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German Pages 990 [992] Year 2023
Irina Kößlinger (Un)heile Körper im altnordischen Baldermythos
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold
Band 133
Irina Kößlinger
(Un)heile Körper im altnordischen Baldermythos Vergleichende Studien zum magischen Embodiment in Mythos und Kult
ISBN 978-3-11-078901-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078914-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078918-8 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2022942275 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
„Hinter allen abgezognen bedeutungen des worts liegt eine sinnliche und anschauliche auf dem grund, die bei seiner findung die erste und ursprüngliche war. es ist sein leiblicher bestandtheil, oft geistig überdeckt, erstreckt und verflüchtigt, alle worterklärung, wenn sie gedeihen soll, musz ihn ermitteln und entfalten.“ Jacob und Wilhelm Grimm
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2019/2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Freilich, genau genommen, kennt dieses Buch überhaupt nichts anderes als Überarbeitung, work in process vom Titel bis zur letzten Druckfahne, wie ein gigantischer lebender Organismus, der wächst und gedeiht und sich verändert: das Paradebeispiel einer Derrida’schen dissémination, eines postmodernen fluxus quo. Ja, mitunter beschlich mich der (in Endphasen von Dissertationen offenbar gar nicht so seltene) paranoide Verdacht, Ernst Cassirer selbst habe, in prophetischer Voraussicht, diese Arbeit im Sinn gehabt, als er das unstete Wesen menschlicher Wirklichkeitserfassung beschrieb: „Immer wieder erweisen sich die Konstanten unserer Erfahrung als nur relative Konstanten, die wiederum des Haltes und der Begründung in einem anderen, Festeren bedürfen. So sind die Grenzen des ,Objektiven‘ gegen das bloß ,Subjektive‘ nicht von Anfang an unverrückbar bestimmt, sondern sie bilden und bestimmen sich selbst erst im fortschreitenden Prozeß der Erfahrung und ihrer theoretischen Grundlegung. Es ist eine ständig erneute Arbeit des Geistes, kraft deren sich der Umriß dessen, was wir das objektive Sein nennen, stetig verschiebt, um sich in veränderter und erneuter Gestalt wiederherzustellen (Cassirer 2010, S. 38).“ Dieses unablässige Verrücken von vorgeblich Unverrückbarem mag ein Stück weit einer, wenn man so will, natürlichen (zumindest häufig unterstellten) Tendenz der religionswissenschaftlichen Komparatistik zur Grenzüberschreitung geschuldet sein, insbesondere aber meiner eigenen Abneigung gegen ,letzte Gedanken‘ jeder Art, temporaler, lokaler, kultureller, nicht zuletzt disziplinärer – kurz, gegen die Tellerränder dieser Welt. Deshalb wildert diese Arbeit in vielen Jagdgründen, in vielen Kulturen, Mythologien, Disziplinen, oder, um dieses etwas rohe Bild der Nahrungsbeschaffung etwas zu kultivieren, hält reiche Ernte auf vielen Feldern. „Balder ist ein geduldiger Gott.“ Mit diesem Satz beginnt vorliegende Untersuchung. Es ist gleichzeitig der allererste Satz meiner ersten verfassten Seminararbeit am Institut für Nordistik in München, wo ich vor über einem Jahrzehnt wie Embla, die primordiale Holzfrau der altnordischen Kosmologie, angeschwemmt wurde und mir zum ersten Mal norröner Geist und Leben eingehaucht wurde. Kaum konnte damals jemand ahnen, wohl am wenigsten die Holzfrau selbst, dass von da an tatsächlich Geduld von mythischem Ausmaß zum Motto meines Arbeitens und Lebens werden sollte – freilich im Lauf der Jahre mehr und mehr mit dem Wunsch verbunden, nicht nur der Gott Balder möge sich diese auch bewahren. Dank gilt entsprechend allen, die mich auf meinem Weg mit Balder begleitet haben, sei es ein Stück weit oder bis zum Schluss, den Geduldigen wie den Ungeduldigen, den Wackeren wie den Erschöpften, meinen Münchner Mitstreiter/inne/n oder besser Weggefährt/inn/en, die nicht nur die zeitlichen Entgrenzungen meiner Vorträge in München und Ohlstadt stets geduldig, aufmerksam und mit beachtlichem
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VIII
Vorwort
Durchhaltevermögen zu nehmen wussten. So mancher Gedanke konnte erst durch euch und mit euch gedacht werden. Dank gilt meinen (hoffentlich nicht nur geduldigen) Zweit- und Drittgutachtern Professor Matthias Teichert (Göttingen) und Professor Klaus Böldl (Kiel), zwei ausgewiesenen Mythos-Spezialisten, von denen ich nur lernen konnte. Dank gebührt meiner Nebenfachprüferin Frau Professor Daria Pezzoli-Olgiati, Ordinaria der Religionswissenschaft in München, für die anregenden Gespräche in einer Forschungsdisziplin, der ich keineswegs nebensächlich, sondern am längsten und treuesten verbunden bin. Für ihre (nahezu) baldereske Geduld habe ich schließlich nicht nur den Mitarbeiter/inne/n des De Gruyter-Verlages zu danken, sondern im Besonderen meinem Betreuer Professor Wilhelm Heizmann (München), der mit viel Augenmaß auch meine eher ausgefalleneren Ideen mittrug oder einschränkte und mir nicht nur in fachlichen Fragen über viele Jahre ein kompetenter und kluger Ratgeber war. Vielleicht am meisten Geduld haben meine fünf Kinder aufgebracht, die ihre halbe (katholische!) Kindheit mit dem Gott Balder und dem eurasischen Götterpantheon verbrachten. Ihnen gilt an dieser Stelle mein aufrichtigster und tiefster Dank. Nives, Nelly, Lilian, Luis, Mavie, euch sei dieses Buch zugeeignet. Friesenried, im Dezember 2022
Inhalt
Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
1
Methodische Vorüberlegungen 11 . Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“ 11 . 24 „In Comparison a Magic Dwells“ 30 . Die ,neue‘ Komparatistik . „Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“ 39 50 . Mythopoiesis . Die Metapher als bedeutungsgebendes Konzept 56 Körperkonzepte als transkulturelle Grundlage kognitiver Prozesse . . Der Körper als Container – Der bewegte Körper im Raum 67 . Metonymie/Prototypen 69 71 . Die CAUSATION-Kategorie . Decoupling systems 76 76 .. Entkoppeltes Denken: Wahrheit bis auf Weiteres 81 .. Entkoppeltes Handeln: „This is play“ .. Entkoppeltes Fühlen: Das Lachen oder die „Anästhesie des 89 Herzens“ Der Glanz des mythischen Körpers 95 95 . Der weiße Balder . Balder der Gute 98 100 Der Erntegott . . Der ‚schöneʻ Heimdallr 105 . 119 Der Schlangenblick . Walvaters Pfand und Heimdallrs Ohr . Heimdallr Brisingr 130
125
170 Der Glanz des mythischen Ortes . Fosetesland – Ódáinsakr – Glæsisvellir 170 . Glastonbury – Avalon 179 Indogermanische Jenseitswelten 193 . . Die Reise des Gilgamesch 206 . Breiðablik – Bredebliche – Heorot 208 . Bleiche Blumen: Bleikir akrar ok slegin tún 214 Balder muss sterben 223 . Balders Träume 223 . Das Thingereignis 230 . Ochsenköpfe 236
61
X
. . .
Inhalt
Loopholes 242 Die Strafe der Steinigung De mortuis nihil nisi bene
248 257
Freyr-Gestalten 260 . Der eingesalzene Freyr-Frotho 260 . 267 Von Schlafliedern und Wundermühlen . Ars moriendi: Das Stadienmodell der Trauer nach Elisabeth Kübler277 Ross . Nerthus 282 . 287 Landvættir 289 . Von Wollknäueln und Goldketten . Alben 299 Vanen 302 . 305 . Óð gaf Hœnir . Die Kunst der Totenerweckung 316 . Wo die Vanen wohnen 322 Ahnenkult 331 . Non puros homines 331 . Trauer-Exzesse 337 352 . Die Hauptstadt der Toten . Von geladenen und ungeladenen Gästen 356 Die Sentimentalität der eddischen Elegien 361 . 365 . Totenhochzeit .. Von Holzbräuten und Baummännern 365 372 .. Daidala .. Freyr und Gerðr 376 .. Das Schiffsbegräbnis des Ibn Faḍlān 388 392 .. Der Traum des Bräutigams . „Blood, milk, and tears“ 399 .. Von Balders Traumhochzeit und Iðunns Äpfeln 399 .. Neue Familienbande oder die ,Bestrafungʻ Lokis 418 .. Tränen 430 445 .. Tränenverweigerer Der . .. .. .. .. ..
Tod als semantische Leerstelle 466 „Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie“ Autopoiesis 466 472 Todesheilung Verletzte Pferde: Blóðughófi – Balderes uolon 476 Der gescheiterte Schamane 482 „Unschuldskomödien“ 489
466
Inhalt
. .. .. .. .. . .. .. ..
Horrenda primordia 500 500 Die Fiktion des Anfangs 507 Kongeideologien Fjǫturlundr 511 Das Mädchen Hainuwele 513 Mondsymbolismus 521 521 Draupnir der Tropfer Von Mondmördern und Trennungshelden Urðarmáni der Unheilsmond 533
Dô zôch herz ûz mit der hant: Tödliche Pflanzen 537 . Mistel . Ramus aureus 542 Eberesche 545 . 555 . Viðofnir . Sif 559 . Mímameiðr 568 . Ullr 579
526
537
Ahnenverkörperungen 589 . Die Pflanzen-Seele 589 599 . Die Alkohol-Seele . Die Vogel-Seele 604 Bird on a wire 610 . Der Zaunkönig 610 615 . Die Bachstelze . Rindr ‒ lymphanti similem reddidit 620 . Jynx torquilla 626 635 . Nanna .. Von Schwänen und Schmieden 635 .. Nú em ek fugl, ok nú em ek maðr 642 .. Nepsdóttir – Nǫkkva dóttir 651 .. Die Wasserfrau als Totenbraut 656 Körper und Delinquenz 661 . Býleistr oder die Asymmetrie des Mörders 661 .. Böse Beine .. Schiefe Gestalten in Rom 665 671 .. Noch mehr Zauberbeine .. Fet-Meili: der Schritt-Tölpel 675 . Dressed to kill 681 .. Berserksgangr 681
661
XI
XII
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Inhalt
Monosandalos 705 Loki, Loðbrók und die Rollatn Lotter 730 Der Linkshänder Venus Cloacina 735 Bileygr: der blinde Schütze 738 Hǫðr blinda Ás 738 Lamech 744 Adrastos 748 757 Lugaid Dalléces Heiðrekr 765 Personae inhonestae 777 777 Hǫðr cytharista Der verwahrloste Váli 792 799 Der skrupellose Hermóðr
711
Rituelles Handeln: Der Leichenbrand 814 . Der Weihe-Thor 814 . Hyrrokkin 819 824 . Von Schweinen und Hunden . Friðþjófr inn frækni 837 854
Tote Götter – ein Fazit Zusammenfassung
870
Literaturverzeichnis 896 896 Abkürzungen Siglenverzeichnis 897 Primärliteratur 898 907 Sekundärliteratur Namen- und Sachregister
958
1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage Balder ist ein geduldiger Gott: Nicht nur in seiner wohl berühmtesten, altnordischen Konzeptualisierung eines leidenden und sterbenden Gottes, so wie ihn bekanntlich der mittelalterliche Mythograph und Literaturtheoretiker Snorri Sturluson in seiner Edda entwirft, sondern gerade auch in seiner scheinbar unbegrenzten Aufnahmefähigkeit von einer Vielzahl weiterer Interpretationsmuster: Balder, der Lichtgott, der Vegetationsgott, der heidnische Christus, das altsemitische Gotteskonzept, Balder, der unsympathische, lustgesteuerte Heroe, der knabenhafte Initiand, Balder, der geopferte Gott, der auferstandene Gott, der gerade nicht auferstandene, der tote Gott, und schließlich, wenn auch am wenigsten beachtet, Balder, der König und Ahne. Tatsächlich ein Wissensberg, ein „mountain of previous scholarship“,¹ der im Laufe einer nahezu zweihundertjährigen Forschungsgeschichte buchstäblich über dem nordischen Gott zusammengetragen wurde, ohne rechte Hoffnung, dem dermaßen ‚Verschütteten‘ näher zu kommen: „[A]fter two centuries of research they [die Forschung, d. Verf.] are so far from the desired solution that walking round the mountain of previous scholarship appears to hold out greater promise than adding another stone to it.“² Schließlich gebe es, so Anatoly Liberman (mit Bezug auf den Titel³ seiner Balder-Untersuchung), bis heute wohl keinen einzigen Aspekt im Baldermythos, der nicht kontrovers diskutiert worden sei: „All, rather than some, aspects of the Baldr myth are controversial.“⁴ Ähnlich Kurt Schier, gewiss einer der besten Kenner der ‚Balder-Problematik‘: „Bei der Interpretation des Wesens und der Herkunft von Balder gehen bis heute die Meinungen weit auseinander, und man ist bald völlig verwirrt, wenn man versucht, den verschiedenen Erklärungsversuchen zu folgen.“⁵ Als besonders schwierig stelle sich dabei die Frage nach den immer wieder postulierten Ähnlichkeiten zu einer gewissen Gruppe östlicher Gottheiten dar, den so genannten „sterbende[n] und wiederauferstehende[n] Vegetationsgottheit[en]“,⁶ eine indes ihrerseits hochproblematisierte religionsgeschichtliche Kategorie. Wie etwa diese Ähnlichkeiten, wenn sie denn überhaupt zu erweisen wären, dann beurteilt werden könnten, als ‚lediglich‘ typologische Entwicklungen oder als womöglich wie auch immer geartete historische Abhängigkeiten. Bis dato sei die Forschung damit vor „kaum lösbaren Problemen“⁷ gestanden. Jan de Vries selbst habe innerhalb seiner Altgermanischen Religionsgeschichte zur ‚Balder-Frage‘ mehrere Kehrtwenden vollzo-
Liberman 2004, S. 17. Liberman 2004, S. 17. Some Controversial Aspects of the Myth of Baldr (Liberman 2004). Liberman 2004, S. 17. Schier 1995, S. 127. Schier 1995, S. 127. Schier 1995, S. 127.
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1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
gen und damit eher zur „Konfusion“ denn zur Klärung beigetragen.⁸ Konsens ist also bis heute kaum in Sicht, Einmütigkeit herrscht offenbar nur über die Uneinigkeit. Die auffallend widersprüchliche Quellensituation mag das Ihre dazu beigetragen haben, sie ist bekanntlich ebenso charakteristisch wie berüchtigt für den Baldermythos. Aber welchem Umstand mögen diese tiefgreifenden Unterschiede in der Überlieferung geschuldet sein? Wem oder was verdankt der Gott Balder seine Ambivalenzen und Polysemien? In der Vergangenheit wurde dies häufig genug dem (Un)verständnis der christlichen Überlieferer zugeschrieben, also christozentrische Manipulationen, wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber wie, wenn im Gott Balder diese Gegensätzlichkeiten womöglich ‚schon immer‘ so angelegt wären, wie, wenn er tatsächlich alle diese oben genannten Aspekte in sich vereinigte, dass gerade die Zweideutigkeit sein Hauptwesenszug wäre und die Diskrepanz der Quellenlage das unablässige Abarbeiten an diesem Umstand darstellte? Ja, könnte damit nicht sogar jene narrative Vielfalt zur Verbündeten werden, indem entsprechend die Fragestellung gewendet und vom Ergebnis her gefragt würde: In welchem mythischen (wie rituellen) Denkrahmen sind Widerspruch, Antagonismus, Paradoxie, Unentschiedenheit nachgerade unhintergehbares strukturelles Kennzeichen? Wir kennen den Baldermythos zunächst einmal in zwei Hauptüberlieferungen, als so genannte nordskandinavische, isländische Version, die am ausführlichsten im ersten Teil der Snorra Edda,⁹ der Gylfaginning, erscheint. In seiner sorgfältig durchstrukturierten Zusammenstellung altnordischer Mythen berichtet Snorri vom Schicksal des strahlenden Gottes Balder, des Götterlieblings. Er stirbt durch die Hand seines blinden Bruders Hǫðr den wohl berühmtesten, tragischsten und konsequenzenreichsten Tod der germanischen Göttergeschichte. In der isländischen Überlieferung, und offenbar nur hier, wird sein Tod zur Krisis, zum Wendepunkt im Götter- wie Menschenschicksal.¹⁰ Durch Balders Tod beginnt die Welt nunmehr unaufhaltsam auf ihr Ende zuzusteuern, auf die Apokalypse, ragnarǫk (ragnarøkkr), die „Götterdämmerung“. Eine dazu – zumindest prima facie – auffallend abweichende, südskandinavische Version liefert der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus in seinem Geschichtswerk Gesta Danorum,¹¹ die Geschichte der Dänen von ihren sagenhaften Anfängen bis zur Gegenwart des 13. Jhs. Im dritten Buch berichtet Saxo ausführlich vom wechselvollen Schicksal des hier als historisch gedachten dänischen Königs Balderus und seines Gegenspielers Hotherus. In lateinischer Sprache entwirft auch Saxo Grammaticus das Bild einer tödlichen Gegnerschaft, aber wie wenig Übereinstimmung findet sich hier zu Snorris Beschreibung. Glichen sich nicht die Namen der
Vgl. Schier 1995, S. 127 f. Faulkes (Hg.) 1982, Faulkes (Hg.) 1998; Krause (Übers.) 1997. Im Folgenden nach diesen Ausgaben zitiert. Vgl. Schier 1995, S. 126. Im Folgenden nach diesen Ausgaben zitiert: Olrik und Ræder (Hg.) 1931; Buch I–IX, Herrmann (Übers.) 1901; Buch X–XVI, Friis-Jensen und Fisher (Übers.) 2015.
1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
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Hauptpersonen Balder, Hǫðr (bzw. Balderus und Hotherus), Nanna (die Ehefrau Balders in der isländischen Version, bei Saxo die heftig Umworbene beider Helden und schließlich Ehefrau Hotherus) und einige weitere, in der Tat sehr zentrale Motive, man würde wohl nicht einmal eine Verbindung zwischen beiden Überlieferungen vermuten. Dabei sind die Berichte nicht nur „räumlich aufs engste benachbart“,¹² wie bereits Gustav Neckel vermerkt, sie sind darüber hinaus auch nahezu zeitgleich abgefasst, Saxo beginnt sein Werk sogar noch zwei Jahrzehnte früher als Snorri (circa um 1200) und ist so betrachtet überhaupt der Erste, der sich eine Zusammenstellung der nordischen Göttergeschichten zur Aufgabe gemacht hat. Beide Schreiber entstammen, wichtig genug, dem gleichen geistigen Milieu. Es ist der christlich abendländische, nordisch mittelalterliche Gelehrtendiskurs, in dem sich ein neuerwachtes Interesse christlicher Gelehrter an ihrer heidnischen Vergangenheit etablieren konnte, eben jene „gelehrte Renaissance“, durch die auch die Isländer des 12. Jhs. nachhaltig und auf überaus fruchtbare Weise mit antiker Bildung und Literatur in Kontakt kamen.¹³ Es ist also nicht nur der explizit postpagane Blick auf ein heidnisches Religionskonzept, den beide Autoren teilen,¹⁴ man kann wohl auch mit Schier von einem wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen den norwegisch isländischen und den dänischen Vorstellungen ausgehen, „eine[r] gemeinsame[n] Grundlage […], wie auch immer die ausgesehen haben mag.“¹⁵ Freilich, die ganz unterschiedlichen Erzählmuster, die diametralen Charakterisierungen der Protagonisten wie Antagonisten machen diese doch bemerkenswert ähnlichen Voraussetzungen dann noch weniger erklärlich. Beide Erzählungen zeigen sich jeweils auf ihre Weise geschlossen und gut ausgearbeitet, sie erscheinen narrativ plausibel und doch war und ist es offenbar bis heute Snorris Version, die für sich Deutungshoheit beanspruchen kann, es ist seine Version, die bis heute als locus classicus, als die Bedeutungs-Mitte des Baldermythos gelten darf. Snorris Bericht stelle sich „fast als untadeliges Ganzes“ dar, so schon Neckel, wo er hingegen bei Saxo manche „Mängel und Unklarheiten“ entdeckt haben will, entsprechend sei ersterer vorzuziehen.¹⁶ Sophus Bugge verweist auf die „lange Reihe von ermüdenden Einzelheiten“, durch die man sich in Saxos Darstellung durchzuarbeiten habe,¹⁷ und die (wohl nicht nur in seinen Augen) den Lesegenuss deutlich schmälerten. An dieser Vorliebe hat sich in der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte zum Baldermythos kaum etwas geändert. Nun ist es aber wohl
Neckel 1920, S. 6. Vgl. Simek 2007, S. 11. „Snorra Edda is just as much a product of its time and its author’s post-pagan worldview as Saxo’s work was of his. And Snorri and Saxo, for all the differences between them and their books, were contemporaries who were both equally part of this learned mythological renaissance“ (Abram 2011, S. 208). Schier 1995, S. 129. Vgl. Neckel 1920, S. 6. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 84.
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1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
gerade diese Untadeligkeit, die wir gut im Auge behalten müssen, in der Forschung hat sie jedenfalls, wohl durchaus zu Recht, auch ein gewisses Misstrauen erweckt: Snorri’s versions of the individual myths and his systematic presentation of the whole mythology are so clear and readable, and his attitude towards pagan religion so non-judgemental, that we are often inclined to take the Edda at face value as a record of the myths of the pagan north as they were actually used in the pagan north. ,If Snorri says it, it must be trueʻ has frequently been the attitude of modern readers towards his version of the mythology. But we must be wary of letting Snorri’s account seduce us into thinking it is a simple record of the stories his pagan ancestors told about the gods, for nothing could be further than the truth.¹⁸
In der Tat sind Erzählstrategien, Rezeptionslenkungen, die bei Saxo an vielen Stellen so offenkundig zu Tage treten, bei Snorri bei weitem weniger greifbar, und wenn, erscheinen sie durchaus unaufdringlicher als beim relativ durchsichtigen Kalkül eines Saxo Grammaticus. Das Verletzen bis hin zum vollständigen Kappen von etablierten, profanen wie religiösen Bedeutungskonnexen kann aus den unterschiedlichsten Gründen geschehen, nicht zuletzt aus purem Missverstand des outsiders. Eher brachiale Deutungslenkungen kommen meist dann zum Einsatz, wenn bestimmte wichtige kulturelle Wertevorstellungen, im Besonderen Glaubenswerte einer Gesellschaft bedroht scheinen. Bei Saxo sind diese Brüche gut zu erkennen. Aber hätte man das nicht auch von Snorri, einem guten mittelalterlichen Christen, auf gleiche Weise erwarten müssen? Verfolgt Snorri auch eine Taktik? Und ist diese womöglich lediglich subtiler, irgendwie ‚subversiverʻ als Saxos? Viele misstrauen schließlich Snorris durchaus dezidiert vorgetragener intentio scriptoris,¹⁹ nach wie vor sei letztendlich nicht klar, wofür, mit welcher Absicht Snorri seine Edda überhaupt verfasst habe.²⁰ Auf welche Weise also der isländische Gelehrte die paganen Mythen rezipierte, in welchem Rahmen, in welchem Symbolsystem er sie überhaupt verortet wissen wollte, selbst darüber konnte bis in jüngste Zeit kaum Konsens erzielt werden. Aber auch Snorri bricht mit paganen Konventionen, allerdings elaborierter, moderner, dem Zeitgeist angepasst. Snorri war wohl der begnadetere, der versiertere
Abram 2011, S. 208. En þetta er nú at segja ungum skáldum þeim er girnask at nema mál skáldskapar ok heyja sér orðfjǫlða með fornum heitum eða girnask þeir at kunna skilja þat er hulit er kveðit: þa skili hann þessa bók til fróðleiks ok skemtunar. En ekki er at gleyma eða ósanna svá þessar sǫgur at taka ór skáldskapinum for [nar ke]nningar þær er hǫfuðskáld hafa sér líka látit. En eigi skulu kristnir menn trúa á heiðin goð ok eigi á sannyndi þessar sagnar annan veg en svá sem hér finnsk í upphafi bókar […] (Skáldsk 1). („Aber dies ist nun jungen Dichtern zu sagen, die danach trachten, die Sprache der Dichtkunst zu verwenden und sich den Wortschatz mit alten Namen anzueignen, oder die danach streben zu begreifen, wie ein Gedicht umschrieben wird. Sie mögen dieses Buch für ihr Wissen und zur Unterhaltung benutzen. Aber diese Überlieferungen dürfen nicht vergessen oder es darf nicht als falsch angesehen werden, aus der Dichtkunst die alten Kenninge zu verwenden, die schon den Hauptskalden gefielen. Jedoch sollen Christen nicht an heidnische Götter glauben und den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten nicht anders verstehen als so, wie man es am Anfang des Buches findet“). Vgl. Abram 2011, S. 208.
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Geschichtenerzähler, seine Balder-Konzeptualisierung erscheint ‚glatt‘, nahtlos, verdächtig vertraut. In moderner Reflexion dieses Umstands ist denn auch der Vorwurf notorisch, dass er ganz offensichtlich nach den uns nur allzu gut bekannten Wissensrahmen christlicher Denkmodelle entworfen sei. Schwierig genug, welchen Umfang wir Snorris Zugriff auf diese integrierende, christlich abendländische Hintergrundfolie einräumen sollen, an der schließlich nicht nur eine mittelalterliche Zuhörerschaft, sondern ebenso (zumindest bis in jüngste Zeit) der überwiegende Teil der modernen Forschergemeinschaft als Verständnisrahmen Anteil hat, und sei es nur im Sinne eines common sense, eben eines, wenn man so will, christlich-abendländischen Allerweltswissens. Auch Schier geht von solchen Reflexen aus, von Aktualisierungen, die entweder von Snorri selbst oder aber bereits von seinen Vorgängern in den Mythos eingeführt worden sind, offenbar gut sichtbar in der vermeintlichen Christusgleichheit Balders, der christlich jüdisch anmutenden Apokalypse am Schluss des Mythos, dem ‚teuflischen‘ Gottesmörder Loki, dem ‚jüdischenʻ Blinden Hǫðr und so vieles mehr.²¹ Auf ‚uns‘, die heutige Leserschaft, wirken Balders Todesumstände tragisch, vermutlich gerade wegen der Vielzahl an christlichen, märtyrerhaften Reminiszenzen, warum sollte Snorri diese Ähnlichkeiten als Anschlussmöglichkeiten anders verstanden haben? Oder hat er sie womöglich gezielt ausgewählt und zusammengestellt für ein christliches Publikum? Aber wie selbstverständlich sind Konzepte eines ‚leidenden‘, eines ‚unschuldig sterbenden‘ Gottes im paganen Denken, eines auf ‚Erlösung‘ hoffenden Gottes, und kann man daraus, unmittelbar oder mittelbar, gar auf einen ‚erlösenden‘ Gott in der spätpaganen Religion des Nordens schließen? Nun wären für dermaßen theologisierende Vergleichbarmachungen, wenn sie denn je existierten, gewiss Grenzen gesetzt gewesen: Einen heidnischen Gott, und hätte er auch nur einen Bruchteil jener durchaus ‚unchristlichen‘ Eigenschaften, die Saxo ihm beilegt, gezielt in einen positiv bewerteten, christlichen Diskurs hineinzuschreiben, solche Verschiebungen von Sagbarkeitsgrenzen wären Snorri von seiner christlichen mittelalterlichen Leserschaft wohl kaum gestattet worden. Snorri wie Saxo, jeder Textschöpfer, ist „rückgebunden an die in einer Gesellschaft geltenden Gebrauchskonventionen der Zeichen“, an „einen Möglichkeitsraum von vorausgesetztem verstehensrelevanten [sic] Wissen“, ein gewusstes, indes kaum bewusstes Wissen, auf das selten genug, damals wie heute, Einfluss genommen werden kann.²² Aber wenn Snorri sich nun bei seiner Balder-Ausgestaltung affirmativer, positiver
Schier 1995, S. 126: „In beiden Quellen stellt Baldrs Tod offenbar den Wendepunkt im Geschick der Welt dar, auf seinen Tod und seine Bestattung folgt sogleich die Schilderung von Lokis Bestrafung, die drohenden Anzeichen mehren sich, die Ordnung der Natur und die ethischen Normen werden gestört, bis die Welt im endzeitlichen Kampf zu Grunde geht. Mit einiger Wahrscheinlichkeit spiegelt dieser kosmologische Aspekt des Mythos von Baldrs Tod eine jüngere Entwicklung wider, er ist wohl ein Reflex auf die im späten 10. Jahrhundert verbreitete christliche Vorstellung, die Welt werde zum Ende des Jahrtausend [sic] zu Grunde gehen.“ Vgl. Busse 2008b, S. 92.
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1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
Einteilungskriterien, Symbolformen, „Redegewohnheitsnotwendigkeiten“²³ eines christlichen Diskurses bedient, muss er dann auch zwangsläufig dessen religiöse „Semantisierungsmechanismen“²⁴ übernehmen, dessen religiöse Bedeutungen und Wertigkeiten? Zunächst scheint jener mythische Zeichenpool gar nicht zwangsläufig Sinnbezüge zu einem christlichen Gott evoziert zu haben. Saxo hätte dann doch gar nicht anders gekonnt, als dieselben Ähnlichkeiten zu ‚erkennenʻ, im Übrigen ebenso wie sein mittelalterliches Publikum. Dem hätte er aber mit seiner Version eines durchaus skrupellosen, selbstherrlichen Halbgottes Balder und eines höfisch gebildeten Hotherus einen massiven Akt der Uminterpretation zumuten müssen. Am auffallendsten ist zunächst die Tatsache, dass, obschon beide Autoren ein Konfliktnarrativ wählen, die Festlegung von Gut und Böse (im Rahmen ihres wohlgemerkt gemeinsamen, kulturellen Wissensvorrats mit entsprechend ähnlichen, christlichen Selektionsstandards) so auseinanderklafft: Die Antagonisten Balderus und Hotherus wechseln relativ problemlos, zumindest narrativ plausibel, die Seiten. Balderus erweist sich nicht etwa als positiv besetzter Protagonist einer Herrscherfamilie, er läuft Snorris ‚überirdisch‘ positiver Konzeptualisierung in jeder Hinsicht diametral entgegen. Ausgerechnet sein Erzfeind Hotherus wird zum Prototyp einer idealisierten, skandinavischen Archaik mit auffallend ähnlichen Eigenschaften, die der isländische Balder allesamt (und noch einige mehr) von Snorri zugeschrieben bekommt: kunstsinnig, höfisch, gebildet. Der dänische Halbgott Balderus hingegen erweist sich als letztendlich unterlegener Vertreter eines ohnehin dem Untergang geweihten Göttergeschlechts. Gerade im Fall des Baldermythos sind wir nun aber in der ebenso glücklichen wie seltenen Lage, die Leistungsstärke zweier unterschiedlicher narrativer emplotments ²⁵ vergleichen zu können. Saxo Grammaticus wählt als narratives Konzept die mythisch historisierende Heldensage, er versteht sein Werk als Geschichtswerk und verweist mit Balderus auf die sagenhaften, nicht mehr ganz fassbaren, aber dennoch von ihm als historisch betrachteten Ursprünge des dänischen Königshauses. Tatsächlich gehört dies zu einem wichtigen Aspekt in seiner Balder-Version: die Einbindung von Balder als sagenhaften König von Hlethra/Lejre in die Genealogie der Skjǫldungen.²⁶ Trotz allem legt er den Schwerpunkt auf Anfänge, Abstammung, Ur-
Fleischer 1996, S. 27. Fleischer 1996, S. 21. Vgl. Neumann 2005, S. 161: „Das Emplotment verknüpft heterogene Erfahrungs- und Wissenselemente zu einer mehr oder weniger einheitlichen Ganzheit, die eine kontinuierliche Abfolge einzelner Ereignisse suggeriert. Die narrative Syntheseleitung, die das Emplotment impliziert, begründet den konstruktiven Charakter von Erzählungen. Aus demselben Repertoire vorgängiger Ereignisse können durch unterschiedliche Formen der narrativen Konfiguration verschiedenartige Erzählungen konstruiert werden […]. – Die Stiftung eines kohärenten und kontinuierlichen Zusammenhangs zwischen heterogenen Elementen gilt als Hauptfunktion und zugleich psychologisch wesentliches Merkmal von Narrationen. Dieser Zusammenhang wird gemeinhin als eine bedeutungsstrukturierende Synthese wahrgenommen, da ein […] Ereignis temporal und logisch zu anderen in Beziehung gesetzt wird.“ Vgl. Schier 1995, S. 130.
1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
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sprünge, bei Snorri liegt der narrative Höhepunkt gewiss auf dem Ende. Er hat seine Balder-Version auf einen umfassenden kosmologischen, endzeitlichen Aspekt hin geordnet. Zu einem nicht geringen Teil ist es also bereits die Wahl des Masternarrativs selbst, dessen Konfigurationen, Muster und Formgebungen, das auf einer kaum mehr bewussten Ebene den jeweiligen Sinn stiftet oder suggeriert. Darüber hinaus aber weist Snorris Behandlung des Baldermythos schon innerhalb des Rahmens seines eigenen Werkes Besonderheiten auf. Versieht er die meisten Erzählungen in seiner Gylfaginning mit Zitaten aus der Lieder-Edda und stattet sie so gewissermaßen „with a ring of authenticity“²⁷ aus, fehlen sie in seiner Erzählung von Balders Tod vollständig.Wohl erkennt man die unterliegende antiklimatische Struktur der Vǫluspá, hier wie da ist Balders Tod der Endpunkt bzw. Auslöser für das Weltenende, viele weitere Erzählsteine entnimmt er dem Gedicht, Einzelheiten zum Begräbnis wohl der literarischen Ausgestaltung in der Húsdrápa. ²⁸ Andere, im Rahmen des Erzählfortgangs durchaus nicht nebensächliche Details, ja ganze Motivkomplexe sind ganz offenbar nirgendwo zu finden, nicht in der Vǫluspá und auch sonst nicht in den eddischen Liedern. Aber auch in der frühen Skaldendichtung gibt es auffallend wenige Anspielungen auf diese Ereignisse.²⁹ Welches Repertoire nutzt also Snorri darüber hinaus, von dem unsere nordischen, literarischen Quellen so wenig zu berichten wissen? Und warum wird, ganz im Gegensatz dazu, in dem einzigen (späten) Skaldengedicht, das tatsächlich auf Snorris Version der Ereignisfolge zu referieren scheint, in der ironischen Spruchdichtung der Málsháttakvæði (13. Jh.),³⁰ darauf verwiesen, dass die Geschichte über Balder so oft gehört werde (heyrinkunn er frá hánum saga, Str. 9), dass man wohl kein weiteres Wort darüber verlieren brauche? Gewiss wird der Tod Balders zu Recht zum ältesten Kern der nordskandinavischen Balderüberlieferung gerechnet ebenso dessen Bestattung und deren Umstände, wohl auch der missglückte Versuch, Balder aus der Unterwelt auszulösen³¹: „Baldr’s fate is to be killed, lamented, buried, and stay in the kingdom of the dead.“³² Die nord(west)germanische literarische Überlieferung, so widersprüchlich sie zunächst auch erscheinen mag, weiß also um die Ereignisse um Balders Tod, in einigen Eddaliedern wird daran als gut bekannter Wissensrahmen angeknüpft, allen voran in der Vǫluspá, Baldrs draumar, auch in der Lokasenna. ³³ Frühe wertvolle Hinweise zu
Abram 2011, S. 214. Finnur Jónsson (Hg.) 1912–1915c. Vgl. Abram 2011, S. 214– 21. „Snorri may have produced his narrative by combining the general structure of the Völuspá myth with the details about Baldr’s funeral that he could extract from Húsdrápa; but his combination still leaves several crucial aspects of the story unaccounted for“ (Abram 2011, S. 217). Siehe Abram 2011, S. 215: „Snorri includes many details that are found nowhere in the Poetic Edda and to which earlier skalds scarcely, if ever, made allusion.“ Frank (Hg.) 2017. Vgl. Schier 1995, S. 126. Liberman 2004, S. 20. Die Götterlieder der Älteren Edda im Folgenden zitiert nach Neckel und Kuhn (Hg.) 1983; Krause (Übers.) 2006.
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1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
Balders Leichenbrand gibt die Húsdrápa des Skalden Úlfr Uggason. Die Fornaldarsaga Friðþófs saga frækna³⁴ gibt einen Bericht über ein Balder-Ritual in einem BalderHeiligtum Baldrshagi ‒ als einzige Quelle, entsprechend als sehr unsicher, ohnehin als spät und ‚romantisierend‘ gewertet.³⁵ Südgermanische Belege für die Existenz des Baldermythos, trotz seiner Zentralität im Norden, sind indes rar. Der Zweite Merseburger Zauberspruch³⁶ wurde bekanntlich als Kronzeuge für dessen Kenntnis auch im südgermanischen Raum herangezogen, ebenso vielversprechend wie umstritten. Noch schwieriger sind Bildquellen als ikonographische Verweise einzuschätzen. Balder scheint jedenfalls in der Symbolwelt der skandinavischen Bildsteine nicht dargestellt worden zu sein, wenn auch Otto Höfler, bedenkenswert, aber schwierig genug, in den bronzezeitlichen Schiffszeichnungen den motivlichen wie rituellen Ursprung der Hallenschnitzwerke des Isländers Ólafr pá sehen möchte.³⁷ Kaum weniger schwierig zu beurteilen ist das Quellenmaterial der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten mit ihrer komplexen, hochverdichteten Bildersprache. In vorliegender Untersuchung bleibt ikonographisches Material weitestgehend unberücksichtigt, einer gewissen Forschungsökonomie und nicht zuletzt Forschungskompetenz geschuldet, und damit auch die Frage, inwiefern sich in deren Bildsymbolen wie auch immer geartete Bezüge zum Baldermythos auftun könnten. Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte scheinen dies mehr und mehr nahezulegen, und dabei käme gerade dem südgermanischen Zweiten Merseburger Zauberspruch eine wichtige Mittlerfunktion zu als wertvolles missing link zu völkerwanderungszeitlichen Mythentraditionen. So wird etwa in den Darstellungen der so genannten Typus C-Brakteaten (‚Kopf über Vierbeiner‘) Odin vermutet, der das gestürzte Balder-Fohlen heilt (in Entsprechung zum Sprechakt des germanischen Zauberspruchs), in der Gruppe der so genannten Drei-Götter-Brakteaten (Typus B) die Opferung Balders durch die Asen. Damit könnten die innergermanischen Quellen eine Beleglage des Baldermythos bis weit in die Völkerwanderungszeit des 5. und 6. Jhs. gewährleisten, indes müssen weitere Forschungen die Art dieser Verbindungen deutlicher machen, wenngleich letzte Sicherheit bei der Problematik dieses Materials ohnehin kaum einzufordern sein dürfte. Viel hängt hier vom Vorverständnis des Baldermythos ab, in welchen Wissensrahmen wir ihn stellen können, auf welche Weise Deutungsansätze wie ‚Opferung‘, ‚Heilung‘, ‚Palingenese‘ überhaupt denkbar wären, inwiefern etwa der apotropäische Amulettcharakter des Quellenmaterials damit in einen Zusammenhang gebracht werden könnte und vieles mehr.³⁸ Auch die Angelsachsen kennen Balder, wie die Dänen, nur als König: Er erscheint neben anderen nordischen Götter- und Heldennamen in Königslisten und Genealo-
Larsson (Hg.) 1901. Vgl. Simek und Pálsson 1987, „Friðþófs saga frækna“, S. 94 f. Eichner und Nedoma (Hg.) 2014. Vgl. Höfler 1951. Siehe dazu insbesondere die grundlegenden Untersuchungen von Hauck und Axboe 1985 – 1989; Heizmann und Axboe 2011.
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gien, so etwa im Chronicon Æthelweardi (Ende 10. Jh.). Æthelweard (ein Nachkomme von König Æthelred) führt unter anderem in seiner Ahnenreihe auf: „Septimus Brond, octauus Balder, nonus Vuothen“.³⁹ Hier erhalten wir den frühesten Beleg des nordischen Götternamens, aber nicht ganz klar ist, aus welchem Grund Æthelweard gängige angelsächsische Namen (etwa Beldeg, Bældæg) durch den unbekannten, zumindest ungebräuchlichen Namen Balder ersetzt.⁴⁰ Æthelweard muss wohl den Namen aus dänischer Überlieferung gekannt haben und dort ganz offenbar mit angestammtem Platz in einer Genealogie: „Demnach muß Balder spätestens im 10. Jahrhundert nach dänischer Vorstellung in eine Königsreihe eingegliedert gewesen sein, vielleicht in ähnlicher Weise, wie Snorri Freyr als Stammvater der schwedischen Ynglingar darstellte.“⁴¹ Und auch wenn Schier eher zurückhaltend formuliert, dass diese „verstreuten Belege“ wohl für sich noch nicht überzeugen können, so sieht er hier doch die Ausgestaltung eines ganz anderen Balderbilds, das sich nicht nur von dem isländischen Mythos, sondern auch von Saxos Darstellung erheblich unterscheidet. Fast alle diese Angaben konzentrieren sich auf Seeland, insbesondere auf Hleiðra/ Lejre, zeigen zu einem guten Teil Balder in Verbindung mit dem Geschlecht der Skjöldungen und deuten auf eine Funktion des Gottes als Schutzgottheit oder als göttlicher Ahnherr.⁴²
Vielleicht am wenigsten beachtet in der Balderforschung ist diese Position Balders als ‚Spitzenahn‘,⁴³ sei es als Dynastiengründer selbst, zumindest aber mit bedeutsamem Platz im Rahmen genealogischer Königsreihen. Ausdrücklich macht Schier auf die Ähnlichkeit zur schwedischen Überlieferung des Gottes Freyr aufmerksam und seine Verbindung zum Ynglingargeschlecht in Uppsala. Und so stellt er die für vorliegende Untersuchung in jeder Hinsicht grundlegende Frage: „Kann überhaupt ein Gott als sterbend oder gestorben gedacht werden, und kann er dann als Stammvater in einer Königsreihe fungieren?“⁴⁴ Ein „Paradoxon“⁴⁵, wie er selbst vermerkt, das auch den Gott Freyr betrifft (aber auch in der Freyr-Forschung kaum mehr Aufmerksamkeit erfahren hat). Im Rahmen vorliegender Untersuchung soll gerade diese bisher eher vernachlässigte Funktion Balders näher beleuchtet werden: Welche Vorstellungen erscheinen überhaupt im Norden mit einer Stammvaterfunktion, mit Ahnentum verbunden, mit welchen my-
Campbell (Hg.) 1962, S. 33. Vgl. Schier 1995, S. 137 f. Schier 1995, S. 139. Im irischen Munster erscheine der Name Balder als „Sippenname“: Clann Balldair („Balders Geschlecht“). Schier vermutet eine nordische Kolonie in Cork, die Balder als Schutzgott verehrt haben könnte (vgl. Schier 1995, S. 139). Schier 1995, S. 139. Der Ausdruck ist von Karl Hauck geprägt und wird seitdem in der mediävistischen genealogischen Forschung für den ältesten (bekannten) Vorfahren in einer Ahnenreihe verwendet (siehe Hauck 1965). Schier 1995, S. 139 f. Schier 1995, S. 140.
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1 Einleitung: Problemstellung und Quellenlage
thischen Denk- wie Handlungsmodellen wird nordische Toten- bzw. Ahnenpflege gefasst, und welche Spuren davon wären dann gegebenenfalls im Mythos vom Tod Balders zu vermuten? Die Gestalt des Freyr kann von diesen Überlegungen nicht getrennt werden, seine Konzeptionierung ist, wie ohnehin schon lange vermutet, aufs engste mit der Balders verbunden, ja, wie zu zeigen sein wird, die nordische Götterfamilie der Vanen in ihrer Gesamtheit. Als Gründer und Erzahnen erscheinen auch andere mythische Wesenheiten im Norden, wobei auch deren explizite Stammvaterfunktion bisher weniger im Fokus des Forschungsinteresses stand. Erst durch eine neuere Untersuchung von Sebastian Cöllen wird diese etwa beim bis dato so enigmatischen Gott Heimdallr überhaupt näher thematisiert.⁴⁶ Auch der mythische Schmied Wieland, eine auf seine Weise kaum weniger rätselhafte Gestalt der nordischen Mythologie und Heldensage, wird dabei nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Schließlich ist auch bei ihm zu vermuten, dass gerade seine auffallende Ambivalenz, seine narrative Uneindeutigkeit, sein Schwanken zwischen menschlichem Heroen und übernatürlicher Wesenheit einem ursprünglichen, mythischen Entwurf als Erzahne geschuldet ist.
Vgl. Cöllen 2011; Cöllen 2015.
