßkuhle/Di Fabio/Osterloh) des Zweiten Senats mit der gleichen Auffassung .21 Dem erklärten Willen der Gesetzgebung wird eine zwingende Vorrangstellung vor Eigenwertungen der Gerichte eingeräumt . Das Sondervotum geht ausdrücklich von Vorgaben des Grundgesetzes für die Rechtsanwendung aus . Bernd Rüthers, Trendwende im Bundesverfassungsgericht? – Über die Grenzen des „Richterstaates“, NJW 2009, 1461; vgl ., Bernd Rüthers (Fn . 12), 95 ff . zum Unterhaltsanspruch geschiedener Ehegatten . 20 BVerfG NJW 2011, 836 ff . 21 Beschluss vom 15 .1 .2009–2 BvR 2044/07; NJW 2009, 1469, 1474 . 19

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Diese Bindung an den erklärten Willen der Gesetzgebung gilt auch und erst recht für die Auslegung, die Rechtsfortbildung oder die Abweichung von Verfassungsnormen durch das Bundesverfassungsgericht . Es ist geschaffen worden als ein ‚Hüter der Verfassung‘ . Das begründet und begrenzt seine weitreichenden Kompetenzen . Es darf sich nicht durch autonom vorgenommene Korrekturen an den Grundprinzipien des Grundgesetzes zum ‚Herrn über die Verfassung‘ aufschwingen . Ein Wort zur methodischen Herausforderung der Bundesrepublik in der EU: Deutschland steht, wie alle Mitgliedstaaten der EU, vor zwei methodischen Aufgaben . In zwei Jahrzehnten haben wir gelernt: Es geht um die Harmonisierung der nationalen mit der europäischen Rechtsordnung . Sie stammen von unterschiedlichen Normsetzern, aus unterschiedlichen nationalen Geschichten, Rechtskulturen, Vorverständnissen und methodischen Traditionen . Wir brauchen eine verlässliche, europa-kompatible juristische Methodenlehre . Sie ist eine Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit der EU . Wir brauchen eine Methodenlehre für die Praxis, nicht nur für die Rechtswissenschaft . Hinzu kommt die erforderliche kritische Begleitung der Rechtsprechungspraxis des EuGH und des MRGH . Mein Fazit in zehn Hypothesen:

1 . 2 .

3 .

4 . 5 . 6 .

Juristische Methoden sind in der Jurisprudenz wie in der Justiz zeitbedingte Erzeugnisse von Sozialisationskohorten . Ihre Prägefaktoren sind oft der Zeitgeist und die jeweilige Systemideologie . Alle Interpreten sind an die Verfassung und die geltenden Gesetze gebunden . Das Risiko, dass beide Faktoren zu verfassungswidrigen Verfassungsänderungen verleiten können, betrifft, wie die Beispiele zeigen, alle Verfassungsorgane . In der Erfassung der jeweiligen Problemlagen ist die gesellschaftliche, betriebliche und Unternehmenspraxis den staatlichen Instanzen regelmäßig weit voraus . Die Gerichte werden mit den jeweiligen Umbrüchen und Veränderungen der Strukturen konfrontiert, bevor die Gesetzgebung und oft auch die Exekutive reagieren können . „Das Richterrecht bleibt (auch im Verfassungsrecht! B . R .) unser Schicksal “ (Gamillscheg) . Realistisch gesehen, könnte Art . 97 Abs . 1 des Grundgesetzes lauten: „Die Richter sind unabhängig, nur dem Gesetz und dem Zeitgeist unterworfen .“ Das Vorgetragene sind Hypothesen, keine erwiesenen „wissenschaftlichen Wahrheiten“ . Es sind Meinungen, die sich aus Erfahrungen von sechs Jahr-

Verfassungsänderungen durch Zeitgeister, Medien, Rechtsprechung oder den einfachen Gesetzgeber?

7 .

8 . 9 . 10 .

zehnten in dieser Materie gebildet haben, also nur der letzte Stand meiner möglichen Irrtümer . Der kontroverse Diskurs ist der verlässlichste Motor des Erkenntnisfortschritts in allen Lebensbereichen, besonders in der Jurisprudenz . Sie kennt in Wertungsfragen keine ‚Wahrheiten‘, sondern nur Meinungen, „Vertretbarkeiten“, „Angemessenheiten“ . Wer diesen Diskurs sucht und praktiziert, gilt oft als „Polemiker“ . Das führt zu einer Verarmung und Lähmung der gesellschaftlichen wie der juristischen „Erinnerungskultur“, zur Pflege falscher Geschichtsbilder und zur Bremse für den Erkenntnisfortschritt . Die juristische Methodenlehre ist das unverzichtbare Handwerkszeug zur Kontrolle und Selbstkontrolle der Gerichte für eine verfassungsgemäße Rechtsanwendung . Juristische Methodenlehre und Methodenehrlichkeit sind unerlässliche Prüfsteine und „Warnlampen“ rechtsstaatlicher und verfassungsgemäßer Rechtsanwendung . Auch oberste Gerichte können irren . Aber sie irren rechtskräftig . Das erfordert notwendig die kritische wissenschaftliche Begleitung ihrer Entscheidungen . Schlussbemerkung

Der liberale Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr 70 Jahre alt . Er ist nach den Katastrophen, die wir im letzten Jahrhundert erlebt haben, ein Glücksfall . Die heutige Generation weiß überwiegend nicht und kann sich auch nicht vorstellen, aus welchen realen, ökonomischen, sozialen, politischen und moralischen Trümmerlandschaften dieses heute blühende, für Migrationsströme attraktive Staatswesen entstanden ist . Seine Stabilität, seine Bewährung und internationale Akzeptanz verdankt es den Grundregeln der Demokratie und des Rechtsstaates . Wir sollten diese Ordnung gegen die drohende, oft schleichende Erosion entschlossen verteidigen .

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Beziehungsprobleme Überlegungen zur Theorie des Fehlerkalküls* JAKOB FAIG (Berlin)

Bezugspunkt der folgenden Überlegungen ist der von Adolf Julius Merkl geprägte Begriff des Fehlerkalküls . Damit beschrieb Merkl erstmals1 1923 in seiner Schrift zur „Lehre von der Rechtskraft“ das Phänomen der rechtlich vorgesehenen Verbindlichkeit rechtswidriger Rechtsakte .2 Insofern das Recht rechtswidrige Rechtsakte trotz ihrer Fehlerhaftigkeit mit Verbindlichkeit ausstattet, zieht es Fehler gleichsam ‚ins Kalkül‘ – so viel zur Terminologie . Das im deutschen Recht bekannteste und zugleich sehr einleuchtende Beispiel dürfte die Regelung des § 44 Abs . 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) sein, wonach bestimmte Fehler eines Verwaltungsakts nicht zu dessen Nichtigkeit und damit Unwirksamkeit führen . Bei dem hier unternommenen Versuch, das im Begriff des Fehlerkalküls Begriffene freizulegen, stehen zwei zwar zu unterscheidende, nicht aber unabhängig voneinander zu beantwortende Fragen im Vordergrund . Erstens geht es um die Frage, was mit der Theorie des Fehlerkalküls unter einem rechtlichen Fehler verstanden werden kann . Ausgehend von der Rechtswissenschaftstheorie der Reinen Rechtslehre und Merkls Begriff des Fehlerkalküls wird hierzu die Rechtsakte qualifizierende Beziehung dieser Akte zum Rechtssatz als Beziehung zwischen den Ansichten verschiedener Menschen aufzulösen sein . Die sodann in einem zweiten gedanklichen Schritt vorzunehmende Der Vortragstext wurde, soweit dies der Lektüre nicht hinderlich erschien, beibehalten . Die Behandlung des zugrundeliegenden Problems beginnt bei Merkl freilich deutlich früher, vgl . schon Adolf Julius Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, in: Dorothea Mayer-Maly u . a . (Hg .), Gesammelte Schriften, Bd . 1, Teilbd . 1, 1993, 227–252 (252 und passim); ders ., Zum Problem der Rechtskraft in Justiz und Verwaltung, in: Dorothea Mayer-Maly u . a . (Hg .), Gesammelte Schriften, Bd . 1, Teilbd . 1, 1993, 267–279 (278 f .); ders ., Die gerichtliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen, Österreichisches Zentralblatt für die juristische Praxis 39 (1921), 569–609 . 2 Vgl . Adolf Julius Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft entwickelt aus dem Rechtsbegriff, 1923, 275–302 . * 1

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Jakob Faig

Behandlung des Kalküls verortet das Recht als Ganzes in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen und beschreibt es als eine Form des Umgangs mit darin auftretenden Problemen . Dies möge als Vorbereitung des nun folgenden Versuchs einer Darstellung des zugleich Problematischen und Lohnenden einer Beschreibung rechtlicher Phänomene als „Fehlerkalkül“ genügen . Theoretische Grundlage der Darstellung ist die Reine Rechtslehre . I.

Der Einleitung diene die folgende Stelle aus Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“: „Sie haben noch keinen Einblick bekommen“, sagte ernst der Vorsteher, „und ich kann Ihnen weiter erzählen . […] Es ist ein Arbeitsgrundsatz der Behörde, daß mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht gerechnet wird . Dieser Grundsatz ist berechtigt durch die vorzügliche Organisation des Ganzen, und er ist notwendig, wenn äußerste Schnelligkeit der Erledigung erreicht werden soll . […] .“ „Erlauben Sie, Herr Vorsteher, daß ich Sie mit einer Frage unterbreche“, sagte K ., „erwähnten Sie nicht früher einmal eine Kontrollbehörde? Die Wirtschaft ist ja nach Ihrer Darstellung eine derartige, daß einem bei der Vorstellung, die Kontrolle könnte ausbleiben, übel wird .“ „Sie sind sehr streng“, sagte der Vorsteher . „Aber vertausendfachen Sie Ihre Strenge, und sie wird noch immer nichts sein, verglichen mit der Strenge, welche die Behörde gegen sich selbst anwendet . Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen . Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden . Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, daß es ein Fehler ist .“ „Das wäre etwas völlig Neues!“ rief K . „Mir ist es etwas sehr Altes“, sagte der Vorsteher . „Ich bin nicht viel anders als Sie selbst davon überzeugt, daß ein Fehler vorgekommen ist, und Sordini ist infolge der Verzweiflung darüber schwer erkrankt, und die ersten Kontrollämter, denen wir die Aufdeckung der Fehlerquelle verdanken, erkennen hier auch den Fehler . Aber wer darf behaupten, daß die zweiten Kontrollämter ebenso urteilen und auch die dritten und weiterhin die anderen?“ „Mag sein“, sagte K ., „in solche Überlegungen will ich mich doch lieber nicht einmischen, auch höre ich ja zum erstenmal von diesen Kontrollämtern und kann sie natürlich noch nicht verstehen . Nur glaube ich, daß hier zweierlei unterschieden werden müsse: nämlich erstens das, was innerhalb der Ämter vorgeht und was dann wieder amtlich so oder so aufgefaßt werden kann, und zweitens meine wirkliche Person, ich, der ich außerhalb der Ämter stehe und dem von den Ämtern eine Beeinträchtigung droht, die so unsinnig

Beziehungsprobleme

wäre, daß ich noch immer an den Ernst der Gefahr nicht glauben kann . Für das erstere gilt wahrscheinlich das, was Sie, Herr Vorsteher, mit so verblüffender, außerordentlicher Sachkenntnis erzählen, nur möchte ich aber dann auch ein Wort über mich hören .“3

II. 1.

„Fehler kommen ja nicht vor“

Dass wir heute überhaupt über rechtliche Fehler sprechen, ist nicht selbstverständlich . Historisch gesehen ist die Vorstellung, dass rechtliche und insbesondere gerichtliche Entscheidungen fehlerhaft sein können, der Zwischenstand einer Entwicklung, die eng mit der Entwicklung des Rechts und der Rechtsverfahren selbst zusammenhängt . Peter Oestmann hat das anhand der Entwicklung der Rechtsmittel im Zivilrecht anschaulich dargestellt .4 Danach ging es in den sogenannten dinggenossenschaftlichen Verfahren des Mittelalters zwar um die Feststellung von Recht und Unrecht; dass diese Feststellungen aber an materiellen Maßstäben zu messen – und damit möglicherweise auch fehlerhaft – sein könnten, war nicht denkbar . Es ging für die Parteien um im Prozess selbst durch Eidesleistung zu erlangende persönliche Anerkennung, nicht um Beweise von dem Prozess vorausliegenden Tatsachen . Das rechtliche Verfahren war sich selbst genug und endete mit einer konsentierten Entscheidung . Rechtsmittel im Sinne einer nachträglichen Überprüfung der Entscheidung gab es folglich nicht .5 Im kanonischen Recht wurden die in den dinggenossenschaftlichen Verfahren üblichen Eide verboten und so der Weg geebnet für auf Tatsachenermittlungen gründende Entscheidungen, die sich dann in Rechtsmittelverfahren zumindest an der Wahrheit der jeweiligen Tatsachen messen lassen mussten . Dazu wurde die Tatsachenermittlung dokumentiert und in Akten dem überprüfenden und damit übergeordneten Gericht zur Verfügung gestellt . Die Maßstäbe kamen aus den großen Überlieferungen, den beiden Corpora, die an der Universität in Bologna gelehrt wurden . Mit der Einführung der Rechtsmittel, der Bindung an Wahrheit und folglich der Möglichkeit von Fehlern wurde das Recht gleichsam wissenschaftlich .6 Erst im Laufe der Zeit erhielt die Allgemeinheit Zugang zu den Gerichtsverfahren und wurden die die Entscheidungen tragenden Begründungen veröffentlicht,7 das Franz Kafka, Das Schloß, Frankfurt a . M . 2006, 75–77 . Peter Oestmann, Die Entwicklung moderner Instanzenzüge und Rechtsmittel, in: Juristische Studiengesellschaft (Hg .), Jahresband 2015, 2016, 103–126 . 5 Vgl . Oestmann (Fn . 4), 104–109 . 6 Vgl . zum Vorhergehenden Oestmann (Fn . 4), 114–117, 122 . 7 Vgl . nochmals Oestmann (Fn . 4), 124 f .; zur Geschichte der Begründungspflicht vgl . auch Rainer Sprung, Die Entwicklung der zivilgerichtlichen Begründungspflicht, in: ders . / Bernhard König (Hg .), Die Entscheidungsbegründung, 1974, 43–62 . 3 4

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Jakob Faig

Recht damit gleichsam öffentliches Recht . Gewalt provozierende Konflikte wurden sämtlich gerichtlich und mithilfe des Rechts zu klären versucht, das Recht damit zudem potentiell lückenlos und umfassend .8 Es entwickelte sich dann auch im Verwaltungs- und Strafrecht9 der heute bekannte dreistufige Instanzenzug . Diese Konstellation bildet die Grundlage der heutigen Rechtswissenschaft10 und auch der Merkl’schen Betrachtungen . Dass rechtliche Entscheidungen fehlerhaft sein können, scheint nunmehr selbstverständlich . 2.

„Wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist.“

Dass es das – nun in theoretischer Hinsicht – gleichwohl nicht ist, deutet der Umstand an, dass wenige Fragen in den Grabenkämpfen der Rechtswissenschaft so umstritten waren und vielleicht auch noch sind wie die danach, ob und in welchem Sinne es Fehlurteile gibt .11 Ihren Ausgang nimmt die Behandlung der Problematik häufig bei der Betrachtung von sogenannten Letztentscheidungen,12 rechtlichen Entscheidungen, deren Qualität nicht mehr Gegenstand der Beurteilung weiterer rechtlicher Entscheidungen ist . Während die Frage, ob eine rechtliche Entscheidung fehlerhaft ist, in allen anderen Fällen an die darüber entscheidende Stelle delegiert werden kann, behilft sich die Theorie in diesen Fällen mit der Berufung auf die rechtswissenschaftliche Intuition oder die Beschreibung rechtlicher Fehlerhaftigkeit als „fehlendes Deckungsverhältnis von Norm und Tatbestand“13 . Damit wird, was rechtliche Fehlerhaftigkeit ausmachen könnte, als selbstverständlich vorausgesetzt . Und das dürfte für eine an die Idee des materiellen Zur Entwicklung und Begründung des sogenannten Rechtsverweigerungsverbots vgl . Ekkehard Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 81 (1968), 79–102 . 9 Vgl . zur Entwicklung der Rechtsmittel im Strafrecht weiterführend Roger Berkowitz, Truth and Error: Legal Error and the Uniquely American Doctrine of Habeas Corpus, in: André Gouron u . a . (Hg .), Error iudicis, 1998, 39–74 (insb . 45–50, 63–71) . 10 Vgl . zu diesem Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit rechtlicher Verfahren und sich als rechtswissenschaftlich verstehendem Arbeiten Benjamin Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode, 2011, 126–130 . 11 Überblicksweise zu den „Leugnern des Fehlurteils“ Ekkehard Schumann, Fehlurteil und Rechtskraft, in: Karl August Bettermann / Albrecht Zeuner (Hg .), Festschrift für Eduard Bötticher, 1969, 289–320; jüngst zum rechtsdogmatischen Status des Fehlurteils Kyriakos N . Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht, JZ 72 (2017), 123–132 . 12 Vgl . Johannes Buchheim, Fehlerkalkül als Ermächtigung?, Rechtstheorie 45 (2014), 59–78, der sich auch mit der prominenten Behandlung der Problematik anhand letztverbindlicher Entscheidungen bei H . L . A . Hart, The Concept of Law, 3 . Auflage 2012, 141–147, dort unter der Überschrift „Finality and Infallibility in Judicial Decision“, auseinandersetzt . 13 Ernst von Hippel, Untersuchungen zum Problem des fehlerhaften Staatsakts, 1924, 3; ähnlich sprechen von fehlender „Entsprechung“ auch Hans Kelsen, Über Staatsunrecht, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 40 (1914), 1–114 (47 f .); Adolf Julius Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Dorothea Mayer-Maly u . a . (Hg .), Gesammelte Schriften, Bd . 1, Teilbd . 1, 1993, 437–492 (490) . 8

Beziehungsprobleme

Rechts gewöhnte Rechtswissenschaft, die einfach selbst versteht, auch nicht weiter problematisch sein . Innerhalb der hier als Bezugspunkt gewählten Reinen Rechtslehre führt ein solches Verständnis aber zu Friktionen; hat diese doch das Recht als Entscheidungsordnung identifiziert, in der Fragen von Recht und Unrecht nur im Recht und das heißt: von rechtlich dazu ermächtigten Stellen entschieden werden .14 Vor diesem Hintergrund ist es, wie Kelsen in seinem frühen Beitrag „Über Staatsunrecht“ schreibt, „im Grunde genommen unrichtig, wenn man bei theoretischer Behandlung des Problems des fehlerhaften Staatsakts stets von der stillschweigenden Voraussetzung ausgeht, daß der fragliche Fehler mit absoluter Sicherheit festgestellt und feststellbar ist“15 . Verdeutlicht werden kann das dahinterliegende Problem auch jenseits des Horizonts der Reinen Rechtslehre an einem Beispiel aus dem deutschen Recht . Hält ein Gericht ein für eine Entscheidung erhebliches formelles nachkonstitutionelles Gesetz für verfassungswidrig – und damit nach herrschender Ansicht für nichtig –, darf es das vermeintlich nicht geltende Gesetz nicht außer Anwendung lassen, ohne dazu zuvor das Bundesverfassungsgericht befragt zu haben . Der theoretisch interessante Fall ist der, in dem das Bundesverfassungsgericht das Gesetz daraufhin für verfassungsgemäß erklärt .16 Da diese Entscheidung unanfechtbar ist, muss das vorlegende Gericht nun entweder annehmen, das Bundesverfassungsgericht habe ein Gesetz oder einen dem hinsichtlich seiner Wirkungen gleichkommenden Rechtsakt erlassen – ein dogmatisches Problem, das § 31 BVerfGG löst – oder es selbst habe sich geirrt . Letzteres aber könnte in dieser Situation nicht anders begründet werden als damit, dass eben anders entschieden worden ist . Entscheidet also das Bundesverfassungsgericht, was richtig ist?17 Der Begriff der Entscheidungsordnung kommt in den Schriften Kelsens so nicht vor, und was der sehr verwandte Begriff der „Rechtsdynamik“ bei Kelsen bedeutet, ist unter den Interpreten der Reinen Rechtslehre sicher alles andere als unumstritten . Pars pro toto sei hier eine für den hiesigen Zusammenhang besonders prägnante Stelle aus Hans Kelsen, Reine Rechtslehre Studienausgabe der 2 Auflage 1960, hg . von Matthias Jestaedt, 2017, 428 f . zitiert: „Vom Standpunkt der durch Menschen anzuwendenden Rechtsordnung kommen nur Meinungen von Menschen darüber in Betracht, ob ein bestimmter Mensch einen bestimmten Mord begangen hat . […] Wenn die generelle Rechtsnorm angewendet werden soll, kann nur eine Meinung gelten . Welche, das muß durch die Rechtsordnung bestimmt werden . Es ist die Meinung, die in der Entscheidung des Gerichtes zum Ausdruck kommt .“ 15 Kelsen (Fn . 13), 92 . 16 Durch die Möglichkeit, zweifelhafte Gesetze dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, ist das Konfliktpotential soweit und solange entschärft, wie niemand bezweifelt, dass jedenfalls eine positive Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Befolgungspflicht begründet . Das stellt auch Philipp Reimer, Die Unabhängigkeit von Rechtswirksamkeit und Rechtmäßigkeit, Rechtstheorie 45 (2014), 383–414 (405 f .) dar . Gerade hier entfaltet das Recht als Entscheidungsordnung seine Funktion . Auch in diesen Fällen aber ist das Gesetz aus Sicht des vorlegenden Gerichts gleichsam „unerkannt“ – nämlich durch das Bundesverfassungsgericht unerkannt – „verfassungswidrig“ (vgl . Reimer a . a . O ., 405) und das erst ist für mich der Punkt, an dem die theoretischen Herausforderungen der Fehlerkalkültheorie anfangen . 17 Der hier skizzierte theoretische Konflikt kreist dogmatisch um das sogenannte Nichtigkeitsdogma . Dazu vgl . m . w . N . Reimer (Fn . 16), 404 Anm . 102 . 14

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Jakob Faig

Die entscheidende Frage – so hat es auch Kafka formuliert – wird sein: „Wer darf denn endgültig sagen, dass ein Fehler vorliegt?“ Und die Antwort, die das Recht hinsichtlich letztgültiger Entscheidungen vorzugeben scheint, ist: niemand . Merkl hat das Problem genauso gesehen und eine andere, aber nur auf den ersten Blick verblüffend einfache, Antwort . In seinem Buch zur Rechtskraft schreibt er: „Die ewige Zweifelsfrage: was ist Wahrheit? läßt sich zwar nicht materiell, aber formell […] dahin beantworten: Recht ist, was die Rechtswissenschaft als wahr erkennt .“18

Indem Merkl auf die Frage „Was ist Wahrheit?“ mit „was die Rechtswissenschaft […]“ antwortet, deutet er die materielle „Was-Frage“ in eine formelle „Wer-Frage“ um und vollzieht damit eine Einsicht, die die Philosophie seit langem prägt: dass alles, was ist, nur als – von jemandem – Gewusstes ist .19 An seiner Antwort dürfte indes auch nur die so umformulierte Frage richtig sein . Wer oder besser: was die Rechtswissenschaft ist – Merkl beschreibt sie als „kollektives Phänomen“20 – wird wiederum als selbstverständlich vorausgesetzt . Wendet man die formelle Wendung der materiellen Frage hingegen auf Merkls Antwort selbst an und sucht nach einer apodiktischen,21 nach einer selbst-verständlichen Antwort, dann kann diese nur lauten: ich – Recht ist, was ich als Recht erkenne . Und das gilt dann natürlich genauso für das Unrecht . Dieses Ergebnis sachlich zu wenden und die von Merkl nur angedeutete, aber nicht ausformulierte individualistische Erkenntnistheorie des Rechts zu entwickeln, ist ein weiterer großer – hier nicht gangbarer – Schritt; er setzt insofern eine Theorie der Intersubjektivität voraus, als erklärt werden muss, warum und wie es neben mir noch andere und individuelle Ichs, andere Individuen mit einem gleichwertigen Erkenntnisanspruch geben kann . Dies vorausgesetzt kommt es hier als Konsequenz des zuvor Dargestellten aber auch nur auf so viel an: wenn – und das ist eben nicht selbstverständlich – das Recht als eine Frage der Wahrheit, als ein Gegenstand der Erkenntnis und des Wissens verstanden wird, dann ist die Antwort auf die Frage „Wer darf denn endgültig sagen, dass ein Fehler vorliegt?“ prinzipiell: jeder . Das ist vielleicht die Idee der Rechtserkenntnis, die Idee des materiellen Rechts . Sie erscheint selbst als eine Art formellen Rechts: als Kompetenz des Individuums, selbst über Recht und Unrecht zu entscheiden .

Merkl (Fn . 2), 289 f . Vgl . an diesen Gedanken anknüpfend Alexander Somek, The Legal Relation, 2017, 84; ders ., Wissen des Rechts, 2018, 25; vgl . dazu als Grundgedanken einer transzendentalen Phänomenologie, ohne dass eine solche hier umfassend in Anspruch genommen werden sollte und könnte, Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 2012, 65 . 20 Merkl (Fn . 2), 286 Anm . 1 . 21 Auch dieser Gedanke gleicht jenem einer sogenannten „transzendental-phänomenologischen Reduktion“, vgl . Husserl (Fn . 19), 22 . 18 19

Beziehungsprobleme

3.

„Das wäre etwas völlig Neues!“

An dieser Stelle könnte man mit K . ausrufen: „Das wäre etwas völlig Neues!“ Und es ist nicht allzu verwunderlich, dass diese Konsequenz der Idee der Rechtserkenntnis beim Rechtstheoretiker Kelsen Verwunderung auslöste . So schrieb er in seinem bereits zitierten Aufsatz über das Staatsunrecht: „Ja man kann sagen, daß das Wesen der staatlichen Autorität, der Sinn der Unterwerfung des Individuums unter den Staat nicht so sehr in der Ausübung der staatlichen Zwangsgewalt, als vielmehr, ja vielleicht ausschließlich in dieser Unterordnung nicht des Einzelwillens, sondern des individuellen Denkens, des Urteiles gelegen ist . Denn solange es dem Individuum oder der freien Gesellschaft vorbehalten bleibt, festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Äußerung der Staatsgewalt im Einzelfall gegeben sind, ob der Wirklichkeitstatbestand mit dem von der Rechtsordnung – die ja auch nur das Individuum, die freie Gesellschaft aufgestellt hat – vorausgesetzten Tatbestande übereinstimmt, solange ist im Grunde genommen das Individuum über den Staat gestellt .“22

Die formelle Wendung des materiellen Rechts tritt scheinbar in Konflikt mit dem formellen Recht, sie riecht nach Anarchie, nach Ur- und Ausnahmezustand . Und dass es zur Auflösung dieses Zustands darauf ankäme, Entscheidungen über Recht und Unrecht nicht selbst zu treffen, sondern anderen oder einem anderen zu überlassen, das gehört zu den klassischen Figuren der politischen Theorie: Autorität, nicht Wahrheit, macht das Recht .23 a)

„[…] was innerhalb der Ämter vorgeht und was dann wieder amtlich so oder so aufgefasst werden kann“

In Entsprechung seines anderen wichtigen Schülers Fritz Sander und dessen Verfahrenstheorie des Rechts24 legt Kelsen diese Einsicht seiner Theorie der Rechtswissenschaft zugrunde . Und es gehört – wie angedeutet – sicher zu den größten Verdiensten der Reinen Rechtslehre, das Recht konsequent als Entscheidungsordnung beschrieben zu haben . Dabei geht Kelsen zwar hinter die Einsicht in die Subjektivität der Erkenntnis nicht prinzipiell zurück, beantwortet die danach in eine „Wer-Frage“ zu wendende Frage

Kelsen (Fn . 13), 93 . „Autoritas, non veritas facit legem“, Thomas Hobbes zitiert nach Carl Schmitt, Politische Theologie, 9 . Aufl . 2009, 39 . 24 Vgl . z . B . Fritz Sander, Die transzendentale Methode und der Begriff der Rechtserfahrung, in: Stanley L . Paulson (Hg .), Die Rolle des Neukantianismus in der Reinen Rechtslehre, 1988, 75–114 (90 f .); ders ., Rechtsdogmatik oder Theorie der Rechtserfahrung?, a . a . O ., 115–278 (206 f .) . 22 23

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nach dem „Was“ des Rechts aber mit dem Verweis auf das rechtliche Entscheidungsverfahren . Recht ist danach, was das Recht – und das heißt: das rechtlich zuständige Organ – als Recht erkennt .25 Wer die Frage nach dem Recht so beantwortet, setzt die wissenschaftliche oder individuelle Entscheidung für die Delegation der Rechtserkenntnis als etwas Vor-Rechtliches voraus und entkoppelt gleichzeitig das so erfasste Recht von seiner Begründung .26 Das materielle Recht spielt in dieser Theorie nur als Möglichkeit der Sanktion durch eine weitere rechtliche Entscheidung und damit als Beziehung der Rechtsorgane untereinander eine Rolle . Wo es ein weiteres Rechtsverfahren nicht mehr gibt, hat nicht nur das rechtliche Verfahren, sondern hat auch das Recht ein Ende . Rechtliche Fehler gibt es dann nicht mehr . Fast wie in den dinggenossenschaftlichen Verfahren ist letztlich alles Recht Verfahrensrecht oder – um wieder mit Kafka zu sprechen – „was innerhalb der Ämter vorgeht und was dann wieder amtlich so oder so aufgefasst werden kann .“ Diese Theorie der Rechtswissenschaft hat Christoph Kletzer treffend als „absoluten Positivismus“27 bezeichnet . Ihr Kernanliegen ist das Spezifische des Rechts auch der Rechtswissenschaft zugrunde zu legen und das scheint eben dies zu sein: einen anderen entscheiden zu lassen . Natürlich lassen sich auch letztgültige rechtliche Entscheidungen noch als falsch kritisieren . Aber die mit dieser Kritik identifizierten Fehler wären für diese Theorie keine spezifisch rechtlichen . Will die Rechtswissenschaft spezifisch rechtswissenschaftlich arbeiten, „Rechtssätze“28 auf-, statt eigene und damit nicht-rechtliche Ansprüche an das Recht zu stellen, ist sie auf den „intentionalen Nachvollzug“29 der die Rechtsverfahren abschließenden Entscheidungen verwiesen oder – wie Alexander Somek in diesem Kontext formuliert hat – das Wissen des Rechts durch das Recht .30

Vgl . oben Fn . 14 . Zur Opposition zwischen der an Sander anlehnenden Variante der Reinen Rechtslehre und der Theorie Merkls vgl . instruktiv Alfred Verdross, Eine Antinomie der Rechtstheorie, in: Hans Klecatsky u . a . (Hg .), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd . 2, 1968, 1375–1380 . 26 Die Frage nach dem Warum des Obs der Delegation ausgeklammert, kann diese Abkoppelung auch mit den prägnanten Worten Carl Schmitts beschrieben werden (Fn . 23), 37: „Die Entscheidung wird im Augenblick unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert .“ und 19: „[…] die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht .“ Aus einer etwas anderen Perspektive kann das dieserart unter einer Voraus-Setzung stehende Recht auch als „eingeklammertes“ Recht beschrieben werden, vgl . Husserl (Fn . 19), 21 f .; ähnlich Somek, Relation (Fn . 19), 95 („bracketing“) . 27 Vgl . Christoph Kletzer, Absolute Positivism, Netherlands Journal of Legal Philosophy 42 (2013), 87–99; jüngst auch monographisch Christoph Kletzer, The Idea of a Pure Theory of Law, 2018, 117–137 . 28 Zu diesem für die Verhältnisbestimmung von Rechtswissenschaft und Recht in der Reinen Rechtslehre zentralen Begriff vgl . Kelsen (Fn . 14), 141–148 . 29 Volker Gerhardt, Die Macht im Recht, in: Werner Krawietz / Helmut Schelsky (Hg .), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, 1984, 485–519; vgl . auch Fritz Sander, Kelsens Rechtslehre, 1923, 168 . 30 Vgl . Somek, Relation (Fn . 19), 80 . 25

Beziehungsprobleme

b)

Das Recht der Rechtswissenschaft: die Theorie des Fehlerkalküls

Hier liegt der zentrale Unterschied zwischen Kelsens und Merkls Rechtswissenschaftstheorien, die im Begriff der sogenannten Alternativen Ermächtigung31 einerseits und dem Begriff des Fehlerkalküls andererseits ihre Kristallisationspunkte haben . Dabei rüttelt Merkl zunächst nicht an der Annahme, dass es wesentlich für das Recht sei, über streitige Fragen einen anderen entscheiden zu lassen . Anders gesagt: auch bei Merkl gibt es formelles Recht . Das wird deutlich, wenn er nicht nur materiell-rechtliche Regelungen wie § 44 Abs . 3 VwVfG, sondern auch all jene Regelungen als Fehlerkalkül bezeichnet, die die Entscheidung über Fragen der Geltung und Qualität von Rechtsakten einem bestimmten Rechtsorgan zuweisen .32 In einem Aufsatz zum Justizirrtum schreibt Merkl: „Der typischste und gebräuchlichste Fehlerkalkül ist das Rechtsmittel .“33 Aber ob der Andere, das ist das für die Entscheidung über das Rechtsmittel zuständige Organ, richtig entschieden habe? – das zu beurteilen bleibt den Erkenntnissen der Rechtswissenschaft vorbehalten . Die Rechtswissenschaft erscheint bei Merkl damit gleichsam in einer zwischen materiellem und formellem Recht entzweiten Gestalt: Einerseits erhebt sie den Anspruch auf eine zutreffende Erkenntnis des Rechts, andererseits lässt sie die in den Rechtsverfahren getroffenen Entscheidung auch dann als Recht gelten, wenn sie von ihr als fehlerhaft erkannt wurden . Das könnte man als Theorie lediglich der Wissenschaft vom Recht verstehen und den Fehlerkalkül als Instrument der Versöhnung der Geltungsansprüche der Rechtswissenschaft mit der wirksamen Rechtspraxis . Als Wissenschaftler wird Merkl selbst die Erfahrung gemacht haben, sich aus der sicheren Distanz der Universität mit Kritik auch an als letztverbindlich anerkannten gerichtlichen Entscheidungen nicht zurückhalten zu müssen . Aus dieser Distanz heraus ist immer der Gedanke möglich, dass das Recht ‚eigentlich‘ ganz anders sei, als es in den Rechtsverfahren entschieden wurde . Sie ermöglicht der Rechtswissenschaft damit auch die Formulierung normativer Unterscheidungen wie jener gerade im hiesigen Kontext relevanten zwischen rechtlichem Können und Dürfen, das heißt zwischen dem für die Rechtserzeugung Notwendigen und bloß Fakultativen .34 Indem nach Merkl der Rechtswissenschaft dabei aber auch die Bestimmung der Grenzen des rechtlichen Könnens, und das heißt: auch des formellen Rechts, überantwortet ist, und sie insbesondere vermeintlich letztverbindliche

Zu diesem Konzept vgl . jüngst Patrick Hilbert, Fehlerkalkül oder Alternativbestimmung – zu den Strategien der Geburtshilfe im Stufenbau der Rechtsordnung, ZöR 72 (2017), 549–576 . 32 Vgl . Merkl (Fn . 2), 293 f .; ders ., Prüfung (Fn . 1), 578 . 33 Adolf Julius Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit, in: Dorothea Mayer-Maly u . a . (Hg .), Gesammelte Schriften, Bd . 1, Teilbd . 1, 1993, 369–384 (376) . 34 Siehe dazu die differenzierte Ausarbeitung dieser Unterscheidung bei Reimer (Fn . 16); ders ., Können und Dürfen, Rechtstheorie 48 (2017), 417–439 . 31

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Jakob Faig

Akte als bloß scheinbare Rechtsakte, das heißt als absolut nichtig,35 aus dem Recht ausgrenzen kann, wird deutlich, dass hier in der Formulierung einer Theorie der Erkenntnis des Rechts auch eine Theorie des Rechts vorliegt .36 Ihre rechtliche Qualität erlangen Entscheidungen danach nämlich nur in ihrer Deutung durch die Wissenschaft . Die Beziehung zum Rechtssatz ist hier eine Beziehung zur Rechtswissenschaft . Während diese bei Kelsen zwar feststellen kann, dass eine Entscheidung – z . B . in der Form eines Gesetzes, das heißt mit der Behauptung ihrer eigenen Verbindlichkeit – getroffen wurde, nicht aber, was diese für die weiteren zu treffenden Entscheidungen bedeutet – denn diese Frage ist ja dem Rechtsverfahren überlassen und die Rechtswissenschaft insofern darauf beschränkt festzustellen, was im Rechtsverfahren faktisch nicht mehr in Frage gestellt werden wird, was gerade bei abstrakt-generellen Gesetzen regelmäßig nicht viel mehr sein dürfte als deren Text –; während also bei Kelsen die Rechtswissenschaft in der Interpretation nichts zu sagen hat, ist bei Merkl gerade diese ihre Aufgabe .37 Und dort, wo am Ende des Instanzenzugs die Rechtswissenschaft darüber entscheidet, ob sie die im Rechtsverfahren getroffene Entscheidung gelten lässt, geht das Rechtsverfahren gleichsam weiter . Hier wird die Rechtswissenschaft selber zum Rechtsorgan oder – im Kontext der damaligen Diskussion –: zur Rechtsquelle .38 Der zentrale Aspekt dieser Einbeziehung der Rechtswissenschaft in das Recht dürfte sein, dass jene dabei zur Quelle der Normativität des Rechts wird . Denn wie das Verschwinden rechtlicher Fehler am Ende des rechtlichen Verfahrens im „absoluten Positivismus“ Kelsens zeigt, ist Normativität nur in Beziehungen zu denken, in denen zwei oder mehr Unterschiedene aufeinandertreffen . Anders als bei Kelsen bleibt bei Merkl die Normativität des Rechtsverfahrens als Ganzem dem Recht nicht fremd, die Kritik der Rechtswissenschaft an letztverbindlichen Entscheidungen ist nicht bloß Politik oder Moral . Sondern durch die Entzweiung der Rechtswissenschaft, die in dem, was sie als Recht erkennt, zwischen formeller Entscheidungsdelegation – das heißt dem Rechtsverfahren im engeren Sinne – und materiellem Rechtserkenntnisanspruch – mit dem die Rechtswissenschaft selbst als Teil des Rechtsverfahrens auftritt – unterscheidet, holt sie die Normativität des Rechts gleichsam ins Recht hinein – gemeinsam mit der mangelhaften Wirklichkeit .39

In der Frage der Möglichkeit absoluter Nichtigkeit scheiden sich daher die Theorievarianten der Reinen Rechtslehre, vgl . verneinend einerseits Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 277, bejahend andererseits Merkl (Fn . 2), 291 f .; neuerdings zum Problem der absoluten Nichtigkeit Laura Münkler, Der Nichtakt, 2015 . 36 Das kann schon an der formellen Wendung der Was-Frage nach dem Recht, die oben dargestellt wurde, deutlich gemacht werden . 37 Vgl . zu Merkls Behandlung des Interpretationsproblems Adolf Julius Merkl, Zum Interpretationsproblem, in: Dorothea Mayer-Maly u . a . (Hg .), Gesammelte Schriften, Bd . 1, Teilbd . 1, 1993, 63–83 (64) . 38 Vgl . Sander, Rechtsdogmatik (Fn . 24), 216 f . 39 Vgl . ähnlich zum Gedanken der Inklusion des Unrechts in das Recht Ewald Wiederin, Die Stufenbaulehre Merkls, in: Stefan Griller / Heinz-Peter Rill (Hg .), Rechtstheorie, 2011, 81–134 (128 f .) . 35

Beziehungsprobleme

Die Theorie Merkls dürfte ganz gut erfassen, was die Rechtswissenschaft, die wir kennen, tut . Im Rahmen der von ihm beabsichtigten Erkenntnistheorie des Rechts, mit der er das Normativitätsdefizit des „Absoluten Positivismus’“ zu beheben versucht, scheint indes gerade sein – wohl eigentlich fehlender – Begriff der Rechtswissenschaft das Problem zu sein . Das dürfte er selbst geahnt haben, als er in seinem Buch zur Lehre von der Rechtskraft schrieb: „[…] die Möglichkeit, den fehlerhaften Akt trotz seiner Verwirklichung als Scheinakt erkennen und als Justizmord oder Gewalttat brandmarken zu können, bedeutet im Grunde die Aufhebung seiner Autorität, die nicht aus der Wirkung, sondern aus der Geltung quillt . Die Möglichkeit dieser Erkenntnis ist der letzte Rückhalt des Individuums gegenüber dem seine rechtlich gegebene Autorität überspannenden Staat, […] ein Triumph des durch das Kollektivum vergewaltigten Individuums über dieses Kollektivum .“40

Und an späterer Stelle: „Die Rechtswissenschaft ist, vom Standpunkt des Individuums aus gesehen zwar ein kollektives Phänomen, nichtsdestoweniger bedeutet aber unser Rekurs von der Rechtsanwendung an die Rechtswissenschaft […] eine Lösung des Konfliktes in jenem individualistischen Sinne […] . Im Falle des fehlerhaften Staatsaktes ergreift nämlich die Rechtswissenschaft gewissermaßen gegen das von dem Pseudostaatsorgan repräsentierte Kollektivum für das durch den Pseudostaat betroffene, im Namen von Recht und Staat vergewaltigte Individuum Partei .“41

c)

„[…] dann auch ein Wort über mich […]“

Ob die akademische Rechtswissenschaft diese Aufgabe übernehmen kann, ist zweifelhaft . Als zweites dem vermeintlich repräsentierten Individuum gegenübertretendes Kollektivum neben dem Recht ist sie nämlich ebenso wie dieses zur Vergewaltigung des Individuums in der Lage . Auch von dieser – wieder Kafka – „droht eine Beeinträchtigung, die so unsinnig wäre, daß ich noch immer an den Ernst der Gefahr nicht glauben kann .“ Es kann nur spekuliert werden, warum Merkl dachte, das Individuum müsse sich im Streit mit dem Recht von der Rechtswissenschaft vertreten lassen . Auch er wird möglicherweise vor der Konsequenz der Idee der Rechtserkenntnis, wonach diese eine Ermächtigung des Individuums darstellt, zurückgeschreckt sein und eine Auflösung des Rechts befürchtet haben . Die Ermächtigung des Individuums stünde nämlich prinzipiell in Opposition zu jeglicher Autorität – und das ist es ja, was Merkl mit der Rechts-

40 41

Merkl (Fn . 2), 283 f . Anm . 1 . Merkl (Fn . 2), 286 f . Anm . 1 .

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wissenschaft etabliert: eine (weitere) Autorität . Indem er aber die Idee der Rechtserkenntnis derart autoritativ wendet, bleibt er bei deren Entfaltung gleichsam auf halbem Wege stehen – und beraubt damit den Fehlerkalkül seiner Kernfunktion: zwischen Wahrheit und Autorität zu vermitteln . Die Vermutung, dass dies die Kernfunktion des Fehlerkalküls sei, soll hier die folgenden schließenden Überlegungen einleiten . Wenn das Recht als eine Frage der Erkenntnis eines materiellen Rechts verstanden wird, dann heißt das, dass grundsätzlich das Individuum selbst oder eben: jeder entscheiden kann, was Recht sei . Die Gedanken – oder an das staatstragende Zitat Kelsens anlehnend: die individuellen Urteile – sind frei . Bei Kelsen und Merkl wird diese Einsicht aus einer Analyse der Rechtsanwendungssituation gewonnen, in der stets Freiräume für das Für und Wider der unterschiedlichen Meinungen bleiben . Gerade der Bezug auf das materielle Recht legt in der Rechtsanwendungssituation die lediglich faktisch durch Tradition, Bildung und Erziehung begrenzte Unentschiedenheit der unterschiedlichen Perspektiven auf das Recht frei und öffnet das Recht dem juristischen Streit .42 Faktisch realisiert wird diese Öffnung durch die Öffentlichkeit des Verfahrens und der Entscheidungsbegründungen, mit der sich das Recht der Kritik durch Jedermann aussetzt . Mit dem Bezug auf ein materielles Recht wird das Recht zum Verhältnis dieser unterschiedlichen Rechtserkenntnisansprüche zueinander, oder anders gesagt: zu einer Beziehungssache und unvermeidlich auch immer wieder zu einem Beziehungsproblem . Fehler sind überall dort nicht zu vermeiden, wo eine Einigung in der Sache nicht zu erzielen ist . Dass die Fragen des materiellen Rechts von jedem beantwortet werden können, heißt dabei aber nicht, dass die danach auftretenden Streitfragen auch von jedem entschieden werden dürfen . Zwar ist die Frage nach diesem Dürfen wieder eine, die letztlich jeder selbst beantworten muss, sie spezifisch rechtlich zu beantworten aber heißt – und hier geht es dann um einen normativen Rechtsbegriff –, die Beantwortung der Fragen nach dem, was Recht sei, einem anderen zu überlassen . Dies zu tun und gleichzeitig an dem eigenen Erkenntnisanspruch festzuhalten, bedeutet fehlerhafte Entscheidungen in Kauf zu nehmen und das ist der Fehlerkalkül . Sichtbar wird dies im modernen Recht besonders überall dort, wo dieses subjektive Rechte einräumt, nämlich dem Einzelnen Mitentscheidungsmacht gewährt . So kann der Einzelne Rechtsgeschäfte vornehmen, deren Inhalt er selbst bestimmen soll . Mit welchem Inhalt diese im Streitfall aber gelten, entscheiden andere . Dabei kommt es zu Missverständnissen .43 Das moderne gewaltenteilige Recht belässt es nicht dabei, sondern erlaubt dem Einzelnen, die Aufklärung derartiger Unstimmigkeiten in Das schließt die Annahme der Existenz einer „einzig richtigen Antwort“ nicht ein und bedeutet gerade nicht, dass rechtlich nur gestritten werden könne, weil und insofern es im materiellen Recht eine Lösung gibt; vgl . zu dieser Problematik Ralf Poscher, Wozu Juristen streiten, JZ 68 (2013), 1–11 . Vielmehr ist damit lediglich ausgedrückt, dass im Falle eines – wie auch immer motivierten – Rechtsstreits auch über die Bedeutung von Begriffen des materiellen Rechts gestritten wird und das vor allem heißt, dass Argumente nicht allein deshalb zurückgewiesen werden, weil sie nicht von einer bestimmten Stelle vertreten werden . 43 Vgl . zur Verdeutlichung der Verwandtschaft der von Merkl vorrangig in Bezug auf die Verwaltungs42

Beziehungsprobleme

weiteren Rechtsverfahren anzuregen . Jedermann – so heißt es auch in Art . 93 Abs . 1 Nr . 4a Grundgesetz – kann sich mit der Behauptung, es läge ein Fehler vor, an die Gerichte wenden und „dann auch“ – nochmal Kafka – „ein Wort über sich hören“ . Hier reflektiert das Recht, das heißt: reflektieren sich die rechtlichen Entscheidungsträger gleichsam selbst als Vertreter bloß einer Meinung unter vielen und – so könnte man sagen – nehmen damit auch die Fehlerhaftigkeit der eigenen Entscheidungen in Kauf . Das Recht tritt ein in ein Gespräch unter Gleichen, am Ende aber – so scheint es – lässt man die Ämter entscheiden .44 Für die Reine Rechtslehre in ihrer strengen Formulierung als Verfahrenstheorie ist dabei alles, was über die Entscheidungsdelegation hinausgeht, so weit dem Bereich der Politik oder Moral zuzuweisen wie es nicht objektiv und das heißt als Konsens aller beschrieben werden kann . Nochmals: Am Ende bleibt daher für das Recht nichts als die objektivierende Entscheidung . Für diese Rechtstheorie ist der Fehlerkalkül eine Theorie des Verhältnisses von Recht und Moral . Ob diese Ausgrenzung des materiellen Rechts aus dem Recht für das Anliegen der Reinen Rechtslehre aber notwendig ist, kann mit Merkl in Frage gestellt werden . Vielmehr scheint auch der „absolute Positivismus“ Kelsens lediglich die Zurückweisung eines objektiven oder absoluten moralischen Anspruches zu sein:45 ob überhaupt etwas Recht ist, das muss eben jeder selbst entscheiden, indem er eine Grundnorm voraussetzt . Dann aber spricht für eine reine Rechtslehre nichts dagegen, auch am Ende der rechtlichen Verfahren dem Individuum die Entscheidung über das Recht zu belassen und seine Entscheidung – so wie bei Merkl jene der Rechtswissenschaft – in das Recht hineinzunehmen . So besehen erscheint die Rechtstheorie der Reinen Rechtslehre nicht als „absoluter Positivismus“, sondern eher als etwas wie ein ‚totaler Relationismus‘ . Hier wie dort aber zeigt sich das Recht in seiner rechtlichen Qualität immer gerade darin, dass es am Ende aus einer der vielen Perspektiven – das heißt: relativ46 – falsch ist .

rechtslehre formulierten Problematik mit jener durch die zivilistische Irrtumslehre verarbeiteten Chris Thomale, Kommunizieren – Verstehen – Vertrag(en), Rechtstheorie 44 (2013), 103–123 . 44 Der Vortragsdiskussion verdanke ich den Hinweis, dass im geltenden Recht Rechtsfragen immer wieder – und sei es nur in gegen Richter geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – aufgeworfen werden können, von einer endgültigen Klärung also – wenn überhaupt – immer nur sehr relativ gesprochen werden könne; vgl . ähnlich auch Sander, Transzendentale Methode (Fn . 24), 107 . Meine Vermutung ist, dass die ‚Modernität‘ eines Rechtssystems im hier gemeinten Sinne sich gerade darin zeigt . Faktisch ist aber auch das ‚modernste‘ Rechtssystem darauf angewiesen, dass man Entscheidungen irgendwann ‚gut sein lässt‘ . Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Zeitlichkeit (bzw . Endlichkeit) rechtlicher Verfahren und der Inkaufnahme von Fehlerhaftigkeit, dessen Beschreibung die Theorie des Fehlerkalküls als eine Theorie des Menschlichen des positiven Rechts erscheinen lässt . 45 Vgl . beispielhaft Kelsen (Fn . 14), 128–132 . 46 Im Unterschied zur von Christian Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, beispielhaft 91–93 behandelten sachlichen Relativität von Rechtswidrigkeit, geht es hier also um eine personale Relativität des Urteils über die Rechtswidrigkeit .

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III.

Zusammengefasst: Spätestens seitdem rechtliche Verfahren öffentlich sind und die getroffenen Entscheidungen öffentlich begründet werden, werden diese mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der sie der Kritik von Jedermann aussetzt . Wird Recht als eine Frage von Wahrheit – oder auch: Gerechtigkeit – verstanden, wird es zum Problem des Verhältnisses der unterschiedlichen Wahrheits- beziehungsweise Gerechtigkeitsansprüche, die so zahlreich und unterschiedlich sind wie die Menschen auch . Mit diesen Unterschieden rechtlich umzugehen, heißt nicht, sie aufzulösen und zu einer Einigung zu finden, sondern trotz des Festhaltens an den eigenen Ansichten die davon gegebenenfalls abweichende Entscheidung eines anderen gelten zu lassen . Das Recht erscheint in der Theorie des Fehlerkalküls wesentlich als Kompromiss; nicht ein Mittel zur Vermeidung von Missverständnissen und Fehlern, sondern ein Weg, mit diesen umzugehen .

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül JOHANNES BUCHHEIM (Berlin)

I.