2 Methodische Vorüberlegungen 2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“ Gebrauchsregeln von Zeichen und von Symbolen erkennen wir nur durch vergleichbare Fälle, also durch Symbolkomplexe, die in identischen oder zumindest ähnlichen Kontexten beim Adressaten die gleichen „interpretierenden Schlussfolgerungen“ evozieren, so der Linguist und Epistemologe Dietrich Busse.¹ Ähnlich der Religionswissenschaftler Fritz Stolz. Um ein Symbol definieren zu können, es überhaupt als solches zu erkennen, müssten Vergleichbarkeiten, Anschlussmöglichkeiten benannt werden können.² Als methodische Vorgehensweise zur Fassung eines (religiösen) Phänomens empfiehlt Stolz entsprechend zunächst, dessen „unmittelbaren historischen Kontext“ zu beschreiben, in einem zweiten Schritt den „Kontext vergleichbarer Phänomene.“³ Gerade Letzteres sei dabei nicht „vorgegeben“, vielmehr allein durch die wissenschaftliche Fragestellung selbst konstruiert.⁴ Und es ist die Legitimität dieser Konstruktion, die Art ihres Zustandekommens, die bis in die jüngste Zeit einen durchaus prekären Stand in der religionsgeschichtlichen wie mythologischen Forschung hatte. In der religiösen Symbolforschung ist der Vergleich, die Vergleichbarkeit von Symbolen am wenigsten selbstredend, eher methodologischer Zankapfel, der bis heute Anlass zu Kontroversen gibt. Die folgende Untersuchung wird sich in besonderer Weise auf das komparatistische Verfahren stützen, was die Frage nach dem Wie, der methodischen Vorgehensweise, unbedingt in den Fokus rücken muss. Eng damit verbunden ist die Frage nach dem Was, der spezifischen Machart, den strukturellen Bedingtheiten dessen, was verglichen werden soll: die Symbole, Mediatoren wie Kommunikatoren, Verkörperer, ja letztendlich Verkörperung von (religiöser) Wahrheit. So muss es zunächst nicht nur um die Angemessenheit wie Legitimität (aber auch Grenzen) des komparatistischen Verfahrens gehen, sondern gerade auch um die Eigenart seines Produkts: „Der Religionsphänomenologe stösst nicht einfach auf die Phänomene, die er nun beschreiben könnte, sondern er produziert sie zuerst (mindestens partiell) durch seine Klassifikation.“⁵ Das heißt, der Vergleich wird niemals lediglich als methodisches Verfahren auf vorgefundenes Material angewandt werden, er produziert recht eigentlich erst das zu interpretierende Material, ‚die Symboleʻ. Die Rekonstruktionsregeln des Vergleichs müssen entsprechend so sorgfältig wie möglich offengelegt werden,⁶ eine Methodenreflexion, die gerade in der
Busse 2006/2007, S. 5. Vgl. Stolz 2004c, S. 65. Stolz 2004c, S. 65. Vgl. Stolz 2004c, S. 65. Stolz 2004b, S. 30. Vgl. Stolz 2004b, S. 41.
https://doi.org/10.1515/9783110789140-003
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Geschichte der Religionswissenschaft für lange Zeit am wenigsten selbstverständlich schien. Das Vergleichswesen, die Komparatistik gilt in vielen Wissenschaften als herkömmliches Verfahren. In den Naturwissenschaften, in der Literaturwissenschaft, in der Sprachwissenschaft wird mit großem Selbstverständnis (und Erfolg) verglichen. In der Religionswissenschaft ist das anders. Hier entzündete sich regelmäßig der Unmut an deren Vergleichen bzw. Vergleichsergebnissen, so macht etwa Anatoly Liberman den transkulturellen Vergleich bzw. deren Produzenten, ,die Komparatisten‘ gar als Hauptschuldige für die vielen ungeklärten Aspekte, die verwirrende Vielfalt an Interpretationsmustern im Baldermythos aus.⁷ Aber nicht nur in der Außenwahrnehmung des Fachs, sondern auch in seinen internen Fachdiskussionen hat oder hatte zumindest der Vergleich als Methode einen prekären Stand, auch hier hat man ihn lange Zeit mit einem gewissen Argwohn betrachtet, und insofern legt Liberman gewiss den Finger auf eine Wunde, die die Religionswissenschaft selbst schon seit ihren Anfängen umtreibt und quält. Aber was unterscheidet – möglicherweise – den Vergleich religiöser Symbole von anderen Symbolvergleichen? Ist es das Verfahren selbst, woran es krankt, oder die Inhalte (,die Religion‘), die Schwierigkeiten machen? Insbesondere die technische Seite des religionswissenschaftlichen Vergleichens scheint am wenigsten selbstverständlich: Wie vergleicht man religiöse Symbole, was vergleicht man eigentlich ganz konkret, wenn wir ,die Religion‘ als zu unspezifisch kaum gelten lassen können?⁸ Gibt es so etwas wie ein Standardprozedere, ja gibt es überhaupt ein Prozedere, das wir steuern können, oder überkommt uns einfach (wie so häufig unterstellt) eine Art Gleichheitsgefühl, eine Impression, und ab dann sind eben zwei Phänomene (Dinge, Sachverhalte, Ideen) gleich? Viel hängt von dieser Einschätzung ab, eine nicht wenig folgenschwere methodische Entscheidung für die Mytheninterpretation entsteht daraus als unmittelbare Konsequenz, eine Entscheidung, der sich bis heute Forscher/innen glauben unterwerfen zu müssen: die Mythenanalyse im Rahmen von trans- oder überkultureller komparatistischer Verfahren zuzulassen bzw. diese mehr oder weniger rigoros abzulehnen, im Glauben an die Möglichkeit einer Art ausschließlich ,internen‘, intrakulturellen Rekonstruktion. Eine Entscheidung für eine Methode geht oft genug mit der heftigen Ablehnung der anderen einher, aus durchaus methodologisch nachvollziehbaren Gründen, im Einzelfall aber auch abhängig von weltanschaulichen, ideologischen oder religiösen Vorstellungen, die, zumindest bis in die jüngste Vergangenheit, meist latent mitliefen und oft genug unreflektiert blieben. Oft genug lag der
Vgl. Liberman 2004, S. 17: „Our view of the development of this myth has been seriously obscured by recourse to comparative religion and the ever-growing indifference to internal reconstruction. The broader the background of a myth, the more similarities present themselves, and the path is lost in the wilderness.“ Vgl. Jensen 2008, S. 150: „What is it that we compare when we compare – real empirical stuff or products of our own imaginations?“
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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rastlosen Suche vieler Komparatisten der Wunsch zu Grunde, eben eine letzte Einheit in der Vielfalt religiöser Phänomene zu entdecken, jenen vielbeschworenen, unverrückbaren ,letzten Gegenstand‘⁹: ,das Heilige‘. Tatsächlich zeigt die Geschichte des Vergleichswesens einen teilweise erschreckenden Mangel an ausgearbeiteten Theorien des Vergleichs. Anschlussmöglichkeiten wurden oft genug nicht nach methodisch begründeten Kriterien konstruiert, sondern intuitiv, ohne einschränkende Prinzipien. Die Gefahr einer Entwicklung einer ideologisch weltanschaulichen, außerwissenschaftlichen Dimension in dieser Art von Interpretation ist oft genug konstatiert worden – weniger oft, dass nämliche Gefahr auch und gerade bei streng eingegrenzten, ,lokalistischen‘, rein empirischen, vorgeblich vergleichslosen Untersuchungen droht. Auch hier scheint man keineswegs gefeit vor jenen gefürchteten folk models, impressionistischen Gefühlsmomenten, die man ja traditionell eher geneigt war, (unterschiedslos) den religiösen wie religionswissenschaftlichen Komparatisten zu unterstellen. Aber für welche Position auch immer wir uns entscheiden oder glauben entscheiden zu müssen – Religion und Vergleich scheinen schon immer eine gefährliche Mischung abgegeben zu haben. „Man vergleiche“ – will man Franz Bopps Biografen Glauben schenken, sollen dies die letzten geschriebenen Worte des großen Indogermanisten gewesen sein.¹⁰ Bopp gilt bekanntlich als der Begründer der modernen Vergleichenden Sprachwissenschaft, und so tut dieses Fach, das seine Methodik so augenscheinlich bereits im Namen ausweist, seit seiner Geburtsstunde unablässig und mit großer Selbstverständlichkeit nichts anderes, als was schon sein genialer Gründer zeit seines Lebens vorgegeben hat: Vergleichen. Das 19. Jh. war von einer Art fächerübergreifenden Begeisterung und Affinität zur vergleichenden Methode erfasst worden und, wie es der Theologe und Historiker Adolf von Harnack ausdrückt, geradezu zur „Herrscherin in der Wissenschaft“ aufgestiegen, der sich keine einzige Disziplin mehr zu entziehen vermochte.¹¹ Und so machte denn auch die moderne Religionswissenschaft, deren Beginn nach allgemeiner Übereinkunft mit Friedrich Max Müller ebenso Mitte des 19. Jhs. anzusetzen ist, davon zunächst keine Ausnahme. Friedrich Max Müller begann seine Karriere als Philologe, als Indologe und blieb es zeitlebens, geprägt durch jene „romantische Indienbegeisterung“¹² seiner Zeit, die auch und gerade den Erfolgen der Vergleichenden Sprach Siehe dazu Gladigow 2005a. Siehe Lefmann 1895, S. 366 f.: „‚Man vergleicheʻ hieß es am Ende der letzten Seite, mit noch einem paar Beispielen für den Schwund des finalen s in got. gegenüber ahd. Formen. Also ‚man vergleicheʻ – und ist nicht dieß, ist nicht Vergleichen, schon da wo es noch unbewußt geschieht, der Anfang alles Erkennens und auch Nennens? und wo es bewußt und mit Absicht geübt wird, nicht der Weg, nicht das Mittel auch alles wissenschaftlichen Erkennens, allgemein, die Methode aller und jeder Wissenschaft? und endlich, nachdem so erkannt und wie zum Zeichen, daß eines richtig erkannt, neue Aufgaben, neue Probleme sich aufwerfen, ist nicht wieder und wieder zu vergleichen? ‒ ,Man vergleicheʻ, sagte Franz Bopp, und das war des vergleichenden Grammatikers, des ‚Sprachmeistersʻ letztes Wort.“ Vgl. Gladigow 2005b, S. 51. Vgl. Klimkeit 2010, S. 29.
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wissenschaft zuzuschreiben war.¹³ Vergleichsmethoden, die die Sprachwissenschaft entwickelt hatte, schienen ihm auch für die wissenschaftliche Untersuchung von Religionen geeignet zu sein. Es war aber gerade der Untersuchungsgegenstand und weniger die Methodenwahl, die Friedrich Max Müller immer wieder in Legitimierungszwang bringen sollte. Schwierigkeiten mit denen Vertreter anderer Disziplinen kaum zu kämpfen hatten, schließlich stand die prinzipielle methodische Geeignetheit der Komparatistik, ihre legitime Anwendung auf den jeweiligen Fachgegenstand nicht zur Debatte. Ganz anders in der gerade erst entstehenden Disziplin der Religionswissenschaft. Nimmermüde muss Müller für die Legitimität seines jungen Faches werben, denn nicht das Postulat der prinzipiellen Vergleichbarmachung von Religionen erweist sich als prekär, viel schwerer wiegt, dass auch das Christentum von diesem Vergleich grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden darf. Müller „[pocht] auf das Recht der Prüfung einer jeden Religion.“¹⁴ Sein Erkenntnisinteresse freilich ist ganz einem romantischen evolutionistischen Ursprungsgedanken verpflichtet: Die komparatistische Wissenschaft sieht er als Chance, die ,degenerativen‘ Entwicklungen der Religionen in Sprache und Mythologie rückgängig zu machen, sie in einen ursprünglichen und reinen Zustand zurückzuversetzen: die Wiederherstellung einer Art „überzeitliche[n] und überindividuelle[n] religiöse[n] Konvergenz“¹⁵ wird bei ihm zum methodischen Programm, also eine gezielte, theologische Vereinnahmung, die konsequent wie auch immer entdeckte Gemeinsamkeiten in den Religionen in einer Art Hierarchie der Heilsmöglichkeiten verhandelt und Unterschiede entsprechend als Defizienzerscheinungen zum Christentum hin interpretiert.¹⁶ Die Religionstaxonomen des 19. und frühen 20. Jhs. ordneten und sammelten aus diesem grundsätzlich religiösen Selbstverständnis heraus ihr Datenmaterial. Sie arbeiteten mit kulturspezifischen (christlichen, eurozentrischen) Kategorien zur Hierarchisierung von Zeichenvorräten, legten ihre Gültigkeit daraufhin an und verwendeten sie als Definitionsgrundlage für Religion selbst. Es ist die Zeit der Entstehung hochartifizieller Religionstaxonomien und Ordnungssysteme auf Grundlage der populären (und bereits popularisierten) Darwin’schen Evolutionsmodelle. Das Prinzip der Geschichtlichkeit und Pluralität von Religionen wird damit zwar konstatiert, gleichzeitig aber den Bedingungen einer teleologischen Entwicklung unterstellt, mit dem Ergebnis eines gewissermaßen religiösen Evolutionsmodells: die Ausdifferenzierung, die Vielheit religiöser Phänomene erscheint jetzt – innerhalb einer religiös begründeten Semantik – als Korrumpierung, als Verfall, und wird einer außerhalb evolutionärer Entwicklung gelegenen – unveränderlichen – Ureinheit gegenübergestellt. Als Suchraster für Religiöses in fremden Kulturen ist somit das Vergleichbare als
Vgl. Gladigow 2005b, S. 54. Klimkeit 2010, S. 35. Gladigow 2005b, S. 58. Vgl. Auffarth und Rüpke 2005, S. 8.
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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Ergebnis schon vorformuliert: Gemeinsamkeit als ein ontologisches Konzept vom ,immer Gleichen‘. Damit war aber die Marschrichtung des Fachs für viele Jahrzehnte festgelegt: Die Schaffung von „religionswissenschaftlich verwendbaren Allgemeinbegriffen, Kategorien und Klassifikationen“ wird gezielt vermieden „und durch den virtuos gehandhabten Vergleich ,religiösen‘ Sinns ersetzt.“¹⁷ Eine „folgenreiche Entscheidung gegen ‚Grundbegriffeʻ und für eine ‚platonisierende Wesensschauʻ“ sei auf diese Weise getroffen worden.¹⁸ Die Phänomenologie wird zur alles dominierenden Methode, eine kongeniale Verbindung von Vergleich und religiöser Wesensschau mit dem letzten und eigentlichen Ziel, Wesensaussagen über den dermaßen postulierten gemeinsamen Gegenstand ,Gott‘ oder ,das Heilige‘ zu treffen. Dieser explizit theologische Zugriff auf den Gegenstand Religion als heiligen Gegenstand etwa eines Rudolf Otto ist bis heute virulent. Sein berühmtestes Werk Das Heilige ist in polemischer Abgrenzung gegen „soziologische und sozialpsychologische Zugriffsweisen“ auf den Gegenstand Religion konzipiert,¹⁹ das Numinose gilt dabei als die religiöse Erfahrung schlechthin, das, je nach hervorgerufener Wirkung, wahlweise als mysterium tremendum bzw. mysterium fascinans erscheint. Es ist im Grunde genommen nicht „lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar.“²⁰ Die einzig mögliche Perspektive auf den Gegenstand Religion wird somit zu einem esoterischen Erkenntnisvorgang,²¹ in programmatischer Weise wird der Gegenstand Religion einer wissenschaftlichen Perspektive entzogen – „mentally imcomprehensible“, „unique“,²² und ganz in die Empfindungswelt religiöser Innenperspektive verlegt. Ungleichheit wird zur Unvergleichlichkeit im Sinne des „Wholly Other“, des ,ganz Anderen‘: Here the ,unique‘ is more phoenixlike, it expresses that which is sui generis, singularis, and, therefore, incomparably valuable. ,Unique‘ becomes an ontological rather than a taxonomic category; an assertion of a radical difference so absolute that it becomes ,Wholly Other‘, and the act of comparison is perceived as both an impossibility and an impiety.²³
Gladigow 2005a, S. 31. Gladigow 2005a, S. 31. Vgl. Otto 1917, S. 8. Gerne werden in diesem Zusammenhang Ottos verächtliche Auslassungen gegenüber ,religiös Unempfindsamen‘ zitiert, vgl. etwa Gladigow 2005a, S. 28: „Das Esoterische des Erkenntnisvorgangs hatte bereits R. Otto gegen soziologische und sozialpsychologische Zugriffsweisen herausgestellt.Wer sich nicht auf einen Moment ,starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit‘ besinnen kann, ist von ihm bereits auf S. 8 des ,Heiligen‘ von der weiteren Lektüre ausgeschlossen: ,Wer das nicht kann [sc. das Sich-Besinnen], oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozial-Gefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu treiben.ʻ“ Otto 1917, S. 7. Vgl. Gladigow 1988 – 2001, S. 29. Smith 1994, S. 42. Smith 1994, S. 38.
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2 Methodische Vorüberlegungen
In dieser Konsequenz wird Religion zum Phänomen sui generis und somit bereits per definitionem unvergleichbar, ein explizit wissenschaftlicher Zugang ist weder möglich noch erwünscht. Auch der methodische Zugriff eines Mircea Eliade, bis heute ein viel gelesener und zitierter Vertreter seines Fachs, gründet auf eben dieser religiös fundierten, überkulturellen und vor allem überzeitlichen Wesensschau religiöser Erscheinungen: Sie alle sind „Hierophanien“, „Kraftmanifestationen“,²⁴ als Variationen einer alles übergreifenden essentia, einer substantiellen Wesenhaftigkeit, Religion verstanden als letztendlich geschichtsloses, physikalisches Phänomen.²⁵ Der suggestive Appellationscharakter²⁶ dieses Zugangs ist nicht zu unterschätzen. Der dezidiert anti- oder ahistorische Rahmen, in den Eliade religiöse Phänomene stellt, ihre scheinbare Kontextunabhängigkeit geraten bei ihm unversehens zu einer Art Erlösungsmodell: Der moderne Mensch kann wieder in den Idealzustand eines geschichtslosen homo religiosus versetzt werden, ein vorgeblicher, festgeschriebener Dualismus von Heiligem und Geschichte (ganz nach dem romantischen Vorbild eines Friedrich Max Müller als Verlust- und Degenerationsmodell konzipiert) aufgehoben werden.²⁷ Friedrich Max Müller beantwortete sich seine programmatisch wiederholte Frage: „Was nützt Vergleichen?“²⁸ im Pathos seiner Zeit²⁹: Das Christentum muss den Vergleich nicht scheuen, es behält trotz oder besser gesagt gerade durch dieses Prozedere vorbehaltlos seine Sonderstellung und steht am Ende dieses gewissermaßen methodischen Läuterungsprozesses – als ein Verdienst der neuen Wissenschaft – in seiner ursprünglichen „Schönheit und Wahrheit“.³⁰ Ein Erkenntnisinteresse, das wir in dem uns hier gesetzten Rahmen nicht teilen können, das uns damit aber gleichzeitig eine schmerzliche Aporie bewusst macht: Nach Wegfall eines ausschließlich religiös begründeten Bezugsmodells (das ,Heilige‘)
Siehe etwa Eliade 1957. Vgl. Gladigow 1991, S. 192. So wurde das melanesische religiöse Konzept des mana in eben jener „quasi-naturwissenschaftlichen“ Manier des 19. Jahrhunderts beschrieben (vgl. Gladigow 1991, S. 177), eine Art „zauberhaftes Fluidum, der Elektrizität vergleichbar“ (Gladigow 1991, S. 178), mit weitreichenden Folgen für die Religionstheorien der folgenden Jahrzehnte. Die Begriffe werden zu „Schlagwörtern einer an einem Kraft-Energie-Gedanken orientierten Religionswissenschaft“ (Gladigow 1991, S. 179), allen voran die so genannte Dynamismus-Idee, deren Ursprung Gladigow in der romantischen, vorwissenschaftlichen Naturphilosophie Europas begründet sieht. In der Konsequenz enthebe diese Vorstellung ihre Vertreter der Notwendigkeit, den Gegenstand [die Religion, d. Verf.] in unterschiedlichen Kulturen und Epochen erst identifizieren zu müssen (vgl. Gladigow 1991, S. 191), was zu einer „programmatische[n] Hintanstellung des historischen Kontextes“ geführt habe – „,physikalische Phänomeneʻ haben eben keine Geschichte!“ (Gladigow 1991, S. 192). Vgl. Gladigow 2005b, S. 60. Vgl. Gladigow 2005a, S. 28 f. Müller 1874a, S. 9. Vgl. Gladigow 2005b, S. 54. Müller 1874c, S. 203. Siehe Gladigow 2005b, S. 58.
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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haben dermaßen konzipierte Vergleiche offenbar kaum ausgearbeitete methodische Grundlagen vorzuweisen. Und dieser Mangel an einer ausgearbeiteten Theorie des Vergleichs (bzw. Typologie vergleichbarer Phänomene) schien den religionswissenschaftlichen Vergleich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer wieder in methodologische „Sackgassen“ zu führen.³¹ Denn mochte auch der Glaube an die Möglichkeit einer substantiellen Wesensschau, an die Möglichkeit zu einem reinen Archetyp, einem unverstellten, ,eigentlichen‘ Urzustand der Religion, des Mythos zu gelangen, in einem explizit religiösen Sinne kaum noch wirksam sein, so war doch „the problem with comparison“³² auf keine Weise aus der Welt geschafft, vielmehr sollte es sich in den folgenden Jahrzehnten noch verschärfen, gerade im Rahmen einer allgemeinen postmodernen und poststrukturalistischen Theorienkritik: Der Vorwurf der ‚Pietätlosigkeitʻ und ‚Respektlosigkeitʻ dem Gegenstand gegenüber blieb, auch und gerade in einer säkularen, westlichen, modernen Welt. Jene Empfindlichkeiten, die wir zunächst geneigt waren, lediglich bei religiösen Insidern zu vermuten, hatten sich keineswegs gelegt, lediglich die Bezugsfelder verschoben: Es geht jetzt nicht mehr im Speziellen um die Befindlichkeiten und Ressentiments eines Christentums, sondern überhaupt um Befindlichkeiten und das Selbstverständnis fremder kultureller und eben auch religiöser Symbolsysteme. Und entsprechend treffen wir auf nämliche Vorwürfe gegen den Vergleich, jetzt eben in den neuen, modernen, anthropologischen, ethnologischen Debatten. Natürlich steht hier die politische, die Gesellschaftskritik im Vordergrund, eine respektlose, gewaltsame Vereinnahmung des Gegenstandes der Kultur, eine Art „misuse, misappropiation, symbolic violence“,³³ dass von ,uns‘ ausradiert würde, was essenziell und individuell gerade diesen Gegenstand ausmachte. Dahinter steht auch hier die letztendlich illusorische Vorstellung, es könnte so etwas wie eine Eigentlichkeit, eine Reinheit von Symbolsystemen geben, und ,unsere‘ Theorien seien entsprechend etwas Fremdes, das nicht dazugehöre. Aber es geht auch um die berechtigte Frage der Kontextbezogenheit, wenn man so will, entpolitisiert und auch säkularisiert, um die Tatsache, dass jedes Symbol in ein ganz spezifisches kulturelles System an Bedeutungen eingebettet ist, komparative Konzepte abstrahieren notwendigerweise vom historischen und religiösen Kontext, nicht zuletzt von der religiösen Erfahrung. Aber wieviel Kontext braucht ein Symbol um adäquat, richtig verstanden zu werden? Wer entscheidet über die Richtigkeit der Adäquatheit? Kann das nur der kulturelle oder gar der religiöse insider, so wie es unisono ein Rudolf Otto wie die postmoderne Theorienkritik behauptet? Insofern haben wir tatsächlich einen interessanten Schulterschluss zwischen religiös gegründeten Abwehrstrategien und radikalen postmodernen: Der Vergleich vereinnahme seinen Gegenstand nach wie vor in
Vgl. Gladigow 2005b, S. 60. Jensen 2008, S. 148, Anm. 15. Jensen 2008, S. 147.
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2 Methodische Vorüberlegungen
unerlaubter Weise – mit oder ohne explizit metaphysischen Transzendenzanspruch. Er kann somit nie frei sein von ideologischen, politischen, weltanschaulichen Implikationen. Er abstrahiert, simplifiziert, verfälscht, kurz: „Comparison kills!“³⁴ Jene enge Verflochtenheit von „außerwissenschaftlichen Rahmenbedingungen und internen wissenschaftlichen Entwicklungen, zwischen externem und internem Kontext“³⁵ war also keineswegs verschwunden, nach wie vor entstanden durch das Vergleichsverfahren Koppelungsstellen, „Brücke[n]“ für Sinnmuster unterschiedlichster Denksysteme,³⁶ gewiss ein Sinngenerator par excellence, indes ein unberechenbarer, zumindest schwer beherrschbarer. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, der dem religionswissenschaftlichen Vergleichswesen so nachhaltig anhaftete, findet hier seine Fortsetzung. So wurde also in der Religionswissenschaft selbst, aber nicht nur dort, das komparatistische Verfahren in den letzten Jahrzehnten mit einer gewissen Skepsis, zumindest aber mit einiger Zurückhaltung betrachtet,Wissenschaftlichkeit wurde ihm nicht unbedingt in toto abgesprochen, aber ein gewisser Hang zum Unkontrollierbaren, zu einer obskuren ,Wildheit‘ immer wieder attestiert. Interessant dabei, dass dieses methodologische Unbehagen (weiterhin) nicht im Rahmen einer systematischen Methodenreflexion erschien, vielmehr traten viele Forscher/innen gewissermaßen die Flucht davor an: Nicht die Methodik wurde neu evaluiert, sondern die Untersuchungsgegenstände eingegrenzt. Um der Gefahr von ,Wildwuchs‘ und damit dem Makel von Unwissenschaftlichkeit zu entgehen, entstanden infolge davon immer mehr lokal streng begrenzte, ausschließlich empirisch ausgerichtete Arbeiten.³⁷ Auf diese Weise verschiebt sich entsprechend auch der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses (und Validität!) von Universalität, Gemeinsamkeit, Allgemeingültigkeit auf Individualität, Lokalität, Differenz. ,Kontext‘, ,Kontextualisierung‘ werden zu den neuen, modernen, positiv aufgeladenen Leitvokabeln, ausschließlich der kulturelle Kontext muss und kann die Muster, die Konzepte für Plausibilisierungen, Sinngebungen in den jeweiligen Symbolsystemen bereitstellen. Insofern sei es auch „kein Zufall und nicht nur mangelnder methodischer Durchblick“,³⁸ wie Gladigow betont, dass bis in jüngste Zeit, offenbar gerade in deutschen Forscherkreisen, „Religionsphänomenologie und Vergleichende Religionswissenschaft einfach gleich[ge]setzt [werden].“³⁹ Auch Anatoly Liberman spricht sich in seiner Baldermythos-Analyse explizit gegen die komparatistische Methode aus, für ihn kommt offenbar nur ein mehr oder
Patton 2000, S. 159. Siehe ähnlich Stolz 2004b, S. 44: „Alle Verfahrensweisen, welche der Vergleichbarkeit religiöser Phänomene dienen, haben die Tendenz, diese Phänomene zu vernichten.“ Gladigow 2005b, S. 52. Vgl. Gladigow 2005b, S. 52. Vgl. Jensen 2008, S. 148: „The end result was that many in the field became extremely wary of comparison and took, instead, to producing detailed particular studies.“ Gladigow 2005b, S. 60. Gladigow 2005b, S. 60.
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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weniger eng gesetzter lokaler, nordisch germanischer Rahmen infrage, der grenzübergreifende, trans- oder überkulturelle Vergleich wird zurückgewiesen, bezeichnenderweise setzt er dieses Vorgehen mit religionswissenschaftlicher Komparatistik („comparative religion“⁴⁰) gleich. Die Gründe, die er dafür angibt, sind ebenso notorisch wie exemplarisch und ebenso von einem tiefen Missverständnis über das moderne Vergleichswesen in der Religionswissenschaft geprägt.Wir wollen sie uns im Einzelnen betrachten und dort, wo notwendig, Ergänzungen und Erklärungen vornehmen. Die bis dato betriebene Mythenanalyse (auch und gerade in der Nordistik) habe unser Verständnis vom Baldermythos, ja wohl von Mythos überhaupt in keiner Weise erhellen können, so Liberman, im Gegenteil: Our view of the development of this has been seriously obscured by recourse to comparative religion and the ever-growing indifference to internal reconstruction. The broader the background of a myth, the more similarities present themselves, and the path is lost in the wilderness. […]. It may therefore be useful to stay at home and find out what we really know about Baldr, what we can reconstruct with authority, and what riddles only Óðinn can solve.⁴¹
Es sind also die Irrungen und Wirrungen religionswissenschaftlichen Vergleichens, die unseren Blick eher ,verdunkeln‘ und uns bezeichnenderweise in die ,Wildnis‘ führen, entsprechend wird die von ihm favorisierte ,interne‘ Mythen-Rekonstruktion mit einer Art ,Heimatmetapher‘ belegt („[i]t may therefore be useful to stay at home“). Nur im eng gezogenen, spezifisch nordischen kulturellen Kontext des Baldermythos, eben ,daheim‘, kann Forschung darüber (legitim und mit Gewinn) betrieben werden. Die räumliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes erscheint entsprechend logisch in dieser Wucher-Metaphorik, aber wie auch immer wir diese Entscheidung beurteilen wollen, als vernünftiges Selbstbescheiden, weil eben auch einer durchaus legitimen Forschungsökonomie geschuldet, oder eher als methodischen Kahlschlag, „to stay at home“, diese Festlegung wirkt kaum weniger intuitiv, gefühlsmäßig. Vor allen Dingen wird sie nach unseren bisherigen Überlegungen gerade kein Garant zur Kontrolle jener gefürchteten, wilden, expansiven Syntagmatismen sein. Ein Beispiel aus einer Fachrichtung, die prima facie eher weniger mit religiösen Deutungsmustern und deren Verknüpfungsstrategien zu tun zu haben scheint, mag dies verdeutlichen. Auf gleiche Weise bescheinigt der Linguist Theo Vennemann ausgerechnet der streng lokalistisch ausgerichteten deutschen Ortsnamenkunde einen „Wildwuchs der Volksetymologie“,⁴² und auch hier geht der Vorwurf tiefer: Volksetymologie, also unwissenschaftliche, „naiv“ betriebene Etymologie „mit nur geringer oder gar keiner Berücksichtigung des bereits erreichten einschlägigen Kenntnisstandes“⁴³ werde in der deutschen Toponomastik nachgerade zum metho
Liberman 2004, S. 24. Liberman 2004, S. 17. Vennemann 2003b, S. 780. Vennemann 2003c, S. 758.
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dischen Prinzip erhoben. Wenn ein Laie „in wissenschaftlich gesehen unzulässiger Weise“, also „entgegen der sprachhistorischen Richtigkeit“⁴⁴ ein Wort einem bestimmten Etymon zuordne bzw. dessen Laut- und Schriftbild dermaßen verändere, dass es eben zu jenem vermutet gleichen Etymon passe, so sei das, und das betont Vennemann ausdrücklich, eine Tätigkeit der „gewöhnlichen unbewußten Sprachaneignung“,⁴⁵ ein übliches, in unserem Fall lautlich assoziatives Verfahren, gegründet auf jenes Alltagsempfinden von Gleichheit, in dem Dinge, die gleich aussehen (bzw. sich gleich anhören), eben auch gleich sind. Bezeichnenderweise sind diese so verstandenen „Fehletymologien“⁴⁶ in den überwiegenden Fällen gerade nicht aufgrund irgendeiner semantischen, begrifflichen Übereinstimmung entstanden, es ist die rein äußere Form, eben die Klangähnlichkeit, die die Aneinanderrückung zunächst plausibel genug macht, ja, „fehlende Bedeutungsassoziation [werde] nicht als störend empfunden“, sie könne immer noch, „später irgendwie“, nachkonstruiert werden.⁴⁷ Und jene typischen Kennzeichen von laienhaften Aneinanderrückungen ohne einschränkende Prinzipien (es gelte „unausgesprochen die Maxime: ,Catch as catch can!ʻ“) vermutet Vennemann nun bei der immerhin mit wissenschaftlichem Deutungsanspruch agierenden deutschen Toponomastik: „Jedem lautlichen Anklang darf gefolgt werden, jeder sachliche oder begriffliche Bezug ist erlaubt.“⁴⁸ Dabei dürften Benennungskonzepte explizit unter Außerachtlassung realgeschichtlicher oder historisch geographischer und geophysischer Empirie formuliert werden.⁴⁹ In dieser Einschätzung gleicht Vennemann bis hinein in die Metaphernwahl Libermans Kritik an einem prinzipienlosen, unwissenschaftlichen, eben ,religionswissenschaftlichen‘ Vergleichswesen. Andererseits aber scheint die deutsche Ortsnamenkunde keineswegs prinzipienlos, sie hat sich im Gegenteil sehr rigiden Prinzipien unterworfen, eine davon lautet: „Daß bei Namen im d[eu]t[schen] Sprachgebiet zuerst ein Bezugsappellativ innerhalb der d[eu]t[schen] Sprache bzw. ihrer historischen Vorstufen gesucht wird, liegt auf der Hand.“⁵⁰ Gerade in dieser Begrenzung sieht Vennemann den Grund für jenen ,Wildwuchs‘: Weil die Maxime des Vorrangs eines bestimmten Symbolsystems (hier einer Sprache) als Deutungssystem so allumfassend gültig gehandhabt werde, eben ,auf der Hand liege‘, müssten dafür sogar Lautgesetzlichkeiten und Empirie hintangestellt werden. Und wenn auf keine Weise an ein germanisches Appellativum anschließbar, eine Regel, die so nachhaltig auf Einhaltung poche, so müsse ein Lexem mit unklarem semasiologischem Befund wenigstens einen germanischen Eigennamen als Grundlage für sich in Anspruch nehmen können, und das
Vennemann 2003c, S. 757. Vennemann 2003c, S. 757. Vennemann 2003c, S. 764. Vgl. Bebermeyer 1974, S. 165. Vennemann 2003c, S. 780. Vgl. Vennemann 2003c, S. 779. Greule 2004, S. 3461.
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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gelte selbst dann noch, wenn die Namen eigens dafür erfunden werden müssten.⁵¹ Ein Heer letztendlich fiktiver, immerhin aber ‚germanischerʻ Gründungsväter sei auf diese Art entstanden.⁵² Wie auch immer im Einzelfall das zweifellos schwierige, da häufig genug sprachlich isolierte toponymische Material linguistisch und realgeschichtlich eingeordnet werden muss, die Eingrenzung bzw. das Primat des ,Germanischen‘ als Anschluss- und Ausschlussmodell für diese Quellen zwingt Laien wie Experten zu fiktiven Sinnnachkonstruktionen. Letztere hätten indes (im Gegensatz zum Laien) Kenntnis von anderen Bezugsmodellen, etwa früheren Sprachstufen, bzw. müssten diese, nach Vennemanns Ansicht, zumindest im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses zur Kenntnis nehmen.⁵³ Das Germanische als bzw. aus Prinzip scheint in diesem Fall axiomatisch geworden zu sein, im äußersten Fall können solche selbstverständlichen, fraglosen Grundannahmen überhaupt keine Deutungsalternativen mehr vorsehen. So vermag auch oder vielleicht gerade strengste Kontextbegrenzung am wenigsten hinreichenden Schutz gegen weltanschaulich-ideologisierende Ergebnisse zu bieten. Das Primat eines homogenen, unvermischten Symbolpools (und in
Vgl. Vennemann 2003c, S. 777. Dieser zumindest bedenkenswerte und auch in der Ortsnamenkunde bekannte Umstand, dass die Beleglage für eine realhistorische Existenz eines (durch deren eigene Methoden erschlossenen) namengebenden Gründervaters (oder -mutter) gegen Null geht, wird indes gerade nicht zum Überdenken der methodischen Prämissen herangezogen, vielmehr zur Falsifizierung von Vennemanns These: „Dieses kann nur äußern, wer sich noch nie intensiv mit Ortsnamen in Deutschland auseinandergesetzt hat. Wir haben bei unseren Untersuchungen der Ortsnamen Westfalens, Niedersachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens schon tausende von Belegen durchgesehen und haben bisher nur ganz vereinzelt nachweisen können, auf welche Person sich ein im Bestimmungswort vorliegender Personenname bezieht. So gelingt es etwa bei dem Ortsnamen Bodenwerder. Bei diesem wissen wir, welcher Bodo gemeint ist, bei fast allen anderen bleibt die hinter dem Namen stehende Person im Dunkeln. In Prozenten ausgedrückt: bei 99,99 % der Namen ist eine Zuordnung zu einer konkreten Person nicht möglich“ (Udolph 2013, S. 273). Unabhängig davon, welchem Interpretationsansatz man im konkreten Einzelfall zustimmen will, vermag der Mensch tatsächlich Anfänge kaum anders zu denken als im Sinne einer intentionalen und damit personalen Setzung. In der Konsequenz wird man davon ausgehen müssen, dass undurchsichtige (gegebenenfalls voreinzelsprachliche) Bestandteile in Ortsnamen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ‚personalisiert‘, im Sinne eines mythisch-legendären ‒ personalen ‒ Ursprungsgedankens lautlich wie semantisch ,zwangsintegriert‘ werden. Damit sind (reale wie fiktive) Personen(namen) in Ortsnamen natürlich möglich, aber von vorneherein verdächtig, zumindest nicht mit dieser Selbstverständlichkeit zu behandeln, wie die Ortsnamenforschung dies handhabt. Bezeichnenderweise wird der Vorwurf der Laienetymologie von Seiten Vertreter der (traditionellen) Ortsnamenkunde nicht nur zurückgewiesen, sondern seinerseits umgewendet und für Vennemanns heftig umstrittenen Theorien, etwa zur sog. ‚vaskonischen‘ Herkunft europäischen Ortsnamenmaterials, herangezogen: „Ihm genügen relativ nahe Anklänge an Wörter des heutigen Baskischen, um traditionelle Onomastiker damit zu verblüffen, über wieviele Jahrtausende hinweg die vaskonischen Wurzeln und Suffixe ihre Identität erhalten konnten“ (Steinbauer 2005, S. 61, zit. n. Udolph 2013, S. 296). „Um es deutlich zu sagen: diese Methode ist unwissenschaftlich und entspricht vollständig der von Laien“ (Udolph 2013, S. 296).
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seiner wichtigen Konsequenz dessen Symbolproduzenten) kann auf gleiche Weise zum Generator für außerwissenschaftliche Deutungsmuster werden. Genauso wenig können wir aber von der Vorstellung eines homogenen, unbeeinflussten Symbolpools des Baldermythos, der nordischen Mythologie, ja des Mythos als Symbolsystem überhaupt ausgehen. Das behauptet Liberman zwar nicht explizit, aber durch seine methodologische Entscheidung, ausschließlich germanische Elemente zum Vergleich zuzulassen, seine prinzipielle Ablehnung transkultureller Komparatistik bzw. deren Ergebnisse, muss er sogenannte ,Fremdeinflüsse‘ zwangsläufig unberücksichtigt lassen, ja sie setzt ihn außer Stande, diese überhaupt zu erkennen. Schließlich ist zumindest ein Teil seines Forschungsinteresses auf Genese und Ursprung des Mythos gerichtet, also dessen Diachronie,⁵⁴ es ist eher unwahrscheinlich, dass hier nur ausschließlich interne, germanische Anschlussmöglichkeiten in Betracht kommen können. Kein kulturelles System kann von einer wie auch immer gearteten Vorstellung von Beeinflussung ausgenommen werden, „no known society is the pristine product of its own history, untouched by contact with other cultures.“⁵⁵ Jedes kulturelle (religiöse, sprachliche usw.) Symbolsystem ist in diesem Sinn ein syncretistic blending, gewiss das Christentum, die Ortsnamensymbole auf germanischem Boden und auch die nordische Mythologie ‒ und wie auch anders? ,Synkretistische‘ Symbolneukombinationen, ,Fremdeinflüsse‘, gemeinhin Entlehnungen gehören ganz grundsätzlich zu jener „mode of production“, den Produktionsbedingungen, den Aktualisierungsmechanismen (eben nicht nur) religiöser Symbole, Synkretismus ist damit letztendlich Geschichte, die alle Religionen haben.⁵⁶ Sie sind Elemente von Zeichensystemen, die als Spezialdiskurse zusammen mit anderen Spezial- und Interdiskursen die Eigenschaft haben, Elemente untereinander auszutauschen, zu kommunizieren. Es ist diese ,Tendenz zum Wandern‘, ihre Instabilität, ihr „fluxus quo“, der immer wieder gerade innerhalb der postmodernen Strömungen problematisiert wurde.⁵⁷ Kurz, es ist der diskursive Normalfall, von dem immer ausgegangen werden muss. Natürlich können und dürfen Einflüsse ,von außen‘ im Weiteren unbehandelt bleiben, ähnlich wie in einer Sprachbetrachtung Fremdund Lehnwörter zwar isoliert, aber nicht zum Gegenstand der eigentlichen Untersuchung werden müssen. Aber die Sprachwissenschaft kann nur deshalb so arbeiten, weil die Historische Sprachwissenschaft und die Sprachkontaktforschung ihr dazu die nötigen Daten liefern. Mit dem Ausgrenzen der Möglichkeit von Einflussnahme früherer Sprachstufen (nicht zu verwechseln mit der Eingrenzung des Forschungsschwerpunktes selbst) könnten Plausibilitätslücken dann im Extremfall mithilfe außerwissenschaftlicher Anschlussmöglichkeiten geschlossen werden. Das Ausklammern dieser Möglichkeit in der Mythenforschung birgt die gleichen Gefahren.
Vgl. Liberman 2004, S. 1. Luther und Leopold 2004, S. 96. Vgl. Luther und Leopold 2004, S. 95 f. Vgl. Tracy 1994, S. 16, zit. n. Patton und Ray 2000, S. 2.
2.1 Vergleich und Vergleichbarmachung: „Comparison kills!“
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Vennemann und andere fordern deshalb zu Recht methodologische Konsequenzen in der Historischen Ortsnamenkunde: Bei der Ortsnamendeutung müssen alle [kursiv d.Verf.] im Verlauf der Geschichte für die fragliche Örtlichkeit in Betracht kommenden Sprachen in gleichem Maße [kursiv d. Verf.] berücksichtigt werden, die ältesten wie die jüngsten. Eine frühe Bezeugung kann dabei eine jüngere Sprache als Quelle ausschließen, aber niemals eine erst spät einsetzende Bezeugung eine ältere Sprache. Insofern könnte man die methodische Regel geradezu umkehren und fordern, daß ältere Sprachen bei der Ortsnamendeutung prinzipiell stärker zu berücksichtigen sind, da sie als Quelle niemals allein durch die Beleglage auszuschließen sind. Tatsächlich müssen alle für die ursprüngliche Namengebung in Betracht kommenden Faktoren, sprachliche wie außersprachliche berücksichtigt werden, um ohne Präjudiz die sprachliche Schicht zu bestimmen, auf der der Name vergeben wurde und aus der er somit auch gedeutet werden muß. Das Abweichen von dieser methodischen Regel hat den etymologischen Wildwuchs verursacht, an dem die Toponomastik des 20. Jahrhunderts krankt.⁵⁸
Es geht also um ein grundsätzliches Primat der Vermischtheit, eine grundsätzliche Möglichkeit zu Synkretismen, was nicht ignoriert bzw. ‒ und dann schon mit deutlich mehr ideologischem Impetus ‒ kurzerhand negiert werden kann. Wenngleich uns das nicht der Forderung einer Nachweisbarkeit und Beschreibbarkeit solcher ,Vermischungsprozesse‘ enthebt, der Fragenkatalog verschiebt sich lediglich: weg vom ,ob‘, hin zum ,wie‘ und ,warum‘.⁵⁹ Was aber nun, wenn der Nachweis einer historischen Kontaktsituation nicht erbracht werden kann? Für die meisten scheint spätestens dann die Sache entschieden: Vorausbedingung für die Validität von Vergleichen ist die nachweisbare Kontinuität und Kontiguität der Symbolproduzenten, entsprechend kann nur der genealogische Vergleich Beweiskraft, ja letztendlich Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen. Das heißt, um ,wirklicher‘, ,richtiger‘ Gleichheit auf die Spur zu kommen, scheint der typologische, analoge Vergleich wenig geeignet. Ohne historische oder genealogische Verbindung, genauer, ohne empirisch nachweisbare Kontinuität und Kontiguität kann er nur Vergleich ,zweiter Klasse‘ sein: Neckel’s comparison of Baldr with Tammuz, Adonis, and Attis is also of limited importance (1920). Baldr emerges as part of a sizable group of dying gods, but his death needs no proof from other religions, while our understanding of the origin of the Scandinavian myth is not advanced by this comparison, for despite Neckel’s analysis there is no certainty that the story of Baldr reached northern Europe from the East: perhaps we are dealing with a typological parallel. The repertoire of motifs in Eurasian mythology is not too extensive, and the structure of many myths is the same everywhere from Iceland to Ancient Egypt and Babylonia.⁶⁰
Vennemann 2003c, S. 780. Vgl. Luther und Leopold 2004, S. 96: „This recognition that all societies – and thus their religions – are influenced by the ubiquity of intercultural contact only becomes useful if it can be explained how or why borrowings from another culture either validate or challenge an already existing religious capital.“ Liberman 2004, S. 17.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Tatsächlich versucht Liberman hier die vorgebliche Unergiebigkeit von transkulturellen Mythen-Vergleichen nicht etwa mit einem Argument der dann kaum mehr zu übersehenden Fülle des Korpus, der Unvergleichbarkeit oder Ähnliches zu begründen. Im Gegenteil, er verweist ausgerechnet auf die strukturelle Begrenztheit und Gleichförmigkeit des Mythenmaterials, eben die typologische Ähnlichkeit im gesamten eurasischen Raum, aber diese bietet für ihn offenbar gerade nicht genügend Legitimation und Grundlage zur Vergleichbarkeit. Nun scheint eine gleichmäßig verlaufende, voneinander unabhängige, ,lediglich‘ typologische Entwicklung religiöser Symbole über einen dermaßen weit abgesteckten historischen und geographischen Bereich („from Iceland to Ancient Egypt and Babylonia“)⁶¹ kaum wahrscheinlich. Aber selbst wenn wir von einer derart postulierten gigantischen typologischen Megastruktur ausgingen, könnte sie wohl kaum mit einem Achselzucken abgetan werden, wenn wir nicht wieder ideologischen oder (noch unergiebigeren) relativistischen Anschlüssen das Feld überlassen wollen. Natürlich, wenn nicht Entwicklung, sondern Aktualisierung und Kontextualisierung in einem konkreten historischen Diskurs, etwa dem spätpaganen Wikingerzeitalter, im Vordergrund stehen, mag die Möglichkeit einer außersystemischen Herkunft gewisser Mythologeme durchaus zweitrangig sein, so etwa John Lindow, indem er ausdrücklich sein Erkenntnisinteresse am Baldermythos umreißt, „with the myth in the forms in which we have it and the meaning it might have borne for those who knew it in those forms.“⁶² Es geht ihm also ganz bewusst um eine Ausdeutung von Symbolen, so wie sie dem Verständnis und den Möglichkeiten dieser Zeit entsprachen, aber die Bedeutung des Baldermythos für den spätpaganen Wikinger genauso wie für den mittelalterlichen Christen Snorri ist nicht die Bedeutung, der Sinn des Baldermythos, es ist einer davon. Es gilt hier ohne Einschränkung, wovon auch die historische Semantik, die Wortetymologie im Bereich der Sprachwissenschaft für ihre Symbolisate ausgehen muss: Der synchrone Befund ist keineswegs „getreues Abbild der Diachronie“⁶³: „Eine synchrone Bedeutungsstruktur bewahrt also in den seltensten Fällen die komplette Bedeutungsgeschichte, sie ist nur eine Momentaufnahme der ,erfolgreichen‘ Verwendungen.“⁶⁴
2.2 „In Comparison a Magic Dwells“ Nun scheint aber die Vertrautheit des eigenen Kulturraums trotz allem eine ,authentischere‘ Vorstellung von Gleichheit produzieren zu können, sei es, weil man sich der Eingeborenenperspektive, „the native’s point of view“,⁶⁵ in einem ganz konkreten
Liberman 2004, S. 17. Lindow 1997, S. 28. Blank 2005, S. 1330. Blank 2005, S. 1330. Vgl. Gottowik 2004, S. 158.
2.2 „In Comparison a Magic Dwells“
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Sinn näher fühlt oder sogar als ein Teil davon („what we really [kursiv d. Verf.] know about Baldr“).⁶⁶ Aber unabhängig davon, dass räumliche Nähe auf keine Weise zeitliche Ferne zu kompensieren vermag, vermag sie genauso wenig jenen begehrten authentischen Blick auf Wirklichkeit zu re-produzieren. Die unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen turns der Vergangenheit haben uns eines Besseren belehrt, nirgendwo können wir die Fakten einfach „für sich sprechen lassen“.⁶⁷ Auch Wissenschaft muss ihre Realität erst konstruieren, und es ist eben jener Modellcharakter ihrer Konstrukte, der in der Vergangenheit häufig genug übersehen worden ist. Der Geschichtstheoretiker Hayden White hat bekanntlich die Geschichtswissenschaften mit der seinerzeit schockierenden Behauptung konfrontiert, alle ihre Gegenstände seien letztendlich rhetorische Konstrukte, kollektive verbale Fiktionen. In der Ethnologie wurde von James Clifford die Problematik aufgegriffen, „partial truths“, ,halbe‘ und eben gleichzeitig auch ,parteiische Wahrheiten‘, so nennt er die Ergebnisse der westlichen Ethnologie in einem bezeichnenden Wortspiel, durch eine Reihe literarischer Verfahren würde erst im Nachhinein Sinn erzeugt und somit könnten sie rechtmäßig Fiktionen genannt werden.⁶⁸ Inzwischen sind die provokanten Thesen der vergangenen Jahrzehnte so provokant nicht mehr, aber für das mythische Vergleichswesen müssen wir uns diese Grundbedingungen nachdrücklich noch einmal vor Augen führen: Keine einzige Quelle spricht zu uns ,von selbst‘, auch ,authentische‘, emische Vorstellungen müssen übersetzt, neu semiotisiert und kategorisiert werden, es ist ‒ zunächst einmal ‒ das Gleichheitsempfinden des Analysten, der Analystin, es ist sein oder ihr spezifischer kultureller Kontext, der die Voraussetzung für eine Theorie von Gleichheit liefert. ,Fremde‘ Wahrheiten müssen zwangsweise zu ,eigenen‘ gemacht werden, sie müssen immer in unser eigenes Wissen von Welt eingepasst werden. Und so müssen auch ,Eingeborenen-Modelle‘, emische Modelle, erst vom Analysten, der Analystin produziert werden. Sie sind das Ergebnis von Analysen des „native’s point of view“, sie sind in nichts weniger konstruiert.⁶⁹ Und sie kommen gewiss nicht ohne oder weniger Vergleich aus, auch wenn die Selbstverständlichkeit und Vertrautheit des eigenen folk models (in unserem Fall des skandinavisch-nordisch-europäischen) und die räumliche Nähe zum Untersuchungsgegenstand dies suggerieren. Wenn also die Theorien, mit denen wir das Material bearbeiten, immer von ,uns‘ sind, ist auch die Entscheidung zum genealogischen wie zum typologischen Vergleich in keinem Fall selbstredend, und weder sind typologische Modelle per se fiktiver, irgendwie ,impressionistischer‘, ohne Referenz in der Wirklichkeit, noch haben genealogische Modelle ein gewissermaßen natürliches Selbstverständnis, eine Konkretheit, die, dem Himmel sei’s gedankt, mit einem Minimum an Theorien auskommen.
Liberman 2004, S. 18. Jensen 2008, S. 150. Vgl. Clifford 1993. Vgl. Jensen 2008, S. 143.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Was also ist mit dieser ,Theorie‘, der wir dermaßen misstrauen? Sie scheint Aspekte und Eigenschaften in ‒ unserer Meinung nach ‒ direkt beobachtbare empirische Informationen hineinzulegen, die möglicherweise vorher noch nicht da waren. Aber seit Immanuel Kant müssen wir mit der Erkenntnis leben, dass alle Daten, die wir aus unserer Umwelt erhalten, letztlich fingierte Daten sind.⁷⁰ Jede perzipierte Gleichheit (oder Ungleichheit!) von Phänomenen (seien es nun zwei oder ,alle‘) ist immer erst das Ergebnis eines kognitiven Vergleichbarmachungsprozesses, ist also immer erst ein Nachhinein. Es sind Vorstellungen, Modelle, Kategorien, frames,⁷¹ die als Nach-Konstruktionen Ähnlichkeiten entwerfen, suggerieren, fingieren. Gut geglückte, gut funktionierende Wirklichkeitskonstrukte liefern indes immer die Suggestion einer Art Präexistenz von ,Ähnlichkeits-Substanz‘ oder ,-Inhalt‘ der Phänomene mit, Ähnlichkeit bekommt dann, etwa im Rahmen religiöser Konzepte, rasch ontologischen Status, sie ist den Dingen inhärent, ,schon immer‘ da gewesen. Und somit erscheint uns der Vergleich, auf diese intuitive, unbewusste Art getätigt, als „the easiest and most natural, even the most vital thing we do“ ‒ jedenfalls gänzlich theorienlos, und doch, so beeilt sich auch Armin Geertz hinzuzufügen, „it is not an easy matter when applied to the sciences and humanities.“⁷² Ähnlich Gunter Stephenson: Das Vergleichen gehört zu den anthropologischen Kernbefunden, bevor es überhaupt in der Wissenschaft angewandt wurde. Es ist ein natürlicher Vorgang, der täglich praktiziert wird: beim Auswählen, beim Bearbeiten, Beurteilen und Werten. Wir vergleichen das Eine mit dem Anderen,
So macht der Neukantianer Ernst Cassirer deutlich genug: „Man nimmt freilich oft in erkenntnistheoretischen Betrachtungen als den Anfang aller empirischen Erkenntnis einen Zustand der reinen Unmittelbarkeit, der bloßen Gegebenheit an, in dem die Eindrücke nur in ihrer einfachen sinnlichen Beschaffenheit aufgenommen und in dieser Beschaffenheit ‚erlebt‘ werden sollen – ohne daß an ihnen schon irgendeine Formung, eine denkende Bearbeitung vorgenommen würde. […]. Aber man vergißt hierbei allzu leicht, daß die hier vorausgesetzte schlechthin ‚naive‘ Stufe des Erfahrungsbewußtseins selbst kein Faktum, sondern eine theoretische Konstruktion – daß sie im Grunde nichts anderes als ein Grenzbegriff ist, den die erkenntniskritische Reflexion sich geschaffen hat. Auch dort, wo das empirische Wahrnehmungsbewußtsein sich noch nicht zum Erkenntnisbewußtsein der abstrakten Wissenschaft entwickelt hat, enthält es implizit bereits jene Scheidungen und Trennungen, die in diesem in expliziter logischer Form hervortreten“ (Cassirer 2010, S. 42). Alle diese Begriffe bezeichneten letztendlich dieselben Konzepte von „Bildern im Kopf“, so Fritz Hermanns, und er fügt noch einige hinzu: „Stereotyp“, „Prototyp“, „kognitives Modell“, „Schema“. Diese seien natürlich theorieabhängig und aus einer jeweiligen Fachgeschichte heraus entstanden, aber nach Meinung Hermanns problemlos austauschbar, er sieht in ihnen eine „Renaissance“, eine „Wiederauferstehung“ der lange „verpönte[n]“ Begriffe der „Idee“ und der „Vorstellung“. Immer gehe es um schematisierte, mentale Organisationsmuster von Wissen (vgl. Hermanns 2002, S. 291 f.). Dennoch setzen die einzelnen Theorien und Konzepte noch einmal unterschiedliche Schwerpunkte: Der frame-Begriff etwa erklärt die zugrundeliegende Struktur mentaler Repräsentationen als fachwerkartige Rahmenkonstruktion (vgl. Minsky 1975), wohingegen die Prototypentheorie eher die idealtypischen Mitglieder, eben die Prototypen, die ,Urbilder‘, dieser Repräsentationen fokussiert (vgl. Rosch 1978). Geertz 2008, S. 113.
2.2 „In Comparison a Magic Dwells“
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bei Gegenständen und Lebewesen, bei Menschen, Eigenschaften und Ideen. Wir stellen dabei Gleiches, Ähnliches, Entsprechendes und Verschiedenes fest – und verhalten uns danach. Der Vorgang zeigt etwas so Selbstverständliches, daß er nicht der Rede wert wäre, würde er in seiner Entfaltung nicht die Basis auch für unser wissenschaftliches Erkennen abgeben.⁷³
Es ist jene verhängnisvolle Ignoranz, die auch der amerikanische Religionswissenschaftler Jonathan Z. Smith als einer der Ersten in den eigenen Reihen anprangert. In seinem in jeder Hinsicht richtungsweisenden Aufsatz „In Comparison a Magic Dwells“ (1982)⁷⁴ konfrontiert er die konsternierte Fachwelt mit einer ähnlich provokanten These wie Vennemann die germanistische Linguistik: In jedem, selbst im vorgeblich wissenschaftlich getätigten Vergleich ,wohne‘ Magie, seien magische Prinzipien wirksam. Er geht dabei von der Magiedefinition früher Religionsgeschichtler aus, etwa eines E. B. Tylor, die J. G. Frazer als die ,Logik der Magie‘ wie folgt beschreibt: If my analysis of the magician’s logic is correct, its two great principles turn out to be merely two different misapplications of the association of ideas. Homoeopathic magic is founded on the association of ideas by similarity: contagious magic is founded on the association of ideas by contiguity.⁷⁵
Und darauf aufbauend: [W]e shall find […] that they [Beispiele sympathetischer Magie, d. Verf.] are all mistaken applications of one or other of two great fundamental laws of thought, namely, the association of ideas by similarity and the association of ideas by contiguity in space or time. A mistaken association of similar ideas produces homoeopathic or imitative magic: a mistaken association of contiguous ideas produces contagious magic.⁷⁶
Smith sieht diese „misapplications of the association of ideas“, jene „confusion of a subjective relationship with an objective one“ nach wie vor wirksam.⁷⁷ Und er bescheinigt dieses magische (sprich außerwissenschaftliche) Verfahren ausnahmslos allen seinen modernen Wissenschaftskollegen: Wenn sie Komparatistik betrieben, betrieben sie diese nach den prälogischen Prinzipien der Magie.⁷⁸ Es seien die Regeln der Magie, die es erlaubten, jeder Ideenassoziation nachzugehen, eine exzessive Fixiertheit auf Ähnlichkeiten bei gleichzeitiger Außerachtlassung von Differenzen, die
Stephenson 1997, S. 93. Smith 1982; wiederabgedruckt in Patton 2000. Frazer 1922, S. 12. Frazer 1922, S. 49. Smith 2000, S. 25. Siehe Taylor 1870, S. 132: „Indeed, any association of ideas in a man’s mind, the vaguest similarity of form or position, even a mere coincidence in time, is sufficient to enable the magician to work from association in his own mind, to association in the material world.“
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2 Methodische Vorüberlegungen
die Komparatistik problematisch, wenn nicht gar unmöglich mache.⁷⁹ Denn das Ergebnis für Magier wie Wissenschaftler ist das gleiche: eine spontan und intuitiv empfundene Ähnlichkeit. Gerade dezidiert wissenschaftlich intendierte Konzepte von Vergleich blieben also – trotz ihres Selbstverständnisses als Gegenposition zum magischen Denken schlechthin – in nämlichem Denken verhaftet. Diese individuelle, intuitive Erfahrung bezeichnet Smith als „a sort of déjà vu“, die erst in einem zweiten Schritt zu einer objektiven Verbindung konstruiert werde, indem sie etwa in wissenschaftliche Theorien von Einfluss, Diffusion, Entlehnung eingebaut werde.⁸⁰ Freilich, auch die Berührung im Raum („the association of ideas by continguity in space or time“), eben jenes Konzept, auf das gerade die Lokalisten so nachhaltig pochen, ist auch bei ihm keineswegs vom Magieverdacht freigesprochen. Im Jahre 1992 greift Smith mit seinem Buch Drudgery Divine die Fragestellung noch einmal auf. Seine Analyse fällt in vieler Hinsicht noch kritischer aus, und doch versucht er sich gerade im Vergleich zweier religiöser Systeme: die antiken Mysterienkulte und das frühe Christentum. Jetzt also eine bewusste Entscheidung für eine Methode, die er zu Recht immer wieder stark problematisiert hat. Damit macht er aber auch einen Grundsatz deutlich: Er ist von der prinzipiellen Anwendbarkeit und Validität der vergleichenden Methode nach wie vor überzeugt ‒ und sei es nur aus einem einzigen Grund: ihre Unvermeidbarkeit. Es ist die von da an immer wieder konstatierte „inevitability“, die Unvermeidbarkeit des Vergleichs, die uns offenbar keine Wahl lässt. Mit Smith beginnt nun endlich eine systematische Methodenreflexion in der Religionswissenschaft, er macht sich Gedanken über das konkrete technische Prozedere des wissenschaftlichen Vergleichs: Wie jenen Magieverdacht und damit den Makel der Unwissenschaftlichkeit loswerden? Wie jener Suggestion einer Präexistenz von Ähnlichkeit, eines alles durchdringenden, ähnlich machenden Kontagions entgehen? Aber auch seine Lösung bedeutet eine kaum weniger schmerzliche Einschränkung wie der vorausgegangene methodische Kahlschlag der Lokalisten: Sahen letztere ihr Heil oder zumindest einen Ausweg in der rigiden quantitativen Einschränkung der Untersuchungsgegenstände, so beschränkt jetzt Smith das Wie des Vergleichs, die methodische Vorgehensweise an sich: Der Vergleich als wissenschaftliche Operation könne ‒ wenn überhaupt ‒ nur auf eine einzige Art und Weise betrieben werden, „properly analogical“⁸¹: [T]here is nothing ,natural‘ about the enterprise of comparison. Similarity and difference are not ,given‘. They are the result of mental operations. In this sense, all comparisons are properly analogical […].
„[C]omparison has been chiefly an affair of the recollection of similarity. […]. The procedure is homeopathic. The theory is built on contagion. The issue of difference has been all but forgotten“ (Smith 2000, S. 25 f.). Vgl. Smith 2000, S. 25 f. Smith 1994, S. 51.
2.2 „In Comparison a Magic Dwells“
29
It is the scholar who makes their cohabitation ‒ the ,sameness‘ ‒ possible, not ,natural‘ affinities or processes of history.⁸²
Die Konsequenzen daraus sind im Grunde genommen noch weitreichender: Konzepte von Entlehnung und Ausbreitung religiöser Phänomene („borrowing“, „diffusion“) werden hinfällig, auch sie sind ja nur der mehr oder weniger hilflose Versuch einer nachträglichen Verwissenschaftlichung intuitiver, unbewusster, magischer Vorstellungen von Gleichheit. Eine radikale Abkehr also auch von genealogischen Rekonstruktionsversuchen, die auf (gemeinsame) Abstammung und Kontinuität abzielen. Unsere Lokalisten argumentieren kaum anders, nehmen aber ein mehr oder weniger eng begrenztes Forschungsfeld davon aus, von dem nach allgemeiner Übereinkunft glaubhaft ist bzw. glaubhaft gemacht werden kann, oft genug aber nicht einmal mehr glaubhaft gemacht werden muss, dass die darin zu untersuchenden Objekte eben historisch oder genealogisch verbunden sind. Aber damit entziehen sich beide Seiten der wohl schwierigsten aller komparatistischen Entscheidungen, Smith zitiert den Tübinger Theologen und Religionsgeschichtler Adolf Deissmann, der schon in den 1920er Jahren dieses methodologische Dilemma scharfsinnig auf den Punkt bringt. Im Grunde genommen, so Deissmann, würde sich bei ihm bei jeder Einzelbeobachtung alles auf die Alternative zuspitz[en]: Analogie oder Genealogie? Das heißt, wir haben zu fragen: sind ermittelte Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen zwischen zwei verschiedenen Religionen Parallelitäten des bei gleicher Gestimmtheit der Psyche und gleicher äußerer Situation mehr oder weniger gleichen religiösen Erlebnisses, oder sind sie Abhängigkeiten, nachweisbare Entlehnungen der einen Religion von der anderen? Wo es sich um innerreligiöse Stimmungen und Erlebnisse handelt, und um den naiven Ausdruck dieser Stimmungen und Erlebnisse durch Wort, Zeichen und Tat, da würde ich zuerst immer versuchen, die ermittelte Einzelheit als Analogie zu begreifen. Wo es sich um kultische Formeln, den kunstgerechten liturgischen Brauch und die doktrinäre Formulierung handelt, da würde ich zuerst immer versuchen, die ermittelte Einzelheit als Genealogie zu begreifen. Der Apologet, wenn er überhaupt etwas anerkennt, erkennt in der Regel bloß die Analogie an und errichtet am liebsten Mauern und Gitter um seinen eigenen kleinen Bezirk. Der Dilettant kennt in der Regel bloß die Genealogie […].⁸³
Tatsächlich wird Smiths radikal verfolgte und durchaus mit Skepsis aufgenommene Linie des analogen, eben im eigentlichen Sinne ahistorischen Vergleichs in mancher Hinsicht durch Ergebnisse der modernen Synkretismusforschung gestützt, es scheint eben gerade nicht lediglich kultureller Kontakt bzw. die Möglichkeit zum Kontakt zu sein, also jenes stets eingeforderte contagion, jenes schiere räumliche oder zeitliche Nebeneinander, das für den Austausch, die Neuformation von Symbolen ausschlag-
Smith 1994, S. 51. Deissmann 1923, S. 190 f.
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2 Methodische Vorüberlegungen
gebend ist. Gerade die Vielzahl an abgewiesenen, unrealisierten Möglichkeiten in der Geschichte kultureller Kontaktsituationen ist dafür in jeder Hinsicht bezeichnend.⁸⁴
2.3 Die ,neue‘ Komparatistik Aber wir wollen nun dieses Gefühlserlebnis, dieses magische déjà vu, das offenbar am Anfang aller Gleichheit steht und das sich bis dato ebenso hartnäckig wie geschickt so vielen Analysemethoden zu entziehen wusste, genauer in Augenschein nehmen. Deissmann versucht es als „innerreligiöse Stimmungen und Erlebnisse“ bzw. den „naiven Ausdruck dieser Stimmungen und Erlebnisse“⁸⁵ zu fassen. Es erinnert an die von den Phänomenologen geforderte Wesensschau bzw. an die tiefenpsychologische Archetypenschau als gewissermaßen esoterischen Erkenntnisvorgang, exzessiv ausgelebt offenbar von den ,verwilderten‘ Toponomasten und Religionswissenschaftlern der vergangenen Jahrhunderte. Der Wissenschaftler, die Wissenschaftlerin wird im Grunde ebenso ergriffen wie der/die Gläubige (oder Patient/in!) von einer Art visio ex nihilo. Bewusste wissenschaftliche Rahmung und Realität mag sie wohl in einem zweiten Schritt bekommen, aber ihren opaken, zwielichtigen Ursprung vermag sie kaum abzustreifen. Nun gelingt es seit einigen Jahrzehnten immer besser, diese Gefühlsmomente als grundlegende mentale Prozesse beschreibbar zu machen. Insbesondere gelingt es immer besser, Antworten darauf zu geben, warum diese Prozesse so effizient, ja manches Mal beängstigend effizient, eben magisch abzulaufen scheinen. Es sind nicht zuletzt die laufenden Ergebnisse aus einer Gruppe eher naturwissenschaftlich ausgerichteter Fächer, die die bis dato wiederum eher hermeneutisch ausgerichtete Religionswissenschaft in diesen Jahren für sich entdeckt hat und seitdem konsequent für sich nutzbar macht: In den Kognitionswissenschaften können zum ersten Mal jene Daten und Prozesse empirisch fassbar gemacht werden, jene schon früh vermutete gleiche „Gestimmtheit der Psyche“,⁸⁶ die hinter diesem Empfinden oder besser vor diesem liegt in unterschiedlichsten historischen Kontexten oder Kulturen. Auch die panhumanen Eliade’schen „patterns of world construction“ gehören dazu, jetzt aber von theologischen, platonisierenden Vorgaben abgelöst: Es sind vergleichbare, mentale Verarbeitungsprozesse von Welt.⁸⁷ Das ist auch der Grundtenor und Ausgangspunkt des Aufsatzbandes A Magic Still Dwells aus dem Jahr 2000, der sich als kritische Auseinandersetzung und Würdigung von Smiths Thesen versteht.⁸⁸ Comparative Religion in the
Vgl. Luther und Leopold 2004, S. 96. Deissmann 1923, S. 190. Deissmann 1923, S. 190. Vgl. Paden 2004, S. 87. Siehe z. B. Carter 2004, S. 7: „[C]omparison is the basic method underlying categorization, and categorization is the pathway for cognition or information processing. This should make it clear why
2.3 Die ,neue‘ Komparatistik
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Postmodern Age, so der gleichnamige Untertitel des Buches, davon scheinen jedenfalls die Forscher/innen überzeugt, ist nach wie vor, oder vielleicht gerade jetzt erst möglich – unter anderen Prämissen und ganz neuen Voraussetzungen. In der Tat beruhen naturwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten zunächst einmal auf empirischen Evidenzen, etwa auf der Beweiskraft von Experimenten, die Grundlage zur Analyse religiöser Vergleichsphänomene scheint damit jenen stets eingeforderten, begehrten wissenschaftlicheren Status zu bekommen, der zwangsläufig hermeneutische Ansatz der Geisteswissenschaften, der ja allzu oft ,bloß Theorie‘ ist, scheint damit im gleichen Atemzug noch mehr an Prestige zu verlieren. Aber wie auch immer diese systemischen Gültigkeitsverhandlungen weitergehen werden, wir können uns wohl getrost dem salomonischen Urteil Armin Geertzs anschließen: „Whether their explanations are more scientific than other explanations is a philosophical problem that plagues the natural sciences as much as the humanities.“⁸⁹ Die Ergebnisse der modernen Kognitionswissenschaften stützen und ergänzen religionswissenschaftliche wie religionsphilosophische Befunde: Wenn Cassirer von einer „einheitlichen Energie des Geistes“ spricht „als eine in sich geschlossene Form der Auffassung“, derer sich Symbolsysteme bedienten bei der Deutung von Wirklichkeit,⁹⁰ so können Jahrzehnte später kognitionswissenschaftliche Untersuchungen diese Auffassung bestätigen: Es gibt einheitliche kognitive Strukturen und Prozesse und diese arbeiten offensichtlich nach ähnlichen Vorgaben. Wenngleich auch die Kognitionswissenschaften diesbezüglich bei weitem noch mehr Fragen als Antworten parat haben, sind daraus bereits jetzt nicht unerhebliche Konsequenzen absehbar, hinter die die Religionswissenschaft nicht mehr zurücktreten kann: Jene mentalen Prozesse liefern als Ergebnis Phänomene, die kulturübergreifend sein müssen: The central thesis of these and other lines of inquiry in the cognitive science of religion is that much of religious cognition is the product of quite ordinary, pan-cultural cognitive structures and processes. […] [P]eoples of all traditions and languages share a certain set of mnemonic, perceptual, attentional, and conceptual biases that constrain and inform the representation, acquisition, and transmission of religious concepts.⁹¹
Die berühmte These des Kognitionswissenschaftlers und Religionswissenschaftlers Pascal Boyer, die unter dem vielleicht etwas irreführenden Schlagwort der „naturalness of religious ideas“ bekannt geworden ist,⁹² mag auf eine zunächst überraschende Weise einen wiederum pankulturellen Universalismus von religiösen Konzepten in die wissenschaftliche Diskussion einführen. Aber dieser Universalismus hat nun nichts mit der ,Alleinheit eines letzten Gegenstandes‘ zu tun, den theologische Konzepte von
turning to ‚area studiesʻ, moving to levels championing particularity, is not a way to avoid comparison.“ Geertz 2004, S. 348. Vgl. Cassirer 2010, S. 275. Barrett 2004, S. 401. Siehe Boyer 1994.
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2 Methodische Vorüberlegungen
vorneherein postulieren und der nur mit Mühe aus dem religionswissenschaftlichen Diskurs ausgeschieden werden konnte, „naturalness“ bedeutet in diesem Zusammenhang gerade nicht selbstverständliche, gewissermaßen ,natürliche‘ Evidenz religiöser Phänomene, sie soll vielmehr auf die gemeinsamen biologischen Grundlagen aller mentalen Konzeptualisierungen – einschließlich der religiösen – verweisen⁹³: Comparison is vital in certain of the activities of the mind-brain. We regularly monitor the world, and in doing so we creatively and selectively compare newly encountered phenomena to established representational structures. Comparative processes are thus of crucial importance in cognition.⁹⁴
Diese „representational structures“ reduzieren Komplexität und konstruieren eben durch diese Reduktion Sinn, sie sind „a kind of mental recognition ,device‘“⁹⁵, „manageable ,chunks‘ of knowledge“,⁹⁶ wie auch immer man diese fundamentalen Elemente menschlicher Informationsbearbeitung nennen will. Eine Haupteigenschaft jener mentalen Informationsverarbeitungsmaschinerie ist ihre Unbewusstheit. Sie gehört zu jenem weitaus größeren Teil unseres ,Wissensberges‘, der unsichtbar, unterhalb der Oberfläche unseres Bewusstseins angesiedelt ist, jenes so genannte tacit knowledge, Wissen, das möglicherweise ,schweigend‘ sein mag, aber gewiss nicht untätig: Die sichtbaren, bewussten Effekte unserer Symbolisierungsleistungen, unsere Sinnbildungen sprachlicher, kultureller, religiöser wie nichtreligiöser Natur, sind lediglich die sichtbaren, bewussten Endprodukte einer langen Reihe effizient automatisierter Plausibilisierungsketten. Jedenfalls ist die noch immer landläufige Vorstellung, dass das, was wir bewusst erfassen, ebenso das Ergebnis bewusster Denkprozesse sein müsse, gewiss falsch. Das machen Fauconnier/Turner unmissverständlich klar: Consciousness sees an effect and reifies the effect to provide a cause: I see a cup, and, in the folk theory, the reason I do is that there is a cup that causes me to see a cup. […]. We have already shown the falsity of this view. In the case of blending, the effects of the unconscious imaginative work are apprehended in consciousness, but not the operations that produce it. […] [T]he ultimate meaning pops out when we realize that the inevitable encounter in the blend yields the solution to the initial problem. The dynamic web of links between blend and inputs remains unconscious. What is registered consciously is the encounter in the blend and the ‚consequent‘ alignment between the two inputs.⁹⁷
Im Rahmen der unterschiedlichen Denkformen werden diese Effekte durchaus unterschiedlich behandelt. Jener typische ,Heureka!- oder Aha!-Effekt‘ entsteht bei in-
Siehe Barrett 2004, S. 414: „No special domain for religious thought need be postulated. Religion is, in some ways, quite natural.“ Saler 2001, S. 268. Saler 2001, S. 268. Jensen 2008, S. 151. Fauconnier und Turner 2003, S. 56 f.
2.3 Die ,neue‘ Komparatistik
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novativen, noch nicht routinierten, originellen Lösungen,⁹⁸ die etwa ein blend, eine mentale Verknüpfung, eine Vergleichbarmachung, offenbar ,auf einen Schlag‘ für uns bereithält. Religiös-mythisches Denken behandelt die Abruptheit und Plötzlichkeit, die letztendlich Nicht-Vorhersagbarkeit des Funktionsbeginns jener kognitiven Übertragungs- und Kombinationsprozeduren als Sonderfall religiöser Kommunikation: Das Mehr an Bedeutung bricht gewissermaßen als außermenschliches, übernatürliches Phänomen ins menschliche Bewusstsein – ohne Vorwarnung – und zeigt sich etwa als Offenbarung, als mystische Erfahrung, als ,Hierophanie‘, als Smith’sches magisches déjà vu-Erlebnis. Aber auch die vermeintliche Anstrengungslosigkeit, mit der wir Vergleiche mithilfe unseres alltäglichen Wissens von Welt scheinbar so mühelos und natürlich bewerkstelligen, ist das Ergebnis jahrelanger, wenn nicht gar jahrzehntelanger Einübung von Einteilungskriterien.⁹⁹ Von frühester Kindheit an produziert unser Gehirn mentale Repräsentationen jeglicher Art der Erfahrung, „internal representations of every perceptual or motor act or event“, und diese formen wiederum bestimmte Muster neuraler Aktivitäten, die so genannten „mental maps“,¹⁰⁰ also ,geistige Landkarten‘, mithilfe derer wir uns im Denken ,orientieren‘ können. Damit sind wir bis dato gut zurecht gekommen, nur im Rahmen von Wissenschaftskonzepten – unseren vorläufig jüngsten Bearbeitungsmustern von Welt – geraten wir offenbar immer wieder in Kollision, ja, das wissenschaftliche Vergleichswesen scheint nachgerade in hohem Maße „kontraintuitiv“ zu unserem so bewährten Allerweltswissen über Ähnlichkeit in der Welt zu sein.¹⁰¹ Unsere intuitiven Vergleiche oder Gleichheitsempfindungen arbeiten stark vereinfachend und verkürzend, sie müssen schließlich (denk)ökonomisch effizient sein. Dieser Denkökonomie ist es aber auch geschuldet, dass viele Wirklichkeitskonstruktionen – keineswegs nur religiös weltanschauliche, wenngleich dort mit besonderem Nachdruck – versuchen, die Exponierung der Bedingungen ihrer poiesis, ihrer SinnKoppelungsmanöver zu verhindern. Gleichheit muss sie sich eben ,aus einem Guss‘ präsentieren, um plausibel zu wirken – eine weitere, im Grunde genommen effiziente Vorgabe des Vergleichs, aber Wissenschaftssysteme bringt diese immer wieder in die Bredouille. Wissenschaft kann religiöse Bedeutung nicht als letztendlich unteilbaren, erratischen ,Sinnblock‘, als quasi unantastbare essentia behandeln: „Religious
Vgl. Fauconnier und Turner 2003, S. 57. „[M]eanings involve the total human psyche, not just the part of us that knows things. Every aspect of meaning systems requires a great deal of psychological processing and often considerable experiential priming. It takes years of learning for a child to acquire the representational functions of meaning systems. Representation occurs only because symbols activate complex psychological processes. In the same way, it takes years of learning for a child to acquire the constructive, directive, and evocative functions of meaning systems, and these functions, too, require complex psychological processes“ (D’Andrade 1984, S. 100). Geertz 2008, S. 117. Vgl. Geertz 2008, S. 113.
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2 Methodische Vorüberlegungen
meaning or meanings in religions, in whatever kind of medium they are recorded, are not some inaccessible, mysterious clouds of knowing, set apart for the initiates only.“¹⁰² Auch religiöse Bedeutung ist dann zunächst einmal nichts anderes als „a cluster of processes in the brain and the quality of the materials they process and exchange“,¹⁰³ eine Kombination von mentalen Komponenten mit einer hierarchischen Struktur. Diese Struktur kann zerlegt und analysiert werden. Auf eine letzte bedeutungsgebende, unveränderbare, unzerlegbare Essenz, jenseits aller kulturellen oder narrativen Bedeutungsvariationen kann nicht referiert werden. Damit ist auch das so genannte Empfinden eines mysterium fascinosum wie mysterium tremendum beschreibbarer und nachvollziehbarer kognitiver Effekt, produziert durch ein Bündel an Denkoperationen, die auf Anschlussoperationen, auf ein Weiterdenken, gegebenenfalls über das Paradoxon hinaus, ausgerichtet sind. Die immer wieder konstatierte Unhintergehbarkeit des Vergleichs bringt es mit sich, dass von nichts anderem ausgegangen werden kann als den menschlichen Bedingtheiten und Grundeinstellungen einer (zumindest bis dato durchaus) bewährten Denkprozedur. Wir werden sie auch in einer ,neuen‘ Komparatistik brauchen – der ,alten‘ geht in diesem Sinne nichts ab. Was wir also offenlegen müssen, uns bewusst machen müssen, ist viel eher, von welchen üblichen Vorstellungen und Voreinstellungen wir uns explizit distanzieren, weil sie eben gerade für wissenschaftliche Zwecke nicht mehr selbstredend sind. Die Zielsetzung bleibt dieselbe: Semiotisierung, Begreifbarmachung von Welt. Bevor wir also überhaupt das Prozedere des Vergleichens starten bzw. versuchen, es an bereits getätigter Stelle nachzuvollziehen und dessen Ergebnisse zu bewerten, gilt die erste und wichtigste Frage seinen „Prämissen“, seinen Vorausbedingungen und „Interessen“.¹⁰⁴ Dabei muss sich der wissenschaftliche Vergleich wohl in mancher Hinsicht beschränken, gewiss aber nicht bezüglich seines Vergleichsmaterials, ein Umstand, der in der Vergangenheit häufig genug zu Missverständnissen geführt hat, scheint doch gerade die Crux allen Vergleichens, dass immer wieder offenbar bedenkenlos die sprichwörtlich unvergleichbaren Äpfel mit Birnen verglichen wurden.¹⁰⁵ Aber es gibt auch im wissenschaftlichen Vergleich keine Einschränkung des Was, d. h., der Vergleich muss sich nicht im Voraus hinsichtlich seiner Untersuchungsge Jensen 2008, S. 161. Jensen 2008, S. 157. Siehe Gladigow 2005b, S. 52: „Für eine Bewertung der vergleichenden Methode in den verschiedenen Wissenschaften sind zwei Fragen von entscheidender Bedeutung: Unter welchen Prämissen wird das Vergleichsmaterial gewonnen und: Mit welchen Interessen wird der Vergleich durchgeführt? Das ,christliche Vergleichswesen‘, das mit der Renaissance und der Entdeckung Amerikas einsetzte […], ist ein handfestes Beispiel für die Verbindung von Vergleich und Interesse – und zugleich ein höchst konkreter religionshistorischer Vorlauf für die Entstehung der Komparatistik im Zeitalter des Kolonialismus.“ Vgl. Stephenson 1997, S. 94 f. An diesem Beispiel demonstriert der Autor die verschiedenen Möglichkeiten des wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Vergleichs.
2.3 Die ,neue‘ Komparatistik
35
genstände legitimieren, weder moralisch noch ideologisch noch erkenntnistheoretisch: Es gibt in diesem Sinne keine falschen, unerlaubten, pietätlosen, zu weit hergeholten Vergleiche bzw. Vergleichsgegenstände.¹⁰⁶ Und in diesem Sinne gibt es auch keine ergebnislosen, sinnlosen Vergleiche, schließlich muss das Ergebnis eines wissenschaftlichen Vergleichs nicht mit der Zwangsläufigkeit des magischen Vergleichs die Gleichheit bzw. die Gleichschaltung sein. Aber es gibt falsche, nicht verwertbare Ergebnisse, wenn sie methodisch unzulässig gewonnen sind, es gibt methodisch unzulässige Prämissen und Erkenntnisinteressen und die stellen den Vergleich, wenn man so will, noch bevor er überhaupt begonnen hat, außerhalb wissenschaftlich getätigter Komparatistik. Dazu gehört ein explizit oder implizit theologischer Verweisrahmen, problematisch deshalb, weil das auf diese Weise gewonnene und geordnete Datenmaterial seine sinnstiftenden und damit auch Kontext reduzierenden Implikationen¹⁰⁷ oft genug metaphysischen, religionswissenschaftlich nicht verwertbaren Konzepten entnimmt. Vergleichbarkeit hängt – im wissenschaftlichen wie im außerwissenschaftlichen Vergleich – am Grad der vorgegebenen Differenzen. Je größer diese Differenzen, umso mehr erhöht sich der Abstraktionsgrad der Oberbegriffe, mit der Folge, dass es zu „Leerformeln“¹⁰⁸ der Vergleiche kommen kann. Ein solcher Vergleich ist zwar nicht per se unwissenschaftlich, vom Ergebnis aber vielleicht nicht unbedingt „erhellend“.¹⁰⁹ In einer essentialistischen, ontologischen Sicht auf die Dinge freilich, gerade in magischen, aber auch in philosophischen oder religiösen Vorstellungskomplexen, Rahmungen, die eben auf eine Gesamtrepräsentation von Wirklichkeit angelegt sind, kann diese Art von Vergleichen bzw. deren Ergebnisse durchaus mit Erkenntnisgewinn in die jeweiligen Deutungsmuster eingebaut werden.¹¹⁰ Interessant genug steht ausgerechnet bei unseren Äpfeln und Birnen ihre explizit wissenschaftliche Vergleichsfähigkeit etwa im Fachbereich der Botanik außer Frage. Wenn also der ,Volksmund‘, unser alltägliches, übliches Ähnlichkeitsempfinden sie nicht zueinander stellen mag, gilt es, den Ort dieses Ungleichheitsempfindens auszumachen. Stephenson spielt an diesem Beispiel verschiedene wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche Vergleichssituationen durch, man sieht, ontologische Entwürfe entwickeln nicht zwangsläufig einen höheren Ähnlichkeitsgrad, ein höheres Ähnlichkeitsempfinden. Es muss also eine Art der Einschränkung oder Fixum geben, das in diesem Fall für das Wissenschaftssystem nicht gilt. Und damit ist wohl die wichtigste, zumindest aber
Siehe Schjødt 2017, S. 16 f.: „In principle […] we can compare everything to everything else. It may not make much sense, but technically, there are almost no limits on what we can compare to, for instance, the pre-Christian Scandinavian religion. When, however, the purpose of the comparison is to reconstruct this religion, and to be able to pose new and relevant questions, some religions may be better suited than others for comparison.“ Vgl. Gladigow 2005b, S. 61. Stephenson 1997, S. 95. Stephenson 1997, S. 94. Vgl. Stephenson 1997, S. 94 f.
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2 Methodische Vorüberlegungen
konsequenzenreichste Vorabbedingung des Vergleichs angesprochen, erst mit ihrer Festlegung beginnt die Bedeutungsgenerierung, an deren Ende (möglicherweise) die Gleichschaltung zweier Phänomene steht. Ihre Offenlegung, ihre Transparenz und Kennzeichnung ist in methodologischer Hinsicht entsprechend die wichtigste. Gemeint ist das tertium comparationis, jener gemeinsame Oberbegriff, der zwei Dinge in Bezug auf ein Drittes verbindet. Denn damit werden gleichzeitig auch die zu vergleichenden Bezugsebenen der Gegenstände festgelegt bzw., wichtig genug, sie können für bereits getätigte Vergleiche anhand dieser Bezugspunkte nachvollzogen und rekonstruiert werden. An diesem Punkt aber muss das jeweils eigene Gleichheitsempfinden (des Analysten, der Analystin) sorgfältig reflektiert und vom Gleichheitsempfinden der jeweiligen Symbolproduzenten getrennt gehalten werden. Womöglich das schwierigste Unterfangen, gewiss das fehleranfälligste, Smith hält es offenbar für ganz unmöglich: It is the scholar who makes their cohabitation – their ,sameness‘ – possible, not ,natural‘ affinities or processes of history. Taken in this sense, ,genealogy‘ disguises and obscures the scholar’s interests and activities allowing the illusion of passive observation […].¹¹¹
Jenes ,in gewisser Hinsicht‘, das „with respect to“, das Smith in einer Vergleichsformel entwirft („x resembles y more than w resembles z with respect to […]“), kann, seiner Ansicht nach, stets nur die Perspektive, die Interessenlage des Forschenden wiedergeben, durchaus als legitimes akademisches Interesse, aber eben als sein Interesse, sein Konstrukt, seine Fragestellung.¹¹² Nun spinnt Stephenson sein Beispiel weiter: Äpfel mit Birnen zu vergleichen mag auch für uns in gewissen Spezialbereichen Sinn ergeben, aber uns käme wohl nicht der Gedanke, Äpfel und Nägel für vergleichbar zu halten, dieser Vergleich brächte lediglich das leere Abstraktum ,Gegenstände‘ hervor, und das entspräche nicht unserer wissenschaftlichen Interessenslage, es wäre damit ergebnislos. Im Hinblick auf das ,Weltganze‘ und religiöse Symbolproduzenten, die stets das ,Weltganze‘ im Sinn haben, könnten sich aber auch dann noch sinnvolle Vergleichsaspekte ergeben. Allerdings lässt Stephenson hier das Vergleichsmoment der Funktionalität außer Acht: Äpfel und Nägel mögen hinsichtlich Form und Struktur keine effizienten Vergleichsmöglichkeiten liefern, aber es wäre durchaus eine Konzeptualisierung denkbar im Sinne einer „frame-based categorization“,¹¹³ die etwa die westafrikanische Ethnie der Kpelle das Werkzeug zur bearbeitenden Frucht sortieren lässt (das Messer zur Orange,
Smith 1994, S. 51. Siehe Smith 1994, S. 51 f.: ,,This is to say, comparison does not necessarily tell us how things ,are‘ […]; like models and metaphors, comparison tells us how things might be conceived, how they might be ,redescribed‘ […].“ Kövecses 2009, S. 9.
2.3 Die ,neue‘ Komparatistik
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die Hacke zu den Kartoffeln).¹¹⁴ Hier werden die Objekte in einem sehr alltäglichen (keineswegs magischen) Bezugsrahmen aneinandergerückt. Es muss also gelingen, diese unterschiedlichen Interessenslagen des Vergleichs als solche deskriptiv zu machen – ohne die jeweils eigene den anderen überzustülpen. Dieser Ausgangspunkt oder eher „Denkraum“, wie ihn der Soziologe Arnd-Michael Nohl nennt, „in dem der eine Fall in den anderen übersetzbar ist“, muss möglichst genau definiert werden, je präziser er re-konstruiert werden kann, desto ergiebiger und valider werden auch die Daten aus dem Vergleich sein.¹¹⁵ Daraufhin präzisiert muss also die grundlegende methodologische Frage weniger lauten: Was können, was dürfen wir vergleichen? Vielmehr: „Was ist es, was wir vergleichen, wenn wir vergleichen“?¹¹⁶ Mit welchen „units of comparison“ soll gearbeitet werden¹¹⁷ bzw. ist bereits gearbeitet worden? Was ist der exakte „Punkt der Analogie“, von dem der Vergleich seinen Anfang nehmen soll – oder bereits genommen hat. Im Unterschied zu unseren magischen Symbolproduzenten kann es für den Analysten, die Analystin jedenfalls niemals um das Phänomen in toto gehen: Comparison does not deal with phenomena in toto or in the round, but only with an aspectual characteristic of them. Analytical control over the framework of comparison involves theoretically focused selection of significant aspects of the phenomena and a bracketing of the endeavour by strategic ceteris paribus assumptions.¹¹⁸
Entsprechend entwirft Jensen vier „domains of comparability“, unterschiedliche Bezugsebenen von Vergleich und Differenz, damit eben jene eingeforderten Analogiepunkte möglichst exakt ge- und verortet werden können: „form, function, structure und meaning“.¹¹⁹ Magische, aber auch wissenschaftliche Konzepte von Gleichheit müssen zunächst von einer konkret erfassbaren, sensitiven Welt ausgehen. Gleich ist zunächst einmal, was gleich aussieht, wobei jede Art von ähnlich empfundener Körpersensation, sensueller Fassbarkeit (siehe etwa der lautliche Anklang) dazu gehört. Aber ist diese Gleichheit der Form die conditio sine qua non außerwissenschaftlichen, magischen, volksetymologischen Gleichheitsdenkens, ist sie entsprechend das caveat jeder wissenschaftlichen Komparatistik. Es ist dieser im Grunde genommen so simple und doch gleichzeitig für unseren menschlichen Verstand in so hohem Maße kontrain-
Vgl. Kövecses 2009, S. 9. Vgl. Nohl 2013, S. 279. Siehe Jensen 2008, S. 150, 153: ,,What is it what we compare when we compare […]?“. ,,As far as I have been able to ascertain, no one has yet presented a reasonable and non-trivial account of what it is that scholars of religion compare when they compare religious phenomena.“ Paden 2004, S. 77. Poole 1986, S. 414. Jensen 2008, S. 141.
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2 Methodische Vorüberlegungen
tuitive Umstand, „that things that look alike are not always the same.“¹²⁰ Aber auch das außerwissenschaftliche Denken, gleichwohl häufig unterstellt, begnügt sich nicht unbedingt mit dieser ,Oberfläche‘. Es bleibt bei Leibe nicht bei der schieren Form stehen, bei der sinnlich konkreten Erfahrbarkeit, es kennt und differenziert Phänomene genauso nach Inhalt, Struktur, Funktion, Bedeutung, Wirkung – aber es hält eben gerade diese Bezugsebenen nicht getrennt, genauer, noch nicht getrennt. Sie sind in einer Art primordialen Einheit und Kontiguität vergesellschaftet als durchaus konkret stoffartig gedachte ,Eigenschaftssubstanzen‘. Und so ist es ihre buchstäbliche Berührung im Raum, ihre „cohabitation“, die eine gleichmäßige Durchflutung, eine Übertragbarkeit von ,Ähnlichkeitssubstanz‘ ermöglicht, jene Cassirer’sche unterschiedslose „Konkreszenz“ von Abstrakta und Konkreta, von „Dingmoment“ und „Bedeutungsmoment“.¹²¹ Es gibt keinen Unterschied zwischen nur „vorgestellter“ und „wirklicher“ Wahrnehmung, entsprechend auch nicht zwischen einer konkreten äußeren Form und einem abstrakten, ideellen ‚Inhalt‘, vielmehr ein „eigentümliches Ineinander“, eine „Indifferenz all der verschiedenen Objektivationsstufen, die durch das empirische Denken und den kritischen Verstand unterschieden werden.“¹²² Und ohne Trennlinien, zumindest ohne unüberbrückbare, sind eben alle gleichwertige „Ur-Sachen“¹²³ von Gleichheit. Die Form einer Sache kann also immer nur als die Sache selbst behandelt werden, sie ist ja nicht nur sichtbarer Aspekt des Ganzen, vielmehr ist sie entsprechend dieser primordialen, konkreten Logik das Ganze selbst¹²⁴ – mit jenen bekannten Effekten, seien es die apotropäisch magischen Vorstellungen von Bild- und Namentabus, homöopathische Therapien, die expansiven Syntagmatismen mythologischen Erzählens, all das sind Sinnverknüpfungen, die buchstäblich vor nichts haltmachen müssen. Im wissenschaftlichen Vergleich gilt es entsprechend als schwerer methodologischer Fehler, diese Ebenen miteinander zu vermischen¹²⁵:
Jensen 2008, S. 146. Siehe auch Schjødt 2017, S. 11: „[J]ust because things ,looked‘ the same, they may very well have had different meanings and functions within two different religions.“ Cassirer 2010, S. 30. Cassirer 2010, S. 46. Cassirer 2010, S. 67. Vgl. Cassirer 2010, S. 61 f. Ein Beispiel für eine solche unwissenschaftliche ‚Vermischungʻ sieht Schjødt etwa in der Konzeptualisierung Odins als Schamane: „[I]t is certainly true that magical techniques such as soul travel and the infliction of pain upon oneself can be found among many genuine shamans from the arctic and subarctic area, and we can also see these in the case of Óðinn. The question is, however, whether this suffices to classify Óðinn as a shaman“ (Schjødt 2017, S. 11). Dazu müsste gezeigt werden können, dass die Odinfigur in ihrer Gesamtheit mit der nach religionswissenschaftlichen Standards ausgestalteten Figur des Schamanen in Deckung gebracht werden könne, „or at least in its main components“, dass also der nordische Odin eine „strukturelle Isomorphie“ zum Schamanen besäße. Schjødt sieht dazu keine Möglichkeit, dennoch könne aber sehr wohl von „shaman-like traits“ gesprochen werden, die von den finnischen Nachbarn entlehnt sein könnten (vgl. Schjødt 2017, S. 14 f.).
2.4 „Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“
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It is therefore a mistake to confuse levels of comparison. For instance, similarities in form are assumed to indicate similarities in meaning or function – a common error, committed even by luminaries such as Mircea Eliade and C. G. Jung.¹²⁶
Vermutlich ist es aber ein nicht minder schwerer, jene magische Unterschiedslosigkeit, jene ,Gleich-Gültigkeit‘ bei außerwissenschaftlichen Ähnlichkeitsproduzenten und Produkten nicht an erste Stelle zu setzen: [O]ur intuitive comparisons are not only simplistic but also primordial – primordial, because our most basic default assumptions about the world were developed during our paleolithic past, aptly summed by Scott Atran’s catchy phrase, „stone age minds for a space world“ […]. These primordial assumptions, simplistic and anachronistic as they might be, are sufficient, however, to help us get on in the world.¹²⁷
Diese „most basic default assumptions about the world“ unserer „Steinzeitgehirne“¹²⁸ wollen wir im Folgenden exemplifizieren, nicht nur, um sie tunlichst (was keineswegs immer vonnöten sein wird) zu umgehen, sondern vielmehr um sie als grundsätzlichsten Bauplan wie Handlungsplan, als Grammatik der (mythischen) Symbolsprache zu begreifen. Diese Prozesse wollen wir als Metaphorisierungsprozesse beschreiben.
2.4 „Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“ Im Zentrum von Religion wie Religionswissenschaft stehen seit jeher Symbole und ihre vornehmlichste Aufgabe: die Produktion von Sinn, von Bedeutung, von Wissen in und über die Welt. Ja, man könne, so Stolz, die Geschichte der Religionswissenschaft selbst „anhand einer Geschichte des Symbolbegriffs schreiben“,¹²⁹ eine – zumindest in dieser Hinsicht – offenbar nicht sehr erfolgreiche: „Der Symbolbegriff wird im Hinblick auf Religion – und zwar nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch, sondern auch innerhalb der Religionswissenschaft – inflatorisch und ohne jede Präzision verwendet.“¹³⁰ In der Forschungsvergangenheit sieht er nachgerade einen „chaotisch vielfältige[n] Gebrauch des Symbolbegriffs“.¹³¹ Dies lege „eigentlich einen Verzicht auf die Verwendung des Wortes nahe – aber einer Gesellschaft für Symbolforschung wird man dies kaum empfehlen dürfen.“¹³² Diese Skepsis teilt er mit vielen anderen. So scheint der amerikanische Religionswissenschaftler Hans H. Penner in einem Aufsatz aus dem Jahr 2004 schon im Titel
Geertz 2008, S. 120. Geertz 2008, S. 113. Geertz 2008, S. 113. Stolz 2004c, S. 64. Stolz 2004c, S. 62. Stolz 2004c, S. 64. Stolz 2004c, S. 64.