Einleitung

Während sich die Frage, was genau subjektive Rechte seien, seit jeher großer theoretischer und dogmatischer Aufmerksamkeit erfreut, wird die Frage, was subjektive Rechte sollen, notorisch vernachlässigt . Das ist unglücklich . Denn wir können nur adäquat erfassen, was subjektive Rechte „sind“, wenn wir wissen, welche Funktion die Figur erfüllt, was wir uns von ihr versprechen .1 Warum bedienen sich so viele Rechtsordnungen der Form des subjektiven Rechts?2 Was soll und kann sie leisten, jenseits der relativ evidenten Funktion, einzelnen Rechtsteilnehmerinnen (prozessuale) Durchsetzungsressourcen3 zuzuweisen? Mein Beitrag ist ein Versuch in diese Richtung . These ist, dass eine der zentralen Funktionen subjektiv-rechtlicher Technik im rechtlichen Fehlerkalkül zu suchen ist . Begrifflichkeit und Figur des subjektiven Rechts fungieren oftmals als rechtliches Fehlerkalkül . Ich möchte also unter dem Aspekt der Fehlleistungen im Recht zu einem besseren Verständnis der Figur des subjektiven Rechts4 beitragen . Dazu werde ich zunächst (II .) meinen Begriff des Fehlerkalküls skizzieren . Anschließend (III .) möchte ich zeigen, dass sich das subjektive Recht auf dieser Grundlage in

Zur Erschließung von grundlegenden Rechtsbegriffen über ihre Funktion im Rechtssystem s . Herbert L . A . Hart, Definition and Theory in Jurisprudence, 1953 . 2 Erhellend zu dieser Frage Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 481–489; für einen ersten Anlauf s . auch Johannes Buchheim, Actio, Anspruch, subjektives Recht, 2017, 93–100 . 3 So definiert etwa Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2 . Aufl . 1960, 139, das subjektive Recht als die „zur Geltendmachung der Nichterfüllung einer Rechtspflicht verliehene Rechtsmacht“; ähnlich Rafal Zakrzewski, Remedies Reclassified, 2005, 56, wonach die Funktion der Zuweisung von Rechten darin liege, dass sie „conceptualize the availability of remedies“ . 4 Insoweit geht es mir wie Christoph Menke, Kritik der Rechte, 2015, 9–12, um eine Analyse der Form subjektiver Rechte als solcher, nicht ihres jeweiligen Inhalts . 1

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doppelter Hinsicht als rechtliches Fehlerkalkül begreifen lässt: Zum einen vermeidet die Figur in ganz erheblichem Umfang rechtliche Fehlleistungen (1 .) . Zum andern ist sie ein Schlüsselinstrument, mithilfe dessen wir die Reaktionen auf Fehlleistungen im Recht strukturieren (2 .) . II.

Fehlerkalkül

Ich verstehe unter Fehlerkalkül die Art und Weise, wie eine Rechtsordnung Fehlleistungen bei der Rechtserzeugung und -anwendung antizipiert und auf sie reagiert . Indem das Recht Fehler im Rechtskonkretisierungsprozess5 bedenkt und eine gestufte Reaktion darauf vorgibt, kalkuliert es mit der Möglichkeit solcher Fehlleistungen und hegt ihre Folgen ein . Dies tut das positive Recht in den Worten Adolf Julius Merkls, des konzeptionellen Vaters des Fehlerkalküls, „indem es entweder den Akt, der nicht voll den an ihn gestellten Anforderungen entspricht, als vollgültig behandelt oder indem es den Akt, der nicht voll den rechtlichen Anforderungen entspricht, nicht einfach von vornherein als nichtig behandeln lässt, sondern ihn einem Vernichtungsverfahren unterwirft“ .6 Das Fehlerkalkül im klassischen Sinn ist reaktiv: Es besteht aus Regelungen, die vorgeben, was passieren soll, wenn Rechtsakte und Handlungen „ihrer rechtlichen Erzeugungsregel nicht in Gänze entsprechen“ .7 Die Normen des Fehlerkalküls in diesem reaktiven Sinn setzen also an, wenn das rechtliche Kind, der Rechtsakt oder rechtlich angeleitete Akt, bereits in den Brunnen gefallen ist . Dementsprechend fokussiert die Theorie des rechtlichen Fehlerkalküls auf Struktur und Strategien der rechtlichen Reaktion auf Fehlleistungen bei Rechtserzeugung und -anwendung . Eine solche Deutung des rechtlichen Fehlerkalküls als allein reaktiv greift jedoch meines Erachtens zu kurz . Sie blendet aus, dass die Normen, die das Fehlerkalkül im klassischen Sinn ausmachen, einer antizipierenden Logik folgen: Weil den normsetzenden Instanzen bewusst ist, dass es bei der Rechtskonkretisierung zu Fehlern kommen kann und kommen wird, müssen sie neben der Frage, was rechtlich sein soll, auch die Frage adressieren, was rechtlich sein soll, wenn nicht ist, was rechtlich sein soll .8 Das Anliegen an einer adäquaten Fehlerreaktion entspringt also der Besorgnis um künftige Fehler . Fehlerkalkül ist Fehlervorsorge . Aus diesem Grund droht ein theoretischer Zugriff auf das rechtliche Fehlerkalkül, der allein die Grundsätze und Strategien der FehS . zum Hintergrund dieser Terminologie Kelsen (Fn . 3), 196–282 . Adolf J . Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Nachdr . d . Ausg . Wien u . Berlin 1927, 1999, 196; Merkl selbst bezeichnet nur die erste Variante als Fehlerkalkül i . e . S . 7 Merkl (Fn . 6), 192 . 8 Ähnlich Roderick Chisholm, Contrary to duty imperatives, Analysis 24 (1963), 33, 36: „For most of us need a way of deciding, not only what we ought to do, but also what we ought to do after we fail to do some of the things we ought to do“ . 5 6

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

lerreaktion analysiert, an bestimmten Parallelen vorbeizugehen, die womöglich zu anderen rechtlichen Strategien der Fehlervorsorge bestehen . Denn man kann möglichen Fehlern im Rechtskonkretisierungsprozess auf zwei Ebenen begegnen: Entweder auf Ebene der Rechtsbewehrung oder Sanktion, also bei Bestimmung der Folgen, die ein Rechtsverstoß haben soll . Hier kann man etwa gestufte Fehlerfolgen festlegen oder bestimmte Fehlleistungen für unbeachtlich setzen . Oder aber auf Ebene des Rechtszuschnitts, also bei Bestimmung dessen, was rechtlich der Fall sein soll . Hier kann man beispielsweise rechtliche Festlegungen, die besonders häufig zu Fehlern Anlass geben, vermeiden oder auf andere Weise das Potential für oder die Auswirkungen von Fehlleistungen im Recht reduzieren . Bei dieser zweiten Strategie der Fehlervorsorge entfalten Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung rechtlicher Inhalte also Rückwirkungen auf deren Festlegung . Inhalte werden gar nicht oder anders festgelegt, weil die Mechanismen der rechtlichen Umsetzung dieser Inhalte in bestimmter Weise gestaltet sind .9 Dieses Phänomen, also ein Rückschluss von der Umsetzungsebene auf die Bestimmung umzusetzender rechtlicher Inhalte, ist im Recht üblich .10 Solche Argumente gehören zum rechtlichen Standardrepertoire, etwa wenn bei der Diskussion der Frage, ob eine bestimme Norm ein subjektives Recht begründet, die Folgen miteinbezogen werden, die entstünden, wenn etwaige Normverstöße allgemein gerichtlich geltend gemacht werden könnten . Daher lohnt es sich, in die theoretische Betrachtung des rechtlichen Fehlerkalküls auch Strategien einzubeziehen, durch die das Recht die Möglichkeiten und Gelegenheiten für Fehler einzuhegen und zu reduzieren sucht . Neben der Frage, ob auch Maßnahmen der Fehlervermeidung dem Fehlerkalkül zuzurechnen sind, ist zu klären, was genau unter einer rechtlichen Fehlleistung zu verstehen ist . Auch hier lohnt sich im Ausgangspunkt ein Blick auf Merkl . Nach ihm sind fehlerhaft alle Handlungen und Rechtsakte, die „mit rechtlichen Mängeln behaftet sind, d . h . die den Rechtssätzen, die bei ihrer Setzung hätten beobachtet werden sollen, nicht zur Gänze entsprechen“11 . Die Fehlleistungen, für die das Fehlerkalkül Vorsorge trifft, sind damit so vielfältig wie die von den rechtsetzenden und -anwendenden Instanzen zu beachtenden rechtlichen Vorgaben . Dennoch lassen sich aus Perspektive der Rechtstheorie einige typische Vorgaben für und Anforderungen an den Rechtskonkretisierungsprozess beobachten, von denen hier eine besonders interessiert: Zu den Vorgaben, die bei der Setzung anderer Rechtsakte typischerweise zu beachten sind, gehört auch das Gebot eines Mindestmaßes an Widerspruchsfrei-

Der Schluss von der Umsetzbarkeit auf das sinnvollerweise Umzusetzende ist wohl, was den Kern „aktionenrechtlicher“ Denkweise ausmacht, s . dazu (wegen des Entstehungskontexts mit großer Vorsicht zu genießen) Hans O . de Boor, Gerichtsschutz und Rechtssystem, 1941, 8–10 . 10 S . z . B . für die Strafbarkeit der leichtfertigen Geldwäsche BT-Drucks . XII/989, 27; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Hg .), Kommentar zum StGB, 29 . Aufl . 2014, § 261, Rn . 28 . 11 Merkl (Fn . 6), 192 . 9

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heit . Die Normen einer Rechtsordnung sollten möglichst so beschaffen sein, dass ihre Erfüllung im Regelfall nicht durch die Erfüllung anderer Normen derselben Rechtsordnung oder andere Umstände ausgeschlossen ist . Widerspruchsfreiheit und prinzipielle Erfüllbarkeit rechtlicher Vorgaben sind freilich keine rechtstheoretische Notwendigkeit .12 Jedenfalls sind sie aber ein praktisches Erfordernis, soweit das Recht seine Funktion, menschliches Verhalten anzuleiten, auszurichten und zu koordinieren erfüllen können soll .13 Dementsprechend ist die Zielsetzung, Widersprüche zu vermeiden, in vielen Rechtsordnungen – zumindest in Grundzügen – auch positivrechtlich verankert .14 Jedenfalls aber ist dieses Ziel als praktische Leitlinie tief in der – nach Synthese strebenden – Rechtsarbeit verwurzelt . Zum Fehlerkalkül im hier vorgeschlagenen (rechtstheoretischen) Sinn sollten daher meines Erachtens auch Bauelemente einer Rechtsordnung gezählt werden, die der Entstehung oder dem Virulent-Werden praktischer Widersprüche vorbeugen . Damit ist nicht gesagt, dass in den meisten Rechtsordnungen konkrete Gebote existierten, die – wie etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – praktische Widersprüche „verböten“ . Es geht allein darum, den Anspruch, Widersprüche zu vermeiden, als eine höchst wirkmächtige Ausrichtung und Erklärungsgröße des Gestaltens von und Argumentierens in Rechtsordnungen auszuweisen . Praktische Widersprüche mögen für die Rechtsteilnehmerin unerheblich und folgenlos sein . Für die Rechtstheorie als Beobachterin des Rechts und seiner Gesetzmäßigkeiten sind sie es nicht . III.

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

Auf Grundlage dieser Begriffsklärung erweist sich die Figur des subjektiven Rechts in zweierlei Hinsicht als ein zentrales Element des rechtlichen Fehlerkalküls . Sie vermeidet erstens Fehlleistungen in Gestalt der Produktion praktischer Widersprüche und strukturiert zweitens die Reaktion auf jede Form rechtlicher Fehlleistungen . 1.

Subjektive Rechte als Widerspruchsmanagement

Inwiefern nun ist die Figur des subjektiven Rechts ein Element des Fehlerkalküls, also eine Strategie des rechtlichen Widerspruchsmanagements? Die Antwort führt zurück zu den Grundlagen der Figur des subjektiven Rechts . Am Ursprung subjektiv-recht-

Ausführlich zum Satz vom Widerspruch und zur Logik im Bereich der Normen s . Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, 166 ff . und ders , Recht und Logik, Forum 12 (1965), 421–425, 495–500, 579 . 13 So für die Möglichkeit der Pflichterfüllung offenbar auch Kelsen, Allgemeine Theorie (Fn . 12), 45 . 14 S . für Deutschland das im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Gebot der Widerspruchsfreiheit BVerfGE 25, 216 (227) u . Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 14 . Aufl . 2016, Art . 20, Rn . 89 mwN . 12

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

lichen Denkens steht ein Moment der normativen Zurückhaltung: Der in der Rechtsnorm zum Ausdruck kommende Wille, dass unter näher bestimmten Umständen eine Folge eintreten soll, wird nicht unmittelbar und für alle Fälle angeordnet . Stattdessen wird diese Folge von einer Geltendmachung durch die berechtigte Person oder Institution abhängig gemacht . Damit wird die Wirksamkeit15 der subjektiv-rechtlichen Norm in das Ermessen der berechtigten Person oder Personenverbindung gestellt .16 Unter Wirksamkeit einer Rechtsnorm verstehe ich dabei im Anschluss an Kelsen,17 dass die Norm den Raum des allein Ideellen verlässt und in der Welt tatsächliche Folgen entfaltet . Mit der subjektiven Zuordnung eines Rechtsinhalts wird also die Entscheidung darüber, ob die in der Rechtsnorm zum Ausdruck kommende Ordnungsvorstellung in der Welt real wird, zunächst an die Berechtigten delegiert .18 Eben dies ist der im subjektiven Recht liegende Freiraum, auf den Savigny19 und andere20 pochten . In dieser Delegation der Geltendmachung an die Berechtigten steckt eine Zurücknahme rechtlicher Normativität . Denn die Figur des subjektiven Rechts überträgt die Entscheidung über die Rechtswahrnehmung und -verwirklichung auf außerrechtliche Faktoren: Obwohl mein Nachbar rechtswidrig seinen Müll auf meinem Grundstück ablegt, kann ich entscheiden, ihn nicht zu verklagen . Die Dreistigkeit des Nachbarn, meine Konfliktscheu und die Beschaffenheit und Normativität unserer alltäglichen Kontakte sind in diesem Fall die bestimmenden Faktoren für den tatsächlichen Zustand der Welt (fremder Müll auf meinem Grundstück) . Eine vom Familienpatriarchen enterbte Tochter kann davon absehen, ihren Pflichtteilsanspruch geltend zu machen, etwa weil sie das Institut des Erbrechts als ungerecht und unsozial empfindet . Oder aber, weil sie aus religiösen Gründen glaubt, dass ihr als Frau ein Erbe nicht zustehe . Unternehmen wie Facebook oder Apple können sich aus Gründen der Markenpflege dazu entschließen, die Geschäftstätigkeit an Orten einzuschränken, an denen manche besondere Repressalien erfahren, unabhängig davon, ob diese Repressalien rechtens sind .21 In all diesen Fällen beansprucht die das Recht setzende Instanz nicht,

Nicht die Geltung; aA . Eugen Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, 1965, 55 ff . S . ausführlich zum hier zugrunde gelegten Verständnis des subjektiven Rechts als „individualisiertes Wirksamkeitsversprechen“, Buchheim (Fn . 2), 72–75 . 17 Zum Verhältnis von Wirksamkeit und Geltung bei Kelsen s . ders . (Fn . 3), 215–221; problematisch ist aber der enge Konnex, den Kelsen zwischen Wirksamkeit und Geltung einzelner Normen herstellt . 18 Zum delegativen Moment des subjektiven Rechts und der Erlaubnis s . Buchheim (Fn . 2), 81 mwN . 19 S . z . B . Friedrich C . Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd . 1, 1840, 7 = § 4; ähnlich Bd . 2, 1840, 331 f . = § 52 . 20 S . z . B . Georg W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hauptwerke in 6 Bänden, 1999, 318 f . [zu § 28]: „Recht erscheint in der nächsten Vorstellung als Möglichkeit zu tun oder auch nicht . Ich tue nichts Unrechtes, wenn ich mein Recht nicht geltend mache“; ähnlich seine Charakterisierung des Rechts als „Dasein des freien Willens“, aaO ., Einleitung zu § 29 . 21 S . für eine solche Initiative NBC News .com v . 8 .7 .2016, Major corporations join fight against North Carolina’s ‚Bathroom Bill‘, https://www .nbcnews .com/feature/nbc-out/major-corporations-join-fight-against-north-ca rolina-s-bathroom-bill-n605976 (zuletzt abgerufen am 7 .1 .2019) . 15 16

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die Ordnung der Dinge selbst zu gestalten . Stattdessen stellt sie eine Reserveordnung bereit, die nur greift, soweit Berechtigte sie zur Geltung bringen . Diese Zurückhaltung subjektiv-rechtlicher Technik birgt Vorteile, die eng mit Eigenheiten und Aufgaben rechtlicher Normenordnungen verbunden sind . Sie ist die passende Reaktion auf das Gewaltpotential des Rechts . Weil rechtliche Normen in der Regel mit Zwang oder Gewalt bewehrt sind,22 liegt es nahe, mit ihnen zurückhaltend umzugehen . Viele erstrebenswerte Zustände der Welt sind es nicht, wenn sie erzwungen werden . Aufgabe von – freiheitlich verfassten – Rechtsordnungen ist es nicht, den bestmöglichen und kohärentesten Zustand der Welt herbeizudekretieren . Sie sollen stattdessen einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen viele Personen möglichst nah an ihren Neigungen möglichst friedlich koexistieren und teils gemeinsam, teils allein über sich verfügen können . Kernelement eines solchen beschränkten und liberalen Verständnisses der Aufgabe und des Gegenstands von Recht ist die Figur des subjektiven Rechts .23 Diese Freiheitlichkeit subjektiv-rechtlicher Technik, die man bereits als solche für einen Wert halten kann, hat zudem entscheidende Vorzüge in Hinblick auf die Vermeidung praktischer Widersprüche: Indem die Rechtsordnung die Entscheidung über das tatsächliche Wirksamwerden ihrer Inhalte an einzelne berechtigte Personen delegiert, enthebt sie sich der Notwendigkeit, selbst darüber zu entscheiden, was der Fall sein soll . Sie muss nur noch darüber entscheiden, was der Fall sein soll, wenn und soweit die berechtigte Person den Rechtsinhalt tatsächlich geltend macht . Wo normsetzende Instanzen auf subjektive Rechte zurückgreifen, entscheiden sie daher nicht unmittelbar über den gesollten Zustand der Welt, sondern lediglich über Möglichkeiten, ihn zu gestalten . Subjektiv-rechtliche Technik verschiebt also den unmittelbaren Regelungsgegenstand rechtlicher Normen: Normiert werden nicht Zustände der Welt, sondern mögliche Zustände der Welt . Die Welt des Möglichen ist jedoch deutlich größer und bevölkerungsreicher als die Welt des Seienden . Subjektiv-rechtliche Technik schafft daher Raum, rechtlich mehr auszuloben, als die unter einer Rechtsordnung organisierten Personen tatsächlich einzuhalten willens oder in der Lage sind . Durch die Schaffung subjektiver Rechte gewähren sich die unter einer Rechtsordnung organisierten Personen förmlich selbst einen Kredit . Denn so wie eine Bank damit rechnen kann, dass niemals alle Kundinnen auf einmal ihre Guthaben einlösen werden, können auch sie getrost damit kalkulieren, dass niemals alle subjektiven Rechte tatsächlich geltend gemacht werden . Je nachdem, welche Voraussetzungen die Geltendmachung von Rechten hat, kann diese Diskrepanz zwischen Rechtsbestand und Rechtswahrnehmung ganz erheblich sein . Dies gilt umso mehr, als die Rechtsordnung in Gestalt von Verfahrens-, Prozess- und VollstreZum Zwangscharakter des Rechts s . nur Kelsen (Fn . 3), 34–54; für die Zwecke dieses Beitrags ist nicht erheblich, ob es sich beim Zwangscharakter um eine begriffliche Notwendigkeit handelt . 23 Zur Verknüpfung der Rechtsform mit dem politischen Liberalismus s . ausführlich Menke (Fn . 4) . 22

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

ckungsrecht in weitem Umfang selbst darüber verfügt, welche Voraussetzungen die Wahrnehmung von Rechten hat . Auf diese Weise ermöglicht es die Figur des subjektiven Rechts im Privatrecht zum Beispiel, ein und denselben Diamanten zweimal zu verkaufen .24 Obwohl die Verkäuferin in diesem Fall Adressatin zweier einander sich ausschließender Verschaffungs- und Übereignungspflichten ist, sehen wir in einer solchen Rechtslage keinen Widerspruch . Denn wir wissen, dass das Widerspruchspotential dieser sich gegenseitig ausschließenden Pflichten im Zuge der rechtlichen Geltendmachung der korrespondierenden Ansprüche, spätestens nämlich im Vollstreckungsverfahren oder durch tatsächlichen Vollzug der Übereignung, aufgelöst werden wird . Das Recht baut hier darauf, dass eine der beiden berechtigten Personen die Initiative ergreifen und ihr Recht entschiedener verfolgen wird .25 Weil wir darauf bauen und uns die daraus folgende Güterverteilung im Ergebnis oftmals adäquat erscheint, können wir einen derart handgreiflichen Widerspruch in unserer rechtlichen Normenordnung zulassen . Die Strategie, derer sich die Rechtsordnung hier bedient, ist immer dieselbe: Durch Schaffung subjektiver Rechte verschiebt sie die Entscheidung über das Wirksamwerden rechtlicher Zuordnungen auf einzelne Personen oder Vereinigungen und deren Initiative . Damit schaffen sich Rechtsordnungen einen beträchtlichen Raum für Zuordnungen, die, würden sie flächendeckend unmittelbar vollzogen, widersprüchlich oder nicht realisierbar wären . Subjektive Rechte verhindern daher in großem Umfang das Virulent-Werden von Widerspruchspotentialen im Recht und wirken daher – wenn man der obigen Begriffsbestimmung26 folgt – als Fehlerkalkül . Die mittels subjektiv-rechtlicher Technik überbrückte Lücke zwischen Rechtsbestand und Rechtswahrnehmung ermöglicht es, frisch gebackenen Eltern einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz einzuräumen,27 ohne dass die tatsächlichen Voraussetzungen einer flächendeckenden Erfüllung dieses Anspruchs zur Verfügung stünden .28 Sie erlaubt auch, strafprozessuale oder andere verfahrensmäßige Garantien auszuloben, die, würden sie effektiv genutzt, möglicherweise von einem Teil der Bevölkerung nicht mehr mitgetragen würden .29

Zum klassischen Problem des „Doppelverkaufs“ einer Stücksache s . z . B . Wolfgang Ernst, Der zweifache Verkauf derselben Sache, in: Jakab/Ernst (Hg .), Kaufen nach Römischem Recht, 2008, 83 ff . mwN . 25 Z . B . durch Erwirken eines Veräußerungsverbots (§ 136 BGB) im einstweiligen Rechtschutz . 26 S . o . II . 27 § 24 Abs . 2 Satz 1 SGB VIII . 28 S . z . B . ZEIT ONLINE v . 21 .10 .2018, In Deutschland fehlen 273 .000 Kitaplätze, https://www .zeit .de/ gesellschaft/familie/2018–10/kindertagesstaetten-gute-kita-betreuungsplaetze-unter-dreijaehrige-mangel (zuletzt abgerufen am 7 .1 .2019) . 29 So etwa jüngst im Asyl- und Aufenthaltsrecht, dessen anwaltliche Akteure sich dem Vorwurf ausgesetzt sahen, Teil einer „Anti-Abschiebe-Industrie“ zu sein, s . dazu FAZ .net vom 6 .5 .2018, Dobrindt beklagt eine „Anti-Abschiebe-Industrie“, https://www .faz .net/aktuell/politik/inland/alexander-dobrindt-beklagt-eineanti-abschiebe-industrie-15576403 .html (zuletzt abgerufen am 7 .1 .2019) . 24

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In einem gewissen Umfang erlauben uns subjektive Rechte daher, unseren Pelz zu waschen, ohne dass wir dabei nass werden müssten . Diese Tendenz zur Inkonsequenz mag aus philosophischer Sicht betrüblich sein . In praktischer Hinsicht ist sie von Vorteil: Die Figur des subjektiven Rechts wirkt wie Kit, der eine Rechtsordnung ohne spürbare Verluste länger zusammen und am Laufen hält . Die Auslobung subjektiver Rechte erlaubt uns, normative Bindungen einzugehen, die wir in der Regel werden einhalten können, die aber, würden sie ausnahmslos eingefordert beziehungsweise unmittelbar durchgesetzt, unrealisierbar wären . Subjektivrechtliche Technik erlaubt damit, realistische normative Bindungen einzugehen, die ohne die Figur nicht einzulösen wären . Subjektive Rechte sind also praktisch höchst brauchbar . Darauf, und nicht auf ihre philosophische Folgerichtigkeit kommt es an . Das gilt jedenfalls, soweit man das oben skizzierte begrenzte, freiheitliche Verständnis der Aufgabe rechtlicher Normenordnungen teilt . Unter dieser Prämisse sind Initiative und Beharrungskraft, die Berechtigte bei der Geltendmachung ihrer Rechte zeigen, sinnvolle Ordnungsprinzipien: Sie können eine brauchbare Annäherung für die (gefühlte) Dringlichkeit von normativen Ansprüchen liefern . Die Delegation der Geltendmachung von Rechten an Berechtigte enthebt die normsetzenden Instanzen zugleich der unendlichen Mühe, die es bedeuten würde, eine inhaltliche Entscheidungsregel für jedes Konfliktpotential beziehungsweise Zuordnungsproblem unter Geltung einer Rechtsordnung vorzugeben . Subjektiv-rechtlichem Denken liegt die Hoffnung zugrunde, dass sich die Dinge in aller Regel schon regeln werden, ohne dass das Recht und seine Organe als Konfliktordnung eingreifen müssten . Hiergegen ließe sich einwenden, dass die beschriebenen günstigen Folgen für das Rechtssystem bei Licht betrachtet nicht aus der Figur des subjektiven Rechts, sondern aus der Unterscheidung von materiellrechtlicher Zuordnung einerseits und den Instrumenten ihrer Durchsetzung andererseits erwachsen . Denn bereits diese Unterscheidung ermöglicht es, bestimmte Dinge rechtlich auszuloben, ohne zugleich Mittel und Wege für deren Umsetzung bereitzustellen . Diese Überlegung greift allerdings zu kurz . Der zusätzliche Spielraum, den sich die Rechtsordnung gestaltende Akteure durch die Einräumung subjektiver Rechte verschaffen, entstammt zwar in letzter Konsequenz der Unterscheidung zwischen Zuordnungs- und Realisierungsebene . Wir scheinen diese Differenzierung allerdings im Bereich subjektiver Rechte wesentlich bereitwilliger hinzunehmen . Ohne die Figur des subjektiven Rechts würde die Frage nach der Umsetzung des materiell-rechtlich Gebotenen regelmäßig mit weitaus größerem Nachdruck gestellt . Denn die subjektiv-rechtliche Zuordnung beinhaltet bereits eine zentrale Weichenstellung: Sie markiert die berechtigte Person, ihren Willen und ihre Präferenzen als Hauptakteur und Fixpunkt aller folgenden Rechtsrealisierungsverfahren . Dort, wo die Umsetzung rechtlicher Zuordnungen nicht einzelnen berechtigten Personen oder Institutionen, sondern staatlichen Organen überlassen ist, fragen wir hingegen reflexhaft danach, wie, von wem, mit welchen Geldern und in welchem Verfahren das, was rechtlich gilt,

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

auch tatsächlich umgesetzt werden soll . Nur bei der Einräumung von Rechten, also bei einer Delegation des Wirksam-Machens an einzelne Personen oder Institutionen, sind wir großzügiger und offenbar prinzipiell gewillt, die Details der Umsetzungsfrage in der Schwebe zu lassen . Die Berechtigten werden schon wissen, wann, gegenüber wem, in welcher Form und aus welchen Gründen sie ihre Rechte zur tatsächlichen Geltung bringen . Die rechtstechnische Unterscheidung zwischen dem materiell Gebotenen und den oftmals beschwerlichen Wegen seiner rechtsförmigen Umsetzung wird daher im Bereich subjektiver Rechte mit weniger Klage hingenommen als in primär objektiv-rechtlich strukturierten Bereichen . Wenn man mir sagt, welche Rechte ich „habe“, bin ich in den meisten Fällen zufrieden . Das Weitere wird sich schon zeigen, wenn ich sie geltend mache . Die Figur des subjektiven Rechts genießt also eine überschießende Legitimität, die uns etwas akzeptieren lässt, was wir sonst nicht zu akzeptieren bereit wären .30 Wer sich subjektiv-rechtlicher Technik bedient, nutzt diesen Vertrauensvorschuss . In diesem Vertrauen liegen auch die Grenzen des Widerspruchskalküls qua subjektiver Rechte begründet . Die in Gestalt subjektiver Rechte gewährte Selbst-Kreditierung funktioniert nur, wenn eine Delegation des Wirksammachens der Sache angemessen ist und Berechtigte dem Wirksamkeitsversprechen im Prinzip Glauben schenken (können) . Die Eignung subjektiv-rechtlicher Technik, Risse innerhalb einer Rechtsordnung zu kitten, hat also ihren Preis . Es ist doppelt Vorsicht geboten: Zum einen sind nicht alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Geltendmachung von Rechten als Kriterien derart unproblematisch wie Initiative und Beharrungskraft: Einkommen, Milieuzugehörigkeit, Vertrautheit mit dem geltenden System sind Voraussetzungen effektiver Rechtswahrnehmung, die angesichts ihrer höchst ungleichen Verteilung und Verfügbarkeit schwieriger oder nicht zu rechtfertigen sind . Mit der Schaffung subjektiver Rechte werden zwangsläufig solche – teilweise problematischen Faktoren – von Rechts wegen für die durch Recht (mit)gestaltete Wirklichkeit ausschlaggebend .31 Daher sind diese Faktoren bei der Entscheidung über die Zuerkennung subjektiver Rechte – auf Ebene der Rechtsetzung und -anwendung – in Rechnung zu stellen . Nicht überall ist die Delegation von Entscheidungen an Betroffene ein sinnvolles Ordnungsprinzip . Insbesondere darf sich die politische Debatte nicht in der Diskussion darüber erschöpfen, wer welche Rechte haben soll . Sie muss stattdessen bedenken, ob, von wem und unter welchen Umständen diese Rechte tatsächlich wahrgenommen werden können . Denn Aufgabe von Politik ist nicht die Gestaltung eines in der Theorie gerechten, ausgewogenen Systems von Rechten, sondern die freie und gemeinsame Gestaltung angemessener und für alle Beteiligten erträglicher Verhältnisse . Diese Akzeptanz mag Gründen entspringen, die oben (III .1 . am Anfang) angedeutet wurden . Eben dieses Relevant- und Verbindlichmachen des Faktischen scheint Grund und Kern der von Menke vorgetragenen Fundamentalkritik zu sein, s . ders . (Fn . 4), 9 f . u . 12 (Thesen 1 und 3) . 30 31

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Zum andern lauert in dem Rückgriff auf das Gestaltungsmittel des subjektiven Rechts das Risiko gedanklicher und politischer Faulheit: Subjektive Rechte erlauben es durch ihre einseitig positive Semantik und den mit ihnen verbundenen Vertrauensvorschuss, Probleme bloß dem Schein nach zu lösen . So kann man in großem Umfang Rechte ausloben, ohne dabei die Bedingungen und Wirkungen ihrer Geltendmachung einzuspeisen oder die vorgeblich getroffenen Sachentscheidungen tatsächlich ernst zu meinen . Insbesondere die Verfügungsgewalt über die rechtlichen Bedingungen der Geltendmachung verschafft Rechtsordnungen reichlich Raum für Manipulationen . So können berechtigte politische Anliegen etwa dadurch abgespeist werden, dass sie der Form nach in Gestalt subjektiver Rechte anerkannt und zugleich die Bedingungen ihrer Geltendmachung derart hoch gesteckt werden, dass die zugrundeliegenden Forderungen trotz ihrer prinzipiellen Anerkennung kaum zur Geltung gelangen . Um nicht in den Verdacht zu geraten, ein zynisches Instrument zu sein, durch das Entscheidungen vertagt oder verschleiert, Anliegen vertröstet und Unvereinbares unter einen Hut gebracht werden soll, muss man sich subjektiver Rechte daher eingedenk ihrer Funktionsweise bedienen . Letztlich gilt für den Rückgriff auf das subjektive Recht dasselbe, wie bei einem Kredit: Wer einen Kredit in der Absicht aufnimmt, ihn zurückzuzahlen, macht nichts falsch . Wer ohne diese Absicht den Kredit nutzt, um ohne Gegenleistung an Geld zu kommen, begeht einen Betrug . Widerspruchsvermeidung und -management sind also nicht mehr als positive Nebeneffekte subjektiver Rechte . Sie dürfen nicht zu ihrem Hauptanliegen32 werden . 2.

Das subjektive Recht als Schlüsselbegriff der Fehlerreaktion

Die zweite Hinsicht, in der die Figur des subjektiven Rechts als Fehlerkalkül fungiert, ist schlichter und offensichtlicher . Dennoch wird sie oft vernachlässigt: Das subjektive Recht ist rechtsordnungsübergreifend ein Schlüsselbegriff, anhand dessen das Problem der Fehlerfolgen adressiert und aufgearbeitet wird . Bereits oben ist herausgearbeitet, dass am Ursprung subjektiv-rechtlicher Technik ein Moment der Zurücknahme steht . Wer subjektive Rechte schafft, regelt die Dinge nicht unmittelbar selbst, sondern gestaltet Gestaltungsoptionen . Aus dieser Delega-

Für Überlegungen zu Sinn und Anliegen der Figur des subjektiven Rechts s . die Nachweise in Fn . 2 . Es geht wohl um das Sichtbarmachen der Einzelnen und ihrer Personen im Recht, um die Zuweisung von Mitwirkungsmöglichkeiten, von Chancen, sich normativ zu artikulieren und Gehör zu verschaffen . Ebenso darum, rechtlich auszuflaggen, dass nicht alles Gebotene alle gleichermaßen angeht, also darum hinsichtlich der Dringlichkeit von normativen Ansprüchen differenzieren zu können . Die Figur des subjektiven Rechts soll Einzelne, ihre Anliegen und Ansprüche also ins Recht und die dadurch gestaltete Wirklichkeit integrieren und sie gerade nicht ausgrenzen . Diese positive Stoßrichtung des subjektiven Rechts geht verloren, wenn man seine überschießende Legitimation stattdessen allein zu dem Zweck nutzt, die geschilderten pragmatischen Vorzüge zu erzielen . 32

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

tion an die Berechtigten entstehen die zwei Gesichter des subjektiven Rechts: Einerseits ermächtigt die subjektive Zuordnung von Recht die Berechtigten in besonderer Weise . Andererseits wertet sie das Interesse der Anderen an der Aufrechterhaltung der subjektiv zugeordneten Norm ab . Diese zwei Gesichter des subjektiven Rechts sind tief in unseren normativen Praktiken verwurzelt . Wir bringen sie schon Kindern bei . So hätten die meisten von uns Verständnis für ein Kind, das in Verteidigung seines Lutschers moderate Maßnahmen gegen ein anderes Kind ergriffe . Als Begründung genügt uns in solchen Fällen, dass es nun einmal sein Lutscher sei . Wie viele Lutscher die beiden Kinder jeweils haben, ob das Kind den Lutscher mag oder seine Geschmacksrichtung hasst, interessiert uns nicht . Wir fragen also nicht nach der tatsächlichen Lutscherverteilung oder den Interessen und Motiven, die das Kind mit dem Schutz seines Lutschers verfolgt . Dies ist der ermächtigende Aspekt der subjektiven Zuordnung von Normen . Wir müssen uns für ihre Wahrnehmung nicht rechtfertigen . Gleichzeitig kennen wir alle den ausschließenden Aspekt dieser Zuordnung . So verbitten sich die meisten die Einmischung anderer Personen in die Erziehung ihrer Kinder und zwar unabhängig davon, ob das Kind eine von ihm zu beachtende Norm verletzt hat . Andere sind schlicht nicht befugt, das zu kommentieren . Dies ist die ausschließende Funktion der subjektiven Zuordnung von Normen (hier also der Erziehungsberechtigung) . Diese ausschließende Funktion des Denkens in Rechten ist es, die sich Rechtsordnungen bei der Reaktion auf Fehlleistungen zunutze machen . Häufig steht die Möglichkeit, fehlerhafte Rechtsakte und tatsächliche Handlungen wieder aus der Welt zu schaffen beziehungsweise zu sanktionieren, nur denjenigen zu, die dadurch in ihren Rechten betroffen sind . Begründet und plausibilisiert wird diese vielfältig gestufte, abwiegelnde Reaktion auf Fehlleistungen stets ähnlich . Gedanklicher Kern ist die Aussage: „Dies mag rechtswidrig sein, geht dich aber nichts an“ . Sie gehört in allen Spielarten zum rechtlichen Grundrepertoire . So sind etwa im deutschen Recht fast sämtliche Formen und Verfahren, die auf Fehler im Verwaltungsverfahren reagieren, subjektiv-rechtlich strukturiert . Kein Widerspruchsverfahren ohne Widerspruchsbefugnis . Kein Anfechtungsprozess ohne Klagebefugnis . Auch im Ordnungsrecht oder im Strafrecht können oft nur diejenigen auf staatliches Einschreiten gegen Rechtsverstöße hinwirken, die von der Einhaltung der durchzusetzenden oder verletzten Norm betroffen sind .33 Ein solches Erfordernis einer individuellen Betroffenheit greift auch bei der zivilrechtlichen Anfechtung eines Testaments34 oder eines Gesellschafterbeschlusses35 . Überhaupt gilt das Gesagte umso mehr im Privatrecht . Dieses gestaltet nicht nur die Reaktion auf rechtliche Fehlleistungen, sondern bereits die Maßstäbe dessen, was als Fehlleistung gilt, subjektiv aus . 33 34 35

S . § 172 StPO . S . § 2080 BGB . S . § 245 AktG .

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Das rechtlich Gebotene ist dort häufig allein relativ, d . h . in Hinblick auf bestimmte Personen, definiert .36 Die vertraglich stipulierte Leistung, das Unterlassen der Eigentumsverletzung schuldet man nur den Trägerinnen des jeweiligen Rechts . Wenn ich aus Langeweile Ihren Onkel töte, begehe ich Ihnen gegenüber in den Augen des Bürgerlichen Rechts kein Unrecht . Manche Rechtsordnungen konzeptualisieren die Fehlerreaktionen fast ausschließlich auf diese Weise über den personalen Zuschnitt der verfügbaren Rechtsbehelfe und der durch sie bewehrten subjektiven Rechtspositionen . So kennen weder die amerikanische noch die englische Rechtsordnung eine Dogmatik der Fehlerfolgen oder der Bestandskraft behördlicher Bescheide .37 Dennoch gibt es auch dort vielfach gestufte Rechtswidrigkeitsreaktionen .38 Argumentativer Schlüssel ist häufig die Figur des subjektiven Rechts . Mittels ihrer können Konturen und Reichweite der einzelnen Personen oder Institutionen zustehenden konkreten Rechtsmacht und Sanktionsbefugnisse im Fall von Fehlern „nachbearbeitet“ werden . Orientierendes Ziel einer solchen subjektiv-rechtlichen „Nachjustierung“ der Fehlerfolgen ist jeweils ein Gesamtsystem rechtlicher Regeln und Sanktionen, das im Ganzen tragfähig und handhabbar bleibt, das also Rechtsordnung und -verkehr nicht zu viel abverlangt . Auf Grundlage solcher Überlegungen ließen sich etwa auch im deutschen Verwaltungsrecht die Möglichkeit der nachträglichen Ermessensergänzung,39 die Unbeachtlichkeit von Fehlern im Verwaltungsverfahren40 oder das Kriterium der materiellen Teilbarkeit41 bei der Anfechtung rechtswidriger Nebenbestimmungen über die Figur des subjektiven Rechts rekonstruieren . Das subjektive Recht ist dafür der richtige Schauplatz: So wie sich beim Rechtszuschnitt auf Primärebene die Frage stellt, wer daraus Berechtigungen beziehen soll, kann man dieselbe Frage für Rechtsfehler und rechtlich bestimmte Sanktionen ein weiteres Mal stellen: Wer soll daraus Berechtigungen oder Sanktionsbefugnisse ableiten? Wen betrifft der gerügte Rechtsverstoß und dessen Sanktion „wirklich“? Letztlich wird der Mechanismus des subjektiven Rechts mit diesen und vergleichbaren Fragen nur zu Ende gedacht . Wie auf der Ebene des Rechtszuschnitts besitzt auch diese nachträgliche Justierung der Fehlerreaktion über die Figur des subjektiven Rechts eine allgemeine Eingängigkeit . S . § 241 BGB . Ebenso nimmt Christoph Kletzer, Kelsen’s Development of the Fehlerkalkül-Theory, Ratio Juris 18 (2005), 46, 51, an, dass eine explizite Dogmatik des Fehlerkalküls nur in kontinentaleuropäisch geprägten Rechtsordnungen geläufig ist . 38 Für die Sicht des Common Law s . Amnon Rubinstein, Jurisdiction and Illegality, 1965 . 39 S . § 114 S . 2 VwGO; subjektiv-rechtlich formuliert existiert also im deutschen Recht kein prozessual durchsetzbares „Recht auf ermessensfehlerfreie Erstentscheidung“; s . dazu Buchheim (Fn . 2), 167–172 . 40 S . § 46 VwVfG; es besteht also kein „Recht auf Einhaltung des Verfahrens“ als solchen, sondern nur insoweit das Verfahren Ergebnisrelevanz besitzen kann; s . dazu Buchheim (Fn . 2), 207–213 . 41 Bei der Figur der materiellen Teilbarkeit geht es letztlich um eine Beschränkung des mittels § 113 I 1 VwGO zur Geltung zu bringenden subjektiven Rechts . Situationen, die durch das materielle Recht ausgeschlossen sind, sollen nicht durch Anfechtung von Nebenbestimmungen erzielt werden können . 36 37

Subjektive Rechte als Fehlerkalkül

Das subjektive Recht ist damit hauptverantwortlich dafür, dass in Rechtsordnungen zahllose normative und tatsächliche Zustände als Recht gelten oder mit Mitteln des Rechts unangefochten bleiben können, obwohl sie nicht nach den in dieser Rechtsordnung geltenden Regeln zustande gekommen sind . Auch dies ist zunächst ein Argument für – nicht gegen – subjektiv-rechtliche Technik . Sie verschafft Rechtsordnungen neuen Spielraum bei der Gestaltung und Stufung von Fehlerfolgen . Sie erlaubt eine Differenzierung zwischen mehr oder weniger lässlichen Sünden, je nachdem welche, wem beziehungsweise wie vielen Personen in Reaktion auf rechtliche Fehlleistungen Reaktionsrechte oder Sanktionsbefugnisse zugewiesen sind . Zugleich erlaubt die Relativität der rechtlichen Maßstäbe und der rechtlichen Fehlleistungen den Rechtssubjekten die erfolgreiche Handhabung eines ungleich größeren Bündels an rechtlichen Pflichten: Schuldete ich alles, was ich rechtlich irgendwem schulde, zugleich allen anderen, wäre meine Handlungsfähigkeit längst zum Erliegen gekommen . Die überall lauernde Gefahr, dass ich mich rechtswidrig verhielte und ernsthaft mit Sanktion zu rechnen hätte, ließe mich verzagen . Diese zunächst einmal positive Möglichkeit, den Subjekten der Rechtsordnung in gewissem Umfang einen Freibrief zur Rechtswidrigkeit zu erteilen, darf jedoch nicht zu Faulheit oder Zynismus verführen . Die Figur des subjektiven Rechts soll nicht dazu dienen, sich lästige normative Forderungen vom Leib zu halten, obwohl sie bereits prinzipiell durch die Rechtsordnung anerkannt sind . Ansonsten betonte man einseitig den beschränkenden Aspekt der Rechtsform . Ihre ermächtigende, unterstreichende, freiheitliche und oftmals emanzipatorische Seite bliebe auf der Strecke . Daher muss die Rechtsordnung bei der Entscheidung über Zuweisung oder Versagung subjektiver Rechte und Reaktionsrechte Gründe haben, die mit den jeweils subjektiv zugeordneten Rechtsinhalten oder Sanktionen in Verbindung stehen . Fehlen sie, ist man zu Recht dem Vorwurf der Willkür oder Widersprüchlichkeit ausgesetzt . IV.

Fazit: Das subjektive Recht als Relativierung des Rechts auf das Machbare

Ich hoffe gezeigt zu haben, dass ein Verständnis der Figur des subjektiven Rechts unvollständig bleibt, wenn man nicht ihre zentrale Funktion für das rechtliche Fehlerkalkül in Rechnung stellt . Dies ist ein Fehlerkalkül auf zwei Ebenen . Subjektiv-rechtliche Technik vermeidet zum einen praktische Widersprüche in einer Rechtsordnung . Zum andern strukturiert die Form und Semantik der Rechte an vielen Stellen die Reaktion auf rechtliche Fehlleistungen . Auf beiden Ebenen erweist sich das subjektive Recht als höchst brauchbares Instrument: Es erlaubt uns, eine wesentlich größere Vielzahl von Normen und gegenseitigen Rechten und Pflichten unter Geltung ein und derselben Rechtsordnung praktisch vereinbar zu machen und handhabbar zu halten als es ohne die Figur der Fall sein könnte . Dies geschieht, indem die subjektive Zuordnung von

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Rechtsinhalten einerseits das Virulent-Werden von Widersprüchen aufschiebt oder ganz verhindert und indem sie uns andererseits im Fall von Fehlleistungen erneut danach fragen lässt, ob und wem gegenüber diese tatsächlich rückgängig oder ungeschehen gemacht werden müssen . Der pragmatische Vorteil liegt jeweils darin, dass subjektive Rechte die geltende Ordnung stabilisieren und länger operabel halten . Eben hierin liegt zugleich ihr Missbrauchspotential . Denn auch handgreifliche Ungerechtigkeiten können so länger aufrechterhalten werden . Diesen Twist subjektiv-rechtlicher Technik sollte man bei der Rede über Rechte und bei ihrer rechtlichen Zuweisung im Auge behalten .

Falsche Tatsachen Über normative Ansprüche und „Irrtümer“ des Rechts* DAVID KUCH (Würzburg)

„Rechtsphilosophie ist praktische Philosophie, angewandt auf eine soziale Institution .“1 Unter diese Prämisse stellt Joseph Raz das rechtstheoretische Kapitel in Practical Reason and Norms von 1975 . Er reiht sich damit in eine lange Tradition ein, die nach der spezifisch praktischen, handlungsbezogenen Relevanz des Rechts fragt, nach seiner Normativität . Einem Aspekt derselben Frage widmet sich dieser Beitrag . Er nähert sich ihr unter einer speziellen Hinsicht, nämlich der Beziehung von Wissen und Irrtum . Dieses Begriffspaar eröffnet einen instruktiven Zugang zu zwei wirkmächtigen zeitgenössischen Rechtstheorien, die Rechtsphilosophie als praktische Philosophie begreifen . Im ersten Schritt sind die Begriffe einzuführen (I .), die hernach als Heuristiken zur Erschließung jener prominenten Ansätze dienen sollen (II .); die sich ergebende Irrtumstheorie, derzufolge das Rechtssystem moralisch irren kann, stärkt die rechtskritische Komponente dieser Ansätze . Das sich einstellende Folgeproblem der „Irrtumsfähigkeit“ eines Rechtssystems insgesamt wird im nächsten Schritt behandelt (III . 1 ., 2 .), bevor es am Ende kurz um die eigentümliche Phänomenologie rechtlicher Irrtümer geht (III . 3 .) .

Ich danke Björnstjern Baade, Rodrigo Garcia Cadore, Patrick Hilbert, Sebastian Löffler, Annabelle Meier und Fabian Michl für hilfreiche Anmerkungen . 1 Joseph Raz, Practical Reason and Norms, 21990, 149 . *

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I.

Irren ist menschlich – im Denken wie im Handeln

Der Begriff des Irrtums hängt von dem des Wissens ab: Während „Wissen“ eine Leistung benennt („achievement-word“2), ist der Irrtum die korrespondierende Fehlleistung . Mit der ständigen Eventualität dieser Fehlleistung muss der Mensch leben, wie eine lateinische Redewendung zutreffend festhält . Wichtig ist nun, dass aus der Philosophie zwei in ihrem Gegenstandsbezug wesentlich verschiedene Wissensformen bekannt sind, denen zwei verschiedene Irrtumsformen korrespondieren . Die gängigere der beiden Wissensformen ist das sogenannte propositionale Wissen, das man häufig als „gerechtfertigte, wahre Überzeugung“ beschreibt .3 Mag diese Definition auch holzschnittartig sein, vermittelt sie dennoch den charakteristischen Gegenstandsbezug dieser Form von Wissen:4 Propositionales Wissen steht in einem rezeptiven Verhältnis zu seinem Objekt .5 Die „Anpassungsrichtung“6 ist Wort-an-Welt . Solches Wissen formt sich also nach seinem Gegenstand, indem es ihn zutreffend auffasst: Dass auf den Blitz der Donner folgt, dass 2 plus 2 gleich 4 ist oder dass Schwarzfahren in Deutschland strafbar ist – das alles sind Beispiele für propositionales Wissen . Den dazu korrespondierenden Irrtum nenne ich kognitiven Irrtum, weil er sich in einem unzutreffenden Überzeugungsgehalt manifestiert, wie z . B ., dass Schwarzfahren in Deutschland nicht strafbar ist . Heute weniger geläufig als die propositionale Wissensform ist die praktische, die indes in älteren Texten, vor allem bei Aristoteles und Thomas von Aquin,7 einen hohen Stellenwert besitzt . Ihren Platz in der modernen Ethik wies ihm die Wittgenstein-Schülerin G . E . M . Anscombe 1957 in ihrem berühmten Buch Intention zu . Gerade in jüngerer Zeit ist praktisches Wissen wieder vermehrt Forschungsgegenstand geworden .8 Es geht dabei um Wissen, dem ein spezieller Handlungsbezug innewohnt . Die Faustformel zur Abgrenzung von propositionalem und praktischem Wissen lautet, dass ersteres „in einem passiven Verhältnis“, letzteres aber „in einem produktiven John Finnis, Natural Law and Natural Rights, 22011, 59 . Hannes Ole Matthiessen / Marcus Willaschek, Art . Wissen, in: Enzyklopädie Philosophie III, hg . von H . J . Sandkühler, 2010, 3012–3018, 3013 . 4 Eva-Maria Jung, Art . Praktisches Wissen, in: Handbuch Handlungstheorie, hg . von M . Kühler / M . Rüther, 2016, 193–201, 194 . 5 John McDowell, Zum Verhältnis von rezeptivem und praktischem Wissen, DZPhil 61 (2013), 387 pass . 6 Hier nach Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 125 ff . (m . w . N .) . 7 Insb . Aristoteles, De anima, 433a 14 ff .; Thomas v . Aquin, S th I, q . 14, a . 16 . 8 Wie Anscombes Werk insgesamt, vgl . Anselm W . Müller, G . E . M . Anscombe – Entdeckung einer philosophischen Entdeckerin, in: G E M Anscombe: Aufsätze, hg . von K . Nieswandt / U . Hlobil, 2014, 359–368; zu einigen rechtsphilosophischen Schnittstellen jetzt Martin Hähnel, Praxeologischer Neoaristotelismus?, RphZ 2018, 356 . Dem Sujet widmete die DZPhil 61 (2013), 353 einen Themenschwerpunkt . Repräsentative Literaturübersicht zum praktischen Wissen bei John Schwenkler, Understanding „Practical Knowledge“, Philosopher’s Imprint 15 (2015), 30 ff . Deutschsprachige Monographien: Guido Löhrer, Praktisches Wissen, 2003; Eva-Maria Jung, Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, 2012 . Jüngst aus Frankreich: Valérie Aucouturier, L’intention en action, 2018 . Siehe auch die Nachweise in Fn . 12 . 2 3

Falsche Tatsachen

Verhältnis zu seinem Gegenstand“ steht .9 Die Anpassungsrichtung ist hier nicht Wortan-Welt, sondern Welt-an-Wort . Praktisches Wissen ist „Ursache dessen, was es versteht“ .10 Es lässt sich als ein Wissen-wie, als Knowhow, bezeichnen .11 Ein praktischer Irrtum oder Handlungsirrtum liegt dementsprechend vor, wenn der Handelnde seine Handlungsabsichten verfehlt, sodass etwas anderes geschieht als von ihm gewollt . Solche Fehlleistungen sind nicht selten, wo mehrere Personen an einer Handlung beteiligt sind . Ein berühmtes Beispiel Anscombes handelt von einem Ehepaar, das seine Einkäufe arbeitsteilig erledigt: Sie schreibt den Einkaufszettel, er geht los und kauft die Sachen . Nur leider bringt er Margarine nach Hause, nicht aber – wie es der Zettel verlangt – Butter . Diese Fehlleistung ist praktisch, weil der Fehler „in der Handlung“12 liegt . Er ließe sich nur durch den Kauf von Butter bereinigen und nicht etwa dadurch, dass man auf dem Einkaufszettel das Wort „Butter“ durch das Wort „Margarine“ ersetzt .13 Diese Annäherung an die im Detail umstrittene Abgrenzung der Wissensformen soll genügen . Tatsächlich greifen die Wissensformen meist ineinander .14 Hier kommt es nur darauf an, sich deren beider Existenz bewusst zu sein, um auf entsprechend informierte Weise über „Irrtümer“ sprechen zu können . Im Folgenden sollen sie nämlich zur Interpretation zweier moderner Rechtstheorien dienen, die Rechtsphilosophie als praktische Philosophie betreiben . Man wird davon ausgehen können, dass diese Theorien Aspekte sowohl unseres propositionalen als auch unseres praktischen Wissens betreffen . Die Frage, unter welchen Bedingungen das Recht nach diesen Theorien irren kann, profiliert die rechtskritische Seite dieser Theorien (II .) . Sie zeitigt zugleich das Folgeproblem der „Irrtumsfähigkeit“ des Rechtssystems als überindividueller Einheit (III .) .