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2 Methodische Vorüberlegungen
(„Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“)¹³³ religiösen Symbolsystemen ihre ureigenste Fähigkeit zur Sinnbildung kurzerhand abzusprechen: Sometimes bad questions make bad answers. This is especially the case with questions such as, „What does this symbol mean?“ or „What is the meaning of religious symbols?“ Or, „What is a symbol?“ The quest for the meaning of religious symbols and the meaning of symbols in general has a long and interesting history that is in need of a thorough critique. I will obviously not attempt to describe that history here. What I will do is show that such questions are bad questions and lead to bad answers because symbols don’t mean anything and any attempt to explain what they do mean leads to a failure.¹³⁴
Eine merkwürdig missverständliche, aber wohl auch bewusst provokant formulierte Kritik, die allerdings im Folgenden weniger auf den Erkenntniswert einer Symbolforschung an sich abzielt als vielmehr auf den Mangel an definitorischer Klarheit bzw. überhaupt das Umgehen einer Definition, die für weite Bereiche, vor allem in der frühen Geschichte der Symbolforschung durchaus berechtigt ist. Penners Auswahl an Beschreibungsmodi für (nicht nur religiöse) Symbole, die er der Forschungsgeschichte entnimmt, offenbaren ein tiefes erkenntnistheoretisches Manko: Zuschreibungen wie „untranslatable“, „intransitive“, „inexhaustible“, „inexpressible“, „ineffable“, „exemplary“, „opaque“, „endlessly leading to a plurality of condensed meanings“¹³⁵ sind in der Tat – in einem wissenschaftlichen Sinne – „a failure“, ohne Erkenntniswert. Es sind eben jene Entzugsstrategien, die wir bereits im Vergleichswesen beschrieben haben, die oft (aber keineswegs ausschließlich) von religiösen Denkformen eingesetzt werden, um sich gegen Deutungsalternativen bezüglich ihrer Gegenstände immun zu halten. Für einen modernen Stand der religionswissenschaftlichen Symbolforschung kann dieser Befund jedoch kaum mehr repräsentativ sein, genauso wenig wie der noch von Penner konstatierte „widespread anti-theoretical view of religious symbolism“.¹³⁶ In der modernen Symbolforschung wird nicht mehr nach einer ‚eigentlichen‘, aber eben versteckten Bedeutung des Symbols gesucht, nach einer Art „underlying code“,¹³⁷ nach einer im Grunde genommen seit den Kirchenvätern aufrechterhaltenen Unterscheidung zwischen ‚literalem‘ und ‚höherem‘ und damit ‚richtigemʻ Sinn. Wir finden diesen dezidiert ahistorischen Zugang zum Symbol, diese religiös wie ideologisch fundierte wie intendierte Geschichtslosigkeit bis in die jüngste Zeit etwa in den Werken eines Mircea Eliade oder George Dumézil. Auch den, wenn man so will, profanen, strukturalistischen Zugang eines Claude Lévi-Strauss müssen wir wohl bis zu einem gewissen Punkt dazurechnen. In der Symbolforschung geht es nicht um das Etymon, „den Ort der wahren, der eigentlichen Bedeutung“, auch nicht als Forschungsdesiderat, wenngleich ein Vor
Penner 2004. Penner 2004, S. 151. Penner 2004, S. 155. Penner 2004, S. 155. Penner 2004, S. 156
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stellungskomplex mit beachtlicher „Leuchtkraft“,¹³⁸ so der Kulturphilosoph Ralf Konersmann, der über ein rein sprachwissenschaftliches Interesse weit hinausreiche: Die etymologische Faszination besteht darin, über die Veränderungen und Entstellungen, die im Laufe der Geschichte den Wortkörper verformt und seine ursprüngliche Bedeutung strapaziert haben, hinweg- und zurückzufragen bis zu dem Ursprung eines ersten Anfangs, an dessen reiner Quelle die eine und eigentliche Bedeutung des Wortes noch immer unversehrt bereitliegt und der Enthüllung seiner ursprünglichen, seiner stets gegenwärtigen und nun endlich nackten Wahrheit entgegensieht. Charakteristisch etymologisch ist der Denkzwang, das Frühere als das Ursprüngliche zu nehmen und das Ursprüngliche als das Eigentliche. Das Opfer dieses Essentialismus ist die geschichtliche Zeit, die nur als der Schutt der illegitimen Abweichungen, der Irrtümer und Verfehlungen in Betracht kommt, der sich über den Bestand der ursprünglichen Idee gelegt hat.¹³⁹
Einem „Denkzwang“, dem es bekanntlich gerade im Bereich religiöser Symbolforschung entgegenzutreten gilt, aber dennoch: Religiöse Symbole produzieren Sinn, zweifelsohne bedeuten religiöse Symbole ‚etwas‘, sie haben aber – außerhalb ihrer systemischen Eigenbeschreibungen – keinen ‚eigentlichen‘ Sinn, keinen Mehr-Wert an Sinn. Und gerade das von Penner so dezidiert vorgetragene Statement: „We do not speak metaphors or use symbols all the time“,¹⁴⁰ scheint sich doch in dieser Ausschließlichkeit genau so zu bestätigen. Es war der Neukantianer Ernst Cassirer, der im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts einen in seiner Folge programmatischen Neuzugang zu einem Symbol- und Wirklichkeitsverständnis entwarf und damit letztendlich Grundlage und Methodik für eine moderne Kulturwissenschaft schaffen sollte: Die Welt erhält Bedeutung nur durch Symbole, ausschließlich ihre Wirksamkeit, ihre Glaubwürdigkeit schafft Wirklichkeit. In Anlehnung an Kants Erkenntnistheorie spricht Cassirer von der Kultur als einer Reihe von symbolischen Formungen. Er geht grundsätzlich von einer Pluralität von Erfahrungsmodalitäten aus, zur „reinen Erkenntnisfunktion“,¹⁴¹ die er im wissenschaftlichen Denksystem vertreten sieht, tritt nun „die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung“¹⁴² gleichwertig hinzu. Elementar ist dabei Cassirers radikales Symbolverständnis: „Jede besondere geistige Energie“,¹⁴³ jegliche menschliche Erfahrung ist bereits Produkt, Ergebnis einer Symbolisierungstätigkeit, Symbole sind die Grundformen, Instrumente des Verstehens der Welt, hinter die der menschliche Verstand auf keine Weise zurücktreten kann. In konsequenter Lesung dieses
Konersmann 2006, S. 372. Konersmann 2006, S. 372. Penner 2004, S. 160. Vgl. Cassirer 1954, S. 11. Vgl. Cassirer 1954, S. 10. Cassirer 1954, S. 26.
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Ansatzes kann es entsprechend überhaupt keinen symbolfreien Bereich innerhalb der menschlichen Erfahrungswelt geben,¹⁴⁴ mit anderen Worten: „Wir schauen der Welt nicht unmittelbar ins Gesicht, sondern zwischen die Wirklichkeit und uns schalten wir Symbole. Wir bewegen uns in vielfältigen Netzen von Symbolen.“¹⁴⁵ Nach Cassirers Verständnis ist jeder Wahrnehmungsakt, also jede sinnliche Erfahrung untrennbar verknüpft mit Sinngebung, hier geht er über Kant hinaus, der noch unterscheiden möchte zwischen einer Art passiven Wahrnehmung der rohen Sinnesdaten und einer zweiten Synthese durch verstandeseigene Operationen, die schließlich das Erkenntnisergebnis liefern.¹⁴⁶ Somit ist ausnahmslos alles Wahrgenommene bereits im Wahrnehmen an eine bestimmte Perspektive gebunden, die ihrerseits in einen bestimmten Kontext, in einen bestimmten Bedeutungshorizont eingebettet ist. Sprache, Mythos, Religion, Kunst mit ihren jeweils eigenen Perspektivemöglichkeiten, mit ihrem jeweils eigenen Blickwinkel auf die Wirklichkeit treten nun neben die Wissenschaft als autonome Systeme, dennoch in vielfältiger Weise miteinander verflochten – verwirkt zur Wirklichkeit. Symbolsysteme können sich nun sowohl synchron als auch diachron aufeinander beziehen, können in Austausch miteinander treten, aber es gibt im eigentlichen Sinne keine teleologische oder evolutionär verstandene Entwicklung. Validität, Gültigkeitshierarchien und Verbindlichkeiten werden historisch gesellschaftlich verhandelt, als Konzepte können sie gleichwertig nebeneinander bestehen. Aber eine wichtige Einschränkung ist dennoch zu machen: Wenngleich unterschiedlichste Konstellationen und Bezugsmuster dieser Symbolsysteme nachgerade ein Kennzeichen der sich ausdifferenzierenden Kulturen ist, es kann keinen unmittelbaren Übergang zwischen diesen unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt geben, nur ein „Umschlagen“ etwa nach Art von ‚Vexierbildernʻ, optischen „Kippbilder[n]“, der Verstand kann jeweils nur einen Bedeutungskontext wahrnehmen, da ja bereits der Akt des Sehens unterschiedlich ist, er ist bereits sub specie einer gewissen Symbolisierung geformt.¹⁴⁷ Ein Hin- und Herspringen, ein Oszillieren des Verstandes ist möglich, aber durchaus nicht (immer) erwünscht, er ist darauf angewiesen, einen geeigneten Sinnkontext, eine geeignete Sinnkoppelung für seine Wahrnehmung ultimativ herzustellen. Und es ist nun eben gerade dieses, wenn auch nur möglicherweise kurzfristige Scheitern von Sinnkoppelungen, von Sinnfixierungen, das unsere Kognition aufs höchste beunruhigt, zumindest aber als Irritation wahrnimmt. Dennoch verweist Cassirer auf die Dynamik, die Prozesshaftigkeit, die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieser Symbolisierungstätigkeit: Zeichensysteme, „symbolische Formen“, sind keineswegs „starre, ein für allemal feststehende Schemata [original gesperrt] des Geistes“¹⁴⁸:
Vgl. Erll 2005, S. 209. Paetzold 1993, S. 88 f. Vgl. Luscher 2008, S. 105 – 107. Vgl. Luscher 2008, S. 118. Cassirer 2010, S. 275.
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Immer wieder erweisen sich die Konstanten unserer Erfahrung als nur relative Konstanten, die wiederum des Haltes und der Begründung in einem anderen, Festeren bedürfen. So sind die Grenzen des „Objektiven“ gegen das bloß „Subjektive“ nicht von Anfang an unverrückbar bestimmt, sondern sie bilden und bestimmen sich selbst erst im fortschreitenden Prozeß der Erfahrung und ihrer theoretischen Grundlegung. Es ist eine ständig erneute Arbeit des Geistes, kraft deren sich der Umriß dessen, was wir das objektive Sein nennen, stetig verschiebt, um sich in veränderter und erneuter Gestalt wiederherzustellen.¹⁴⁹
Nichts anderes ist jene dissémination,¹⁵⁰ von der der postmoderne Theoretiker Jacques Derrida einige Jahrzehnte später spricht: ein niemals still zu stellender Prozess der Signifikanten, die sich in ständig wechselseitiger Verschiebung und Substitution befinden. Alle Versuche einer ontologischen Fundierung sprachlicher Zeichenaktivität würden gerade durch den Prozesscharakter der Sprache, durch die „Unruhe der Sprache“, wie er es nennt, unterlaufen.¹⁵¹ Und dennoch musste die von den postmodernen Vertretern in dieser Konsequenz so radikal eingeforderte Zentrumslosigkeit, die Abkehr vom so genannten Logozentrismus der westlichen Welt letztendlich wirkungslos bleiben: Radikale Dekonstruktion und damit Auflösung von kulturellen Codes war ja nur möglich, indem man sich – „parasitär“ – auf eben nämliche kulturelle Inhalte und Codes beziehen konnte.¹⁵² Auch Cassirers kulturphilosophischer Ansatz ist kein relativistischer anythinggoes-Standpunkt, der sich erkenntnistheoretisch bekanntlich sehr bald erschöpft, die Unterscheidbarkeit der einzelnen Symbolsysteme, ihre ganz spezifische Konstruktion von Wirklichkeit bleibt grundlegend und ist auch möglich: Nicht der Grad der Angemessenheit oder Fähigkeit zur Abbildung von Realität ist ausschlaggebend, über einen Wahrheitswert, über Eigentlichkeit von Medialisierungssystemen ist damit nämlich noch nichts ausgesagt. Eine sichere Referenzierbarkeit ist kein ausschlaggebendes Kriterium für deren Validität und Gültigkeit, aber auch nicht eine (potentielle) Nichtreferenzierbarkeit. Die Metapher ‚lügt‘ damit so wenig, wie Vorstellungen von supernatural beings ‚falsch‘ sind.¹⁵³ Ihre Funktion ist zu bedeuten, zu plausibilisieren und in dieser erfolgreichen Kommunikationsleistung werden sie zu „kulturelle[n] Tatsachen“¹⁵⁴ und damit Wirklichkeit. Ausschlaggebend ist indes der Grad der Bewusstmachung dieser Symbolisierungstätigkeit: Die einzelnen Denkperspektiven sind sich ihrer Angewiesenheit auf Medialität, auf Modelle, auf Symbole in unterschiedlicher Weise bewusst. So reflektiert ein mythisches Denken seine Symbolisierung von Welt noch in keiner Weise, wissenschaftliches Denken hingegen weiß – im Regelfall – darum und stellt sich seinen selbst geschaffenen Symbolen reflektierend gegenüber. Je verbindlicher indes ein Symbolsystem ein Deutungsmonopol bean-
Cassirer 2010, S. 38. Siehe Derrida 1995. Vgl. Zapf 2005, S. 17. Vgl. Zapf 2005, S. 21. So aber Penner 2004, S. 164. Siehe den gleichnamigen Titel bei Konersmann 2006.
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sprucht, umso weniger ist es bereit, die Strukturen seiner Gemachtheit zu exponieren und zur Disposition zu stellen, jenen begehrten Platz der Mitte, das Prestigezentrum der Deutungshoheit freiwillig zu räumen. Andererseits gehören Dekonstruktionen, Entblößungen, Marginalisierungen, das ‚Aus-der-Façon-bringen‘, das ‚Schiefmachen‘ von Symbolen zu einem umfangreichen Strategienrepertoire, das sämtlichen Symbolsystemen zur Verfügung steht, sei es im Rahmen polemischer Verdrängungswettbewerbe, systemeigener Befreiungsversuche von fremden, unerwünschten Sinnzuschreibungen oder gewissermaßen als Selbstanzeige des Systems, um gezielt und gewollt auf seine Vorläufigkeit und Künstlichkeit hinzuweisen. Es kann also nicht um den Wahrheitswert von Symbolen gehen, auch nicht um die Aufhebung ihrer Gültigkeitsansprüche, vielmehr um „die Frage nach einer angemessenen Kommunikation“¹⁵⁵ ihrer Fiktionen und um den Rahmen, in dem sie bedeutsam werden. Auf diese Sinnbildungsprogramme greift der Mensch zu mithilfe intensiver Sozialisation seit frühester Kindheit.¹⁵⁶ Die Wissenssoziologie, die Diskursanalyse verweist entsprechend auf den noch immer häufig verkannten Umstand, dass Bedeutung, Sinn ja gerade nicht einfach „immer schon ‚da‘“ sei und auf mehr oder weniger geglückte Weise ‚erraten‘ bzw. „aus einem allgemeinen hermeneutischen Vorverständnis heraus“ erschlossen werden könne.¹⁵⁷ Auch dort, wo Wirklichkeit zur Wirklichkeit mit „Vorrangstellung“, die „oberste Wirklichkeit“¹⁵⁸ wird, geschieht das erst durch eine Reihe von Vorarrangements, Vorobjektivierungen, durch Objekte, „die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien.“¹⁵⁹ Auf diese Fragestellung zielt auch die Koselleck’sche Begriffsforschung ab. So würde in der Sprachsynchronie mit einem „Arsenal“ von begrifflichen Vorstellungen argumentiert, und doch würden sich kaum je einmal deren „diachron verschieden tief gestaffelte[n] Vorgaben“ bewusst gemacht werden.¹⁶⁰ Dermaßen bebürdete Begriffe entwickelten nicht selten eine für die Sprecher kaum nachvollziehbare, mitunter auch (was die Begriffswahl ,Arsenal‘ bereits implizieren mag) gefährliche „diachrone Schubkraft“.¹⁶¹ Ähnlich Stolz: Allerdings ist dieses „System“ denen, die in einem konkreten kulturellen oder religiösen Zusammenhang selbstverständlich von Symbolen Gebrauch machen, nicht bewusst, so wenig, wie der, welcher von seiner Muttersprache Gebrauch macht, in jedem Fall Rechenschaft ablegen kann
Assmann 1980, S. 155. Vgl. Barrett 2008a, S. 310. Jenes sogenannte intuitive Wissen („maturationally natural cognition“ oder „maturationally natural competencies“) entwickle sich in einem so frühen Stadium der Kindheit, dass wir uns als Erwachsene schlichtweg nicht mehr an eine Zeit erinnern könnten, als wir diese Kompetenzen noch nicht besessen hätten. Vgl. Sarasin 2006, S. 62. Berger und Luckmann 2007, S. 24. Berger und Luckmann 2007, S. 24. Koselleck 2006, S. 44 f. Koselleck 2006, S. 45.
2.4 „Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“
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über die Grammatik dieser Sprache. Ein Regelsystem zu beherrschen bedeutet also nicht, dieses Regelsystem beschreiben zu können.¹⁶²
Die in der kognitiven Linguistik vertretene Vorstellung von mentalen Wissensrahmen lässt sich daran gut anschließen. Das kollektiv geteilte Wissen einer Sprachgemeinschaft basiert auf mentalen frames. ¹⁶³ Als kleinste (sprachliche) Einheit erscheinen sie als Begriffe, Lexeme mit jeweils unterschiedlich hohem Evokationspotenzial, sprich Potenzial zur Aktivierung und gegebenenfalls Aktualisierung von Sinn: Den Ausgangspunkt […] bildet die Annahme, dass Wissen, das zur Erfassung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks eingebracht wird, Strukturen aufweist, die sich mittels so genannter ‚Frames‘ linguistisch genau beschreiben lassen. Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die sprachliche Ausdrücke beim Sprachverstehen evozieren, die also Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer aus ihrem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu erfassen. Zu wissen, was ein Ausdruck bedeutet und wie ein Ausdruck zu verwenden ist, heißt demnach, über eine bestimmte kognitive Struktur zu ‚verfügen‘, die mit einem Ausdruck konventionell assoziiert ist.¹⁶⁴
Frames sind in diesem Sinne stereotypes, konventionalisiertes Wissen, „Wissen um Gebrauchszusammenhänge und Vorkommensformen“,¹⁶⁵ abrufbare wie aufrufbare Strukturen, die ebenso kulturspezifische wie überkulturelle, synchrone wie diachrone Wissensformationen enthalten.¹⁶⁶ Grundlegende Konstruktionselemente sind dabei die sogenannten „slots“, konzeptuelle Anschlussstellen, Leerstellen, die variabel, aber keineswegs beliebig mit „fillers“, konkreten Elementen aus unserem sprachlichen wie epistemischen Weltwissen besetzt werden können. „Default-Werte“, Standardwerte, sind dann entsprechend „vorausgesetzte und prototypisch erwartbare Füllelemente“, sie sind unbedingt verstehensrelevant, aber sie bleiben als solche in der Datenbasis meist unsichtbar¹⁶⁷ (und müssen dann „hinzugedacht“¹⁶⁸ werden):
Stolz 2004c, S. 68. Der Begriff geht auf den amerikanischen Linguisten Charles Fillmore zurück, der ihn seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verwendet und damit als der Begründer der so genannten FrameSemantik gilt. Auf diesem Konzept baut der Kognitionsforscher Marvin Minsky auf (vgl. Ziem 2008, S. 4, Anm. 6) etwa in seiner klassischen Abhandlung über die kognitive Struktur von Wissensrahmen, die er folgendermaßen definiert: „When one encounters a new situation (or makes a substantial change in one’s view of the present problem) one selects from memory a structure called a Frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a datastructure for representing a stereotyped situation, like being in a certain kind of living room, or going to a child’s birthday party. Attached to each frame are several kinds of information. Some of this information is about how to use the frame. Some is about what one can expect to happen next. Some is about what to do if these expectations are not confirmed“ (Minsky 1975, S. 212). Ziem 2008, S. 2. Ziem 2005, S. 2. Vgl. Ziem 2005, S. 3. Vgl. Ziem 2005, S. 4. Ziem 2008, S. 13.
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Was zeichnet aber Default-Werte (in Abhebung von Fillers) aus? Default-Werte sind durchschnittlich erwartbare Wissenselemente eines bestimmten Prädikationstyps. Ein wesentliches Merkmal von Default-Werten besteht darin, dass sie zu einer bestimmten Zeit zum kollektiv geteilten Wissen einer Sprachgemeinschaft gehören. Wie bereits festgestellt, werden sie deshalb in Kommunikationsprozessen immer schon unterstellt und müssen nicht eigens expliziert werden. Die Menge an Default-Werten, die eine sprachliche Einheit aufweist, entspricht also dem semantischen Potential, auf das ein Sprachteilnehmer zugreifen kann, um konzeptuelle Leerstellen der entsprechenden Einheit zu schließen. Aktualisierung kommunikativen Sinns sprachlicher Äußerungen erfolgt maßgeblich durch die adäquate Aktivierung einer Menge von Default-Werten. Default-Werte weisen analog zu ihrer paradigmatischen Organisation unterschiedliche Grade an epistemischer Stabilität auf. Sie können relativ stabile Wissenseinheiten bilden. Dann sind sie in der Regel nur schwer hinterfragbar, weil sie fundamental zu unserem Denken und zu unserem kulturellen (anthropologischen, historischen, soziologischen usw.) Selbstverständnis gehören.¹⁶⁹
Es ist dieses fraglose Hinzudenken, das der Forschung immer die meisten Probleme bereitet hat, dieses selbstverständliche Voraussetzen oder Auffüllen von Standardwerten. Eine Art „unschuldige[s], selbstverständliche[s] Verstehen“, so nennt es der Diskurstheoretiker Sarasin, verführerische, naive „Gewissheiten des Traditionszusammenhangs“, wohl garantiere ein dermaßen vom Traditionszusammenhang gestiftetes Wissen, dass dieses Verstehen nicht ganz fehlgeleitet werde, „es [vermag] allerdings auch gleichzeitig die strukturellen Bedingungen für das, was so verstanden wird, selbst nicht zu erhellen.“¹⁷⁰ „[W]ie layers, wie halbtransparente Folien, die in konkreten historischen Situationen diskontinuierlich übereinander gelagert sind“,¹⁷¹ so beschreibt er diese Verstehensmodelle einschließlich ihrer polysemischen Effekte: [D]ie Signifikanten bezeichnen immer auch noch etwas anderes als die konventionelle denotative Bedeutung; sie produzieren – in Form von Metaphern und Metonymien – weitere konnotative Bedeutungen als ihren Effekt, indem durch den Transfer von Signifikanten in einen neuen Kontext neue Signifikate generiert werden. Weil diese metaphorischen Signifikanten durch die versteckten metonymischen Verweise ihre alten Bedeutungen gleichwohl noch präsent halten, erzeugen sie unaufhebbare Polysemien.¹⁷²
(Diskurs)symbole legen also ihre alte Bedeutung nicht einfach ab, wenn sie aus was für Gründen auch immer in einem neuen Kontext aktualisiert werden müssen, genauso wenig verschwinden sie einfach als Symbolformationen aus dem herrschenden Diskurs. Wie bei Sprachsymbolen, Wörtern, Lexien setzt sich vielmehr neben die alte Bedeutung eine neue.¹⁷³ Ein sprunghafter, spontaner Übergang von einer alten zu einer neuen Bedeutung ist somit wenig wahrscheinlich. Meist treffen wir also auf polysemische Koexistenzen, die aus einem rein synchronen Befund heraus kaum zu
Ziem 2005, S. 7. Sarasin 2006, S. 60. Sarasin 2006, S. 75. Sarasin 2006, S. 65. Vgl. Blank 2001, S. 70.
2.4 „Why Religious Symbols Don’t Mean Anything“
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klären sind.¹⁷⁴ In der linguistischen Semasiologie spricht man von „semantischen Brücken“, die zerbrochen sein können,¹⁷⁵ Verkettungsregeln, Konnotate, Vorstellungen von Ähnlichkeiten, die nicht mehr nachvollzogen werden können, weil der Vergleichsraum, das tertium comparationis fehlt. Gleichwohl aber geben diese Polysemien, diese Bedeutungsinkongruenzen, sei es als Sprachsymbole oder allgemeiner Zeichenelemente eines Diskurses, immer noch mehr oder weniger jene versteckten Hinweise auf ihr altes Verstehensumfeld, auf ihr altes Evokationspotenzial, auf verschwundene Diskurstraditionen, durch deren Regeln sie schließlich einst entstanden sind. Der große Diskurstheoretiker Michel Foucault mochte dieses Phänomen einst verächtlich das „halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses“ genannt haben,¹⁷⁶ in seinem Verständnis von Diskursanalyse, hatte es keinen Platz. Wir aber wollen gerade diesen „intervenierenden zweiten, ‚halbverschwiegenen‘ Diskursen“ einige Aufmerksamkeit widmen, dem, was immer noch „zwischen den Zeilen zu uns spricht“,¹⁷⁷ und damit schließlich jene von Foucault selbst eingeforderte Archäologie des Wissens¹⁷⁸ betreiben, ein sorgfältiges Abschälen, Exponieren, Dekonstruieren seiner Produktionsbedingungen, Schicht um Schicht. Unter Umständen zeigt sich erst hier die tiefgreifende, eigentlich bestimmende Struktur und Organisation der Diskurselemente.¹⁷⁹ Das Selbstverständliche, das prima facie Überzeugende eines Symbolnetzes darf genauso wenig ungesehen hingenommen werden wie das Spektakuläre, Sperrige. Die offensichtlich gelungenen Symbolverkettungen sind damit ebenso frag-würdig wie ihre Brüche, Katachresen, blinden Motive. Symbolisches Verstehen,Verstehen von Symbolen einer Kultur verlangt also keine „Art Telepathie oder eine Form des Phantasierens“,¹⁸⁰ wie einmal Clifford Geertz pointiert festgestellt hat, Deskription wie Rekonstruktion dieses verstehensrelevanten Wissens ist möglich, auch und gerade, wenn es sich in vordergründig enigmatischen, ‚sinnlosen‘ Handlungen oder exotischen Vergegenständlichungen verborgen zeigen mag. Denn dieses Wissen ist keineswegs ‚subjektiv‘, mehr oder weniger „Privatangelegenheit“ des Einzelnen: „Entsubjektivierung des verstehensrelevanten Wissens“ heißt dann in diesem Kontext, dass dieses Wissen keine Privatangelegenheit einzelner Individuen mehr ist, und dass man das Bemühen um eine Erforschung dieses Wissens nicht einfach mit dem stereotypen Hinweis darauf erledigen kann, dass man ja in die Köpfe der Menschen nicht hineinsehen könne, wie es immer noch viele Linguisten fälschlicherweise glauben. Was Menschen in ihren Köpfen haben, mag
Vgl. Blank 2001, S. 73 f. Vgl. Blank 2001, S. 74. „Man sucht unterhalb dessen, was manifest ist, nicht das halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses; man muß zeigen, warum er nicht anders sein konnte als er war, worin er gegenüber jedem anderen exklusiv ist […]“ (Foucault 1973, S. 43). Sarasin 2006, S. 66. So der gleichnamige Originaltitel: L’archéologie du savoir. Vgl. Sarasin 2006, S. 68 f. Geertz 1987b, S. 21.
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2 Methodische Vorüberlegungen
privat sein. Der Weg, auf dem es hineingekommen ist (um diese etwas problematische Metapher fortzuspinnen), ist aber ein sozialer, kulturell vermittelter Weg.Verstehensrelevantes Wissen ist in beschreibbarer Weise sozial konstituiert und aufgrund gesellschaftlich organisierter, kulturell determinierter Bewegungen und Prinzipien strukturiert. Insofern mögen die das Verstehen vorbereitenden Schlussfolgerungsprozesse (Inferenzleistungen) einzelner Subjekte durchaus individuell sein; das epistemische Material und die Schlussmuster, die dabei benutzt werden, sind unhintergehbar sozial.¹⁸¹
„Kultur, dieses Dokument, ist also öffentlich“,¹⁸² so betont auch Geertz, „Kultur ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist“¹⁸³: Obwohl sie aus Ideen besteht, existiert sie nicht in den Köpfen; obwohl sie unkörperlich ist, ist sie keine okkulte Größe. Die endlose, weil nicht zu beendende Debatte in der Ethnologie, ob Kultur „subjektiv“ oder „objektiv“ ist, und die intellektuellen Schmähungen, die sich die Kontrahenten dabei an den Kopf werfen („Idealist!“ – „Materialist!“, „Mentalist!“ – „Behaviorist!“, „Impressionist!“ – „Positivist!“), gehen total in die Irre. Sobald menschliches Verhalten als symbolisches Handeln gesehen wird […] – das heißt als Handeln, das wie die Lautbildung beim Sprechen, das Pigment in der Malerei, die Zeile beim Schreiben oder der Klang in der Musik eine Bedeutung hat –, verliert das Problem, ob Kultur vorgestanztes Verhalten, ein beschränkter intellektueller Horizont oder sogar von beidem etwas ist, seinen Sinn. […]. Es ist nach ihrer Bedeutung zu fragen: Was wird mit ihnen und durch sie [kursiv d. Verf.] gesagt – Lächerlichkeit oder Herausforderung, Ironie oder Ärger, Hochnäsigkeit oder Stolz?¹⁸⁴
Vehement stellt sich Geertz indes gegen die Thesen einer „kognitive[n] Anthropologie“, die die Auffassung vertrete, „daß nämlich die ‚Kultur in den Köpfen und Herzen der Menschen‘ beheimatet sei“, […] „daß Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammensetzt“, entsprechend der Kulturdefinition Ward Goodenoughs, Kultur bestehe in dem, „was man wissen oder glauben muß, um in einer von den Mitgliedern dieser Gesellschaft akzeptierten Weise zu funktionieren.“¹⁸⁵ Für Geertz aber besteht Kultur gerade nicht aus „mentalen Phänomenen“, die mit formalen (mathematisch logischen) Methoden untersucht werden könnten.¹⁸⁶ Nun folgen kulturelle Phänomene zweifelsohne nicht (zumindest selten genug) mathematischen Gesetzmäßigkeiten, wohl aber Regelhaftigkeiten, „Redegewohnheitsnotwendigkeiten“,¹⁸⁷ und ebenso gewiss ist Kultur nicht lediglich ein „psychologisches, mentales oder kognitives Phänomen“,¹⁸⁸ aber die Struktur ihrer Wissensrahmen, ihre „Schematisie Busse 2008b, S. 5.Vgl. dazu auch Sarasin 2006, S. 70: „Auf der individuellen Ebene ist ein Diskurs, der keine Bedeutungen fixieren kann, der Diskurs des Psychotikers; auf der gesellschaftlichen Ebene hingegen wäre die Abwesenheit jeglicher Versuche, ‚Identität‘ zu artikulieren, mit vollständiger sozialer Anomie gleichzusetzen.“ Geertz 1987b, S. 16. Geertz 1987b, S. 18. Geertz 1987b, S. 16. Geertz 1987b, S. 16 f. Vgl. Geertz 1987b, S. 19. Fleischer 1996, S. 30. Geertz 1987b, S. 19.
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rungsvorgaben“,¹⁸⁹ „Mechanismen der Perzeption“,¹⁹⁰ Typisierungen, Metaphorisierungen sind es. Geertz trennt diese geistigen, mentalen Voraussetzungen für diese Symbolisierungsleistungen von den konkreten Symbolisaten selbst. Aber Konstruktion und damit auch Rekonstruktion kultureller Texte, ihre Interpretation, letztendlich ‚das Verstehen‘ ist damit untrennbar verwoben. Und ausdrücklich geht es gerade nicht um die Suche nach irgendwelchen „hardwired structures“¹⁹¹ in unserem Gehirn, womöglich nach einem spezifisch religiösen Organ, dem ‚Sitz‘ von Religion im Gehirn oder Ähnliches.¹⁹² Dieses Verstehen hat nichts mehr mit einem „sympathetische[n]“,¹⁹³ gefühlten, intuitiven Verstehen zu tun, einem Verständnis vom Verstehen, das zu Recht zurückgewiesen wird in den Kulturwissenschaften. Es ist ja keineswegs nur der berühmte „native’s point of view“, der „Standpunkt des Eingeborenen“,¹⁹⁴ in den wir uns nicht ‚einfühlen‘ können oder wollen. Auch bei ‚eigenen‘ „radikal fremden Lebensformen und Weltbilder[n]“¹⁹⁵ gelingt das selten genug, und so wenig wie sich die Trobriander oder Balinesen oder die Menschen eines skandinavischen Mittelalters üblicherweise über das spezifische Zustandekommen ihrer Symbolformen Rechenschaft ablegen, so wenig tut dies der moderne Mensch, ‚wir‘, in unserem gewöhnlichen Alltag. Geertz verwirft also aus gutem Grund nicht nur die Empathie, sondern auch den Dialog als Möglichkeit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen,¹⁹⁶ bei vergangenen Kulturen sind wir dazu ohnehin nicht mehr in der Lage. Um etwas über das Denken (bzw. sein Produkt: Bedeutung) in Erfahrung zu bringen, kann es nicht nur um sichtbare, auf Sichtbarkeit hin angelegte Elemente kultureller, religiöser Codes gehen, heilige Schriften, Ikonographien, Rituale. Zweifellos machen diese als Zeichenketten kaum zu übersehende Kommunikations- wie Medialisierungsangebote. Es muss auch um die fundamentalen, tief verankerten, kognitiven Elemente und Prozesse gehen, die, unsichtbar darunterliegend, gleichwohl hocheffizient, den Kitt, die Bausteine, die eigentlichen Generatoren für diese Sinnbildungen ausmachen.¹⁹⁷ Beim Nachdenken über das Denken muss es zunächst einmal gerade um normale, übliche Denkprozesse und deren anthropologische Grundbedingtheiten gehen und zwar sowohl im Sinne einer Selbstreflexion als „focus on the operation of the mind of the one who is comparing“ ebenso wie als Blick auf die „deep structure of the mind
Schulze 2001, S. 9. Schulze 2001, S. 9. Sullivan 2000, S. 214. Vgl. Sullivan 2000, S. 214. Gottowik 2004, S. 167. Vgl. Gottowik 2004, S. 158. Gottowik 2004, S. 166. Vgl. Gottowik 2004, S. 160 f. Siehe Sørensen 2005, S. 471: „What traditional scholars of religion are studying are the public representations involved in transmission. Failure to recognise the importance of underlying cognitive processing has lead to an over-emphasis on the ‚exoticʻ nature of religion.“
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that is shared by those whose religious activities are being compared.“¹⁹⁸ Die Kulturphilosophie rät hier zu Recht zu einem ausgewogenen Miteinander: Wer die Sprache des Wissens erschließen möchte, ist gut beraten, diesseits der Alternative von Kontextualismus und Essentialismus zu operieren. Der Ort dieser Operation ist definiert durch den Versuch, Zeitlosigkeit und Zeitgebundenheit, so heterogen und doch auch unzertrennlich sie im Blick auf die Welt der Begriffe in ein und demselben Augenblick sind, aufeinander zu beziehen und bestehen zu lassen. Es kommt darauf an, sowohl die innere Logik des begrifflichen Denkens intakt zu lassen als auch die Kontingenzen zu berücksichtigen, die über die Figuren des Wissens und ihren Einsatz mitentscheiden.¹⁹⁹
2.5 Mythopoiesis Das mythische (religiöse, magische) Symbolsystem,²⁰⁰ die Mythopoiesis ist nicht nur Teil jener umfassenden menschlichen Symbolisierungstätigkeit wie -fähigkeit, sie liefert die ersten Welterklärungsmuster, Deutungskonzepte, die ersten Produkte mentaler Medialisierungsprozeduren. Dabei kann der Mythos als Symbolsystem zunächst einmal (wie alle anderen Symbolsysteme auch) nicht substantiell, sondern nur als Perspektive definiert werden: Es gibt keine bestimmten Objekte oder Objektgruppen, die per se ‚mythisch‘ sind. Es gibt weder spezifisch ‚mythische‘ Zeiten noch ‚mythische‘ Orte, an denen sich ‚Mythisches‘ bevorzugt ereignet: Der Mythos ist eine Aussage [:] Natürlich ist er nicht irgendeine beliebige Aussage: die Sprache braucht besondere Bedingungen, Mythos zu werden. Man wird sie alsbald erkennen. Zu Beginn muß jedoch deutlich
Sullivan 2000, S. 211. Konersmann 2005, S. 27. Das mythische Symbol wird in vorliegender Arbeit austauschbar verwendet mit dem magischen und insbesondere religiösen Symbol (Konzept, Vorstellung). Cassirer unterscheidet zwar explizit eine mythische und eine religiöse Denkform: Religiöse Denkformen würden schon bewusster ihre Symbolisierungstätigkeit reflektieren im Gegensatz zu der noch primitiveren, prälogischen, mythischen Denkform (bei Cassirer ohne negative Konnotation): „Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: Indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß [orig. gesperrt] sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisenʻ, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen“ (Cassirer 2010, S. 280). Dieser Auffassung schließt sich diese Untersuchung nicht an. Auch religiöse Denkformen beruhen auf ontologischen Letztbegründungen, egal wie elaboriert religiöse Spezialisten ihre „theologische Innenperspektive“ medial auszudrücken vermögen (vgl. Gladigow 1988 – 2001, S. 36). Unsere eurozentristische Kultur gibt wohl vor, dass gewisse Zeichenvorräte als prestigeträchtiger gelten (etwa Sprache, Bücher, geschlossene theologische Entwürfe wie Soteriologien usw.), dennoch muss mit Gladigow grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass auch ausgearbeitete systematisierte Theologien „auf der gleichen Objektebene liegen wie etwa die Logik einer Ritualsequenz. Anders ausgedrückt: Auch die jeweiligen Theologien sind ‚Eingeborenen-Modelle‘ im Sinne der ethnologischen Forschung und Teil des zu erforschenden Symbolsystems“ (Gladigow 1988 – 2001, S. 36).
2.5 Mythopoiesis
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festgestellt werden, daß der Mythos ein Mitteilungssystem, eine Botschaft ist. Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff oder Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form. […]. Es wäre höchst irrig, eine substantielle Unterscheidung zwischen den mythischen Objekten treffen zu wollen; da der Mythos eine Aussage ist, kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden. Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen. Alles kann also Mythos werden? Ich glaube, ja, denn das Universum ist unendlich suggestiv. Jeder Gegenstand der Welt kann von einer geschlossenen, stummen Existenz zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft offenen Zustand übergehen […].²⁰¹
Jedes Phänomen – mit den Worten Barthes ein ganzes Universum – kann also in den Fokus des Mythischen geraten, er ist der erste Blickwinkel, der Blickwinkel des menschlichen Bewusstseins schlechthin. Von der Konkretheit im mythischen Denken haben wir bereits gesprochen: Die Mythenwelt ist eine konkrete Welt, es gibt keinen Unterschied zwischen nur „vorgestellter“ und „wirklicher“ Wahrnehmung, zwischen Traum und Wacherlebnis, zwischen Leben und Tod.²⁰² Der Mythos kennt keine Selbstreflexion, keinerlei Art von Metakognition, nicht das ‚Denken über das Denken‘. Mythisches Denken ist also ontologisches Denken schlechthin: Denken in der Ausschließlichkeit von Letztbegründungen, immer alternativlos, immer ohne Wahl. Der Mythos verbirgt nichts, keinen ‚eigentlichen‘, keinen anderen Sinn, er weiß nichts von seiner Funktion als Medialisierungsinstrument, er kennt und braucht kein einziges Symbol, keine einzige Metapher, keine ‚bloße‘ Repräsentation, um funktionstüchtige Weltbeschreibungskonzepte zu liefern. Seine scheinbare Notwendigkeit zur Allegorese, zur Auslegung einer ‚tieferen‘ Wahrheit sind Begreifbarmachungsstrategien von anderen, sich neu formierenden Symbolsystemen, um Anschlusskommunikationen zu ermöglichen. Nur die Außenperspektive anderer symbolischer Denkformen ermöglicht uns ein Gegenübertreten zu jener spezifischen Art von Wirklichkeitskonstruktion.²⁰³ Cassirer nennt es dennoch eine Art „geistige Fessel“,²⁰⁴ eben weil sich das mythische Denken diese Art von Konzeptualisierung nicht bewusst machen und darüber hinaustreten kann. In dem Maße aber, wie das mythische Denken das Abbild, die Repräsentation einer Sache immer nur wie die Sache selbst behandeln kann, werden auch dessen konkrete, erwartbare Handlungsmuster und Handlungsaufforderungen appliziert. Die be-
Barthes 2003 [1957], S. 91 f. Vgl. Cassirer 2010, S. 30 f. Siehe Cassirer 2010, S. 46: „Dieses eigentümliche Ineinander, diese Indifferenz all der verschiedenen Objektivationsstufen, die durch das empirische Denken und den kritischen Verstand unterschieden werden, muß man sich ständig gegenwärtig halten, wenn man die Inhalte des mythischen Bewußtseins, statt von außen über sie zu reflektieren, von innen her verstehen will. Wir sind gewohnt, diese Inhalte insofern als ‚symbolisch‘ aufzufassen, als hinter ihnen ein anderer, verborgener Sinn gesucht wird, auf den sie mittelbar hindeuten.“ Cassirer 2010, S. 31.
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2 Methodische Vorüberlegungen
kannten, apotropäisch magischen Vorstellungen von Bild- und Namentabus resultieren daraus, in besonderer Weise aber grenzenlose, narrative Syntagmatismen, das ‚sich-unablässig-Weitererzählen‘ des Mythos. Der Mythos ist die menschheitsgeschichtlich früheste, so genannte prälogische Perspektive auf Wirklichkeit, ein durchaus missverständlicher Begriff, zumal er immer auch eine Art von Mangel, eine Art von Defizienz des Denkens zu implizieren scheint, aber mythisches Denken ist die erste erfolgreiche Distanzierungsleistung, die erste Kontingenzenbewältigung des Menschen. Über einen reinen Instinkteapparat hinaus tritt die Spezies Mensch als kognitives Wesen ihrer Umwelt gegenüber. Ab einer gewissen Stufe in seiner evolutionsbiologischen Entwicklung entstehen selbst geschaffene, künstliche Medialisierungsinstrumente, die dem Menschen einen unschätzbaren Evolutionsvorteil sichern sollten. Mythen sind somit die ersten Produkte kognitiver Prozesse im menschlichen Denken, die erfolgreich Informationsverarbeitungsprozesse abkürzen, kommunikable Wissensspeicher und Vorräte anlegen und gleichzeitig prototypische, rituelle Handlungsvorlagen liefern – heute wie vor Jahrzehntausenden. In diesem Sinne kann es niemals ein vormythisches Denken geben, menschliches Denken ist zuallererst mythisch oder nicht existent. Unser Wissen, unser „Fluss von Wissen durch die Zeit“²⁰⁵ beginnt also mit dem Mythos, aber dieses Wissen ist nicht nur als überwiegend sprachlicher Wissensvorrat gespeichert,²⁰⁶ es ist auch in unserer Sprache gespeichert. Die kognitive Linguistik geht grundsätzlich davon aus, dass die gleichen kognitiven Operationen, die die Menschen generell dafür nutzen, um Erfahrungen Sinn zu geben, auf nämliche Weise in der Sprache verwendet und repräsentiert werden.²⁰⁷ So verweist der Sprachtypologe Wolfgang Schulze auf die unhintergehbar kognitiven Bedingtheiten unserer Sprache: „Sprachliche Architekturen basieren grundsätzlich auf der Architektur der human[en] Kognition; sie können diese nicht transzendieren, da sie Teil von ihr sind.“²⁰⁸ Sprachlichen Zeichen muss damit „eine Schlüsselrolle für die Untersuchung des kulturellen Wissens“²⁰⁹ zugewiesen werden, ihre Verständnismodelle, Wissensspeicher von Welt sind Schnittpunkte, Koppelstellen zu anderen kulturellen Medialisierungen, zu den zunächst als durchaus verschieden wahrgenommenen diskursiven Praxen. Wenn wir aber nun davon ausgehen müssen, dass „die semantische Struktur einer Sprache unsere wahrnehmungsbedingte Rekonstruktion der Welt wiedergibt“,²¹⁰ müssten dann nicht gerade in der „Sprachförmigkeit menschlicher Daseinserfahrung und Daseinsmodellierung“²¹¹ jene mythischen Elemente wieder auffindbar sein? Ist dann nicht das „Sprechen und Denken auf der Grundlage von
Jäger und Jäger 2007, S. 15. Vgl. Keller 2008, S. 220. Vgl. Kövecses 2009, S. 5. Schulze 2001, S. 8. Busse 2006/2007, S. 11. Blank 2001, S. 36. Konersmann 2006, S. 362.
2.5 Mythopoiesis
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Wissen“²¹² ebenso wie „Sichtbarkeiten“²¹³ bzw. „Vergegenständlichungen“²¹⁴ dieses Wissens letztendlich mythisches Wissen? Nicht in dem Sinne, dass ausschließlich über mythische Inhalte gesprochen, kommuniziert und nachgedacht würde, ausschließlich mythische Inhalte festgehalten und erinnert würden, vielmehr, dass Wirklichkeit und Wahrheit mythisch konstruiert würden, mithilfe mythischer Modelle und Wissensmuster.²¹⁵ Narrativität, ,Narrativisierung‘ gehört zu den ersten und wichtigsten Leistungen des Mythos, ‚das Erzählen‘ ist seine immer prima facie wahrgenommene, exemplarische Eigenschaft, der er nicht zuletzt seinen Namen verdankt: Wissenssegmente, Kategorien, Schemata, Modelle werden in einem Gesamtkonzept zu narrativen Organisationsmustern zusammengefasst. Plausibilität ist „mit struktureller Notwendigkeit“²¹⁶ an Narrativität gebunden, Phänomene jedweder Art, sei es im Alltagshandeln, in kulturellen und gewiss auch und gerade in religiösen Konstellationen, werden zu Geschichten verknüpft und somit erzähltechnisch plausibel gemacht. Aber mythisch magisches Denken ist so viel mehr als seine rein narrativen Formen. Die Welt ‚erzählbar‘ machen ist lediglich sichtbarer Effekt und Ergebnis von komplexen kognitiven Präsuppositionen und Voreinstellungen. Zunächst müssen die Erscheinungsformen in der Welt selbst als begreifbare, benennbare Modelle geformt werden. Dabei greifen Sprache und Mythos auf die gleichen Vorstellungen, auf die gleichen kognitiven Muster zu, oder anders gesagt, Versprachlichungsmuster sind mythische Muster. Nun ist ein Zusammenhang zwischen Sprache und Mythos schon früh vermutet worden, Cassirer verweist auf Schelling, der von der Sprache als eine Art „verblichene Mythologie“²¹⁷ spreche.²¹⁸ Schelling sieht also schon jene üblichen Konventionalisierungen von Zeichen, wie ihre ursprünglichen, konkreten, bildgebenden Konzepte selbst-verständlich werden, unsichtbar werden, buchstäblich ‚verbleichen‘. Friedrich Max Müller möchte die Entwicklung genau andersherum sehen, er sieht in der Sprache das primäre und grundlegende Instrument zum Weltverstehen, das mythische Denken ist dabei zwar „inherente Nothwendigkeit“,²¹⁹ gleichwohl aber sekundär,
Jäger 2006, S. 84. Jäger 2006, S. 84. Jäger 2006, S. 84. Vgl. Krämer 1990, S. 63. Gladigow 2004b, S. 226. „Beinahe ist man versucht zu sagen: die Sprache selbst sey nur die verblichene Mythologie, in ihr sey nur in abstracten und formellen Unterschieden bewahrt, was die Mythologie noch in lebendigen und concreten bewahre“ (Schelling 1856, S. 52). Vgl. Cassirer 2010, S. 26 f. „Die Mythologie ist unvermeidlich; sie ist eine inherente Nothwendigkeit der Sprache, wenn wir in der Sprache die äussere Form des Gedankens erkennen: sie ist, mit einem Wort, der dunkle Schatten, welchen die Sprache auf den Gedanken wirft, und der nie verschwinden wird, so lange sich Sprache und Gedanke nicht vollständig decken, was nie der Fall sein kann. Freilich bricht die Mythologie in der
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2 Methodische Vorüberlegungen
eher Defizienz oder Makel menschlichen Denkens. Cassirer versteht Müller dahingehend, dass für diesen mythischer Sinn sprachlicher Doppelsinn bedeute, der Mythos eine Art „Erkrankung des Geistes“ sei, die letztendlich in einer „Krankheit der Sprache“ gründe.²²⁰ Und es sei im Besonderen die Sprachfigur der Metapher, die Müller als Auslöser und Initiator für diese ‚Verdunkelungen‘ ausmache.²²¹ In der Tat nennt Müller die Mythologie „a disease of language and thought,“²²² ‚ungesunde‘ mentale, verrückte Prozeduren, die fehlerhafte, verdunkelte, ja nachgerade manische Bilder von Wirklichkeit – die Mythen – evozieren. Er will es aber nicht beim Sammeln mehr oder weniger kurioser, irrationaler Einzelmotive oder Narrative belassen,²²³ Müller fragt nach Aufbau und Struktur eines dermaßen organisierten menschlichen Verstandes und durchaus hellsichtig fordert er entsprechende methodologische Konsequenzen: Mythologie möchte er keineswegs mehr ausschließlich von den klassischen, geisteswissenschaftlichen Fächern verhandelt sehen, den „Beaux arts“, Mythologie sei jetzt vielmehr „one of the most important problems of psychology.“²²⁴ Bereits Müller vermutet also schon erstaunlich genau gemeinsame mentale, ‚psychologischeʻ Sinnherstellungsprozesse im Menschen, immer wieder betont er jene „inseparableness of thought and language“²²⁵ als Manifestationen derselben geistigen Energie.²²⁶ Und das „Bindeglied“, das Vehikel zwischen Sprache und Denken macht er in der Metapher aus, sie lässt letztendlich ein gleichwohl schwankendes, unsicheres, vorläufiges, auf seine Weise ver-rücktes, kurz, ein explizit mythisches Universum entstehen. Die Vorgaben einer modernen Sprachtypologie gehen von kaum anderen Voraussetzungen aus: Die kognitive Begründung der typologischen Varianz resultiert aus einem Prozeß der Selbstähnlichkeit, der die Grundlagen von Sprache als metaphorisches System bildet. Zugrunde liegen basale Schematisierungsvorgaben, die im Laufe der Phylogenese bzw. Ontogenese auf das sprachliche Wissen strukturell und substantiell projiziert werden.²²⁷
ältesten Zeit der Geschichte des menschlichen Geistes stärker hervor, aber sie verschwindet nie vollständig“ (Müller 1874b, S. 316). Vgl. Cassirer 2010, S. 27. „So hat zum Beispiel Max Müller versucht, Mythos und Sprache derart zu verketten, daß er das Wort und seine Vieldeutigkeit als den ersten Anlaß der mythischen Begriffsbildung zu erweisen trachtete. Als das Bindeglied zwischen beiden gilt ihm die Metapher [orig. gesperrt], die, im Wesen und in der Funktion der Sprache selbst wurzelnd, nun auch dem Vorstellen [orig. gesperrt] selbst jene Richtung gibt, die zu den Gebilden des Mythos hinführt“ (Cassirer 2010, S. 26 f.). Müller 1897, S. 38. „If all myths are irrational, how could rational beings have invented them? We may admit an infantia of our race, we cannot admit a period of dementia at the beginning of an evolutionary process of which we ourselves are integral links, if not the last results“ (Müller 1897, S. 72). Müller 1897, S. 71. Müller 1897, S. 38. „[M]anifestations of one and the same energy“ (Müller 1897, S. 38). Schulze 2001, S. 9.