Andrea Kern / David Horst, Schwerpunkt Praktisches Wissen: Einleitung, DZPhil 61 (2013), 354 (Hv . i . Orig .) . 10 G . E . M . Anscombe, Absicht (21963), dt . 2011, 135 . Hier scheint das thomistische Erbe von Anscombes Handlungstheorie besonders deutlich hervor, vgl . Peter Geach, Logic Matters, 1972, 324 ff .; Schwenkler (Fn . 8), 10 ff . 11 Kieran Setiya, Knowing How, Proceedings of the Aristotelian Society CXII (2012), 285; Jung (Fn . 8), insb . 10 ff ., 153 ff . 12 Anscombe (Fn . 10), 89 in loser Anbindung an Theophrast, vgl . ebd ., 90 . Zu einem „Anscombian Approach to Collective Action“ vgl . Ben Laurence, in: Essays on Anscombe’s Intention, hg . von A . Ford / J . Hornsby / F . Stoutland, 2011, 270–294; ferner Axel Seemann, Why We Did it: An Anscombian Account of Collective Action, IJPS 17 (2009), 637 sowie Christine Chwaszcza, Intentions in Collective Agency: A Third-Person Approach, in: Die Dimension des Sozialen, hg . von K . Mertens / J . Müller, 2014, 263–286 . 13 Nochmals Anscombe (Fn . 10), 89; zum Hintergrund auch dies ., Denken und Handeln bei Aristoteles: Was ist „praktische“ Wahrheit?, in: Müller (Fn . 8), 293–315, 314 f . („praktische Falschheit“) . 14 Lesenswert zum Zusammenhang von Handeln und Denken Arthur C . Danto, What Philosophy Is, 1968, 138 ff ., 149 ff .; Brian O’Shaughnessy, The Will (I), 22008, insb . 19–24, 179 ff ., 203 ff ., 247 ff . 9

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II.

Normatives Selbstbild und moralische Fallhöhe des Rechts

Einflussreichen zeitgenössischen Autoren zufolge erhebt das Recht einen charakteristischen „normativen Anspruch“15 (claim) gegenüber seinen Subjekten . Die Art und Weise, wie das Recht regelnd in Erscheinung tritt, soll so verallgemeinernd beschrieben werden . Damit möchte man insbesondere die handlungsleitende Funktion des Rechts seinem Selbstbild16 entsprechend darstellen und die kritische Beurteilung von Rechtssystemen daraufhin ermöglichen, ob sie den von ihnen erhobenen Anspruch denn auch einlösen . Insofern bedingt der Anspruch die moralische Fallhöhe .17 Idealtypisch lassen sich zwei Ausprägungen solcher Theorien unterscheiden . 1.

Die Theorie vom Gerechtigkeitsanspruch

Die eine Ausprägung beschreibt den Anspruch des Rechts als „Richtigkeitsanspruch“, wobei ‚Richtigkeit‘ für Gerechtigkeit steht . Mit dieser Theorie verbindet sich aktuell vor allem der Name Robert Alexy .18 Danach beansprucht das Recht, dass seine Gesetze und sonstigen Normen hinreichend gerecht sind . Sie sind dies nicht, wenn sie diesen Anspruch in signifikantem Ausmaß verfehlen .19 Eine der Hauptquellen dieser Theorie ist der klassische Aufsatz Gustav Radbruchs in der Süddeutschen Juristenzeitung von 1946, wo er die später sog . Radbruchsche Formel einführt .20 Die Spannung zwischen dem Richtigkeitsanspruch des Rechts im Allgemeinen und der konkreten Wirklichkeit einer praktizierten Rechtsordnung im Besonderen lässt sich nun anhand des Irrtumsphänomens irrtumstheoretisch deuten: Weil Recht notwendigerweise beansprucht, dass seine Normen gerecht sind, kann jedem Rechtssystem eine dahingehende Behauptung zugeschrieben werden .21 Diese ist falsch, wenn die Gesetze in Wirklichkeit höchst ungerecht sind . Dann liegt also ein Irrtum vor . Die den Irrtum anzeigende Falsifikation resultiert hier aus dem Widerspruch zwischen dem Normgehalt der Gesetze und den materiellen Erfordernissen der Gerechtigkeit .

Umfassend Stefano Bertea, The Normative Claim of Law, 2009 . David Kuch, Die Autorität des Rechts, 2016, 213 ff . m . w . N . David Kuch, Anspruch und Wirklichkeit des Rechts, JZ 2017, 719 (722 f .) . Ähnlicher Ansatz bei Philip Soper, A Theory of Law, 1984, 55, 117 ff . Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, 71 ff . Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), 105–108 . 21 Beansprucht es dies nicht, handelt es sich allenfalls scheinbar um Recht . Der Richtigkeitsanspruch hat insofern eine „klassifizierende Bedeutung“: Alexy (Fn . 19), 62 f . – Zum Problem des Bezugs dieser Zuschreibung s . u . III . 15 16 17 18 19 20

Falsche Tatsachen

2.

Die Theorie vom Autoritätsanspruch

Das Konkurrenzmodell entnimmt dem Recht keinen moralischen Richtigkeits-, sondern einen moralischen Autoritätsanspruch . Seine Hauptreferenz findet es im Werk von Joseph Raz .22 Doch auf strukturell sehr ähnliche Überlegungen trifft man in Geschichte und Gegenwart der Rechts- und Staatsphilosophie allenthalben .23 Anders als der Richtigkeitsanspruch bezieht sich der Autoritätsanspruch nicht unmittelbar darauf, was das Recht normiert . Stattdessen verweist er auf die Quelle, den Autor rechtlicher Gebote . Diese seien gerechtfertigt, nicht wenn sie „richtig“ sind, sondern wenn sie von einer legitimen Autorität stammen . Vom Standpunkt des Rechts aus gedacht, gleicht der Anspruch dem Credo: ‚Handle wie befohlen, weil ich es befehle!‘24 Diese Theorie entnimmt dem Habitus des Rechts also keine Behauptung über den Inhalt seiner Normen, sondern über die Position des Rechts gegenüber den Adressaten . Das Recht sieht sich moralisch in der Position, seinen Subjekten autoritative Vorgaben zu machen . Ein diesbezüglicher Irrtum liegt also vor, wenn das Recht in Wahrheit keine legitime Autorität25 über seine Subjekte besitzt . Kein den Anspruch tangierender Irrtum liegt aber vor, wenn Gesetze ungerecht sind . Insofern beansprucht das Recht gewissermaßen die „Macht zum Irrtum“26 . 3.

Verschiedene Irrtumsbedingungen der Theorien

Die vorgestellten Ansätze weisen Gemeinsamkeiten27 und Unterschiede auf . Hier interessiert nur die unterschiedliche Form, die eine vom Standpunkt der Ansätze aus adäquate Rechtskritik unter Berufung auf „Irrtümer“ der besagten Art annimmt . Der Unterschied in den Irrtumsbedingungen verweist auf die jeweils unterschiedliche In-

Z . B . Raz, The Authority of Law, 22009, ix, 30; The Morality of Freedom, 1986, 76; Between Authority and Interpretation, 2009, 97 u . ö . 23 Leslie Green, The Authority of the State, 1988, 1 ff . 24 Gängiges Motiv in der Rechtsphilosophie, etwa bei Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, II . 15 oder Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hg . von K . Ringhofer / R . Walter, 1979, 187 . 25 Orientierend zu den Legitimitätsbedingungen praktischer Autorität Kuch (Fn . 16), 189 ff . (insb . 195 ff .), 322 ff . m . w . N . 26 Raz, Freedom (Fn . 22), 159 („power to err“); zur Bedeutung inhaltlicher Richtigkeitserwägungen sogleich im Text . 27 Insbesondere verorten sie beide das Recht im Feld kommunizierbarer Handlungsgründe, d . h . im Gegenstandsbereich einer praktischen Vernunft realistisch-moderaten Zuschnitts . Repräsentative Allerweltskonzeptionen praktischen Begründens formulieren etwa Roy Edgley, Reason in Theory and Practice, 1969; Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, 1970; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, Abschn . A . – Weiter zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Theorien: Kuch (Fn . 16), 59 ff ., 224 ff .; Christian Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, 82 ff .; Paula Gaido, The Place for Morality in Law, in: Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie, hg . von M . Borowski / S . L . Paulson / J .-R . Sieckmann, 2017, 133–144 . 22

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tensität, mit der das Recht diesen Theorien zufolge auf die Praxis seiner Subjekte einwirkt bzw . auf Erfüllung seiner Normen dringt: Erhebt das Recht einen Richtigkeitsanspruch, so resultiert ein diesbezüglicher Irrtum aus dem Auseinanderklaffen seiner Gebote und den Anforderungen der Gerechtigkeit . Erhebt es hingegen einen Autoritätsanspruch, bezieht sich ein Irrtum gerade nicht auf das Handlungsgebot der Rechtsnormen, sondern auf ein moralisches Attribut des Rechts insgesamt, nämlich seine vorgebliche Autorität . Hier gehört der Irrtum also auf eine Ebene, die der Ebene der besonderen Inhalte des Rechts vorausliegt . Auf der inhaltlichen Ebene schneidet der Autoritätsanspruch Unrichtigkeitseinwände gerade ab: Derjenige, an den sich ein autoritatives Gebot richtet, kann zur Entkräftung seiner Gehorsamspflicht zwar Argumente gegen die Autorität des Rechts vorbringen,28 nicht jedoch gegen die Gerechtigkeit des ihn treffenden Handlungsgebots . Die Autoritätstheorie trennt zwischen dem Inhalt von Rechtsnormen und deren (moralischer) Geltung .29 Auch nach dieser Theorie ist Kritik an diesen Inhalten – etwa unter Bezug auf Gerechtigkeitserwägungen – selbstverständlich möglich . Allerdings wird sie vom Standpunkt des Rechts aus erst praktisch relevant, wenn das Recht ihr durch entsprechende Anpassung seiner Normen gefolgt ist . Anders nach der Theorie vom Richtigkeitsanspruch: Wer von einer Norm mit Richtigkeitsanspruch adressiert wird, der kann unmittelbar diese Richtigkeit bestreiten . Ob er sich wirklich so verhalten soll, wie die Norm verlangt, hängt davon ab, ob er oder der Urheber der Norm über die besseren diesbezüglichen Argumente verfügt . Der Sollgehalt der Norm gründet also inhaltlich-transitiv in Gerechtigkeitserwägungen . Es scheint, als sei die Norm, wenn sie „ungerecht“ ist, wie eine Aussage widerlegbar . Ein etwaiger „Irrtum“ hat also eher eine kognitive als eine praktische Form . Folgt man der Theorie vom Richtigkeitsanspruch,30 ist die handlungsleitende Kraft von Rechtsnormen daher relativ schwach und entspricht in etwa derjenigen einer praktischen Aussage .31 – Demgegenüber akzentuierter ist die direktive Wirkung von Rechtsnormen mit Autoritätsanspruch . Hier geht das Selbstbild des Rechts dahin, den Normsubjekten fertige Entscheidungen über das gesollte Verhalten vorzugeben . Es möchte die Frage nach dem richtigen Handeln selbst beantworten, unabhängig von anderen normativen Maßstäben . Rechtsnormen sind daher in dem Sinne „anmaßend“32, dass sie kollidierende praktische Erwägungen

Solche Argumente sind nicht weniger voraussetzungsvoll als der Autoritätsanspruch selbst, vgl . das Beispiel bei Kuch (Fn . 16), 205 Fn . 310 . 29 Zu Raz’ Geltungstheorie s . nur dens ., Authority (Fn . 22), 150 ff ., insb . 152 f . 30 In ihrer idealtypischen Ausprägung; Alexys Referenztheorie ist komplexer, weil auch sie autoritative Gründe kennt, vgl . dens ., An Answer to Joseph Raz, in: Law, Rights and Discourse, hg . von G . Pavlakos, 2007, 37–55, 51 f .; Bertea (Fn . 15), 128 f . – In umgekehrter Blickrichtung bestreitet auch die Autoritätstheorie nicht die Bedeutung inhaltsbezogener Rechtskritik (vgl . oben im Text) . 31 Zu ihr etwa Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 1976, 112 ff ., 512 f . 32 Raz (Fn . 1), 84 . 28

Falsche Tatsachen

der Adressaten ausschließen . So verstanden, greifen die „Irrtümer“ des Rechts weiter in ihre Praxis aus als nach der Theorie vom Richtigkeitsanspruch .33 III.

Wie Rechtssysteme „irren“

Die irrtumstheoretische Betrachtung der Anspruchstheorien handelt von deren rechtskritischem Potenzial . Der Blick auf die jeweils verschiedenen Irrtumsbedingungen hat erstens gezeigt, wo Rechtskritik jeweils ansetzen muss; zweitens wurde deutlich, dass nach der Autoritätstheorie von Rechtsnormen eine forciertere Verhaltenserwartung34 ausgeht als nach der Richtigkeitstheorie . Soweit zunächst zur heuristischen Kraft des Irrtums . Wie nun zu sehen, birgt der irrtumstheoretische Fokus zugleich ein Problem für die Anspruchstheorien: Er wirft die Frage auf, wie denn das Recht sich sollte „irren“ können (dazu sogleich 1 .) . Eine mögliche Antwort liefert die zu den Anspruchstheorien passende Institutionentheorie des Rechts, zu deren Verständnis wiederum das Konzept praktischen Wissens beitragen kann (2 .) . Das führt abschließend zur Frage nach der Relevanz praktischer Irrtümer im Recht (3 .) . 1.

Können Rechtssysteme wie Menschen irren?

Ein neuralgischer Punkt der Theorien vom normativen Anspruch des Rechts betrifft das Subjekt bzw . die Subjektivität des „Anspruchstellers“ . Nach den Vertretern dieser Theorien wird der normative Anspruch nicht von einzelnen Organen oder Normen erhoben, sondern vom Rechts- und Normensystem als Ganzem .35 Aber was verleiht diesem Aggregat aus unterschiedlichsten Komponenten die Befähigung, einen einheitlichen, die gesamte Normenproduktion durchwirkenden Anspruch zu erheben? Skeptiker sehen darin eine bezuglose Personifizierung des Rechts von eher metaphorischer als wissenschaftlicher Aussagekraft .36 Sie treffen damit einen wichtigen Punkt: Zwar wird die Intuition, dass das Recht als handlungsmächtige Einheit verstanden werden kann, dadurch genährt, dass es sich anscheinend natürlicherweise für Beschreibungen eignet, die ihm Handlungsbefähigung attestieren . Beispielsweise spricht man vom Rechtsakt . Der Ausdruck „Organ“ des Rechts suggeriert zudem, dass es StelVgl . hierzu auch Grant Lamond, Coercion and the Nature of Law, Legal Theory 7 (2001), 54, demzufolge der Autoritätsanspruch die Behauptung einschließt, das von den Normen verlangte Verhalten gegebenenfalls erzwingen zu dürfen . 34 Diese allgemeine Kennzeichnung von Normen hier in Anlehnung an Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 133 f . u . ö . 35 Raz, Interpretation (Fn . 22), 8; Alexy, Thirteen Replies, in: Pavlakos (Fn . 30), 334 f . 36 Dahin etwa Neil MacCormick, Why Law Makes No Claims, in: Pavlakos (Fn . 30), 59, 63, 67; Ronald Dworkin, Justice in Robes, 2006, 199 ff . 33

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len gibt, die durch solche Akte und Ausführungsmaßnahmen Funktionen für einen Gesamtkörper erfüllen, den Thomas Hobbes als „magnus homo“ präsentierte .37 In der Ausübung dieser Funktionen kann sich schließlich der sprichwörtlich „lange Arm des Gesetzes“ zeigen . Die Reihe der Beispiele ließe sich erweitern .38 Gleichwohl handelt es sich erst einmal um Fiktionen und Metaphern, deren Aussagekraft hier gerade infrage steht . Denn der für unser Thema wesentliche Unterschied zwischen dem Recht und seinen Subjekten liegt gerade darin, dass das Recht kein Mensch, keine Person, sondern ein System, ein Verbund von Institutionen bzw . Amtsträgern ist . Doch irren ist menschlich . Genau wie ein Mensch kann das Recht folglich nicht irren . Inwiefern also lässt sich die These aufrechterhalten, charakteristisch für das Recht sei die irrtumsanfällige Tätigkeit der Erhebung moralischer Ansprüche? Die Rechtsphilosophie kann diese Fähigkeit nicht einfach stillschweigend voraussetzen .39 Um die Füllung dieser Lücke geht es im Folgenden . Die These lautet, dass besonders die institutionelle Dimension des Rechts zum Verständnis seiner „Irrtumsfähigkeit“ beiträgt . Ausdrücklich nicht gesucht wird die Erklärung in (prima facie) metarechtlichen Zusammenhängen, etwa im Souveränitäts- oder im Staatsbegriff .40 2.

Recht als menschliches Handeln

In seiner nützlichen Kurzeinführung in die Rechtsphilosophie schreibt Dietmar von der Pfordten, Recht sei „menschliches Handeln“41 . Dieser Gedanke lädt zu seiner Fortführung ein, weil er die Welt des Rechts als ein Geschehen auffasst, wo es „menschelt“, wo also eine gewisse Irrtumsanfälligkeit besteht . Der Bezug zum Handeln lässt zudem auf die Präsenz beider Wissens- bzw . Irrtumsformen im Recht schließen, d . h . gerade auch der praktischen .

Im Leviathan (1651), s . insb . II .17 und das berühmte Frontispiz; zusammenfassend Wolfgang Kersting, Vertrag, Souveränität, Repräsentation, in: Thomas Hobbes: Leviathan, hg . von W . Kersting, 1996, 211–233, 216 ff . – Kleine Revue der Anthropomorphismen seit Platon bei Daniel Damler, Rechtsästhetik, 2016, 64 ff . 38 Vgl . nur Laura Münkler, Metaphern im Recht, Der Staat 55 (2016), 181 . 39 S . auch Thomas Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates, 2015, 227 f . Vorliegend kann dafür, dass einzelne Organe des Rechts, insbesondere der Gesetzgeber, handlungsfähig sind, nicht eigens argumentiert werden . Vgl . dazu Wischmeyer, ebd ., 242 ff . 40 Klassische Kritik am „Souverän“ als Inkarnation des Rechts: H . L . A . Hart, The Concept of Law, 1961, Kap . II–IV (gegen Austin) . Zur Problematik des Verhältnisses von Recht und „Staat“ Christoph Möllers, Staat als Argument, 22011, insb . Kap . 1 (23 ff .), 2 (48 ff .) und 18 (418 ff .) . 41 von der Pfordten, Rechtsphilosophie Eine Einführung, 2013, 17 ff .; das gelte für das Recht „als ein allgemeines Phänomen und in allen seinen einzelnen Manifestationen“ (17) . 37

Falsche Tatsachen

a)

Institutionalität als Identitätsprinzip des Rechts

No entity without identity .42 Was also verleiht dem Recht seine Identität, seine Gegenständlichkeit, die es dazu befähigt, Ansprüche zu stellen und sich dabei zu „irren“? Die Antwort – so die hiesige These – liegt in der Systemnatur des Rechts begründet, mit der sich Raz – eine der Hauptquellen der Anspruchstheorie43 – in Fortschreibung von H . L . A . Harts Modell ausgiebig befasst hat . Für unsere Zwecke aufschlussreich ist beispielsweise folgende Passage: „it is an essential feature of legal systems that they are institutional, normative systems . It is, therefore, reasonable to take the law to consist of those norms, rules, and principles, that are presented to individuals and institutions as guides to their behaviour by the body of legal institutions as a whole .“44

Aufgrund der institutionellen Verfasstheit des Rechts stehen die Rechtsnormen nicht nur in Bezug zum einzelnen Rechtsetzer, sondern zum body of legal institutions as a whole . Die Normen – ihres Zeichens Träger des rechtlich-normativen Anspruchs – sind Produkte systemweiter Vorgänge, die das Rechtssystem konstituieren . In diesen Aktivitäten erkennt Raz eine charakteristische Form von Arbeitsteilung, er grenzt im Rechtssystem eine vorgeschaltete „deliberative“ von einer nachgeschalteten „exekutiven“ Entscheidungsebene ab .45 Die Deliberationsebene, besonders die Ebene der Gesetzesberatung, zielt auf die Fassung von Entschlüssen, die, soweit sie reichen, den Ausgangspunkt für die Arbeit auf der Ausführungsebene bilden . Raz beschreibt einen sukzessive im Rechtssystem verlaufenden Finalisierungs- oder Abschließungsprozess, bei dem Rechtsetzer und -anwender in einem Entscheidungskontinuum zusammenwirken .46 Arbeitsteilig produziere das Rechtssystem seine Normen, vermöge derer es gegenüber den Subjekten Autoritäts- und Gehorsamsansprüche erhebt (s . sogleich b) . Für Raz verweisen all diese Vorgänge auf einheitsstiftende Praktiken in Gestalt verfestigter sozialer Gewohnheiten, die Rechtssysteme sukzessive entstehen lassen und ihnen Kontinuität verleihen .47 Damit knüpft er eng an Harts klassische Vorlage an, der mit seiner Lehre von der Erkennungsregel (rule of recognition) die gewachsene Institutionalität von Rechtsordnungen mit ihrer komplexen normativen Struktur zu-

Willard van Orman Quine, Ontological Relativity and Other Essays, 1969, 23 . S . o . II . 2 . – Gleichwohl bleibt bei ihm die Verschränkung von Autoritäts- bzw . Normativitäts- und Institutionentheorie insgesamt eher vage . 44 Raz, Authority (Fn . 22), 88 . 45 Zum Folgenden Kuch (Fn . 16), 257 ff . 46 Raz, The Concept of a Legal System, 21980, 212 ff . 47 Insb . Raz (Fn . 46), 187 ff .; ders ., Authority (Fn . 22), 91 ff .; Finnis (Fn . 2), 238 ff ., 266 ff . Aus dieser Warte ist die Frage der Kontinuität und Diskontinuität von Rechtssystemen besonders interessant, da sie nicht auf die Frage der Kontinuität einer formellen Verfassung reduziert werden kann, vgl . John Finnis, Revolutions and Continuity of Law, in: Collected Essays IV, hg . von dems ., 2011, 407–434, 412 ff ., 425 ff . 42 43

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sammendenkt .48 Die Erkennungsregel ist in der Tat „legal-system-maintaining“49, d . h . einheitsstiftend: Sie gilt zwar für die Gerichte, verlangt von diesen aber die Anerkennung eines Gesetzgebers als übergeordnete Rechtsquelle, dessen allgemeine Entscheidungen, soweit sie reichen, die Gerichte auf Einzelfallebene perpetuieren (sollen) .50 Praktizierte Rechtserkennungsregeln sind folglich Ausdruck einer funktionierenden Arbeitsteilung zwischen den zentralen Organen der (so konstituierten) Rechtssysteme . Die Organe bilden ein untrennbares Gespann . Dieser Befund führt zum logischen Vorrang der Praxis des Systems vor den Aktivitäten der Organe, aus deren Zusammenarbeit außenwirksame Rechtsnormen hervorgehen . In diesem Sinne ist Recht menschliches Handeln und steht der body of legal institutions am Ursprung der normativen Ansprüche des Rechts .51 Dementsprechend findet auch der Irrtum seinen primären Bezugspunkt in dieser übergeordneten Einheit, diesem Handlungskontinuum . Somit erweist sich das Recht aufgrund seiner Institutionalität als irrtumsfähig . b)

Zwischen Rechtsetzung und Interpretation

Die dynamische Beziehung der Hauptorgane des Rechtssystems – Rechtsanwendung und Rechtsetzung – ist ein weitgespanntes Thema .52 Mit Blick auf den normativen Anspruch des Rechts gegenüber seiner sozialen Umwelt bedarf das Verhältnis zwischen Autoren und Adressaten rechtlicher Normen weiterer Aufmerksamkeit, um auch die Bedeutung etwaiger Irrtümer besser beurteilen zu können (dazu abschließend 3 .) . Auszugehen ist dabei freilich vom Fall der in puncto Handlungsleitung erfolgreichen Vermittlung zwischen Recht und Subjekt: Wie gelingt die Normenproduktion in der Weise, dass das Rechtssystem normative Außenwirkung entfaltet? Mehrere Faktoren sind hier am Werk . In sehr abstrakter Form greift Raz diese Frage in Practical Reason and Norms auf, wo er folgende allgemeine Feststellung über Rechtssysteme trifft: „They contain norms determining the rights and duties of individuals . These are the very same norms that the primary institutions [scil . die Gerichte] are bound to apply and that

Hart (Fn . 40), insb . 94 f .; vgl . zu diesem Aspekt David Kuch, Teilnehmerperspektive und Rechtssatzlehre – Eine problematische Beziehung, ARSP 105 (2019), 376 (379 ff .) . 49 So Gerald Postema, Legal Positivism: Early Foundations, in: The Routledge Companion to Philosophy of Law, hg . von A . Marmor, 2012, 31–47, 46 . 50 Bei jener anerkannten Rechtsquelle muss es sich nicht um menschliche Setzungen handeln, möglich sind beispielsweise auch religiöse Normen (transzendenten Ursprungs) . Die aus der Systempraxis hervorgehenden Rechtsnormen sind gleichwohl (aufgrund der im Text dargestellten notwendigen Präsenz einer institutionalisierten Anwenderperspektive) in jedem Falle sozialen Ursprungs . 51 In diesem Punkt unzutreffend daher Luís Duarte D’Almeida / James Edwards, Some Claims about Law’s Claims, Law and Philosophy 33 (2014), 725 (743) . 52 Klassisch zur inneren Dynamik des Rechts Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 21960, 196 ff . 48

Falsche Tatsachen

is the reason that they also provide guidance to individuals as to their rights and duties in litigation before the primary organs .“53

Danach dient die Arbeitsteilung der Organe im Recht gerade der normativen Außenwirkung des Systems . Eine Rechtsnorm kennzeichnet, dass Rechtsetzer und Rechtsanwender über dieselben praktischen Fragen entscheiden und dabei zum selben Ergebnis kommen, also vom Normadressaten dieselbe Handlung verlangen . Handlungssteuerung und Handlungsbewertung durch das System konvergieren im rechtlichen Standpunkt .54 Es drängt sich auf, dass diese komplexen Interdependenzen – in der Praxis oft erstaunlich reibungslos bewältigt – den Beteiligten viele Fähigkeiten abverlangen . Die interne Beziehung zwischen den Organen wie zugleich die externe zwischen dem Rechtssystem und den Subjekten ist von einem permanenten Wechselspiel von Antizipationen und Reaktionen geprägt . Kurz gesagt bedarf es reichlich praktischen Wissens, um daran teilnehmen zu können .55 Nun liegt die Herausforderung kontinuierlich gelingender Normenproduktion und -befolgung allem Anschein nach in der Synthese von Setzen und Verstehen des Rechts .56 Wie finden diese Aktivitäten zueinander? Einer der wichtigsten diesbezüglichen Vorschläge kann auf eine lange rechtsphilosophische Tradition zurückblicken .57 Er bringt die Beziehung von Normsetzer und -adressaten in eine sehr klare Form, indem er besagt: „All law is source-based . […] A law is source-based if its existence and content can be identified by reference to social facts alone, without resort to any evaluative argument .“58

Rechtsnormen müssen befolgt werden können, ohne dass der Adressat dazu selbst eine Wertung treffen müsste . Für die Rechtserkennung haben sie deshalb den Status „sozialer Tatsachen“ . Nur sofern und soweit das zutrifft, so die These (sog . Quellenthese), entfalte das Recht eigene handlungssteuernde Kraft . Dazu aber müssen Sender und

Raz (Fn . 1), 138 . „Legal point of view“, Raz (Fn . 1), 142 . Dieser Gleichlauf fehlt, wenn die Vorgaben der Rechtsetzung – wie nicht selten – bewusst oder unbewusst lückenhaft bzw . ausfüllungsbedürftig sind, vgl . Raz (Fn . 1), 139 f . Die folgenden Ausführungen über die Gelingensbedingungen autoritativer Handlungssteuerung gelten aber auch für diese Fälle, nur dass dann allein die Gerichte den (verbleibenden) Steuerungsbedarf decken . 55 Insofern instruktiv Veronica Rodriguez-Blanco, Law and Authority under the Guise of the Good, 2014, 126 ff .; vgl . auch John Finnis, Zur Natur des Rechts, in: Borowski u . a . (Fn . 27), 31–51, 48 ff .; José de Sousa e Brito, Science and Technique in Jurisprudence, in: Filosofia do direito e do estado, hg . von dems ., 1987, 61–68 . – Am Beispiel des sog . Organirrtums unten III .3 . 56 N . E . Simmonds, Between Positivism and Idealism, The Cambridge Law Journal 50 (1991), 308 pass . mit breit angelegtem Problemaufriss quer durch die Rechts- und politische Theorie; s . auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 62017, 238 ff ., insb . 241 ff . 57 Im Überblick zur Tradition des Rechtspositivismus aus jüngerer Zeit etwa Walter Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus, 2016; auch Nils Jansen, Rechtswissenschaft und Rechtssystem, 2018 . 58 Raz, Ethics in the Public Domain, 1994, 210 f . 53 54

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Empfänger genau diesen Verständigungsmodus beherrschen und nutzen . Nach der Quellenthese kommt der Befähigung der Adressaten zur wertungsfreien Interpretation des Verhaltens der Rechtsetzer – die ihrerseits das der Interpreten antizipieren müssen59 – wesentliche Bedeutung zu . Denn unter der Prämisse, dass ein anderer in meinen Angelegenheiten entscheidet, tritt die Erkenntnis seines Werturteils an die Stelle meines eigenen . Im Einzelnen ist diese Position freilich alles andere als unumstritten .60 Doch unabhängig davon, ob sie jene Verständigung am plausibelsten beschreibt, verdeutlicht sie, dass gelingende rechtliche Handlungssteuerung auf allen Seiten spezielle, gerade auch praktische Fähigkeiten voraussetzt, mithin einen beträchtlichen praktischen Wissensfundus . Das leitet über zur letzten Frage nach der Relevanz von Irrtümern im Kontext der Produktion und Rezeption von Recht . 3.

Irrtümer im Recht

Die bisherigen Ausführungen sollten zeigen, wovon die Behauptung, „das Recht“ könne „irren“, handelt . Unter dieses Thema gestellt, mündete die Beschäftigung mit dem Irrtum in die Frage nach der Institutionalität des Rechts . Das dargestellte Modell hat Folgen für eine Reihe weiterer Fragen, denen hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann .61 Nur ein unmittelbar irrtumsrelevanter Aspekt verdient noch Erwähnung: Am Ende des letzten Abschnitts wurde der dem Rechtsgeschehen immanente praktische Wissensaspekt betont . Das geschah in der Absicht, der Tendenz entgegenzuwirken, das Recht zu sehr zu vergeistigen, es insbesondere – wie vielleicht gerade für Juristen naheliegend – stärker als Argumentationsmittel bzw . Interpretationsgegenstand62 denn zugleich auch als konkrete soziale Praxis wahrzunehmen . Diese Linie wird abschließend in einem spezielleren Bereich der Irrtumsthematik weitergeführt, nämlich mit Blick auf die Lehre vom „fehlerhaften Rechtsakt“63 .

Raz, Interpretation (Fn . 22), 120 ff . Die Frontlinie verläuft aber nicht zwischen „Rechtspositivismus“ und „Naturrechtslehre“, vgl . Kuch (Fn . 16), 252 ff ., 265 ff . m . w . N . 61 Dazu gehört insbesondere die nach dem Wesen von Interpretation, die im jüngeren rechtstheoretischen Schrifttum große Beachtung gefunden hat . Siehe etwa den Band Law and Interpretation, hg . von A . Marmor, 1997 sowie dens ., Interpretation and Legal Theory, 22005 . Weiterhin stellen sich komplexe Fragen nach der Aufteilung und Zuordnung der moralischen Entscheidungsverantwortung zwischen den Organen des Rechts . 62 Pointiert zu solchen Modellen Andreas Funke, Varianten sprachpragmatischer Rechtsphilosophie, in: Borowski u . a . (Fn . 27), 239–261, 253 ff . 63 Allg . Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, 250 ff . 59 60

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Organirrtümer und die „Macht zum Irrtum“

Das Recht, als menschliches Handeln verstanden, bietet reichlich Raum für Irrtümer . Wie sich speziell darin die institutionelle, praktische Dimension des Rechts widerspiegelt, soll eine kurze Rekonstruktion der Vorstellung vom „Organirrtum“64 auf Grundlage des dargestellten Ansatzes zeigen . Das mag überdies zum Verständnis dieses Irrtumsphänomens beitragen . Dem oben beschriebenen Modell zufolge zeichnen die Gerichte nicht weniger als der Gesetzgeber für das autoritative Selbstbild des Rechtssystems verantwortlich . Ebendieser Annahme wohnt nun allerdings die Tendenz inne, die Gesetzesbindung der Gerichte zu konterkarieren und so zugleich das Konzept vom (Rechts-)„Irrtum“ zu unterlaufen .65 Denn indem das Recht einen Autoritätsanspruch erhebt, reklamiert es für sich die ‚Macht zum Irrtum‘(vgl . oben II . 2 .) . Unter Einbeziehung der Gerichte aber muss sich dieser Anspruch auf Rechtsirrtümer erstrecken .66 Bezweckt nämlich eine autoritative Entscheidung im Allgemeinen den Ausschluss kollidierender praktischer Erwägungen ihrer Adressaten, so sind hiervon im besonderen Fall der Gerichte gerade auch rechtliche Erwägungen erfasst – wenn es denn, was freilich zutrifft, den Gerichten obliegt, aufgrund rechtlicher Erwägungen abschließend zu urteilen . Der Gehorsamsanspruch (auch) des Richters gegenüber den Normadressaten beruht statt auf den ihn selbst leitenden tatsächlichen, ethischen und nicht zuletzt rechtlichen Gründen auf einer normativen Eigenschaft des Rechts in Gestalt seiner (vorgeblichen) Autorität, die sich im Urteil – auch im fehlerhaften – einzelfallbezogen aktualisiert . Allgemein gilt im Lichte der Autoritätstheorie: Dass ein Organ Recht setzt, welches es – ob aus rechtlichen oder anderen Gründen – nicht hätte setzen sollen, ist qua Autoritätsanspruch rechtlich unbeachtlich .67 Am Ausgangspunkt der Irrtumsthematik ergibt sich darum ein interessanter Kontrast zur einflussreichen, von Adolf Merkl entwickelten Lehre vom „Fehlerkalkül“, der zufolge der fehlerhafte Rechtsakt eigentlich, d . h . ohne wiederum positivrechtlich geleistete „Geburtshilfe“, ein nur scheinbarer, nichtiger Rechtsakt ist .68 Nach dem zuvor

Er liegt vor, wenn ein Organ des Rechtssystems – besonders ein Gericht – eine Norm setzt, die in Widerspruch zur Rechtslage steht, vgl . Adolf Merkl, Justizirrtum und Rechtswahrheit, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule I, hg . von H . R . Klecatsky / A . Merkl / A . Verdross, ND 2010, 159–170 . 65 Zu einem ähnlichen Aspekt bei Kelsen Johannes Buchheim, Fehlerkalkül als Ermächtigung?, Rechtstheorie 45 (2014), 59 (70) . 66 Raz (Fn . 1), 145 f .; zu parallelen Aspekten bei Hart vgl . Buchheim (Fn . 65), 65 ff . 67 Dieser Grundsatz spannt wohlgemerkt nur den Rahmen zwischen Gesetzeserlass und finalem Rechtserkenntnisakt auf . Innerhalb dieses Rahmens ist Raum für rechtliche Ausgestaltung (z . B . besondere Fehlerfolgenregime) . 68 Patrick Hilbert, Fehlerkalkül oder Alternativbestimmungen – zu den Strategien der Geburtshilfe im Stufenbau der Rechtsordnung, ZÖR 72 (2017), 550 ff .; vgl . bei Merkl (Fn . 64), 162 f . bzw . dens ., Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, 195 f . – Ob dieser Ausgangspunkt (vgl . im Text) mit der Finalität der Rechtserzeugung zu vereinbaren ist, erscheint indes fraglich, was hier nicht zu vertiefen ist . Kelsens Lehre von der alternativen Ermächtigung (s . Kelsen [Fn . 52], 272 f .) lässt sich durchaus als Fortentwicklung des Fehlerkalküls 64

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Gesagten verhält es sich anders: Der „fehlerhafte“ Rechtsakt hat dieselbe handlungsleitende Relevanz, er erhebt denselben normativen Anspruch wie der „fehlerfreie“ . Es bedarf keiner Geburtshilfe . Infolgedessen entfaltet der vorliegende Ansatz durchaus ein gewisses Maß an Regelskepsis: Die Richter, nicht der Gesetzgeber haben in Rechtsfragen das letzte Wort . Gerichte können den Subjekten also in Widerspruch zur Rechtslage Rechtspflichten auferlegen . Diese regelskeptische Tendenz muss unser Ansatz jedoch domestizieren . Andernfalls finge seine eigene Idee eines Rechtssystems aus ‚norms determining the rights and duties of individuals‘69 an zu bröckeln . Denn existieren verbindliche und hinreichend verlässliche Rechtsnormen, wenn man auch sagen könnte: „All law is judge-made law“?70 b)

Der Organirrtum als praktischer Irrtum

Diese These dürfte eine (post-)hartianische Theorie indes kaum unterschreiben . Sie wird zunächst daran erinnern, dass sich der Bestand an Regeln, die zu einem Rechtssystem gehören, keineswegs in den gesetzlichen Vorschriften erschöpft .71 Zu jenen übrigen Regeln gehört nun aber eine ganz urwüchsige Norm des Rechtssystems, die ihrerseits die Gesetzesbindung der Rechtsanwendung vermittelt – die Erkennungsregel (s . o . III . 2a) . Diese als eine Art richterliches Gewohnheitsrecht wirkende Regel begründet die im Rechtssystem praktizierte Arbeitsteilung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung, d . h . Gesetzgeber und Gerichten . Rechtsanwender, insbesondere Richter, unterliegen in ihrer Funktion als solche einer Regel, die in der tatsächlichen Praxis der Rechtsanwender selbst wurzelt und deren Geltung von dieser Praxis perpetuiert wird: „[Law applying officials] not only do what, according to the ultimate legislature, is to be done . They also treat adherence to the word of the ultimate legislature as the done thing . They regard the norms created by the ultimate legislature as norms for them to apply, because there is a norm under which, as officials, they have a duty to apply norms created by the ultimate legislature . […] For Hart, this social rule is what constitutes the rule of recognition of the legal system . The rule of recognition is therefore an example of customary law in foro .“72

deuten, die diesem (praktischen) Aspekt stärker Rechnung trägt, vgl . Christoph Kletzer, Kelsen’s Development of the Fehlerkalkül-Theory, Ratio Juris 18 (2005), 46 (51 ff .); zum Ganzen auch Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 21990, 150 ff . Zu einigen Aspekten der Lehre vom Fehlerkalkül ferner die Beiträge von Jakob Faig und Johannes Buchheim in diesem Band (S . 209 ff . und 223 ff .) . 69 S . o . Zitat bei Fn . 53 . 70 So spitzt Gerald J . Postema, Legal Philosophy in the Twentieth Century: The Common Law World, 2011, 85 das Credo des Rechtsrealismus zu; vgl . auch Hart (Fn . 40), 141 ff . 71 Eine den hiesigen Zwecken genügende Übersicht der Regeltypen bei Kuch (Fn . 16), 241 Fn . 461; ebd ., 139 ff . zur Erkennungsregel m . w . N . 72 John Gardner, Some Types of Law, in: Law as a Leap of Faith, 2012, 54 (69) .

Falsche Tatsachen

Demnach folgt die Gerichtspraxis bei der Gesetzesanwendung einer Rechtsregel in Gestalt der ‚rule of recognition‘ . Erst im Lichte dieser Regelpraxis ergibt die Vorstellung außenverbindlicher Rechtsnormen Sinn, weil sie die gerichtliche Handlungskontrolle trotz gerichtlicher Letztentscheidungsmacht zur Konvergenz mit der gesetzlichen Handlungssteuerung treibt (III . 2b) . Wenn also bei der richterlichen Gesetzesanwendung Fehler oder Irrtümer unterlaufen, handelt es sich um Fehler in Befolgung einer Rechtsregel, nämlich der Erkennungsregel . Der Richter löst sich nicht vom Recht, sondern befolgt es – nur eben auf fehlerhafte Weise . Die Bindung an die Erkennungsregel steht für ihn von vornherein nicht zur Disposition, weil sie der Organfunktion selbst eingeschrieben ist . Nimmt man zu diesem Befund noch die Finalität der Gerichtsentscheidung hinzu (III . 3a), so ist der Organirrtum als eine eigentümlich produktive Art von Fehlleistung rekonstruiert: Er zeichnet sich nicht durch eine unzutreffende Wiedergabe der Rechtslage im Einzelfall aus, sondern durch eine unzutreffende Herstellung derselben . Solch ein Irrtum ist gewissermaßen Ursache dessen, was er missversteht .73 Er liegt hier auf ähnliche Weise ‚in der Handlung‘ wie der Fehlkauf im Einkaufsbeispiel:74 Der Kauf von Margarine statt Butter widerspricht zwar der Einkaufsliste, doch die Rahmenhandlung – Einkaufen anhand der Liste – entspricht zweifellos der vereinbarten Arbeitsteilung . Der Fehlgriff als Aspekt ihrer praktischen Umsetzung bringt das Geschehen (teilweise) zu einem anderen Ergebnis als gewünscht: im Kühlschrank steht nun Margarine, nicht Butter . In Parallele hierzu ist der rechtliche Organirrtum ein Aspekt der richterlichen Gesetzesausführung, die, wie gesehen, auf ihre Weise Tatsachen schafft . Es liegt daher nahe, den Organirrtum als praktischen Irrtum aufzufassen . Er schafft Tatsachen, nur eben die Falschen . Unter dieser Hinsicht ist das vielbeschriebene Irrtumsphänomen75 geradezu exemplarisch für das oben vorgestellte Konzept vom Recht als ‚menschlichem Handeln‘ . IV.

Fazit

Rechtsphilosophie ist praktische Philosophie, angewandt auf eine soziale Institution . Der irrtumstheoretische Blick auf die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Rechtssystemen ergab, dass „Irrtümer“ hier sowohl kognitive als auch praktische Facetten aufweisen . Der Beitrag verortete rechtliche Normativität dergestalt in der sozialen Wirklichkeit, dass die rechtskritische Vorstellung von Irrtümern des Rechts Sinn ergibt: Unter Einbeziehung der Institutionalität des Rechts erscheinen die Rechtsetzungsakte einzelner Organe als Momente systemweiter Handlungskontinuen . Die 73 74 75

Vgl . oben bei Fn . 10 Vgl . oben bei Fn . 12 . Vgl . oben Fn . 63 f ., 68 .

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Normenproduktion entfaltet sich im Wechselspiel von Rechtsetzung und Rechtsanwendung als den Komplementärkräften der Rechtserzeugung . Organirrtümer stellen sich am Ende als durchaus eigenartige Phänomene heraus: Sie schaffen „falsche Tatsachen“ .

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme (in) der juristischen Methodenlehre MAXIMILIAN SCHULZ (Göttingen)

A.

Einleitung

Wer sich, wie im Rahmen dieser Tagung geschehen, mit Irrtümern und Fehlern im Recht befasst, stößt unweigerlich auf den Begriff des Gesetzgeberirrtums . Denn in Literatur und Gerichtsentscheidungen ist immer wieder von Irrtümern oder Fehlern des Gesetzgebers die Rede .1 Der vorliegende Beitrag soll den Begriff des Gesetzgeberirrtums sowie dessen Behandlung in Rechtsdogmatik und Methodenlehre aus rechtstheoretischer2 sowie staatsphilosophischer Sicht untersuchen . Es wird gezeigt, dass schon in dem Begriff des Gesetzgeberirrtums, wie ihn die aktuelle deutsche Rechtsdogmatik und Methodenlehre konstituiert, wenigstens zwei bekannte, aber nach wie vor ungelöste Probleme angelegt sind: Zum einen wird die Frage aufgeworfen, was die Ausübung von Staatgewalt grundsätzlich legitimiert . Zum anderen positionieren Hanjo Hamann, Redaktionsversehen . Ein Beitrag zur Legislativfehlerlehre und zur Rechtsförmlichkeit, Archiv des öffentlichen Rechts 139 (2014), 446–475, 450 („gesetzgeberische[…] Fehler“); Raimund Lange, Die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen bei Umstrukturierung, NZA 2017, 288–294, 294; Franz Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, 268–267 (Das Recht sei auf Grund von möglichen Fehlern potentiell „korrekturbedürftig“); Frank Salinger / Alexander von Saucken / Pia-Franziska Graf, Strafgesetzgebung als Fehlerquelle, ZRP 2016, 54–56, 55 („Fehler“ des Gesetzgebers); Kilian Servais, Der Widerruf von Kf W-Darlehen, BKR 2016, 152–155, 153; Silja Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 2010, 47; Alexander Weiss, Der mutmaßliche Gesetzgeberwille als Argumentationsfigur, ZRP 2013, 66–68, 68; aus der Rechtsprechung: BGH Urt . v . 22 .03 .2002, Az . V ZR 192/01, juris-Rn . 9; BVerwG, Beschl . v . 10 .08 .2016, Az . 1 B 82 .16, juris-Rn . 8 . 2 Die Rechtstheorie wird hier verstanden als theoretische Philosophie des Rechts, mithin das Teilgebiet der Rechtsphilosophie, welches sich nicht mit der Frage nach gutem oder richtigen Recht (Rechtsethik) befasst, sondern die Frage „Was ist Recht (als solches)?“ zu beantworten versucht, vgl . zu diesem Ansatz: Dietmar von der Pfordten, Rechtsphilosophie, 2013, 13 ff . 1

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sich im Rahmen dieser Frage wiederum überpositive Maßstäbe, insbesondere die Gerechtigkeit, als „gute Gründe“ für die Korrektur gesetzgeberischer Irrtümer und Fehler durch die Judikative, ohne dass die staatsphilosophische Legitimität dieser Maßstäbe geprüft wird . Der Begriff des Gesetzgeberirrtums geleitet uns also zur Reflexion über die Legitimität von Recht und Staat sowie über das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit . Er führt uns folglich ins „Herz“ rechtsphilosophischer Forschung . Dieser Beitrag bezweckt dabei weniger Lösungen zu präsentieren, als auf das Problem aufmerksam zu machen . Er nähert sich der Thematik zunächst von abstrakt-theoretischer Seite . Als Erstes werden notwendige Merkmale des Begriffs des Gesetzgeberirrtums und in einem zweiten Schritt weitere Implikationen herausgearbeitet (B . I . und B . II . ) . Im Anschluss werden verschiedene Formen des Gesetzgeberirrtums und seiner Ermittlung unterschieden (B . III . und B . IV . ) . Danach widmet sich der Beitrag der Behandlung der Irrtümer und insbesondere ihrer Korrektur in der Methodenlehre-Literatur (C .) . Theoretisch wie praktisch ermittelte Formen des Irrtums werden uns zuletzt zu den Theorien der Legitimität (judikativer) Staatsgewalt (D .) führen . B.

Eigenschaften des Begriffs des Gesetzgeberirrtums

Zu Beginn muss klargestellt werden, dass bei der folgenden abstrakt-theoretischen Betrachtung angenommen wird, der Gesetzgeber sei eine Einzelperson, und habe zudem sämtliche geltenden Gesetze erlassen . Diese Vereinfachung soll den Blick auf die hier zu diskutierenden Probleme schärfen und andere Fragen, z . B . die nach der Feststellbarkeit von Kollektivwillen, ausblenden . I.

Begriffsmerkmale

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums lässt sich in zwei Bestandteile, den Begriff des Gesetzgebers und den Begriff des Irrtums, gliedern . Gesetzgeber ist eine rechtsetzende Instanz, wobei der Begriff des Gesetzes allgemein-generelle Normen bezeichnet . Der Begriff des Irrtums lässt sich fassen als eine Fehlvorstellung über Tatsachen .3 Dabei implizieren sowohl der Begriff der Fehlvorstellung als auch der der Tatsache, dass es objektiv beweisbare Dinge und Zusammenhänge gibt . Erkenntnistheoretisch In der Strafrechtsliteratur wird Irrtum als „Widerspruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit“ begriffen: Perron, in: Adolf Schönke / Horst Schröder (Hrsg .), Strafgesetzbuch, 29 . Aufl ., 2014, § 263, Rn . 33 (mwN .); im Zivilrecht ist die Formulierung „Fehlvorstellung von der Wirklichkeit“ üblich: Reinhard Singer, in: Norbert Habermann / Joachim Jickeli / Hand Georg Knothe (Hrsg .), J von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1, 16 . Aufl ., 2017, Rn . 6; Riedl spricht in seinem Aufsatz über das Redaktionsversehen von „Abweichung der (subjektiven oder objektivierten) Vorstellung von der (objektiven) Wirklichkeit: Magnus Riedl, Die Rechtsfigur des Redaktionsversehens des Gesetzgebers, Archiv des öffentlichen Rechts, 642–657, 643 . 3

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

ist das durchaus bezweifelbar4 – wird aber durch den Begriff selbst vorausgesetzt . Der Irrtum bzw . der „Denkfehler“ des Gesetzgebers betrifft mithin Fakten bzw . die Realität . Der Begriff setzt folglich voraus, dass sich Gesetzgebung an „etwas“ messen lässt bzw . messen lassen muss . II.

Implikationen aus der Art der Verwendung in der Methodenlehre

Neben den genannten Implikationen ergeben sich weitere Merkmale, die zwar nicht notwendig mit jeder Vorstellung vom Gesetzgeberirrtum verbunden sind, hier jedoch mitgedacht werden . Im rechtswissenschaftlichen Kontext impliziert der Begriff des Fehlers oder Irrtums regelmäßig dessen Korrekturmöglichkeit . Dies hat zur Folge, dass der erwähnte Maßstab nicht bloßer Vergleichsmaßstab ist, sondern eine Norm, an der sich die Gesetzgebung auszurichten hat . III.