2.5 Mythopoiesis
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Eine sprachliche Äußerung sei also letztendlich, so Schulze, „eine Art Spiegelung“ eines von außen kommenden Umweltreizes, „seine kognitive Gestalt [erhält er] durch die Einbringung oder Imitation eines gespeicherten Analogereignisses.“²²⁸ Dabei nehme notwendigerweise „der Grad an Unschärfe in Relation zur Tatsächlichkeit von UR [Umweltreiz, d. Verf.] zu“, gleichzeitig gewinne dieser aber „immer stärker an Eigengestalt.“²²⁹ In einem Prozess der Diairese („Trennung, Unterscheidung“) werde der Umweltreiz „nach Maßgaben des sprachlichen und kommunikativen Wissens im Einklang mit anderen kognitiven Wissensbasen und Mechanismen der Perzeption linguistisch harmonisiert.“²³⁰ Eine Reaktion auf einen Umweltreiz könne freilich nur dann erfolgen, wenn adäquate Strukturerfahrungen vorlägen, die in der individuellen Kognition gespeichert sein müssen, mit anderen Worten: „Even those transcendent parts of new knowledge cannot be completely unrelated to old knowledge, for otherwise they could never be grasped, at least by human beings.“²³¹ In eine mythische Vorstellungswelt übertragen ist jene „unendliche Zahl von Umweltreizen“,²³² von denen Schulze spricht, nichts anderes als ‚das Chaos‘, eben jener gefürchtete Blumenberg’sche „Absolutismus der Wirklichkeit“,²³³ jene überwältigende, chaotische, kontingente Wirklichkeit, dem das „Mängelwesen Mensch“²³⁴ gegenübertreten muss. Hans Blumenberg macht ganz entsprechend als eine der Hauptcharakteristika und -leistungen des Mythos eine Reihe arbeitstechnischer „Kunstgriffe“ aus, etwa: „Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, […] Erklärungen für das Unerklärliche, […] Benennungen für das Unnennbare.“²³⁵ Auch für ihn sind hier Metaphorisierungsprozesse im Gange, Unvertrautes werde gerade durch die Metapher herausgehoben, „eine Sache [wird] vorgeschoben, um das Ungegenwärtige zum Gegenstand der abwehrenden, beschwörenden, erweichenden oder depotenzierenden Handlung zu machen.“²³⁶ Und es sind zunächst einmal gerade Namen, die Identitäten schaffen, Phänomene identifizierbar machen.²³⁷ Blumenberg spricht nachgerade vom „Apotropaion der Namengebung“,²³⁸ mit den Worten Franz Rosen-
Schulze 2001, S. 12. Schulze 2001, S. 9. Schulze 2001, S. 9. Schulze 2001, S. 12, mit Verweis auf das so genannte Menōn-Paradoxon: „Wenn du etwas weißt, kannst du es nicht lernen, wenn du es nicht weißt, kannst du es auch nicht lernen, weil du nicht weißt, was du lernen sollst.“ Schulze 2001, S. 15. Blumenberg 1984, S. 10. Blumenberg 1984, S. 11. Blumenberg 1984, S. 11. Blumenberg 1984, S. 11. Vgl. Blumenberg 1984, S. 11 f. Blumenberg 1984, S. 22.
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2 Methodische Vorüberlegungen
zweigs vom „Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten.“²³⁹ Namengebung schaffe „Appellationsfähigkeit“,²⁴⁰ denn „als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden,“²⁴¹ der ‚namenlose‘ Schrecken gelte nicht von ungefähr als „höchste Stufe des Schreckens“, die Namenfindung entsprechend „die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt“: „Erst dann und daraufhin lässt sich von ihm [dem Unbestimmten, d. Verf.] eine Geschichte erzählen. […]. Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen.“ ²⁴² Der primordiale Akt der Namengebung ist in diesem Sinne Teil jenes diairetischen Prozesses, der „Segmentierung von Gestalterfahrungen.“²⁴³ Der Komplexität und Kontingenz einer Lebenswelt wird in einem ersten Schritt begegnet mit Aufteilung und Reduktion, die gleichzeitig gekoppelt ist mit einem „Extensionsprozeß“, einer Art „Inflation“.²⁴⁴ Die Inflation an Namen in der Welt ist eine Folge daraus. Das Übermaß konstruierter Analogieschlüsse suggeriert lückenlose Weltkenntnis und damit Bewältigbarkeit. Und diesen „Extensionsprozeß“ möchte Schulze nun als „Metaphorisierungsprozeß“ fassen: „Die unendliche Zahl von Umweltreizen wird auf eine endliche Zahl von letztendlich linguistischen Repräsentationen abgebildet, die wieder eine unendliche Zahl von metaphorischen Varianten erzeugen kann.“²⁴⁵ Gegenwart, Wirklichkeit, sprich die Reaktion der Kognition auf einen aktuellen Umweltreiz, kann damit stets nur „Metapher des Vergangenen“ sein.²⁴⁶
2.6 Die Metapher als bedeutungsgebendes Konzept Der Vorgang, dass allgemein menschliche Erfahrungen in Begriffen, Konzepten, in der Terminologie eines anderen Konzeptes beschrieben (und verstanden) werden, nennt man gemeinhin Metapher.²⁴⁷ Als reines Stilmittel oder zumindest im weiteren Sinn ausschließlich als Erscheinung der Sprache, so wurde die Metapher im Grunde ge-
Blumenberg 1984, S. 22. Siehe Rosenzweig 1979, S. 413: „Eben durch das Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten, das so und auch anders heißen kann (und das überhaupt ‚auch anders heißen kannʻ), ist der Schauplatz und der Inhalt der Weltgeschichte entstanden.“ Blumenberg 1984, S. 22. Blumenberg 1984, S. 40. Blumenberg 1984, S. 41. „Daß die Welt bewältigt werden könne, bringt sich früh zum Ausdruck in der Anstrengung, die Lücke im Ganzen der Namen zu vermeiden, was nur heißen konnte: durch Übermaß als vermieden auszugeben“ (Blumenberg 1984, S. 47). Schulze 2001, S. 9. Schulze 2001, S. 12. Schulze 2001, S. 15. Schulze 2001, S. 14. Vgl. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 5: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another.“
2.6 Die Metapher als bedeutungsgebendes Konzept
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nommen seit der Antike unter den Vorgaben eines Aristoteles (vgl. Poetik, Kap. 21)²⁴⁸ verhandelt: Sie rückt zwei Gegenstände zusammen und verbindet sie aufgrund von Ähnlichkeiten, die beiden bereits im Voraus inhärent zu sein scheinen, als Gegenstand des Vergleichs erscheint sie gleichsam als „ästhetisches Substitut“, im Gegensatz zur wörtlichen, normalen, unmittelbaren Sprache des Alltags erfüllt die Metapher jedenfalls ausschließlich künstlerische Funktionen: „Das, was eine Metapher sagt, kann ebensogut auch auf nichtmetaphorische Weise gesagt werden.“²⁴⁹ Somit primär als Abweichung von der sprachlichen Norm beurteilt, lag der Fokus der Metaphernforschung lange Zeit auf der so genannten ‚bewusstenʻ Metapher, gut erkennbar in ihrer Künstlichkeit und Kunstfertigkeit. Entsprechend dieser Vorgaben war denn auch die ‚verblasste‘ oder ‚tote‘ Metapher eine Metapher, die ihrer postulierten ausschließlichen Ästhetisierungsfunktion nicht mehr gerecht wurde. Nach jenem traditionellen Metaphern-Verständnis waren sie nun für den Sprachgebrauch wertlos und überflüssig geworden.²⁵⁰ Aber genau jene vordergründig funktionslos gewordenen Metaphern sollten sich zum Dreh- und Angelpunkt eines neuen Metaphernverständnisses etablieren. Als dessen populärste Vertreter können wohl die amerikanischen Linguisten George Lakoff und Mark Johnson seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelten. „Metaphors we live by“,²⁵¹ Alltagsmetaphern, gewöhnliche Metaphern, so nannten sie jene Sprachphänomene, die nun in den Fokus ihres Forschungsinteresses rückten. Ihre Ergebnisse sollten jedenfalls das übliche Bild über Metaphern gewaltig ins Wanken bringen: Metaphern, obgleich ebenso Elemente sprachlicher Ordnungssysteme, werden nach diesem Verständnis nun nicht mehr als ausschließlich sprachbasiert betrachtet, ihre spezielle Logik beziehen sie bzw. teilen sie mit allgemeinen kognitiven Prozessen und Gedankenoperationen. Kövecses macht denn auch klar: The „dead metaphor“ account misses an important point; namely, that what is deeply entrenched, hardly noticed, and thus effortlessly used is most active in our thought. […] [M]etaphors […] may be highly conventional and effortlessly used, but this does not mean that they have lost their vigor in thought and that they are dead. On the contrary, they are „alive“ in the most important sense – they govern our thought – they are „metaphors we live by“.²⁵²
Die wichtigsten Prämissen für jenen Paradigmenwechsel in der Metaphernforschung fasst er folgendermaßen zusammen: (1) [M]etaphor is a property of concepts, and not of words; (2) the function of metaphor is to better understand certain concepts, and not just some artistic or esthetic purpose; (3) metaphor is often not based on similarity; (4) metaphor is used effortlessly in everyday life by ordinary people, not
Fuhrmann (Hg.) 2010. Krämer 1990, S. 62. In ihrer Untersuchung wird diese Position kritisch hinterfragt. Vgl. Baldauf 1997, S. 13 ff. Siehe den gleichnamigen Buchtitel Lakoff und Johnson 2003 [1980]. Kövecses 2002, S. IX.
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2 Methodische Vorüberlegungen
just by special talented people; and (5) metaphor, far from being a superfluous though pleasing linguistic ornament, is an inevitable process of human thought and reasoning.²⁵³
In diesem Verständnis kommt also der Metapher nicht nur innerhalb des Symbolsystems der Sprache eine ganz besondere Funktion zu, sie gehört ganz offenbar zum grundlegenden, unhintergehbaren und vor allen Dingen ubiquitären Instrumentarium im Denken.²⁵⁴ Auch in der Kulturphilosophie erscheinen Metaphern als „sprachliche Zeugnisse humaner Welterschließung“, die einen wertvollen Blick darauf ermöglichen, „was es mit dem Menschen in seiner Welt auf sich hat,“²⁵⁵ eine indes üblicherweise „stillschweigend erfolgende, in die Schächte des kulturellen Unbewußten abgedrängte Aktivität“,²⁵⁶ die aus diesem Grund von Fall zu Fall vorgeführt und bewusst gemacht werden müsse.²⁵⁷ Metaphern seien recht eigentlich Erzählungen, die sich als Einzelwort maskierten, so Konersmann, es sei ihre Vielfalt an „eidetischen, etymologischen, semantischen und epistemologischen Verweisungen“,²⁵⁸ die sie dafür auszeichne. Schon der italienische Philosoph Giambattista Vico (17./18. Jh.) bezeichne die Metapher als die „lichtvollste“ (più luminosa) aller Tropen, als „picciola favoletta“,²⁵⁹ als „kleinen Mythos“.²⁶⁰ Es ist also ein mythischer Wissensrahmen, den uns die Metapher vorgibt, und wiederum nicht in dem Sinn, dass es die mythische Erzählung per se ist, die eine Art Motivfundus bereithielte. Auch hier geht die Argumentation eher anders herum, dass es die Metapher selbst sei, jede Metapher, die für sich eine „myth-in-miniature or an abbreviated myth“ darstelle.²⁶¹ Damit befänden wir uns im Grunde genommen bis heute in einer „andauernde[n] mythische[n] Perzeption der Realität“, so die Philosophin Sibylle Krämer, mit dem nämlichen Ziel: „die Herstellung eines mythischen Zusammenhangs zwischen disparaten Gegenständen der Erfahrungen.“²⁶² Was aber müssen wir uns nun unter dem explizit ‚Mythischen‘ der Metapher vorstellen? Die Entstehung metaphorischer Bedeutung sei daran gebunden, so Krämer, „dass Gegenstände einen symbolischen Sinn erlangen, den sie tatsächlich verkörpern, also nicht einfach darstellen, sondern an sich selbst ausdrücken“,²⁶³ also jene Cassirer’sche unentschiedene wie unterschiedslose Dimension der mythischen Konkreszenz. Gerade dadurch aber zeuge „die Metapher vom lebendigen Fortbestand
Kövecses 2002, S. VIII. Vgl. Konersmann 2011, S. 7. Konersmann 2006, S. 360. Konersmann 2011, S. 14. Vgl. Konersmann 2011, S. 14. Konersmann 2011, S. 8. Ferrari (Hg.) 1836, S. 191. Vgl. Konersmann 2011, S. 8. Daniel 1990, S. 10. Krämer 1990, S. 63. Krämer 1990, S. 66.
2.6 Die Metapher als bedeutungsgebendes Konzept
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einer mythischen Sicht der Realität.“²⁶⁴ Die Metapher zeige sich damit als eine Art „Residuum“ des Mythos selbst.²⁶⁵ Entsprechend fällt Krämers Fazit aus: „Der viel beschworene Übergang vom Mythos zum Logos erführe dann im Sprachverfahren der lebendigen Metapher eine beständige Umkehr,“²⁶⁶ ein Fluktuieren unseres Denkens zwischen Mythos und Logos also, das bis heute ungebrochen anhält.²⁶⁷ Aber dieser Effekt entsteht ja keineswegs nur durch die erkennbare Metapher, die ‚lebendige‘ Metapher. Metaphern bemerkten wir ohnehin nur, so Konersmann, wenn sie „stören“, dass ihre Aussagen dennoch hingenommen würden, liege daran, dass wir uns gewissermaßen zum „Komplizen“ der Metapher machten: „Sie will nicht geglaubt, sie will verstanden sein.“²⁶⁸ Aber wir machen uns eben nur den lebendigen, gut erkennbaren, originellen Metaphern zum Komplizen, in einer Art bewusst „kalkulierte[m] Kategorienfehler“.²⁶⁹ Allen andern, den Lakoff’schen Alltagsmetaphern, den Allerweltsmetaphern glauben wir nach wie vor ‚blindʻ, buchstäblich unbesehen, so dass sie in ihrer Unsichtbarkeit und Selbstverständlichkeit ihre mythisch begründeten Expansivismen ungestört entfalten können. Diese Metaphorisierungsprozesse, die wir nun in unserem Sinne expressis verbis als Mythisierungsprozesse fassen wollen, folgen einem immer ähnlichen Muster: Auf vage, wenig abgegrenzte, abstrakte, unbekannte, unsagbare, auf irgendeine Weise problematische Phänomene (in der Terminologie der kognitiven Metaphernforschung mit target domain, „Zielbereich“, bezeichnet) werden konkretere, ‚nähere‘, vertrautere, insbesondere der körperlichen Erfahrung zugängliche Konzepte (die so genannten source domains, „Herkunftsbereiche“) projiziert. Durch diese mappings werden systematisch Elemente aus beiden Bereichen korreliert, Korrespondenzen hergestellt und darüber hinaus mögliche semantische Leerstellen geschlossen und komplettiert (ähnlich den gap-fillings narrativer Schemata). Es ist der typische kognitive Prozess der Vergleichbarmachung, der Angleichung: Die Verbindung von source domain und target domain erfolgt über ein tertium comparationis, in assoziativer Hinsicht als Ähnlichskeitsbeziehung [sic] gesehen, die auf kongruenten Merkmalen basiert. Standardmäßig wird dabei angenommen, daß das tertium comparationis vornehmlich in der source domain strukturell oder lexikalisch repräsentiert ist und über eine Ähnlichkeitshypothese in der target domain abgebildet wird.²⁷⁰
Krämer 1990, S. 68. Vgl. Krämer 1990, S. 68. Krämer 1990, S. 68. Ähnlich Giambattista Vico (Hösle [Hg.] 1990), S. 195: „Durch all dies ist bewiesen worden, daß alle Tropen […], die man bisher für geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gehalten hat, notwendige Ausdrucksweisen alle[r] ersten poetischen Völker gewesen sind und daß sie ursprünglich die ihnen innewohnende eigentümliche Bedeutung ganz besessen haben.“ Konersmann 2011, S. 14. Krämer 1990, S. 62 f. Schulze 2001, S. 16.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Eine Metapher ‚funktioniert‘ jedenfalls dann, wenn sie für einen gewissen Aspekt von Wirklichkeitserfahrung eine Handhabe zur Verfügung stellt, den dieser aus sich selbst heraus nicht zu leisten vermag. Gerade hier zeigt sich also, dass das Erkennen eines Phänomens (entsprechend Kant’scher Vorgaben) nicht nur das Sehen bedeutet als rein perzeptiver Akt, vielmehr ist gerade das „erstmalige Erkennen […] immer das Sehen als, also das Sehen von etwas als etwas.“²⁷¹ Wir könnten somit zunächst gar nicht unterscheiden, so der Philosoph Ulrich Arnswald, dass wir es mit zwei unterschiedlichen konzeptuellen Systemen zu tun hätten,²⁷² denn die Metapher liefere immer auch gleichzeitig „eine Anleitung wie man etwas sehen soll“,²⁷³ mit dem dezidierten Ziel, „Erfahrungen in einer Problemsituation von einem Bereich auf einen anderen zu transferieren und damit zu dessen Problemlösung beizutragen.“²⁷⁴ So vernetzen bzw. ökonomisieren Metaphern nicht nur individuelle Denkprozesse, vielmehr werden sie zu elementaren kulturellen Bedeutungsträgern, sie stellen Kohärenz, Plausibilität, ja im eigentlichen Sinne gesamtgesellschaftliche Realität überhaupt her: Metaphors may create realities for us, especially social realities. A metaphor may thus be a guide for future action. Such actions will, of course, fit the metaphor. This will, in turn, reinforce the power of the metaphor to make experience coherent. In this sense metaphors can be self-fulfilling prophecies.²⁷⁵
Dieser Befund hat in der Tat nichts mehr mit jenem ursprünglichen Metaphernverständnis als ‚rhetorischer Zierrat‘, als ‚ästhetisches Substitut‘, als reine Angelegenheit von Sprache gemein, wie Lakoff und Johnson betonen. Tatsächlich sind Metaphern machtvolle Instrumente, um Realität zu kreieren, aber auch zu manipulieren: Sind gewisse Metaphernkomplexe erst einmal akzeptiert, werden auch ihre Inferenz- und Plausibilisierungsprozesse ‚automatisch‘ mitakzeptiert, sprich, die Art wie gewisse Aspekte eines nun auf diese Weise verstandenen Phänomens zwangsläufig hervorgehoben, „beleuchtet“ werden, andere hingegen unsichtbar werden, „versteckt“ werden („Highlighting and Hiding“²⁷⁶), entscheidet auch über die Qualität und Wirksamkeit von Handlungsvorlagen und Handlungsaufforderungen, die oft genug am Ende dieser Prozesse stehen. Die Manipulation dieses Verstehensprozesses ist demnach oft genug intendiert. Die Kontrolle über die in einer Gesellschaft verwendeten und akzeptierten Metaphern ist ein unschätzbarer Machtfaktor, Metaphernhoheit heißt auch für Lakoff und
Arnswald 2004, S. 222. Vgl. Arnswald 2004, S. 222. Arnswald 2004, S. 226. Arnswald 2004, S. 230. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 156. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 10.
2.7 Körperkonzepte als transkulturelle Grundlage kognitiver Prozesse
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Johnson in dieser Konsequenz nichts anderes als Wahrheitshoheit, also das Deutungsmonopol auf die adäquate Repräsentation von Wirklichkeit.²⁷⁷ Metaphorisches Denken erweist sich damit als eine „coherent organization of experience“²⁷⁸ von nicht selten kulturübergreifender Universalität und Ubiquität. Nicht zuletzt das frühe Erscheinen metaphorischer Prozesse im Rahmen des kindlichen Spracherwerbs deutet in diese Richtung.²⁷⁹ Aber auch auf die relative Beschränktheit jener grundlegenden Schematisierungsroutinen wird verwiesen, auf die „sehr kleine[ ] Zahl von source domains“, auf die unsere kognitiven Voreinstellungen gegründet sind²⁸⁰: Grundsätzlich ist aber zu vermuten, daß die sprachliche Architektur in ihrer komplexen Vielfalt auf einer relativ kleinen Zahl von sehr einfachen und damit universell verfügbaren Strukturen und Schemata der kommunikativ ausgerichteten Wahrnehmung, also der Kognition beruht. Komplexität und damit Varianz erlangen sprachliche Architekturen durch die Interaktion dieser einfachen Strukturen, über das Prinzip der Selbstähnlichkeit und damit das Prinzip der Metaphorisierung. Das Kopieren einfacher Strukturen in andere ebenso einfache Strukturen hinein bewirkt ebenso Komplexität wie die Ausdehnung solcher Strukturen auf bislang noch nicht erschlossene Bereiche der sprachlich-kommunikativ orientierten Wahrnehmung. Insofern muß der gesamte, hier letztlich nur in Andeutungen dargestellte Metaphorisierungsprozeß als Teil der Selbstorganisation der Kognition beschrieben werden, der chaotische Erfahrungen im Prozeß der Selbstähnlichkeit immer wieder in Bezug zu schon vorhandenen Strukturen in komplexerer Form ordnet und organisiert.²⁸¹
Durch das Hineinkopieren, das Ankoppeln, das Vernetzen von „sehr einfachen“ Strukturen entsteht „Komplexität und damit Varianz“.²⁸²
2.7 Körperkonzepte als transkulturelle Grundlage kognitiver Prozesse Metaphern als „Zeugnisse humaner Welterschließung“,²⁸³ als Zeugnisse humaner Wirklichkeitsrezeption werden entsprechend in Wissensmustern artikuliert, „die durch und durch anthropomorph“ sind.²⁸⁴ Das heißt, dem eigenen, menschlichen Körper kommt eine Schlüsselposition zu, es ist der eigene Körper, der sich zuallererst Vgl. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 157 f. Kövecses 2002, S. 4. Vgl. Baldauf 1997, S. 19 f. Vgl. Schulze 2001, S. 22. Schulze 2001, S. 38. Schulze 2001, S. 38. Siehe ähnlich Konersmann: „Die unendliche Verschiedenheit sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten beruht demnach auf der Stabilität einiger weniger Elementarfiguren (universale fantastici), während umgekehrt dieses Reservoir ein Potential vorhält, dessen Dynamik die ganze Geschichte der menschlichen Sprachentwicklung übergreift“ (Konersmann 2011, S. 8). Konersmann 2006, S. 360. Vgl. Konersmann 2011, S. 16.
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2 Methodische Vorüberlegungen
und unhintergehbar als „Koordinatenzentrum in der Welt“,²⁸⁵ als „sensorische[ ] Unterlage“²⁸⁶ darstellt. Von ihm aus werden alle Übertragungsprozeduren gestartet. Die grundsätzlichsten und somit selbstverständlichsten Konzepte für Wahrheits- und Wirklichkeitskonstruktionen sind in diesem Sinne stets körperhaft, Verkörperungen, embodiments. Und wiederum gilt, unser Denken über Welt und Realität wird nicht nur mithilfe unseres Körpers (und dessen sensorischen wie habituellen Funktionen) gebildet, sondern erscheint sinnvoll letztendlich nur in Körperkonzepten: Thought is embodied, that is, the structures used to put together our conceptual systems grow out of bodily experience and make sense in terms of it; moreover the core of our conceptual systems is directly grounded in perception, body movement, and experience of a physical and social character.²⁸⁷
Dermaßen gegründet in einen zunächst gesamtmenschlichen Erfahrungsbereich ist der Bildgehalt von Metaphernkonzepten auf jener ganz basalen, konkreten, körperhaften Ebene nicht beliebig, sondern grundsätzlich auch überkulturell erwartbar und vorhersagbar.²⁸⁸ Schon die Pioniere der kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik, der so genannten Wörter-und-Sachen-Bewegung zu Beginn des letzten Jahrhunderts,²⁸⁹ argumentieren kaum anders, in nämlicher Manier sieht etwa auch Rudolf Meringer als früheste Benennungsgrundlage und Referenz der Wortwurzeln „Namen der einfachsten sinnlichen Dinge und der Bezeichnung von Tätigkeiten, die sich auf die Erhaltung des Lebens, Herstellung von Nahrung, Wohnung, Kleidung beziehen […].“²⁹⁰ Die Wurzeln unserer Wörter bedeuteten „zum überwiegendsten Teil etwas Sinnliches [kursiv d. Verf.].“²⁹¹ Und so zeigt der empirische Befund des Metaphorologen Zoltán Kövecses: Als häufigste Quelle für metaphorische Übertragungen erscheint „the human body“, erweitert bzw. kombiniert mit Konzepten von dessen Funktionstüchtigkeit oder Defizienz, etwa „health and illness“. Darauf folgen Übertragungsmodelle aus der unmittelbaren, natürlichen Umwelt, etwa „animals“, „plants“, „buildings and construction“, „machines and tools“.²⁹²
Macho 1987, S. 161: „Unser Körper ist keine Erfahrung in der Welt, sondern eine Bedingung aller Erfahrung.“ Wiseman 2008, S. 358. Lakoff 2008, S. XIV. Vgl. Baldauf 1997, S. 87 f. Siehe Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 245: „[T]he system of conceptual metaphors is not arbitrary or just historically contingent; rather, it is shaped to a significant extent by the common nature of our bodies and the shared ways that we all function in the everyday world.“ Vgl. dazu Schmidt-Wiegand 1999. Meringer 1904, S. 101. Meringer 1904, S. 101. Kövecses 2002, S. 16 – 18.
2.7 Körperkonzepte als transkulturelle Grundlage kognitiver Prozesse
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Auch die strukturale Anthropologie eines Claude Lévi-Strauss geht grundsätzlich von der nämlichen Voraussetzung aus, „daß die Strukturen primitiven Denkens in unserem heutigen Denken ebenso gegenwärtig seien wie im Denken derer, die zu Gesellschaften ,ohne Geschichte‘ gehören […].“²⁹³ Dennoch wollte offenbar gerade Lévi-Strauss selbst, so zumindest der Befund des Anthropologen Edmund Leach, „einen scharfen (wenn auch willkürlichen) Trennungsstrich“²⁹⁴ zwischen den so genannten „primitiven Gesellschaften“ und den modernen „fortgeschrittenen Gesellschaften“ ziehen. Er sei jedenfalls, so Leach weiter, bei der Herausarbeitung dieser vorgeblichen Übereinstimmungen sehr zurückhaltend geblieben.²⁹⁵ Eine Zurückhaltung, die, wie wir jetzt vermuten dürfen, wohl unnötig war. Hier wie da stoßen wir auf eine primordiale, ,mythische‘ Untrennbarkeit und Bedingtheit von Wort und Sache, Verstand und Welt, Körper und Denken. Hier wie da entwirft der Mensch Regelwerke, Raumkonzepte, um sich Berechenbarkeit und Stabilität in seiner Umwelt zu verschaffen, und hier wie da versucht er, seine selbst gezogenen Grenzen zu erschüttern oder zu überschreiten. Und gerade der häufige Vorwurf, der Strukturalismus „[übergehe] die vielgestaltige Komplexität des Lebens“ und „vergeistige die Realität zu reinen intellektuellen Strukturen“,²⁹⁶ kann damit ins Gegenteil gewendet werden. Er trifft die Eigenheit jener mentalen Übertragungsprozesse erstaunlich gut: Die strukturale Anthropologie wird durch eine Theorie der teilweisen Überlappung des SinnlichImaginativen und des Abstrakt-Begrifflichen untermauert. Was Lévi-Strauss die „konkrete Logik“ oder die „Logik der sinnlichen Qualitäten“ nennt – die Hauptquelle so genannter „wilder“ Denkungsarten – ist im Wesentlichen eine Theorie darüber, wie menschliche Wesen, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten leben, in ihrer unmittelbaren Umgebung die begrifflichen Werkzeuge entdeckt haben, mit denen sich die diversen Probleme lösen lassen, denen sie sich tagtäglich gegenübersehen; Probleme, die sozial, ökonomisch, religiös, praktisch usw. sind. […]. Die Umwelt ist daher nicht einfach eine Kulisse für das Denken. Die strukturale Anthropologie verweist auf eine Theorie kultureller Erzeugung, die sich auf das dynamische Zusammenspiel von Verstand und Welt konzentriert.²⁹⁷
Lévi-Strauss’ Ergebnisse sind oft als zu kompliziert, als schwer nachprüfbar beurteilt worden, „intellektuelle[ ] Verrenkungen“, bei denen die meisten die Geduld verlören,²⁹⁸ als bestenfalls „sehr gescheite Spekulationen“.²⁹⁹ Das mag in vielen Einzel Leach 1991, S. 18. Leach 1991, S. 19. Vgl. Leach 1991, S. 18. Wiseman 2008, S. 348. Wiseman 2008, S. 348 f. Vgl. Leach 1991, S. 23. Leach 1991, S. 65. Es ist hier nicht der Ort, die vielfältigen Kritikpunkte, die man Lévi-Strauss (und damit dem Strukturalismus) anlastet, im Einzelnen zu erörtern. Dazu gehört nicht nur dessen ‚Intellektualismusʻ, sondern insbesondere der Vorwurf, seine Datenerhebung habe sich nie auf intensive Feldforschung mit direktem, unter Umständen jahrelangem (muttersprachlichem) Kontakt zu den Einheimischen gestützt. In der Tat ist die Validität von Daten aus jenen berüchtigten ‚Lehnstuhlmodellen‘
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2 Methodische Vorüberlegungen
fällen stimmen, aber der Grundgedanke, „die systematische Zurückverfolgung von Glaubenssystemen – kurz, Ideologien – auf ihre vielfältigen sensorischen Grundlagen“,³⁰⁰ ist der nämliche Gedanke, den auch vorliegende Untersuchung verfolgen will. Und gerade die Annahme, „daß man von der Beobachtung der Eigenarten unserer Naturwahrnehmung, unserer Klassifizierungsmethoden und unserer Behandlung der resultierenden Kategorien wichtige Schlüsse auf den Mechanismus des Denkens selbst ziehen könne“,³⁰¹ gewinnt durch die laufenden Ergebnisse aus der kognitionsbasierten Metaphorologie neue Evidenz. Aber auch der Strukturalist Lévi-Strauss erkennt, dass jene „Grammatik des Denkens“,³⁰² jene ‚subkutane‘ Struktur, auf die die einzelnen Wissenselemente hin geordnet und regelhaft verknüpft sind, ihre Funktionstüchtigkeit verlieren können. Fehlen etwa wichtige Klassifikationsmerkmale (aus was für Gründen auch immer), kann der authentische Denkraum nicht mehr rekonstruiert werden. Wie sehr wir uns auch bemühen, uns fehlen die wichtigsten Informationen über die Gegenstände selbst: Es genügt nicht, jedes Tier, jede Pflanze, jeden Stein, jeden Himmelskörper oder jede Naturerscheinung, die in den Mythen und im Ritual erwähnt werden, genau zu identifizieren – vielfältige Aufgaben, auf die der Ethnograph selten vorbereitet ist –, man muß auch wissen, welche Rolle jede Kultur ihnen innerhalb eines Bedeutungssystems zuschreibt.³⁰³
Lévi-Strauss ist sich also dieses Dilemmas durchaus bewusst, so lasse sich das Prinzip einer Klassifizierung niemals im Voraus postulieren, es könne bestenfalls a posteriori aufgedeckt werden³⁰⁴: Zunächst wissen wir meistens nicht, von welchen Pflanzen oder welchen Tieren genau die Rede ist; wir haben gesehen, daß eine vage Identifizierung nicht genügt, denn die Beobachtungen der Eingeborenen sind so präzis und nuanciert, daß der Platz, der jedem Begriff in dem System zugewiesen wird, oft von einem morphologischen Detail oder von einem Verhalten abhängt, das nur im Bereich der Abart oder Unterabart zu bestimmen ist. […]. Zweitens ist jede Art, Abart oder Unterabart, geeignet, eine beträchtliche Anzahl verschiedener Funktionen im symbolischen System zu erfüllen, in denen ihnen nur einige Funktionen tatsächlich zugewiesen sind. Die Skala dieser Möglichkeiten ist uns nicht bekannt, und um die Auswahl zu bestimmen, muß man sich nicht nur auf die Gesamtheit der ethnographischen Gegebenheiten beziehen, sondern auch auf Informationen aus anderen Quellen, zoologischen, botanischen, geographischen usw.Wenn die Informationen ausreichen – was selten der Fall ist –,
manches Mal gering, zumal sie sich, wenn überhaupt, nur auf so genannte Ersteindrücke oder Erstmodelle berufen können (vgl. Leach 1991, S. 21 f.). Andererseits hat auch die Standardmethode der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ eine durchaus kritische Beurteilung erfahren (siehe etwa Clifford Geertz: „Aus der Perspektive des Eingeborenen“: Zum Problem des ethnologischen Verstehens [Geertz 1987a]). Wiseman 2008, S. 356. Leach 1991, S. 30 f. Wiseman 2008, S. 349. Lévi-Strauss 1973, S. 69. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 74.
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stellt man fest, daß selbst benachbarte Kulturen mit Elementen, die oberflächlich gesehen identisch oder sehr ähnlich zu sein scheinen, völlig verschiedene Systeme errichten. Wenn die Stämme Nordamerikas schon die Sonne je nachdem als „Vater“ und Wohltäter oder als ein nach Menschenfleisch und Menschenblut gierendes, kannibalisches Ungeheuer ansehen, auf welch unterschiedliche Interpretationen muss man dann gefaßt sein, wenn es sich um etwas so Spezielles wie die Unterabart einer Pflanze oder eines Vogels handelt?³⁰⁵
Entsprechend verweist Lévi-Strauss auf Schwierigkeiten zweierlei Art: „äußere und innere“. Die äußeren ergäben sich „aus unserer Unwissenheit hinsichtlich der – wirklichen oder eingebildeten – Beobachtungen, der Tatsachen oder Prinzipien, die den Klassifizierungen zugrunde liegen.“³⁰⁶ Die „inneren Schwierigkeiten“³⁰⁷ seien wiederum bedingt durch die Eigenart des mythischen Denkens selbst. Lévi-Strauss nennt es die „die polyvalente[ ] Natur der logischen Systeme“³⁰⁸ und meint damit wohl die spezifisch mythische, magische Art der Gleichschaltung, die assoziative ,GleichGültigkeit‘ des magischen Denkens. Beziehungen, die zwischen den Begriffen, Phänomenen hergestellt werden und entsprechend der Kategorienbildung dienen, stützen sich auf das Prinzip der Kontiguität, ³⁰⁹ also eine metonymische Konzeptualisierung, eine tatsächliche oder vermutete Zugehörigkeit zum gleichen frame, zum gleichen Ganzen (vgl. „frame-based categorization“³¹⁰). Ebenso können Kategorienbildungen aber auch auf dem Prinzip der Ähnlichkeit beruhen und das betrifft zunächst immer so genannte äußerliche, formale Ähnlichkeiten, also eine „similaritybased categorization“.³¹¹ Diese Prinzipien können genauso auch in modernen Taxonomien zum Einsatz kommen,³¹² aber mythische Systeme halten diese Ordnungssysteme nicht getrennt, es existieren keine differenzierten Abstraktionsgrade. Mit einer gewissen Notwendigkeit muss sich daraus eine „natürliche[ ] Kompliziertheit der logischen Systeme des Konkreten“, der mythischen Denkformen ergeben, „für die das Vorhandensein einer Verbindung wesentlicher ist als die Beschaffenheit der Verbindung; in formaler Hinsicht ist ihnen, wenn man so sagen darf, jedes Mittel recht [kursiv d. Verf.].“³¹³ Die unterschiedlichsten Bereiche der Erfahrung werden also verbunden, ,koste es, was es wolle‘,³¹⁴ denn Kohärenz wird nur im Sinne einer Quantität angestrebt, weniger im Sinne einer Qualität, Lévi-Strauss weist ausdrücklich darauf hin: Die auf diese Weise entstehenden hochkomplizierten Konzepte zielen (zunächst) nicht einmal auf
Lévi-Strauss 1973, S. 80 f. Lévi-Strauss 1973, S. 76. Lévi-Strauss 1973, S. 78. Lévi-Strauss 1973, S. 78. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 79. Kövecses 2009, S. 9. Kövecses 2009, S. 9. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 79. Lévi-Strauss 1973, S. 82. Vgl. dazu Kauppert 2008, S. 426; Kövecses 2005, S. 51 f.
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2 Methodische Vorüberlegungen
besondere Wirksamkeit im Praktischen hin, sondern müssen lediglich „intellektuellen Ansprüchen“³¹⁵ genügen: In Wahrheit handelt es sich nicht darum, zu wissen, ob durch Berührung mit einem Spechtschnabel Zahnschmerzen geheilt werden, sondern vielmehr darum, ob es möglich ist, in irgendeiner Hinsicht Spechtschnabel und Menschenzahn „zusammenzubringen“ (die therapeutische Regel, die auf dieser Übereinstimmung beruht, ist nur eine der Anwendungsmöglichkeiten) und durch solche Gruppenbildungen von Dingen und Lebewesen den Anfang einer Ordnung im Universum zu etablieren. Wie immer eine Klassifizierung aussehen mag, sie ist besser als keine Klassifizierung.³¹⁶
Dass wir vor jenen Lévi-Strauss’schen ,äußeren‘ Schwierigkeiten im Einzelfall kapitulieren müssen, ist wohl durchaus möglich, denn wenn unser Wissen über eine historische wie rezente (Stammes)-gesellschaft nicht genügt, d. h., die Bedingungen zur Möglichkeit der Aktivierung der jeweiligen Wissensvorräte, des verstehensrelevanten Wissens nicht ausreichen, dann sind Symbole, Wörter, Sätze, Rituale, Alltagshandlungen, Gerätschaften nicht verständlich. Die Forderung nach „Berücksichtigung des verstehensrelevanten (semantisch relevanten) Wissens in seiner ganzen verstehensermöglichenden Breite und Tiefe“³¹⁷ ist in jeder Hinsicht gerechtfertigt, aber wohl kaum durchzuhalten, sei es aus Mangel oder schierer Überfülle an Quellen, dessen ist sich die moderne Diskurstheorie wie Ethnologie oder Geschichtswissenschaft bewusst. Das Konzept des Wissensrahmens kann aber trotz allem eine Art „Suchstrategie“³¹⁸ vorgeben, einen Prädikationsrahmen, in dem wir mit gewissen festen wie potentiellen, flexiblen Wissenselementen rechnen können. Prälogik bedeutet ja gerade nicht Beliebigkeit oder Regellosigkeit oder kuriose Exotik,³¹⁹ Symbole tragen Gebrauchsregeln, Verkettungsregeln, erst dadurch werden sie zu „kommunikativ nutzbaren Zeichen“.³²⁰ Und diese Verkettungsregeln, diese Grundlagen der Begriffsbildung sind unhintergehbar körperhaft.
Lévi-Strauss 1973, S. 20. Lévi-Strauss 1973, S. 20 f. Busse 2008a, S. 72. Busse 2008a, S. 81. Vgl. Schulz 2000, S. 260. Auch Monika Schulz verweist in ihrer grundlegenden Untersuchung zu magischen Beschwörungsformeln auf die „Eigengesetzlichkeit einer archaisch-magischen Denkweise“, der eine „kausale und kohärente Sinnstruktur“ unterliege. Diese zeige sich aber nicht auf den ersten Blick, man müsse sie ,enthüllen‘, indem man versuche, „akribisch ihrer Spur zu folgen und es nicht bei der Feststellung lediglich kurioser Ingredienzien belässt.“ Busse 2006/2007, S. 271.
2.8 Der Körper als Container – Der bewegte Körper im Raum
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2.8 Der Körper als Container – Der bewegte Körper im Raum Zur grundlegendsten Art von Körpersensation gehört, den Körper selbst als physisches Objekt zu sehen, substantiell, abgegrenzt als Entität vom Rest der Welt, mit einem Innen und einem Außen. Der Substanzcharakter von Entitäten bedingt unweigerlich auch Beanspruchung von Raum und in einem weiteren Sinne, wie diese in einer physischen Umgebung funktionieren. Aber schon bei dieser scheinbar so konkreten Grunderfahrung „greifbarer Objekte und Substanzen im Umfeld des Menschen“³²¹ zeigt sich, dass die Zuschreibung von Objekt- und Substanzcharakter schon sehr früh metaphorischen Charakter annimmt, denn zahlreiche auch rein physische Phänomene unserer Umwelt besitzen genau betrachtet, trotz ihrer unbestrittenen Materialität, keine klar umrissenen Grenzen. Und doch werden sie – offenbar problemlos – eben auf diese Weise konzeptualisiert: When things are not clearly discrete or bounded, we still categorize them as such, e. g., mountains, street corners, hedges, etc. Such ways of viewing physical phenomena are needed to satisfy certain purposes that we have: locating mountains, meeting at street corners, trimming hedges. Human purposes typically require us to impose artificial boundaries that make physical phenomena discrete just as we are: bounded by a surface.³²²
Jene körperlichen Erfahrungen, die unsere räumliche Orientierung bewirken („updown, in-out, front-back, on-off, deep-shallow, central-peripheral“³²³ usw.) resultieren bekanntlich aus einer konstanten Interaktion mit unserer physikalischen Umwelt, aus unserer sensorisch-motorischen Erfahrung der aufrechten Position im Bezug zur Erdanziehungskraft.³²⁴ Diese Übertragungsprozeduren sind indes so hochkonventionalisiert, dass sie kaum einmal bewusst realisiert werden, Lakoff und Johnson nennen sie dementsprechend ontologische Metaphern („ontological metaphors“³²⁵), sie ermöglichen es uns, eine erste grobe Kategorisierung von Umwelt vorzunehmen. Und in der Tat vermögen sie im Weiteren auch gänzlich körperlosen Phänomenen Körper zu verschaffen, die wir dann auf eben dieselbe Weise behandeln können: Emotionen, Gedanken, Kommunikation, Ereignisse werden zu klar umgrenzten Objekten, zu Substanzen gemacht, auf die man sich jedenfalls auf irgendeine Weise beziehen kann: Understanding our experiences in terms of objects and substances allows us to pick out parts of our experience and treat them as discrete entities or substances of a uniform kind. Once we can identify our experiences as entities or substances, we can refer to them, categorize them, group them, and quantify them – and, by this means, reason about them.³²⁶
Baldauf 1997, S. 20. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 25. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 14. Vgl. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 14. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 25. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 25.
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2 Methodische Vorüberlegungen
So werden etwa üblicherweise Aussagen wie: ‚Mir kommt eine Idee in den Sinnʻ oder die noch gewöhnlichere Konstruktion: ‚Ich habe eine Ideeʻ adäquate, keineswegs bemüht ästhetisierende oder merkwürdige Repräsentationen von Wirklichkeit für uns darstellen – und doch haben sie bereits diffizile, routinierte ontologische Metaphernkonzepte zur Grundlage. Sie gehen von einer substanzartigen Zusammensetzung neuronaler Prozesse (‚Ideen‘) aus, zu denen man in ein besitzartiges Verhältnis treten kann. Unser Denken, unser Verstand erscheint in gleicher Weise als Objekt, genauer als ‚Behälter‘. Die so genannte CONTAINER-Metapher³²⁷ gehört zu den wichtigsten bildgebenden Basismetaphern. Es gibt entsprechend einen ‚Behälterinhalt‘, also ein abgegrenztes Innen von einem Außen. Darüber hinaus sind Ideen nun nicht mehr nur Objekte, sie sind beweglich und können offenbar irgendwo hineingeraten, möglicherweise sogar wollen. Kurz, sie werden offenbar zu bewegten Körpern im Raum. Eine nicht minder abstrakte Wirklichkeitserfahrung, ‚Zeit‘, wird, ganz ähnlich unseren ‚Ideen‘, nicht nur ausnahmslos substanzhaft konzipiert (in der Tat kann man Zeit ‚haben‘ und sie auch wieder ‚verlieren‘), offenbar erscheint dieser ‚Zeitkörper‘ in seiner strukturellen Erweiterung ebenfalls in Bewegung. Nach dem Prinzip ‚die Zeit wird kommen‘, ‚die Zeit vergeht‘, kombinieren wir ontologische Metaphern mit elementaren Metaphern der räumlichen Orientierung (die Lakoff’schen „orientational metaphors“³²⁸). So kann Zeit als bewegliche Entität in einem imaginären Raum verstanden werden, aber ebenso können wir uns selbst, gewissermaßen als deiktisches Zentrum, durch eine Art stationäre Zeit bewegen, sei es auf einer linearen Zeitachse (ZEIT IST WEG) oder aber als Vorstellung einer spatialen bzw. dreidimensionalen Ausdehnung der Zeit (ZEIT IST EIN CONTAINER), in dem sich dementsprechend ‚Ereignisse‘ und in diesen wir uns selbst als Inhalt befinden.³²⁹ Gilles Fauconnier hat zusammen mit Mark Turner die Funktionsweisen von dermaßen verschränkten Metaphernkonzepten noch genauer untersucht, denn der relativ einfachste Fall einer Übertragungsprozedur, ein Zielbereich wird nach einem einzigen Herkunftsbereich strukturiert, ist ohnehin selten. Die Autoren gehen in den weitaus häufigeren Fällen von einer Art Netzwerk aus, von unter Umständen mehreren miteinander gekoppelten domains, die jeweils Strukturelemente untereinander austauschen und in einen eigens für diesen Zweck neu geschaffenen mentalen Bereich (mental space) projizieren. Dort werden sie verdichtet, und dieser Projektions- und Kompressionsvorgang (der so genannte blend) ist die eigentliche poiesis, die eigentliche Erfindung der konzeptuellen Metapher. Mit irgendeiner realen Erfahrung von uns muss diese nicht mehr korrespondieren:
Die Großschreibung entspricht den von Lakoff und Johnson eingeführten Schreibkonventionen für Metaphernkonzepte. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 14. Vgl. Kövecses 2002, S. 33 f.
2.9 Metonymie/Prototypen
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Yet the fantastic aspects of the blend do not seem to stop anyone from using it for everyday reasoning. It does not matter that this blend is remote from any possible scenario. Its very impossibility, in fact, seems to make the reasoning more vivid and compelling. We will see that blends may or may not have features of impossibility or fantasy. Many blends are not possible but also so compelling that they come to represent, mentally, a new reality, in culture, action, and science.³³⁰
Das heißt, durch Neukombination solchermaßen genutzter Strukturelemente von Bereichen, die anfangs möglicherweise durchaus aufgrund gewisser Analogie oder Ähnlichkeit zusammengerückt wurden, entsteht ein Mehr an Bedeutung, eine Art fiktive, fantastische Erweiterung, wie wir sie auf diese Weise zunächst ausschließlich in religiösen bzw. mythischen Denkmodellen vermutet hätten.
2.9 Metonymie/Prototypen Ein Spezialfall kognitiver Übertragungen, der gerade in der mythischen Funktion bzw. Funktionalisierung von Körperkonzepten besondere Aufmerksamkeit verlangt, ist die Metonymie. Auch hier steht ,etwas‘ für ,etwas‘, auch hier soll das offenbar besser Verständliche, das Simplere, das der Erfahrung leichter Zugängliche das Schwierigere, Komplexere erklärlich machen. Anders als bei der Metapher wird aber in der Metonymie der Herkunftsbereich des Konzepts, die domain, selbst nicht verlassen, d. h., es ist ein spezieller Aspekt, ein Teil des nämlichen Bereiches, der als besonders aussagekräftig und informativ, ja im Grunde aussagekräftiger und informativer als das Ganze, das Konzept selbst, angesehen wird. Prototypische Effekte beruhen in hohem Maße auf diesem Metonymieprinzip. Sie werden auf diese Weise zu Kategoriengeneratoren par excellence.
Fauconnier und Turner 2003, S. 21. Als Beispiel für solche ‚unmöglichen‘ Metaphernkonzepte, die dennoch ganz selbstverständlich in Alltagskommunikationen auftauchen, nennt Kövecses eine fantastische Erweiterung der bekannten Lakoff’schen ANGER IS A HOT FLUID IN A CONTAINER-Metapher. Üblicherweise wird in unserem kulturellen Umfeld (und auch in vielen weiteren) die Emotion Ärger durch das Konzept ‚heiße Flüssigkeit in einem Behälter‘ strukturiert, etwa nach dem Prinzip: „She was boiling with rage“. Die hohe emotionale Erregtheit eines Menschen wird gleichgeschaltet mit der hohen Temperatur einer Flüssigkeit in einen Topf. Wie aber ist der Satz „Steam was coming out of his ears“ aufzufassen? Während der Autor den ersteren Ausdruck als simple metaphorische Übertragung sehen möchte, sieht er im letzteren einen fiktiven blend ohne jegliche Wirklichkeitsreferenz, weder gibt es Dampf im Zielbereich menschlicher Körperteile, noch gibt es Kopf und Ohren im Herkunftsbereich, der neu geschaffene blend hingegen kombiniert alle Elemente problemlos zu einer funktionstüchtigen Metapher. Auch Konditionalkonstruktionen nach dem Typ „If I were you, I would…“ funktionierten oftmals als fantastische blends, etwa wenn ein Mann auf die von einer Frau gestellten Frage: ‚Soll ich schwanger werden?ʻ mit eben jener Klausel (‚wenn ich du wäre, würde ich…ʻ) antwortet. Das Ergebnis ist der skurrile, aber offensichtlich immer noch alltagstaugliche blend eines schwangeren Mannes (vgl. Kövecses 2002, S. 228).
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2 Methodische Vorüberlegungen
Die traditionelle, seit der Antike bestehende Auffassung von Kategorie, die auf ,objektive‘, inhärente, klar abgegrenzte, gleichermaßen von allen Mitgliedern geteilte Eigenschaften gründet, ist diesem neuen Verständnis von Kategorienbildung gewichen. Pionierarbeit hat hier bekanntlich Eleanor Rosch³³¹ geleistet, indem sie typische Prämissen jener klassischen Theorie auf den Prüfstand stellte: Wenn etwa alle Mitglieder einer Kategorie durch die Gleichheit ihrer Eigenschaften definiert sind, so dürfte es nach dieser Voraussetzung keine Asymmetrien, keine besseren oder schlechteren Beispiele für diese Kategorie geben.³³² Die Ergebnisse in der Praxis, die auf einer umfangreichen Reihe von experimentellen Untersuchungen beruhten, zeigten indes das Gegenteil: Sie folgerte daraus, dass es so etwas wie „cognitive reference points“³³³ geben müsse, die zur Ausbildung von Prototypen führen, also zu bestimmten Kategorienmitgliedern, die einen speziellen kognitiven Status besitzen.³³⁴ Es macht etwa den viel zitierten ,Spatz‘ zum besseren Beispiel, zur besseren mentalen Repräsentation für die Kategorie ‚Vogel‘ als den ,Pinguin‘. Diese Kategorienmitglieder werden zu besseren, erfolgreicheren Beispielen und eben nicht unbedingt nur ,im Kopf‘, sehr schnell entwickeln gerade Prototypenkonzepte soziale, politische und nicht zuletzt religiöse Relevanz, sie werden zum Zentrum, zum Ort von Deutungshoheit, sie werden zu „Normalitätsindikatoren vom Typus ,wahrhaft‘, ,einzig richtig‘, ,echtes x‘“.³³⁵ Welcher Teil des Ganzen indes als am repräsentativsten empfunden wird, ja welche Teile überhaupt als konstitutiv für das Ganze gesehen werden, ist eine Frage von kultureller Übereinkunft, individueller Kontextualisierung und Interessenlage. So ist etwa das Lakoff’sche Beispiel „The ham sandwich is waiting for his check“³³⁶ so konstruiert, dass es nur vor dem eng begrenzten kontextuellen Hintergrund eines Restaurantszenariums als Metonymie verstehbar und sinnvoll ist: Der Gast gleicht nicht etwa äußerlich einem Schinkensandwich (was in einem anderen Kontext zumindest denkbar wäre), vielmehr produziert der Kontakt (in diesem Fall sogar die buchstäbliche Einverleibung) einen pars-pro-toto-Effekt.³³⁷ Aber nicht nur Substanzen, Objekte, physische Körper und ihre Teile können metonymische Verhältnismäßigkeit ausdrücken, jenes contagion erfasst in einem weiteren, ,übertragenen‘, metaphorischen Sinn Örtlichkeiten, Zeiten, Tätigkeiten und Produkte und nicht zuletzt Ergebnisse und Auswirkungen, die mit jenen Phänomenen, Entitäten in ,Berührung‘ stehen oder gekommen sind. Eine wichtige Konsequenz, die sich daraus ergibt: Diese Elemente können austauschbar verwendet werden, ein Element kann für ein anderes stehen, das Ganze für ein individuelles, und jedes Element kann seinerseits den Platz
Siehe z. B. Rosch 1973; Rosch 1975. Vgl. Lakoff 2008, S. 7. Siehe den gleichnamigen Aufsatz Rosch 1975. Vgl. Lakoff 2008, S. 41. Fleischer 1996, S. 41. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 35. Vgl. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 35.
2.10 Die CAUSATION-Kategorie
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der aussagefähigsten, repräsentativsten Instanz der ganzen Kategorie zugeschrieben bekommen. Kövecses listet eine Reihe von kognitiven metonymischen Modellen auf, allesamt gründen sie letztendlich auf jenem ontologischen bildgebenden Schema „The thing and its parts“.³³⁸ Auch komplexe Ereignisse, Aktionen einschließlich ihrer Veränderungszustände können damit gefasst werden: So können repräsentative Einzelsequenzen, etwa „They stood at the altar“ für die gesamte Hochzeitszeremonie stehen, ebenso kann der Fokus auf dem Anfang oder dem Ende eines Prozesses, also dessen Auslöser oder Ergebnisse, Effekte,Wirkungen liegen. Dies gilt ausnahmslos für alle dermaßen konstruierten kognitiven Modelle, dabei gelten selbst zeitlich festgelegte, lineare Ereignisfolgen als ,Teilmengen‘ bzw. ,teilbare‘ Mengen, die grundsätzlich austauschbar sind. Die bekannte PRODUCER-FOR-PRODUCT-Metonymie nach dem Prinzip: „We are reading Shakespeare“ ersetzt das Ergebnis, das Produkt, ,das Buch‘ durch den Hersteller, die Ursache: Shakespeare. Ein anderes Beispiel, „sad book“, rückt Ursache und Wirkung (das Buch produziert Traurigkeit) auch syntaktisch gut erkennbar zueinander. Das Ergebnis wird buchstäblich zum Attribut des Verursachers, kaum noch wird hier der gewissermaßen umgekehrte Fall zu unserem ersten Beispiel (PRODUCER-FOR-PRODUCT), die EFFECT-FOR-CAUSE-Metonymie bewusst registriert, alles sind nun gleichgeschaltete Eigenschaftsteilmengen. So wird auch der ,warme‘ Mantel kaum noch als eigentlicher Produzent von Wärme betrachtet, vielmehr ist er einfach ein Kleidungsstück mit eben dieser Eigenschaft. Kein einziges dieser Beispiele erscheint als irgendwie sonderbare Auffassung von Wirklichkeit, nicht einmal jene ganz spezielle Erweiterung davon, die Sonderklasse STATE/EVENT FOR THE THING/PERSON/STATE THAT CAUSED IT³³⁹: Aussagen wie „She is my ruin“ oder „He was a failure“ drücken in diesem Sinne auch nichts anderes aus als ein Teil-Ganzes-Verhältnis: Personen bzw. personifizierte Entitäten, die ,ruinöse‘, ,fehlerhafte‘ Zustände produzieren können und diese letztendlich sind. Aber mit dermaßen Wirklichkeitsentwürfen sind wir mitten in einer mythischen Wirklichkeit! Formal wie inhaltlich sind sie identisch mit denen magisch religiöser Denkformen. Im Mythos freilich bekommen wir noch die entsprechenden Geschichten dazu erzählt, von unseren Alltagsmetaphern kennen wir sie längst.
2.10 Die CAUSATION-Kategorie Der Kognitionswissenschaftler und Religionsforscher Pascal Boyer leitet seine bekannte These der „naturalness of religious ideas“³⁴⁰ aus diesen kognitiven Grundeinstellungen des Menschen ab. Obwohl dem menschlichen Geist letztendlich keine Grenzen gesetzt seien in seinen Vorstellungen über religiöse, übernatürliche Phäno-
Vgl. Kövecses 2002, S. 151– 156, mit den hier aufgeführten Beispielen. Kövecses 2002, S. 154. Siehe den gleichnamigen Titel: Boyer 1994.
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mene, könne man doch beobachten, dass sich Ideen darüber in einem relativ schmalen Rahmen bewegten. Der Mensch nutze dabei zunächst ein „set of expectations about the kinds of things to be found in the world“,³⁴¹ eine Art intuitive Ontologie, die lediglich aus fünf Kategorien besteht: PERSON, ANIMAL, PLANT, ARTEFACT, NATURAL OBJECT.³⁴² Die Auflistung ist nahezu identisch mit der der am häufigsten verwendeten source domains, die Kövecses in unserer Alltagsmetaphorik ausfindig gemacht hat. Über jede einzelne dieser Kategorien hat der Mensch ganz gewisse Vorstellungen und Erwartbarkeiten entwickelt, die zunächst aus seiner alltäglichen körperlichen (im Weiteren aber ebenso kulturell übermittelten) Erfahrungswelt resultieren.³⁴³ So triggern etwa idealtypische Vorstellungen der Kategorie ANIMAL biologische wie verhaltenstheoretische Erwartungen und Erwartbarkeiten selbst schon bei Kindern problemlos und automatisch, der Kognitionswissenschaftler Justin L. Barrett beschreibt den Vorgang wie folgt: For example, when encountering a completely novel animal, six-year-old children […] make a host of assumptions about unobserved characteristics. Because it is a bounded physical object, it cannot pass directly through other solid objects and cannot occupy more than one location at time. By virtue of being a living thing, it is automatically assumed to be composed of natural materials with parts having particular functions and to have nutritional needs. […] These intuitive assumptions allow for rapid categorization of novel things, as well as generation of predictions and explanations, and appear largely invariant across cultures.³⁴⁴
Das Besondere, das spezifisch Religiöse an diesen Schemata sieht Boyer nun darin, dass religiöse Vorstellungen explizit gegen diese intuitiven Grundannahmen verstießen. Sie verletzten einige, aber keineswegs alle elementaren Vorstellungen, die damit verbunden seien. Die scheinbar nahezu unüberschaubare Vielfalt von religiösen Ideen lässt sich dadurch auf eine überschaubare Anzahl von „templates“, ,Mustervorlagen‘, zurückführen: This account predicts that there are not that many different templates, simply because there are not that many ontological categories and sets of associated intuitive principles. In other words, there are not that many ways of ,tweaking‘ intuitive ontology so as to produce supernatural concepts, so that a general ,catalogue of the supernatural‘ should be rather short.³⁴⁵
Durch Brüche („by breach“)³⁴⁶ eigener oder Übertragungen („by transfer“)³⁴⁷ fremder Eigenschaften werden also intuitive Erwartbarkeiten, Wissensrahmen von Konzepten verletzt, manipuliert oder erweitert: So könnte etwa im Rahmen der ARTEFACT-Ka
Boyer 2000, S. 196. Boyer 2000, S. 198. Boyer 2000, S. 196 f. Barrett 2004, S. 403. Boyer 2000, S. 198. Boyer 2000, S. 198. Boyer 2000, S. 198.
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tegorie ein Tisch ,unsichtbar‘ werden oder ,atmen‘.³⁴⁸ Aber Boyer führt in diesem „catalogue of the supernatural“ eine Art Prämiumgruppe auf, Elemente daraus scheinen besonders häufig und leicht im kulturellen Gedächtnis repräsentiert wie übermittelt werden zu können, sie haben spezielle, soziale Implikationen, sie sind mit sozialen Interaktionen wie Kult und Ritual verbunden und erhalten dadurch zwangsläufig hohe gesellschaftliche Relevanz.³⁴⁹ Aber was prädestiniert sie dafür? Ganz offenbar handelt es sich bei dieser Gruppe um Übertragungen, Veränderungen oder Brüche im Bereich der Anthropomorphisierung: Spezifisch menschliche Gefühle, Bedürfnislagen wie kognitive Fähigkeiten, werden auf nicht menschliche Objekte übertragen (z. B. eine Statue, die weinen kann, ein Baum, der spricht). Es ist in der Tat wohl eine der erfolgreichsten und folgenreichsten Erweiterungen jener ontologischen Metaphern, die bei Lakoff als „personification“ erscheint. Letztendlich wird dabei die Bewegungs-Metapher zu einem so genannten SELF-PROPELLED-Konzept, die Entität vermag sich jetzt selbstbestimmt zu bewegen, intentional, aus eigenem Antrieb.³⁵⁰ Aus einem Bündel an Eigenschaften bzw. Subkategorien, eben ,dem Menschlichen‘, werden also zunächst nicht alle, sondern jeweils nur einige wenige, ,beste Beispiele‘ für Übertragungen ausgewählt. Und das sind vorzugsweise kognitive Eigenschaften und Fähigkeiten, die dann als Struktur in andere Konzepte implementiert werden. Im Zuge dieses Anthropomorphisierungsprozesses werden Phänomene, Entitäten mit menschlicher Denkfähigkeit versehen, damit wird die Grundlage geschaffen, sogenannte theory of mind-Konzepte als Erklärungsmuster applizierbar zu machen: Eine theory of mind zu ,haben‘, gehört zu einem Set von stereotypisierten Erwartungen an die mentalen Fähigkeiten des Menschen, es ist erwartbar, dass mein Gegenüber die Fähigkeit zum ,Sichhineinversetzen‘ in den anderen besitzt und daraus Schlüsse ziehen kann, ebenso entwickle ich selbst eine Vorstellung über dessen mentale Zustände, Absichten,Wünsche usw., eine kognitive Spezialität, die (wohl) nur der Mensch besitzt und von der er extensiv und versiert Gebrauch macht. Das Gelingen menschlichen Zusammenlebens ist in hohem Maße davon abhängig, die Zuverlässigkeit bzw. den Stand an Informationen und Kooperationsbereitschaft möglicher Kooperateure richtig einzuschätzen.³⁵¹ Boyer konstatiert beim Menschen sogar eine Art „hypertrophy of ‚social intelligenceʻ“,³⁵² das heißt:
Vgl. Boyer 2000, S. 198. Vgl. Boyer 2000, S. 201 f. Siehe Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 34: „[P]ersonification is a general category that covers a very wide range of metaphors, each picking out different aspects of a person or ways of looking at a person. What they all have in common is that they are extensions of ontological metaphors and that they allow us to make sense of phenomena in the world in human terms – terms that we can understand on the basis of our own motivations, goals, actions, and characteristics.“ Vgl. Boyer 2000, S. 196. Boyer 2003, S. 121.
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The set of intuitive principles that infer mental states – perceptions, beliefs and desires – from observed behaviour is vastly more complex than in any other species. Also, it appears very early and seems to engage dedicated brain structures. These constantly monitor what information is available to other agents and how they treat it.³⁵³
Andererseits haben wir bereits gesehen: Diese Vermenschlichung nicht menschlicher Entitäten ebenso wie der umgekehrte Vorgang, menschlich konzipierte Entitäten erhalten zusätzliche, unmenschliche Fähigkeiten, etwa zu fliegen, an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein, Gedanken lesen zu können usw., hat gar keinen Sonderstatus im Rahmen unserer sprachlichen Symbolisierungstätigkeit. Abstrakte Vorstellungen, ,Zeit‘, ,Ideen‘ werden nahezu durchgehend auf diese Weise gefasst, und jede/r von uns ist in der Lage, einen Text zu ,überfliegen‘ oder sich den Kopf mehr als einmal zu ,zerbrechen‘. Was aber unterscheidet dann religiöse Anthropomorphismen („God, gods, ancestors, witches, spirits“)³⁵⁴ von einer üblichen Allerweltsmetapher, vom Befund der Metaphernforschung oder Sprachphilosophie? Und warum erscheinen einige dieser religiösen Konzeptualisierungen erfolgreicher als Gotteskonzept, andere wiederum weniger oder gar nicht? Warum etwa, wie der Psychologe Justin L. Barrett als durchaus ernst gemeinte Frage stellt, verehren wir nicht Santa Claus, die Zahnfee oder Mickey Mouse als Gott?³⁵⁵ Der Mythos denkt nicht nur ausnahmslos, alternativlos in und mit diesen metaphorischen Verfahren, er denkt sie vor allen Dingen, wenn nicht unbedingt konsequent zu Ende, aber weiter: Der mythische Unheilsproduzent etwa wird nicht lediglich zur sprachlichen, symbolischen, sondern zur unhintergehbaren, unmittelbaren Wirklichkeit: Er wird zur buchstäblichen Verkörperung des Unheils. Die spezifischen heillosen Effekte, die er produziert, sind sichtbarer körperlicher Teil von ihm, er trägt sie expressis verbis in einem unheilvollen Namen, der wiederum im Rahmen bekannter, magisch metonymischer Konstruktionen als Teil das Ganze ist. Schließlich, wichtig genug, erscheinen seine Produkte, die Ergebnisse seines Handelns als wesenhafter, sichtbarer Teil dieser Welt. Das mythische Denken unterscheidet sich damit lediglich in der Auswahl der Problemfelder, der target domains, die behandelbar, erklärlich gemacht werden sollen, genauer, auf diese Weise für behandelbar gehalten werden: Der Mythos kann nicht anders, als alles zu ,mythologisieren‘, buchstäblich alles für behandelbar erklären zu müssen, es bleibt also nicht bei der Benennbarkeit. In der Konsequenz der Dinge muss eine Blumenberg’sche ,Ansprechbarkeit‘, ja ,Beschwörbarkeit‘³⁵⁶ folgen, die Körperlichkeit ist dafür Grundlage, die conditio sine qua non für soziale Reziprozität. Damit dermaßen konstruierte Wirklichkeitskonzepte also religiös erfolgreich sein können, genügt es nicht, lediglich „counterintuitive“ und/oder als „an intentional
Boyer 2000, S. 203. Boyer 2000, S. 201. Vgl. Barrett 2008b, S. 149. Vgl. Blumenberg 1984, S. 40.
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agent“³⁵⁷ konzipiert zu sein, das sind unsere Metaphernkonzepte auch, sie müssen als solche auch – auf beobachtbare Weise – in der menschlichen Welt agieren können. Sie könnten etwa strategische Informationen besitzen, übernatürliches Wissen, das sich im weitesten Sinn auf die Überlebenschancen der Menschen bezieht. Damit sind diese Konzepte mit den für den Menschen elementaren, überlebenswichtigen Bereichen von „Information und Kooperation“,³⁵⁸ von Sozialität verbunden. Als sozial relevante Partner („full-access strategic agents“)³⁵⁹ müssen wir uns entsprechend ihrer Verlässlichkeit und Kooperationsbereitschaft versichern. Als Charakteristikum des mythisch-magischen Denkens hat auch Cassirer eine Art „Hypertrophie des kausalen ,Instinkts‘ und des kausalen Erklärungsbedürfnisses“ beschrieben,³⁶⁰ eine „gigantische Variation über das Thema des Kausalitätsprinzips“, wie es Hubert und Mauss bezeichnen.³⁶¹ „Jede Gleichzeitigkeit, jede räumliche Begleitung und Berührung schließt hier schon an und für sich eine reale kausale ,Folge‘ in sich.“³⁶² Das Konzept eines intentionalen und beobachtbaren Eingreifens, real wahrnehmbarer Folgen und Effekte daraus, stellt einen nahezu universell applizierbaren Wissensrahmen für Plausibilisierungen in der Welt zur Verfügung, für Ursache und Wirkung, für das ,Warum‘: „Es ‚erklärt‘ das individuelle Geschehen durch die Setzung und Annahme individueller Willensakte“.³⁶³ Aber erst Lakoff schlüsselt akkurat die einzelnen Elemente des Szenarios auf: 1. There is an agent that does something. / 2. There is a patient that undergoes a change to a new state. / 3. Properties 1 and 2 constitute a single event; they overlap in time and space; the agent comes in contact with the patient. / 4. Part of what the agent does (either the motion or the exercise of will) precedes the change in the patient. / 5. The agent is the energy source; the patient is the energy goal; there is a transfer of energy from agent to patient. / 6. There is a single definite agent and a single definite patient. / 7. The agent is human. / 8. a. The agent wills his action. / b. The agent is in control of his action/ c. The agent bears primary responsibility for both his action and the change. / 9. The agent uses his hands, body, or some instrument. / 10. The agent is looking at the patient, the change in the patient is perceptible, and the agent perceives the change.³⁶⁴
Es ist jenes spezifische Cluster von Ereignisfolgen, das ein routiniertes, gut ausgearbeitetes Schema von Kausalität bereitstellt, das auf einer (wiederum schon früh in der Kindheit) erlernten Erfahrung der direkten Manipulierbarkeit von Gegenständen un-
Siehe Barrett 2008b, S. 150: „God concepts must be (1) counterintuitive, (2) an intentional agent, (3) possessing strategic information, (4) able to act in the human world in detectable ways and (5) capable of motivating behaviors that reinforce belief.“ Boyer 2000, S. 202. Boyer 2000, S. 207. Cassirer 2010, S. 59. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 22. Siehe Hubert und Mauss 1902, S. 32: „En effet, la magie a bien l’air d’être une gigantesque variation sur le thème du principe de causalité.“ Cassirer 2010, S. 56. Cassirer 2010, S. 60. Lakoff 2008, S. 54 f.
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serer nächsten Umgebung beruht. Ob nun in religiösen Wirklichkeitsentwürfen oder in unserer Alltagsmetaphorik, wir können uns Ereignisse kaum anders ,denken‘ als in Aktionen, die von einem absichtsvollen, aktiven Agenten produziert werden.³⁶⁵ Selbst abstrakte Relationen bzw. die Prozeduren, die eben jene Relationen herstellen, erscheinen als Instanzen jener besonderen Kategorie des Grundes. Wir verwenden diese CAUSATION-Kategorie auf konkrete Verursachersituationen wie etwa „Max broke the window“³⁶⁶ genauso wie auf das metaphorische Konzept „Harry raised our morale by telling jokes“,³⁶⁷ auf einen idiomatischen Ausdruck wie etwa „die Zeit heilt alle Wunden“ und in gleicher Weise auf ,die Götterʻ. Und tatsächlich gilt uns dann jene Begründung am plausibelsten, die sämtliche Einzelfeatures dieses Gestaltclusters aufweist, zumindest aber die repräsentativsten. Abweichungen davon gelten als nicht prototypische Varianten, als weniger glaubhafte Beispiele.³⁶⁸ Für diesen ganz und gar unbewussten Begründungsmechanismus muss eine lange Reihe an komplizierten Implikaturen und Denkvoraussetzungen erfüllt sein, auch und gerade um erste, ‚primitiveʻ, mythische Plausibilität zu erlangen. Die Ontologisierung, Subjektivierung, Metonymisierung, Anthropomorphisierung, Kategorisierung von Phänomenen garantiert schließlich deren Denkbarkeit. Dem mythisch religiös denkenden Menschen kann dies aber immer noch nicht genügen: Jetzt müssen diese Wahrnehmungen als Phänomene und/oder Wesenheiten im eigenen Erleben ansprechbar und damit letztendlich behandelbar, ,therapierbar‘ gemacht werden.
2.11 Decoupling systems 2.11.1 Entkoppeltes Denken: Wahrheit bis auf Weiteres Die Evolutionsbiologen Leda Cosmides und John Tooby beschreiben beim Menschen eine spezifische Art von mentalen Entkoppelungsmechanismen, „decoupling systems“,³⁶⁹ die trotz aller tierischer Vorläufer offenbar nur der Mensch zu konstruieren weiß, ja, sie lassen ihn im eigentlichen Sinne erst zum Menschen werden. Damit vermag er die „kognitive Nische“³⁷⁰ zu besetzen, die ihm nicht nur einen Platz innerhalb der Evolution sichert, sondern ihn mit viel weiter reichenden Konsequenzen letztendlich zu „dem Erfolgsmodell der Evolution“³⁷¹ gemacht hat. Die Voraussetzung dafür scheint jene artspezifische Fähigkeit des Menschen zu sein, Instinktmechanismen von einzelnen Verlaufssequenzen zu entkoppeln und neu zu kombinieren. Sie
Vgl. Kövecses 2002, S. 50. Lakoff 2008, S. 55. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 72. Vgl. Lakoff 2008, S. 55. Cosmides und Tooby 2000, S. 59. Cosmides und Tooby 2000, S. 54. Eibl 2009, S. 19.
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verlieren damit ihre zwingende Alternativlosigkeit und ermöglichen eine spektakuläre und überaus erfolgreiche Erweiterung der Sicht auf die Welt und der damit verbundenen Handlungsrahmen.³⁷² Dem Menschen gelingt dadurch eine weitaus modifiziertere und dichtere Informationsverarbeitung des Informationsflusses aus seiner Umwelt. Alle Systeme sind zunächst darauf angelegt, Informationen aus der Umwelt hinsichtlich ihrer Systemrelevanz zu filtern. Der entscheidende Unterschied jedoch etwa zum Informationsmanagement einer Zecke liegt darin, dass bei ihr entwicklungsgeschichtlich nicht angelegt ist, Informationen, die im System auftauchen, anders als ,wahr‘ im Sinne eines naiven Realismus zu betrachten. Insofern ist das „Weltbild einer Zecke“ natürlich ein sehr „festes“, freilich auf Kosten einer hohen Eingrenzung des Informationsflusses.³⁷³ Aber auch für hochkomplexe Kognitionssysteme stellt dieser naive Realismus zunächst einmal den grundsätzlichen Ausgangspunkt für weitere Operationen dar: Die Welt ist so, wie sie mental repräsentiert ist, und es gibt zunächst einmal keinen Grund, daran zu zweifeln, wohl aber – anders als im Fall der Zecke – die Möglichkeit dazu. Dieses so genannte „true-is-unmarked system“³⁷⁴ (d. h., vom System als ,wahr‘ erkannte Informationen müssen nicht mit einem spezifischen Wahrheitsmarker versehen werden) ist zunächst einmal für kognitive Prozesse am ökonomischsten und gilt also auch für den Menschen als „default mode“.³⁷⁵ Es wird aber immer riskanter, wenn sich der Informationsfluss erhöht oder erhöht werden muss. Denn nicht nur fehlerhafte oder wertlose Eingaben erweisen sich dann als möglicherweise fatal, auch alle Folgeprozeduren, die daraus resultieren, können sich als nutzlos und falsch erweisen und darüber hinaus bereits bestehende, vom System als gültig anerkannte Daten korrumpieren.³⁷⁶ Der erhöhte Datenfluss einschließlich seiner Migration innerhalb der Subkomponenten der menschlichen kognitiven Architektur muss also reguliert werden. Nach wie vor muss über die Verlässlichkeit von einkommendem Datenmaterial per se entschieden werden, aber im Grunde jetzt noch viel wichtiger, über dessen „scope of
Vgl. Eibl 2009, S. 14 f. Schon Jakob von Uexküll hat das „Weltbild einer Zecke“ (Gladigow 2005b, S. 245) ins Zentrum seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen gestellt (vgl. von Uexküll und Kriszat 1956, S. 23 – 30). Auch Karl Eibl wählt als entwicklungsgeschichtlich frühes Beispiel aus dem Tierreich die Zecke bzw. die Amöbe: „Eine Amöbe oder eine Zecke haben ein sehr ,festes‘ Weltbild. Wenn sie sich irren, können sie nicht dazulernen, sondern gehen zu Grunde. Aber solange sie leben, werden sie von keinerlei Zweifeln geplagt. Beim Menschen ist das anders“ (Eibl 2009, S. 19 f.). Cosmides und Tooby 2000, S. 61. Cosmides und Tooby 2000, S. 61. Siehe Cosmides und Tooby 2000, S. 58 f.: „This process has the potential to corrupt any downstream data set interacted with, in a spreading network of compounding error. The more the human cognitive architecture is networked together by systems of intelligent inference, and the more it is enhanced by the ability to integrate information from many sources, the greater the risk is that valid existing information sets will be transformed into unreconstructable tangles of error and confusion. In short, the heavily inference-dependent nature of human behavior regulation is gravely threatened by erroneous, unreliable, obsolete, out-of-context, deceptive, or scope-violating representations.“
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applicability“,³⁷⁷ den spezifischen Anwendungs- und Gültigkeitsbereich. Eine „scope syntax“,³⁷⁸ eine Datenarchitektur strukturiert und klassifiziert nun die Informationen mit Vorteilen, die (trotz aller Risiken) auf der Hand liegen: Über die Wahrheit und Nützlichkeit eingehender Daten, sprich ihren truth-value-Status, muss nicht ultimativ entschieden werden, was einen wertvollen Aufschub bedeutet. Sie können in besonderen Wissensstores deponiert werden, erhalten aber bestimmte scope-tags, ‚Marker‘, ‚Etiketten‘, die den Zugang zu anderen Systemrepräsentationen einschränken oder ganz unterbinden.³⁷⁹ Daten, die vom System als ,wahr‘ anerkannt worden sind, dürfen unbegrenzt, „scope-free“³⁸⁰ durchs System wandern und als wichtigste Konsequenz daraus, mit allen zur Verfügung stehenden Daten interagieren. Dennoch gehen die anderen Daten mit unter Umständen wertvollen Informationen nicht verloren, Elemente mit unsicherem truth-value-Status können unter Verschluss gehalten werden, gegebenenfalls nützliche Elemente können identifiziert und unter geschützten Umständen genutzt werden (ohne dass das System Gefahr läuft, beschädigt zu werden): Scope operators regulate the migration of information into and out of subordinated data sets, coupling (allowing data to flow) and decoupling them according to the nature of the operator and the argument it is fed. They bind propositions into internally transparent but externally regulated sets. In so doing, they provide many of the tools necessary to solve the problems posed by contingent information. By imposing bounds on where scope-limited information can travel (or what can access it), it allows information to be retained by the system, and used under well-specified conditions, without allowing it to damage other reliable data-sets through inferential interaction.³⁸¹
Eine gewaltige Erweiterung und Auswahl an potentiellen Verhaltensmustern ist die Folge, die auf dem Weg der natürlichen Selektion nur durch einen enormen Zeitaufwand zustande gekommen wäre.³⁸² So führt der Mensch täglich eine Unzahl jener so genannten act-as-if-Prozeduren durch, „the ability to act as if p, or to act on the basis of p“,³⁸³ Denkprozeduren, Handlungen, von denen von vorne herein klar ist, dass ihre Präpositionen unsicher, zweifelhaft oder gar eindeutig falsch sind. Entsprechend muss jener umfangreiche, komplexe Apparat von Geltungszuweisungen ständig überprüft, verbessert, erneuert, gewissermaßen in Stand gehalten werden, er muss geübt werden, immer wieder buchstäblich ,durchgespielt‘ werden, „without necessarily losing a continuing awareness that the information acted on is not or might not be true,“³⁸⁴ also mit einem besonderen Augenmerk auf die Grenzen ihrer Anwend
Cosmides und Tooby 2000, S. 59. Cosmides und Tooby 2000, S. 59. Vgl. Cosmides und Tooby 2000, S. 64 f. Cosmides und Tooby 2000, S. 61. Cosmides und Tooby 2000, S. 63 f. Vgl. Cosmides und Tooby 2000, S. 57. Cosmides und Tooby 2000, S. 64. Cosmides und Tooby 2000, S. 64.
2.11 Decoupling systems
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barkeit: Das sind die „Sinnbezirke“, von denen Cassirer spricht mit nämlichen Wertigkeiten und „Demarkationslinien“.³⁸⁵ Eine besonders einschlägige Denkoperation dieser Art ist nun die Scheidung zwischen ,heilig‘ und ,profan‘. Wenn Objekten, Phänomenen oder Orten nach bestimmten Auswahlkriterien ,Heiligkeit‘ zugewiesen wird, bedeutet dies eben zunächst nichts anderes, als dass sie jener üblichen, alltäglichen Bestimmung oder Gültigkeit entzogen sind oder im Weiteren werden müssen, weil sie unbekannt sind, noch nicht bekannt sind, nicht gut erkennbar, im Boyer’schen Sinne jedenfalls nicht ,alltagsverträglich‘, ,anders‘, ,kontraintuitiv‘ zu unseren üblichen Vorstellungen von Objekten bzw. Erscheinungen in der Welt. Entsprechend müssen für sie andere Bestimmungen gelten. Das bedeutet zunächst einmal in einem ganz konkreten Sinne andere Zugangsund Kontaktbestimmungen. Es verwundert kaum, dass die ersten Begriffe, die wir in diese Richtung fassen können, Begriffe des „Umhegten“, des „Geschützten“, des Abgeschnittenen bezeichnen, etwa das lateinische templum, das griechische τέμνω („schneide“) oder τέμενος „abgeteiltes Stück Land, einer Gottheit geweihtes Land“.³⁸⁶ Das mythische Denken zieht in einem wörtlichen, handlungspragmatischen Sinne Grenzlinien, trennt ab, scheidet. Es entkoppelt Räume (einschließlich der Objekte, die sich darin befinden, befinden könnten oder zumindest temporär vermutet werden) vom unmittelbaren, konkreten wie kognitiven Zugriff. Auf gleiche Weise entstehen in der kognitiven Datenarchitektur Schwellen, Ambivalenzen, die mit besonderer Scheu und Sorgfalt behandelt werden müssen. Hier wie da müssen Vorkehrungen zur ‚Passageʻ getroffen werden und, mindestens ebenso wichtig, Verhaltensregeln, Verkettungsregeln, Gültigkeitsbedingungen innerhalb dieser spezifischen Datenstruktur wie in den konkreten Örtlichkeiten beachtet werden: Hier gelten andere Maße; hier herrschen andere Möglichkeiten, andere Kräfte und Wirkungsweisen, als sie im gewöhnlichen Verlauf der Dinge sich bekunden. Aber zugleich ist dieses Reich mit ständigen Drohungen, mit unbekannten Gefahren erfüllt, die den Menschen von allen Seiten her umlauern. Man begreift von hier aus, daß der Inhalt der Mana- wie der Tabuvorstellung von seiten der rein gegenständlichen [orig. gesperrt] Betrachtung aus niemals voll zu erfassen ist. Beide dienen nicht der Bezeichnung bestimmter Klassen von Gegenständen, sondern in ihnen stellt sich gewissermaßen nur der eigentümliche Akzent [orig. gesperrt] dar, den das magischmythische Bewußtsein auf die Gegenstände legt. Durch diesen Akzent wird die Gesamtheit des Seins und Geschehens in eine mythisch bedeutsame und eine mythisch irrelevante Sphäre, in das, was das mythische Interesse erregt und fesselt und in das, was dieses Interesse relativ gleichgültig läßt, zerlegt. […]. Indem der bloße tierische Schrecken zum Staunen wird, das sich in doppelter Richtung bewegt, das aus entgegengesetzten Zügen, aus Furcht und Hoffnung, aus Scheu und Bewunderung gemischt ist, indem auf diese Weise die sinnliche Erregung zum ers-
Cassirer 2010, S. 58. Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972 „templum“: „Der vom Augur mit dem Stab am Himmel und auf der Erde abgegrenzte Beobachtungsbezirk, innerhalb dessen der Vogelflug beobachtet werden soll, oder der Aussichtsplatz für die Vogelschau.“ Vgl. dazu auch lat. contemplari „das reine theoretische Betrachten und Schauen“, das Cassirer „etymologisch und sachlich auf die Idee des ,Templum‘“ (Cassirer 2010, S. 119 f.) zurückführt.
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tenmal einen Ausweg und einen Ausdruck [orig. gesperrt] sucht, steht der Mensch damit an der Schwelle einer neuen Geistigkeit. Diese seine eigene Geistigkeit ist es, die sich ihm nun im Gedanken des „Heiligen“ gewissermaßen reflektiert darstellt.³⁸⁷
Es geht also um Modalitäten, um einen „Akzent“,³⁸⁸ um die spezifische Rahmung eines Blickwinkels, und der wird dann notwendig, wenn jene „ability to integrate information from many sources“³⁸⁹ buchstäblich an ihre üblichen kognitiven Grenzen gerät, eingehende Daten nicht mehr evaluiert werden können und entsprechend das Risiko für den Menschen immer größer wird, dass bereits bestehende gültige Datensätze korrumpiert, ,verunreinigt‘, zerstört werden. Einen Raum zu ,heiligen‘ heißt also, Zugangsbeschränkungen dafür aufzustellen, um ein wie auch immer geartetes Gefährdungspotenzial niedrig zu halten. Dazu gehört auch und gerade das Gefährdungspotenzial schwieriger Kontakt- und Austauschsituationen, Tabubeschränkungen schließen die Möglichkeit dazu weitgehend aus. Durch die Kontaktsituation wird alles, was sich innerhalb dieses Frames, dieses abgesteckten Rahmens befindet, ebenso ,geheiligt‘, ein üblicher metonymischer Übertragungsprozess, kognitionspsychologisch gesprochen werden dermaßen kontaminierte Elemente mit scope-tags markiert. Aber selbst in den frühen Tagen der Menschwerdung war nun gewiss nicht jede Grenze magisch oder religiös, in der Tat ging es ja zunächst einmal darum, gewöhnliche Alltagsprobleme zu lösen, einen ständig wachsenden Datenfluss zu regeln entsprechend spezifisch lokaler Bedingungen, um ein adäquates, systemerhaltendes Verhalten danach auszurichten.³⁹⁰ Auch Boyer verweist auf das relativ Unspektakuläre, Undramatische, eben Normale unserer mentalen Informationsverarbeitungssysteme, für die Erklärung so genannter religiöser Effekte seien sie jedenfalls primär gar nicht geschaffen worden:
Cassirer 2010, S. 92 f. Cassirer 2010, S. 92. Cosmides und Tooby 2000, S. 59. Das sind eben jene ganz gewöhnlichen, alltäglichen Daseinsinhalte, wie sie Cassirer nennt (vgl. Cassirer 2010, S. 92), einschließlich ihrer Lösungen: „Are the beetle larvae that are used to poison arrows toxic at all times of the year? Once harvested and applied, how long does the poisoned arrow tip remain poisonous? If it is poisonous to humans, gazelles, and duikers, is it also poisonous to lions, cape buffalo, and ostriches? If these relationships are true here, are they true on foraging territories on the other side of the Okavango? If the first several statements from my father in answer to these questions turned out to be true, will the remainder be true also? Information only gives an advantage when it is relied on inside the envelope of conditions within which it is applicable. Hence, when considering the evolution of adaptations to use information, the costs of overextension and misapplication have to be factored in, as well as the costs and nature of the defenses against such misapplication. Expanding the body of information used to make decisions is harmful or dangerous if the architecture does not and cannot detect and keep track of which information is applicable where, and how the boundaries of applicability shift“ (Cosmides und Tooby 2000, S. 58).
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Religious believers and sceptics generally agree that religion is a dramatic phenomenon that requires a dramatic explanation, either as a spectacular revelation of truth as fundamental error of reasoning. Cognitive science and neuroscience suggests a less dramatic but perhaps more empirically grounded picture of religion as a probable, although by no means inevitable byproduct of the normal operation of human cognition.³⁹¹
Ob die Interpretation religiösen Denkens und Handelns als letztendlich ,Nebenprodukt‘³⁹² unserer Informationsverarbeitungsmechanismen dessen tiefgreifenden evolutionsbiologischen, adaptiven Funktionen gerecht werden kann, sei dahingestellt. Auch das Bild des ,amoklaufenden Gehirns‘³⁹³ bzw. dessen ,parasitären‘ Denkstrukturen³⁹⁴ rücken diese kognitiven Prozesse – recht sorglos – (wieder) in Richtung krankhafte Fehlfunktion denn wertvoller Evolutionsvorteil. Es sind in jedem Fall Effekte einer unumgänglichen „kognitiven default-Einstellung“, mit der alle Menschen zur Welt kommen. Jeder Mensch muss entsprechend, so der Soziobiologe Eckart Voland, mit diesem „kognitiven Imperativ“ leben. Also sehe das Gehirn nicht nur Regeln, wo gar keine seien, sondern es müsse auch Geschichten erfinden, die diese Regeln mehr oder weniger plausibel erscheinen lassen.³⁹⁵ Diese Unschärfe der kognitiven Mechanismen, die notwendigerweise Hypersensibilität ihrer Feineinstellung, so argumentiert Voland weiter, sei letztendlich auch der eigentliche „Nährboden religiöser Metaphysik“,³⁹⁶ frei nach einer Art „Rauchmelderprinzip“,³⁹⁷ wo eben gelegentlicher Fehlalarm folgenloser sei als das nur einmalige Übersehen einer tödlichen Gefahr.³⁹⁸
2.11.2 Entkoppeltes Handeln: „This is play“ Gültigkeiten unter Vorbehalt, unmögliche, unsichere, schwankende, nicht ausreichend evaluierte oder evaluierbare Konstruktionen müssen abgetrennt, abgesichert, markiert werden. Erst danach können weitere, umfangreiche kognitive Prozeduren und Instru-
Boyer 2003, S. 123. Siehe ähnlich das Schlagwort spandrel. Als ursprünglich baustatisch überflüssiger ‚Zierratʻ in der Architektur wird es übertragen auf evolutionsbiologisch (primär) nutzlose Anpassungen (vgl. Gould und Lewontin 1979). Siehe Jensen 2010, S. 138: „[A]n unforeseen result of brains running ,amok‘ […]“. Vgl. Boyer 2010, S. 27 f.: „In this model, different kinds of religious thoughts ,parasitize‘ cognitive structures that evolved for other, non-religious reasons.“ Das sei eben jener schwer hintergehbare, menschliche, kognitive Drang zum „need for closure“ oder „jumping for conclusion“, den in diesem Sinne bereits Francis Bacon Anfang des 17. Jhs. beschreibe: „Der menschliche Verstand ist von Natur aus geneigt, mehr Ordnung und Regelmäßigkeit in der Welt zu wähnen, als er tatsächlich vorfindet (Buch 2, Aphorismus Nr. 45)“ (Voland 2010, S. 296). Voland 2010, S. 297. Diesen Begriff prägte der amerikanische Evolutionsbiologe Randolph M. Nesse (siehe Nesse 2005). Vgl. Voland 2010, S. 297.
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mentarien zum Einsatz kommen. Nicht immer müssen in diesem Sicherungsmodus Denkprozeduren wie Handlungsabläufe der Berechenbarkeit und Bewältigbarkeit von Welt dienen, er kann auch dazu dienen, die Richtigkeit und Funktionstüchtigkeit unserer Weltverarbeitungsmuster zu bestätigen,³⁹⁹ um uns gegebenenfalls für den ‚Ernstfallʻ zu präparieren. Und dieses Simulieren von Wirklichkeitsrepräsentationen als Variieren und Durchspielen von Handlungsmustern und deren Alternativen ist nun gerade Hauptkennzeichen einer kulturellen Erscheinungsform, die auch im Baldermythos eine zumindest narrativ bedeutsame, aber bis jetzt noch keineswegs eindeutig geklärte Rolle einnimmt: das Spiel. Schon früh ist in der Forschungsgeschichte teils mit Verwunderung, aber auch Irritation auf die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zum religiösen Ritual verwiesen worden. So stellt der berühmte Spielforscher Johan Huizinga schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts fest, dass zumindest die formalen Kennzeichen von Spiel und Kult dieselben seien, und es sei eben gerade der Akt der „räumliche[n] Heraushebung der Handlung aus dem gewöhnlichen Leben“,⁴⁰⁰ der sich zunächst einmal für beide Konzepte als der wichtigste darstelle: Wie der Form nach kein Unterschied zwischen einem Spiel und einer geweihten Handlung besteht, d. h. wie die heilige Handlung sich in denselben Formen wie ein Spiel bewegt, so ist auch der geweihte Platz formell nicht von einem Spielplatz zu unterscheiden. Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d. h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.⁴⁰¹
Auch für das Spiel gilt also auf gleiche Weise das „Abstecken“ im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne als Kennzeichnung von Gültigkeitsbereichen, als metaphorischer wie realer Schutzraum. Und ebenso wie im religiösen rituellen Handeln werden Gültigkeitshierarchien festgelegt. Wer sich auf diese einlässt, akzeptiert damit gleichzeitig, dass „die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung mehr haben.“⁴⁰² Huizinga interpretiert bekanntlich in einem durchaus radikalen Verständnis jegliche kulturelle Betätigung des Menschen als Spiel; programmatisch dazu der deutsche Untertitel seines Buches: „Vom Ursprung der Kultur im [kursiv d. Verf.] Spiel“, entsprechend hat man immer wieder versucht, auch in anderen Symbolsystemen den Spielbegriff nutzbar zu machen, allen voran in der Sprache.⁴⁰³ Die Literaturwissen-
Vgl. Eibl 2009, S. 20. Huizinga 2004 [1938], S. 29. Huizinga 2004 [1938], S. 18 f. Huizinga 2004 [1938], S. 21. Vgl. Huizinga 2004 [1938], S. 12 f.: „Die großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens sind alle bereits vom Spiel durchwoben. Man nehme die Sprache, dieses erste und höchste Werkzeug, das der Mensch sich formt, um mitteilen, lehren, gebieten zu können, die Sprache,
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schaft wie Linguistik hat den Spielbegriff schon lange als hermeneutisches Handwerkszeug für sich entdeckt, wenn auch deren Vertreter/innen selbst oftmals nicht ganz glücklich waren mit der scheinbaren Unbestimmtheit und Unschärfe dieses Begriffs. Ein durchaus unerwünschter Relativismus und Nivellierung bei der Beurteilung kultureller Phänomene schien die Folge. Zum einen wirkt der landläufige Spielbegriff wenig geeignet, so unterschiedliche kulturelle Phänomene wie Literatur, Kunst, Religion zu fassen, wenn sich doch schon das Spiel selbst einer jeglichen Definition zu entziehen scheint, zum andern wehrt sich nicht nur das Selbstverständnis religiöser Symbolsysteme mit einem gewissen Unbehagen gegen diese Zuschreibung, läuft doch beim Spielbegriff immer auch das Konnotat von Unernsthaftigkeit und Nutzlosigkeit mit. Es ist der Grund, warum die frühen Spielforscher wie Johan Huizinga, aber auch Roger Caillois⁴⁰⁴ noch einen „ständigen Einschränkungs- und Erweiterungskampf“⁴⁰⁵ bezüglich ihres Untersuchungsgegenstandes führen mussten, nicht nur was als Spiel selbst, sondern was gerade auch jeweils als Religion bzw. Ritual einerseits und Spiel andererseits ,im eigentlichen Sinneʻ zu gelten habe. Eine definitorische Verlegenheit, die auch die Religionswissenschaft bezüglich ihrer religiösen Begriffsbildungen, der Eingrenzungs- bzw. Ausschlusskriterien für das Konzept des ,Heiligen‘, ja im Grunde genommen für den eigentlichen Untersuchungsgegenstand selbst, ,die Religion‘, gut kennt. Auch hier musste erst die Vorstellung einer wesenhaften, substantiellen Entität einem Konzept systemischer kognitiver Codes, Akzente, Modi weichen, also weg von Objekten und Sachen, hin zu Blickwinkeln und Perspektiven. Und ganz entsprechend musste man erkennen, dass es auch keinen qualitativen Spielbegriff geben kann, auch hier wird lediglich ein Modus angezeigt, „durchaus als grammatikalische Kategorie verstanden, die Einstellung des Sprechers zur Information,“⁴⁰⁶ oder mit den Worten des Verhaltensforschers Gregory Bateson, „play is not the name of an act or action; it is the name of a frame for action.“⁴⁰⁷ Simulationen können also wahlweise als ,heilig‘ oder ,experimentell‘ oder ,fantastisch‘ oder ,ironisch‘ oder ,spielerisch‘ markiert werden, auch wenn sie sich dabei ihr Konstruktionsequipment, die Metaphorik, die Form teilen, in der kognitiven Datenarchitektur nehmen sie jeweils unterschiedliche Positionen ein, sie teilen sich durchaus nicht ihren truth-value-Status, ihre Bezogenheiten, ja diese können sich diametral gegenüberstehen.
mit der er unterscheidet, bestimmt, feststellt, kurzum nennt, d. h. die Dinge in das Gebiet des Geistes emporhebt. Spielend springt der sprachschöpfende Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber. Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Abstraktes steht eine Metapher, und in jeder Metapher steckt ein Wortspiel [kurs. d. Verf.].“ Siehe Caillois 1965. Eibl 2009, S. 11. Eibl 2009, S. 19. „Ich habe für diesen Modus der „quasi ,entpflichteten‘ Rede einmal (halb im Spiel) den Begriff des Emeritiv vorgeschlagen“ (Eibl 2009, S. 19). Bateson 1979, S. 139.