Mögliche Irrtümer

Die Ermittlung des Irrtums erfordert einen „Vergleich“ zwischen dem zu bewertenden Gegenstand und dessen Maßstab . Im Folgenden wird zunächst festgestellt, um welchen zu bewertenden Gegenstand es sich handelt (III .1), daraufhin wird ermittelt, welche verschiedenen Maßstäbe in Betracht kommen (III .2) . 1 .

Objekt des Irrtums

Der Irrtum des Gesetzgebers bezieht sich zunächst auf dessen Vorstellungen . Die Vorstellungen des Gesetzgebers müssen mit dem Gesetz als Ausdruck dieser Vorstellungen nicht übereinstimmen . Denn es kann Fälle geben, in denen Wille und Ausdruck nicht übereinstimmen . In einem solchen Fall ist der bewertete Gegenstand das Gesetz, Dies betrifft sowohl die Existenz einer Realität, deren objektive Erkennbarkeit sowie die damit in Verbindung stehende Frage, welche Aussagen als „wahr“, welche als „falsch“ beurteilt werden können; vgl . Descartes’ berühmt gewordenen Zweifel vom „boshaften Genius“: René Descartes, Meditationen über die erste Philosophie (hg . von Andreas Kemmerling), 2009, 43 ff . (S . 22 der Ausgabe von Adam und Tannery) oder auch Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Gesammelte Werke (hg . von der Preussischen Akademie der Wissenschaften), Bd . III/IV, 1911, A 490 f . / B 518 f .; siehe zu einem Überblick der heute philosophisch diskutierten Zweifel an einer Realität und/oder deren Erkennbarkeit: Drew Khlentzos, Challenges to Metaphysical Realism, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2016 Edition), hg . von Edward N . Zalta, https://plato .stanford .edu/archives/win2016/entries/realism-sem-challenge/; zum Problem der unterschiedlichen Definitionsmöglichkeiten von Wahrheit siehe: Lothar Kreiser, Pirmin Stekeler-Weithofer, Wahrheit/Wahrheitstheorie, in: Enzyklopädie Philosophie, hg . von Hans Jörg Sandkühler, 2010, 2927– 2937) . 4

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den Maßstab bildet dort die gesetzgeberische Vorstellung . Diese durchaus typischen Konstellationen sind die eines Erklärungsirrtums bzw . Redaktionsversehens .5 Die im Folgenden (III .2) genannten Maßstäbe beziehen sich im Gegensatz dazu ausschließlich auf Fälle, in denen der ausgedrückte und der gebildete Wille identisch sind . 2 .

Die Maßstäbe

Es ist zunächst denkbar, dass die Vorstellungen des Gesetzgebers nicht mit der Realität übereinstimmen . Hier ergibt sich nur scheinbar das Problem, dass die Gesetzesnormen als Sollensaussagen typischerweise mit der Realität (noch) nicht übereinstimmen . Feststellbar falsche Vorstellungen über die Realität können dennoch Anlass oder Ursache für eine gesetzliche Regelung sein, die dann als „irrtümlich“ bezeichnet wird . Mit zivilrechtlicher Terminologie könnte man von einem „Motivirrtum“ sprechen . Als Maßstab kommt daneben das anderweitig gesetzte Recht in Betracht, z . B . könnte ein älteres Gesetz den Maßstab für das neuere bilden .6 Diese Inkohärenz zwischen verschiedenen Willensäußerungen (Gesetzen) ließe sich als „Widerspruch“ bezeichnen . Zuletzt sind göttliches bzw . Naturrecht sowie sonstige, überpositive (z . B . Gleichheits-, Vernunft- oder Gerechtigkeits-)Kriterien zu nennen, welche der Gesetzgeber zu erkennen bzw . zu kodifizieren hätte .7 Man kann hier von einem „Umsetzungsirrtum“, d . h . einem Irrtum im Rahmen der Kodifikation dieser naturrechtlichen bzw . sonstigen Maßstäbe sprechen . Die genannten Maßstäbe sind (wegen der Weite der letztgenannten Kategorie) abschließend . IV.

Ermittlung des Irrtums

Der Gesetzgeberirrtum wird durch einen inhaltlichen Vergleich des ausgedrückten Willens mit entweder dem subjektiv-gewesenen Willen oder mit den anderen genannten Maßstäben aufgedeckt/konstruiert . Um diese beiden Vergleiche anstellen zu kön-

Hamann (Fn . 1), 452 ff .; Hans-Joachim Koch / Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, 1982, 258 f .; Reimer (Fn . 1), 268 f .; Riedl (Fn . 3), 645 f . 6 Die Sonderfälle des Widerspruchs zu höherrangigem Recht werden hier auf Grund der Einfachheit (zwar nicht der Feststellung aber) der Korrektur eines „Irrtums“ mittels des Lex-superior-Grundsatzes nicht thematisiert . 7 Z . B . bei Aurelius Augustinus, De vera religione, lateinisch/deutsch (hg . von Kurt Flasch / Wilhelm Thimme), 2006, XXXI, 58; John Locke, Two Treatises of Government and A Letter Concerning Toleration (hg . von Ian Shapiro), 2003, Second Treatise § 136 (S . 158) und Thomas von Aquin, Summa Theologica (hg . von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Walberberg bei Köln), 1977, 91 . Frage Art . 2 und 4, 95 . Frage Art . 2 . 5

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

nen, müssen die drei genannten Objekte (der Inhalt des subjektiv-gewesenen Willens, des ausgedrückten Willens sowie der anderen Maßstäbe) bestimmt werden . 1 .

Erkenntnis des ausgedrückten sowie des subjektiven Willens

Für den Vergleich des ausgedrückten mit dem subjektiven Willen ist zunächst die Feststellung des ausgedrückten Willens erforderlich . Bei der Ermittlung dieses Willens handelt es sich nicht um eine objektive Auslegung, wie sie die tradierte juristische Methodenlehre kennt,8 denn damit würden die unter B .III . 2 . genannten Maßstäbe bereits in den Willensausdruck „hineingelesen“ . Vielmehr geht es allein um das Verstehen des sprachlichen Ausdrucks . Als Zweites erfolgt die Ermittlung des subjektiven Willens . Der subjektive Wille wird selbst zu einem wesentlichen Teil durch dessen Ausdruck im Gesetz ermittelt . Daneben treten alle weiteren Willensäußerungen, die der Gesetzgeber zusammen mit dem Gesetz getätigt hat . In beiden Fällen der Willensermittlung ist zu beachten, dass sich unmittelbar sprachphilosophische Fragen nach der Bedeutung von Texten anschließen .9 Für unsere Zwecke genügt es, im Folgenden weitere Annahmen einzuführen, die für ein Verständnis der sprachlich ausgedrückten Gesetze unabdingbar sind . 1 . Wir gehen von der Existenz einer Sprache aus, die jedenfalls im Kontext relativ eindeutig Vorstellungen kommunizieren kann;10 2 . Der Gesetzgeber will (jedenfalls von einem Fachpublikum) verstanden werden; 3 . Der Gesetzgeber will (in einem Äußerungsakt11) nicht völlig Widersprüchliches äußern; 4 . Seine Normen und Anweisungen gelten für die echte Welt . Diese Minimalannahmen beruhen auf einem sicher nicht völlig unbestreitbaren Bild des Gesetzgebers im Hinblick auf Genauigkeit und Rationalität seines Denkens . Un-

Z . B . bei Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, 135 f . oder Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 316 . 9 Für einen Überblick hierzu siehe William G . Lycan, Philosophy of language, 2008, 65 ff .; Jeff Speaks, Theories of Meaning, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2017 Edition), hg . von Edward N . Zalta, https://plato .stanford .edu/archives/fall2017/entries/meaning/ . 10 „Mit Wörtern, die alles bedeuten können, kann man nichts sagen“: Jens Kaspers, Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz, 2014, 135; ähnlich auch: Heinrich Honsell, Die rhetorischen Wurzeln der juristischen Auslegung, ZfPW 2016, 106–128, 107, vgl . zu diesem Thema außerdem Tino Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, 73 f . (mwN .) . 11 Damit sind Widersprüche innerhalb einer größeren Kodifikation oder zwischen mehreren, im zeitlichen Abstand voneinander gesetzten Normen nicht ausgeschlossen . 8

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umstritten dürften zwar das Fehlen einer Annahme der Kenntnis aller Tatsachen der „objektiven Realität“ sowie aller zuvor erlassenen Gesetze sein . Problematischer ist hingegen z . B . das Fehlen der Annahme eines Willens zur Herstellung von Kohärenz zwischen sämtlichen eigenen Aussagen . Letztere schiene auf Grund der Rationalität menschlichen Handelns (noch dazu in Anbetracht der Wichtigkeit der Entscheidungen durch den Gesetzgeber) zwar besonders naheliegend, in der Realität aber verhalten sich Menschen häufig irrational und widersprüchlich . Entscheidend ist hier dennoch nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit jeder einzelnen Annahme, sondern vielmehr, dass die Reflexion über mögliche Annahmen als Schlüsselstelle erkannt wird: Sämtliche genannten Voraussetzungen, die hier zur Ermittlung des wirklich gewesenen Willens aufgestellt wurden, ließen sich auch als Inhalte der oben genannten Maßstäbe (B .III .2) verstehen . Indem man inhaltliche Maßstäbe als essenzielle Verständnisvoraussetzungen behandelt, läuft man Gefahr, jeden „Motivirrtum“, „Widerspruch“ oder „Umsetzungsirrtum“ als „Erklärungsirrtum“ zu deklarieren . 2 .

Ermittlung der anderen Maßstäbe

Die Ermittlung der anderen Maßstäbe (göttliches bzw . Naturrecht und die politischen, moralischen sowie ethischen Maßstäbe) muss auf Grund des thematischen Zuschnitts dieses Beitrags offenbleiben . Auch bei der Erkenntnis der „Realität“ müssen wir erkenntnistheoretische Probleme ausblenden .12 V.

Zwischenergebnis

Nach dem hier zu analysierenden Begriff des Gesetzgeberirrtums ist das Gesetz mithin ein Willensakt bzw . das Ergebnis eines Willensaktes . Der Begriff setzt einen Maßstab voraus, anhand dessen sich das Gesetz qua Produkt der Tätigkeit des irrenden Gesetzgebers als falsch bzw . fehlerhaft beschreiben lässt . Diese Maßstäbe sind grundlegend in zwei Gruppen unterteilbar: Zunächst kann der wirklich gewesene Wille des Gesetzgebers den Maßstab für den Willensausdruck (das Gesetz) bilden . Des Weiteren kann das Gesetz an anderen, nicht in dem Willen des Gesetzgebers liegenden Maßstäben gemessen werden . Um den wirklich gewesenen Willen des Gesetzgebers überhaupt ermitteln zu können, müssen gewisse essenzielle Verständnisvoraussetzungen gemacht werden, deren Inhalt und Umfang sich entscheidend auf den ermittelten „historischen“ Willen auswirken .

12

Vgl . oben Fn . 3 .

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

C.

Ein Blick in die Literatur

Nachdem der Begriff des Gesetzgeberirrtums die begrifflich indizierte Notwendigkeit von Maßstäben aufgezeigt hat, versuchen wir, solche Maßstäbe in der aktuellen deutschen wissenschaftlichen Literatur zur Methodenlehre wiederzufinden . Damit soll gezeigt werden, dass sich die gerade entwickelten Zusammenhänge tatsächlich auf die Argumentationsstränge in der rechtswissenschaftlichen Literatur anwenden lassen . I.

Rechtsfortbildung: Praeter oder contra legem?

Auf der Suche nach Maßstäben für eine Gesetzgeberkorrektur scheint die in der Methodenlehre überkommene Kategorie der Rechtsfortbildung contra legem vielversprechend . Dabei ist allerdings die Abgrenzung zwischen Auslegung, Rechtsfortbildung praeter legem und Rechtsfortbildung contra legem unklar .13 Gerade dieser Unterschied ist jedoch entscheidend . Die Rechtsfortbildung neben dem Gesetz ist legitimatorisch weniger angreifbar, da unter ihren Begriff nur Konstellationen fallen, in denen der Gesetzgeber keinen Willen geäußert hat . Es ist im Hinblick auf die Legitimität der Rechtsfortbildung plausibler, weitere Kriterien zur Entscheidungsfindung anzuwenden, wenn ein mutmaßlich legitimer (Primär-)Maßstab, der subjektive Wille des Gesetzgebers, ausscheidet . Dies ist tatsächlich eine gängige Argumentationsform für die Legitimität der Rechtsfortbildung praeter legem .14 Die Argumentation ist dennoch angreifbar: Trennt man generell-abstrakte Rechtssetzung und Rechtsanwendung auf den Einzelfall voneinander, ist es begriffsnotwendig, dass die Rechtssetzung typisierend verfährt, also an unterschiedliche Einzelfälle die gleiche Rechtsfolge knüpft .15 Ebenso notwendig ist durch eine solche Regelung stets eine Mehrzahl von Fällen erfasst, die unter anderen Gesichtspunkten weiter (unter-)kategorisiert werden können . Franz Bydlinski, Über die Lex-lata-Grenze der Rechtsfindung, in: Einheit und Folgerichtigkeit im juristischen Denken, hg . von Ingo Koller / Johannes Hager / Michael Junker / Reinhard Singer / Jörg Neuner, 1998, 27–88, 32; Ernst A . Kramer, Juristische Methodenlehre, 2016, 57 ff .; Thomas M . J . Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017, 414–416; Reimer (Fn . 1), 270 f . Deshalb ist es notwendig, bei Autoren, die eine Rechtsfortbildung contra legem ablehnen, (z . B . Christian Hillgruber, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg .), Grundgesetz, 87 . EL März 2019, Art . 97, Rn . 63; Patrick Meier / Felix Jocham, Rechtsfortbildung – Methodischer Balanceakt zwischen Gewaltenteilung und materieller Gerechtigkeit, Juristische Schulung 2016, 392–398, 394; Möllers (Fn . 13), 416) deren Definition derselben, sowie die der (jeweils komplementär zulässigen) Rechtsfortbildung praeter legem zu betrachten . 14 Besonders eindeutig: Reimer (Fn . 1), 128; siehe aber auch Jörg Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005, 67 ff .; Zu dieser Argumentationsform gehören ebenso alle Fälle, in denen allgemein von Lückenausfüllung gesprochen wird, bspw . bei Bernd Rüthers / Christian Fischer / Axel Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 2018, 530 ff . oder Klaus F . Röhl / Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 633 ff . 15 Die Problematik dieser Typisierung hat schon Aristoteles erkannt: Nikomachische Ethik V 13–14, 1137a– 1137b (dazu: Neuner (Fn . 14), 162 f .) . 13

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Deshalb ist bspw . auch die telelogische Reduktion eines Tatbestandes (die gemeinhin als Rechtsfortbildung praeter legem erfasst wird16) in vielen Fällen eine Operation gegen den Gesetzgeberwillen . Gleiches gilt für die Ausdehnung einer Norm über die gewollte Typisierung hinaus . Solchen Erwägungen wie hier17 wird entgegengehalten, man könne und dürfe nicht jedes Fehlen einer Norm als „beredete[s] Schweigen“18 interpretieren und so die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung unterstellen . Dies ist zweifellos richtig, da es Fragen gibt, die der Gesetzgeber nicht beantwortet hat .19 In vielen Fällen hat der Gesetzgeber allerdings durch die abstrakt-generelle Normgebung eine Willensentscheidung getroffen .20 Für den hiesigen Zusammenhang ist damit festzustellen, dass sich eine Trennung der (zulässigen) Rechtsfortbildung praeter legem und der (unzulässigen) Rechtsfortbildung contra legem nicht durchhalten lässt, zwischen denen deshalb im Folgenden nicht mehr unterschieden wird . II.

Gründe für die Gesetzeskorrektur

In der Literatur werden eine Reihe von Gründen genannt, die Rechtsfortbildung rechtfertigen sollen . Zunächst werden als solche „allgemeine[…] Rechtsprinzipien und verfassungsmäßige[…] Wertmaßstäbe[…]“21 sowie „das Gebot der Einzelfallgerechtigkeit“22 genannt . Larenz hält „im Sinnganzen der Rechtsordnung gelagerte Gründe“ für notwendig .23 Bydlinski wiederum spricht von Fällen „willkürlicher und krasser Abweichung bestimmter gesetzlicher Regeln von den sonst auch in der Rechtsordnung selbst anerkannten, zugleich in der positiven Sozialmoral der Rechtsgemeinschaft verankerten Wertmaßstäben“ .24 Zippelius nennt „Argumente der Konsistenz

Vgl . Bydlinski (Fn . 8), 480 f . im Vergleich zu 496 ff . Volker Krey, Gesetzestreue und Strafrecht, ZStW 1989, 838–873, 866–867 (insbes . Fn . 131); Larenz (Fn . 8), 391; Meier/Jocham (Fn . 13), 394 f . 17 Vgl . schon Hans Kelsen, Reine Rechtslehre Mit einem Anhang: das Problem der Gerechtigkeit, 2 . Aufl . 1960, 16, 251 ff .; ähnlich auch Hillgruber (Fn . 13), Art . 97 Rn . 69 . 18 Röhl/Röhl (Fn . 14), 633; siehe auch Frieling (Fn . 10), 121 . 19 Ein Klassiker ist der § 904 BGB, der zwar einen Schadensersatzanspruch regelt, den Anspruchsgegner aber nicht bestimmt . 20 Wie auch aus den Definitionen der „Lücken“ bei Rüthers/Fischer/Birk (Fn . 14), 515 ff . und Röhl/Röhl (Fn . 14), 633 ff . hervorgeht . Als Beispiel kann hier der § 181 BGB genannt werden, der (auch nach dem Willen des Gesetzgebers, vgl . Benno Mugdan (Hrsg .), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd 1 Einführungsgesetz und Allgemeiner Theil, 2005, 759, 840) typisierend bestimmte Geschäfte verbietet und damit für eine telelogische Reduktion nicht offensteht, die von der ganz h . M . dennoch durchgeführt wird . 21 Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009, 931, der darin mit Larenz (Fn . 8), 413 f . übereinstimmt . 22 Neuner (Fn . 14), 162 ff . 23 Larenz (Fn . 8), 428 . 24 Bydlinski (Fn . 8), 498 . 16

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

und der Gerechtigkeit“,25 Neuner „atypische[…] Extremsituationen“ in Fällen von Widersprüchen zur Gerechtigkeit .26 Aber nicht nur die Gerechtigkeit, Rechtsprinzipien und Werte werden bemüht . Auch könnten „methodisch irreparable Unverständlichkeit[en], Unbestimmtheit oder Widersprüchlichkeit“ die Rechtsfortbildung rechtfertigen .27 Neuner nennt ebenfalls u . a . das Willkürverbot als Grund für Rechtsfortbildung .28 Ebenso gilt für Larenz, dass nicht nur rechtsethische Prinzipien, sondern auch die Rücksicht auf den Rechtsverkehr und die Natur der Sache Rechtsfortbildung rechtfertigen können .29 Daneben träten Fälle, in denen das Gesetz Unmögliches oder „praktisch schlechthin Undurchführbares“ anordne .30 Auch Rüthers/Fischer/Birk sprechen von „Bedürfnisse[n] des Rechtsverkehrs, Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitsargumente[n]“ .31 Im Falle geänderter Lebensverhältnisse sei Rechtsfortbildung zulässig, wenn die (veränderten) Interessen den Gesetzgeber ebenfalls zu einer anderen Regelung veranlasst hätten .32 Insgesamt wird auch der Fall des gescheiterten Regelungsziels (cessante ratione legis, cessat lex ipsa) mehrfach genannt .33 Bei den Grenzen der möglichen Rechtsfortbildung werden ebenso unterschiedliche Ansätze vertreten: Röhl/Röhl äußern sich dahingehend, dass Gerichte nicht „vorhandenes Gesetzesrecht, das nicht mehr zeitgemäß erscheint, einfach nachbessern“ können .34 T . M . J . Möllers führt an, dass Rechtsfortbildung dann unzulässig sei, wenn der durch die Fortbildung Bevorzugte anderweitig Rechtsschutz erlangen kann .35 Allgemeiner nennt er Gesetzesbindung und Gewaltenteilung .36 Die daraus resultierende Grenze sei „dort erreicht, wo der Richter die klare Grundkonzeption des Gesetzgebers ignoriert und beseitigen würde .“37 Nach Larenz liegen die Grenzen dort, „wo eine Antwort im Rahmen der geltenden Rechtsordnung insgesamt mit spezifisch rechtlichen Erwägungen allein nicht gefunden werden kann, insbesondere“ wo es vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit ginge .38 Auch er verweist auf die demokratische Legitimation des Gesetzgebers .39 Ähnlich wie Larenz schließt Kramer „kontroverse Themen“ aus .40

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, 57 . Neuner (Fn . 14), 163 . Bydlinski (Fn . 8), 498 . Neuner (Fn . 14), 157 ff . Larenz (Fn . 8), 414 ff . Bydlinski (Fn . 8), 498; ebenso Neuner (Fn . 14), 144 ff . Rüthers/Fischer/Birk (Fn . 14), 579 . Rüthers/Fischer/Birk (Fn . 14), 577 . Bydlinski (Fn . 8), 497 f .; Rüthers/Fischer/Birk (Fn . 14), 576; Neuner (Fn . 14), 149; Reimer (Fn . 1), 128 . Larenz (Fn . 8), 636 . Bydlinski (Fn . 8), 499; Möllers (Fn . 13), 425 . Möllers (Fn . 13), 432 f . Möllers (Fn . 13), 433; so auch Reimer (Fn . 1), 272 . Larenz (Fn . 8), 427 . Larenz (Fn . 8), 427 f . Kramer (Fn . 13), 315 f .

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Zu erkennen ist insgesamt ein deutliches Bekenntnis zur Gerechtigkeit als Maßstab .41 Festzustellen ist zudem, dass auch Vertreter einer am Gesetzgeberwillen orientierten, subjektiven Auslegung eine Entscheidung contra legem zulassen – jedenfalls in Extremfällen .42 In der Literatur finden sich zudem alle oben (B . III . 2 .) erwähnten Maßstäbe wieder: die Realität (formuliert als „Praktikabilität“), das restliche geltende Recht (formuliert als „Einheit der Rechtsordnung“ oder „systematische Auslegung“) und weitere überpositive Merkmale (formuliert als „Gerechtigkeit“ aber auch als „Bedürfnisse des Rechtsverkehrs“) . Mehrdeutig sind allerdings die Aussagen, nach denen ein eindeutig entgegenstehender Gesetzgeberwille die Rechtsfortbildung verbiete . Es scheint, dass diese Grenze auf das Bekenntnis zusammenschrumpft, „dass der Gesetzgeber eine gerichtliche Praxis“ durch nachträgliche Entscheidung derogieren kann .43 D.

Legitimation und Grenzen der Staatsgewalt

Entsprechend seiner Zielrichtung widmet sich der Beitrag dem Phänomen der Korrektur des Gesetzgebers nun aus staatsphilosophischer Perspektive . Es muss beantwortet werden, ob sich die abstrakt-theoretisch wie auch durch Auswertung des Schrifttums gefundenen Maßstäbe staatsphilosophisch legitimieren lassen . Dazu werden hier zunächst Theorien zur Rechtfertigung des Staates (und damit der Staatsgewalt insgesamt, also auch der Gesetzgebung) betrachtet (1 .), dann Theorien, die die Trennung und Verteilung der Staatsgewalt behandeln (2 .) . I.

Staatszwecktheorien

Bei Platon ist das Leben im Staat eine Art Strukturprinzip des guten bzw . richtigen Lebens .44 Ähnliches gilt für Aristoteles, für den das Leben im Staat dem guten Leben und dem vollkommenen, sich selbst genügenden Daseins dient .45 Neben diese antiken Vorstellungen treten weniger voraussetzungsreiche Begründungen für die Legitimität des Staates . Besonders bedeutsam sind die Theorien des Staates als Schutz- und FrieDazu auch Klaus Rennert, Legitimation und Legitimität des Richters, JZ 2015, 529–538, 533 f . Bydlinski (Fn . 8), 498; Udo Di Fabio, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg .), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2004, § 27 (Gewaltenteilung), 613–658, 626; Koch/Rüßmann (Fn . 5), 176 Fn . 33; Krey (Fn . 16), 869 . 43 Siehe Christoph Möllers, Die drei Gewalten Legitimation der Gewaltengliederung in Verfassungsstaat, europäischer Integration und Internationalisierung, 2008, 105 . 44 Platon, der Staat, 368e ff . 45 Aristoteles, Politik, 1280b . 41 42

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

densordnung . Diese Vorstellungen gehen auf Hobbes46 und Bodin47 zurück und wurden an anderen Stellen mit dem Gedanken des Schutzes insbesondere von Grund-, Bürger- und Menschenrechten kombiniert .48 Der grund- oder menschenrechtlichen Legitimation liegt wiederum der Gedanke zugrunde, dass der Staat (jedenfalls in einer Idealform) eine vernünftige Form des Zusammenlebens ist .49 Ein weiteres Modell, das sich teilweise mit den zuvor genannten Ansätzen überschneidet, ist das eines (realen oder fiktiven) Gesellschaftsvertrages, der den Staat begründet und legitimiert .50 Dieser Vertragsgedanke (aber auch die Legitimation durch Vernunft) ist inhaltlich verknüpft mit der Idee der demokratischen Legitimation . Schon Marsilius von Padua forderte die Rückführung der Regierung auf den Volkswillen .51 Ihm zur Seite stehen eine große Zahl anderer Theoretiker, die die Demokratie als eine „gute“ Staatsform ansahen,52 wobei sich der Grundgedanke dieser Theorie(n) als die Identität von Herrscher und Beherrschtem formulieren lässt .53 II.

Gewaltenteilungstheorien

Die vorgenannten Staatszwecke sind geeignet, den Staat und damit die Staatsgewalt zu legitimieren . Thema dieses Beitrags ist allerdings die Legitimität gerade der Judikative in den Fällen, in denen sie wider die Legislative handelt . Um diese Legitimität zu beleuchThomas Hobbes, Leviathan (hg . von Hermann Klenner), 1996, Kapitel XVII (S . 141ff) . Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (hg . von Peter Cornelius Mayer-Tasch), 1981/1986, Buch 1, Kapitel 7 (S . 187), der aber die Sicherung von Leben und Eigentum nur als Voraussetzung für den weitergehenden Staatszweck der „Glückseligkeit“ (in aristotelischer Tradition) begreift (vgl . dazu a . a . O . S . 101 f .) . 48 Z . B . bei Locke (Fn . 7), Second Treatise § 4, § 6, § 123; aber auch bei Kant, nach dem das einzige Menschenrecht, die Freiheit (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Gesammelte Werke [hg . von der Preussischen Akademie der Wissenschaften], Bd . VI, 1914, 237), im Staat verwirklicht werden soll: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Gesammelte Werke (hg . von der Preussischen Akademie der Wissenschaften), Bd . VIII, 1923, 349 (1 . Definitivartikel) und Kant, MdS (Fn . 48), 340 f . Zur Frage der Berücksichtigung der Grundrechte im Zusammenhang mit der richterlichen Rechtsfortbildung vgl . Möllers (Fn . 13), 436–437 Rn . 94–96 (mwN .) . 49 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Gesammelte Werke (hg . von der Preussischen Akademie der Wissenschaften), Bd . VIII, 1923, 297; Hobbes (Fn . 46), Kapitel XIII (S . 107); Charles Louis de Secondat de Montesquieu, De l’esprit des lois (hg . von Robert Derathé), 1973, Buch 1, Kapitel 3 . 50 Vgl . Kant, Gemeinspruch (Fn . 49), 289; Locke (Fn . 7), Second Treatise, § 95 f .; Jean-Jaques Rousseau, Du contrat social, 1762, Buch 1, Kapitel 6 (S . 202 f . des Originals) . 51 Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (hg . von Jürgen Miethke / Richard Scholz), 2017, I 9, § 5 (S . 85) . 52 Rousseau (Fn . 50), Kapitel VI, VII; Johannes Althusius, Politik (hg . von Dieter Wyduckel), 2003, Vorwort zur ersten Auflage (S . 20); Hugo Grotius, Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, in welchem das Natur- und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden (hg . von Julius H . von Kirchmann), 1869, Vorrede, Nr . 15 f . (S . 33 f .); Kant, MdS (Fn . 48), 313; Locke (Fn . 7), Second Treatise, § 134 . 53 Kant, MdS (Fn . 48), 313; Rousseau (Fn . 50), Buch 4, Kapitel 2 (S . 315 des Originals); Montesquieu (Fn . 49), Buch 2, Kapitel 2 . 46 47

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Maximilian Schulz

ten, werden hier drei Gruppen unterschiedlicher Gewaltenteilungsmodelle skizziert, wobei „Souveränität“ die jeweils legitime Inhaberschaft der Staatsgewalt bezeichnet: Zunächst sind Theorien zu nennen, die von einer geteilten (besser vielleicht: „verteilten“) Souveränität ausgehen . Laut diesem Modell beteiligen sich unterschiedliche Organe an der Souveränität, d . h . der Gesetzgebung .54 Dem steht eine Gewaltenteilungsvorstellung gegenüber, die allein das Volk als Souverän und Inhaber der gesetzgebenden Gewalt ansieht und Exekutive und Judikative an andere Organe delegiert .55 Als dritte Gruppe tritt die Vorstellung auf, bei der die Souveränität nicht in der Gesetzgebung, sondern in der Verfassungsgebung liegt .56 Die Staatsgewalten werden erst durch die Verfassung konstituiert und unterstehen dem Volk .57 Der Gedanke der gegenseitigen Hemmung58 der konstituierten Gewalten – im Gegensatz zu einer Ausrichtung auf die Legislative – ähnelt damit eher der erstgenannten als der zweitgenannten Gruppe .59 Hinzu kommen logisch bloß ergänzende, praktisch das System aber erheblich verändernde Überlegungen wie die Ausübung der Souveränität durch andere,60 und der Gedanke, dass das allgemeine Gesetz als Ausdruck von Gleichheit der Gerechtigkeit dient .61 III.

Legitimation der Korrektur des Gesetzgebers

Grundsätzlich sind die genannten Staatszwecke durchaus auch in der Lage, Einzelfallentscheidungen der Judikative gegen das Gesetz zu legitimieren . Problematisch ist zwar, dass die Richtigkeit keiner der genannten Theorien verbürgt ist – und auch in Locke (Fn . 7), Treatise One, § 132, Treatise Two, § 150; Montesquieu (Fn . 49), Buch 11, Kapitel 6, Absatz 42 f .; siehe zu Montesquieu: Werner Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, 2014, 60 ff . sowie Hansjörg Seiler, Gewaltenteilung, 1994, 18 ff . und zu Locke: Heun (Fn . 54), 58 ff . sowie Seiler (Fn . 54), 18 ff . 55 Z . B . bei Althusius (Fn . 52), Kapitel IX § 18 f . (S . 116); Kant, MdS (Fn . 48), 313 f . ; Marsilius von Padua (Fn . 51), Kapitel 12 u . 14 (S . 117 ff . und 145 ff .); Rousseau (Fn . 50), Buch III, Kapitel 12 (S . 294 des Originals) und Buch III, Kapitel 1 (S . 252 ff . des Originals) . 56 Vgl . James Madison, The Federalist No 51, in: The Federalist papers, hg . von Ian Shapiro, 2009, 263– 267; James Madison, The Federalist No . 48, in: The Federalist papers, hg . von Ian Shapiro, 2009, 251–255; zu diesem Gewaltenteilungsmodell siehe auch: Seiler (Fn . 54), 26 ff . und Werner Heun, Gewaltenteilung in ihrer verfassungsgeschichtlichen Entwicklung, in: Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich Deutsch-taiwanesisches Kolloquium vom 8 bis 10 Juli 1999 an der Georg-August-Universität Göttingen, hg . von Christian Starck, 2000, 95–114, 103 f . 57 Madison, Federalist No . 51 (Fn . 56), 263 . 58 Vgl . Madison, Federalist No . 51 (Fn . 56), 263 ff . 59 So auch Möllers (Fn . 43), 31; Seiler (Fn . 54), 28 . 60 Z . B . Bodin (Fn . 47), Buch 2, Kapitel 7 (S . 397 f .) . 61 So z . B . bei Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 2003, 38 (S . 33 der Originalausgabe) . Das Merkmal der Allgemeinheit ist ideengeschichtlich betrachtet allerdings kein deskriptives Merkmal, sondern normative Anforderung an das Gesetz, vgl . Seiler (Fn . 54), 79 ff . 54

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

einem solchen Fall nur wenige Fälle sicher mit Hilfe der Staatszwecktheorien gelöst werden könnten . Aber jedenfalls in Fällen, in denen Gesetze der jeweiligen Staatszwecktheorie in extremem Maße widersprechen, können Abweichungen vom Gesetzgeberwillen legitimiert sein .62 Auch muss erwähnt werden, dass die jeweils genannten Theorien selbst nicht alle zu dem hier ins Auge gefassten Ergebnis kommen . Als prominentes Gegenbeispiel kann Hobbes’ Theorie dienen, der ein Widerstandsrecht (also auch eine Korrektur des Gesetzgebers durch die Judikative) nicht vorsieht .63 Auch die Theorien zur Gewaltenteilung können als Legitimationsquelle wiederum nur begrenzt dienen . Sobald man die Legislative als erste Gewalt ansieht, dienen die Gewaltenteilungstheorien dazu, die Bindung der anderen Gewalten an die Gesetze sicherzustellen .64 Aber die zuerst genannte Theorie der „verteilten“ Souveränität sowie das letztgenannte Modell lassen gewisse Spielräume für eine mögliche Legitimation der Gerichte zur Rechtsfortbildung . So könnte man Richter bzw . Juristen als soziale Macht (im historischen Sprachgebrauch der Vertreter dieser Theorie „factions“65) verstehen, die nicht nur judikative, sondern auch legislative Staatsfunktionen ausüben . Die Herleitung dieser Vorstellung der richterlichen Aufgabe mag neu sein und der Gedanke mag dem Juristen schmeicheln, Grundzüge dieser Idee finden sich allerdings schon bei Savigny .66 Neben diesen politischen Gewaltentrennungstheorien kann man auch abstrakt-theoretisch von einer grundsätzlichen Trennung der Rechtsanwendung von der Rechtssetzung ausgehen .67 Nach diesem Ansatz ließe sich die Rechtsprechung als individuell-konkrete, die Gesetzgebung als generell-abstrakte Normgebung klassifizieren .68 Mit ihr ließe sich argumentieren, gerade in der Einzelfallanwendung müsse die abstrakt-generelle Gerechtigkeit der Norm in eine Einzelfallgerechtigkeit „gewandelt“ werden .69 Neben dem Problem, dass dieses Unterscheidungskriterium nicht zur Abgrenzung von der Exekutive taugt, ergibt sich ein weiteres: Geht man von einer absoluten Trennung von Rechtssetzung und -anwendung aus, um daraus eine Eigenständigkeit der Judikative abzuleiten, rechtfertigt dies – wenn überhaupt – bloß eine

Vgl . hierzu Di Fabio (Fn . 42), 625 f . mit Verweis auf die Radbruchsche Formel und deren Anwendung durch das BVerfG . 63 Hobbes (Fn . 46), Kapitel XVIII (S . 146 ff .) . 64 Möllers (Fn . 43), 35, 36; Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, 43 . 65 Alexander Hamilton, The Federalist No . 9, in: The Federalist papers, hg . von Ian Shapiro, 2009, 42–46 . 66 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 12 (Das Recht bilde sich in den Kulturstaaten allein im Bewusstsein des Standes der Juristen .) . 67 Bekanntester Kritiker dieser Ansicht wohl Hans Kelsen, Reine Rechtslehre Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934, 64, 76, 98 . 68 Rousseau (Fn . 50), Buch II, Kapitel 6 (S . 230 des Originals) . 69 Frieling spricht von einem „Auslegungsmonopol“ der Rechtsprechung: Frieling (Fn . 10), 160 ff . und 171; vgl . auch Kramer (Fn . 13), 148, der von der Notwendigkeit „den Rechtsstreit einer hic et nunc sachgerechten Lösung zuzuführen“ (Hervorhebung im Original) spricht; ähnlich auch Friedrich Schnapp, Unbegrenzte Nachbesserung von Gesetzen bei unklarer und verworrener Rechtslage?, JZ 2011, 1125–1133, 1129 . 62

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Abweichung für den Einzelfall . Eine systematisch-regelhafte Rechtsdogmatik bzw . Richterrecht als Recht, welches über Einzelfälle hinaus gilt, stellt wiederum abstrakt-generelle Normsetzung dar und kann durch eine Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung nicht begründet werden . E.

Fazit

Die Analyse des Begriffs des Gesetzgeberirrtums ergab, dass der Begriff einen frei gesetzten Gesetzesinhalt impliziert und gleichzeitig auf einen normativen Maßstab für jenen Gesetzesinhalt verweist . Der Konflikt zwischen Gesetzgeberwillen und möglichen (anderen) Normen, an welchen der Wille gemessen wird, ist damit bereits im Begriff angelegt . Die deutsche Methodenlehre bringt kein von diesem abstrakt-theoretisch gewonnenen Ergebnis abweichendes Ergebnis zu Tage . Sie ist damit einem Widerspruch ausgesetzt . Einerseits sieht man sich aus verfassungsrechtlichen70 Gründen an den historischen Gesetzgeberwillen gebunden . Andererseits hält man eine Abweichung vom historischen Willen aus Gründen der Praktikabilität oder der Einzelfallgerechtigkeit für notwendig und naheliegend . Zur Lösung dieses Problems bietet sich an, die objektiven Maßstäbe ausdrücklich auf die gleiche Stufe mit der demokratischen Legitimation zu stellen und damit eine Rechtsfortbildung gegen den Willen des Gesetzgebers zu rechtfertigen . Dies führt allerdings zu einem naturrechtlichen Rechtsbegriff, der den Widerspruch zur Theorie demokratischer Legitimationsbedürftigkeit der Ausübung von Staatsgewalt nicht beseitigt, sondern bestärkt . Umgangen werden kann dieser Widerspruch allerdings dadurch, dass man, durch umfangreiche Annahmen in Bezug auf den historischen Gesetzgeberwillen, Fehler des Gesetzes nicht als Motiv- und Gerechtigkeitsirrtümer oder Widersprüche erfasst, sondern zu bloßen Erklärungsirrtümern deklariert . Dabei handelt es sich allerdings um nichts anderes als einen Etikettenschwindel . Die entgegengesetzte Lösung bestünde in dem völligen Verzicht auf die Rechtsfortbildung und die alleinige Akzeptanz des Gesetzgeberwillens als Maßstab . Davon darf es dann entgegen der dargestellten Literaturstimmen auch in Fällen offensichtlicher praktischer Bedürfnisse keine Ausnahme geben . Eine weitere Möglichkeit könnte sich aus den staatsphilosophischen Überlegungen ergeben . Die Gesetzgeberkorrektur könnte dort legitim sein, wo durch den Gesetzgeber ein den Staat legitimierendes Prinzip durchbrochen wird . Zwar ergibt sich aus dem Modell der „verteilten Souveränität“ außerdem die Möglichkeit, dass die Richter Die Überlegungen der Methodenlehre enden oft beim geltenden deutschen Verfassungsrecht – nicht bei einer politischen Theorie: Möllers (Fn . 13), 435 f .; Rennert (Fn . 41), 533–534 (insbes Fn . 47); Rolf Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert?, AcP 214 (2014), 7–54, 29 . 70

Der Begriff des Gesetzgeberirrtums als Symptom für ungelöste Legitimitätsprobleme

als eine Art sozialer Macht im Volk an Legislative und Judikative beteiligt sind . Dieses Konzept gesteht allerdings gerade den Richtern oder den Juristen eine besondere Stellung innerhalb des Volkes zu, die wiederum einer philosophischen oder gesellschaftstheoretischen Rechtfertigung bedarf . Bemerkenswert ist deshalb umso mehr, dass in der juristischen Literatur die Rechtsfortbildung gegen den Willen des historischen Gesetzgebers weitgehend ohne Auseinandersetzung mit einer Staatstheorie für möglich gehalten und der Begriff des Gesetzgeberirrtums dort selbstverständlich verwendet wird .

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Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft Zum Umgang der Zivilrechtsdogmatik mit Irrtümern CHRIS THOMALE (Heidelberg/Wien)*

I.

Einleitung

Der Begriff des Irrtums begegnet dem Zivilrecht – mindestens – in zweifacher Hinsicht: In seiner subjektiven Bestimmung steht der Irrtum in einem Spannungsverhältnis zur Freiheit . Genauer gesagt, unterläuft der Irrtum die negative Privatautonomie, also die Freiheit des Erklärenden, nicht an Willenserklärungen gebunden zu werden, die er nicht gewollt hat . In diesem Fall nämlich hat der Erklärende zwar äußerlich frei, etwa ohne Anwendung von vis absoluta oder vis compulsiva, gehandelt, doch sträubt sich das Gerechtigkeitsempfinden daran, solchen irrtümlichen Willenserklärungen dieselben Rechtswirkungen beizulegen, wie sie bei nicht irrtumsbasierten Willenserklärungen eintreten . Die im BGB gewählte dogmatische Technik, um mit irrtumsbemakelten Willenserklärungen umzugehen, ist diejenige der Irrtumsanfechtung . Auf diesen locus classicus ist zunächst einzugehen (II .) . In seiner objektiven Bestimmung bildet der Irrtumsbegriff das Gegenstück zur Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinn . Dies schließt die Rechtswahrheit mit ein: Parteien wie auch Gerichte können die Rechtslage falsch und damit unwahr beurteilen . Mit dem Parteienirrtum über die Rechtslage beschäftigt sich unter anderem das Institut der Verjährung: Ein Schuldner, der irrtümlich davon ausgeht, seine Schuld sei nicht entstanden oder bereits getilgt, wird im Verjährungsfall – also grosso modo dann, wenn eine hinreichende Frist abgelaufen ist, innerhalb der der Schuldner nicht durch Verf ist seit März 2019 Professor für Internationales Unternehmens- und Wirtschaftsrecht an der Universität Wien . Für Materialbeschaffung und kritische Manuskriptdurchsicht ist Philipp Bender und Jan Lukas Werner zu danken . *

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Chris Thomale

Rechtsverfolgung des Gläubigers auf seinen möglichen Irrtum hingewiesen wurde – faktisch schuldenfrei gestellt . Schätzt ein erkennendes Gericht die Rechtslage falsch ein, wird dieser Gerichtsirrtum ebenfalls im Ergebnis dadurch geheilt, dass die vom Streitgegenstand umfassten Feststellungen des Gerichts in Rechtskraft erwachsen . Diese beiden Institute, Verjährung und Rechtskraft, sind in einem weiteren Abschnitt in den Blick zu nehmen (III .) . Auf Grundlage dieser Exposition ist in einem weiteren Schritt beispielhaft zu zeigen, wie die Zivilrechtsdogmatik mit den in Irrtumsanfechtung, Verjährung und Rechtskraft angelegten Antinomien zwischen den Begriffen Irrtum, Freiheit und Wahrheit verfährt . Es ergibt sich, dass die Zivilrechtsdogmatik mit ihren Begriffsbetrachtungen weit über die bloß nominelle oder taxonomische Ordnung des Rechtstoffs hinaus ein erhebliches kybernetisches Potential entfaltet, indem sie scheinbar unentrinnbare Antinomien aufzulösen imstande ist (IV .) . Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand der Irrtumsbewältigung ist abschließend eine weitere Beobachtung festzuhalten: Das Zivilrecht setzt performative Kommunikation ein, um Irrtümer mit einer selbständigen Wirksamkeit zu überlagern und so im rechtspraktischen Ergebnis durch Anpassung der Rechtslage an den Irrtum zu heilen (V .) . II.

Irrtum vs. Freiheit: Irrtumsanfechtung

Eine auf einem Irrtum beruhende Handlung ist nicht in einem vollumfänglichen Sinne frei . Auf dieser Überzeugung beruht die Skepsis des Zivilrechts, an eine auf einem Irrtum beruhende Handlung – selbst wenn diese sonst formal frei vorgenommen wurde – rechtsgeschäftliche Rechtsfolgen zu knüpfen . Diese Präzisierung ist wichtig . Denn selbstverständlich können etwa Delikte im Sinne des § 823 Abs . 1 BGB auch durch (verschuldet) irrende Täter begangen werden . Lediglich der besondere Verbindlichkeitsgrund der privatautonom eingegangenen Schuld oder sonstigen Rechtswirkung, das Rechtsgeschäft, setzt im Grundsatz Irrtumsfreiheit voraus . Im besonders freiheitsverliebten Privatrecht der Pandektistik wurde ursprünglich angenommen, irrtümlich vorgenommene Rechtsgeschäfte seien nichtig .1 Das BGB hat sich anders entschieden: Irrtümlich vorgenommene Rechtsgeschäfte sind zunächst wirksam, aber durch den Erklärenden rückwirkend nach §§ 142, 119 BGB2 anfechtbar . Das Privileg der Anfechtung erlangt der Irrende freilich nicht umsonst, sondern im Wesentlichen unter zwei Bedingungen: Er muss erstens nach § 121 Abs . 1 BGB unverzüglich die Anfechtung gegenüber dem Anfechtungsgegner im Sinne des § 143 BGB erklären und schulBernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 6 . Auflage, Bd . I, 1887, 222 ff . mwN . auch zu relativierenden Auffassungen . Eine instruktive ideengeschichtliche Aufarbeitung bietet: Martin Schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, 2000 . 2 Zu letztwilligen Verfügungen siehe: § 2078 BGB . 1

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

det zweitens diesem sodann den Ersatz seines Vertrauensschadens gemäß § 122 BGB . Das komplexe Wertungsgefüge dieser dem BGB eigenen Irrtumsbewältigungstechnik verdiente eine tiefere Betrachtung als sie hier zu leisten ist .3 Für die vorliegenden Erkenntniszwecke ist jedoch der Umgang der Rechtspraxis mit diesem Anfechtungsgrund hervorzuheben: Keinen Irrtum im Sinne der Norm soll nämlich einerseits der Irrtum über die Rechtsfolgen einer Erklärung darstellen .4 Das Recht immunisiert sich hier u . a . – ähnlich wie bei der strengen Handhabe des strafrechtlichen Verbotsirrtums nach § 17 StGB5 – gegen die Unwägbarkeit der Ex-post-Rekonstruktion von unkonkretisierten Fehlvorstellungen über die Rechtslage . Andererseits ist eine Irrtumsanfechtung auch bei normativen Willenserklärungen anerkannt, also solchen, deren Zurechnung nicht auf dem finalen Willen des Erklärenden, sondern auf der Verletzung einer ihn treffenden Kommunikationsobliegenheit beruht . Gemeint sind etwa Situationen, in denen sich der Erklärende nicht einmal bewusst gemacht hat, dass er überhaupt aus objektivierter Sicht Rechtserhebliches erklärt oder solche Erklärungen, die aus abhanden gekommenen Urkunden oder der Nutzung von Fernkommunikationsmitteln durch unbefugte Dritte konstruiert und zugerechnet werden: Insoweit hier mit der Rechtsprechung und der überwiegenden Lehre von zurechenbaren Willenserklärungen auszugehen ist, müssen diese jedenfalls a minore ad maius der Irrtumsanfechtung des Erklärenden unterliegen .6 Aus dem Gesagten wird offensichtlich, dass der Irrtumsbegriff der Irrtumsanfechtung stark funktionalisiert ist: Bestimmte Arten von Irrtümern, wie etwa der Irrtum über Rechtsfolgen, werden als Nichtirrtum behandelt, obwohl ihnen doch Fehlvorstellungen zugrunde legen, die den privatautonomen Legitimationskern einer Willenserklärung ebenso, wenn nicht sogar stärker in Zweifel ziehen können als anerkannte Irrtumskonstellationen . Zugleich wird anderenorts ein Irrtum anerkannt, wo eine tatsächliche rechtsgeschäftliche Willensbildung insgesamt fehlt . Dies nimmt nicht Wunder: Ebenso wie der rechtsgeschäftliche Wille im Sinne des objektivierten Empfängerhorizonts nach §§ 133, 157 BGB ist auch der rechtsgeschäftliche Irrtum normativ wertend konstruiert, mithin Rechts- und nicht Tatsachenbegriff . Es geht gleichsam nicht um den Irrtum als kognitives Sein, sondern um das Recht zur Irrtumsanfechtung als normatives Sollen .

Siehe im Ansatz: Chris Thomale, Leistung als Freiheit, 2012, 140 ff . Zu diesem Grundsatz und seinen Ausnahmen vgl . Christian Armbrüster, in: MüKo BGB, 8 . Auflage 2018, § 119 Rn . 82 ff . mwN . 5 BGHSt 4, 236; 21, 18; 58, 15; NJW 2016, 1251 . Zu Gegenansichten in der Literatur im Überblick: Wolfgang Joecks, in: MüKo StGB, 3 . Auflage 2017, § 17 Rn . 39 ff . 6 Hier ist buchstäblich alles umstritten . Einen ersten Überblick bietet: Christian Armbrüster, in: MüKo BGB, 8 . Auflage 2018, Vor § 116 Rn . 3 f . mwN . 3 4

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Chris Thomale

III.

Irrtum vs. Wahrheit: Verjährung und Rechtskraft

Ein Irrtum ist in objektiver Hinsicht immer auch die Verkennung der objektiven Wahrheit . Unter Wahrheit sei hier die Relation verstanden, nach der eine gegebene Überzeugung einem gegebenen Wahrheitsträger, landläufig etwa der Wahrnehmung oder einer logischen Schlusskette, entspricht (sog . Korrespondenztheorie) .7 Der Irrtum bezeichnet dieselbe Relation mit negativem Vorzeichen: Ein Irrtum liegt dann vor, wenn eine gegebene Überzeugung ihrem korrespondierenden Wahrheitsträger nicht entspricht . Wenn Parteien über Rechtstatsachen im Irrtum sind, kann sich das Recht zunächst dazu entscheiden, diese Irrtümer zu ignorieren: Der Volksmund, dem zufolge Unwissenheit nicht vor Strafe schützt und der soeben aufgezeigte restriktive Umgang mit Verbots- und Rechtsfolgenirrtümern belegt dies . Das Recht kann jedoch auch umgekehrt gleichsam dem Irrtum „entgegenkommen“, indem es die Rechtslage, also hier: den Wahrheitsträger, der im Ausgangspunkt irrigen Überzeugung anpasst . Diese Operation kommt durchaus häufig vor, wie etwa die Rechtswirkungen des guten Glaubens belegen: Der Irrtum des Fahrniserwerbers etwa, dass der Veräußerer der Eigentümer der Sache sei, wird geheilt, indem § 932 BGB kurzerhand den Nichteigentümer für die Zwecke des Erwerbs wie einen Eigentümer behandelt und die Übertragung so für wirksam erklärt . Nicht umsonst spricht die Dogmatik hier von Rechtsschein: Die wahre Rechtslage, über die der Erwerber im Irrtum lag, wird ihrem im Ausgangspunkt falschen Schein angepasst .8 Die Verjährung ähnelt strukturell der soeben genannten Technik: Der Schuldner, der irrig vermeint, nicht oder nicht mehr leisten zu müssen, wird in diesem Glauben dadurch geschützt, dass er eine Einrede gegen die Durchsetzung der Schuld nach § 214 BGB erhält .9 Zwar kommt es auf die konkrete Gutgläubigkeit des Schuldners nicht ausdrücklich an, doch belegt der Hemmungskatalog in § 204 BGB, dass eine Verjährung jedenfalls dann nicht eintreten soll, wenn der Schuldner zeitig über die behauptete Existenz eines Anspruchs und den grundsätzlichen Willen zu seiner Durchsetzung informiert wird, typischerweise durch Klageerhebung nach § 204 Abs . 1 BGB i . V . m . § 253 Abs . 1 ZPO . Paradigma der Verjährung ist also der arglose Schuldner, der sich im Irrtum über seine Schuld befindet . Ist eine Forderung verjährt, erlischt sie zwar nicht, doch sie verliert ihre Durchsetzbarkeit und damit faktisch gleichermaßen ihren Wert für den Gläubiger wie ihre Belastungswirkung zu Lasten des Schuldners . Es ist, Zu Wahrheitstheorien im Überblick: Volker Halbach et al , lemma „Wahrheit“, in: Lexikon der Erkenntnistheorie, hg . von Thomas Bonk, 276 ff . Dort fehlt insbesondere die in der Jurisprudenz zentrale Konsenstheorie der Wahrheit, dazu ergänzend: Jürgen Habermas, in: Festschrift für Schulz, 1973, 211 ff . 8 Siehe näher: Chris Thomale / Marc Schüssler, Das innere System des Rechtsscheins, ZfPW 2015, 454 . 9 Vgl . auch BGH NJW 1993, 2054, 2055: „Aufgabe der Verjährung ist es nicht, an sich begründete Forderungen aufzuheben, sondern behauptete, in Wirklichkeit aber nicht oder nicht mehr bestehende Ansprüche abzuwehren . Die Verjährung dient nicht dazu, einen wirklichen Schuldner ohne Leistung zu befreien, sondern ihn vor unbegründeten, unbekannten oder unerwarteten Ansprüchen zu schützen .“ 7

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

als wäre die Forderung faktisch vernichtet: Die Rechtslage wird der irrtümlichen Annahme des Schuldners angenähert . An diesem Punkt berührt sich die Verjährung mit einem weiteren Institut, dem Institut der Rechtskraft, genauer: der materiellen Rechtskraft . Deren Wirkungsmechanismus besteht im Privatrecht gemäß § 322 ZPO darin, dass die von einem Gericht im Rahmen des durch die Parteien gesetzten Streitgegenstands getroffene Entscheidung, die durch Rechtsmittel gegen die Entscheidung selbst nicht mehr angegriffen werden kann (sog . formelle Rechtskraft), auch inhaltlich verbindlich wird . Bedeutung erlangt die materielle Rechtskraft mithin genau dann, wenn sich das erkennende Gericht irrt . Dann nämlich wird seine irrige Entscheidung ex post facto im Rahmen der durch den Streitgegenstand gezogenen persönlichen und sachlichen Grenzen bindendes Recht .10 Wieder wird also ein Irrtum über die wahre Rechtslage dadurch im Ergebnis geheilt, dass die Rechtslage dem Irrtum entsprechend umgestaltet wird . Die Institute der Verjährung und der materiellen Rechtskraft teilen eine strukturelle Eigenschaft, die hier hervorzuheben ist: Beide enthalten eine dem Irrtum des Schuldners respektive des erkennenden Gerichts entgegenkommende „Fiction der Wahrheit“11 oder besser: eine Anpassung der Rechtswirklichkeit an den Irrtum . Fehlerhafte Überzeugungen über das Recht entfalten somit eine „selbständige Wirksamkeit“12 im Recht . IV.

Zivildogmatische Bewältigung der Irrtumsparadoxien

Im Sinne der systematischen Kohärenz verlangen die aufgezeigten Paradoxien des Irrtums mit der Freiheit und mit der Wahrheit nicht nur nach gesetzespositiver, sondern auch nach dogmatischer Bewältigung . Im Folgenden werden deshalb Irrtumsanfechtung, Verjährung und materielle Rechtskraft unter dem Aspekt betrachtet, wie eine zivildogmatische Reflexion die ihnen innewohnenden Irrtumsparadoxien aufzulösen im Stande ist .

Die Details sind hier durchaus zweifelhaft . Vgl . Chris Thomale, Bis in idem: Ergänzende Bemerkungen zur materiellen Rechtskraft, JZ 2018, 1125, 1129 f . mwN . 11 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band VI (1847), 261, 265, 271, 274, 413 zur Rechtskraft . Diese sieht er im direkten inhaltlichen Zusammenhang mit der Verjährung – auch, aber nicht nur, weil er beide noch als Einreden konstruiert, vgl . Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd . IV (1841), 530 ff .; Bd . V (1841), 376 Note c), 378 . 12 Savigny (Fn . 11), Band IV, 530 ff ., Zitat auf Seite 532 . Siehe auch: aaO ., Band VI, 1847, 260 ff . 10

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Chris Thomale

1.

Die Irrtumsanfechtung als Bauelement einer kommunikationsobliegenheitsbasierten Rechtsgeschäftslehre

Die vom BGB gewählte Lösung der Irrtumsanfechtung stellt, wie bereits gezeigt, schon für sich genommen einen Kompromiss dar, indem sie einerseits irrtumsbasierte Willenserklärungen für wirksam erklärt, sie jedoch andererseits der Vernichtung durch Anfechtung aussetzt . Hinzu kommt eine von natürlichen Irrtumsverständnissen emanzipierte, normative Überformung der zur Anfechtung berechtigenden Irrtümer selbst . Dieser doppelte Mittelweg der Irrtumsanfechtung stellt ihr Verhältnis zur Privatautonomie in Frage: Wie ist logisch kohärent zu rechtfertigen, dass ein Irrtum die Willenserklärung zunächst unberührt lässt, jedoch im Nachhinein zur rückwirkenden (!) Vernichtung derselben durch den Erklärenden befugt? Wie passt zusammen, dass es einerseits der kognitive Irrtum ist, der zu dieser Anfechtung berechtigt, dass jedoch andererseits ebenso gut bei Abwesenheit jeglichen Irrtums eine solche Anfechtung in Betracht kommt und umgekehrt bestimmte Irrtümer ausgeschlossen werden? Die aufgezeigten Paradoxien der Irrtumsanfechtung weisen in die Theorie des Rechtsgeschäfts selbst zurück . Hier waren und sind zwei polarisierende Extrempositionen vorherrschend:13 Einerseits wird das innere Willenselement der Willenserklärung ganz in den Vordergrund gestellt .14 Diese sog . Willenstheorie muss, sofern sie die Prämisse teilt, dass der Wille des Erklärenden durch einen Irrtum korrumpiert wird, konsequenterweise die Nichtigkeit der Willenserklärung verlangen . Andererseits lässt sich auch der äußere Erklärungsaspekt der Willenserklärung betonen .15 Diese sog . Erklärungstheorie kann zwar gut mit der Wirksamkeit einer Willenserklärung trotz Irrtums leben, weil dieser eben gerade den äußeren Willenserklärungstatbestand unberührt lässt . Jedoch müsste sie ihrem Ausgangspunkt entsprechend gegen eine Irrtumsanfechtung eintreten . Beide traditionellen Ansätze sind somit gezwungen, die gesetzespositive Lösung der §§ 119, 142 BGB zu ignorieren oder zu marginalisieren, um ihren theoretischen Prämissen treu zu bleiben . Die herrschende zeitgenössische, positivistisch geprägte Dogmatik belässt es deshalb bei der Feststellung ebendieser positiven Rechtslage, bemüht sich also nicht mehr um die Auflösung der in der Irr-

Die auf Karl Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1966 zurückgehende sog . Geltungstheorie darf hier trotz ihrer heuristischen Verdienste außenvorbleiben . Denn sie formuliert lediglich die Frage nach dem Geltungsgrund der Willenserklärung (korrekt) neu, beantwortet sie jedoch nicht . Vgl . dazu Thomale (Fn . 3), 62 ff . 14 Savigny (Fn . 11), Band III (1840), 237 ff . Zuletzt insbesondere: Thomas Lobinger, Rechtsgeschäftliche Verpflichtung und autonome Bindung, 1999 . 15 Rudolph von Jhering, Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, 6 (1861), 1; Herrmann Isay, Die Willenserklärung im Thatbestande des Rechtsgeschäfts nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, in: Abhandlungen zum Privatrecht und Civilprozeß, Band II (1899), 203 . Zuletzt insbesondere: Morten Mittelstädt, Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen, 2016 . 13

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

tumsanfechtung enthaltenen theoretischen Paradoxie .16 Doch schöpft dies das Potential rechtsgeschäftlicher Dogmatik nicht hinreichend aus: Erkenntnisfortschritte verspricht ein differenzierender Ansatz beim Geltungsgrund der Willenserklärung: Diese ist nicht nur dann verbindlich, wenn der Erklärende das wollte, was er aus objektiver Empfängersicht erklärt . Vielmehr werden Willenserklärungen nach ständiger Rechtsprechung sowie einer Vielzahl gesetzlicher Einzelregelungen auch dann dem Erklärenden zugerechnet, wenn der Erklärende sorgfaltswidrig beim Empfänger den Eindruck erweckt, er erkläre einen bestimmten Inhalt, und der Empfänger den fehlenden Willen des Erklärenden auch unter Wahrung der ihm obliegenden Auslegungssorgfalt nicht erkennen musste .17 In diesem zweiten Fall einer sog . „normativen Willenserklärung“ hat der Erklärende das Recht zur Irrtumsanfechtung nach §§ 119, 142 BGB, welches er unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern ausüben oder mit der vorläufig zugerechneten Willenserklärung vorliebnehmen muss . Hier wird deutlich, dass die Irrtumsanfechtung in ein System beidseitiger Kommunikationsobliegenheiten eingebettet ist: Der Erklärende muss versuchen, sich verständlich zu machen . Das bedeutet einerseits, dass ihm eine ungewollte, normative Willenserklärung bereits dann nicht zugerechnet wird, wenn er nichts für den objektiven Erklärungsschein kann . Ist dies jedoch der Fall, kann er sich zwar trotzdem von seiner Willenserklärung durch Anfechtung lösen, jedoch muss er auch dies dem Empfänger gegenüber im Doppelsinne des Wortes erklären, und zwar schnellstmöglich . Andererseits muss der Empfänger versuchen, den Erklärenden möglichst richtig zu verstehen . Verstößt er gegen diese Auslegungssorgfalt, scheitert bereits die vorläufige Zurechnung einer normativen Willenserklärung . Wird sie gewahrt, kann sich der Erklärende zunächst darauf verlassen, dass die Willenserklärung seinem schutzwürdigen Verständnis entsprechend gilt . Stellt sich später heraus, dass der Erklärende gar nichts oder etwas anderes erklären wollte – sei es durch eine Anfechtungserklärung des Erklärenden, sei es auf anderem Wege –, kann der Empfänger zwar nach vorzugswürdiger Ansicht seinerseits die Willenserklärung mit dem Inhalt in Geltung versetzen, den der Erklärende ursprünglich gewollt hat,18 doch muss auch diese Gestaltung dem Erklärenden unverzüglich kommuniziert werden, um Wirksamkeit erlangen zu können .19 Erkennt man die Irrtumsanfechtung als Bauelement eines auf gegenseitiges Verständnis hin angelegten Systems von Kommunikationsobliegenheiten, lösen sich ihre genannten Paradoxien auf: Das Entscheidende an der Anfechtungslösung ist die Obliegenheit zur zeitig fortgesetzten Kommunikation im Angesicht einer gescheiterten Statt vieler: Christian Armbrüster (Fn . 6), Rn . 20 f .; Reinhard Singer, in: Staudinger BGB, Neubearbeitung 2017, Vorbem . zu §§ 116–144, Rn . 14 ff . 17 Details bei: Thomale (Fn . 3), 68 ff . 18 In der Debatte wird dies häufig auch als Reurechtsausschluss des Irrenden bezeichnet, vgl . Thomas Lobinger, Irrtumsanfechtung und Reurechtsausschluss, AcP 195 (1995), 274, 275 mwN . in Fn . 11 . Dafür etwa: LG Berlin NJW-RR 2009, 132; Dieter Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10 . Auflage (2010), Rn . 781 mwN . 19 Details bei: Thomale (Fn . 3), 150 ff . 16

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Kommunikation . Wer ein auch durch Wahrung angemessener Auslegungssorgfalt nicht zu rettendes Missverständnis verursacht, muss den Adressaten seiner Erklärung darüber aufklären .20 Dies erhellt einerseits den fundamentalen Unterschied zwischen einer nichtigen und einer rückwirkend vernichtbaren Erklärung und macht zugleich verständlich, warum auch bei insgesamt fehlender Willensbetätigung dasselbe Kommunikations- und Klarstellungsbedürfnis besteht . Andererseits wird deutlich, dass die Kommunikationsverantwortung des Erklärenden bisweilen nicht einmal die zeitige Richtigstellung als solche erlauben mag (Stichwort: Irrtum über Rechtsfolgen) und jedenfalls das schutzwürdige Vertrauen des Empfängers auf die erstmalige Kommunikation durch einen Schadenersatzanspruch gemäß § 122 BGB zu bewehren ist . 2.

Die Verjährung als Vernichtung des Anspruchs bei gleichzeitiger Bewahrung des Forderungsrechts

Auch die Paradoxie der Verjährung, das subjektive Recht des Gläubigers einerseits weiterhin als wahres Recht anzuerkennen, andererseits jedoch – dem sachtypisch implizierten Irrtum des Schuldners entsprechend – dieses Recht faktisch auszuschließen, fragt nach rechtsdogmatischer Einordnung . Zunächst ist der Mechanismus der Verjährung zu präzisieren: Verjährung zeitigt gerade keine automatischen Rechtsfolgen ipso iure, bricht also nicht gleichsam über die Parteien des Schuldverhältnisses herein . Vielmehr gibt sie dem Schuldner gemäß § 214 Abs . 1 BGB das Recht, „die Leistung zu verweigern“ . Ähnlich wie das Irrtumsanfechtungsrecht bildet folglich auch die Verjährungseinrede lediglich den Grund für eine Gestaltung, die von dem Berechtigten durch Kommunikation gegenüber dem Gestaltungsbetroffenen vorzunehmen ist .21 Die Frage bleibt jedoch, wie die Rechtsfolgen der Ausübung der Verjährungseinrede konzeptionell so zu fassen sind, dass der scheinbare Widerspruch zwischen Recht und Nichtrecht des Gläubigers respektive zwischen wahrem Gläubigerrecht und irrtümlicher Schuldenfreiheit des Schuldners aufgehoben wird . Dazu ist das subjektive Recht des Gläubigers näher zu betrachten: Offensichtlich verliert der Gläubiger nämlich nicht jedwede Rechtsposition . Dies stellt § 214 Abs . 2 Satz 1 BGB heraus, indem er anordnet: „Das zur Befriedigung eines verjährten Anspruchs Geleistete kann nicht zurückgefordert werden, auch wenn in Unkenntnis der Verjährung geleistet worden ist .“ Sedes materiae ist die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung von Leistungen nach objektivem Verjährungseintritt, aber vor Ausübung des Verjährungsrechts durch den Über Weiterungen dieses Grundsatzes jenseits der Rechtsgeschäftslehre siehe: Chris Thomale, Kommunizieren, Verstehen, Vertrag(en) . Das Missverständnis als Herausforderung des Privatrechts, Rechtstheorie 44 (2013), 103 . 21 Details bei Chris Thomale, Die Einrede als materielles Gestaltungsrecht, AcP 212 (2012), 920 . 20

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

Schuldner . Bei unbefangener Rechtsanwendung wäre man geneigt, dem Schuldner nach § 813 Abs . 1 Satz 1 BGB die Rückforderung zu gestatten .22 Dem tritt § 214 Abs . 2 Satz 1 BGB, auf den § 813 Abs . 1 Satz 2 BGB zusätzlich klarstellend verweist, entgegen . Offenbar behält der Gläubiger also trotz Verjährungseintritts ein Behaltensrecht . Lediglich die zwangsbewährte Beitreibung des Geschuldeten scheidet aus, weil sich der Schuldner hiergegen nach § 214 Abs . 1 BGB zur Wehr setzen kann . Hier schimmert ein Lösungsraum zur Bewältigung der eingangs aufgezeigten Paradoxie auf: Es müsste gelingen, das Behaltensrecht des Gläubigers von seinem Beitreibungsrecht zu trennen . Dann wäre es unschwer möglich, die fortdauernde Berechtigung des Gläubigers samt der darin liegenden Behauptung der Rechtswahrheit mit der wirtschaftlichen Entschuldung des irrenden Schuldners in eins zu setzen . Die konzeptionelle, zivildogmatische Lösung des Problems liegt in der Trennung von Anspruch und Forderung .23 Der analytische Mehrwert dieser Trennung ist nicht hoch genug einzuschätzen . Unter anderem bietet sie einen begrifflichen und, wie insbesondere §§ 194 Abs . 1 versus 241, 398 BGB belegen, gesetzesnahen Freiheitsgrad, um die Berechtigungen des Gläubigers einer verjährten Forderung zu entwirren: Forderung bedeutet danach die Zuweisung des Forderungsgegenstands in das Vermögen des Forderungsinhabers . Diese Rechtsposition des Gläubigers bleibt durch die Verjährung unberührt, weshalb ihm Leistungen des Schuldners oder durch Dritte nach § 267 BGB weiterhin gebühren . Der Anspruch bedeutet jedoch gemäß der nicht zufällig an den Kopf des Verjährungsrechts gestellten Legaldefinition etwas anderes . Er gibt ein Verfolgungsrecht, wirft gleichsam den materiell-rechtlichen Schatten der prozessualen Klagbarkeit . Dieses Verfolgungsrecht liegt typischerweise bei demjenigen, der auch die Forderung, das Behaltensrecht innehat . Diese Verknüpfung ist indes nicht notwendig . So kann etwa im Fall der Prozessstandschaft oder beim Versprechensempfänger eines echten Vertrags zu Gunsten Dritter nach § 335 BGB auch das Verfolgungsrecht des einen dem Behaltensrecht des anderen dienen . Den umgekehrten Fall einer Forderung ohne Anspruch finden wir neben den Naturalobligationen auch im Fall der Verjährung vor: Die Verjährungseinrede vernichtet den Anspruch des Gläubigers, lässt jedoch seine Forderung bestehen . Die Paradoxie der gleichzeitigen Berechtigung und Nichtberechtigung des Gläubigers ergab sich lediglich daraus, dass man zwei diskrete Rechtspositionen durcheinandergebracht hatte . Erlaubt man der Zivilrechtsdogmatik, hier ordnend einzugreifen, löst sich diese Spannung zwischen Schuldnerirrtum und Hier tritt ein weiterer Irrtumszusammenhang auf, der an die vorher behandelte Irrtumsanfechtungssituation erinnert: Die privatautonome Legitimität der Leistung an den Bereicherungsschuldner wird dadurch erschüttert, dass der Leistende unter dem sachgedanklich implizierten Irrtum geleistet haben muss, dass er bereits schuldet (§ 812 Abs . 1 Satz 1 Alt . 1 BGB), diese Schuld nicht wegfällt (§ 812 Abs . 1 Satz 2 Alt . 1 BGB) und ihre auch keine dauernden Einreden entgegenstehen (§ 813 Abs . 1 BGB), weil er ansonsten nach §§ 814 f . BGB mit seinem Anspruch ausgeschlossen wird . Vgl . zu diesem Ansatz grundlegend: Harald Koch, Bereicherung und Irrtum, 1973; Thomale (Fn . 3), 191 f . mwN . 23 Thomale (Fn . 3), 184 f .; ders, (Fn . 21), 928 ff . 22

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Gläubigerwahrheit auf: Das Recht kommt dem Schuldnerirrtum entgegen, indem es den Gläubigeranspruch vernichtet, entrechtet den Gläubiger jedoch nicht völlig, sondern erhält sein „wahres“ Recht, den geschuldeten Gegenstand behalten zu dürfen . 3.

Die Rechtskraft als materiell-rechtliche Umgestaltung der streitgegenständlichen Rechtsverhältnisse

Die materielle Rechtskraft markiert neben der soeben behandelten Verjährung ein zweites Institut, das eine Spannung zwischen Irrtum und Wahrheit erzeugt . Denn ihre eigentliche Bedeutung erhält sie im Fall der Fehlentscheidung: In formelle Rechtskraft erwachsene Fehlurteile, also Entscheidungen, die auf einem Rechtsirrtum beruhen, werden im Rahmen der durch § 322 ZPO gezogenen Grenzen grundsätzlich24 trotz ihrer Irrtumsbehaftetheit verbindlich . Hierin liegt die erste, fundamentale Paradoxie der materiellen Rechtskraft: Sie versieht auch – man ist geneigt zu sagen: gerade – sachliches Unrecht mit Rechtskraft, ohne dass, soweit ersichtlich, jemals jemand dem Gedanken anheimgefallen wäre, von Unrechtskraft zu sprechen . Eine zweite Paradoxie betrifft die anerkannten Wirkungen dieser materiellen Rechtskraft . Sie soll nämlich insbesondere in persönlicher Hinsicht über die Streitparteien und damit auch über die persönlichen Grenzen der formellen Rechtskraft hinausreichende Wirkungen zeitigen .25 So hat der BGH etwa zuletzt anerkannt, dass ein gegenüber dem Hauptschuldner ergangenes rechtskräftiges Urteil, welches dessen Verjährungseinrede nach § 197 Abs . 1 Nr . 3 BGB unterbindet, gemäß § 768 Abs . 1 Satz 1 BGB auch zulasten des Bürgen gehe .26 Der Bürge wird also von der materiellen Rechtskraft eines Urteils betroffen, dessen subjektive Rechtskraft sich nicht auf ihn erstreckt – ein Ergebnis, das sich kaum mit § 322 Abs . 1 ZPO in Einklang bringen lässt, weil dieser die materielle Rechtskraft auf den prozessualen Streitgegenstand festlegt .27 Die Auflösung der beiden aufgezeigten Paradoxien lässt sich dadurch erreichen, dass man sich der Grundlagen der materiellen Rechtskraftwirkung vergewissert .28 Dabei zeichnet sich ein konstruktiver Ausweg ab, der zuletzt zwar etwas außer Mode Siehe aber §§ 578 ff . ZPO . Grundlegend zur Figur von der Rechtskrafterstreckung kraft materiell-rechtlicher Abhängigkeit: Leo Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 9 . Auflage 1961, 761 f . 26 BGHZ 210, 348 . 27 Damit soll insbesondere in sachlicher Hinsicht ausgeschlossen werden, dass auch bloße Urteilsgründe in Rechtskraft erwachsen können . Auch in subjektiver Hinsicht wird jedoch eine Beschränkung auf die Prozessparteien erzielt, welche in den §§ 325 ff . ZPO nur für besondere gesetzlich bestimmte Ausnahmen relativiert wird . 28 Zuletzt geschehen im Dialog zwischen Verf . und Hans Friedhelm Gaul . Vgl . Chris Thomale, Materielle Rechtskraft – Eine kurze Ideen- und Kodifikationsgeschichte, JZ 2018, 430 ff .; Hans Friedhelm Gaul, Irrungen und Wirrungen zur Geschichte und zum heutigen Stand der Rechtskraftlehre, JZ 2018, 1013; Chris Thomale (Fn . 10), 1125 . 24 25

Anfechtung, Verjährung und Rechtskraft

gekommen ist, der jedoch insgesamt in der verschlungenen Dogmengeschichte der materiellen Rechtskraft der vorherrschende sein dürfte: Materielle Rechtskraft ist nicht als zivilprozessuale, sondern vielmehr als materiell-rechtliche Figur zu rekonstruieren .29 Weist man der materiellen Rechtskraft diese Systemstelle zu, löst sich der erste Widerspruch zwischen Rechtsirrtum und Rechtswahrheit ohne weiteres auf . Der Richterspruch erhält nämlich unter diesem Aspekt materiell rechtsgestaltende Kraft und verändert so die materielle Rechtslage ebenso wie bei Gestaltungsurteilen im Allgemeinen und richterlichen Leistungsbestimmungen nach §§ 313 Abs . 1, 315 Abs . 3 Satz 2, 319 Abs . 1 Satz 2 BGB im Besonderen . Der zuvor angenommene Irrtum verschwindet also, weil die materielle Rechtslage, indem sie ihm durch den Urteilsspruch angeglichen wird, als Irrtumsmaßstab entfällt . Auch die zweite Paradoxie hinsichtlich der persönlichen Wirkungen der materiellen Rechtskraft lässt sich bruchlos bewältigen: Wenn die materielle Rechtkraft eine materiell-rechtliche Gestaltung darstellt, dann ist es nur logisch, dass sie materiell-rechtlich vermittelte Sachzusammenhänge miterfasst . Deshalb folgt etwa unmittelbar aus der Akzessorietät der Bürgenschuld, dass Rechtswirkungen im Hauptschuldverhältnis grundsätzlich auch die Bürgenschuld beeinflussen .30 V.

Schlussbetrachtung: Der performative Sprechakt als Irrtumsbewältigungsform

Die vorausgegangenen Fallstudien decken den Untersuchungsgegenstand nicht vollständig ab . Dennoch lassen sie bereits einen wiederkehrenden Topos erkennen, auf den abschließend hinzuweisen ist: der performative Sprechakt . Gemeint sind Sätze, die nicht wahrheitsfähig sind, sondern vielmehr schlicht wirken, indem sie geäußert werden, die sich also gleichsam ihre eigene Realität und Wahrheit schaffen . Auf dieses Faszinosum hat, soweit ersichtlich, zuerst John Langshaw Austin hingewiesen .31 Mittlerweile hat Austins Denken nicht nur die Grenzen des Atlantiks, sondern zugleich diejenigen der Sprachphilosophie überschritten und einen festen Platz im rechtstheoretischen Diskurs erobert .32 Die vorliegende Untersuchung mag dieser Mode

29 Savigny (Fn . 11), Band VI (1847), 23 ff ., 264 ff . Später auch: Josef Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis, 1888, 64, 74 f ., 111 f .; ders ., Gesammelte Beiträge zum Zivilprozeß, 1894, 12 in Fn . 25; ders ., in: Festschrift für Klein, 1914, 1 ff . und Max Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, 1904 . 30 Siehe zu BGHZ 210, 348: Lorenz Leitmeier, Rechtskraft der Hauptschuld und Verjährungseinrede des Bürgen, NJW 2017, 1273, 1276 . Allgemein bereits: Pagenstecher (Fn . 29), 347 ff . 31 John Langshaw Austin, How to do things with words, 1962 . 32 Statt vieler etwa: Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012; Nicolas Druey, Der Kodex des Gesprächs, 2015; weitere Nachweise bei: Chris Thomale, Sprache und Recht . Neuerscheinungen zur sprachkritischen Rechtstheorie, ARSP 99 (2013), 420, 428 ff . Einen Ausnahmefall bildet die Rechtsgeschäftslehre: Hier trat bereits Karl Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1966 mit einer Rezeption des

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weiteren Aufwind geben . Denn performative Sprechakte bilden das Herzstück von Irrtumsanfechtung, Verjährung und materieller Rechtskraft: Die Irrtumsanfechtung bezieht sich zunächst auf eine performative Willenserklärung und wird zugleich durch eine ebenso performative Anfechtungserklärung ausgeübt . Letzteres gilt auch für die Verjährungseinrede, die der Schuldner nach richtiger Ansicht durch eine vollwertige Willenserklärung erheben muss, um ihr Wirksamkeit zu verleihen .33 Daneben sind es performative Sprechakte wie Klageerhebung, Mahnbescheid etc ., die nach § 204 BGB eine Verjährung ausschließen und so gleichsam als negatives Tatbestandsmerkmal erlauben . Das Urteil schließlich, das in materielle Rechtskraft erwächst, ist geradezu der paradigmatische Fall juristischer performativer Sprechakte . Die Vermutung drängt sich auf, dass dieser offenbare Zusammenhang zwischen Irrtumsbewältigung und Performanz kein zufälliger ist . Besonders deutlich wird dies im Verhältnis des Irrtums zur Wahrheit . Performative Sprechakte besitzen hier das strukturelle Potential, das Recht durch eine irrtumsadaptierende (Rechtskraft beim Urteil) oder irrtumsexkludierende (Verjährungshemmung z . B . durch Klageerhebung, § 204 Abs . 1 Nr . 1 BGB) Wirkung gegen Irrtümer zu immunisieren . Im rechtsgeschäftlichen Verhältnis des Irrtums zur Freiheit formulieren performative Sprechakte hingegen lediglich die richtige Frage, nämlich danach, welche Wirkungen unter welchen Voraussetzungen von einer Willenserklärung ausgehen . Dies ist möglicherweise ein Fingerzeig für die gesamte rechtstheoretische Performanzforschung: Die Deduktionsfähigkeit des Performanzbegriffs ist durchaus gering . Der Diskurs täte folglich gut daran, sich von der Kuriositätsehrfurcht vor sprachphilosophischen Beschreibungen zu emanzipieren und eine kritische Analyse zu wagen, ob und welche normativen Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen mit rechtswissenschaftlichen Methoden gerechtfertigt werden kann .

gerade erst erschienenen Ansatzes hervor – angesichts der üblichen amerikanisch-deutschen Diskurslatenz von 10–20 Jahren eine Meisterleistung . Heute mit einem instruktiven Überblick: Kyriaki Archavlis, Die juristische Willenserklärung – eine sprechakttheoretische Analyse, 2015 . 33 Thomale (Fn . 20), 924 ff .

Können Kommentare irren? Der Rechtsirrtum in juristischen Kommentaren am Beispiel der Anwaltshaftung1 FRANZISKA BRACHTHÄUSER (Berlin)

„Der RA hat grds jeden RIrrtum zu vertreten (…) . Über den Stand der höchstrichterl Rspr muss er sich laufd in Fachzeitschriften informieren (…), dagg grdsätzl keine Pfl zur laufden Lektüre von Spezialzeitschriften (…) . Er muss den Palandt einsehen u sich an der höchstrichterl Rspr orientieren (…), auch wenn er sie für falsch hält od sie in der Literatur bekämpft wird u eine Änderg in der Rspr nicht auszuschließen ist (…) .“2

Ein bisschen Ironie steckt wohl in der Kommentierung von Christian Grüneberg zu den Sorgfaltspflichten der Rechtsanwältin . Einerseits benennt er als Bearbeiter des Palandt und zugleich Richter am BGH den Palandt selbst und daneben die höchstrichterliche Rechtsprechung als Pflichtlektüre zur Vermeidung des Rechtsirrtums . Andererseits finden andere Kommentare, zumal in anderen Rechtsgebieten, daneben nicht einmal Erwähnung . Ein Unterton, der mitschwingt: Denn ich irre, für gewöhnlich, nicht Einen wahren Kern hat die Kommentierung aber . Der Palandt gilt als der zentrale Kommentar für die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches nach den Maßgaben des Bundesgerichtshofes . Was der BGH für Recht erklärt hat, ist alsbald im Palandt nachzulesen . Damit wird der Palandt zum Standard in der privatrechtlichen Rechtspraxis . An der Figur des Rechtsirrtums im Allgemeinen Schuldrecht tritt in der Kommentierung des Palandt die Regelhaftigkeit dieses Kommentarstandards zum Vorschein: Wenn selbst der Palandt irrt, kann auch der Rechtsanwältin der Irrtum nicht zum Vorwurf gemacht werden . Andersherum ergibt sich hieraus der Imperativ, einem solchen

1 2

Danke an Charlotte Johann für Gespräche und Gedanken . Palandt/Grüneberg, München 2019, § 280 Rn . 68 .

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Franziska Brachthäuser

Standard zu folgen . Die Figur des Rechtsirrtums im Privatrecht gewährt damit einen Einblick in die juristische Hermeneutik . Ausgehend von der Kommentierung des Palandt zum Rechtsirrtum der Rechtsanwältin möchte ich Implikationen deutscher Kommentarliteratur auf die Rechtsanwendung untersuchen . Damit betrachte ich die Figur des Rechtsirrtums vom Standpunkt der Rechtsanwenderin aus, die dem vorgefundenen Recht in seinem Werden habhaft werden muss . Dem Beitrag liegt ein Verständnis zugrunde, nach dem auch die Rechtswissenschaft, das heißt alle rechtswissenschaftlichen Publikationen und Stellungnahmen, zu den Rechtsquellen zählen . Auch Kommentare zählen zu den Rechtsquellen in diesem Sinne . Der Beitrag hat folgende Struktur: Ein erster einleitender Teil behandelt Grundlegendes zu juristischen Kommentaren und der hierin vorgefundenen Systematisierung von Rechtsquellen (1) . Es folgt ein zweiter Teil, der sich der Figur des Rechtsirrtums historisch, aber auch in aktueller Kommentarliteratur und Rechtsprechung widmet (2) . Ein dritter Teil wirft schließlich die Titelfrage auf, ob Kommentare irren können (3) . Zentral werden hierbei Fragen juristischer Hermeneutik und insbesondere Friedrich Carl von Savignys Vorstellung von einem „werdenden Recht“ . 1.

Kommentieren und Wissen von Recht

1.1

Kommentar und Kritik

Juristische Kommentare sind zentraler Bestandteil für die Auslegung und Anwendung von Recht in Deutschland . Und dennoch standen juristische Kommentare bislang nur wenig im Fokus reflexiver Debatten .3 Was bedeutet ‚kommentieren‘, insbesondere in Bezug auf Recht? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird ‚kommentieren‘ als wertendes, persönliches Stellungnehmen zu einem Text oder Sachverhalt verstanden . Kommentieren in diesem Sinne impliziert den Diskurs über Recht: Wer Recht kommentiert, setzt sich mit Ansichten über Recht auseinander – und wird wiederum als eine Ansicht im Diskurs aufgegriffen .4

Siehe aber insbesondere die umfassende rechtshistorische Monographie von David Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare Struktur, Funktion und Stellenwert juristischer Kommentare in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2016; ebenfalls zu nennen sind Thomas Henne, Die Prägung der Juristen durch die Kommentarliteratur: Zu Form und Methode einer juristischen Diskursmethode, Betrifft Justiz 2006, 352 ff; David Kästle / Nils Jansen (Hrsg .), Kommentare in Recht und Religion, Tübingen 2014; Andreas Funke, Der blinde Fleck des Kommentars, in: Andreas Funke / Konrad Lachmayer (Hrsg .), Formate der Rechtswissenschaft, Weilerswist 2017; Franziska Brachthäuser, Standardkommentare zwischen Hegemonietheorie und Pragmatismus, KJ 4 (2017), 448 ff . 4 Siehe hierzu Markus Krajewski / Cornelia Vismann, Kommentar, Code und Kodifikation, Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), 4 ff; siehe auch Cornelia Vismann, Walter Benjamin als Kommentator, in: Eva 3

Können Kommentare irren?

Genau in dieser Tradition entstanden die Digesten in der römischen Spätantike: Es handelt sich um eine Sammlung von Fällen und Anmerkungen, über die römische Rechtsgelehrte einen Austausch während der sogenannten klassischen Phase pflegten . Sie basieren auf einem juristischen und kollegialen Diskurs über die Rechtsauslegung . Dieses Beispiel verweist aber auch auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Text und Kommentierung . Kaiser Justinian verlieh jener Sammlung von Fällen und Kommentierungen, die er Digesten nannte, Gesetzesrang . Die Kommentierung des Rechts wurde damit selbst zum Recht . Wie Krajewski und Vismann ausführen, wird zum zentralen Unterscheidungsmerkmal zwischen „weiterwuchernder“ Kommentierung und Recht dessen abschließende Funktion .5 Denn um dem Gesetzestext Stabilität und Geltung zu verleihen wurden alle wertenden Kommentierungen zu Fälschungen erklärt und nur wertfreie Wiedergaben und Übersetzungen zugelassen . Das Gesetz wird damit zum Primärtext, die Kommentierung zu einem kaum mehr eigenständigen Beiwerk . Die Logik spiegelt sich auch in Michel Foucaults Ordnung der Dinge wider: Kommentar und Kritik sollen sich gegenseitig ausschließen .6 Das Ziel zur Zeit der Digesten war es, eine möglichst klare und widerspruchsfreie Rechtslage zu schaffen . Spuren hiervon finden sich in der Kommentarliteratur der Gegenwart wieder . Die deutschen Gesetzeskommentare haben sich im 19 . und 20 . Jahrhundert in einer Tradition der Systematisierung und Schematisierung von Rechtsprechung und Rechtsanschauungen entwickelt . Sie geben, indem sie die höchstrichterliche Rechtsprechung und Streitstände darstellen, der Rechtsanwenderin einen systematischen Überblick zur Bearbeitung einer Rechtsfrage an die Hand . Dabei wird nur selten kritisch Stellung zu einem Gesetzestext bezogen . Stattdessen scheinen sich die Kommentator*innen durch einen präzisen, geradezu formelhaften Sprachstil jeglicher Wertung zu entziehen .7 Damit wird der Wortsinn von ‚kommentieren‘ in sein genaues Gegenteil verkehrt: Die Kommentare suggerieren Objektivität, verbergen die subjektive Position, die hinter jeder Kommentierung steckt . 1.2

Vielfalt der Kommentare

Der Bestand an juristischen Kommentaren ist denkbar groß: Es gibt Praxis- und Großkommentare, Studien- und Anwaltskommentare . Zentral wird der Unterschied insbesondere zwischen praxisrelevanten Kurzkommentierungen und mehrbändigen

Horn / Bettine Menke / Christoph Menke (Hrsg ), Literatur als Philosophie, Philosophie als Literatur, München 2006, 347 ff . 5 Aao . (Fn . 4), 6 . 6 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 22 . Auflage, Frankfurt am Main 2012, 117 . 7 Zynisch zu den Abkürzungen im Palandt siehe Henne (Fn . 3) .

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Franziska Brachthäuser

Großkommentaren . Letztere sind noch mehr auf die Auswertung wissenschaftlicher Meinungen im Diskurs um Recht ausgerichtet und können durchaus monographieartige Passagen aufweisen . Je nach Art der Kommentierung stehen diese gewissermaßen als Hybride zwischen Wissenschaft und Praxis .8 Für die Rechtspraxis immer relevanter werden Online-Kommentare und Rechtsprechungsdatenbanken, die den Zugriff auf Rechtsquellen erleichtern . Insbesondere ihre Rolle für die rechtswissenschaftliche Praxis bedürfte einer näheren Erforschung .9 Einige der Kommentare gelten als Standard der Rechtsauslegung . Bei dem Begriff des Standardkommentars handelt es sich weder um eine Selbstbezeichnung noch um einen anhand abschließender Kriterien bestimmbaren Terminus .10 Und dennoch ist er in der Rechtswissenschaft geläufig . Als Kriterien werden die Tradition in der Praxis, die Höhe der Auflage eines Kommentars, der Absatz, die Kosten, die praktische Eignung, geschicktes Marketing, aber auch Kompaktheit der Darstellung und die Anpassung an den rechtswissenschaftlichen Diskurs benannt .11 Zentral für die Reichweite eines Kommentars ist die Verwendung in der Praxis, sodass die Standardkommentare gewissermaßen mit den Praxiskommentaren gleichzusetzen sind . Die Verbreitung eines Kommentars folgt zunächst der Marktlogik . Weiter ist beachtlich, dass ausschließlich einige wenige Kommentare für das zweite juristische Staatsexamen zugelassen sind .12 Es sind zumeist die gleichen Kommentare, die jährlich von den Behörden und Gerichten angeschafft werden . Hierdurch tragen auch staatliche Institutionen zur Setzung des Standards bei . Die Stellung der Standardkommentare und ihr Einfluss auf die Rechtspraxis stehen länger schon in der Kritik . In dieser Tradition stand der Versuch des Luchterhand-Verlages aus den 1980er und 1990er Jahren, den Standardkommentaren die Reihe der Alternativkommentare entgegenzusetzen . Das Ziel dieser Kommentarreihe war „Me-

Siehe Matthias Jestaedt, Wissenschaft im Recht: Rechtsdogmatik im Wissenschaftsvergleich, in: JZ 2014, 6; siehe auch Werner Flume, Die Problematik der Änderung des Charakters der großen Kommentare, erörtert an Beispielen in der Besprechung der zweiten Auflage des Münchener Kommentars zum Allgemeinen Teil des BGB, JZ 1985, 470 ff . 9 Zu juristischen Datenbanken siehe Jan C . Schuhr, Rechtsprechungsdatenbanken als Format rechtlicher Information – Hilfsmittel oder Ersatz für Kommentare? – in: Andreas Funke / Konrad Lachmayer (Hrsg .), Formate der Rechtswissenschaft, Weilerswist 2017, 161 ff . 10 Brachthäuser (Fn . 3), 456 mit dem Verweis auf die innerrechtliche Hegemonie der Standardkommentare, anderer Ansicht ist Funke (Fn . 3), 64, der die Existenz von Standardkommentaren mit Verweis auf die Pluralität juristischer Kommentare grundlegend anzweifelt: Höchstens beim Palandt ließe er den Begriff des Standardkommentars durchgehen . 11 Kästle-Lamparter (Fn . 3), 335 . 12 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang aber die unterschiedliche Adaption an die Praxis: Während die Kommentare Kopp/Ramsauer und Kopp/Schenke dafür bekannt sind, in ihren Ansichten von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuweichen, orientiert sich der Palandt hauptsächlich an der Rechtsprechung des BGH . 8

Können Kommentare irren?

thodenehrlichkeit“13 durch explizite Stellungnahmen zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen . Damit sollte zugleich aufgedeckt werden, dass Recht stets auch politisch ist . Die Alternativkommentierung konnte sich am Ende aber nicht durchsetzen: Das Projekt unterlag der Absatzlogik des juristischen Marktes .14 Auch in jüngerer Zeit hat sich eine kritische Tradition in Bezug auf Standardkommentare und ihre Stellung im juristischen Diskurs entwickelt .15 Hierbei wird vor allem eine vom Standardkommentar ausgehende Autorität in der rechtswissenschaftlichen Praxis konstatiert . Eine These von Thomas Henne etwa lautet: „Über den Gesetzespositivismus tritt der Kommentarpositivismus .“16 Doch die Darstellungen verbleiben weitestgehend bei Thesen . Eine zusammenhängende empirische Forschung dazu, welchen Einfluss die sogenannten Standardwerke auf die Darstellung in anderen Kommentaren oder die Entscheidungsfindung der Gerichte haben, gibt es bislang nicht .17 2.

Was sagen juristische Kommentare zum Rechtsirrtum?

2.1

Ausgangspunkt: Der „bloße“ Rechtsirrtum

Was kann und muss jemand über das Recht wissen? Und was für Folgen knüpft das Recht an den Fall, dass Recht nicht gekannt wird, dass jemand einem Irrtum über Recht unterliegt? Bezeichnungen für diesen Umstand gibt es zahlreiche: Irrtum, Fehler, Unwissen, error, ignorantia, imprudentia . Explizite Regelungen, wie mit dem Rechtsirrtum zu verfahren sei, dagegen kaum . Das gilt insbesondere für das Privatrecht . Der Rechtsirrtum in diesem Sinne wird also als die Unkenntnis von Recht durch die Rechtsanwenderin verstanden . Er ist zu unterscheiden vom Rechtserzeugungsfehler, der durch fehlerhafte Rechtsanwendung der entscheidenden Instanzen entsteht . Nach der Maxime error iuris nocet hat die Rechtsordnung den Fall zunächst nicht vorgesehen, dass eine Rechtslage unbekannt sein könnte .18 Das Recht in diesem Sinne

Geleitwort zum Alternativkommentar Besonderes Schuldrecht §§ 433–853, Neuwied 1979, VII . Mit Ausnahme wohl des Alternativkommentars zum Strafvollzugsgesetz, hierzu Johannes Feest / Wolfgang Lesting, Zur Wirksamkeit von Alternativkommentaren: Eine Untersuchung am Beispiel des Alternativkommentars zum Strafvollzugsgesetz, in: Heribert Ostendorf (Hrsg .), Integration von Strafrechts- und Sozialwissenschaften Festschrift für Lieselotte Pongratz, München 1986, 231 ff . 15 Hierzu Henne (Fn . 3); Kästle-Lamparter (Fn . 3), 332 ff .; Brachthäuser (Fn . 3); einen relativierenden Ansatz verfolgt Funke (Fn .3) . 16 Henne (Fn . 3), 353 . 17 Feest/Lesting (Fn . 14) sind in Bezug auf den Alternativkommentar zum Strafvollzugsgesetz eine Ausnahme . 18 Vielfach wird die Problematik daher als eine des Römischen Rechts schlechthin verstanden, siehe hierzu Theo Mayer-Maly, Rechtsirrtum und Rechtsunkenntnis als Probleme des Privatrechts, Archiv für die civilistische Praxis 170 (1970), 133 (138) mit Verweis auf die wichtige Unterscheidung zur regula ignorantia iuris und dem Hinweis, dass sich die Maxime error iuris nocet den Digesten explizit gar nicht entnehmen lasse; 13 14

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wird als allgemeingültig und verbindlich vorausgesetzt . In den Digesten, jener Fallsammlung aus der römischen Spätantike, der unter Kaiser Justinian der Rang kodifizierten Rechts verliehen wurde, wird eine wichtige Unterscheidung zwischen Tatsachenirrtum, error facti, und Rechtsirrtum, error iuris, getroffen .19 Während in der Erklärung einer Tatsache sich selbst die Klügsten täuschen könnten, könne und müsse das Recht bestimmt sein . Die Digesten erheben somit grundsätzlich den Anspruch, dass Recht gekannt wird . Allerdings soll auch nach den Digesten der Rechtsirrtum nicht ausnahmslos schaden: Es werden abgestufte Kriterien gesucht, nach denen er entschuldigt werden könne .20 Die allgemeine Pflicht zur Rechtskenntnis findet sich nichtsdestotrotz in späteren Rechtstexten, etwa im Allgemeinen Preußischen Landrecht, wieder .21 Fragen um den Rechtsirrtum stellen sich immer dann, wenn über Bestand und Kodifikation von Recht nachgedacht wird . So wird er folgerichtig auch von Friedrich Carl von Savigny aufgegriffen, der eine Abhandlung zu „Irrthum und Unwissenheit“ schreibt .22 Hierin kritisiert er eine undifferenzierte Anwendung von error iuris nocet auf die neuere Zeit . Eine solche Leseart des Rechtsirrtums könne nur Bestand haben, wenn das Recht klar und bestimmbar sei .23 So verhalte es sich aber nicht, vielmehr weise das Rechtssystem eine ungeahnte Komplexität auf . Damit dehnen sich auch die Möglichkeiten für einen Rechtsirrtum aus . Die Bestimmung des Rechtsirrtums müsse sich an diese Komplexität anpassen und wesentlich milder ausfallen, als das bislang der Fall sei . Daher müssten Rechts- und Tatsachenirrtum auf eine ähnliche Weise nach dem Kriterium der Nachlässigkeit beurteilt werden .24 In etwa der gleichen Zeit wird auch von sozial-politisch motivierter Seite Kritik an der Figur des Rechtsirrtums geübt: Anton Menger argumentiert, dass Rechtskenntnis an die soziale Klasse geknüpft sei . Eine Anwendung von error iuris nocet auf die Arbeiterklasse sei daher untunlich .25

vgl . auch Laurens C . Winkel, Error iuris nocet Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung in der griechischen Philosophie und im Römischen Recht bis Justinian, München 1987 . 19 Dig ., 22, 6: „De iuris et facti ignorantia“ . 20 So wurde beispielsweise beachtet, dass Minderjährige, Frauen und Angehörige des Militärs einen schwereren Zugang zur Rechtskenntnis hatten . 21 § 12 der Einleitung des ALR: „Es ist aber auch ein jeder Einwohner des Staats sich um die Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und seine Handlungen betreffen, genau zu erkundigen gehalten;“ siehe hierzu auch die französische Maxime „nul c’est censer ignorer la loi“ . Nachweise bei Mayer-Maly (Fn . 18), 139 ff . 22 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd . III, Anlage: Irrthum und Unwissenheit, Berlin 1840, 325 . 23 Savigny (Fn . 22), 336 . 24 Savigny (Fn . 22), 335 . 25 Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen Eine Kritik des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Tübingen 1890 .

Können Kommentare irren?

Es zeichnet sich ab: Die Bestimmung des Rechtsirrtums hängt maßgeblich zusammen mit dem jeweiligen Verständnis von Recht . Der Versuch, Regeln für die Auslegung des Rechtsirrtums zu finden, beinhaltet stets zugleich den Versuch, die Rechtslage klar zu bestimmen und damit ihrer Komplexität gerecht zu werden . Je komplexer das Recht verstanden wird, desto schwerer wird es, den Rechtsirrtum greifbar zu machen – und desto nachvollziehbarer wird seine Existenz . 2.2

Rechtsirrtum und hM

Wie geht das heutige Zivilrecht mit dem Rechtsirrtum um? Die Figur des Rechtsirrtums ist im BGB nicht explizit verankert, wird aber an mehreren Stellen virulent . Die Heranziehung von Kommentarpassagen und höchstrichterlicher Rechtsprechung zeigt, dass die Tendenz zu einem Gleichlaufen von Rechts- und Tatsachenirrtum geht .26 Um den Rechtsirrtum zu bewerten, muss ein Sorgfaltsmaßstab, müssen Entschuldigungskriterien gefunden werden . Solche sind denkbar streng . Eine diligentia im Falle des Rechtsirrtums hat besonderen Maßstäben zu genügen . Wer rechtlich nicht geschult ist, muss sich im Zweifel rechtlichen Rat einholen . Ist der Rat fehlerhaft, ist der Irrtum vielleicht nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen, wird aber regelmäßig durch das Verschulden der Beraterin zugerechnet .27 Die Rechtsanwältin kann den Rechtsirrtum dagegen grundsätzlich nicht entschuldigen . Die Unkenntnis von geltendem Recht und der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat sie stets zu vertreten . Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn die Verfahrensbevollmächtigte nachweislich die erforderliche Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen . Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die der Anwältin die Verfahrensführung überträgt, vertraut auf ihre fachliche Expertise . Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss die bevollmächtigte Anwältin den „sicheren Weg“ wählen .28 Interessant werden die Fälle, in denen es weder einen klaren Gesetzestext, noch eine gesicherte Rechtsprechung gibt . In solchen Fällen rücken die internen Regeln juristischer Hermeneutik in den Fokus . Das deutsche Recht trifft hierbei eine klar anmutende Differenzierung: Die Figur der herrschenden Meinung (hM) und ihr Spie-

Vgl . etwa Münchener Kommentar/Ernst, § 286, Rn . 117 mit Verweis auf BGH, Urt . v . 11 . Juli 2012 – VIII ZR 130/11 . 27 AaO . mit Verweis auf BGH, Urt . vom 11 . Juli 2012 – VIII ZR 138/11, Rn . 20 zum Sorgfaltsmaßstab eines Mieters . 28 Siehe beispielsweise BGH, Beschluss vom 11 . März 2015 – XII ZB 572/13, Rn . 34; siehe auch Palandt/ Grüneberg (Fn . 2) . 26

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gelbild, die Mindermeinung (MM) .29 Um die innersystemisch richtige Entscheidung zu treffen und den Irrtum zu vermeiden, hat die Anwältin die Rechtsquellen auszuwerten und eine hM zu verorten . Die hM wird dabei gerade nicht als die richtige Meinung bezeichnet . Die MM ist im Gegenzug auch nicht die falsche Meinung . Auf normative Richtigkeit kommt es insoweit nicht an, wird doch nach dem Kriterium der Herrschaft gesucht .30 Und dennoch unterliegt, wer die hM nicht anhand der innerrechtlichen Logik bewertet und eine MM vertritt, einem Rechtsirrtum .31 Präzise Kriterien gibt es für die Bestimmung der hM nicht . Neben quantitativen Kriterien spielt das Renommee von Vertreter*innen einer Meinung sowie das Publikationsmedium und dessen Verbreitung eine gewichtige Rolle .32 In Bezug auf die Kommentare tragen daher die Standardkommentare maßgeblich zur Bestimmung der hM bei .33 Auch von der Rechtsprechung des BGH wird die Unterteilung in hM und MM aufgegriffen, um die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums der Rechtsanwältin zu beurteilen . Hier lassen sich also Kriterien für den Sorgfaltsmaßstab bei der Findung der hM verorten – beispielsweise in einem Beschluss von 2010 .34 In diesem familienrechtlichen Fall war nach der Einführung des FamFG zum 1 . September 2009 die Rechtsfrage ungeklärt, nach welchem Prozessrecht Rechtsmittel einzulegen seien . Von dieser Frage hing ab, ob das Fristversäumnis einer Anwältin zu entschuldigen und ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei . Weder war die geltende Rechtslage abschließend geklärt, noch war über diese Frage bis dato eine höchstrichterliche Entscheidung ergangen .35 Für beide in Betracht kommenden Ansichten zur Lösung des rechtlichen Problems gab es Stimmen in der Literatur . Die Rechtsanwältin entschied sich für die Meinung, die von einigen Kommentaren vertreten wurde . Der BGH entschied sich für die entgegengesetzte Auffassung, womit die Anwältin einem Rechtsirrtum unterlag . Der Gerichtshof stellte weiter fest, dass es sich bei der von der Anwältin vertretenen Ansicht um eine MM handele . Denn die andere Auffassung werde zahlenmäßig von mehr Stimmen in der Literatur sowie einer jüngst veröffentlichten Um die Figur der herrschenden Meinung gibt es einen beachtlichen kritischen Diskurs, siehe etwa Uwe Wesel, hM, in: Karl Markus Michel / Harald Wieser (Hrsg .), Kursbuch 56, Unser Rechtsstaat, Berlin 1979, 88 ff ., neuabgedruckt in: Aufklärungen über das Recht, Frankfurt am Main 1988; Christian Djeffal, Die herrschende Meinung als Argument . Ein didaktischer Beitrag in historischer und theoretischer Perspektive, Zeitschrift für das juristische Studium 2013, 463 ff . 30 Siehe hierzu auch Palandt/Grüneberg (Fn . 2): Die persönlichen Ansichten der RAin mögen insoweit dahinstehen . 31 Siehe hierzu Palandt/Grüneberg (Fn . 2) . 32 Kriterien bei Djeffal (Fn . 29), 463 (464) . 33 Siehe hierzu die plakative Werbung „Palandt = hm“, Bernadette Tuschak, Die herrschende Meinung als Indikator europäischer Rechtskultur: Eine vergleichende Untersuchung der Bezugsquellen und Produzenten herrschender Meinung in England und Deutschland am Beispiel des Europarechts, Hamburg 2009, 127 . 34 BGH, Beschluss vom 03 . November 2010 – XII ZB 197/10, Rn . 20 ff . 35 Siehe Anmerkung Dagmar Zorn, FamRZ 2011, 100–104, die feststellt, dass die Übergangsvorschriften des Art . 111 FGG-RG nicht hinreichend klar abgefasst waren . Auch die Bemerkungen des BMJ hätten nur zu weiterer Verwirrung geführt . Sie plädiert daher für mehr Klarheit durch die Legislative . 29

Können Kommentare irren?