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Die zu Recht konstatierte ,Unernsthaftigkeit‘ des Spiels betrifft nur seine Gültigkeit, seine Konsequenzenlosigkeit in Bezug auf das systemische Außen, unsere Allerweltswirklichkeit. Im religiösen Ritual, also im Rahmen religiöser Perspektivierung drehen sich Gültigkeiten und Deutungshierarchien hingegen um: Es ist stets das ,Heilige‘, das zur wirklichsten und bedeutungsvollsten aller Wirklichkeiten wird, alle anderen Konzepte von Wirklichkeit müssen dann hintangestellt werden. Noch Huizinga gelang es nicht (und mit ihm eine lange Tradition historischer Semantik), das Spiel anders als biologisch nutzlos zu sehen. Aber es ist gerade die ebenfalls schon früh konstatierte ,Lust‘ am Spiel als sein besonderes, ja konstitutives Hauptmerkmal, das in eine ganz andere Richtung weist. Hinzu kommt, dass jene spezifische Art von Wirklichkeitsrezeption nicht einmal eine ausschließliche Eigenart menschlicher Informationsverarbeitungsprozesse zu sein scheint. Spielforscher wie Verhaltensforscher kennen jenes spezifische Ausdrucksverhalten von Tieren (in der Regel höhere Säugetiere wie etwa Hunde oder Schimpansen), das zum Spielen auffordert, d. h., die folgenden Aktionen (etwa körperliche Angriffe) werden mithilfe der metamessage ,this is play‘ in einen Rahmen gestellt, der ihre eigentliche Denotation, Aggression, Verletzungsgefahr, relativiert. Bateson, der als Erster jenes Spielverhalten von Tieren systematisch erforschte, prägte dafür den berühmten Begriff des ,Spielgesichts‘.⁴⁰⁸ Dieser Beschreibungsmodus, der auch von seinem Erfinder nicht nur auf rein verhaltensbiologische Prozesse im Tierreich hin konzipiert war, sondern sich immer auch als Ausgangspunkt zur Erklärung der Eigenart menschlicher Konstrukte von Welt und Wirklichkeit verstand, ist der möglicherweise früheste konzeptuelle Rahmen, in welchem einem Sozialpartner signalisiert wird – kaum anders wie beim zum Spielen aufgelegten Hund – ,das ist nur Spiel‘, ,nur Fiktion‘, ,nur Kunst‘,⁴⁰⁹ aber auch im wichtigen und durchaus folgenschweren Umkehrschluss: ,Nur das ist Religion‘. Es sind also zunächst einmal wichtige Bestätigungs- und Sicherungsfunktionen für unsere „angeborenen Kategorien der Weltverarbeitung“, so kann etwa unser Kausalitätsinstinkt in kausal konstruierten Narrativen literarischer Fiktionen bestätigt werden, teleologische Verknüpfungen erfüllen unsere Gestalt-Abschluss-Erwartungen, und es sind gerade die Wiederholungen, die uns ein wenn auch künstlich konstruiertes Zeugnis von der Berechenbarkeit der Welt liefern,⁴¹⁰ nicht zu vergessen den didaktischen Effekt des konsequenzenlosen Einübens. Jener viel diskutierte Lusteffekt des Spiels, im Grunde genommen aber aller Simulationsprogramme, entspringt somit jenem risikolosen, garantierten und vor allen Dingen wiederholbaren Bestätigungsmechanismus perfekter Weltbilder, einer mit den Worten Eibls immer wieder aufs Neue ,erschwindelbaren‘ Theodizee.⁴¹¹ Siehe Bateson 1979. Vgl. Mellmann 2009, S. 66. Vgl. Eibl 2009, S. 20 f. Siehe Eibl 2009, S. 23: Als Beispiel für „unseren Hunger nach sozusagen empirischer Affirmation unserer Adaptionen“ führt Karl Eibl die Vorliebe für Kriminalromane und -filme an. Der Gestaltab-
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Das Gelingen eines Spiels sorgt entsprechend für eine lustvolle, weil eben konsequenzenlose Sonderform von Wirklichkeitsrezeption. Der Hund signalisiert mit seinem ,Spielgesicht‘, dass er nicht auf Beute aus ist und eine Kontaktsituation höchstwahrscheinlich unblutig verlaufen wird, ähnlich halten Spielregeln bei einem sportlichen Aufeinandertreffen zweier Mannschaften das Gefährdungspotenzial (in den meisten Fällen) erträglich niedrig. Das Prinzip Zufall, Kontingenz, Ungewissheit ist dabei ein wichtiges und häufiges Spielelement. Der Spielbetrieb simuliert und suggeriert dessen Beherrschbarkeit. Was beim Spiel indes gerade den Reiz, den ,Spaßfaktor‘ erhöht, ist beim Ritus nicht gewünschter Effekt, sondern vielmehr Grundlage und Ausgangssituation: Der Umgang mit dem Unbekannten, nicht Einschätzbaren ist ein wirklicher, zumindest real gedachter Spannungsmoment. Das macht Vorbereitung und Absicherung zwingend erforderlich, die penibelste Einhaltung der Kultvorgaben, die bis zur Erschöpfung wiederholten Ritualsequenzen. Auf diese Weise wird das Sicherstellen, das Gelingen der Aktion zumindest ,denkbar‘, es bieten sich ,denkbare‘ Möglichkeiten für Abwehr, Vermeidung, Depotenzierung oder Austausch. Wie im wirklichen, alltäglichen Leben erhöhen Wiederholung und kumulatives Handeln auf ein Ziel hin die Erfolgschancen auf ein geglücktes Ergebnis. Und wie im wirklichen, alltäglichen Leben machen Stereotypie und Rigidität, Festigkeit und Ordnung, Synchronizität wie Symmetrie den Handlungsablauf auch für außernatürliche schwierige Sozialpartner buchstäblich berechenbar und überschaubar. Zweifelsohne kann sich der Mensch Missverständnisse und damit Kommunikationskonflikte gerade hier am wenigsten leisten, andererseits aber sind in diesen Spezialfällen sozialen Austauschs durchaus Kommunikationssituationen denkbar, in denen Verschwommenheit, Uneindeutigkeit, Unklarheit ausdrücklich gewünscht sind und in diesem Sinn auf gleiche Weise rituell gezielt hergestellt werden müssen ‒ auch und gerade im Austausch mit den Toten. Nun gelten jene wesentlichen Eigenschaften des rituellen Handelns, die stereotype, exzessive, ,grundlose‘ Wiederholung gerade auch als Charakteristikum eines psychischen Krankheitsbildes, der so genannten „obsessive-compulsive disorder“, der klinischen Zwangsneurose. Die Ähnlichkeit der Symptome (nach Boyer und Liénard lassen sie sich grob zusammenfassen mit „stereotypy, rigidity, repetition, and apparent lack of rational motivation“)⁴¹² ist schon vom Vorreiter der Psychoanalyse, Sigmund Freud, beschrieben worden und hat entsprechend dazu geführt, dass religiös motivierte Rituale immer wieder in die Nähe individuellen zwanghaften Verhaltens gerückt wurden. Siehe Freuds (wenn auch vorsichtige) Beurteilung religiösen Verhaltens als letztendlich pathologisch: „Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück
schluss etwa eines Krimis, will heißen die erwartete und bestätigte Aufklärung eines Mordes (ganz im Gegensatz zur statistischen Realität), sei im Grunde genommen „eine kleine, erschwindelte Theodizee.“ Boyer und Liénard 2006, S. 595.
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zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.“ ⁴¹³ Boyer und Liénard möchten nicht so weit gehen, sondern rituelles Verhalten und neurotisches Verhalten bestenfalls als „analogy“ beschreiben.⁴¹⁴ Auch die Kulturanthropologen Siri Dulaney und Alan Page Fiske betonen in ihrer grundlegenden psychologischen Studie über mögliche gemeinsame Mechanismen bzw. Auslöser von kulturellen Ritualen einerseits und zwangsneurotischen Handlungen andererseits, dass keineswegs von einer Identität gemeinschaftlichen rituellen Handelns und einer individuellen zwanghaften Störung ausgegangen werden dürfe, wohl eher von einer Fehl- oder besser gesagt Überfunktion von üblicherweise normalen Anlagen: When we make these comparisons, we find that there is a striking similarity between OCD [obsessive-compulsive disorder, d. Verf.] symptoms and the features that are characteristic of rituals. This does not mean that rituals are collective disorders or in any way pathological, any more than it implies OCD patients are performing culturally meaningful rituals. But it does suggest that the psychological proclivities that may underlay cultural rituals may be closely related to the mechanism that is malfunctioning in OCD patients. In rituals, these actions are socially legitimated and meaningful, while OCD patients are driven to perform actions that have no cultural meaning – except that they mark the person as „crazy“.⁴¹⁵
Aber dennoch wird deutlich, es ist ausschließlich der kulturelle Kontext, der jenen Aktionen in letzter Konsequenz Bedeutung, Sinn zuweist. Der Diskurs beurteilt, ob und wie Entitäten, Phänomene überhaupt denkbar sind und ob bzw. ab wann sie einen Gefahrenstatus zugeordnet bekommen müssen. Die meisten Bedrohungen sind zunächst lediglich vorstellbare, ,eingebildete‘ Bedrohungen, eine diffuse Unheilserwartung bis hin zu einer immer lauernden Erwartungsangst, wie Freud es nennt. Je weniger diese Einschätzungen allerdings intersubjektiv geteilt werden, je weniger der Angstproduzent seine Ängste externalisieren und objektivieren kann,⁴¹⁶ umso weniger sinnvoll, umso ,verrückter‘ erscheint dann seine Handlungsweise. Zunächst aber unterscheidet sich auch eine übernatürliche Bedürfnislage nicht von einer normalen, menschlichen. Der Zeichenvorrat des religiös motivierten, rituellen Verhaltens kann problemlos im Rahmen allgemeiner nicht religiöser, sozialer Interaktion betrachtet werden. Seine Konzepte sind ausnahmslos daraus entnommen, seine Funktionen ebenso vielschichtig wie seine Erscheinungsformen in nicht religiösen Kontaktsituationen:
Freud 1966, S. 138 f. „This would support the tentative conclusion that the presence of ‚ritualʻ in both cases is a case of behavioural analogy rather than the index of similar capacity and processes“ (Boyer und Liénard 2006, S. 612). Dulaney und Fiske 1994, S. 247. Zur Entstehung von gesellschaftlich geteilten Wissensformationen ganz grundsätzlich Berger und Luckmann 2007, S. 56 – 72.
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[T]he refraction of religion into its constitutive parts means that religious phenomena can be studied by methods used to study non-religious phenomena. Thus religious concepts are a kind of concept, ritual behaviour is a kind of behaviour, religious group formation is a kind of group formation etc.⁴¹⁷
Denn tatsächlich vermag der Mensch jene wohl schwierigste aller Kontaktsituationen, den Umgang mit ‚körperlosenʻ Aktanten gerade außerhalb religiös motivierten Handelns (und krankhaft obsessiven!) gut zu meistern, ja im Grunde genommen ist ein großer Teil unserer zweifellos profanen, alltäglichen Überlegungen kaum weniger auf Agenten gerichtet, die physisch nicht anwesend sind: It is certainly relevant that a good deal of human existence consists in interaction with agents that are not physically present – and that this is one of the major cognitive capacities that made humans a very special kind of primates. Many, perhaps most, of our thoughts about other people occur when they are not around. Memories of what people did or said, as well as expectations, fears and hopes of what they may do, are a constant theme of trains of thought and ruminations, and also the quintessential subject matter of gossip. In all human groups, people also fantasize about individuals they have not encountered yet (e. g. Mr. Right).⁴¹⁸
Dies gilt auch und gerade für unsere menschlichen Abwesenden par excellence: die Toten.⁴¹⁹ So muss ganz entsprechend auch bei verstorbenen, definitiv nicht mehr körperlich anwesenden Menschen eine ganz konkrete Vorstellung von Körperlichkeit als eigentliche Konzeptionierung von Identität mitlaufen. Selbst (lediglich) mentale Bedürfnislagen, Beweggründe setzen zwingend einen Körper voraus mit entsprechend körperlichen funktionalen Erwartungen: [W]e can also think about the mental states of people who are not present. Moreover, we can use the Theory of Mind to reason about fictional characters, as well. It is therefore logical to assume that this system cannot be immediately switched off when somebody has just died. In fact, this is exactly what psychologist Jesse M. Bering found in an experiment about people’s intuitions with regard to the dead. Bering asked participants various questions about recently deceased people […]. „Is he still hungry?“ […]. „Is he thinking about his wife?“ […]. „Does he want to be alive?“ First, the answers showed that people are generally ready to attribute mental states to the dead, that is, they intuitively believe that death does not put an end to people’s thoughts and beliefs.⁴²⁰
Typischerweise scheint dabei der moderne Mensch noch einmal Vorstellungen über oder Erwartungen an die Toten zu differenzieren. So werden Emotionen,Wünsche und epistemische Wissensvorräte auf der Seite der Toten für durchaus möglich gehalten, grundlegende, lebensnotwendige Bedürfnisse wie Hunger oder Durst eher weniger.⁴²¹
Sørensen 2005, S. 468. Boyer 2010, S. 32. Vgl. Boyer 2010, S. 32. Czachesz 2009, S. 397. Vgl. Czachesz 2009, S. 397.
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Wiederum gilt, logisch zu Ende gedacht werden diese Vorstellungen nicht, die Zielvorstellung des funktionstüchtigen Körpers bleibt jedoch nach wie vor bestehen. Und was im Folgenden gerade im Rahmen dieser Untersuchung bedeutsam werden wird, der vormoderne Mensch zieht in diese Überlegungen (und Behandlungen) ausdrücklich die Leiche, die paradoxe Körperlichkeit des Toten mit ein. Und wenn nun Ereignisse, Phänomene als Handlungsmuster, Aktionen außermenschlicher, übermenschlicher, aber letztendlich doch sozialer Partner imaginiert werden können, dann kann der Mensch auch – unter ganz bestimmten Voraussetzungen – daran teilnehmen.⁴²² Diese speziellen Voraussetzungen schafft sich der Mensch im Ritus, im Kult. Die rituelle Handlung ist eine ebenso gezielt wie sorgfältig geschaffene Kontaktsituation mit Personen, personalen Entitäten, deren physischbiologischer Status aus den unterschiedlichsten Gründen nicht genau berechenbar, mehr oder weniger unbekannt und damit möglicherweise gefährlich ist. Identifizierbarkeit, sprich Benennbarkeit, ermöglicht nun die Besetzung des wichtigen Features des personalen Agenten („There is a single specific agent and a single specific patient“). Unsere theory of mind-Konzepte helfen, den Willen, den Plan der Götter, die Bedürfnisse der Ahnen zu ergründen („The agent has a ,plan‘ for carrying out this goal“).⁴²³ Dabei ist unser Ziel nicht nur, Kenntnisse über diesen Plan und gegebenenfalls Informationsstand zu erlangen, sondern ebenso über die Kooperationsbereitschaft unserer Partner. Denn neben ihrer (potentiellen) Bedrohlichkeit gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten dieser Gruppe der Zugang zu übernatürlichem Wissen, das ungleich höher ist, als jedes für uns auf ,natürlichem‘ Weg erwerbbare Wissen. Die informationstechnischen Vorteile, die wir daraus ziehen können, liegen auf der Hand. In jedem Fall muss sich der Mensch sorgfältig ausrüsten mit „a prepared catalog of possible interaction scenarios“.⁴²⁴ Er weiß als unhintergehbar soziales Wesen viel von sozialen Kontakten, er weiß von möglichen, Erfolg versprechenden Kontaktsituationen, von deren Risiken, welche eher zum Scheitern verurteilt sind und um deren Behandlungsmöglichkeiten: „Wissen ,haust‘ im Handeln von Menschen,“⁴²⁵ im rituellen Handeln ,kondensiert‘ mythologisches wie soziales Wissen in seiner höchsten Form. Aber hier wie da kann es – trotz aller Entkoppelungsmaßnahmen – zu Systemschädigungen kommen. Im Spiel wie Ritual kann es zu jenem ,Kipp-Effekt‘ kommen,
Blumenberg 1984, S. 22. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 70. „Social interaction presents us with a whole gamut of possible actions from our partners as well as possible reactions to our own behavior. Reactions on our part should be fast but also appropriate. The potential cost of mismanagement of social relations is huge for humans, given their dependence on cooperation for survival. Now there is a trade-off between speed and appropriateness, given the complexity of inferences required for even the simplest social interactions. […]. One way to bypass this computational hurdle may be to have a prepared catalog of possible interaction scenarios“ (Boyer 2010, S. 33). Jäger 2001, S. 90.
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dass aus Konsequenzenlosigkeit, aus bloß Spaß, aus bloß symbolischer Handlung plötzlich durchaus konsequenzenreicher, vielleicht sogar tödlicher Ernst wird. Jedes Spiel, jedes Ritual trägt diese Gefahr, zumindest Ambivalenz in sich. Jedes Spiel ist für sich ein liminales Konstrukt, ein Übergangsphänomen, und in bekannter metonymischer Wirkmanier ist es cause und effect zugleich: Spiel wie Ritual sind nicht nur verbildlichte, verkörperte Ambivalenz, sie kontaminieren ihrerseits WirklichkeitsKonzepte und können genauso bewirken, dass bis dato stabile Wirklichkeitsentwürfe ihrerseits zu wackeln, zu schwanken beginnen und buchstäblich aus ihren etablierten Gültigkeiten ,herauskippen‘.
2.11.3 Entkoppeltes Fühlen: Das Lachen oder die „Anästhesie des Herzens“ Huizinga verweist darauf, dass Spiele – trotz ihres notwendigen und stets miteingebauten Lusteffekts, eben trotz ihrer dezidierten Unernsthaftigkeit – eigentlich nicht lustig sind bzw. es bei Leibe nicht sein müssen. Komik gehört wohl manches Mal zum Spiel, aber sein Sonderstatus an Verbindlichkeit reizt nicht per se zum Lachen.⁴²⁶ Und doch fehlt in unserer Übersicht über Symbolisierungen, Simulationsprogramme, Fiktionen, kurz, alles, womit wir Sinn und Bedeutung zuweisen in der Welt, eben jene ganz besondere Konstruktions- wie Rezeptionsanleitung von Wirklichkeit: das Lachen. Huizinga belässt es bei obigem knappem Hinweis, vergisst aber nicht, darauf hinzuweisen, dass die „rein physiologische Verrichtung des Lachens ausschließlich dem Menschen eigentümlich“ sei, wohingegen er die Fähigkeit des Spielens immerhin schon mit dem Tier teile, ja, „das aristotelische animal ridens“ bezeichne „den Menschen im Gegensatz zum Tier fast noch reiner als das [sic] homo sapiens.“⁴²⁷ Auch die Geschichte des Lachens (nicht unbedingt der Lachforschung) ist lang, gewiss so lange wie die des Spiels, mit nämlichen definitorischen Verlegenheiten, mit nämlichen Ein- und Ausgrenzungsproblemen, mit nämlichen Eigentlichkeitsforderungen – indes, das animal ridens, der homo ludens und damit in letzter Konsequenz auch der homo religiosus sind nicht voneinander zu trennen, wenngleich sich bei der (lange Zeit ausschließlichen) Suche nach Lachobjekten eine Verbindung zu religiösen Objekten von selbst verbat: Heiligkeit und Heiterkeit sind, so scheint es, strikt voneinander getrennt: Gehört das Heilige ganz dem Bereich des Statisch-Ernsthaften und Bedeutungsvollen an, erscheint das Lachen als Ausdruck lauter Geselligkeit, Spontaneität und Vergänglichkeit, lustbetonter Subversion und Unbestimmtheit. Keiner der anerkannten Theoretiker des Lachens und des Komischen […] betrachtet diese Phänomene aus der Perspektive des Heiligen. Aber auch keiner der anerkannten Religionstheoretiker […] erstellt die Verbindung zwischen zwei prägenden Signaturen des Menschli-
Vgl. Huizinga 2004 [1938], S. 14. Huizinga 2004 [1938], S. 14.
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chen: der Lachfähigkeit und der Religiosität. Während die theoretischen Disziplinen also von der Möglichkeit des Zusammentreffens des Lachens mit dem religiösen Bewusstsein und mit kultischen Handlungen weitgehend absehen, liefern demgegenüber kulturelle Praktiken unzählige Beispiele ihrer Verzahnung.⁴²⁸
In der Tat weiß auch der Mythos viel vom Lachen zu berichten, meist sind es freilich nur die Götter, die etwas zu lachen haben, berühmt das sprichwörtliche ,Homerische Gelächter‘, ἄσβεστος […] γέλως (Il. I, 599), ein Lachen, das nicht zu löschen ist, und das ausgelöst wird ausgerechnet vom hinkenden Schmiedegott Hephaistos, „das dionysische und apollinische Lachen oder das obszön-regenerative Lachen der Demeter“,⁴²⁹ nachdem sie zunächst „auf dem Stein Agelastos, d.i. ‚Ungelachtʻ“ buchstäblich wie versteinert verharrt bei der erfolglosen Suche nach ihrer Tochter.⁴³⁰ Die japanische Sonnengöttin Amaterasu muss in auffallend ähnlicher Weise aus ihrer Felsenhöhle gelockt werden, indem sie – durch einen Trick – zum Lachen gebracht wird. Und auch im nordischen Mythos treffen wir auf ähnlich prekäre Situationen. Die durchaus nicht zum Lachen aufgelegte und über den Totschlag ihres Vaters empörte Riesin Skaði wird durch ein obszönes Spiel Lokis aufgeheitert und im Lachen besänftigt. Auch der alttestamentarische Gott lacht, gleichwohl als „aggressiv-spöttischer Gott“,⁴³¹ ganz ähnlich Odysseus, wissend lacht er über das unentrinnbare Schicksal seiner Gegner, ein sardonisches, innerliches Lachen, wie es heißt, beim wüsten Kuhfuß-Werfen der Freier. Dann kommt es zum tödlichen Abschlachten, aus der fest verschlossenen Festhalle gibt es kein Entkommen.⁴³² Nur eine kleine Auswahl von mythischen Lachsituationen. Wir werden noch auf die eine oder andere Szenerie genauer zu sprechen kommen. Sie können aber jetzt schon Schlaglichter werfen auf unseren Gegenstand: So unterschiedlich diese Szenarien prima facie wirken mögen, mit durchaus unterschiedlichen, verhängnisvollen wie glücklichen Ausgängen, haben sie doch vieles gemeinsam. Bezeichnenderweise wirken auf uns die meisten Lachsituationen in einem landläufigen Sinn gar nicht lustig, ganz im Gegenteil, als Beobachter zweiter Ordnung sehen wir, sie bewegen sich buchstäblich „am Rand der Katastrophe“,⁴³³ gerade noch einmal abgewendet oder aber gerade nicht, ja nachgerade irgendwie ,herbeigelacht‘, durch das Lachen heraufbeschworen: Asbestos, das nicht zu löschende Lachen der olympischen Götter, nennt Klaus Heinrich denn auch durchaus treffend eine „Weltbrandformel“.⁴³⁴
Gvozdeva und Röcke 2009, S. 9. Gvozdeva und Röcke 2009, S. 9. Vgl. Heinrich 1986, S. 24. Gvozdeva und Röcke 2009, S. 9. Vgl. Heinrich 1986, S. 23. Heinrich 1986, S. 17. Heinrich 1986, S. 19.
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Irgendetwas Gefährliches, Subversives scheint es mit dem Lachen auf sich zu haben, eine Art „Sprengkraft“,⁴³⁵ die sich primär und ganz vordergründig in seinem körperlichen Erscheinungsbild offenbart, das embodiment, die Verkörperung des Lachens zeigt sich als eine Art „Desorganisation des Überwältigt- und Geschütteltseins“,⁴³⁶ Lachen und Katastrophe teilen sich dieselbe Metaphorik, „konvulsivische[ ]“,⁴³⁷ plötzliche, unberechenbare Bewegungen des Ausbrechens, Explodierens, Bebens. Man kann sich ,krank‘, wenn nicht gar ,tot lachen‘,⁴³⁸ was entsprechend schon frühes, platonisches wie christliches Misstrauen erweckte. Eine „petitio principii about the ,non-laughing Christ‘“,⁴³⁹ die Vorstellung eines Jesus, der wohl geweint, aber gewiss nicht gelacht habe, existierte entsprechend das ganze Mittelalter durch, muss aber wohl in dem Sinn eingeschränkt werden, dass damit eben dieses exzessive, körperlich sichtbare und wirksame, ,unstillbare‘ Lachen, risus, gemeint war, im Gegensatz zur jedenfalls körperlich unbeteiligten, rein innerlichen, spirituellen Freude, gaudium, als Zeichen einer „perfect mastery of the mind over the sensual body“⁴⁴⁰: The Risus cum cacchinis (in French a rire à gorge déployée), a type of laugher involving a fully extended and exposed throat (a „belly laugh“ in English), exposed the literally grotesque inside of the body that should remain unseen and unspoken of. The inside of the body conjured up images of unknown realms, of uncontrolled excesses and base carnality.⁴⁴¹
Und bezeichnenderweise gehörte diese Art von Gelächter schon nach biblischen Vorstellungen zu den gesellschaftlichen Grenzgängern wie Schauspielern, Gauklern, Hanswursten, Spielleuten, Jongleuren.⁴⁴² Es ist ein konkret räumlich wie körperlich verortetes Lachen, das buchstäblich „von unten“ kommt,⁴⁴³ das man an den Rändern der Gesellschaft wie den Abgründen einer „base carnality“⁴⁴⁴ wähnt und befürchtet.
Heinrich 1986, S. 18: „Ich spreche also von der Gefährlichkeit des Lachens, insbesondere seinem katastrophischen Aspekt, den es mit allen konvulsivischen Bewegungen teilt – denen es sich darum anpassen, denen es entspringen, in die es umschlagen kann, z. B. dem Schluckauf, dem Weinen, nicht zuletzt dem Orgasmus.“ Plessner 1950, S. 185. Heinrich 1986, S. 18. Vgl. Jurzik 1986, S. 43; Heinrich 1986, S. 17. Merceron 2009, S. 103. Merceron 2009, S. 103. Merceron 2009, S. 103. Vgl. Merceron 2009, S. 103. „Risus, on the other hand, particularly loud laughter, was born out of shameful words (turpido, obscena verba), of foolish talk (stulti-loquium) or coarse jesting (scurrilitas), according to Paul’s typology (Ephesians 5,4). The kind of laughter belonged to the mimes, buffoons, minstrels, and other low-class jongleurs.“ Vgl. Heinrich 1986, S. 37: „Lachen kommt von unten herauf; wenn nicht, wirkt es ,aufgesetzt‘ und ,flach‘ – gleich haben wir die Affinität zu einer Lieblingszone des Lachens, dem Unterleib samt seinen verschiedenen Aktivitäten. In ,gehobener‘ Unterhaltung deplaciert, markiert Lachen den Einbruch des Deplacierten, holt nicht nur sonst Verdrängtes ,nach oben‘, sondern ist die leibhafte Figur der Durchschlagung von Verdrängungsprozessen – eine Freisetzung gleichsam unterirdischer Energie
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Heinrich verweist auf Plato (siehe Pol. 388 E), der diesbezüglich eine klare Position beziehe: „[D]enn wenn einer seiner Lachlust die Zügel allzusehr schießen läßt, so hat das in der Regel eine starke metabole zur Folge.“ Und, so Heinrich weiter, „Metabole ist subjektiv Sinneswandlung, objektiv Umsturz.“⁴⁴⁵ Natürlich, wie auch anders, eine „Logik des Bildes“ zieht unhintergehbar „zugleich eine Logik der Redekonsequenzen“ nach sich,⁴⁴⁶ die entsprechend in einer Logik der Handlung und schließlich in einer Logik von Ursache und Wirkung mündet. Lachen ist gleichwohl ein wirksames wie gefährliches Werkzeug, das nicht in die falschen Hände geraten darf, wenn man so will. Wirklichkeitskonstruktionen, Gültigkeiten, selbst ,ewige Wahrheiten‘ können damit erschüttert und buchstäblich zu Fall gebracht werden. Deshalb fürchten sich die Deutungsmonopolisten vor dem Lachen von den Rändern her, dem subversiven, umstürzlerischen. Deshalb lachen die Mächtigen in mächtigen Lachgemeinschaften und versichern sich dadurch ihrer Macht, denn stellt das Lachen ,von unten‘ „einen Angriff auf die soziale Ordnung dar, festigt das Verlachen [von oben, d. Verf.] die sozialen und kulturellen Hierarchien.“⁴⁴⁷ In kaum einem anderen menschlichen Erfahrungsbereich gehen also Körperlichkeit und Kognition so Hand in Hand wie beim Lachen: Ein kognitiver Schock, eine gespannte Erwartung, die im Nichts verläuft, so Immanuel Kant,⁴⁴⁸ „zwei Unvereinbarkeiten […], die einen Riß im Inneren des Menschen auslösen, durch den sich das Gelächter seinen Weg sucht.“⁴⁴⁹ Lachen integriert nicht, Lachen versichert uns nur der (zumindest inbrünstig erhofften) Konsequenzenlosigkeit dieser Unfähigkeit, es macht uns für den Moment empfindungslos, wie Henri Bergson schon früh bemerkt, es bewirkt eine „Anästhesie des Herzens“, die uns, für den Augenblick, in den Status des – physisch wie psychisch – unbeteiligten Zuschauers zu versetzen vermag.⁴⁵⁰ Mit dem Lachen geht die Erschütterung unserer kognitiven boundary conditions einher, es ist jene Cassirer’sche „sinnliche[ ] Erregung“,⁴⁵¹ jenes Oszillieren „an der Schwelle einer neuen Geistigkeit“.⁴⁵² Kognitionspsychologisch betrachtet heißt das, dass eben jene „ability to integrate information from many sources“⁴⁵³ für den Mo-
ohne Rücksichtnahme auf die Balancierung von Oben und Unten.Wirksam unterdrücken läßt sich sein Ausbruch nicht, ,abstellen‘ läßt es sich auch nicht.“ Merceron 2009, S. 103. Heinrich 1986, S. 20. Vgl. Konersmann 2011, S. 16. Kamper und Wulf 1986, S. 8 f. „Es muß in allem, was ein lebhaftes, erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Widersinniges sein (woran also der Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das Lachen ist ein Affect aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ (AA V, Kritik der Urtheilskraft, Kant 1900 ff., S. 332). Kamper und Wulf 1986, S. 7. Vgl. Bergson 2011 [1900], S. 14 f. Cassirer 2010, S. 93. Cassirer 2010, S. 93. Cosmides und Tooby 2000, S. 59.
2.11 Decoupling systems
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ment gescheitert ist mit durchaus unterschiedlichen Konsequenzen: Es kann Wissensrahmen temporär oder endgültig unwirksam machen, aber gerade dadurch besitzt Lachen auch eine therapeutische, systemsichernde wie regenerative Funktion.⁴⁵⁴ Als zunächst systembedrohend eingeschätzte Situationen, vorgebliche wie reale Katastrophen, Krisen werden damit als nicht ernstzunehmende, ungültige, jedenfalls konsequenzenlose Wirklichkeitskonstruktionen gekennzeichnet und auf diese Weise buchstäblich ,weggelacht‘. Der dermaßen „dynamisierte, chaotisierte […] ,verflüssigte‘ Körper“⁴⁵⁵ hat, nach einem, wenn man so will, kurzzeitigen kognitiven Zusammenbruch oder Feststecken, die Chance, sich neu zu organisieren. Und keineswegs ist Lachen damit ausschließlich Kennzeichen des ,Profanen‘, das im Gegensatz zu einem ,heiligen Ernst‘ stünde, vielmehr „[ist es] nicht zu trennen […] von der initiatorischen und der eschatologischen Komponente (das Unterste zuoberst kehren) des Kults.“⁴⁵⁶ Wie es scheint, spielen und lachen sich auch die nordischen Götter buchstäblich in den Tod. Die Asen selbst verursachen bei einem Schießspiel, ausgelassen, man kann wohl annehmen lachend, ausgerechnet den Tod ihres Lieblingsgottes Balder. Sie beschwören damit ihren eigenen Untergang herauf, sie kehren „das Unterste zuoberst“,⁴⁵⁷ setzen sämtliche gültigen Seinsordnungen außer Kraft. All dies bleibt auf einer narrativen Ebene unerklärt. Die Beweggründe der Verursacher bleiben ebenso im Dunkeln wie die Wesenheit des Opfers oder die Logik der Handlungsabfolge. Wir müssen also weg von einer vordergründigen Plausibilität narrativer Wissensrahmen, weg von menschlichen, ‚psychologischenʻ Beweggründen, hin zu eben jenem Wissen, in dem der Einsatz dieses Simulationsprogramms wie seine Folgen bedeutsam werden. Gewiss werden wir den Einwand Gustav Neckels dabei berücksichtigen müssen, der Leser des Baldermythos möge sich vor dem „Vorurteil“ hüten, dass „das, was er lese, […] ‚eigentlichʻ ganz anders gemeint [sei], als es klinge, oder es sei der entstellte Nachklang von etwas Vollkommenerem, Interessanterem und Verständlicherem.“⁴⁵⁸ Aber wir ahnen doch allerorten einen verklungenen Diskurs, der noch „zwischen den
„Hingegen Musik und Stoff zum Lachen sind zweierlei Arten des Spiels mit ästhetischen Ideen, oder auch Verstandesvorstellungen, wodurch am Ende nichts gedacht wird, und die bloß durch ihren Wechsel, und dennoch lebhaft vergnügen können; wodurch sie ziemlich klar zu erkennen geben, daß die Belebung in beiden bloß körperlich sei, ob sie gleich von Ideen des Gemüths erregt wird, und daß das Gefühl der Gesundheit, durch eine jenem Spiele correspondirende Bewegung der Eingeweide das ganze, für so fein und geistvoll gepriesene Vergnügen einer aufgeweckten Gesellschaft ausmacht. Nicht die Beurtheilung der Harmonie in Tönen oder Witzeinfällen, die mit ihrer Schönheit nur zum nothwendigen Vehikel dient, sondern das beförderte Lebensgeschäft im Körper, der Affect, der die Eingeweide und das Zwerchfell bewegt, mit einem Wort das Gefühl der Gesundheit (welche sich ohne solche Veranlassung sonst nicht fühlen läßt) machen das Vergnügen aus, welches man daran findet, daß man dem Körper auch durch die Seele beikommen und diese zum Arzt von jenem brauchen kann“ (AA V, Kritik der Urtheilskraft, Kant 1900 ff., S. 332). Gvozdeva und Röcke 2009, S. 26 f. Heinrich 1986, S. 26. Heinrich 1986, S. 26. Neckel 1920, S. 4.
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2 Methodische Vorüberlegungen
Zeilen“ zu uns spricht, subkutane, „strukturelle[ ] Bedingungen“,⁴⁵⁹ auf denen der Baldermythos ruht. Deren Aufdeckung wird nicht unbedingt Vollkommeneres, aber zweifelsohne Anderes, zu irgendeinem Zeitpunkt anders Gemeintes zum Vorschein bringen.
Sarasin 2006, S. 60.
3 Der Glanz des mythischen Körpers 3.1 Der weiße Balder In Snorris Charakterisierung erscheint Balder zunächst einmal als durchaus unheidnischer Vertreter des altnordischen Götterpantheons. Er hat nichts von der unerschütterlichen Präpotenz eines Thor, von der gefährlichen Heimtücke eines Odin, skrupellose sexuelle Exzesse nach Art eines Freyr sind ihm offenbar fremd. Balder ist ,gut‘, ja „der beste“, er ist der schönste, klügste, milde, barmherzig, „alle rühmen ihn“. Keine andere nordische Gottheit (respektive Göttin!) findet sich bei Snorri, die er mit dermaßen nahezu hymnischen Lobesbezeugungen überschütten lässt: Der Hohe sagte: „Ein zweiter Sohn Odins ist Balder, von dem nur Gutes zu erzählen ist. Er ist der beste, und alle rühmen ihn. Er ist von Gestalt so schön und hell, daß von ihm ein Leuchten ausgeht. Eine Pflanze ist so weiß, daß sie mit Balders Augenbrauen verglichen wird. Sie ist die weißeste aller Pflanzen, und daran kannst du seine Schönheit erkennen, sowohl die seines Haares als auch die seines Körpers. Er ist der klügste Ase, der redegewandteste und am huldvollsten. Aber mit ihm verbindet man die Eigenschaft, daß seine Entscheidung keinen Bestand haben kann. Er wohnt an dem Ort, der Breidablik heißt; der ist im Himmel. An diesem Ort kann nichts unrein sein, so wie hier gesagt wird: Breidablik heißt es dort, wo sich Balder / eine Halle errichtet hat, auf dem Land, / wo ich liegen weiß die wenigsten Fluchrunen“ (Gylf 22).¹
Ein besonderer Glanz, eine ,Weißheit‘, eine besondere strahlende Schönheit als auffallendstes, körperliches Merkmal zeichnet ihn aus ebenso seine Heimstatt selbst, Breiðablik, („das weithin Glänzende“). Sie liegt im Himmel, es gibt hier keine feiknstafi, „Fluchrunen“, „Unheilsstäbe“, so heißt es, was Snorri explizit als Abwesenheit von Unreinheit versteht (Í þeim stað má ekki vera óhreint). Die Weißheit und das strahlende Leuchten bilden ganz offenbar eine konventionalisierte, selbstverständliche Assoziationskette mit Schönheit. Bei Snorri ist Balders Weißheit die Weißheit und Helligkeit von Haaren, Augen und Haut, die Verkörperung einer idealen Physis, aber nicht nur das, sondern gerade auch einer Vollkommenheit und Schönheit innerer Werte, intellektueller wie moralischer Fähigkeiten: Redegewandtheit, Barmherzigkeit, Güte; ein beeindruckender Katalog an hervorragenden, positiven Eigenschaften, nur etwas getrübt durch die rätselhafte Erklärung, dass gerade das Urteil jenes Ausbunds an Perfektion keinen Bestand haben könne. Der Ausdruck dómr „(Gerichts)urteil, Entscheidung“ scheint wohl auf die Verbindlichkeit eines wie auch immer gearteten
Hár segir: „Annarr son Óðins er Baldr, ok er frá honum gott at segja. Hann er beztr ok hann lofa allir. Hann er svá fagr álitum ok bjartr svá at lýsir af honum, ok eitt gras er svá hvítt at jafnat er til Baldrs brár. Þat er allra grasa hvítast, ok þar eptir mátþu marka hans fegrð bæði á hár ok á líki. Hann er vitrastr Ásanna ok fegrst talaðr ok líknsamastr, en sú náttúra fylgir honum at engi má haldask dómr hans. Hann býr þar sem heitir Breiðablik. Þat er á himni. Í þeim stað má ekki vera óhreint, svá sem hér segir: Breiðablik heita / þar er Baldr hefir / sér of gerva sali, / í því landi / er ek liggja veit / fæsta feiknstafi.“ https://doi.org/10.1515/9783110789140-004
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
Rechtsakts zu verweisen, ein Urteilsspruch vielleicht, aber wer verhängt diesen? Selbstredend wurde Balder als dieser wankelmütige Rechtssprecher und Urteilsverkünder aufgefasst. Wie könnte er aber dann, wie manches Mal erwogen, ausgerechnet in der Funktion eines Rechtsgottes verstanden werden? Oder war womöglich gar nicht sein eigenes, sondern das über ihn bestimmte Urteil gemeint, das nicht gehalten, nicht heil oder unverletzlich gehalten werden konnte? Einen merkwürdig zentralen Platz in Snorris Beschreibung von Balder nimmt der Vergleich mit einer Blume ein, „mit der weißesten aller Pflanzen“, wie es dort heißt. Die landläufige Kamille trägt bis heute im Norden im Volksmund den Namen Baldersbrá, „Balders Augenwimper“ (oder „Braue“),² und hat wohl, wenn auch vielleicht eher spät, ihren Namen dem lichten Gott Balder zu verdanken: Die weißen, strahlenförmig angeordneten Blütenblätter sowie der gelb schimmernde Fruchtstand mögen eine durchaus passende Assoziation mit Balders leuchtenden Augen, umgeben von einem Kranz an strahlend weißen Wimpern, abgegeben haben. Aber, wie schon Friedrich Kauffmann früh bemerkt, dieser Vergleich ist bei weitem weniger selbstverständlich und ,natürlich‘, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn unabhängig davon, dass die Kamille ein eher unauffälliges botanisches Erscheinungsbild hat und Snorris überschwängliche Beschreibung hier tatsächlich eher befremdet, der Vergleich passt gerade nicht zur vorgeblich „volkstümliche[n] Art“,³ wie Kauffmann es nennt, und meint damit wohl seine konkrete, unmittelbare ,Alltagstauglichkeit‘: Snorri bezieht nämlich das Aussehen der Kamille auf die ganze Erscheinungsform des Gottes, keineswegs nur die Augen, auch Körper und Haupthaar, aber dann wirkt der Vergleich wenig anschaulich, in der Tat irgendwie „gezwungen und seltsam“,⁴ wie überhaupt „die lobenswerte Reinheit und die leuchtende Körperschönheit“ irgendwie Verdacht erwecke, es liege jedenfalls ein „besondere[r] verdächtige[r] Akzent“ darauf.⁵ Warum hebt Snorri diese körperliche Eigenart derart hervor? Und warum der Blumenvergleich, der einzige seiner Art, noch dazu bei einem altnordischen Krieger, wo doch Blumenschönheit, deren Formgebung und Ästhetik nicht einmal für weibliche germanische Personennamen bildgebendes Konzept war?⁶
Vgl. Kauffmann 1902, S. 61. Kauffmann 1902, S. 61. Kauffmann 1902, S. 62. Kauffmann 1902, S. 58 f. So bemerkt Rudolf Hirzel in seiner Untersuchung über antike griechische Namen, dass die Blumenwelt gerade in Zeiten „feinerer Gesittung“ (Hirzel 1918, S. 76) stets weibliche Schönheit und Lieblichkeit im Namenmaterial (vgl. z. B. „Myrrhine“, „Anthemis“, „Myrto“, „Astaphis“) widergespiegelt habe. Ausdrücklich nimmt er jedoch die „rauer gearteten Deutschen“ (Hirzel 1918, S. 76) der alten Zeit davon aus. Ihnen seien solche Namen schon bei der weiblichen Namensgebung fremd gewesen. Auch Jacob Grimm notiere, dass unter der großen Menge althochdeutscher und altnordischer Frauennamen, soweit sie uns erhalten seien, fast keine auf Pflanzen zurückzuführen seien (vgl. Hirzel 1918, S. 76). Siehe Grimm 1865, S. 398: „[I]n der sinnesart unsrer vorfahren, sobald wir sie in der geschichte auftreten sehn, scheint eine solche strenge und tapferkeit vorzuwalten, dasz ihre phantasie die bilder zu eigennamen lieber mutigen thieren entnahm, als aus der ruhigen und leidenden pflan-
3.1 Der weiße Balder
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Merkwürdig fremd nimmt sich also diese Gleichschaltung aus, und ausdrücklich geht es gerade nicht um wie auch immer geartete, magisch wirkmächtige Fähigkeiten der Pflanze. Kauffmann möchte darin eine „fremde[ ] Stilart“⁷ sehen, er vermutet christliche Einflussnahme als Teil eines Prozesses der Anähnelung oder Nachahmung, der schließlich den heidnischen Gott Balder zu einer Art Christus-Surrogat werden ließ. Sophus Bugge sieht in Balders außergewöhnlichem Erscheinungsbild grundsätzlich das christliche Konzept des „weißen Christ“, Hvíta-Kristr, verkörpert. Die strahlende, reine Schönheit rücke Balder nicht nur rein äußerlich in die Nähe des Christengottes, der Baldermythos als solcher, zumindest so wie er uns aus den isländischen Quellen bekannt sei, sei „im Hauptaspekt und Charakter“ christlich.⁸ Merkwürdig genug, scheint aber die christliche Tradition gar keinen ,weißen‘ Christus gekannt zu haben ‒ außer im Norden, und so nimmt Åke V. Ström ganz im Gegenteil eine umgekehrte Entlehnungsrichtung an: Wenn hier und anderswo behauptet wird, daß Balder seine helle [sic] Züge von Christus übernommen hat, dürfte das Umgekehrte richtig sein: in der christlichen Überlieferung wird Christus nie „hell“ oder „weiß“ genannt, außer im Norden, wo er, meine ich, nach Muster von Balder („bjartr at lyser af honum“, „Baldrs brár er allra grása hvítast“, Snorra Edda, Gylfaginning 18) oder Heimdall („hvítastr ása“, Þrymskviða 15) den Namen Hvíta-Kristr (z. B. Sighvatr Þorðarson, Vísur 25) oft führt.⁹
Ein Einwurf, der durchaus bedenkenswert ist. Er zeigt gleichzeitig auch die notorische wie problematische Selbstverständlichkeit, mit der eine Entlehnung von sprachlichen wie religiösen Symbolen nur in einer Art Gefälle vom überlegenen ‒ christlichen ‒ Denksystem hin zum unterlegenen, paganen angenommen wird. Den ,weißen Christus‘ werden wir als unmittelbare Vorlage für den paganen Gott Balder also zurückweisen müssen. Ohnehin vermerkt Bugge selbst ausdrücklich: „Balder ist […] nicht von allem Anfang an Christus [original gesperrt].“¹⁰ Auch er vermutet eine „ältere Auffassungsform [original gesperrt]“ hinter jener, seiner Ansicht nach jüngsten, letzten Aktualisierung, was nicht zuletzt die komplett abweichende Form der Erzählung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo zeige.¹¹
zenwelt schöpfte.“ Ähnlich auch Gustav Freytag: „In diesem Sinne haben die Germanen, und sie allein, den Frauen mit Vorliebe Namen gegeben, welche auf Kampf und Schlacht deuten. Von den Blumennamen der Inder und den klangvollen Schmucknamen der Hellenen, welche Glanz und Schönheit des Weibes bezeichnen, ist unter den Deutschen wenig zu finden. Speerlieb, Kampfwalterin, Wolfstraut klingen die Namen ihrer Frauen“ (Freytag 1859 – 1867, S. 87). Kauffmann 1902, S. 59. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 34 f. Aus diesem Grunde würden auch keine Taten von Balder besungen. „Von seiner Wirksamkeit im Leben ist fast kein äusserer Zug zu berichten: alles Gewicht wird auf seinen Tod gelegt. Und gerade wie Christus stirbt Baldr in seiner Jugend“ (Bugge 2012 [1889], S. 36). Ström 1969, S. 247 f. Bugge 2012 [1889], S. 84. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 84.
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
Ganz anders wiederum Lois Bragg, die in Balders ‚unnatürlicher‘ Weißheit gar eine Krankheit, einen genetischen Defekt vermuten möchte: „[W]e get the impression that he is an albino“;¹² einen Ausdruck, den sie keineswegs metaphorisch versteht, sondern durchaus im Sinne einer körperlichen Einschränkung, seine augenscheinliche „unmarkedness“,¹³ seine „perfect (hyper?) normativity“ mache ihn gar zum eigentlichen, einzigen ,Behinderten‘ in der Götterwelt: „In the mythic mind, can perfect normativity ever have a function other than to cause or reference disappearence or oblivion?“¹⁴ Leider bleibt sie uns die Antwort auf diese rhetorische Frage schuldig, zumal Balder ja trotz seines Todes am wenigsten in Vergessenheit gerät, er ist wohl der ‚ewig Abwesende‘, aber doch auf merkwürdige Weise stets präsent.¹⁵ Wir werden uns ihre Argumentation später noch genauer betrachten müssen. Kaum wird man ihrer Einschätzung zustimmen können, dass Göttlichkeit (zumindest nordische) generell mit Körperbehinderung, körperlichen Einschränkungen einhergeht, die sie entsprechend für jeden einzelnen Gott des Asenpantheons ausfindig macht. Bedenkenswert aber ist ihr Hinweis, dass Hár (einer der drei fiktiven Erzähler in der Rahmenhandlung der Snorra Edda) wohl für alle Götter eine ausführliche Charakterisierung liefert ‒ bei Balder scheint er indes ein nicht unwichtiges Detail stillschweigend zu übergehen: „Oddly, Hár omits to mention that Baldur is dead.“¹⁶
3.2 Balder der Gute Aber Balder ist auch Baldr inn góða „Balder der Gute“ (Gylf 49), gar ist er der „Beste“, Baldr er beztr ‒ womit mag er sich diese Exzellenz verdient haben? Schon Neckel betont, dass diese Eigenschaft zunächst keineswegs selbstredend sei und durchaus der Erklärung bedürfe.¹⁷ Seltsam vage erscheint dieser Ausdruck offenbar auch ihm, Snorri halte „in der Schwebe“, er deute nur an, „Wissenden verständlich, während die andern nichts merken.“¹⁸ Andererseits sieht er darin einen überlieferten, formelhaften Wortlaut, etwa „Baldr enn bezti“. ¹⁹ Neckel vermutet also ein ,Mehr‘ an Bedeutung, das aus dem synchronen Befund so nicht mehr ersichtlich ist, durchaus möglich, dass Snorri selbst nicht mehr zu sagen wusste zu diesem formelhaften, erstarrten Motiv. Aber warum sollte er Informationen bewusst zurückhalten, doch wohl gewiss nicht
Bragg 2004, S. 82. Bragg 2004, S. 82. Bragg 2004, S. 82. Vgl. Lindow 1997, S. 22. Bragg 2004, S. 82. Neckel 1920, S. 103: „Denn eine Wendung wie ,er ist der Beste‘ ist keineswegs eine gewöhnliche, vielmehr eine recht auffällige Form lobender Kennzeichnung.“ Vgl. Neckel 1920, S. 101. Vgl. Neckel 1920, S. 103.