OLG-Entscheidung getragen .36 Die Anwältin verstieß damit gegen die geschuldete Sorgfaltspflicht: Der Rechtsirrtum war zu vertreten . Um den „sicheren Weg“ zu gehen, hätte sie alle Rechtsansichten auswerten und die hM antizipieren müssen . 2.3

Kommentarstandards und Standardkommentare

Der Sorgfaltsmaßstab der Anwältin wird, soweit es keine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung gibt, an der Darstellung in den gängigen Kommentaren und der Gewichtung von Rechtsquellen gemessen . Gleichwohl gibt es Fälle, in denen sich ein gängiger Kommentar und die bestehende höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrer Darstellung nicht decken . Kommentare bleiben aber dennoch Maßstab für die Sorgfalt der Anwältin und damit entscheidend für die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums . Zwei Entscheidungen des BGH verdeutlichen dies . Der erste Beschluss aus dem Jahr 199537 verweist auf die Bedeutung von Kommentaren für den Sorgfaltsmaßstab der Anwältin . In dem Fall kam die Rechtsanwältin der Klägerin auf der Grundlage des ZPO-Kommentars von Zöller zu einer veralteten Rechtsauffassung und versäumte eine Frist . Die Darstellung des Kommentars enthielt, ebenso wenig andere Kommentare, keinen Hinweis darauf, dass der BGH seine Rechtsprechung in den 1970er Jahren – also bereits zwanzig Jahre zuvor – geändert hatte . Ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in den unteren Instanzen wurde daher wegen verschuldeter Fristversäumnis abgelehnt . Anders bewertete der BGH die Frage ihres Verschuldens: Weil die einschlägigen Handkommentare auf die geänderte Rechtsprechung noch nicht verwiesen, könne der Klägerin die Versäumung der Frist auch nicht angelastet werden . Der BGH ließ hier also eine Ausnahme von dem Grundsatz zu, dass höchstrichterliche Rechtsprechung grundsätzlich zu kennen sei: Der Irrtum der gängigen Kommentare darf auch der Anwältin im Einzelfall nicht angelastet werden .38 In dem zweiten Urteil aus dem Jahr 199339 wird deutlich, dass sich der Sorgfaltsmaßstab auch auf die Antizipation einer Rechtsprechungsänderung durch Einsicht in die Kommentare erstrecken kann . Zentrale Rechtsfrage war das Formerfordernis für die Aufhebung eines notariell beurkundeten Kaufvertrages bei gleichzeitigem Bestand einer Auflassung . Der Anwalt vertraute in dem Fall auf die Rechtsprechung des BGH

Siehe im Vergleich BGH, Beschluss vom 18 . Oktober 1984 – III ZB 22/84: Hier befand der BGH den Rechtsirrtum für entschuldigt, weil der Rechtsanwalt die entgegenstehende BGH-Rechtsprechung vor Veröffentlichung in der NJW noch nicht kennen musste . Der Fall dürfte heute angesichts der Verbreitung von Online-Datenbanken wohl anders zu beurteilen sein . 37 BGH, Beschluß vom 1 . Februar 1995 – VIII ZB 53/94 . 38 Nach dem heutigen Stand von Online-Rechtsprechungsdatenbanken dürfte der Sorgfaltsmaßstab wohl aber anders zu bewerten sein . 39 BGH, Urteil vom 30 . September 1993 – IX ZR 211/92; Fundstelle bei Palandt/Grüneberg (Fn . 2) . 36

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von 1964,40 nach der eine privatschriftliche Vereinbarung ausreichend sei und beriet seinen Mandanten dahingehend . Anders vertraten es zu diesem Zeitpunkt aber schon die Kommentare, insbesondere der Palandt, und viele weitere Stimmen in der Literatur, die Kritik an der Rechtsprechung aus den 1960er Jahren äußerten . Es zeichnete sich also anhand der Literatur eine Entwicklung des Rechts ab . Und tatsächlich: Nur zwei Monate nach Abschluss des Aufhebungsvertrages änderte der BGH seine Rechtsprechung und passte sie der Entwicklung in der Literatur an . Bei der Beantwortung der Frage, wie der Anwalt angesichts der Abweichung zwischen Literatur und BGH-Rechtsprechung zum derzeitigen Stand hätte beraten müssen, gerät der BGH in einen Konflikt . Auf der einen Seite steht die Autorität der eigenen Rechtsprechung mit grundsätzlich richtungsweisender Bedeutung . Auf der anderen Seite stehen erdrückende Anzeichen dafür, dass sich das Recht ändern werde . Schlussendlich entschied der BGH den Streitfall nicht . Er deutet aber an, dass es für den „sicheren Weg“ im Einzelfall nicht ausreichend sei, der bestehenden Rechtsprechung zu folgen . Vielmehr müssten die Zeichen einer anstehenden Rechtsänderung wahrgenommen werden .41 Im Ergebnis werden damit Kommentare, in diesem Urteil der Standardkommentar Palandt, zu einem zentralen Maßstab zur Bestimmung von Recht erklärt . Ihnen wird im Einzelfall das Potential zugeschrieben, Standards für die anwaltliche Beratung entgegen der geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung zu setzen . 3.

Können Kommentare irren?

3.1

Das werdende Recht

Die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums der Rechtsanwältin verweist auf die internen Standards der Rechtsfindung und -anwendung, auf Fragen juristischer Hermeneutik . Friedrich Carl von Savigny bezeichnet das Recht in diesem Sinne als ein „lebendiges Werden“ .42 Rechtsquellen sind für Savigny dabei nicht nur die Gesetze, sondern alles, was eine „selbstständige Regel des Rechts“43 enthält . In diesem Verständnis von

BGH, Urteil vom 26 . Februar 1964 – V ZR 154/62 . AaO . (Fn . 39), Rn . 21; anders wurde die Rechtslage beurteilt in BGH, Urteil vom 28 .9 .2000 – IX ZR 6/99: Hier haftete ein Steuerberater, der entgegen der bestehenden höchstrichterlichen Rechtslage beraten hatte, nach der alten Rechtslage, obgleich ein Wandel in der Rechtsprechung stattgefunden hatte . Kritische Anmerkung hierzu von Lorenz Kähler, Recht oder Rechtsprechung als Maßstab für die Anwaltshaftung? JuS 2002, 746 ff . 42 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band I, 206; zur Hermeneutik bei Savigny siehe insbesondere Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004 . 43 Savigny (Fn . 42), S . 206 . 40 41

Können Kommentare irren?

Recht enthalten ist also jedes Urteil und jede wissenschaftlich publizierte Auslegung von Recht . Die Rechtsquellen, so Savigny, dürften aber nur solange als selbstständig betrachtet werden, wie sie nicht angewandt werden – und damit in das Leben übergehen .44 In der Anwendung dagegen müsse der Sinn einer Rechtsquelle immerfort neu entwickelt werden . So sehr das Recht einem historisch fundierten Wandel unterliegt, so wenig könne es in der Auslegung an starren Regeln gemessen werden . Eine solche Anwendung zur Fortbildung des Rechts sei nicht den Richter*innen vorbehalten, sondern stehe ebenso den Wissenschaftler*innen zu .45 Die Annahme, dass durch Regeln das Recht jemals vollständig zu beherrschen sei, gehe fehl, beinhalteten solche Regeln doch immer nur eine bloße Möglichkeit und nicht die Wirklichkeit von Recht .46 Savignys Ausführungen zur juristischen Hermeneutik verweisen damit grundlegend auf die Schwierigkeit, die Auslegung des Rechts anhand von festen Regeln zu bestimmen . Sie lassen sich auf die Rechtsfindung mit Kommentaren in der juristischen Praxis anwenden . Um den rechtlichen Wandel abzubilden, treten Kommentator*innen in eine permanente Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Recht . Dadurch tragen Kommentare selbst in der Anwendung zum Werden des Rechts bei . Andreas Funke spricht in diesem Zusammenhang von der hermeneutisch-pragmatischen Dimension der Kommentarliteratur .47 Ganz im Wortsinn von ‚kommentieren‘ nehmen Kommentator*innen permanent wertend Bezug zum Recht .48 Durch die Auswahl der zitierten Rechtsprechung, die Darstellung eines Meinungsstandes, aber auch schon die Kommentator*innen selbst, werden Stellungnahmen abgegeben .49 Und dennoch werden sie als ein objektivierter Maßstab verwandt, um die Haftung der Anwältin zu bestimmen . Die Orientierung an Standardkommentaren führt aber nicht zwangsläufig zum richtigen Ergebnis . Weder in Bezug auf diese, noch hinsichtlich der bestehenden Rechtsprechung, darf sich die Anwältin in Sicherheit wiegen . Die Sorgfalt gegenüber der Mandantschaft umfasst die Einsicht verschiedener Rechtsquellen und die Voraussicht von Entwicklungen im Recht . Nach der zivilrechtlichen Dogmatik zum Rechtsirrtum in Bezug auf die Frage der anwaltlichen Haftungsvermeidung besteht die Aufgabe der Rechtsanwältin darin, das Recht in seinem permanenten Wandel korrekt einzuschätzen, entsprechend zu beraten und zu entscheiden . Ihre Teil-

Savigny, (Fn . 42), 206, hierzu Meder (Fn . 42), 65 . Meder (Fn . 42), 65 ff . Meder (Fn . 42), 74 . Funke (Fn . 3), 64 . Vgl . auch Krajewski/Vismann (Fn . 4): Kommentaren wohnt stets ein Element des Redens und des Diskurses inne . 49 Beachtlich ist etwa, dass die Bearbeiter*innen des Palandt zum überwiegenden Teil selbst Richter*innen am BGH oder an OLGs sind . Auch Fragen des Geschlechts der Bearbeiter*innen werden virulent: Isabelle Götz, die einzige weibliche Bearbeiterin des Palandt, kommentiert das Familienrecht; vgl . Brachthäuser (Fn . 3), 454 . 44 45 46 47 48

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nahme an der rechtlichen Entwicklung ist eingeschränkt; ihr persönliches Dafürhalten ist zunächst irrelevant . So ließen sich auf die Ausgangsfrage, ob Kommentare irren können oder nicht, drei Thesen formulieren . Erstens können Kommentare irren in dem Sinne, dass sie die Rechtsentwicklung nicht immer korrekt einschätzen können . Zweitens gelten einige Kommentare, die Standardkommentare nämlich, als weniger fehleranfällig als andere Kommentare . Drittens unterliegt der Irrtum der Kommentare einem zeitlichen Wandel: Was zum einen Zeitpunkt als Irrtum erscheint, kann sich nach geänderter Rechtsprechung als eine zutreffende Vorhersage entpuppen . 3.2

Standardkommentare und die Grenzen des rechtlichen Werdens

Das rechtliche Werden wird durch das Zusammenspiel der Rechtsquellen bestimmt; es ist insofern zunächst offen . Und dennoch lässt sich der Dogmatik des Rechtsirrtums eine klare Einschränkung entnehmen . Denn schlussendlich bedarf es für die Beurteilung der Entschuldbarkeit des Rechtsirrtumes eines pragmatischen Konsenses . So ist die Anwältin für die Beurteilung einer Rechtsfrage doch auf den Bestand von festen Regeln verwiesen . Diese Regeln treten einerseits in der Rechtsprechung des BGH zutage, der auf die Vorgehensweise zur Bestimmung der hM und hierbei auf die „Gängigkeit“ von einigen Kommentaren verweist . Unverkennbar deutlich werden diese Regeln in der einleitend zitierten Kommentierung von Christian Grüneberg . Wie ließe sich eine Kritik an dem Vorgefundenen formulieren? Politische Strukturen des Rechts werden von Vertreter*innen der Critical Legal Studies kritisiert . Sie argumentieren, dass Rechtsanwender*innen auf der Suche nach einem pragmatischen Konsens eine Abgeschlossenheit und Objektivität vorspiegeln, obgleich soziale Unwägbarkeiten eine Bestimmtheit eigentlich nicht zulassen .50 Deutlich wird dies in der Organisation von Meinungen nach hM und MM . Obwohl die hM als solche nicht starr festgelegt ist, folgt ihre Bildung wiederkehrenden Mustern: Stellung und Renommee ihrer Vertreter*innen sowie die Angepasstheit an den Diskurs . Diese Punkte sind einer Auseinandersetzung um die inhaltliche Richtigkeit vorgelagert . Um sie gibt es erst gar keine Auseinandersetzung . Ziemlich schwer nur kann die herrschaftskritische Meinung zur hM avancieren und damit für die Rechtsanwendung der Anwältin als die richtige Meinung durchdringen . Die kritische Meinung ist daher in aller Regel eine MM, sie wird allenfalls noch zur Gegenüberstellung erwähnt .51

Hierzu Günter Frankenberg, Der Ernst im Recht, KJ 1987, 281 ff . Vgl . auch Brachthäuser (Fn . 3), 448 (455): Ein Weg, die subtilen Strukturen des Rechts kritisch zu fassen, ist ein Verweis auf die Hegemonietheorie Antonio Gramscis; vgl . zu einem Bezug Gramscis auf die kritische Rechtstheorie Sonja Buckel / Andreas Fischer-Lescano, Hegemonie im globalen Recht – zur 50 51

Können Kommentare irren?

In diesem Kontext ist auch die unterschiedliche Bewertung von Kommentaren zu lesen . Zwar ist der Bestand an Kommentaren durchaus plural . Und doch scheint der Begriff des Standardkommentars gemeinhin etabliert . Ähnlich wie bei der Findung der hM gibt es eine Reihe ungeschriebener Kriterien für die Gewichtung und Rezeption der Kommentare an den Gerichten, an der sich auch die Anwält*innen auszurichten haben . Verlag und Renommee der Bearbeiter*innen mögen hierbei eine ebenso wichtige Rolle spielen, wie die Tradition des Kommentars: Während Kommentare aus der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts sich bis heute bewähren, setzen neuere Kommentare sich nur selten durch . Und so gewinnen im Spiel der Kommentare am Ende die bekannten Methoden und Namen .52 Das zeigt das Beispiel der Alternativkommentare des Luchterhand-Verlages . Sie konnten in einzelnen Rechtsgebieten kaum mehr als eine einzige Auflage herausgeben und sind heute bereits als ein Stück Rechtsgeschichte zu betrachten . Für die Rechtsanwält*innen schafft die vorgefundene Bewertung von Rechtsquellen einen Auslegungsstandard – und damit eine Obligation der Kenntnisnahme . Wer sich nicht mit ihnen beschäftigt und die hM nicht antizipiert, läuft Gefahr, für einen Rechtsirrtum zu haften . Insofern gilt: error iuris nocet – außer, der Irrtum ließe sich anhand der etablierten Kriterien entschuldigen . Die Dogmatik zum Rechtsirrtum der Anwältin ist daher symptomatisch für die Beurteilung rechtlicher Strukturen . Wer das Recht nicht im Sinne der vorgefundenen Dogmatik anwendet – oder zumindest dahingehend berät – ist für den Schaden verantwortlich . Anwält*innen sind diesem Umstand nicht ausgeliefert . In vielen Fällen wird es inhaltlich auf ein persönliches Dafürhalten nicht ankommen, sodass ein pragmatischer Anschluss an die hM angezeigt ist . In Fragen, in denen es tatsächlich inhaltlich um die Durchsetzung einer Ansicht entgegen dem bestehenden Mainstream geht, besteht Handlungsfähigkeit . Ein Weg, gestaltend Einwirkung auf die Entwicklung von Recht zu nehmen, ist etwa die strategische Prozessführung .53 Dieses juristische Mittel richtet sich in Absprache und gerade im Interesse der Mandantschaft gegen bestehendes Recht . Ziel ist es, in den unteren Instanzen zu unterliegen, um eine Rechtsfrage von größerer Bedeutung vor ein oberstes Gericht zu bringen . Fragen um Rechtsirrtum und anwaltliche Sorgfaltspflicht stellen sich für die strategische Prozessführung daher auf andere Weise: Die anwaltliche Sorge wäre in das Erstreiten von Rechten zu wenden .

Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie, in: Dies (Hrsg .), Hegemonie gepanzert mit Zwang Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007, 85 ff . 52 Nur verwiesen werden soll an dieser Stelle auf den aktuellen Diskurs um eine Umbenennung des Palandt . Gegen diesen spricht sich der Beck-Verlag aus und verweist stattdessen nur auf die NS-Vergangenheit von Otto von Palandt; kritisch hierzu Andreas Fischer-Lescano, Andreas: Beck to History, VerfBlog, 2018/3/14, https://verfassungsblog .de/beck-to-history (zuletzt abgerufen am 11 .01 .2019); siehe zur Initiative „Palandt umbenennen“ Janwillem van de Loo, Den Palandt umbenennen . Ein Beitrag zu juristischer Erinnerungskultur in Deutschland, JZ 2017, 827 ff . 53 Brachthäuser (Fn . 3), 459 zu den Perspektiven einer gegenhegemonialen Anwendung von Recht .

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4.

Schluss

„(Der RA) muss den Palandt einsehen u sich an der höchstrichterl Rspr orientieren “ – mit diesem Imperativ markiert Palandt-Kommentator und BGH-Richter Christian Grüneberg die Auswirkungen innerrechtlicher Strukturen auf die anwaltliche Praxis . Für die Auslegung deutschen Rechts zählen Kommentare ebenso zu festen Bestandteilen wie die Rechtsprechung selbst . Welche Implikationen haben sie also auf die Rechtsanwendung der Anwält*innen? Die Anwältin ist auf die Stellung einzelner Kommentare innerhalb des Rechtssystems und auf die Gewichtung von Meinungen innerhalb der Kommentare verwiesen . Diese unterschiedliche Gewichtung dürfte bei der Findung der richtigen Lösung in der anwaltlichen Praxis mehr noch ausschlaggebend sein als Fragen einer normativen Richtigkeit So entsteht eine strategische Richtigkeit . Wer in den Standardkommentar investiert, vermeidet die Anwaltshaftung . Die ironische Wendung von Grüneberg lässt zwar zunächst schmunzeln, ist auf den nächsten Blick aber unbestreitbar ehrlich .

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung ALEXANDER STÖHR (Frankfurt a. M.)

A)

Einführung

Menschen treffen Entscheidungen selten nach langen, fundierten und komplexen Überlegungen, sondern regelmäßig schnell mit Hilfe von Heuristiken .1 Darunter versteht man kognitive Abkürzungen oder Faustregeln, wonach Bewertungen angestellt und Entscheidungen getroffen werden, ohne alle relevanten Informationen zu kennen .2 Heuristiken bilden daher häufig die Grundlage von Intuitionen . Im alltäglichen Leben ist dies von großem Nutzen: Da Menschen begrenzte kognitive Ressourcen haben, müssen diese effizient eingesetzt werden, um Entscheidungen zu treffen .3 Situationen erfordern häufig ein schnelles Handeln . Eindrucksvoll ist das Erlebnis eines Feuerwehrkommandanten, der mit seinem Einsatzteam ein Haus betrat, dessen Küche im ersten Stock brannte . Kurz nachdem sie mit den Löscharbeiten begonnen hatten, rief der Kommandant: „Raus hier, schnell!“, ohne zu wissen, warum . Unmittelbar nachdem die Feuerwehrleute entkamen, brach der Boden ein . Erst danach merkte der Kommandant, dass das Feuer ungewöhnlich leise war, und seine Ohren ungewöhnlich heiß waren . Zusammen erweckten diese Eindrücke einen „sechsten Sinn für Gefahr“: Der Kommandant wusste nicht, was falsch war, aber er wusste, dass etwas falsch war .

Volker Boehme-Neßler, Prekäre Balance: Rechtspolitische Überlegungen zum heiklen Verhältnis von Richtern und Gutachtern, in: Rechtswissenschaft 2 (2014), 189 (203) . 2 S . dazu Amos Tversky / Daniel Kahneman, Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, in: Science 185 (1974), 1124; Eyal Peer / Eyal Gamliel, Heuristics and Biases in Judicial Decisions, in: Court Review 49 (2013), 114; Jeffrey J . Rachlinski, Heuristics and Biases in the Courts: Ignorance or Adaption?, in: Oregon Law Review 79 (2000), 61 f . 3 Peer/Gamliel aaO . (Fn . 2), 114 . 1

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Alexander Stöhr

Es stellte sich heraus, dass das Zentrum des Feuers nicht in der Küche war, sondern im Erdgeschoss unter der Stelle, wo die Feuerwehrleute standen .4 Im Allgemeinen ist die menschliche Intuition häufig gut ausgeprägt: So erkennen z . B . die meisten Menschen schon beim ersten Wort des Telefongesprächspartners Ärger in dessen Stimme . Sie merken auch, dass sie Gegenstand einer Unterhaltung waren, bevor sie das Zimmer betreten haben; oder dass der Autofahrer in der Nebenspur gefährlich ist .5 Heuristiken werden in vielen Bereichen eingesetzt, darunter medizinische Diagnostik, Philosophie, Finanzen, Statistik und Militärstrategie .6 Aber auch in der Rechtsanwendung spielen Heuristiken eine große Rolle . So erfordert die richterliche Tätigkeit häufig Einschätzungen auf unzureichender Informationsgrundlage, namentlich im Hinblick auf Personen, Situationen, Aussagen, Verhaltensweisen und Argumente .7 Zudem muss in der Justiz unter hohem Zeitdruck entschieden werden .8 Auch wenn sich auf ihrer Grundlage im Regelfall praktikable Lösungen finden lassen, gehen Heuristiken typischerweise mit kognitiven Verzerrungen (Biases) einher, wie zahlreiche Studien ergeben haben .9 Im vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, inwieweit solche Wahrnehmungsverzerrungen zu einer schlechten oder sogar fehlerhaften Anwendung des Rechts führen können und welche Möglichkeiten der Vermeidung es gibt . Rechtsfehler können einerseits auf der Ebene der Tatsachenfeststellung unterlaufen . Wenn der Entscheidung nämlich ein Sachverhalt zugrunde gelegt wird, der sich so gar nicht zugetragen hat, kann das Recht nicht so angewandt werden, wie es im konkreten Fall richtig wäre . Dies kann jedoch geschehen, wenn die Ermittlung des Sachverhalts und die Würdigung der Beweismittel durch die Repräsentativitätsverzerrung (unten B) I .) und das Confirmation Bias (unten B) II .) beeinflusst sind . Andererseits können Rechtsfehler im Rahmen der rechtlichen Würdigung geschehen . Hierbei muss man sich allerdings vergegenwärtigen, dass abstrakt-generelle Vorschriften häufig unbestimmt sind und deswegen einen Interpretationsspielraum belassen . Nach der überkommenen Methodenlehre sind daher oftmals verschiedene Rechtsauffassungen vertretbar; die „One Right Answer Thesis“10 wird in Deutschland mit Recht abgelehnt . Eine Rechtsauffassung ist daher nur dann fehlerhaft, wenn sie sich nicht anhand der anerkannten Argumentationsregeln begründen lässt, etwa weil sie mit Wortlaut, Entstehungsgeschichte oder Sinn und Zweck der Norm unvereinbar

Gary Klein, Sources of Power: How People Make Decisions, 1999, 32 . Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2012, 11 . Kahneman aaO . (Fn . 5), 8 . Boehme-Neßler aaO (Fn . 1), 205; eingehend Kyriakos Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, 2015 . Rüdiger Lautmann, Justiz – Die stille Gewalt, 1972, 49; Michael Dölp, Der Sachverständige im Strafprozess, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (2004), 235 . 9 Dazu eingehend Kahneman aaO . (Fn . 5); Richard H . Thaler / Cass R . Sunstein, Nudge, 2008, 17 ff .; Scott Plous, The Psychology of Judgment and Decision Making, 1993, 13 ff . 10 Grundlegend Ronald Dworkin, A Matter of Principle, 1985, 119 . 4 5 6 7 8

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

ist .11 Ein Rechtsfehler liegt z . B . vor, wenn das Gesetz einen objektiven Maßstab wie die Verkehrsanschauung beim objektiven Mangelbegriff nach § 434 Abs . 1 S . 2 Nr . 2 BGB oder die Verständnismöglichkeit eines objektiven Vertragspartners bei der Transparenzkontrolle nach § 307 Abs . 1 S . 2 BGB anordnet, der Richter jedoch aufgrund der Verfügbarkeitsheuristik (unten B) III .) sein eigenes, subjektives Verständnis zugrunde legt . Ebenso ist es rechtsfehlerhaft, wenn bei der – ex ante vorzunehmenden – Prüfung, ob ein Verhalten als fahrlässig i . S . v . § 276 Abs . 2 BGB zu bewerten ist, die Folgen des Verhaltens berücksichtigt werden, wozu Menschen aufgrund des Hindsight Bias (unten B) IV .) neigen . Eine lediglich schlechte Rechtsanwendung liegt vor, wenn die Entscheidung zwar vom Gesetz gedeckt, jedoch von sachfremden Gedanken beeinflusst ist . Ein Beispiel hierfür ist die Beeinflussung einer Menge, hinsichtlich derer ein gewisser Beurteilungsspielraum besteht (z . B . Schmerzensgeld oder Strafzumessung), durch den Ankereffekt (unten B) V .) . B)

Kognitive Verzerrungen und ihre Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

Im Folgenden werden die kognitiven Verzerrungen, die im Rahmen der Rechtsanwendung am häufigsten auftreten können, jeweils zunächst allgemein anhand empirischer Studien dargestellt . Im zweiten Schritt werden sodann die möglichen Auswirkungen auf die Rechtsanwendung untersucht . I.

Repräsentativität

1 .

Grundlagen

Die Repräsentativitätsheuristik bewertet die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen danach, wie sehr sie zu einem bestimmten Prototypen passen .12 Auch wenn dieses stereotype Denken in der Praxis zu Einschätzungen führt, die besser als reine Zufallsergebnisse sind, widerspricht es der statistischen Logik . Die bekannteste Studie hierzu betrifft eine fiktive Frau namens Linda .13 Den Probanden wurde Linda wie folgt beschrieben: 31 Jahre alt, ledig, offen und sehr intelligent . Sie hat im Hauptfach Ulfried Neumann, in: Hassemer/Neumann/Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9 . Aufl . 2016, 310 . 12 Philip G . Zimbardo / Richard J . Gerrig, Psychologie, 18 . Aufl . 2008, 314 f .; Plous (Fn . 9), 109 ff .; grundlegend Tversky/Kahneman (Fn . 2) 1124 ff . 13 Amos Tversky / Daniel Kahneman, Extensional Versus Intuitive Reasoning: The Conjunction Fallacy in Probability Judgment, in: Psychological Review 90 (1983), 293 (297) . Kritisch zu diesem Beispiel Gerd Gigerenzer, Gut Feelings, 2008, S . 93 ff . 11

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Philosophie studiert . Als Studentin hatte sie sich für Diskriminierungsschutz und soziale Gerechtigkeit eingesetzt sowie an Demonstrationen gegen Atomkraft teilgenommen . An verschiedenen Universitäten wurden Studierende danach gefragt, was nach dieser Beschreibung wahrscheinlicher sei: Ist Linda eine Bankangestellte oder eine Bankangestellte und Feministin? 85–90 Prozent der Probanden schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass Linda „Bankangestellte und Feministin“ sei, höher ein . Dies ist jedoch mathematisch falsch, da die Wahrscheinlichkeit für das gleichzeitige Auftreten beider Ereignisse zwingend geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass eines der beiden Ereignisse alleine eintritt . Ein weiteres Beispiel ist der sechsseitige Würfel, der vier grüne und zwei rote Flächen hat und 20mal gerollt wird . Die Probanden wurden danach gefragt, welche Sequenz dabei wahrscheinlicher eintreten wird: RGRRR oder GRGRRR . Die zweite Sequenz ist wegen des zusätzlichen Grüns zu Beginn der ansonsten identischen Sequenz zwingend unwahrscheinlicher . Gleichwohl entschieden sich die meisten Probanden für die zweite Sequenz, da sie wegen des zweifachen Grüns für einen solchen Würfel repräsentativer (weil zufälliger) erscheint .14 2 .

Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

In der Rechtsprechung ist die Repräsentativitätsheuristik ein übliches Mittel bei der Ermittlung des Sachverhalts, um fehlende Fakten in möglichst kurzer Zeit zu ergänzen . Sie verzerrt jedoch auch hier den Blick auf die Wirklichkeit, insbesondere kann sie zu einer Fehleinschätzung der Wahrscheinlichkeit von persönlichen Eigenschaften oder eines bestimmten Geschehensverlaufs führen . Auch wenn die Auswirkungen der Repräsentativitätsheuristik auf richterliche Entscheidungen bislang noch wenig empirisch untersucht wurden,15 ist angesichts der erwiesenen Anfälligkeit für andere Wahrnehmungsverzerrungen anzunehmen, dass Richter insoweit ebenfalls betroffen sind .16 Die Repräsentativitätsheuristik ist daher ebenfalls eine potentielle Ursache für schlechte oder falsche – da auf einer unzutreffenden Sachlage beruhende – Gerichtsentscheidungen .17

Tversky/Kahneman (Fn . 13), 303 . Siehe etwa die Studie von Chris Guthrie, Inside the Judicial Mind, in: Cornell Law Review 86 (2001), 777 (808 ff .) . 16 Peer/Gamliel (Fn . 2), 114 (116) . 17 Boehme-Neßler (Fn . 1), 206 . 14 15

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

II.

Confirmation Bias

1 .

Grundlagen

Wenn Menschen zu einer bestimmten Frage eine vorgefasste Meinung oder Hypothese haben, neigen sie dazu, Information zu bevorzugen, die damit in Einklang stehen, und solche zu missachten, die dazu in Widerspruch stehen .18 Dies führt dazu, dass Menschen Informationen dahingehend suchen und interpretieren, die mit ihrer vorgefassten Meinung in Einklang stehen, was zu voreingenommenen Bewertungen und Entscheidungen führt .19 So hat z . B . eine Studie an der Universität Stanford gezeigt, dass Probanden, die für bzw . gegen die Todesstrafe sind, jeweils solche Studien plausibler finden, welche die Todesstrafe befürworten bzw . kritisieren .20 2 .

Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

Das Confirmation Bias kann die Beweiswürdigung beeinflussen, wie verschiedene Studien gezeigt haben . So wurde Richtern und Rechtsanwälten ein Mordfall präsentiert, in welchem das Opfer eine Psychiaterin und die Hauptverdächtige die Ehefrau eines ihrer Patienten war .21 Die Ehefrau wurde beschuldigt, die Psychiaterin aus Eifersucht ermordet zu haben . Die Probanden sollten 20 Beweisstücke daraufhin bewerten, inwieweit sie die Beschuldigte belasten bzw . entlasten . Der Hälfte der Probanden wurde außerdem mitgeteilt, dass es einen weiteren Verdächtigen gibt, nämlich einen früheren Patienten, der die Psychiaterin schon seit längerem belästigte . Erstaunlicherweise haben alle Probanden die Beweisstücke gleich bewertet und die Beschuldigte gleichermaßen für schuldig gehalten . Folglich waren die Richter und Rechtsanwälte nicht in der Lage, das Alternativszenario zu würdigen . Beweise wurden nur insoweit berücksichtigt, als sie die Schuld der Hauptverdächtigen bestätigen und verworfen, soweit sie auf einen anderen Verdächtigten hindeuteten . Im Strafprozess wird diese Gefahr dadurch verstärkt, dass der Richter zunächst die Ermittlungsakte und die Anklageschrift zur Kenntnis nimmt, welche die Schuld des Angeklagten in der Regel stimmig und plausibel darlegen . Einlassungen der Verteidigung können dann leicht infolge des Confirmation Bias missachtet werden .22 Kahneman (Fn . 5), 80 ff . Plous (Fn . 9), 231 ff . Charles G . Lord / Lee Ross / Mark R . Lepper, Biased Assimilation and Attitude Polarization: The Effects of Prior Theories on Subsequently Considered Evidence, in: Journal of Personality and Social Psychology 37 (1979), 2098 (2100 ff .) . 21 Eric Rassin / Anieta Eerland / Ilse Kuijpers, Blindness to alternative scenarios in evidence evaluation, in: Journal of Investigative Psychology and Offender Profiling 7 (2010), 231 ff . 22 Ulrich Sommer, Effektive Strafverteidigung, 3 . Aufl . 2016, Rn . 115, 367 f . 18 19 20

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III.

Verfügbarkeit

1 .

Grundlagen

Eine weitere Wahrnehmungsverzerrung ist die Tendenz, sich auf eindrucksvolle und daher im Bewusstsein präsente Informationen zu stützen und diese überzubewerten, unabhängig davon, ob sie relevant sind oder nicht .23 Das Standardbeispiel für dieses Phänomen ist das Ergebnis einer Studie von Fischhoff/Slovic/Lichtenstein über die verbreitete Einschätzung von Risiken . Die Probanden sollten Paare von Todesursachen bewerten: Diabetes und Asthma, oder Schlaganfall und Unfälle . Für jedes Paar sollte die häufigere Ursache geschätzt sowie das Wahrscheinlichkeitsverhältnis der beiden Todesursachen zueinander bestimmt werden . Sodann wurden die Einschätzungen der Probanden mit den tatsächlichen Statistiken verglichen . Dabei kamen u . a . folgende Ergebnisse heraus: Schlaganfälle verursachen beinahe doppelt so viele Todesfälle wie alle Unfälle zusammen; 80 Prozent der Probanden hielt aber einen Tod durch Unfall für wahrscheinlicher . Tornados wurden als häufigere Todesursache als Asthma gesehen, obwohl letzteres das 20fache an Todesfällen verursacht . Ein Tod durch Blitzschlag wurde als weniger wahrscheinlich als ein Tod durch Nahrungsmittelvergiftung gesehen, obwohl er 52mal häufiger auftritt . Dass eine Seuche einen Tod verursacht, wurde 18mal so wahrscheinlich gesehen wie ein Tod durch Unfall; beide Fälle sind statistisch aber in etwa gleich wahrscheinlich . Ein Tod durch Unfall wurde für mehr als 300mal wahrscheinlicher gehalten als ein Tod durch Diabetes, während das tatsächliche Verhältnis 1:4 ist .24 Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Schätzungen der Todesursachen sind durch Medienberichte verzerrt . 2 .

Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

Auch in der Rechtsanwendung werden Entscheidungen auf der Basis von leicht und schnell – etwa aus dem Erfahrungsschatz oder Gedächtnis – verfügbarem Wissen getroffen . So werden z . B . die „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“, an die sich die richterliche Rechtsfortbildung anlehnen soll,25 nicht empirisch eruiert .26 Wenn sich der Richter jedoch ausdrücklich auf ein allgemeines Grundlegend Amos Tversky / Daniel Kahneman, Cognitive Psychology 1973, 207 ff .; vgl . auch Kahneman (Fn . 5), S . 137 ff . 24 Bahnbrechend Baruch Fischhoff / Paul Slovic / Sarah Lichtenstein, Knowing with Certainty: The Appropriateness of Extreme Confidence, in: Journal of Experimental Psychology 3 (1977), 552 ff . 25 BVerfGE 34, 269 (287); vgl . auch BGHZ 37, 219 (229): „allgemeine Gerechtigkeitserwägungen“ . 26 Alexander Stöhr, Gerechtigkeit als Kriterium der Rechtsanwendung . Versuch einer angewandten Rechtsphilosophie, in: Rechtstheorie 45 (2014), 159 (178 ff .); kritisch auch Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 6 . Aufl ., München 2011, 106 f . 23

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

bzw . natürliches Gerechtigkeitsempfinden beruft, darf er nicht lediglich von seinem eigenen Gerechtigkeitsgefühl ausgehen .27 Auch die Vorstellung der beteiligten Verkehrskreise im Hinblick auf die Verkehrswesentlichkeit einer Eigenschaft der Kaufsache, die für den objektiven Fehlerbegriff des § 434 Abs . 1 S . 2 Nr . 2 BGB maßgeblich ist,28 wird zumeist bestimmt, ohne die tatsächlichen Vorstellungen der beteiligten Verkehrskreise zu ermitteln .29 Dabei ist die Gefahr groß, dass ein Gericht seine eigene, subjektive Auffassung als allgemeine Verkehrsauffassung deklariert .30 Die Zugrundelegung einer Verkehrsauffassung, die den empirisch nachweisbaren tatsächlichen Verhältnissen gar nicht entspricht, führt zu einer fehlerhaften Anwendung der Norm . Gleiches gilt für die Verständnismöglichkeit eines durchschnittlichen Vertreters der angesprochenen Verkehrskreise, die für die AGB-rechtliche Transparenzkontrolle nach § 307 Abs . 1 S . 2 BGB maßgeblich ist .31 Wie weit sich die von den Gerichten zugrunde gelegte Verständnismöglichkeit von der empirisch eruierten objektiven Verständnismöglichkeit entfernen kann, hat der Verfasser an anderer Stelle gezeigt .32 Es geht dabei um zwei Entscheidungen des BAG zum arbeitsvertraglichen Freiwilligkeitsvorbehalt . Mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt will der Arbeitgeber seinen fehlenden Rechtsbindungswillen zum Ausdruck bringen, um die Entstehung einer Pflicht zur dauerhaften Leistung einer Sonderzahlung – etwa nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung – von vornherein zu verhindern .33 In den hier behandelten Fällen war der Freiwilligkeitsvorbehalt im Arbeitsvertrag wie folgt formuliert: Fall 1: „Darüber hinaus erhalten Sie einen gewinn- und leistungsabhängigen Bonus […] . Die Zahlung des Bonus erfolgt in jedem Falle freiwillig und begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft .“34 Fall 2: „Sonstige, in diesem Vertrag nicht vereinbarte Leistungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer sind freiwillig und jederzeit widerruflich . Auch wenn der Arbeitgeber sie mehrmals und regelmäßig erbringen sollte, erwirbt der Arbeitnehmer dadurch keinen Rechtsanspruch für die Zukunft .“35 Das BAG hat den Freiwilligkeitsvorbehalt in beiden Fällen für widersprüchlich und damit intransparent befunden: In Fall 1 ergebe sich nach dem ersten Satz ein Anspruch, Insoweit auch BVerfGE 42, 64 (72 f .) . BT-Drucks . 14/6040, S . 215; BGH NJW 2007, 1353; Barbara Grunewald, in: Erman, BGB, 15 . Aufl . 2017, § 433 Rn . 22 . 29 Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 7 . Aufl . 2009, Rn . 9 . 30 Thomas Müller, Mutmaßungen über die Verkehrsauffassungen, in: Juristische Rundschau 1992, 8 (9) . 31 BGHZ 106, 42 (49); BGH NJW-RR 2011, 1144 (1145); Wolfgang Wurmnest, in: MünchKomm-BGB, 7 . Aufl . 2016, § 307 Rn . 62 . 32 Alexander Stöhr, Die Bestimmung der Transparenz im Sinne von § 307 Abs . 1 S . 2 BGB, in: Archiv für die civilistische Praxis 216 (2016), 558 (564 ff .) . 33 BAG NZA 1996, 1027 (1028); Erfurter Kommentar / Ulrich Preis, 18 . Aufl . 2018, § 310 BGB Rn . 68 . 34 BAG NZA 2008, 40 . 35 BAG NZA 2012, 81 . 27 28

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während dieser nach dem zweiten Satz ausgeschlossen wird .36 In Fall 2 sei die Kombination des Freiwilligkeitsvorbehalts mit einem Widerrufsvorbehalt rechtslogisch unvereinbar, da ein Widerrufsrecht einen Anspruch voraussetzt, der durch den Freiwilligkeitsvorbehalt gerade ausgeschlossen wird .37 Die Rechtsfolge war in beiden Fällen, dass der Freiwilligkeitsvorbehalt nach § 307 Abs . 1 S . 2 BGB unwirksam ist und der Arbeitgeber die Sonderzahlung dauerhaft leisten muss . In der Literatur ist diese Anwendung des Transparenzgebots auf heftige, teilweise geradezu polemisch vorgetragene Kritik gestoßen . So meinen Bauer/v Medem, dass in Fall 1 „jeder normale Mensch die beiden Sätze im Zusammenhang lesen und so verstehen würde, dass man sich nicht darauf verlassen kann, im Folgejahr die Leistung erneut zu erhalten .“38 In Fall 2 gehe das Bundesarbeitsgericht hingegen davon aus, dass Arbeitnehmer den feinsinnigen Unterschied zwischen Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt kennen und daher deren Kombination als unverständlich und widersprüchlich identifizieren, was nicht mit seinen „geringen Erwartungen an die intellektuellen Fähigkeiten abhängig Beschäftigter“ in Einklang zu bringen sei .39 Es dränge sich der Eindruck auf, „dass hier an die Stelle des objektiven Empfängerhorizonts ein künstlicher richterlicher Empfängerhorizont gesetzt wird .“40 Diese Kontroverse hat der Verfasser zum Anlass genommen, empirisch zu überprüfen, wie ein durchschnittlicher Arbeitnehmer die beiden Klauseln tatsächlich verstehen würde . Zu diesem Zweck hat der Verfasser eine Befragung sämtlicher Studierender und Mitarbeiter der Philipps-Universität Marburg durchgeführt .41 Zu Fall 1 wurde der vom BAG zur Begründung einer Intransparenz angeführte Widerspruch der beiden Sätze nur in 113 von 799 der Antworten der Befragungsteilnehmer erwähnt, wobei er in 84 für erheblich und in 29 für unerheblich gehalten wurde . Noch klarer fällt das Ergebnis zu Fall 2 aus: Hier wurde der rechtslogische Widerspruch von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt, der nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts zur Intransparenz führt, nur in drei Rückmeldungen für erheblich erachtet . Im Übrigen wurde diese Klausel häufig als noch klarer als in Variante 1 befunden und eine Zahlungspflicht z . B . mit folgenden Begründungen abgelehnt: „Da steht ‚freiwillig‘ und ‚widerruflich‘ . Für mich erscheint das eindeutig“; „Klar und deutlich formuliert, dass der Arbeitgeber kein Weihnachtsgeld oder andere Prämien auszahlen muss, solange er nicht will“; „Ziemlich klare Formulierung, bin mir nicht sicher wie man das nicht mit ‚nein‘ beantworten könnte“ .

BAG NZA 2008, 40 (41 ff .) . BAG NZA 2012, 81 (83) . Jobst Hubertus Bauer / Andreas v . Medem, Rettet den Freiwilligkeitsvorbehalt – oder schafft eine Alternative!, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2012, 894 (895); für die Verständlichkeit dieser Formulierung auch Henssler/Schneider, EWiR 2008, 133; Lindemann, AP Nr . 32 zu § 307 BGB; dem BAG zustimmend hingegen Waltermann, SAE 2009, 98 . 39 Bauer/v . Medem (Fn . 38) 895 . 40 Bauer/v . Medem (Fn . 38) 895 . 41 Stöhr (Fn . 32), 566 ff . 36 37 38

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

Man sieht, dass der Freiwilligkeitsvorbehalt in Variante 1 für die Mehrheit und in Variante 2 für den Großteil der Teilnehmer hinreichend klar und verständlich ist . Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme einer Intransparenz in Fall 1 wenig überzeugend und in Fall 2 geradezu unhaltbar . Denn die Transparenzkontrolle soll lediglich sicherstellen, dass der Vertragspartner seine genauen Rechte und Pflichten kennt,42 was nach den empirischen Erkenntnissen der Fall ist . Im Hinblick auf die Unwirksamkeit des Freiwilligkeitsvorbehalts ist für die Arbeitnehmer daher ein teleologisch nicht legitimierbares Zufallsgeschenk gegeben . IV.

Hindsight Bias

1 .

Grundlagen

Wenn Menschen Ereignisse oder Folgen nach ihrem Eintritt bewerten, beurteilen sie die Wahrscheinlichkeit dieses Eintritts häufig höher als sie vor dem Eintritt tatsächlich war („Ich habe es schon immer gewusst“-Phänomen) .43 In einer Studie wurden vor dem China- und Russlandbesuch des damaligen US-Präsidenten Nixon Probanden nach 15 möglichen Ergebnissen befragt (z . B . ist Mao Zedong bereit, Nixon zu empfangen? Würden die USA diplomatische Beziehungen zu China aufnehmen? Können sich die USA und die UdSSR auf signifikante Positionen verständigen?) . Nach Nixons Rückkehr wurden dieselben Probanden danach gefragt, wie sie die 15 möglichen Ergebnisse eingeschätzt hatten . Wenn ein Ereignis eingetreten ist, bewerteten die Probanden die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts deutlich höher, als sie es zuvor getan hatten . Wenn das Ereignis nicht eingetreten ist, meinten die Probanden, dass sie seinen Eintritt schon immer für unwahrscheinlich gehalten haben .44 Das Hindsight Bias hat schädliche Auswirkungen auf die Bewertung von Entscheidungsträgern: Es führt dazu, die Qualität einer Entscheidung nicht nach ihrer Vernünftigkeit zu beurteilen, sondern danach, ob ihre Folgen gut oder schlecht sind .45 Wenn z . B . während eines ärztlichen Eingriffs mit geringem Risiko ein unvorhersehbarer Unfall eintritt, der zum Tod des Patienten führt, ist der Richter geneigt zu glauben, dass der Eingriff riskant war und der Arzt dies hätte wissen müssen . Dieses Outcome Bias macht es fast unmöglich, eine Entscheidung angemessen zu bewerten, d . h . bezogen auf den Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde . Da Entscheidungsträger wissen, dass die Beurteilung ihres Verhaltens vom Hindsight Bias beeinflusst ist, besteht eine

EuGH Slg, 2001, I-3541 (3554) – Kommission/Niederlande; BAG NZA 2013, 1015 (1017) . Baruch Fischhoff, Social Cognition 2007, 10 ff .; Rachlinski (Fn . 2), 67 ff . Baruch Fischhoff / Ruth Beyth, „I Knew It Would Happen“ . Remembered Probabilities of Once-Future Things, in: Organizational Behavior and Human Performance 13 (1975), 1 ff . 45 Kahneman (Fn . 5), S . 203 .

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erhebliche Aversion gegenüber Risiken . So haben z . B . Ärzte vor dem Hintergrund der Arzthaftung Anreize, mehr Untersuchungen durchzuführen, mehr Fälle an Spezialisten zu verweisen oder konventionelle Behandlungen auch dann durchzuführen, wenn sie wenig erfolgsversprechend ist . Diese Folgen schützen die Ärzte mehr, als sie den Patienten nutzen, sodass ein Potential für Interessenkonflikte besteht .46 2 .

Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

In Gerichtsverfahren wird das Hindsight Bias vor allem bei der Bewertung von Fahrlässigkeit relevant, wenn es um die Vorhersehbarkeit eines schädigenden Ereignisses geht .47 Das Problem besteht darin, dass die Richter das schädigende Ereignis nach dessen Eintritt bewerten, während der Schädiger sein Verhalten ex ante auf seine möglichen Folgen bedenken musste . Auf der Grundlage eines realen Rechtsstreits wurden kalifornische Studierende danach befragt, ob die Stadt Duluth, Minnesota, die erheblichen Kosten für die Einstellung eines Überwachungssystems hätte aufbringen sollen, um zu verhindern, dass der Fluss an einer Brücke mit Trümmern verstopft wird und es zu einer Überschwemmung kommt .48 Nach deutschem Recht wäre zu fragen, ob dies die im Verkehr erforderliche Sorgfalt i . S . v . § 276 Abs . 2 BGB gebieten würde . Einer Gruppe wurden lediglich die Fakten mitgeteilt, die im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung vorlagen . Hier meinten 24 Prozent, dass die Stadt die Kosten hätte aufwenden müssen . Die zweite Gruppe wurde darüber informiert, dass Trümmer den Fluss verstopft haben und es zu schweren Flutschäden gekommen ist . Hier meinten 56 Prozent der Probanden, dass die Stadt das Überwachungssystem hätte einrichten müssen, obwohl sie ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, ihre Beurteilung nicht von den Folgen abhängig zu machen . V.

Ankereffekt

1 .

Grundlagen

Der Ankereffekt bewirkt, dass eine bestimmte Information am Anfang eines Entscheidungsprozesses das nachfolgende Urteil überproportional prägt und beeinflusst, das Urteil sich also wie ein Anker an ihr orientiert .49 So schätzen Menschen Mengen oder Wahrscheinlichkeiten, indem sie sich auf eine vorhandene Zahl stützen und die zu be46 47 48 49

Kahneman (Fn . 5), S . 204 . Erin M . Harley, Social Cognition 2007, 48 ff . Kahneman (Fn . 5), S . 203 f . Kahneman (Fn . 5), 119 ff .; Plous (Fn . 9), 145 ff .

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

stimmende Zahl auf der Grundlage des Ankerwertes approximieren .50 Dies gilt selbst für völlig irrelevante Zahlen: In einer Studie mit Studierenden der Universität Oregon wurde ein Glücksrad mit Zahlen von 0–100 so manipuliert, dass es nur auf 10 oder 65 stoppt . Ein Proband sollte das Rad drehen und eine kleine Gruppe bitten, die gedrehte Zahl zu notieren, also entweder 10 oder 65 . Dies wurde mit anderen Gruppen wiederholt . Sodann wurden den Probanden zwei Fragen gestellt: 1 . Ist der prozentuale Anteil von afrikanischen Nationen unter den UN-Mitgliedern größer oder kleiner als die gerade notierte Zahl? 2 . Wie hoch würden Sie den prozentualen Anteil von afrikanischen Nationen unter den UN-Mitgliedern schätzen? Ein Glücksrad kann schlechterdings keine nützlichen Informationen über irgendetwas geben, und die Probanden hätten es einfach ignorieren müssen . Gleichwohl ließen sich die Probanden von den gedrehten Zahlen erkennbar beeinflussen . Die durchschnittlichen Schätzungen betrugen bei denjenigen, die 10 und 65 gesehen hatten, 25 bzw . 45 Prozent .51 2 .

Auswirkungen auf die Rechtsanwendung

Empirisch erforscht sind die deutlich erkennbaren Auswirkungen der Höhe zivilrechtlicher Schmerzensgeldanträge52 oder der Strafforderungen im Plädoyer von Staatsanwälten53 auf die Entscheidungen der Gerichte .54 Nachweislich lösen die Fragen von Journalisten oder explizit zufallsgenerierte Strafanträge von Staatsanwälten Ankereffekte aus .55 Dies gilt sogar für offensichtlich unqualifizierte Zwischenrufe wie „Geben Sie ihm doch einfach fünf Jahre!“ .56 Ein Rechtsfehler liegt hier nur vor, wenn die ausgeurteilte Summe den Zweck des Schmerzensgeldes bzw . der Kriminalstrafe nicht erfüllen kann, z . B . weil sie keine Genugtuung des Geschädigten bewirkt (§ 253

Tversky/Kahneman (Fn . 2), 1124 (1128) . Tversky/Kahneman (Fn . 2), 1124 (1128) . Zum deutschen Recht Daniel Effer-Uhe, Die richtige Höhe des Schmerzengeldantrags – Im Spannungsfeld zwischen Ankereffekt und Kostenrisiko, in: Intra- und Interdisziplinarität im Zivilrecht: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2017, S . 71 ff .; zum US-amerikanischen Jury-System . Peter Chapman et al, Applied Cognitive Psychology 1996, 519 ff .; Reid Hastie et al, Law and Human Behavior 1999, 449 (463) . 53 Birte Englich / Thomas Mussweiler, Sentencing Under Uncertainty: Anchoring Effects in the Courtroom, in: Journal of Applied Social Psychologie 2001, 1535 (1537 ff .) . 54 Zu den Auswirkungen des Ankereffekts auf Gerichtsentscheidungen eingehend Francisca Fariña / Ramon Arce / Mercedes Novo, Psychology in Spain 2000, 56 ff . 55 Birte Englich, in: Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S . 486 (490); Peer/Gamliel (Fn . 2), 114 (117 f .) . 56 Birte Englich / Thomas Mussweiler / Fritz Strack, Playing Dice With Criminal Sentences, in: Personality and Social Psychology Bulletin 2006, 188 ff . 50 51 52

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Abs . 2 BGB) oder schuldunangemessen ist (§ 46 Abs . 1 StGB) . Im Übrigen führt der Ankereffekt „nur“ zu einer schlechten, weil von sachfremden Gedanken getragenen Entscheidung . C)

Lösungsvorschläge

Da es sich bei den dargestellten kognitiven Verzerrungen nicht um Verhaltensanomalien handelt, sondern umgekehrt um typische Muster menschlichen Denkens, lassen sie sich nur schwer vermeiden . Einige Autoren lehnen daher eine generelle Modifikation des Rechts oder seiner Anwendung ab und befürworten stattdessen eine Würdigung der konkreten Fälle, deren Entscheidung in besonderem Maße von Wahrnehmungsverzerrungen beeinflusst wird .57 Im Folgenden werden ergänzend zwei allgemeine Vorschläge angebracht . I.

Berücksichtigung in der Juristenausbildung

Zunächst sollte die Existenz und Wirkungsweise der Heuristiken und Wahrnehmungsverzerrungen in der Juristenausbildung vermittelt werden .58 Das Wissen um das menschliche Denken in Heuristiken ist Grundvoraussetzung, die damit verbundenen Gefahren zu reduzieren .59 Der Wissenschaftsrat hat bereits die stärkere Einbeziehung der Nachbardisziplinen in das Curriculum empfohlen .60 Entsprechende Lehrveranstaltungen werden bislang nur an wenigen Universitäten angeboten . Eine vollständige Lösung des Problems darf man sich indes nicht versprechen . Insbesondere dem Ankereffekt kann man sich nachweislich schwer entziehen, da er sogar dann wirkt, wenn man sich seiner bewusst ist und ausdrücklich vor ihm gewarnt wird .61 Gleiches gilt offenbar auch für das Hindsight Bias . Experimente haben aber gezeigt, dass andere Wahrnehmungsverzerrungen durchaus vermieden werden können .62

John E . Montgomery, Nebraska Law Review 85 (2006), 15 (51) . Ebenso Baruch Fischhoff, in: Kahneman/Slovic/Tversky, Judgment Under Uncertainty: Heuristics and Biases, 1982, 422 ff .; Boehme-Neßler (Fn . 1), 208 . 59 Peer/Gamliel (Fn . 2), 114 (118) . 60 Perspektiven der Rechtswissenschaft, Empfehlungen des Wissenschaftsrates v . 9 .11 .2012, S . 60, abrufbar unter http://www .wissenschaftsrat .de/download/archiv/2558–12 .pdf, Stand: 7 .10 .2018 . 61 Thomas Mussweiler / Fritz Strack, European Review of Social Psychology 1999, 135 (158) . 62 Lawrence J . Sanna / Norbert Schwarz, Journal of Experimental Social Psychology 2002, 497 ff .; Peer/ Gamliel, Peer/Gamliel (Fn . 2), 114 (118) . 57 58

Heuristiken und kognitive Verzerrungen in der Rechtsanwendung

II.

Empirische Bestimmung von Erfahrungssätzen

Der zweite Lösungsvorschlag betrifft die Anwendung des Rechts und zielt speziell auf die Verfügbarkeitsheuristik ab . Da Erfahrungssätze wie z . B . die Verkehrssitten, Handelsbräuche und die Verkehrsausfassung, wie gezeigt, häufig unter Zugrundelegung des subjektiven Verständnisses des Rechtsanwenders bestimmt werden, ist eine empirische Herangehensweise zu erwägen . Diese hat der Verfasser bereits im Rahmen der Transparenzkontrolle i . S . d . § 307 Abs . 2 BGB befürwortet .63 Dafür spricht in teleologischer Hinsicht, dass eine empirische Bestimmung der objektiven Verständnismöglichkeit der Informationsfunktion der Transparenzfunktion am besten Rechnung trägt . In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist dem Eingriff der AGB-Kontrolle in die Vertragsfreiheit Rechnung zu tragen:64 Grundrechtlich beeinflusste Vorschriften wie die §§ 305 ff . BGB65 dürfen nicht so ausgelegt werden, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des bereits gesetzlich bewirkten Grundrechtseingriffs entfällt oder der Eingriff in unverhältnismäßiger Weise intensiviert wird .66 Da die Transparenzkontrolle dem Schutz des Vertragspartners dient, darf sie nicht weiter gehen, als es zum Schutz seiner Interessen erforderlich ist . Die Schutzbedürftigkeit kann mit der empirischen Methode am genauesten bestimmt werden, da sie beim tatsächlichen Verständnis eines durchschnittlichen Vertragspartners ansetzt: Sofern sich dieses Verständnis mit dem Willen des Verwenders deckt, ist der beabsichtigte Inhalt in der Klausel hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen, sodass der Vertragspartner die angestrebte Klarheit über seine Rechte und Pflichten hat . In ökonomischer Hinsicht spricht für eine empirische Herangehensweise, dass eine rein normative, von der Verfügbarkeitsheuristik beeinflusste Bestimmung keine verlässliche Leitlinie zur Gestaltung wirksamer Verträge begründet . So wird die vom BAG in Bezug genommene rechtslogische Unvereinbarkeit von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt auch kaum einem Arbeitgeber bekannt sein, sodass sie von der Beurteilung als intransparent ziemlich überrascht sein dürften . Dadurch werden letztlich gerade kleine Unternehmer getroffen, die sich keine externe oder gar interne Rechtsberatung leisten können . Es ist Aufgabe der interdisziplinären Rechtsforschung, für diese in Deutschland noch nicht etablierte Herangehensweise praxistaugliche Vorgaben, Leitlinien und methodologische Grenzen zu erarbeiten .67 Nicht möglich ist z . B . eine empirische Be-

Stöhr (Fn . 32), 573 ff . Dazu eingehend Alexander Stöhr, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 2013, 213 (215 ff .) . 65 Vgl . Reiner Schulze, in: Heidel et al, BGB, Bd . 1, 2 . Aufl . 2011, Vorb . §§ 145–157 Rn . 10 . 66 Alexander Stöhr, Vertragsbindung und Vertragsanpassung im Arbeitsrecht, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht, 2015, 167 (173) . 67 Erste Ansätze finden sich z . B . bei Hanjo Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014; ders . / Leonard Hoeft, Die empirische Herangehensweise im Zivilrecht . Lebensnähe und Methodenehrlichkeit für die juristische Analytik? in: Archiv für die civilistische Praxis 217 (2017), 311 (328 ff .) . 63 64

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stimmung des Sorgfaltsmaßstabs i . S . v . § 276 Abs . 2 BGB: Die Fahrlässigkeitshaftung bezweckt, Schadens- und Schadensvermeidungskosten insgesamt zu minimieren . Dies erfordert, dass die Schadensrisiken durch entsprechende Haftungsregeln einem anderen als dem Geschädigten zugewiesen werden, wenn dadurch insgesamt Kosten eingespart werden können .68 Die Erreichung dieses Zwecks wäre gefährdet, wenn der Sorgfaltsmaßstab aufgrund der empirischen Verkehrsanschauung bestimmt würde . Dann könnten nämlich sowohl eingerissene Nachlässigkeiten als auch übersteigerte Sicherheitsvorkehrungen maßgeblich sein . D)

Fazit

Die Beeinflussung der Rechtsanwendung durch Heuristiken und kognitive Verzerrungen ist ein wichtiges Thema, das zunehmend auch in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft behandelt wird . Es ist zu wünschen, dass dies auch in der Juristenausbildung stärker berücksichtigt wird . Die empirische Herangehensweise ist eine vielversprechende, bislang jedoch ebenfalls noch wenig erforschte Möglichkeit, bestimmte Wahrnehmungsverzerrungen zu vermeiden .

Gerhard Wagner, in: MünchKomm-BGB, Vor § 823 BGB Rn . 40; Hans-Bernd Schäfer / Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5 . Aufl . 2012, 184 ff . 68

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer Der Skandal als eine Plausibilisierungsform der Rechtsfehlersemantik aus einer rechtssoziologischen, systemtheoretischen Perspektive PEDRO HENRIQUE RIBEIRO (Frankfurt a. M. / Monterrey)*

I.

Einleitung

Dass Skandale eine Kommunikationsform und eine „script-form“ bieten können, in denen die Rechtsfehlersemantik eine bestimmte Gestalt und eine fruchtbare Resonanz bekommen kann, ist die im Folgenden zu entfaltende These . Sowohl Fehler als auch Skandale werden als Schemata der Erkenntnis von Missständen begriffen . Ist die Kommunikation über Rechtsfehler im positiven, geltenden Rechtssystem durch interne Kriterien und Codierungen der rechtlichen Konsistenz (rechtmäßig/rechtswidrig) beschränkt, verschiebt sich die Kommunikation über Rechtsfehler nach Skandalen in eine Semantik der Irrtümer, sozialen Adäquanz und des Korrekturbedarfs, welche die Legitimität und das Vertrauen in das Recht in Frage stellen . Auf Rechtsirrtümer (z . B . Justizirrtümer) bezogene Skandalisierungen plausibilisieren und visibilisieren Rechtsfehler . All dies aber durch eine Form, die das Operieren des Rechts in seiner Begründung aus der Sicht sozialer Adäquanz hinterfragt, was sich nicht in internen, rechtlichen Kommunikationen vollzieht . Dabei wird die Rechtsfehlerthematik eher durch rechtspolitische Symbole geprägt, die auf Reformen und Korrekturen im Rechtsystem und dessen Operieren hinweisen .

Der Autor ist seit Mai 2019 Professor adjunto für Rechtstheorie an der Universität von Monterrey in Mexiko . *

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Pedro Henrique Ribeiro

In der Luhmannschen Systemtheorie werden sowohl Fehler als auch Skandale als Formen (scripts) zur Erkenntnis von Ungerechtigkeiten identifiziert . Gerechtigkeit hat aber eine bestimmte Stellung in dieser Theorie . Sie gilt als Kontingenzformel des Rechtssystems und soll der unerfüllbaren Aufgabe gerecht werden, die rechtliche Kommunikation sowohl intern konsistent als auch sozial adäquat zu gewährleisten . Ist die Rechtsfehlersemantik im Rechtssystem als eine Frage der Gerechtigkeit durch interne, juristische Konsistenz als Fehlervermeidung und -management konzipiert, kreisen Skandale von Rechtsirrtümer um die Frage der sozialen Adäquanz des Rechts . Hier kommen zwei „Deutungsschemata“, d . h . Skandale und Fehler, in einer besonderen Art zusammen, in der beide sich wechselseitig verstärken . Die Kommunikationsform „Skandal“ prägt die Wahrnehmung von rechtlichen Inkonsistenzen . Eine evident ungerechte und schädliche Fehlentscheidung wird im Laufe von Skandalisierungsprozessen als Leistungsfehler des Rechtssystems neu gelesen . Durch die virulente Verbreitung, affektive Erregung und thematische Kondensierung der Kommunikation, die der Skandalform angehören, werden Rechtsinkonsistenzen für ein breiteres Publikum in der „Peripherie des Rechtssystems“ visibilisiert und mit einer fehlerhaften Leistung, oder mit einer sozial inadäquaten, ja ungerechten Entscheidung verbunden . Diese müsste dann in der Zukunft vermieden oder korrigiert werden . Anstelle des Begriffspaars Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit treten die Unterscheidungen Korrektheit/Irrtum und sozial adäquat/inadäquat . Der Beitrag ist ein Versuch, die Rechtsfehlersemantik innerhalb des Rechtssystems auf der einen Seite, von den auf Rechtsirrtümer bezogenen, sozialen Skandalisierungen in der öffentlichen Kommunikation über das Recht auf der anderen Seite zu unterscheiden . Dazu wird zunächst (I) (1 .) die angewendete rechtssoziologische Perspektive kurz präsentiert und die Fragestellung der zwei Kontexte der Rechtsfehlersemantik dargestellt . Anschließend (2 .) werden die Funktionen und Begriffe der Rechtsfehler im Rechtssystem nach Niklas Luhmann rekonstruiert, d . h . Rechtsfehler als Schemata der Erkenntnisse interner Inkonsistenzen und als Indikatoren für etwaige Ungerechtigkeiten begriffen . Für diese Perspektive werden zentrale Begriffe der Systemtheorie Luhmanns (Codierung, Programmierung, Gerechtigkeit als Kontingenzformel) im Kontext der Rechtsfehlersemantik „innerhalb“ des Rechtssystems (interne Konsistenz und ihr „Management“ durch das Zusammenspiel vom Zentrum und Peripherie des Systems) diskutiert . Ferner (II) wird die Rechtsfehlersemantik „außerhalb“ des Rechtssystems (soziale Adäquanz) erläutert . In dieser Sphäre spielt die Skandalform von Rechtsirrtümern für die öffentliche Kommunikation eine maßgebende Rolle . Zum Schluss (III) werden die Unterschiede der zwei Kontexte verglichen und mögliche Forschungslinien präsentiert .

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

II.

Rechtsfehler und Rechtssystem: Schemata für die Erkenntnis rechtlicher Inkonsistenzen

1.

Entscheidungen über Rechtsfehler: eine soziologische Beobachtung

„Die entscheidende Frage“ der „Richtigkeit“ richterlicher Urteile ist selbst eine Frage der Entscheidung . Die „echte“ Entscheidung ist aber nicht eine politische, „existentielle“ Entscheidung . Entscheidungen sind paradoxal dadurch charakterisiert, dass sie immer auftreten, wenn ein System (z . B . das Recht) eine unentscheidbare Frage entscheiden muss,1 d . h . eine Entscheidung im Kontext von Risiko und Ungewissheit Das moderne Rechtssystem entwickelt selbst Entscheidungskriterien bzw . -programme für Entscheidungen im symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium der Rechtsgeltung .2 Es geht um eine Paradoxie, namentlich um eine Tautologie: Ist die Unterscheidung „Recht/Unrecht“ (oder rechtmäßig/rechtswidrig) wiederum selbst rechtmäßig?3 Jede Beurteilung einer Kommunikation als falsch, fehlerhaft oder als Ergebnis eines Irrtums hat auch eine andere Seite: richtig, fehlerfrei oder korrekt . Dies folgt der Form einer bistabilen Codierung zweier Werte, eines negativen und eines positiven . Es bedarf jedoch dazu einer weiteren Unterscheidung (Codierung/Programmierung) . Kriterien und Programme4 ermöglichen die Zuordnung des Wertes zu der einen oder anderen Seite . Welche Kriterien sind jedoch für die Beurteilung einer Rechtsentscheidung als fehlerhaft/richtig oder irrtümlich/korrekt relevant? Hier rückt die Frage der Beobachtung und der Position des Beobachters ins Zentrum der Diskussion . Durch eine soziologische Beobachtung zweiter Ordnung beansprucht die Systemtheorie, verschiedene Kriterien für die Vielzahl der sozialen Systeme zu kartographieren . Deswegen operiert z . B . die Wissenschaft durch ihre Codierung „wahr/falsch“ im symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Wahrheit anhand von Programmen wie Theorie und Methode .5 Das moderne Recht operiert nicht primär im Kommunikationsmedium Wahrheit, sondern im Kommunikationsmedium Geltung . Ob eine Siehe Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, 117; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 307–310 . Im Sinne von Luhmann (Anm . 1), 98 f . Luhmann (Anm . 1), 165 f . Für die Unterscheidung zwischen codierten (Information) und nicht-codierten (Störung) Kommunikationen, siehe Luhmann, Soziale Systeme, 1987, 197 f . und ders ., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 221 f . 5 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft 1992, 197: „Die Codewerte wahr/unwahr sind als solche noch keine Kriterien ihrer richtigen Zuteilung . Um solche Kriterien anwenden zu können, muß das System sich programmieren“ . Während die binare Codierung stets konstant bleibt, sind die Programme variabel . Es besteht kein Verhältnis von Hierarchie oder Vorrang zwischen beiden: „Programme müssen die Bedingungen der Richtigkeit, welchen Inhalts immer, so formulieren, daß die Operationen ergiebig und anschlußfähig ablaufen können .“ Es geht um die Regeln „richtigen Entscheidens über wissenschaftliche Kommunikation“ (aaO ., 401–405) . Für das Rechtssystem, Luhmann (Anm . 1), 182 f . und 383: „Die Wissenschaft hilft sich mit (korrigierbaren) Prognosen, das Recht dagegen mit (unkorrigierbaren) Entscheidungen“ . 1 2 3 4

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rechtlich relevante Kommunikation richtig oder fehlerhaft ist, ist von dem geltenden, positiven Recht abhängig bzw . determiniert: Sie ist nach den Maßgaben des positiven Rechts entweder rechtmäßig oder rechtswidrig, stellt entweder Recht oder Unrecht dar . Die soziologische Perspektive beansprucht nicht, Kriterien zu entwickeln, die die Selektion zwischen Recht oder Unrecht leisten . Das ist eine Aufgabe des Rechtssystems selbst .6 Als Teilsystem der Gesellschaft unterliegt das Rechtsystem Selbst- und Fremdbeobachtungen . Analytisch könnte man dementsprechend die Zuschreibung von Rechtsfehlern als Schemata für die Erkenntnis von Missständen (Inkonsistenzen) innerhalb des Rechtssystems, und von Skandalen als Schemata für die Erkenntnis von Missständen, die eine rechtsexterne Semantik des Irrtums (Stichwort: Justizirrtum, soziale Adäquanz) annehmen, konzipieren . 2.

Rechtsfehler im Rechtssystem

Ein Kernsatz der Rechtssoziologie Luhmanns ist, dass das Rechtssystem sich durch die bistabile Codierung „Recht/Unrecht“ orientiert – d . h . mit einem negativen und einem positiven Wert . Es ist eine evolutive Errungenschaft modernen Rechts, sich selbstreferentiell zu gestalten und zu operieren . Dies ermöglicht dem Rechtssystem trotz größerem Veränderungsdruck (oder gerade deswegen) stabil zu bleiben . Die Identität des Rechts, seine „Einheit“, wird symbolisch durch die Rechtsgeltung7 repräsentiert . Die Positivität des Rechts ermöglicht, darüber hinaus, höhere Toleranzgrade für Variationen und macht das Recht mobiler . Letztendlich begreift Luhmann die Positivität des Rechts als eine intensivierte Selektivität des Rechts .8 Als ein System muss das Rechtssystem mit einer weiteren Unterscheidung operieren: der Differenz von Codes und Programmen . Programme sind alles das, was die Zuschreibung einer Rechtsentscheidung als rechtmäßig oder rechtswidrig orientiert,

Siehe nur Niklas Luhmann, Rechtsdogmatik und Rechtsystem, 1974, passim Luhmann (Anm . 1), 583 . Siehe auch Niklas Luhmann, Die Geltung des Rechts, in: Rechtstheorie 22 (1991), 273–286, wo er Gründe und Bedingungen der Geltung unterscheidet . Luhmann geht weiter und beschreibt die Geltung des Rechtssystems in der Moderne als die Positivität des Rechts selber . Hier betont er, dass „mit dem Symbol der Rechtsgeltung nur die Anschlußfähigkeit im System bezeichnet wird“; ders , Die Geltung des Rechts, 280 f .; ders . (Anm . 1), 114 f ., 289 f . Zur „Positivierung der Rechtsgeltung“ in rechtssoziologischer Perspektive, siehe Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Band 1, 1972, 195 f . 8 Siehe Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Band 1, 1972, 203 . Das gilt für Funktionssysteme im Allgemeinen: „In die Systeme müssen von vornherein Fehlertoleranzen, oder, wenn es um Gefahren geht, redundante Sicherungen eingebaut werden“, Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 531 . Siehe auch Luhmann (Anm . 1), 280: Man kann „formulieren, dass das Rechtssystem dadurch an Varietät (Zahl und Verschiedenartigkeit möglicher Operationen) gewinnt und Redundanz (Informationsökonomie, Erschließbarkeit, Erkennbarkeit von Fehlern usw .) verliert . Das Recht mag dadurch robuster und in diesem Sinne ‚fehlerfreundlicher‘ werden“ . 6 7

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

wie z . B . Dogmatik, Rechtsprechung, Kommentare, Gesetze usw . Es sind die Programme, die das System konditionieren, leiten und Kriterien für die Zuordnung negativer oder positiver Werte zur Rechtskommunikation anbieten können . Ferner seien die bistabilen Codes zweifach invariant: zeitlich und objektiv Erstens, so Luhmann, bietet der Code ohne Temporalisierung keine Möglichkeit, das System an seine Umgebung anzupassen oder auf seine Irritationen zu reagieren . Zweitens, vom objektiven Standpunkt aus gesehen, ist der bistabile Code eine Tautologie: Er bestätigt nur, dass das Recht nicht Unrecht sein sollte und dass das Unrecht nicht Recht sein sollte Die Programme dienen daher als „coding supplement“, vor allem weil sie sich an die Irritationen der Umwelt dynamisch anpassen können, ohne die systemische Identität des Rechts zu verlieren Zudem können sie spezifische, interne, systemische Kriterien für die rechtliche Selektion anbieten 9 Das Recht operiert als geschlossenes System . Nichtsdestotrotz wird es durch seine Umwelt irritiert .10 Die operative Schließung des Rechts wird durch die Codierung und die Gerichtsentscheidungen im Zentrum des Systems gewährleistet und sorgt primär für die Einheit des Systems .11 Dazu dient das Justizverweigerungsverbot, das eine Entscheidungspflicht bedeutet . Das Recht muss auch im Kontext von Ungewissheit entscheiden . Damit orientiert sich das Rechtssystem an einer im Prinzip kontingenten Welt . Alles kann anders sein . Aber diese Kontingenz wird für das System nur nach dem Code relevant, d . h . nur im Hinblick auf die Möglichkeit, die Fakten als rechtmäßig oder rechtswidrig einzustufen . Die Programme modifizieren zudem den historischen Zustand des Systems . Sie modifizieren das, was als geltendes Recht angesehen werden soll . Aber all dies geschieht im Kontext von Irritationen durch andere Systeme ohne direkte Beeinflussung der Rechtsentscheidung . Sorgen die Gerichtsentscheidungen für Einheit, Schließung und Identität durch die invariable Codierung im Zentrum des Systems, ermöglichen die Programme dem System mehr Variation und Sensibilisierung für Irritationen in der Peripherie des Rechtsystem .12 Zwischen dem Zentrum und der Peripherie besteht keine Hierarchie . Es sind gerade die Unterscheidung und das Zusammenspiel zwischen beiden, die das moderLuhmann (Anm . 1), 168–185 . „Im Prinzip geht es um einen ganz normalen Vorgang der Unsicherheitsabsorption im Verkehr zwischen Systemen (…) Man erkennt die unberührt bleibende Autonomie daran, daß es normalerweise rechtsspezifische Entscheidungen sind, die einen solchen Ausgriff nötig machen und ihm im Rechtssystem dann einen dort verantworteten, zumeist sehr engen Anschlußwert verleihen; und ferner daran, daß die Autorisation des Rechts auch Irrtümer deckt, etwa Irrtümer über die technische Realisierbarkeit von Auflagen zu veranschlagten Kosten, während die Technik in solchen Fällen dann schlicht nicht funktioniert . In allen kognitiven Operationen nimmt das Rechtssystem in Anspruch, sich rechtskräftig irren zu können und im Anschluß daran dann selbst zu entscheiden, ob etwas und was zu tun ist, wenn der Irrtum sich herausstellt“, Luhmann (Anm . 1), 90 . 11 Luhmann (Anm . 1), 297 f . 12 Zum Begriff der Peripherie des Rechtssystems als Filtrierung und Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft siehe Luhmann (Anm . 1), 231 f . 9 10

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ne Recht charakterisieren . Die Peripherie des Systems operiert als eine Filtrierung für das Rechtssystem, die sensibler für Irritationen der Umwelt ist . Luhmann spricht über eine kognitive Öffnung des Systems, die aber keinen „Transfer“ erlaubt, sondern Reaktionen des Rechts auf externe Irritationen umsetzbar macht . Dies ermöglicht dem Recht anpassungsfähig zu operieren und auf Veränderungen in anderen Teilsystemen – durch seine eigenen Programme – zu reagieren . Luhmanns Stichwort dazu lautet: „soziale Adäquanz“ .13 Der Rechtscode und die Gerichtsentscheidungen streben im Zentrum des Rechtssystems eine „Konsistenz des Rechts“ an . Dies wird auch als interne „Gerechtigkeit“ qua Konsistenz begriffen . In diesem Kontext, zur gleichen Zeit, in der das Recht in juristischer Hinsicht konsistent sein muss, erleidet es verschiedene Selektionszwänge sich sozial anzupassen . Diese Differenz von Zentrum und Peripherie verleiht dem Rechtssystem Dynamik . Laut Luhmann macht die unerfüllbare Anforderung, gleichzeitig intern konsistent und extern adäquat zu operieren, das Rechtssystem immer kontingent . Diese Spannung wird durch das Konzept der „Gerechtigkeit als Kontingenzformel“ des Rechtssystems aufgegriffen und bezeichnet .14 Wird die Diskussion der Fehlentscheidung im strengen, internen, juristischen Sinne durch die Erkenntnis interner Inkonsistenzen geprägt,15 wird durch soziologische und gesellschaftliche Beobachtungen das Problem der „sozial inadäquaten“ Entscheidung fokussiert . Luhmann schreibt dem positiven Recht eine hohe Toleranz für „Fehler“ zu – d . h . eine gewisse Toleranz für Inkonsistenzen . Das Recht operiert weiter aller Inkonsistenzen zum Trotz . Grund dafür ist die Ausdifferenzierung des Rechts von einer objektiv-rechtlichen Ordnung .16 Da das Recht selbstreferenziell operiert, bekommt es einen höheren Grad an struktureller Komplexität, die aber anpassungsfähig sein kann . Luhmann begreift daher das Rechtssystem als eine radikale Dynamik, d . h . als eine Praxis der Rechtsreproduktion selbst durch seine Redundanz . Die Redundanz ermöglicht aber nicht alles . Das „schließt konkret weder rechtswidriges Verhalten im Rechtssystem noch rechtswidrige Entscheidungen aus“ .17 Die Bezeichnung als rechts-

Luhmann (Anm . 1), 225: „Die Adäquität ergibt sich aus dem Verhältnis des Rechtssystems zum Gesellschaftssystem . Man hat in diesem Sinne von ‚Responsivität‘ des Rechtssystems gesprochen . Innerhalb der Theorie autopoietischer Systeme wäre ‚Irritabilität‘ (perturbability, Sensitivität, Resonanz) der geeignete Terminus“ . 14 Luhmann (Anm . 1), 221 f . Zum Vergleich mit Legitimität als Kontingenzformel der Politik siehe Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, 122 f . 15 „Wenn Gerechtigkeit in der Konsistenz von Entscheidungen besteht, dürfen wir daher auch sagen: Gerechtigkeit ist Redundanz“, Luhmann (Anm . 1), 356 . 16 Siehe, zu subjektiven Rechten, Luhmann (Anm . 1), 291 f .; ders ., Zur Funktion der „Subjektiven Rechte“, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), 321–330; ders ., Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Niklas Luhmann (Hrsg .), Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 2, 1981, 45 ff .; siehe auch den Beitrag von Jakob Faig in diesem Band 209–222 . 17 Für die zwei Bedingungen der Autopoiesis des Systems, Redundanz und Varietät, siehe Luhmann (Anm . 1), 358 . 13

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

widrig bleibt aber möglich mit (Rechts)Konsequenzen für die weiteren Operationen des Systems – „sei es z . B . in der Form der Aufhebung einer noch nicht rechtskräftigen Entscheidung, sei es als Nichtberücksichtigung bei späterer Orientierung an Präzedenzentscheidungen“ .18 Was passiert, wenn das Recht sich mit dem Problem der „falschen“ Entscheidung konfrontiert? Die Konfrontation ist geläufig und gehört zum Kern von Rechtssystemen . „Rechtmäßige/rechtswidrige“ Entscheidungen sind täglich Gegenstand der Rechtsargumentation, -entscheidung und -praxis . Hier, auch wenn man sekundär die Semantik der „Richtigkeit“ benutzt, spielt die Rechtsgeltung die maßgebende, strukturierende Rolle . Rechtswidrige Entscheidungen, wenn sie als „Fehler“ gekennzeichnet werden, zirkulieren im Medium Rechtsgeltung und werden primär bei der Zuordnung ihrer Rechtsfolgen berücksichtigt:19 „dann wird das Recht aber zeitpunktabhängig; denn erst im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung lässt sich erkennen, wie ein solches Verhalten rechtlich zu beurteilen ist “20 Zentral für unsere Überlegungen ist die Luhmannsche Vorstellung von der Funktion von Rechtsfehlern . „Fehler“ im Rechtssystem dienen als Schemata für Erkenntnisse und zur Vermeidung von Inkonsistenzen, die eine nachträgliche Korrektur (durch eine andere, rechtmäßige Entscheidung) im Medium der Geltung fordert: „(…) es kommt auf die Vermeidung von Fehlern an, und das heißt nun: die Vermeidung erkennbarer Inkonsistenzen Fehler sind, so gesehen, operative Indikatoren für die etwaige Ungerechtigkeit des Systems Zugleich dienen sie aber auch als Form der Erkenntnis, die es ermöglicht, sich von Entscheidungen anderer, die man als fehlerhaft ansieht, zu distanzieren, also auf die Unmöglichkeit absoluter Konsistenz aller Entscheidungen zu reagieren . Wie immer, Fehler bleiben ein Erkenntnisschema der Beobachtung erster Ordnung, bei der man versucht, sie zu vermeiden oder sie anderen anzulasten, aber nicht nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, nicht nach der Konstitution von Redundanz fragt . Für einen Beobachter zweiter Ordnung tritt jedoch diese Frage der Erzeugung und Erhaltung ausreichender Redundanz ins Zentrum des Interesses, und für ihn ist erkennbar, daß es auch andere Systemimperative gibt als nur diesen einen der Erhaltung der Redundanz . Denn wie könnte man sonst das Wachstum des Systems erklären oder auch die (immer durch Kritik modifizierte) Toleranz der Gesellschaft für ihr Recht?“21

Luhmann beschreibt die Rechtsfehler als Produkte einer Beobachtung erster Ordnung, d . h . einer Beobachtung des Rechtssystems selbst . In diesem Fall postuliert er, dass die gesamte Redundanz des Rechts (das Operieren des Rechts, dessen Rechtsgel-

Luhmann (Anm . 1), 81 . Zu Skandalisierungen als informelle und peripherische Elemente der Übertragung und Zirkulation des Geltungssymbols siehe Fischer-Lescano, Rechtskraft, 2013, 94 f . 20 Luhmann (Anm . 1), 172–173 Hervorhebung hinzugefügt 21 Luhmann (Anm . 1), 357, Hervorhebung hinzugefügt 18 19

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tung) nicht in Frage gestellt wird . Ein Rechtsfehler wird dabei lediglich als eine Form von Rechtswidrigkeit durch eine weitere Rechtsentscheidung prozessiert und alles wird nach der Codierung und der Programmierung des Systems behandelt . Hauptfokus hier sind die „etwaigen Ungerechtigkeiten“, die aus Inkonsistenzen des Rechtssystems resultieren – vor allen aber: deren Rechtsfolgen .22 Aber wie wird die Rechtsfehlersemantik in Fremdbeobachtungen verarbeitet? Wenn ein Rechtsfehler als solcher von einem breiteren Publikum erkannt wird und einen Skandal auslöst, gestaltet sich die Kommunikation in der Öffentlichkeit anders . Skandale können auch als Indikatoren für die Erkenntnis etwaiger Ungerechtigkeiten gelten . Durch Skandale wird aber das Recht „visibilisiert“23 und in seiner Redundanz hinterfragt . Das Operieren, die Organisationen und die Beamten des Rechtssystems geraten unter Druck . Die Legitimation des Rechts kommt in Frage und Rechtsfehler werden als Irrtümer bzw . Leistungsfehler wahrgenommen . Ihrer Kommunikationsform wegen machen Skandale Rechtsfehler sowohl evident als auch plausibel und neigen dazu, sie als Indikatoren für Ungerechtigkeiten im Sinne sozialer Folgen (anstatt Rechtsfolgen) anzuordnen . In solchen Fällen spielt die Rechtsgeltung, ihre Verbindung mit Texten und Auslegungen, eine sekundäre Rolle . Skandale verarbeiten die Rechtsfehler als Leistungsfehler und fordern Reaktionen und „Korrekturen“ .24 III.

Irrtümer des Rechtssystems: Das Recht im Skandal

Wird eine Fehlentscheidung oder ein Rechtsmissbrauch als Inhalt eines Skandals wahrgenommen, spielt jedoch die Semantik der „Rechtsfehler“ eine prominentere und veränderte Rolle . In der gesellschaftlichen Kommunikation, d . h . nicht-rechtsspezifischen bzw . -rechtsinternen Kommunikation, können Rechtsfehler nun als „Leistungsfehler“ gedeutet werden . Der Skandal erweist sich als eine Form, in der die Semantik der Rechtsfehler in die Rechtskommunikationen eindringt . Dies gilt insbesondere, wenn die Rechtsfehler als „empörend“25 wahrgenommen werden; wenn ihre Folgen von der Öffentlichkeit als Ungerechtigkeit erfahren werden . Als Kommunikationsform bzw .

Luhmann (Anm . 1), 81 f . Zu (politischen) Skandalen in Kontext einer Transformation der Visibilisierung siehe John B . Thompson, Political Scandal: Power and Visibility in the Media Age, 2000, 33 f . und Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, 2005, 457 f . 24 Vgl . Marc Mölders, Die Korrektur der Gesellschaft: Von praktisch ratlosem Protest zu organisierter Weltverbesserung, Manuskript (Habilitationsschrift Universität Bielefeld | Fakultät für Soziologie, eingereicht im Wintersemester 2018/2019) . 25 „Empörung“ ist oft ein Synonym für Skandal . Im deutschen Sprachraum wurde aber das Wort „Skandal“ mehr in seinen profanen als in seinen theologischen Traditionen verwendet, insbesondere seit Luthers Übersetzung von Skandal in „Ärgernis“ . Siehe nur Martin Seil, „Ärgernis“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg . von Joachim Ritter et al ., 1971, 505 f . 22 23

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

Kommunikationsprozess26 verdichtet der Skandal die Aufmerksamkeit auf bestimmte Rechtsfehler . Er verschiebt die Diskussion aus der Sphäre der Rechtsgeltung in das Vokabular von Reformbedarf, Gerechtigkeit (sozialer Adäquanz) und Politik . Das skandalisierte Recht muss sich dann im Skandal vor dem Publikum rechtfertigen und auf den Skandal seiner Irrtümer reagieren .27 Dies wird wahrscheinlicher, wenn die rechtskräftigen Fehlentscheidungen schon ihre als ungerecht wahrgenommenen Folgen bewirkt haben (z . B . Justizmord) . Durch die Form des Skandals bekommt eine paradigmatische fehlerhafte (rechtswidrige) Entscheidung die Qualität eines Irrtums . Als Skandal versteht man meistens einen Normverstoß, der eine öffentliche Reaktion der Empörung oder der Anstößigkeit auslöst . Als Kommunikationsform können Skandale als resonanzfähige „Deutungsschemata“ verstanden werden, durch die Ereignisse zu bedrohlichen Missständen werden . Innerhalb eines Kommunikationsprozeses führt die Skandalisierung zu einer unmittelbaren Anerkennung von Fehlzuständen, die als wahr, außerordentlich und inakzeptabel wahrgenommen werden .28 Das „Wesen“ des Verhältnisses von Skandalen und Normen besteht darin, dass Skandale als Begründung normativer Erwartungen durch demonstrative, exemplarische Verweise auf unbeteiligte Dritte wirken .29 Hier wird die „knappe Ressource Aufmerksamkeit“ kondensiert, und sowohl die Wirklichkeit einer Verletzung oder eines Fehlzustandes als auch die Bestätigung einer Norm werden gleichzeitig begründet und evident gemacht . Das performative, demonstrative Zusammenspiel zwischen „Enthüllung und Entrüstung“30 in öffentlichen Foren plausibilisiert bereits die Wahrnehmung von Fehlzuständen . Der Skandal produziert, neben der affektiven Erregung, einen Evidenzeffekt .31 Skandalisierungsprozesse werden als „Skripts“ begriffen, d . h . als schematisierte Deutungsrahmen, die unerträgliche, erregende oder exzeptionelle Zustände darstel-

Zum Begriff der (medialen) Kommunikationsprozesse siehe Steffen Burkhardt, Medienskandale: Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, 2 . Auflage, 2015, 76–83 . Man könnte den Skandal als eine Kommunikationsform begreifen, die ähnlich wie eine Krise operiert . Dadurch wird eine „Scheidung“ herbeigeführt, die ent-schieden werden muss . Für eine Interpretation in dieser Richtung mit dem Kritik-Begriff als „Kommunikationsform“, siehe Elena Esposito, Critique without crisis: Systems theory as a critical sociology, in: Thesis Eleven (2017), 18–27 . 27 Siehe für eine sinnvolle Personifikation des Rechts den Beitrag von David Kuch in diesem Band 237– 252 . 28 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 853–854 Zum Evidenzeffekt und zu anderen Elementen von Skandalen in Verbindung mit Normativität siehe m . w . N . Pedro Henrique Ribeiro und José Luís Egío, Skandal, Normativität und Menschenrechte: Von Las Casas zu Luhmann, in: Siegrid Köhler und Matthias Schaffrick (Hrsg .), Wie kommen die Rechte des Menschen in die Welt? (im Erscheinen) . 29 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Band 1, 1972, 62 f .; siehe auch Ribeiro und Egío (Anm . 27) . 30 Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung: Eine Phänomenologie des politischen Skandals, 2002, passim 31 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 548: „Plausibel sind Ideen, wenn sie unmittelbar einleuchten und im Kommunikationsprozeß nicht weiter begründet werden müssen . Das gilt heute zum Beispiel für die jeweils kursierenden ‚Werte‘ . Von Evidenz kann man sprechen, wenn etwas unter Ausschluß von Alternativen einleuchtet“ . 26

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len .32 In unserem Fall des Skandals einer Fehlentscheidung können diese „unerträgliche[n] exzeptionelle[n] Zustände“ als „Ungerechtigkeit“ des Rechtssystems wahrgenommen werden . Nicht zufällig hat Marie Theres Fögen bereits manche Skandale als die „Kehrseite der Gerechtigkeit“ bezeichnet, die das Unrecht und das Rechtssystem selbst ohne Verweis auf irgendeine Rechtstextualität oder Geltung „visibilisiert“ .33 Auch Andreas Fischer-Lescano verbindet, wiewohl in anderen Kontexten, Skandalisierungen von Ungerechtigkeitserfahrungen mit Veränderungen im Rechtssystem, sogar im Rahmen rechtskräftiger Entscheidungen: „Wenn nicht eine jede Gerechtigkeitsverletzung Recht in Unrecht überführt, welche dann?“ .34 Man kann eine sehr ursprüngliche Art der „Normgenese“ auf Grund von skandalösen Vorkommnissen beobachten . In Skandalen über Verletzungen von Menschenrechten z . B . „ist man nicht darauf angewiesen, Rechtstext und Verhalten zu vergleichen, um daran abzulesen, ob etwas gegen das Recht verstößt oder nicht . Auf einer viel unmittelbaren Ebene kann der Skandal selbst eine (vorher gar nicht formulierte) Norm erzeugen“35 . Die Geltung der Norm wird erst durch eine Art „colère publique“, eine Empörung in Sinne Durkheims,36 gewonnen . Skandale könnten dann mit „eklatanten, evidenten, exemplarischen Unrechtserfahrungen“ verbunden werden: Unrecht auf jeden Fall!37 Diese Formulierung Luhmanns könnte mithilfe der neuen Forschung über „Skandale“ viel weiter entwickelt (aber auch kritisiert) werden .38 Für unsere Zwecke reicht

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 853–854 . Zur Skandalisierung von Unrecht als „symbolischer Urknall“ in Begründungsmythen normativer Ordnungen, der das Unrecht und das Rechtssystem selbst „visibilisiert“ und dementsprechend nicht nur als Vorkommnis „in der Ferne“, sondern auch als ein mögliches „movens“ der Ko-Evolution vom Recht und anderen Systemen konzipiert werden sollte, siehe Marie Therés Fögen, Römische Rechtsgeschichten: Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2003, 54 f . und 77 f . Fögen spricht ferner von der Notwendigkeit eines „Unrechtsaktes“: „so wenig hat auch ‚Recht‘ irgendeinen Sinn, wenn nicht ‚Unrecht‘ hinzukommt . Recht kann deshalb nur – als Begriff, als Kommunikation, als System – entstehen, wenn der Gegenbegriff ‚Unrecht‘ bekannt ist . (…) Wir sind es gewohnt, in jeder Rechtsetzung das mögliche Unrecht sogleich mitzudenken . In einer Gründungsgeschichte vom Recht aber sollte das Unrecht sichtbar, unübersehbar, skandalös sein“ (aaO ., 104) . 34 Andreas Fischer-Lescano (Anm . 19), 25 . Zur Skandalisierung als Geltungsbegründung von Menschenrechten siehe auch ders ., Globalverfassung: Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005, passim . 35 Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1992, 25 f . Hervorhebung hinzugefügt 36 aaO . 37 aaO . 38 Siehe, für Deutschland, die Beiträge in Rolf Ebbighausen und Sighard Neckel, Anatomie des politischen Skandals, 1989; für die USA nur Thompson (Anm . 23); für Frankreich: Damien de Blic and Cyril Lemieux, Le scandale comme épreuve: Éléments de sociologie pragmatique, in: Politix 18 (2005), 9–38 Skandale sollten hier weder normativ (als „gutes“ oder „schlechtes“ für die Gesellschaft), noch ausschließlich als „normverändernd“ verständen werden . Für eine Kritik an der funktionalistischen Theorie des Skandals siehe nur Werner Binder, Abu Ghraib und die Folgen Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror, 2013, 200–211 . 32 33

Das Recht im Skandal seiner Irrtümer

es aber festzustellen, wie die Form „Skandal“ für die öffentliche Kommunikation über Rechtsfehler analytisch relevant sein könnte . IV.

Ergebnis: Von der Legitimation durch Verfahren zur Legitimation durch Empörung?

Die Rechtssoziologie Luhmanns wurde mobilisiert, um die Thematik des Rechtsfehlers aus einer interdisziplinären, rechtssoziologischen Perspektive zu erörtern . Rechtsfehler sind daher als Erkenntnisschemata für Inkonsistenzen und etwaige Ungerechtigkeiten eines Rechtssystems verstanden, das dabei in seinem Verhältnis zur Gesellschaft reflektiert wird . Anstatt sich auf die Frage der Letztinstanz von Fehlerkontrollen zu fokussieren (wie es vielleicht die Rechtswissenschaft für Adolf Julius Merkl,39 die Ermächtigung und Entscheidungsmacht für Hans Kelsen oder die Konstruktionen der Rechtsgelehrten für Carl Schmitt der Fall war), arbeitet Luhmann mit radikal dynamischen Begriffen des Rechtssystems und der Rechtsgeltung, und schreibt die Zuordnung von fehlerhaften/fehlerfreien Entscheidungen dem Operieren des Rechts selbst (seine Redundanz und Variation) aus einer rechtssoziologischen Perspektive zu . Die Theorie der Binnendifferenzierung des Rechts in ein Zentrum und eine Peripherie mitsamt seinem Zwang, zugleich intern konsistent und extern sozial adäquat zu entscheiden, ermöglicht eine analytische Unterscheidung zwischen der Bearbeitung von Rechtsfehlern im Rechtssystem auf der einen Seite und Rechtsirrtümern, die in Kommunikationen der Öffentlichkeit über das Recht zirkulieren, auf der anderen Seite . Die Beschreibung von Rechtsentscheidungen als „fehlerhaft/fehlerfrei“ im Rechtssystem hängt von dem Zusammenspiel zwischen der Codierung (Recht/ Unrecht) und der Programmierung des Rechts ab – und dies wird immer durch die Rechtsgeltung strukturiert . Die Kriterien dieser Zuordnung sind deswegen nur im laufenden Operieren des Rechts selbst zu finden – und nicht in irgendeiner Art lückenfreier Gesamtlogik oder ausschließlich in einem rechtswissenschaftlichen Ansatz .40 In solchen Fällen, welche die überwiegende Mehrheit darstellen, wird die Redundanz des Rechts nicht hinterfragt . Anders erscheinen Rechtsfehler, wenn sie in der Form des Skandals als Rechtsirrtümer fern von der Rechtsgeltung in der Öffentlichkeit kommuniziert werden . Wenn Skandale von Rechtsirrtümern auftreten, wird das Recht in seiner Redundanz, seinem Operieren hinterfragt, ja in seiner Legitimation von einem empörten Publikum diskreditiert . In solchen Fällen könnte man vielleicht sogar von einer Legitimation durch

Siehe den Beitrag von Jakob Faig in diesem Band 209–222 . Zum Verhältnis zwischen Logik, Argumentation und Rechtsfehlern im Rechtssystem siehe Luhmann (Anm . 1), 401 f . 39 40

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Empörung statt einer Legitimation durch Verfahren sprechen .41 In der öffentlichen Kommunikation bekommen die Rechtsfehler dann die Gestalt von Leistungsfehlern eines Systems . Skandale treten nun als Deutungsschemata für die Erkenntnis etwaiger sozialer Ungerechtigkeiten auf, an denen die Organisationen und das Operieren ins Zentrum der Aufmerksamkeit (und eventuell der politischen Diskussion) rücken . Es ist zwar klar, dass solche Fälle extrem selten sind und eher in der Politik vorkommen42 und dass sie vielleicht eher ein Thema der politischen Kommunikation bzw . Forderung nach gesetzlicher Regulierung darstellen .43 Skandale sind darüber hinaus hoch ineffektive und zerstreute Phänomene, die selten rechtliche Relevanz erlangen . Man möchte trotzdem hoffen, dass die hier vorgeschlagene analytische Unterscheidung zumindest eine heuristische Funktion erfüllen könnte, welche die Diskussion über Rechtsfehler um eine rechtssoziologische Perspektive erweitert . Fehler sind oft zuerst mit einer Verfehlung der „Wahrheit“ verbunden, die durch irgendeine Logik festgestellt werden kann . Im Rechtssystem ist jedoch Konsistenz niemals völlig erreichbar . Rechtsfehler erhalten bereits eine sehr spezifische Stellung in der rechtlichen Kommunikation, die im Medium der Rechtsgeltung ihre Form kennt . Mit dem „Skandal“ von Rechtsirrtümern hat auch dieser Beitrag eine weitere Form der gesellschaftlichen Kommunikation über Rechtsfehler zu präsentieren versucht .

Wilfried von Bredow, Legitimation durch Empörung . Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie des Skandals, in: Julius H . Schoeps (Hrsg .), Der politische Skandal, 1992, 190–208; Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1993 . 42 Harald Kindermann, Alibigesetzgebung als symbolische Gesetzgebung, in: Rüdiger Voigt (Hrsg .), Symbole der Politik – Politik der Symbole, 1989; Marcelo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung, 1998 . 43 „Auch die systemintern benutzten Symbolisierungen der Einheit des Systems unterscheiden sich . Will man Zugehörigkeit zum Rechtssystem symbolisieren – und zwar auch gerade dann, wenn es um Änderungsvorhaben geht –, beruft man sich auf ‚geltendes‘ Recht . (…) Geht es dagegen um das politische System, heißt die Identifikationsformel ‚Staat‘; und auch dies wird speziell dann relevant, wenn man Änderungsanliegen auf Systeme hin kanalisieren will . Daß der Staatsbegriff auch ein Begriff des geltenden Rechts ist, wird damit nicht ausgeschlossen . Aber wenn man Richter und Polizisten, Lehrer und Amtsärzte als Staatsbeamte bezeichnet, ist damit nicht nur das ihre Verhältnisse regelnde Gesetz gemeint, sondern auch: daß ihr Verhalten politisch zum Thema gemacht werden kann – im Unterschied zum Verhalten frei praktizierender Ärzte oder privater ‚body guards‘, wo Skandale allenfalls zur politischen Forderung nach gesetzlicher Regelung führen können, die natürlich ebenfalls an den Staat zu adressieren ist“, Luhmann (Anm . 1), 437 . 41

Die Verfassung auf den Barrikaden Ziviler Ungehorsam zwischen Revolution und Normenkontrolle nach Hannah Arendt NIKLAS PLÄTZER (Paris)

Einleitung: Zur Aktualität des arendtschen Begriffs des zivilen Ungehorsams

Die Frage, welchen Beitrag Verfassungsgerichtsbarkeit zur Sicherung einer Rechtsordnung leisten kann, wenn richterliche Entscheidungen selbst weithin als fehlerhaft oder sogar verfassungswidrig angesehen werden, erweist sich heute als brandaktuell . Ein Blick in die heutigen Debatten um das amerikanische Verfassungsgericht bietet zur Reflektion dieser Frage einen besonders dringenden Anlass . Mit der Berufung von Neil Gorsuch zum Obersten Richter durch Präsident Trump haben sich die Mehrheitsverhältnisse auf der Richterbank des Supreme Court zugunsten einer radikalkonservativen Verfassungsinterpretation verschoben .1 Besonders deutlich ist dies im Juni 2018 im Fall Trump v Hawaii geworden, der sich mit dem sogenannten „muslim ban“ befasst, dem von Präsident Trump verhängten Einreiseverbot für Staatsangehörige von sechs mehrheitlich muslimischen Staaten .2 Das Bundesbezirksgericht Hawaii hatte das Einreiseverbot zunächst wegen „gezielter Benachteiligung einer Religion“ wegen Verfassungsbedenken außer Kraft gesetzt; am gleichen Tag folgte das Bundesbezirksgericht Maryland .3 Nachdem ein Bundes-

Diese Tendenz hat sich seitdem durch die Berufung von Brett Kavanaugh im Oktober 2018 noch verstärkt . 2 Die Entscheidung des Supreme Court in Trump v . Hawaii vom 26 . Juni 2018 ist verfügbar unter https:// www .supremecourt .gov/opinions/17pdf/17–965_h315 .pdf . Letzter Zugriff: 27 . März 2019 . 3 Thorsten Schröder, Widerstand aus Hawaii, Die Zeit, 30 . Juni 2018, https://www .zeit .de/politik/aus land/2017–06/einreiseverbot-usa-muslime-oberstes-gericht-hawaii . Letzter Zugriff: 27 . März 2019 . 1

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berufungsgericht diese Entscheidung zunächst bestätigte, machte der Supreme Court sie wieder rückgängig . Die Executive Order 13780 („Protecting the Nation from Foreign Terrorist Entry into the United States“) ist somit erneut teilweise in Kraft getreten . Am 26 . Juni 2018 entschied der Supreme Court schließlich letztinstanzlich für die Verfassungsmäßigkeit des Einreiseverbots .4 Dieses Urteil ist in weiten Teilen der amerikanischen Zivilgesellschaft auf Empörung gestoßen . Eine Koalition von Trump-GegnerInnen rief zu einer landesweiten Kampagne des zivilen Ungehorsams auf – nicht nur in Opposition zur Politik des Präsidenten, sondern im Namen der Verteidigung der amerikanischen Verfassungsordnung als solcher, falls nötig auch gegen die Rechtsprechung des Supreme Court .5 Eine vergleichbare Krise amerikanischer Verfassungsgerichtsbarkeit bot 1970 den Anlass für Hannah Arendts Essay über den zivilen Ungehorsam . Arendt unternimmt hierin den Versuch einer Neuvermessung der Beziehung zwischen richterlichen Fehlentscheidungen einerseits und der Praxis des zivilen Ungehorsams andererseits .6 Konkret bezieht sie sich auf die Entscheidung des Supreme Court im Fall Massachusetts v Laird, aus staatspolitischen Gründen nicht über die Verfassungsmäßigkeit des Vietnam-Kriegs urteilen zu wollen .7 Der Bundesstaat Massachusetts hatte ein Gesetz erlassen, das Wehrpflichtige von der Teilnahme an Kriegseinsätzen befreite, solange letztere nicht durch ein Votum des Kongress für verfassungsgemäß erklärt worden waren . Damit sollte bewusst ein Konflikt zwischen Bundes- und Landesrecht geschaffen werden, um die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Vietnam-Krieges vor den Supreme Court zu bringen . Die Obersten Richter entschieden jedoch, die Klage des Staates Massachusetts nicht anzuhören . Hierfür wurde die sogenannte „political question doctrine“ vorgebracht, die Verfassungsrichter bei außenpolitischen Fragen zu Neutralität verpflichte . Somit blieb der Vietnam-Krieg von verfassungsrechtlicher Kontrolle unberührt, was Tausende von Menschen in den USA dazu bewog, sich der wachsenden Anti-Vietnamkrieg-Bewegung anzuschließen . Aus Arendts Sicht handelte es sich bei diesem Urteil um eine schwere Fehlentscheidung, da die Selbstbegrenzung der Obersten Richter die Gewaltenteilung zugunsten einer unkontrollierten Exekutivmacht in Gefahr bringen würde . In dieser Krisensitua-

Adam Liptak u . Michael D . Shear, Trump’s Travel Ban is Upheld by Supreme Court, New York Times, 26 . Juni 2018, https://www .nytimes .com/2018/06/26/us/politics/supreme-court-trump-travel-ban .html . Letzter Zugriff: 27 . März 2019 . 5 Vgl . Brooke Seipel, Hundreds of women to risk arrest in civil disobedience protests in D . C ., The Hill, 28 . Juni 2018, https://thehill .com/homenews/news/394586-hundreds-of-women-to-risk-arrest-in-civil-di sobedience-protests-at-capitol . Letzter Zugriff: 27 . März 2019 . 6 Dieser Beitrag beruht auf der englischen Originalausgabe: Hannah Arendt, Civil Disobedience, in: Crises of the Republic, 1970, 49–103 . Im Folgenden sind alle Übersetzungen meine eigenen . Eine deutsche Übersetzung ist erschienen als Hannah Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: Zur Zeit . Politische Essays, 1986, 119–160 . 7 Arendt (Fn . 6), 54 . Das von Arendt betrachtete Urteil im Fall Massachusetts v Laird ist einsehbar unter https://supreme .justia .com/cases/federal/us/400/886/ . Letzer Zugriff: 27 . März 2019 . 4

Die Verfassung auf den Barrikaden

tion sprach sich Arendt für jene sozialen Bewegungen aus (sowohl die Vietnam-Kriegsdienstverweigerer wie die afroamerikanische Civil Rights-Bewegung), die sich durch zivilen Ungehorsam gegen eine Verselbstständigung der Exekutive auflehnten . Arendt skizziert in ihrem Essay aber nicht nur mögliche Legitimationsbedingungen des Ungehorsams als Handlungsform; vielmehr fragt sie, welcher Begriff von Recht in der Lage wäre, der politischen Bedeutung des zivilen Ungehorsams theoretisch Rechnung zu tragen . Arendts radikaldemokratische Provokation besteht darin, einen Rechtsbegriff zu formulieren, der nicht Ordnung in Souveränität gründen will, sondern Recht im revolutionären Handeln Dabei greift sie auf Montesquieus Abgrenzung des „Geists“ vom bloßen „Buchstaben“ des Gesetzes zurück .8 Jedoch treibt sie diesen Gedanken auf die Spitze: Arendt löst das Urteil über Verfassungsprinzipien aus dem Rahmen der Judikative und stellt es in die Mitte eines durch Ungehorsam immer wieder zu aktualisierenden Handlungsraumes, der eine republikanische Ordnung stützt und zugleich vom liberalen Rechtsstaat unterscheidet .9 Für liberale Kritiker wie George Kateb liegt genau hier die große Gefahr ihrer Provokation: „Arendt spielt mit dem Feuer“, schreibt Kateb, besorgt über einen Rechtsbegriff, der ohne letztgültiges Fundament (sei es in Souveränität oder Naturrecht) auskommen soll und sich ganz dem Wagnis politischer Ungründbarkeit stellt .10 I.

Ziviler Ungehorsam als Dynamisierung des Rechts bei Arendt und Kramer

Im Folgenden soll der arendtsche Rechtsbegriff zunächst in groben Umrissen rekonstruiert werden . In Arendts Lesart stehen sich zwei Formen von Rechtsphilosophie unvereinbar gegenüber: Die vom absolutistischen Erbe geprägte europäische Tradition souveräner Staatlichkeit einerseits und das bürgerschaftliche Verfassungsdenken der amerikanischen Republik andererseits .11 In diesem Sinn kann Arendts Essay über den Zur Bedeutung von Arendts eigenwilliger Montesquieu-Interpretation s . Lucy Cane, Hannah Arendt on the principle of political action, European Journal of Political Theory 14 (2014/1), 55–75 sowie James Muldoon, Arendtian Principles, Political Studies 64 (2016/1), 121–135 . Es sei hier angemerkt, dass die in Arendts Privatbibliothek erhaltene Ausgabe von Montesquieus Vom Geist der Gesetze aufschlussreiche Unterstreichungen und Randnotizen enthält; ein Scan ist online verfügbar: http://www .bard .edu/library/arendt/ pdfs/Montesquieu-Spirit .pdf . Letzter Zugriff: 27 . März 2019 . 9 Vgl . Étienne Balibar, Hannah Arendt, the Right to Have Rights, and Civic Disobedience, in: Equaliberty: Political Essays, 2014 . Die deutsche Übersetzung beinhaltet Balibars Essay über Arendt leider nicht, s . Balibar, Gleichfreiheit Politische Essays, 2012 . 10 George Kateb, Hannah Arendt: Politics, Conscience, Evil, 1984, 32 . 11 Zum arendtschen Rechtsdenken s . Christian Volk, Die Ordnung der Freiheit Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, 2010 sowie Marco Goldoni u . Chris McCorkindale (Hg .), Hannah Arendt and the Law, 2012 . 8

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zivilen Ungehorsam als eine Fortführung ihrer Kritik der Souveränitätstradition verstanden werden, die sie bereits 1963 in On Revolution formuliert hatte . Aus Arendts Perspektive stellt der zivile Ungehorsam in Amerika nicht nur ein punktuelles Phänomen dar, sondern verweist auf eine grundsätzliche Neukonzeptualisierung von Recht . Kurz gefasst ist der zivile Ungehorsam in der Lage, mit Rückgriff auf die Gründungsprinzipien der Verfassungsordnung diese auch gegen letztinstanzliche richterliche Fehlentscheidungen zu verteidigen und somit ihren demokratischen Charakter gegen staatliche Organe zu schützen . Ziviler Ungehorsam wird somit gleichsam als Verfassungsgerichtsbarkeit der allerletzten Instanz gedeutet . Arendts Vorschlag ähnelt hierin der in amerikanischen rechtstheoretischen Debatten kontrovers diskutierten Arbeit von Larry Kramer, der 2004 unter dem Titel The People Themselves den Begriff des „Volkskonstitutionalismus“ (popular constitutionalism) entwickelt hat .12 Wie Kramer anhand von Quellen aus dem 17 . bis 19 . Jahrhundert zeigt, wurden öffentliche Versammlungen in den amerikanischen Kolonien und der frühen Republik tatsächlich zunächst als Teil der verfassten Ordnung verstanden: Die Verfassungsinterpretation lag nicht bei den Obersten Richtern, sondern beim Volk selbst . Ungehorsam galt zwar staatlichen Organen, insbesondere auch richterlichen Entscheidungen, wurde deshalb aber nicht als Bruch mit der institutionellen Ordnung verstanden, sondern, im Gegenteil, als deren Verteidigung . In Abgrenzung zu Kramer soll aber gezeigt werden, dass in der arendtschen Variante eines „Konstitutionalismus von unten“13 der zivile Ungehorsam niemals als Manifestation eines souveränen „Volkes“ in Erscheinung tritt (als Wiederkehr der verfassungsgebenden Gewalt), sondern vielmehr als ein von Souveränität losgelöstes, über institutionalisierte Staatlichkeit hinausschießendes In-die-Tat-Setzen von Gründungsprinzipien . Vom Standpunkt dieses transformativen, niemals vollständig zu institutionalisierenden Konstitutionalismus aus betrachtet geht es im zivilen Ungehorsam nicht nur um die Verteidigung eines Rechtsrahmens, sondern um das Vertiefen von Rechtsversprechen durch politisches Handeln .14 In die Begriffe deutscher Grundrechtstheorie übersetzt unternimmt Arendt den Versuch, die Drittwirkung von Grundrechten zur Triebfeder einer Verfassungskultur zu machen, die den zivilen Ungehorsam nicht auf das Verhältnis eines Rechtssubjekts zur staatlichen Rechtsordnung reduziert, sondern auf

Larry Kramer, The People Themselves: Popular Constitutionalism and Judicial Review, 2004 . Die Idee eines „Konstitutionalismus von unten“ ist besonders von Boaventura de Sousa Santos entwickelt worden, s . Gavin W . Anderson, Societal Constitutionalism, Social Movements, and Constitutionalism from Below, Indiana Journal of Global Legal Studies 20 (2013/2), 881–906 . 14 Der Begriff des transformativen Konstitutionalismus hat seinen Ursprung in Debatten um postkoloniale Verfassungsordnungen im Globalen Süden (Lateinamerika, Indien und Südafrika) . Für eine hilfreiche Diskussion in Bezug auf die U . S .-amerikanische sowie die bundesdeutsche Verfassungsordnung, s . Michaela Hailbronner, Transformative Constitutionalism: Not Only in the Global South, The American Journal of Comparative Law 65 (2017/3), 527–565 . 12 13

Die Verfassung auf den Barrikaden

eine intersubjektive Neubegründung einer republikanischen Ordnung zwischen BürgerInnen ausdehnt .15 Damit skizziert Arendt einen partizipativen Begriff von Recht, der der Ordnung durch zivilen Ungehorsam eine konstitutive Unordnung einschreibt und somit das rechtliche Institutionengefüge politisch dynamisiert . II.

Ziviler Ungehorsam nach Arendt: Verfassungsgerichtsbarkeit der allerletzten Instanz

Hannah Arendt definiert den zivilen Ungehorsam im Kontext der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung in Abgrenzung zur Kriminalität einerseits sowie zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, der conscientious objection, andererseits . Die beiden Hauptmerkmale, die Arendt für den zivilen Ungehorsam ausmacht, sind das ungehorsame Handeln in Gruppen sowie die Gewaltlosigkeit; es lassen sich jedoch mindestens sechs Wesensmerkmale des arendtschen Begriffs identifizieren . (1) Der zivile Ungehorsam nach Arendt ist eine kollektive Angelegenheit; niemand kann ihn allein leisten . Er erfolgt in Gruppen von „organisierten Minderheiten, vereinigt durch eine gemeinsame Meinung“ und ein „gemeinsames Handeln [concerted action]“ .16 (2) Ziviler Ungehorsam verzichtet konsequent auf Gewalt .17 (3) Im Gegensatz zum kriminellen Rechtsbruch bleibt der zivile Ungehorsam als politischer Rechtsbruch explizit auf die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens gerichtet . „Ziviler Ungehorsam entsteht, wenn eine bedeutende Anzahl von BürgerInnen zu der Überzeugung gelangt ist, dass entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen beziehungsweise auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder dass im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft .“18 Arendt zitiert den Vietnam-Krieg, Einschränkungen des Rechts auf Versammlungsfreiheit, die Begrenzung der

Ein transformativer Konstitutionalismus ist in der deutschen Verfassungsgeschichte etwa im Kontext des Lüth-Urteils auszumachen (BVerfGE 7, 198) . Martin Borowski, Die Drittwirkung vor dem Hintergrund der Transformation moralischer Menschenrechte in Grundrechte, in: Menschenrechte in die Zukunft Denken 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (hg . von Hans Jörg Sandkühler), 2009, 109–126 . Zum Begriff der Verfassungskultur, s . Rainer Schmidt, Verfassungskultur und Verfassungssoziologie: Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19 Jahrhundert, 2012 . 16 Arendt (Fn . 6), 56 . 17 Arendt (Fn . 6), 76–77 . 18 Arendt (Fn . 6), 74 . 15

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außenpolitischen Entscheidungsmacht des Senats sowie die rassistische Ungleichbehandlung von afroamerikanischen BürgerInnen .19 Der zivile Ungehorsam kann niemals im Geheimen erfolgen, sondern muss sich dem Licht der Öffentlichkeit aussetzen .20 Fünftens unterscheidet Arendt den zivilen Ungehorsam von dem aus Gewissensgründen begangenen Rechtsbruch, der conscientious objection Im zivilen Ungehorsam stützen sich die Handelnden nicht auf einen moralischen Imperativ, sondern auf politische Begründungen, die keinen Anspruch auf Letztgültigkeit erheben dürfen . Arendt weist hier darauf hin, dass einige der zentralen Persönlichkeiten in der Begriffsgeschichte des zivilen Ungehorsams daher eher als „conscientious objectors“ zu gelten hätten, wie etwa Thoreau und Sokrates .21 Anstatt einer „Philosophie der Subjektivität“, im Namen derer „jedes Individuum für jedweden Grund Ungehorsam leisten könnte“, versucht Arendt einer moralischen Begründung von Ungehorsam gerade auszuweichen .22 Im Gegensatz zur Gewissenshandlung ist der zivile Ungehorsam außerdem nicht auf das Testen der Legitimität eines bestimmten Gesetzes beschränkt, sondern thematisiert die Gründungsprinzipien des politischen Raumes im Allgemeinen . Arendt zitiert den Fall der Freedom Riders, einer Gruppe von AktivistInnen der Bürgerrechtsbewegung, die 1961 bei gemeinsamen Busfahrten von Schwarzen und Weißen nicht nur gegen Rassengesetze, sondern auch gegen Verkehrsregeln Ungehorsam leisteten . Arendt spricht hier von „indirektem Ungehorsam“, bei dem „Gesetze (zum Beispiel Verkehrsregeln) gebrochen werden, welche der Ungehorsam Leistende selbst als unproblematisch erachtet, sie jedoch als Protest gegen ungerechte Anordnungen oder politische Entscheidungen bricht . Solch indirekter Ungehorsam setzt ein Handeln in Gruppen voraus (stellen Sie sich einen einzelnen Menschen vor, der Verkehrsregeln bricht!) und ist berechtigterweise Ungehorsam ‚im engeren Sinne‘ genannt worden .“23

Was den zivilen Ungehorsam laut Arendt also definiert, ist niemals ein moralischer Einwand gegen dieses oder jenes Gesetz, sondern der zu plausibilisierende Bezug auf Verfassungsprinzipien in der Handlung einer Gruppe . Verstanden als politische Handlungsform kann der Ungehorsam damit den „Geist des Gesetzes“ gegen seinen Buchstaben ins Spiel bringen, wie Arendt in Rückgriff auf Montesquieu ausführt . Damit ist Arendts Position gegenüber dem politischen Anti-Rassismus ist von Widersprüchen geprägt und in vielen Punkten sehr kritisch zu bewerten . Vgl . Aziz Rana, The Two Faces of American Freedom, 2011, 20–22 . 20 Arendt (Fn . 6), 75 . 21 Arendt (Fn . 6), 58–68 . 22 Arendt (Fn . 6), 57 . Zu Arendts Kritik an moralphilosophischer Letztbegründung, s . Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten . Rede über Lessing, 1960 . 23 Arendt (Fn . 6), 56 . 19

Die Verfassung auf den Barrikaden

ihr Begriff des zivilen Ungehorsams als immanente Kritik nicht reduzierbar auf ein naturrechtliches, als prä-institutionell gedachtes Recht auf Widerstand, wie etwa bei John Locke .24 In Abgrenzung zu Lockes liberaler Position beruht das Recht auf zivilen Ungehorsam bei Arendt gerade nicht auf einem naturrechtlichen Apriori, sondern stellt selbst eine politische Errungenschaft dar, für die ein „anerkannter Zwischenraum“ innerhalb republikanischer Institutionen gefunden werden müsse .25 Damit unterscheidet sich das Recht auf zivilen Ungehorsam von einem als punktuell zu denkenden Widerstand und bezeichnet stattdessen einen dauerhaften Handlungsmodus, der den Dissens gerade an die dynamische Stabilität des institutionellen Gefüges koppelt . Arendt geht sogar so weit, einen Zusatzartikel für die amerikanische Verfassung vorzuschlagen, der den zivilen Ungehorsam in die republikanische Rechtsordnung mit aufnehmen soll . Aus ihrer Sicht wäre die „Anerkennung des zivilen Ungehorsams im Kreis unserer politischen Institutionen vielleicht das beste Mittel gegen das letztinstanzliche Versagen der Verfassungsgerichtsbarkeit .“26 Arendt ist sich vollkommen bewusst, dass ihre subversive Institutionslehre keineswegs mit der liberalen Idee des Rechtsstaats vereinbar ist, worin dem Recht vor allem eine ordnungsstiftende Funktion zugewiesen ist .27 Daher formuliert sie im letzten Teil ihres Essays die Frage, welches Rechtsdenken ihrer politischen, an Verfassungsprinzipien orientierten Idee von zivilem Ungehorsam noch gerecht werden könnte .28 Der gleichen Denkbewegung ihres Werks On Revolution folgend bezeichnet Arendt hier die Tradition des zivilen Ungehorsams als „ursprünglich und substantiell“ amerikanisch, insofern sie in Abgrenzung zum europäischen Souveränitätsbegriff zu verstehen sei . In der arendtschen Darstellung stehen sich zwei Formen von Recht entgegen: Die Rechtsordnung des europäischen Nationalstaats einerseits, gegründet auf dem Fundament einer absolutistischen Souveränitätsvorstellung, die das Kollektivsubjekt „Volk“ an die Stelle des Monarchen gestellt habe, und die plurale, unabschließbare Rechtsordnung der amerikanischen Republik andererseits, geprägt durch einen revolutionären Gründergeist und eine partizipative Verfassungskultur .29

Vgl . John Locke, Second Treatises of Government, 1689/2003, § 222 . Arendt (Fn . 6), 99 . Arendt (Fn . 6), 101 . Dieser Punkt ist von Robin Celikates in aller Deutlichkeit herausgearbeitet worden, s . ders ., „Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur .“ Subjektive Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt, Rechtsphilosophie Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 3 (2017/1), 31–43 . 28 Arendt (Fn . 6), 83 . 29 Vgl . Andrew Arato u . Jean L . Cohen, Banishing the Sovereign? Internal and External Sovereignty in Arendt, Constellations 16 (2009/2), 307–330 . Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, Arendts Darstellung der amerikanischen Gründungsgeschichte angemessen zu hinterfragen . Dennoch sei angemerkt, dass ihre Erzählung von einer problematischen Einseitigkeit geprägt ist, insofern sie den Genozid an indigenen Völkern und die Bedeutung der Sklaverei nahezu vollständig ausblendet . Mit diesem wichtigen historischen Einwand ist Arendts rechtstheoretische Provokation aber keineswegs abgegolten . 24 25 26 27

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Letztlich geht es im Essay zum zivilen Ungehorsam um das gleiche rechtstheoretische Problem wie bereits in On Revolution: Arendt ist auf der Suche nach einer politischen Lösung für das Paradox des Konstitutionalismus .30 Dieses Paradox besteht darin, dass im Moment der Neugründung von verfasster Ordnung die Legitimität des Gründungsakts selbst niemals im Recht zu begründen ist . Wie es Arendt in Bezug auf den Abbé Sieyès formuliert: „those who get together to constitute a new government are themselves unconstitutional, that is, they have no authority to do what they have set out to achieve .“31 Anstatt dieses Paradox theologisch durch einen Rückgriff auf eine Gründung durch einen Gottes-gleichen Souverän zu überwinden, plädiert Arendt dafür, das Paradox zu vertagen und gerade als unauflösbar ins Zentrum der Verfassungsordnung zu stellen . Die Unmöglichkeit der Letztgründung wird somit nicht, wie bei Carl Schmitt, in eine souveräne Augenblicksentscheidung komprimiert, sondern zeitlich gestreckt und in die Zukunft getrieben .32 Das Gründungsparadox wird dadurch gerade nicht aufgelöst, sondern zur politischen Triebfeder umgedeutet, insofern es, vom monistischen Schöpfungsakt befreit, in eine Kette unaufhörlicher Alltagsgründungen eingespannt werden kann . Die Pluralität von Immer-Wieder-Neugründungen, wie Arendt sie in der amerikanischen Verfassungsgeschichte, aber auch in der Geschichte revolutionärer Rätebewegungen erkennt, legitimiert die verfasste Ordnung nicht länger im monistischen Willen des Souveräns, sondern stellt den Begriff des Versprechens in den Mittelpunkt .33 Die Gründung einer Republik ist ein Versprechen: eine horizontale Abmachung zwischen BürgerInnen, nicht etwa eine Intervention des „Volkes“ als imaginiertes Kollektivsubjekt – aber zugleich, und hierin liegt die doppelte Bedeutung eines Versprechens – ein auf die Zukunft gerichtetes, stets riskantes Unterfangen . Versprechen bedeuten Verletzlichkeit und Angewiesensein; sie können gebrochen werden und sind nur in der Zukunft einzulösen . Für Arendt ist die „anhaltende Beteiligung an allen Fragen des öffentlichen Interesses“ das Versprechen der amerikanischen Republik, ihr Gründungsprinzip .34 Eine republikanische Rechtsordnung verbindet also Stabilität und Dynamik insofern, als dass sie die Sprengkraft einer revolutionären Gründung zu ihrem aporetischen Ordnungsprinzip erklärt und sie gerade dadurch verstetigt . In einem Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft wird die Gründung von Ordnung zur

Martin Loughlin u . Neil Walker (Hg .), The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form, 2008 . 31 Hannah Arendt, On Revolution, 1965, 184 . 32 Vgl . Carl Schmitt, Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922/2015 . Zur Verortung von Arendts Rechtstheorie in Bezug auf Carl Schmitt s . William E . Scheuerman, Revolution and Constitutions: Hannah Arendt’s Challenge to Carl Schmitt, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 10 (1997/1), 141–162 sowie Andreas Kalyvas, From the Act to the Decision: Hannah Arendt and the Question of Decisionism, Political Theory 32 (2004/3), 320–346 . 33 Vgl . Arendt (Fn . 29), 170–177 sowie Arendt (Fn . 6), 92 . 34 Arendt (Fn . 6), 85 . 30

Die Verfassung auf den Barrikaden

unendlichen Aufgabe, die jedoch die zukunftsoffene Aktualisierung eines Verfassungsprinzips immer zugleich an die kollektive Erinnerung einer historischen Gründung zurückkoppelt, d . h . an das revolutionäre Ereignis ihres Anfangs, des principium . Eine revolutionäre Vergangenheit, die den politischen Raum symbolisch konstituiert, in einer Verfassungskultur nachwirkt und letztlich die aktualisierende Wiederaufnahme des Gründungsmoments in der Gegenwart erst ermöglicht, markiert für Arendt somit die ‚quasi-transzendentale‘ Möglichkeitsbedingung ihres Rechtsbegriffs . Der zivile Ungehorsam bedeutet im Sinne des arendtschen Republikansimus also nicht nur einen Rechtsbruch, sondern entspricht einer zwischenbürgerlichen Handlung im Geiste eines Verfassungsprinzips, welche die ursprüngliche Legitimierung republikanischer Institutionen weitertreibt, erneuernd und stabilisierend zugleich und damit radikal vom Modell des liberalen Rechtstaats unterschieden . Der Gründungsakt als Versprechen kann die verfasste Ordnung niemals abschließend legitimieren, sondern bleibt auf den Zufluss neuer Legitimationshandlungen durch Ungehorsam angewiesen . Für Arendt wird damit der zivile Ungehorsam selbst zur Institution der verfassten Republik und zum Ausdruck einer unabschließbaren Spirale revolutionärer Gründung . III.

„Volkskonstitutionalismus“ nach Larry Kramer: Ziviler Ungehorsam als Wiederkehr der verfassungsgebenden Gewalt

Arendts Plädoyer für den zivilen Ungehorsam ist also nicht nur eine Verteidigung des Widerstandsrechts in Notlagen, sondern pocht auf seine Stellung als partizipative Verfassungsgerichtsbarkeit . Ihr Vorschlag ähnelt hierin dem in amerikanischen Debatten vertretenen „popular constitutionalism“ . Dieser u . a . von Larry Kramer und Mark Tushnet vertretene „Volkskonstitutionalismus“ betont die Rolle, die einer bürgerschaftlichen Beteiligung an Verfassungsinterpretation jenseits von Gerichtsentscheidungen zukommen könne .35 Der Volkskonstitutionalismus will das Verfassungsrecht demokratisieren und greift, wie Arendt, auf das Vorbild der ersten Jahre der amerikanischen Republik zurück, um eine basisdemokratische Beteiligung an Verfassungsgerichtsbarkeit zu plausibilisieren . In Kramers Formulierung richtet sich der Volkskonstitutionalismus gegen die Annahme eines Rechtsstaatsbegriffs, für den „nicht nur irgendjemand eine letztgültige Autorität haben müsse, routinemäßig Verfassungskonflikte zu lösen, sondern dass dieser ‚Jemand‘ zwangsläufig ein Regierungsorgan sein müsse . […] [Doch] die Annahme, dass finale Deutungsmacht bei einer der staatlichen Gewalten zu liegen habe, gehört zur Kultur des einfachen Rechts, nicht jedoch zu der des Volkskonstitutionalismus . […] Daher hatten Madison, Jefferson und ihre Unterstüt-

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Vgl . Mark Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, 1999 .

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zer keinerlei Probleme, zu erklären, wie Verfassungskonflikte zu lösen seien: Sie würden vom Volk entschieden werden .“36 Der Volkskonstitutionalismus bricht also mit der Tradition souveräner Staatlichkeit, insofern keine staatliche Gewalt mehr Organsouveränität in verfassungsrechtlichen Entscheidungen gegenüber anderen Institutionen des staatlichen Verbandes beanspruchen kann .37 Zugleich bleibt er jedoch einem starken Begriff der Volkssouveränität verhaftet: Der Volkskonstitutionalismus intendiert eine Verfassungskultur, geprägt von Versammlungen, Petitionen und anderen Formen zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, die in der Lage wäre, den „Volkswillen“ soweit abzubilden, dass hieraus eine bindende verfassungsrechtliche Entscheidung abzulesen wäre . Kramers historische Darstellung zeigt, dass in der Verfassungskultur der frühen Vereinigten Staaten Politik und Recht nicht in zwei voneinander getrennte Sphären gegliedert waren . Die Auslegung der Verfassung prägte das öffentliche Leben der frühen Republik und half, einen Gemeinschaftssinn zu generieren, der den Zusammenhalt einer pluralen Gesellschaft (zumindest prinzipiell) im Verfassungsgeist und nicht etwa in einer ethnisch-kulturellen Volkszugehörigkeit gründete . Kramer bietet eindrucksvolles Anschauungsmaterial für die Möglichkeit basisdemokratischer Verfassungsinterpretation, der es gelingen kann, als fehlerhaft angesehene Entscheidungen der Judikative umzustürzen, ohne deshalb die Legitimation republikanischer Institutionen in Frage zu stellen . Obgleich Kramer (wie Arendt) der historischen Realität von Sklaverei und Genozid kaum Beachtung schenkt, ist die Überzeugungskraft seines Fallbeispiels für „popular judicial review“ in den frühen USA nicht von der Hand zu weisen . Im Gegensatz zum Populismus, der sich stets auf einen monistischen „Volkswillen“ beruft, geht es dem Volkskonstitutionalismus zudem darum, das Volk nicht als außerhalb institutioneller Vermittlung vorzustellen, sondern zu zeigen, dass eine Beteiligung an Verfassungsrecht nicht auf ein institutionszersetzendes Chaos oder eine potentiell autoritäre „Volks“-Idee hinauslaufen muss . Wie Kramer deutlich macht, ist eine Form von Staatlichkeit denkbar, in der die Unentscheidbarkeit zwischen konkurrierenden Verfassungsinterpretationen auch ohne ein oberstes Verfassungsgericht durch eine demokratische Verfassungskultur vermittelt würde . Diese Verfassungskultur würde staatliche Akteure zur Berücksichtigung öffentlicher Versammlungen verpflichten und somit Straßendemonstrationen zumindest symbolisch als Verfassungsgerichtsbarkeit in das Gefüge republikanischer Institutionen integrieren: „The people-out-of-doors“ habe das letzte Wort, wie es Kramer in Rückgriff auf den Sprachgebrauch des frühen 19 . Jahrhunderts formuliert .38 Larry Alexander und Lawrence B . Solum haben Kramers Volkskonstitutionalismus mit scharfen Worten abgelehnt: Sein theoretischer Vorschlag sei „so unattraktiv wie 36 37 38

Kramer (Fn . 12), 107 . Arato u . Cohen (Fn . 27), 143 . Kramer (Fn . 12), 35 .

Die Verfassung auf den Barrikaden

Verfassungstheorie überhaupt nur sein“ könne .39 Ein Hauptkritikpunkt gegenüber Kramers Position besteht darin, die Schwächung von staatlicher Verfassungsgerichtsbarkeit als ein populistisches Experiment anzusehen, in dem der Rechtsstaat einer Existenzkrise ausgesetzt werden würde . Gerichte seien im Volkskonstitutionalismus nicht länger in der Lage, Schutzrechte unabhängig von öffentlicher Meinung (und Meinungsmache) zu garantieren . Damit sei es nur ein kleiner Schritt vom Loblied der Verfassung zum Absturz in die Rechtlosigkeit . Ohne Zweifel müssen diese Einwände insbesondere im Lichte der Erfahrung deutscher Unrechtsgeschichte mit größter Ernsthaftigkeit beantwortet werden; auch der arendtsche Rechtsbegriff versucht ihnen Rechnung zu tragen . Denn obgleich Arendt genauso wie Kramer eine zentrale Rolle für basisdemokratische, außergerichtliche Verfassungsinterpretationen vorsieht, so unterscheidet sich ihre Position in mindestens zwei wichtigen Punkten vom popular constitutionalism . Während Kramer die Intervention von BürgerInnen in den Prozess von Verfassungerichtsbarkeit als einen Rückgriff auf eine ursprüngliche, in letzter Instanz nicht zu institutionalisierende Souveränität des Volkes vorsieht (d . h . gewissermaßen als die Wiederkehr der verfassungsgebenden Gewalt in der verfassten Ordnung), so bricht Arendt radikal mit dem Begriff der Volkssouveränität . Für Arendt erfolgt die Beteiligung an Verfassungsgerichtsbarkeit im zivilen Ungehorsam zwar zunächst außerhalb staatlicher Organe; sie ist deshalb aber nicht zwangsläufig von rechtlichen Grenzen losgelöst . Anstatt einer ursprünglichen verfassungsgebenden Volkssouveränität wie bei Kramer erscheint der zivile Ungehorsam bei Arendt in der Gestalt einer Wiederaufnahme bestehender Prinzipien . Hierdurch kann eine Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Rechtsbrüchen im zivilen Ungehorsam getroffen werden, die Kramers prä-institutionelle Version des souveränen „Volkswillens“ letztlich nicht erlaubt . Für Arendt muss der zivile Ungehorsam von dem, was Kramer als „constitutional mob action“40 bezeichnet, abgegrenzt werden, um trotz der radikalen Dynamisierung der Verfassungsordnung zugleich Rechtssicherheit zu bewahren . Ziviler Ungehorsam muss nach Arendt eine dem Urteil der Öffentlichkeit ausgesetzte Interpretation von Verfassungsprinzipien plausibel vortragen können und bleibt insofern von „offener Rebellion“ gegen die Verfassungsordnung als solcher unterschieden .41 Diese Unterscheidung ist im Volkskonstitutionalismus weitaus schwieriger zu treffen und so riskiert Kramer das Abgleiten ins populistische Begriffsregister . Der entscheidende Einwand gegen die liberalen Kritiker, die Kramer und Arendt einen politisch umkämpften, d . h . aus Sicht der Kritiker nicht länger rechtsstaatlichen Verfassungsrechtsbegriff vorwerfen, liegt jedoch darin, dass die Verteidigung sogeLarry Alexander u . Lawrence B . Solum, Popular? Constitutionalism?, Harvard Law Review 18 (2005/5), 1594–1640 (1640) . 40 Kramer (Fn . 12), 27 . 41 Arendt (Fn . 6), 92 . 39

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nannter „unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit“ allein nicht in der Lage sein kann, demokratische Institutionen in Krisenzeiten zu schützen . Wie die von Arendt zum Anlass genommene Entscheidung Massachusetts v Laird sowie die aktuelle Debatte um die von Präsident Trump benannten Obersten Richter deutlich machen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein auf Experten und Gerichte reduzierter Prozess von Verfassungsinterpretation für die Stabilität einer demokratischen Rechtsordnung allein Sorge tragen kann . Während die Abgrenzung des Verfassungsgerichts von öffentlicher Meinung zunächst als eine Absicherung des Rechtsrahmens erscheinen mag, besteht hierin für Arendt aber gerade eine Entfremdung des Rechts von seinem revolutionären Ursprung, des „Buchstabens“ von seinem „Geist“ . Dabei stuft Arendt das Risiko, dass bei der Abtrennung von Verfassungsinterpretation von bürgerschaftlicher Beteiligung weite Teile der Bevölkerung in Passivität verfallen und damit der Krise demokratischer Institutionen erst recht Vorschub geleistet würde, als deutlich größer ein, als das einer republikanischen Verfassungskultur des zivilen Ungehorsams . Im Gegensatz sowohl zum Rechtsstaatsdenken, als auch zum Volkskonstitutionalismus soll es laut Arendt aber nicht nur die Aufgabe der BürgerInnen sein, in Krisenzeiten durch Ungehorsam zum Schutz der Verfassungsordnung einzugreifen (wie klassisch im Widerstandsrecht in der Tradition liberaler Rechtsphilosophie), sondern dauerhaft, durch beständige Wiederaufnahme des revolutionären Gründungsimpulses die Prinzipien der Verfassungsordnung in eine gesamtgesellschaftliche Verfassungskultur zu tragen . Insofern die Prinzipien einer republikanischen Ordnung revolutionären Ursprungs sind, so bedeutet ihre Verteidigung niemals lediglich einen Akt von Normenkontrolle durch den Souverän wie bei Kramer, sondern auch stets ein revolutionäres Handeln, das über den Rahmen der bestehenden Verfasstheit hinausschießt und sie paradoxerweise gerade dadurch stabilisiert . Das dynamische Moment des arendtschen „Republikanismus des Dissenses“ liegt in der unabschließbaren Neuinterpretation der revolutionären Gründung, die als Bedingung der Möglichkeit von Ordnung der Verfassung eingeschrieben bleibt, sie zugleich aber als Bedingung der Unmöglichkeit von Ordnung erschüttert und radikal öffnet .42 Es ist dieses mit Risiko behaftete Handlungsprinzip, das jeden Versuch einer philosophischen Letztbegründung von Recht politisch untergräbt und gerade darum den von Souveränität unterschiedenen, revolutionären Geist der amerikanischen Verfassungsordnung ausmacht .

Christian Volk, Zwischen Entpolitisierung und Radikalisierung – zur Theorie von Demokratie und Politik in Zeiten des Widerstands, Politische Vierteljahresschrift 54 (2013/1), 75–110 . 42

Die Verfassung auf den Barrikaden

Fazit: Verfassung und Revolution

Arendts Hinweis, dass eine demokratische Rechtsordnung im Falle einer Bedrohung durch verfassungsfeindliche Handlungen von staatlichen Organen letztlich auf die Verteidigung durch soziale Bewegungen angewiesen ist, sollte heute wieder als Aufruf zu einem Neudenken rechtstheoretischer Begriffe verstanden werden . Mit dieser Einsicht liegt Arendt nahe bei den Überlegungen von Christoph Menke, der unter dem Begriff der „Gegenrechte“ den Entwurf einer Alternative zum positivistischen Verständnis von subjektiven Rechten in der liberalen Rechtsphilosophie vorgelegt hat .43 Ein solches „neues Recht“ verstünde sich nicht länger nur als negativ ordnender Schutzrahmen einer prä-existenten, als passiv vorgestellten Gesellschaft, sondern bejaht die politische Transformationskraft einer in Revolution gegründeten Ordnung . „Das neue Recht greift ein in das, was es berechtigt; die Gegenrechte verändern, indem sie berücksichtigen .“44 Mit Menke kann daher gesagt werden, dass Arendts Vorschlag der Institutionalisierung des zivilen Ungehorsams einen neuen Begriff rechtlicher Ordnung hervorbringt: die Provokation einer „nichtordnenden Ordnung“,45 „der die ‚Insurrektion‘ gegen die Ordnung in der Form eines (Menschen-)Rechts [als Gründungsprinzip] eingeschrieben ist .“46 Im Gegensatz zum popular constitutionalism bei Larry Kramer gründet Arendts Vision des zivilen Ungehorsams als Verfassungsgerichtsbarkeit nicht länger im Diskurs der Volkssouveränität oder in einem naturrechtlich abgesicherten Recht auf Widerstand, sondern versucht stattdessen, ein Handeln „ohne Geländer“ in den Mittelpunkt einer politisch immer wieder neu zu generierenden Ordnung zu stellen .47 Der Vertrauensverlust gegenüber weithin als fehlerhaft angesehenen richterlichen Entscheidungen muss daher nicht zwangsläufig eine Existenzkrise für republikanische Institutionen bedeuten . Im Gegenteil: Der Autoritätsverlust der Judikative kann ein ungehorsames Handeln hervorrufen, das im aktualisierenden Rückgriff auf den revolutionären Geist der Verfassungsgründung in der Lage ist, die Rechtsordnung gerade durch Dissens dynamisch zu stabilisieren . Indem das arendtsche Rechtsdenken das Wagnis des Politischen eingeht, könnte es eine mögliche Antwort auf die Krise demokratischer Rechtsordnungen bieten, jenseits entpolitisierter Institutionenmüdigkeit und rechtspopulistischer Massenbewegungen . Dabei öffnet Arendts Begriff des zivilen Ungehor-

Christoph Menke, Kritik der Rechte, 2018, hier 391–401 . AaO ., 406 . AaO ., 391 . AaO ., 392 . „You said „groundless thinking .“ I have a metaphor which is not quite that cruel, and which I never published but kept for myself . I call it thinking without a banister . In German, „Denken ohne Geländer .“ That is, as you go up and down the stairs you can always hold on to the banister so that you don’t fall down . But we have lost this banister . That is the way I tell it to myself . And this is indeed what I try to do .“, Arendt, Thinking Without a Banister: Essays in Understanding, 1953–1975, 2018, 473 . 43 44 45 46 47

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sams zugleich neue Perspektiven für die Rechtstheorie – hin zu einer Verfassungskultur, die das Handeln von sozialen Bewegungen gerade nicht als Symptom einer institutionellen Krise, sondern als Zeichen einer explizit politischen Stabilität deutet und sich somit dem Wagnis einer offenen Zukunft zu stellen vermag .

AutorInnen und HerausgeberInnen

Dr . Markus Abraham Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Hamburg markus .abraham@uni-hamburg .de Franziska Bantlin Wissenschaftliche Mitarbeiterin Albert-Ludwigs-Universität Freiburg franziska .bantlin@jura .uni-freiburg .de Franziska Brachthäuser, LL . M . Rechtsreferendarin Kammergericht Berlin franziska .brachthaeuser@gmail .com Dr . Johannes Buchheim, LL . M . Wissenschaftlicher Mitarbeiter Humboldt-Universität zu Berlin jbuchheim@bundesverfassungsgericht .de Rodrigo Garcia Cadore, LL . M . Wissenschaftlicher Mitarbeiter Albert-Ludwigs-Universität Freiburg rodrigo .cadore@jura .uni-freiburg .de Silvia Donzelli Humboldt-Universität zu Berlin silvia_donzelli@yahoo .com

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AutorInnen und HerausgeberInnen

Jakob Christian Faig Rechtsreferendar Kammergericht Berlin jakob .faig@googlemail .com David Freudenberg Wissenschaftlicher Mitarbeiter Albert-Ludwigs-Universität Freiburg david .freudenberg@jura .uni-freiburg .de Ruwen Fritsche Wissenschaftlicher Mitarbeiter Georg-August-Universität Göttingen ruwen .fritsche@jura .uni-goettingen .de Dr . Philipp Gisbertz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Georg-August-Universität Göttingen philipp .gisbertz@jura .uni-goettingen .de Dr . Jonas Heller Wissenschaftlicher Mitarbeiter Exzellenzcluster Normative Orders, Goethe-Universität Frankfurt a . M . jonas .heller@normativeorders .net Dr . Philipp-Alexander Hirsch Wissenschaftlicher Mitarbeiter Georg-August-Universität Göttingen philipp-alexander .hirsch@jura .uni-goettingen .de Dr . Jannis Lennartz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Humboldt-Universität zu Berlin jannis .lennartz@rewi .hu-berlin .de Dr . Wulf Loh PostDoc Researcher Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Eberhard-Karls-Universität Tübingen wulf .loh@izew .uni-tuebingen .de

AutorInnen und HerausgeberInnen

Vera Moser Wissenschaftliche Assistentin Universität Bern vera .moser@krim .unibe .ch Angela Müller Doktorandin Universität Zürich angela .mueller@rwi .uzh .ch Sabine Klostermann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sabine .klostermann@jura .uni-freiburg .de Dr . David Kuch Akademischer Rat a . Z . Julius-Maximilians-Universität Würzburg david .kuch@jura .uni-wuerzburg .de Niklas Plätzer Doktorand Department of Political Science, University of Chicago nplaetzer@uchicago .edu Pedro Henrique Ribeiro, LL . M . Doktorand Goethe-Universität Frankfurt a . M . pedro .ribeiro@udem .edu Tobias Schottdorf Wissenschaftlicher Mitarbeiter Leuphana Universität Lüneburg tobias .schottdorf@leuphana .de Maximilian Schulz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Georg-August-Universität Göttingen maximilian .schulz@stud .uni-goettingen .de

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Judith Sikora Wissenschaftliche Mitarbeiterin Philipps-Universität Marburg judith .sikora@jura Dr . Pascal Söpper Rechtsanwalt Atsumi Sakai Janssen Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Tokio pascal .soepper@asj-law .jp Marion Stahl Doktorandin Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt stahl .m@mail .de PD Dr . Alexander Stöhr Dozent für Arbeits- und Wirtschaftsrecht Europäische Akademie der Arbeit, Goethe-Universität Frankfurt stoehr@eada .uni-frankfurt .de PD Dr . Chris Thomale, LL . M . Akademischer Rat Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg thomale@ipr .uni-heidelberg .de Dr . Stephan Wagner Akademischer Rat Westfälische Wilhelms-Universität Münster stephan .wagner@uni-muenster .de Laura Lorena Wallenfels Wissenschaftliche Mitarbeiterin Albert-Ludwigs-Universität Freiburg laura .wallenfels@jura .uni-freiburg .de

a rc h i v f ü r r e c h t s - u n d s o z i a l p h i l o s o p h i e



beihefte

Herausgeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie (IVR). Die Bände 1–4 sind im Luchterhand­Fachverlag erschienen.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–079x

141. Axel Tschentscher / Caroline Lehner / Matthias Mahlmann / Anne Kühler (Hg.) Soziale Gerechtigkeit heute Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie, 7. Juni 2013, Universität Bern 2015. 139 S., kt. ISBN 978­3­515­10907­9 142. Daniela Demko / Kurt Seelmann / Paolo Becchi (Hg.) Würde und Autonomie Fachtagung der Schweizerischen Vereini­ gung für Rechts­ und Sozialphilosophie, 24.–25. April 2013, Landgut Castelen, Augst 2015. 216 S., kt. ISBN 978­3­515­10949­9 143. Jean­Christophe Merle / Alexandre T. G. Trivisonno (Hg.) Kant’s Theory of Law Proceedings of the Special Workshop “Kant’s Concept of Law” held at the 26th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Belo Horizonte, 2013 2015. 138 S., kt. ISBN 978­3­515­11037­2 144. Júlio Aguiar de Oliveira / Stanley L. Paul­ son / Alexandre T. G. Trivisonno (Hg.) Alexy’s Theory of Law Proceedings of the Special Workshop “Alexy’s Theory of Law” held at the 26th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Belo Horizonte, 2013 2015. 187 S., kt. ISBN 978­3­515­11043­3 145. Annette Brockmöller / Stephan Kirste / Ulfrid Neumann (Hg.) Wert und Wahrheit in der Rechtswissenschaft 2015. 113 S., kt. ISBN 978­3­515­11053­2 146. Marcelo Campos Galuppo / MÔnica Sette Lopes / Karine Salgado / Thomas Busta­ mante / Lucas Gontijo (Hg.)

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Human Rights, Rule of Law and the Contemporary Social Challenges in Complex Societies Proceedings of the 26th World Congress of the International Association for Philo­ sophy of Law and Social Philosophy in Belo Horizonte, 2013 2015. 155 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978­3­515­11130­0 Paul Tiedemann (Hg.) Right to Identity Proceedings of the Special Workshop “Right to Identity” held at the 27th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philo­ sophy in Washington DC, 2015 2016. 185 S., kt. ISBN 978­3­515­11244­4 Hajime Yoshino / Andrés Santacoloma Santacoloma / Gonzalo Villa Rosas (Hg.) Truth and Objectivity in Law and Morals Proceedings of the Special Workshop Held at the 26th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Belo Horizonte, 2013 2016. 158 S., kt. ISBN 978­3­515­11260­4 Alain Papaux / Simone Zurbuchen (Hg.) Philosophy, Law and Environmental Crisis / Philosophie, droit et crise environnementale Workshop of the Swiss Society for Philosophy of Law and Social Philosophy, September 12–13, 2014, Swiss Institute of Comparative Law, Lausanne / Congrès de l’Association Suisse de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, 12–13 septembre 2014 2016. 153 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978­3­515­11387­8 Markus Abraham / Till Zimmermann / Sabrina Zucca­Soest (Hg.) Vorbedingungen des Rechts Tagungen des Jungen Forums Rechts­

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philosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts­ und Sozial­ philosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg 2016. 231 S., kt. ISBN 978­3­515­11389­2 André Ferreira Leite de Paula / Andrés Santacoloma Santacoloma / Gonzalo Villa Rosas (Hg.) Truth and Objectivity in Law and Morals II Proceedings of the Second Special Work­ shop held at the 27th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Washington D.C., 2015 2016. 210 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978­3­515­11484­4 Kosuke Nasu (Hg.) Insights about the Nature of Law from History The 11th Kobe Lecture, 2014 2017. 146 S., kt. ISBN 978­3­515­11570­4 Jochen Bung / Armin Engländer (Hg.) Souveränität, Transstaatlichkeit und Weltverfassung Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau 2017. 133 S., kt. ISBN 978­3­515­11620­6 Bénédict Winiger / Matthias Mahlmann / Sophie Clément / Anne Kühler (Hg.) La propriété et ses limites / Das Eigentum und seine Grenzen Congrès de l’Association Suisse de Philo­ sophie du Droit et de Philosophie Sociale, 26 septembre 2015, Université de Genève / Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie, 26. September 2015, Universität Genf 2017. 274 S., kt. ISBN 978­3­515­11688­6 Gralf­Peter Calliess / Lorenz Kähler (Hg.) Theorien im Recht – Theorien über das Recht Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen 2018. 224 S., kt. ISBN 978­3­515­12102­6 Dennis­Kenji Kipker / Matthias Kopp / Peter Wiersbinski / Jan­Christoph

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Marschelke / Falk Hamann / Martin Weichold (Hg.) Der normative Druck des Faktischen: Technologische Herausforderungen des Rechts und seine Fundierung in sozialer Praxis Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilo­ sophie (JFR) in der Internationalen Verei­ nigung für Rechts­ und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen und im September 2017 in Regensburg 2019. 261 S., geb. ISBN 978­3­515­12196­5 Miguel Nogueira de Brito / Rachel Herdy / Giovanni Damele / Pedro Moniz Lopes / Jorge Silva Sampaio (Hg.) The Role of Legal Argumentation and Human Dignity in Constitutional Courts Proceedings of the Special Workshops Held at the 28th World Congress of the Interna­ tional Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Lisbon, 2017 2019. 239 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978­3­515­12235­1 André Ferreira Leite de Paula / Andrés Santacoloma Santacoloma Law and Morals Proceedings of the Special Workshop held at the 28th World Congress of the Interna­ tional Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Lisbon, Portugal, 2017 2019. 377 S., geb. ISBN 978­3­515­12278­8 Daniel Kipfer / Anne Kühler (Hg.) Justizberichterstattung in der direkten Demokratie Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts­ und Sozialphilosophie vom 22.–23. Juni 2017 in Bellinzona 2019. 170S., geb. ISBN 978­3­515­12368­6 Joshua Kassner /Colin Starger (Hg.) The Value and Purpose of Law Essays in Honor of M. N. S. Sellers 2019. 262 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978­3­515­12460­7 Hirohide Takikawa (Hg.) The Rule of Law and Democracy The 12th Kobe Lecture and the 1st IVR Japan International Conference, Kyoto, July 2018 2020. 229 S. mit 3 Abb., geb. ISBN 978­3­515­12482­9

Im Umgang des Rechts mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer freiheitlichen Gesellschaft ergeben sich Unsicherheiten: In Zeiten politischer, sozialer und wirtschaftlicher Krisen wird im Namen der Sicherheit immer häufiger in Freiheitsrechte eingegriffen und rechtsstaatliche Prinzipien werden neu verhandelt. Häufig wird angeführt, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie könnten erst durch Sicherheit bewahrt und bewehrt werden. Doch ist dem wirklich so? Wie verhalten sich „Freiheit“ und „Sicherheit“? Und wie sollte das Recht dieses Verhältnis steuern? Aber auch das Recht selbst schafft Unsicherheiten. Indem sie Teil jeder Rechtsgewinnung sind, scheint dem Recht die Anfälligkeit für ‚Fehler‘ angeboren. Das Nachdenken über Fehler und Irrtümer in Recht und Rechtswissenschaft ist etabliert, zu oft aber disziplinär separiert. Daher gilt es, ein gemeinsames Forum intra- und interdisziplinären Lernens zu schaffen, um die verschiedenen Dimensionen des Phänomens freizulegen: Wie geht das Recht und wie gehen die Rechtswissenschaften mit Rechtsfehlern um?

ISBN 978-3-515-12561-1