3.2 Balder der Gute
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wegen der „schelmische[n] Eigenart seines Stils“²⁰ (was immer das bedeuten mag), sondern weil er möglicherweise nicht mehr darüber sagen wollte: Die Kombination Formelhaftigkeit und Redundanz bei gleichzeitiger Vagheit ist jedenfalls auffällig, Tabukonzepte sind auf diese Art modelliert. Neckel denkt nicht in diese Richtung, er findet bekanntlich einen anderen Weg: Balder ,der Gute‘ werde gelobt, weil seine Untertanen es bei ihm ,gut‘ hätten, weil er ihnen ,Gutes‘ erweise. Und mit dem ,Guten‘ sei das „Nützliche, das Erfreuende, d. h. im Sinne des Bauern“²¹ gemeint, nicht die sittlichen Werte stünden dabei im Vordergrund, sondern die Herrscherqualitäten, die Herrschertugenden eines Fürsten.²² Somit seien Balders Eigenschaften der „Klugheit, Beredsamkeit und Hilfsbereitschaft“ zunächst einmal nichts „Übermenschliches“, sie gehörten vielmehr „zu den typischen Eigenschaften eines ,guten‘ Fürsten.“²³ Balder erscheine als Stilisierung des ,guten Fürsten‘ und Königs wie etwa König Hákon (10. Jhr.), der ob dessen „froher Laune, seiner Leutseligkeit, Beredsamkeit und Fürsorge für die Rechtspflege“ den Beinamen ,der Gute‘ erhalten habe.²⁴ Auf diese Weise möchte auch Ria van Loenen Balder gerade „als Erzeugnis von Snorri Sturlusons eigener Zeit und eigener Umwelt“²⁵ fassen. Balders bemerkenswerte körperliche wie geistige Exzellenz sieht sie wie Neckel nicht christusgleich, sie stellt sie vielmehr zu den mittelalterlichen Königstugenden, so wie sie in Fürstenspiegeln und überhaupt in der höfischen Literatur allgemein verbreitet gewesen seien. Es seien eben jene königlichen Herrschertugenden in Balder verkörpert, jene Idealvorstellungen des mittelalterlichen Fürsten, wie sie letztendlich in der römischen Literatur der Antike, in der christlichen Tradition der Kirchenväter und der Heiligen Schrift gegründet seien.²⁶ Wenn auch ursprünglich durchaus religiös motiviert, seien diese längst Teil einer typisierten, formelhaften, profanen Sprache mittelalterlicher Wissensbestände geworden. Dazu gehört eine äußere „Schönheit“, pulchritudo, die nun mit der Schönheit innerer Fähigkeiten und Vorzüge korreliert, littera et mores („Bildung und Ethik“), eloquentia („Beredsamkeit“) und daneben eine besondere Form der christlichen Tugend, die „Gnädigkeit“. Darauf scheint ja in der Tat gerade in der Balder-Charakterisierung das schon immer im christlichen Verdacht stehende Epitheton líknasamr („barmherzig“) hinzuweisen. Kurz, Balders Charakterisierung entspreche in jeder Hinsicht den Ansprüchen der Konungs skuggsja, dem altnordischen Fürstenspiegel des 13. Jhs.²⁷ Man kann dieser Argumentation in manchen Punkten Plausibilität einräumen, es geht um Idealvorstellungen, Idealmodelle eines mittelalterlichen Kulturkreises. Bal-
Neckel 1920, S. 101. Neckel 1920, S. 98 f. Neckel 1920, S. 98 f. Neckel 1920, S. 100. Vgl. Neckel 1920, S. 99. van Loenen 1992, S. 93. Vgl. van Loenen 1992, S. 93. Vgl. van Loenen 1992, S. 94.
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der erfüllt sie offenbar bedingungslos. Er ist die personifizierte Vollkommenheit, die normative Mitte. Er verkörpert Heil und Vollständigkeit, die komplette Abwesenheit von Defizienz. Weniger plausibel allerdings scheint van Loenens Versuch, jene rätselhafte Erklärung Snorris, Balders Entscheidungen seien nicht von Dauer, in diesen Rahmen einzuordnen. Das sei eben die bedeutsame Königstugend der humilitas, das demütige Bewusstsein des Königs, keine „unbezweifelbaren Gewißheiten“ festlegen zu können.²⁸ Ganz unwahrscheinlich schließlich ihre Interpretation der auffallenden Reinlichkeit, auf die bei Balder immer wieder verwiesen werde (sei es in seiner Gestalt selbst oder seinem Aufenthaltsort): Sie ziele auf jene wünschenswerte, ideale castitas ab, die „Reinlichkeit“ des Körpers als Kennzeichen höfischer, idealer Lebensart.²⁹ Gewiss dürfte nichts ferner liegen, als hier wie auch immer geartete (moderne) Hygienevorstellungen zu vermuten. Es mag Belehrungen und Ratschläge für junge Fürsten in diese Richtung gegeben haben, aber das Konzept Reinheit in seiner ausschließlichen Fokussierung auf Reinlichkeit, also körperliche Sauberkeit, ist die letzte, jüngste, moderne Aktualisierung dieses Wissensrahmens.
3.3 Der Erntegott Neckel möchte die äußeren Eigenschaften „Schönheit“ und „Helligkeit“ zunächst einmal ganz konkret als „die blonde, weißhäutige, also die germanische Rasseschönheit“³⁰ interpretieren, um im gleichen Atemzug darauf hinzuweisen, dass Balders Charakterisierung deutlich „über die Grenze dessen, was noch als menschlich betrachtet werden“ könne,³¹ hinausgehe. Man müsse sie in einem „abergläubisch [kurs. d.Verf.] erweiterten Sinne“³² sehen, so werde eben ein „wunderbares Wesen, ein Gott“³³ geschildert. Das übermenschliche Leuchten, das von ihm ausgehe (lýsir af honum), passe dann ebenso zur Erscheinung eines Ernte- und Friedensgottes wie beim Gott Freyr, der schließlich auf ganz ähnliche Weise verehrt worden sei: Endlich paßt auch Baldrs leuchtende Erscheinung zu dem Ernte- und Friedensgott. Zwar nennen die Gedichte nicht den Gott selbst den Leuchtenden, aber sie wissen, daß von dort, wo er ist, Glanz ausgeht, denn sie nennen seine Wohnstatt ,Breitglanz‘ (Breiðablik, Grm 12), und offenbar denkt sich die Völuspá als Herrn des goldgedeckten Saales, der schöner (fegra) als die Sonne ist, den Baldr. Der schimmernde Gott und das schimmernde Haus des Gottes sind Spielarten einer und derselben mythischen Anschauung. Was dieser zugrundeliegt, ist natürlich der leuchtende Sonnenhimmel, der die Vorbedingung und Begleiterscheinung der guten Ernte ist und auch in der unmittelbaren Wirkung auf das Gefühl das Wohlwollen der Gottheit empfinden läßt. Den Zu-
Vgl. van Loenen 1992, S. 99. Vgl. van Loenen 1992, S. 99. Neckel 1920, S. 100. Neckel 1920, S. 100. Neckel 1920, S. 99. Neckel 1920, S. 100.
3.3 Der Erntegott
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sammenhang zwischen Himmelslicht und Wärme auf der einen, Erntesegen und Frieden auf der andern Seite enthalten uns auch die Quellen nicht vor, nur daß sie ihn nicht auf Baldr, sondern auf Freyr [orig. gesperrt] beziehen.³⁴
Der ,gute‘, strahlende Gott Balder sei also für „schönes Wetter und reiche Ernten“ zuständig gewesen,³⁵ wobei die Isländer von dieser Tätigkeit gar nichts mehr gewusst hätten, sie entsprechend in Snorris Charakterisierung auch nicht auftauchen könne. Man habe nichts mehr gewusst von einem Herrschafts- oder Zuständigkeitsbereich des Balder, aber man könne wohl annehmen, dass dieser ähnlich gewesen sei dem des Gottes Freyr.³⁶ In der Tat fällt auf, dass Freyr mit ganz ähnlichen Epitheta und Formeln bedacht wird. Freyr ist ja ebenso „der Beste“, Freyr er betstr allra ballriða (vielleicht der „beste Reiter“), aber Freyr ist auch der „Helle, Strahlende“, biartr (Vsp 53), skírr (Grm 43), „der Schimmernde“, sein Diener ist Skírnir in nämlicher Bedeutung. Neckel sieht darin letztendlich die Eigenschaften eines Sonnengottes,³⁷ im Grunde nicht weit entfernt von den frühen naturmythologischen Interpretationsansätzen, indem er die Assoziationskette ‚Strahlenʻ, „Himmelslicht“, „Wärme“ mit „Erntesegen und Frieden“³⁸ erweitert und damit im Sinne seines Fruchtbarkeitskonzeptes funktionalisiert. Neckel versteht den Gott Balder als Fruchtbarkeitsgott, seinem Ursprung nach allerdings nicht einheimisch, germanisch, vielmehr als Teil einer übergeordneten Götterkategorie, die seinerzeit unter dem Namen dying and rising gods im Fokus zahlreicher religionsgeschichtlicher Untersuchungen lag. Die so genannten ,sterbenden und wiederauferstehenden Götter‘ des Ostens sind eine religionswissenschaftliche Kategorie mit bunt zusammengewürfelten, zumindest prima facie recht unterschiedlichen göttlichen Vertretern, für die Jonathan Z. Smith (einer ihrer schärfsten Kritiker) folgende Definition gibt: „,Dying and rising gods‘ is a generic appellation for a group of male deities found in agrarian Mediterranean societies who serve as the focus of myths and rituals that allegedly narrate and annually represent their death and resurrection.“³⁹ Es ist ein Religionskonzept, das hauptsächlich mit dem Namen des Religionsgeschichtlers, Mythensammlers und Komparatisten James George Frazer (1854– 1941) und seinem berühmtesten Werk The Golden Bough verbunden ist. Allerdings ‒ „once a major topic of scholarly investigation“,⁴⁰ mit ungeheurem Einfluss in der Fachwelt (und bis heute außerhalb)⁴¹ ‒ sind die ‚sterbenden und wiederauferstehenden Götter‘
Neckel 1920, S. 104. Vgl. Neckel 1920, S. 103. Vgl. Neckel 1920, S. 102 f. Vgl. Neckel 1920, S. 104. Neckel 1920, S. 104. Smith 1987, S. 521. Smith 1987, S. 521. „Frazer’s view can be traced back to the first edition of The Golden Bough (1890) and then in Adonis Attis Osiris (1906), which was incorporated as part 4 of the third edition of The Golden Bough (1911–
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
bereits früh in die Kritik geraten. Allzu vereinfachend, allzu ,gleichmacherisch‘ habe Frazer nicht nur die zeitlichen Unterschiede, sondern gerade auch die kulturellen, kontextuellen Eigenarten in seinen Vergleichen unberücksichtigt gelassen. Schon aus methodischen Gründen schien damit seine Kategorie kaum mehr verwertbar und wurde seit Ende des letzten Jahrhunderts bestenfalls als Teil der Forschungsgeschichte betrachtet, kaum mehr als eine Fiktion, „imaginative reconstructions“, „a misnomer“⁴² der frühen Religionswissenschaft. Die berechtigte Kritik an der frühen, transkulturellen Komparatistik ist bereits angesprochen worden. Methodisch konkretisiert bedeutet dies auch hier: Nicht die Suche nach Gleichheit schließt die Legitimität von Vergleichen aus ‒ es liegt im Wesen der Sache, bei Vergleichen das Gleiche zu suchen und augenscheinliche Unterschiede (zunächst einmal!) unberücksichtigt zu lassen. Zuvorderst geht es um die Legitimität und Brauchbarkeit des tertium comparationis. Bevor wir also Frazers Kategorie gänzlich verwerfen wollen, müssen wir diese Frage stellen: Hinsichtlich welches Aspektes (welcher Aspekte) konstruiert Frazer eine Gleichheit und damit eine Kategorienzugehörigkeit? Die prominentesten Vertreter dieser Göttergruppe sind der ägyptische Mumiengott Osiris, der ugaritische Sturmgott Baal, der mesopotamische Dumuzi (Tammuz), der anatolische Attis und der noch spätere Adonis.⁴³ Alle diese Wesenheiten (nicht einmal alle besitzen göttlichen Status) verbindet ein vorzeitiger, grausamer, unsäglicher, tragischer Tod sowie unterschiedlichste Restituierungsmaßnahmen, Wiedererweckungen, die auf gewisse Weise gelingen, teilweise gelingen oder aber ganz offensichtlich zum Scheitern verurteilt sind (die bezeichnenderweise von Frazer unberücksichtigt bleiben). Dennoch möchte Frazer darin den „jährliche[n] Tod und das Wiederaufleben der Vegetation“ dargestellt sehen, ein Naturdrama, das sich „den Menschen in jedem Stadium der Unkultur und Zivilisation“ aufgedrängt habe.⁴⁴ Wohl erst in einer letzten Stufe sei der „sterbende[ ] und wiederauflebende[ ] Gott als das gemähte und das neuwachsende Korn“ gedeutet worden.⁴⁵ Zunächst sei es wohl auch das „zarte Gras“ gewesen, das den Herden der Hirten gesprossen sei, ja selbst der „Geist der Wurzeln […] und der Früchte“.⁴⁶ Osiris galt dabei lange Zeit als Prototyp der geglückten Auferstehung und Wiederkehr, seine enge Verbindung zum fruchtbarkeitsspendenden Nil, zum Kornwachstum schien ihn ohnehin zu prädestinieren zum Fruchtbarkeitsgott par excellence. Auch Tammuz und Adonis sieht Frazer als Korngeister, Gottheiten der Vegetation.⁴⁷ Interessant genug, verweist er in diesem Zusam-
1915). In its time this work was immensely popular, its influence spreading beyond scholarly circles, into the wider culture […]“ (Smith 2001, S. 105). Vgl. Smith 1987, S. 521. Vgl. Smith 1998, S. 260. Vgl. Frazer 1989, S. 492. Vgl. Frazer 1989, S. 492. Frazer 1989, S. 494. Vgl. Frazer 1989, S. 497.
3.3 Der Erntegott
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menhang (indes von ihm selbst weiters kaum forciert) auf ein Element der Versöhnung, das gerade im Kult für diese Korngötter hervortrete: Immer mehr wurden ihre [die Adonisanhänger, d. Verf.] Gedanken und Kräfte durch das Haupterzeugnis ihrer Tätigkeit, das Korn, in Anspruch genommen. Immer mehr begann die Versöhnung der Fruchtbarkeitsgottheiten im allgemeinen und des Korngeistes im besonderen der Mittelpunkt ihrer Religion zu werden. Das Ziel, das sie sich bei Abhaltung der Zeremonien setzten, war ein durchaus praktisches. Es war kein unbestimmtes poetisches Gefühl, das sie veranlaßte, die Wiedergeburt der Vegetation mit Freuden zu begrüßen und ihr Sterben zu betrauern. Der empfundene oder gefürchtete Hunger war die Triebfeder der Adonisverehrung.⁴⁸
Die ägyptischen Mäher hätten bei der Kornernte unter Klagen die Isis angerufen, während die Frauen zuhause „Krokodilstränen“ weinten, entsprechend könne etwa der Tod des Adonis, auf diese Weise ausgelegt, nicht nur den „natürlichen Verfall der Vegetation“ durch übliche klimatischen Bedingungen bedeuten, sondern gerade auch die „gewaltsame Vernichtung des Korns durch den Menschen“.⁴⁹ Und so erscheine es wohl möglich, „daß die Versöhnung des Korngeistes leicht bis zu einem gewissen Grade in die Verehrung der Toten“ übergegangen sei.⁵⁰ Dahinter vermutet er explizit die rachsüchtigen Totengeister jener Opfer, die bei diesen Riten zu Tode gebracht wurden. Aber er greift auch noch weiter aus und verweist auf die großen Totenfeiern in Athen, die im Frühling abgehalten wurden, wenn alle Blumen in Blüte standen und den ruhelosen Geistern, die zu dieser Zeit aus ihren Gräbern gestiegen kamen, die Häuser mit „Stricken,Wegedorn und Pech“ versperrt werden mussten.⁵¹ So hält Frazer es immerhin für möglich, dass sich in den „einfältigen Gemütern“ der syrischen Bauern die Vorstellung eines „sich neubelebenden Geist[es] der Vegetation“ mit dem „sehr konkreten Begriff der Geister der Toten“ verbinden konnte.⁵² Wir werden diese hochinteressante gedankliche Verbindung fürs Erste zurückstellen müssen, für den nordischen Gott Balder, für Freyr wie für alle anderen (östlichen) Götter wurde sie ohnehin nicht in Anschlag gebracht, hier stand ja neben dem Fruchtbarkeitskonzept insbesondere die Wiederkehr im Vordergrund, und es ist diese Tradition, die auch den Gott Balder (zumindest für lange Zeit) als adäquatesten Vertreter der Kategorie der sterbenden und wiederauferstehenden Götter im Norden erscheinen ließ. Neckel baut darauf seine weitreichende, überaus einflussreiche Interpretation der Balderüberlieferung auf: Nicht mehr der sterbende Christus, sondern die sterbenden Götter des Ostens galten nun als plausibelstes Interpretationsmodell, das er freilich ebenso, kaum anders als Sophus Bugge zuvor, als fremdes, ‚ungermanischesʻ Konzept erkennen will: „Von unserm Standpunkte der germanischen Alter-
Frazer 1989, S. 493. Frazer 1989, S. 493. Frazer 1989, S. 494 f. Vgl. Frazer 1989, S. 495 f. Vgl. Frazer 1989, S. 496.
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
tumsforschung ist es bereits eine wichtige Erkenntnis, auch nur zu wissen, daß der Ursprung der Baldertraditionen außerhalb des germanischen Kulturbereichs liegt.“⁵³ Kurt Schier verweist indes – zum ersten Mal in der nordistischen Forschung – auf die tiefen methodischen Probleme, die gerade im Zusammenhang mit dem nordischen Material auftauchen: Als zentrales Motiv sowohl der isländischen und dänischen Balder-Überlieferung als auch der Freyr-Tradition nach der Ynglinga saga erweist sich die Vorstellung, daß diese Gottheiten sterben oder gewaltsam ums Leben kommen und danach unter großer Trauer bestattet werden. Von einer Wiederauferstehung ist ebenso wenig die Rede wie davon, daß ein Nachfolger an ihre Stelle tritt und ihre Funktion übernimmt. Die Versuche, die Überlieferung von Balder und Freyr mit dem aus altorientalischen Mythen abgeleiteten Frazerschen Typus „sterbende und wiederauferstehende Vegetationsgottheit“ zu vergleichen, führten meist zu der Frage, wie das Fehlen des Motivs der Wiederkehr in den germanischen Texten zu erklären sei, und eben auf diese Frage konnte bisher keine überzeugende Antwort gefunden werden. Ehe man aber deshalb eine typologische Übereinstimmung mit religiösen Vorstellungen und Traditionen anderer Kulturen, insbesondere mit den sogenannten „Vegetationsgottheiten“ des Alten Orients ganz ausschließt, muß man klären, ob Tod und Auferstehung tatsächlich die wesentlichen, einander bedingenden Elemente in den Mythen dieser orientalischen Gottheiten sind, das heißt also, ob der Typus „sterbende und wiederauferstehende Vegetationsgottheit“ zutreffend definiert und auf diese orientalischen Gottheiten anwendbar ist. Denn wenn dies so sein sollte, hätte ein Vergleich derartiger orientalischer Gottheiten mit Balder und Freyr wegen des Fehlens des Wiederauferstehungsmotivs in den nordischen Texten die wesentliche Grundlage eingebüßt, und Erklärungsversuche in dieser Richtung brauchten nicht mehr ernsthaft diskutiert zu werden. Andererseits halte ich es aber auch für unwahrscheinlich, daß man aus den germanischen Überlieferungen allein der Lösung dieser Frage näherkommen kann.⁵⁴
Schier plädiert also zumindest für den Versuch einer Neudefinition der Frazer’schen Kategorie, um so die außergermanischen Vergleichsmöglichkeiten für den Baldermythos zu retten. An gegebener Stelle werden wir noch einmal darauf zurückkommen müssen, selbst wenn die extrem abschlägige Einschätzung der zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Forschung diesbezüglich kaum Hoffnung zu machen scheint. Liberman lehnt den Vergleich Balders mit den so genannten Fruchtbarkeitsgöttern des Ostens wohl ab, kann sich aber offenbar problemlos eine Fortsetzung des naturmythologischen Modells (wenn auch modifiziert und erweitert) mit Balder als (dann aber ,einheimischen‘) Himmelsgott vorstellen. Affinitäten etwa zum ägyptischen Osiris will er nicht in Abrede stellen, aber Balders Haupteigenschaften sieht er in „light and beauty“, und so denkt er nicht nur bei Balder, sondern gerade auch bei seinem Gegenspieler Hǫðr an eine positive, unterstützende Figur, an Beschützer,
Neckel 1920, S. 132. Schier 1995, S. 141 f. Allerdings hinterfragt Schier schon wesentlich früher, nahezu 30 Jahre zuvor, die Konzipierung Freyrs als zyklisch sterbende und wiederauferstehende Fruchtbarkeitsgottheit. Siehe seinen in dieser Hinsicht richtungsweisenden Aufsatz „Freys und Fróðis Bestattung“ (Schier 1968).
3.4 Der ‚schöneʻ Heimdallr
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„protectors of light and darkness respectively“.⁵⁵ Entsprechend kommt er zum Ergebnis: At some remoter time, Baldr and Hǫðr seem to have been worshipped as a sky god and a god of the underworld […]. Many important conclusions follow from this thesis. A sky god can be the master of the sun, light, rain, thunder, lightning, and vegetation. A chthonic deity is the ruler of the dead, darkness, mantic wisdom, and, like his celestial counterpart, of vegetation, because plants need both light and rain from above and rich soil from beneath.⁵⁶
In diesem Sinne bekommt die Germania dann sogar noch einen Fruchtbarkeitsgott dazu, Balder und Hǫðr, mit eben unterschiedlichen (lokalen) Wirkbereichen (,oben‘ ‒ ,unten‘), woraus sich, nach Liberman, auch deren grundsätzlicher Antagonismus erklären ließe: „A male deity making the earth green is equally useful in the sky and in the ground, and, wherever he resides, he needs a wife, for what is an unmarried god of vegetation?“⁵⁷ Und da nun jeder Mythos einen Plot brauche, sei es in diesem Fall eben die Rivalität zweier Götter um eine Frau.⁵⁸ Nun mag das cherchez la femme-Motiv durchaus ein hochkonventionalisiertes narratives Begründungsmodell sein, aber in diesem Zusammenhang erklärt es gerade nicht, warum die beiden lichtesten, schönsten und besten ‚Fruchtbarkeitsgötter‘ der Germania, Freyr und Balder, ausgerechnet in der (mythischen) Damenwelt hartnäckig, ja entrüstet abgewiesen werden.
3.4 Der ‚schöneʻ Heimdallr Trotz intensiver Erklärungsbemühungen muss Neckel allerdings zugeben: Altnordische Götter sind recht eigentlich nicht ‚schönʻ: Die Jugendschönheit und ihre Wirkung auf die Sinne haben zu allen Zeiten im Denken der Südvölker eine weit größere Rolle gespielt als in dem der Germanen. Schon aus diesem allgemeinen Grunde läge es nahe, den schönen Jüngling Baldr für einen Ankömmling aus südlicher Ferne zu halten.⁵⁹
Liberman 2004, S. 21. „If scholarship had remained true to its broad idea (Baldr is light, Hǫðr is darkness), it would have outlived the exegesis of nature and solar/lunar mythology with its dependence on storms, frost, thaw, sunsets, and the like, and perhaps have formulated a persuasive theory of the Baldr myth. But this did not happen because Baldr was identified too directly with the dying vegetation deities of the East (and ancient Greece), most famously so in Neckel’s 1920 book“ (Liberman 2004, S. 22). Liberman 2004, S. 21 f. Liberman 2004, S. 22. Vgl. Liberman 2004, S. 25. Neckel 1920, S. 137 f.
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
Nun dürfen wir wohl getrost davon ausgehen, dass die Germanen und Germaninnen bezüglich Körperreize und „Jugendschönheit“ nicht unbeeindruckbarer waren als andere Völker. Es könnte aber tatsächlich bedeuten, dass die ausdrückliche Erwähnung und Beschreibung von Körperschönheit nicht zu den key features eines kulturell festgelegten, formalisierten Beschreibungsmodells von germanischen Göttern gehörte. Dann aber sind gerade diese Ausnahmen besonders bedenkenswert. Neckel sieht sich dadurch in seiner These eines östlichen Kulturimports bestätigt. Aber auch die Vanengötter strahlen, wären also dann in diesem Sinne ,schön‘ zu nennen, die ‚weißenʻ Alben sind gar sprichwörtlich für ihre Schönheit.Was indes diese Argumentation am nachhaltigsten erschüttert: Ganz offensichtlich werden auch Wesenheiten mit der Eigenschaft des Strahlens und der ‚Weißheit‘ belegt, die als explizit hässlich und entstellt erscheinen, asozial, am wenigsten den Menschen geneigt. Wie sollte in diese Vorstellung der hvítan háls, der „weiße Hals“ Wielands (Vkv 2) passen, des bösartigen, elbenhaften, nicht zuletzt körperlich ausdrücklich devianten (,lahmen‘) Schmieds? Nichts liegt wohl für diesen ferner als die Anrede eines besonders „leutselige[n]“, humanitär gestimmten, ,schönen‘ Fruchtbarkeitsgottes.⁶⁰ So gilt es also zunächst einmal, jene vorgeblich schönen göttlichen Ausnahmen zu betrachten, insbesondere eine davon, die Neckel allerdings gar nicht erwähnt: Der Gott Heimdallr, der vǫrðr goða, der „Wächter der Götter“, wird mit diesem Epithet belegt. Er ist der „weiße Ase“ (hvíti Áss), ja der „weißeste aller Asen“, hvítastr ása (Þrkv 15). In dieser Denkkategorie müsste dann wohl Heimdallr als der schönste aller Götter verstanden werden, gar noch schöner als Balder. Die Interpretation der mythischen Ausgestaltung des Gottes Heimdallr, mit dem Balder Weißheit, Glanz und somit möglicherweise auch Schönheit teilt, hat nun seinerseits nicht geringe Probleme bereitet. Lange Zeit galt Heimdallr als „der rätselhafte Gott“.⁶¹ Wohl halten die nordischen Quellen eine Fülle von Informationen über ihn bereit, die allerdings ein höchst widersprüchliches Bild entwerfen.⁶² Es scheint, dass Siehe Neckel 1920, S. 98 f.: „Der Gott schwebt als Herr seiner Untertanen vor. Diese loben ihn einstimmig, weil sie es gut bei ihm haben; besser noch: weil er ihnen Gutes erweist. Das Gute ist das Nützliche, das Erfreuende, d. h. im Sinne des Bauern: Schutz gegen äußere Feinde und Rechtssicherheit, besonders Sicherheit vor Übergriffen des Fürsten selbst, dazu ein leutseliges Auftreten des letzteren.“ Vgl. den gleichnamigen Titel (Cöllen 2011; Cöllen 2015). Vgl. Gylf 27: Heimdallr heitir einn. Hann er kallaðr hvíti Áss. Hann er mikill ok heilagr. Hann báru at syni meyjar níu ok allar systr. Hann heitir ok Hallinskíði ok Gullintanni: tennr hans váru af gulli. Hestr hans heitir Gulltoppr. Hann býr þar er heitir Himinbjǫrg við Bifrǫst. Hann er vǫrðr goða ok sitr þar við himins enda at gæta brúarinnar fyrir bergrisum. Þarf hann minna svefn en fugl. Hann sér jafnt nótt sem dag hundrað rasta frá sér. Hann heyrir ok þat er gras vex á jǫrðu eða ull á sauðum ok allt þat er hæra lætr. Hann hefir lúðr þann er Gjallarhorn heitir ok heyrir blástr hans í alla heima. Heimdalar sverð er kallat hǫfuð. („Heimdall heißt einer, er wird der weiße Ase genannt. Er ist mächtig und heilig. Ihn gebaren neun Mädchen, und alle waren Schwestern. Er heißt auch Hallinskidi und Gullintanni, seine Zähne waren aus Gold. Sein Pferd heißt Gulltopp. Er wohnt in Himinbjörg nahe Bifröst. Er ist der Wächter der Götter, und sitzt am Himmelsrand, um die Brücke vor den Bergriesen zu schützen. Er braucht weniger Schlaf als ein Vogel und sieht in der Nacht wie am Tag hundert Meilen weit. Er hört auch, wenn das
3.4 Der ‚schöneʻ Heimdallr
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das Wissen um sein ursprüngliches Wesen verlorenging, auch Snorri scheint es nicht mehr recht verstanden zu haben. An der Stelle, an der Heimdallr mit einem Weißheitsepithet belegt wird, wird er ein ,Vane‘ genannt oder zumindest gedanklich an diese gerückt: Þa qvaþ þat Heimdallr, hvitastr ása, / vissi hann vel fram sem vanir aþrir (Þrkv 15).⁶³ Es sei eine nicht recht verständliche Stelle, so Cöllen, Heimdallr werde schließlich sonst nirgendwo zu den Vanen gerechnet, also nicht weiß und klug „wie andere Wanen“ sei er, sondern eher, wie Arnulf Krause übersetzen möchte, „wie sonst die Wanen“.⁶⁴ Aber damit ist kaum mehr erklärt, warum sollte Heimdallr im selben Atemzug mit den Vanen (schließlich präsumtive Fruchtbarkeitsgötter) genannt werden, wo er doch gemeinhin als „Wächter der Götter“ erscheint, als vǫrðr goða? Er ist der Gott, der an den Grenzen Wache hält und der an Ragnarǫk mit seinem berühmten Gjallarhorn Alarm schlägt. In seiner umfassenden Heimdallr-Monographie möchte aber zunächst einmal auch Cöllen die Gleichung Weißheit = Schönheit für Heimdallr in Anschlag bringen: Es wäre daher eine im Vergleich mit den bisherigen Interpretationen wenig phantasiereiche, im Sprachgebrauch der Quellen aber wohl begründete Deutung, dass in Heimdalls Eigenschaft als hvíti-áss ein Hinweis auf seine weiße Hautfarbe ‒ eventuell als Zeichen für Schönheit und Adel ‒ liegt.⁶⁵
Nun scheint aber gerade Heimdallrs äußeres Erscheinungsbild bezüglich einer Idealästhetik mehr als fraglich. Gewisse, eher kryptische Hinweise scheinen (wenn auch nicht narrativ expliziert wie etwa beim Schmied Vǫlundr) in schierer Diametrie zu seiner ,Schönheit‘ zu stehen: Seit Urtagen sei ihm ein „hässliches Leben“ (lióta líf) beschieden, mit „schmutzigem, schlammigen Rücken“ (aurgo baki) müsse er wachen als Wächter der Götter.⁶⁶ Lokis Schmähungen, die er in der Lokasenna vorträgt, mögen infam verzerrt sein, aber dessen hämischer Hinweis auf Heimdallrs womöglich abstoßendes, ,schmutziges‘ Äußeres wäre ohne Referenz in der (mythischen) Wirklichkeit nicht möglich. So wurde vermutet, dass es das (zumindest von Snorri und seiner Zeit so verstandene) Wächteramt selbst sei, das eben sozial niedere, dienende Implikationen evoziere und damit die untergebene Rolle der Grund sei, warum sich Loki so abfällig äußern könne.
Gras auf der Erde wächst oder die Wolle auf den Schafen, und er hört all das, was überhaupt hörbar ist. Er besitzt das Kriegshorn, das Gjallarhorn heißt, man hört sein Blasen über alle Welten. Heimdalls Schwert wird Manneshaupt genannt“). „Da sprach Heimdall, der Weißeste der Asen – / er wusste viel voraus, wie sonst die Wanen –“. Cöllen 2015, S. 98. Cöllen 2015, S. 103. „Þegi þú, Heimdallr! þér var í árdaga / iþ lióta líf um lagit; / aurgo baki þú munt æ vera / oc vaca vorðr goða“ (Ls 48). („Schweig, Heimdallr! Dir war in Urtagen / ein schlimmes Leben gegeben; / mit schmutzigem Rücken wirst du stets sein / und wachen als Wächter der Götter“).
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
Das Nomen aurr wird etwa als „mit Stein untermischter Sand“ wiedergegeben.⁶⁷ So wird der Weltenbaum von den Nornen mit hvítaauri überschüttet, was einmal mit „weißem Sand“ (Gylf 16), ein andermal mit „glänzendem Nass“ (Vsp 19) übersetzt wird. Das Bild scheint auch Snorri nicht mehr ganz klar gewesen zu sein: Die Nornen schöpfen „Sand“ aus dem Urdbrunnen, gleichzeitig aber ist es das Wasser selbst, das so „heilig“ ist, dass alles, was in die Quelle fällt, „so weiß wie die Haut wird, die Eischalenhäutchen heißt und eben unter der Eischale liegt.“⁶⁸ Das Wasser hat also die Qualität, Gegenstände weiß zu färben. Es könnte aber auch der „verdrehte“, der „schiefe“, der „entstellte“ Rücken bedeuten, wenn wir ein aur < *abur (mit regelrechtem Ausfall des ƀ vor u) annehmen,⁶⁹ wie etwa in aurriði („Lachs“ als Fisch, der entgegengesetzt, stromaufwärts schwimmt),⁷⁰ aurvasa „abgelebt, hinfällig“ (vgl. norw. aurvæsa „Stümper“).⁷¹ Entsprechende Vorsilbe sieht Detter auch in dem Verb an. aurkunnask oder an. aurborð, in diesen Fällen sei dann die „gezwungene Zusammenstellung“ mit aurr „Schlamm, Sand“ zu verwerfen.⁷² Semantisch berührten sich diese Begriffe mit got. afar „hinten, nach“ und nhd. after- wie etwa in „Afterrede“ in der Bedeutung von „Missrede“,⁷³ dazu gehören nhd. „Aberglaube“, „Aberwitz“ (mhd. aberlist „Unklugheit“).⁷⁴ Detter möchte die dunkle Bezeichnung des Gottes Hœnir als aurkonungr hierher stellen in der Bedeutung „Afterkönig“. Ähnlich wie der ,Abgott‘ sei dieser dann als ,falscher‘, irgendwie ,pervertierter‘, ,verdrehter‘ König zu verstehen. Diese Frage muss vorerst zurückgestellt werden, aber auch das Attribut ljótr („hässlich, furchtbar“) lässt sich an das semantische Feld der geistigen Verdrehtheit, der Verrücktheit, des Wahnsinns, auch an die Bedeutung „lügnerisch, geheuchelt“ anschließen.⁷⁵ In der Landnámabók (Sturlubók, Kap. 180)⁷⁶ und in der Vatnsdæla saga (Kap. 26)⁷⁷ wird eine Zauberhandlung beschrieben, die eine Frau namens Ljót, gefürchtet für ihre magischen Fähigkeiten, vollführt: Mit verdrehtem, invertiertem Körper (den Kopf zwischen den Beinen, Vgl. an. etym. Wb 1962, „aurr“: ne. air < norw. öyr „sandbank“ > finn. aura „steiniger meeresstrand“, siehe auch den Flussnamen Aurajoki. Dazu wird eine zweite Bedeutung angenommen, „nässe, feuchtigkeit“ (ae. aer „woge, meer“, lit. jaura „sumpf“, júrios „meer“, überhaupt zahlreiche Gewässernamen Aur(r)a), die aber auch in einem gemeinsamen Bedeutungsspektrum gesehen werden, also etwa „feuchter, nasser schlamm“. En þat vatn er svá heilagt at allir hlutir þeir sem þar koma í brunninn verða svá hvítir sem hinna sú er skjall heitir, er innan liggr við eggskurn […] (Gylf 16). Vgl. Detter 1898, S. 53. an. etym. Wb 1962, „aurriði“. an. etym. Wb 1962, „aurvasa“. Vgl. Detter 1898, S. 54. Vgl. DWb, „afterrede“. Grimm erklärt afterrede mit „obtrectatio, calumnia, nachrede hinter eines rücken“ und stellt den „afterreder“ in eine Reihe mit „hurer, ehebrecher, trunkenbold, spieler, wucherer“, also in einen hochpejorativen Kontext. Vgl. Detter 1898, S. 53 f. Vgl. an. etym. Wb 1962, „ljótr“. Jakob Benediktsson (Hg.) 1968. Einar Ólafur Sveinsson (Hg.) 1939.
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die Kleider über den Kopf geworfen) führt sie eine reverse, verkehrte Bewegung aus, um einen ebensolchen verdrehten, zerstörerischen Effekt zu bewirken. Sie habe die Absicht gehabt, die ganze Landschaft ,umzudrehen‘, wie sie selbst beteuert, ebenso in die Menschen eine Art geistige Verdrehtheit zu induzieren, also ein buchstäbliches Ver-rücktsein.⁷⁸ Und eine weitere mythische Referenz verstärkt diesen Eindruck: Heimdallr taucht ausgerechnet in jenem berüchtigten Fluch der Skírnismál auf, der vom Freyrboten Skírnir gegen die Riesentochter Gerðr, die durchaus unwillige Heiratskandidatin, ausgestoßen wird: „Zum seltsamen Anblick werdest du, wenn du herauskommst, / auf dich stiere Hrimnir, auf dich starre jeder! / Weit bekannter werde du als der Wächter bei den Göttern, / gaffe von den Gittern!“⁷⁹ Cöllen mutmaßt zu Recht, dass es doch ein tertium comparationis gegeben haben müsse, das hier beide verbinde, und dies könne wohl nicht einfach Heimdallrs „Berühmtheit“ gewesen sein.⁸⁰ Gewiss nicht, schließlich handelt es sich um eine Verwünschung, die Androhung eines abscheulichen Zustands, der indes bei Heimdallr dauerhaft scheint, ein Zustand, der berüchtigt, ja sprichwörtlich gewesen sein muss ‒ der groteske, wunderliche Anblick Heimdallrs. Sayers denkt an eine Art Gesichtsentstellung: I note an allusion in Skírnismál 28 that suggests Heimdallr may have had some kind of highly visible facial disfigurement, since he is cited as a reference point in a context of ugliness. Could this have resulted from the fight with Loki or the loss of the ear?⁸¹
Eine Frage, hellsichtig gestellt, wenn auch nicht weiterverfolgt, die sich zunächst einmal auf zwei mysteriöse Ereignisse bezieht, in die Heimdallr verwickelt ist. Balder und Heimdallr teilen sich in diesem Sinne noch eine weitere bedeutsame Gemeinsamkeit: Im Gedicht Húsdrápa (um 983) beschreibt der Skalde Úlfr Uggason das berühmte Schnitzwerk der Prunkhalle des reichen Isländers Ólafr pá Hǫskuldsson,⁸² eine Art paganes ,Triptychon‘ mit Darstellungen dreier mythischer Szenen, die, wie man annehmen muss, im paganen religiösen Denken auf gewisse Weise verbunden waren. Neben Thors Angelung der Midgard-Schlange, zweifelsohne eine der bekanntesten und beliebtesten mythischen Episoden, ist der Leichenzug Balders, seine großartige pompa funebris, abgebildet.⁸³ Diese Schilderung verwendet Snorri wiederum als Grundlage für seine literarische Darstellung der Balder-Bestattung. Nicht
Auch im Zusammenhang mit dem Holmgang, dem ritualisierten Zweikampf, erscheint ein ähnliches Ritual (vgl. Gunnell 2014, S. 134 f.). „At undrsiónom þú verðir, er þú út kømr, / á þic Hrímnir hari, á þic hotvetna stari! / víðkunnari þú verðir enn vorðr með goðom, / gapiðu grindom frá!“ (Skm 28). Vgl. Cöllen 2015, S. 240. Sayers 1993, S. 8. Vgl. Laxdœla saga, Kap. 29. Insgesamt sind 12 Strophen des Gedichtes erhalten, von der Auseinandersetzung Heimdalls mit Loki indes nur eine einzige (vgl. Marold 2000, S. 291).
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ganz klar ist, wie gut Snorri über diese Vorlagen Bescheid wusste, ob er etwa (über die von ihm zitierten Strophen hinaus) Kenntnisse des gesamten Gedichtes hatte. Gerade die Schilderung der Bestattung Balders ist keineswegs frei von Widersprüchlichkeiten. Möglicherweise aber konnte er die ikonographischen Abbildungen noch selbst in Augenschein nehmen und gegebenenfalls fehlende Informationen, narrative Plausibilitäten nach eigenem Gutdünken ergänzen. Und als drittes erscheint dort jene Episode, auf die Sayers oben im Zusammenhang mit Heimdallrs mutmaßlicher Gesichtsentstellung anspielt, aber offenbar nicht nur für die moderne Forschergemeinschaft eher dunkel. Es ist wohl eine Art Urkampf dargestellt, immerhin recht sicher bestimmbar die Kontrahenten: Heimdallr und Loki. Aber die Art dieser Auseinandersetzung, die Ursache wie Ausgang, wirft trotz intensiver Forschungsarbeit bis heute noch zahlreiche Fragen auf. Insbesondere die Identität eines Objekts, um das Loki und Heimdallr diesen Kampf führen, ist nach wie vor eher unklar und in der Forschung bis heute vermutlich kaum weniger heftig umstritten als der Gegenstand im legendären Kampf selbst: fagrt hafnýra („die schöne Meerniere“). Weiter unten werden wir auf diese Problematik noch genauer eingehen. Daneben spielt Sayers noch auf eine andere Begebenheit an. Davon berichtet Vǫluspá (27). Heimdallr habe einen Gegenstand, ein Objekt, sein hljóð, unter der Weltenesche abgelegt in Mímirs Brunnen (genau genommen nicht einmal er selbst, lediglich dass es dort zu finden sei). Später berichtet die Seherin (Str. 46), zu Ragnarǫk hole er dieses Objekt wieder hervor, jetzt versteht sie ganz offenbar darunter ein Horn, das Gjallarhorn, und so Snorri: ein Horn in einer Doppelfunktion als Signalinstrument wie Trinkgefäß. In dieser Interpretation folgen ihm indes nicht alle. Hljóð bedeute schließlich nicht Horn, vielmehr „Gehör“ oder „Laut“, sogar „Schweigen“,⁸⁴ und man wollte in diesem Sinne ganz entsprechend dem berühmten Augenpfand Odins ein Ohrenpfand dahinter vermuten. Aber schon die odinische Tauschszene ist nicht besonders stringent konstruiert, gerade hier liegt der Verdacht einer Sinnnachkonstruktion für seine (alt überlieferte) Einäugigkeit nahe. Noch skurriler und noch weniger plausibel scheint da aber ein tauber oder gar einohriger Heimdallr.⁸⁵ So oder so wird aber doch ganz grundsätzlich, will heißen auf einer konkret körperhaften Ebene, eine Vorstellung von Unpaarigkeit evoziert. In jedem Fall sind es drei kosmologische Szenarien, wenn auch vorläufig noch unentschieden, ob eschatologische oder primordiale. Eine Unmissverständlichkeit wird hier aber auch kaum einzufordern sein, trotz einer vermeintlich narrativen Eindeutigkeit. Es sind liminale Ereignisse, Grenzereignisse, an der Grenze, außerhalb von
Vgl. Cleasby/Vigf. 1874: „hljóð“: as. hleoðor = sound; mhd. lût; ahd. hliodar; nhd. laut; „the original meaning is hearing or the thing heard“, […] hence comes the double sense of this word in Icel., sound and silence.“ Siehe dazu lat. clu(ē)o „werde genannt, heiße“, cluor „Ruhm“, inclutus, gr. κλυτός „berühmt“ („was viel gehört wird“) als Partizipialbildung zur idg. Wurzel *kleu, ir. cloth, cymr. clod „berühmt“ (an. etym. Wb 1962, „hljóð“). Dagegen Bragg 2004, S. 101: „Heimdallr has traded an ear, or his hearing, for clairaudience in precisely the same way that Ódin has traded an eye for wisdom […].“
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Raum und Zeit. Und doch, merkwürdig genug, trotz dieser wie auch immer gearteten bedeutsamen religiösen Funktion scheint vom Heimdallr-Mythos schon zu Snorris Zeiten kaum mehr bekannt gewesen zu sein als eine Fülle von bizarren, widersprüchlichen Attributen. Aber eines war Heimdallr wohl zunächst gewiss nicht, ein sozial eher nieder gestellter ‚Wachmann der Götterʻ. Cöllen möchte das Wächteramt Heimdallrs ohnehin nicht für ursprünglich halten. Snorri habe vielmehr Informationen über diesen ganz offensichtlich sub specie eines ,Wächteramts‘ gesammelt und so nicht unwesentlich zu diesem Bild beigetragen.⁸⁶ Die tatsächliche, ursprüngliche mythische Funktion kann er jedoch als eine andere darstellen: Heimdallr ist zuallererst Stammvater, Urvater einer beträchtlichen Nachkommenschaft. In dieser Eigenschaft – und nur in dieser – kennt ihn die Vǫlva der Vǫluspá und ebenso das Eddalied Rígsþula. In den erhabenen Anfangszeilen der Vǫluspá werden Heimdallrs „heilige Geschlechter“ angesprochen, helgar kindir, meiri oc minni, mǫgo Heimdalar, die „Söhne Heimdalls“, megir Heimdallar,⁸⁷ auch im Eddalied Hyndluljóð ist er Erster einer kaum mehr übersehbaren Verwandtschaft wie Nachkommenschaft⁸⁸: Unzweifelhaft wird Heimdallr aber in der majestätischen Eröffnungsstrophe der Vǫluspá als der erste einer Abstammungslinie [orig. gesperrt] geschildert: megir Heimdallar (Vsp. 1, 4) mögen die Menschen oder die Götter sein, die beeindruckende Eigenschaft Heimdalls als Stammvater [orig. gesperrt] sollte aber klar sein und eröffnet Raum für die heuristische Annahme, dass Heimdallr nicht wie Óðinn oder Freyr ‚unter anderem auch‘ ein Stammvater war, sondern dass die Stammvaterschaft des Gottes seinen Charakter wesentlich bestimmte und dass dieser somit durch den Vergleich mit Vorstellungen von anderen Stammvätern in der Mythologie und in der Gesellschaft, denen die Traditionen um Heimdallr entsprungen sind, erhellt werden kann. Die Annahme gründet im Gedanken, dass der mythologische Stammvater Heimdallr mit den Stammvätern der Gesellschaft Eigenschaften teilen und nach dem Vorbild dieser gestaltet sein könnte.⁸⁹
Heimdallr erscheint also als göttlicher Stammvater, als Erzahne, exakt auf diese Weise tritt er in der Rígsþula auf. Hier wird er mit Rígr, dem Gründervater einer Art nordi-
Cöllen weist auf die Problematik dieser bis dato in der Forschung selbstredend akzeptierten Interpretation hin. Snorri habe versucht, seine Informationen, die ihm selbst offensichtlich widersprüchlich genug erschienen, zu ordnen: „Er [Snorri, d. Verf.] hat – so scheint es mir – alle hier erwähnten Angaben unter dem Aspekt des Wächters [orig. gesperrt] gesammelt“ (Cöllen 2011, S. 267). „Hlióðs bið ec allar helgar kindir, / meiri oc minni, mǫgo Heimdalar“ (Vsp 1). („Gehör erbitt ich aller heilgen Geschlechter, / höherer und mindrer Söhne Heimdalls“). Varð einn borinn ǫllom meiri, / sá var aukinn iarðar megni; / þann qveða stilli stórauðgastan, / sif sifiaðan siotom gørvǫllom (Hdl 43). („Einer wurde geborn größer als alle, / dieser war stark durch die Kraft der Erde; / man nennt diesen Herrscher den allerreichsten, / durch Verwandtschaft verwandt mit allen Wohnsitzen“). Cöllen 2011, S. 27. In der (überarbeiteten) Version aus dem Jahr 2015 (Cöllen 2015) ist diese Passage ersatzlos gestrichen. Grundsätzlich sieht Cöllen zwar in Heimdallr noch eine „Urheberschaft“ zu den Menschen, er reduziert sie aber auf eine „Urheberschaft der sozialen Ordnung“, so wie sie in der Rígsþula erscheine (vgl. Cöllen 2015, S. 92), mit einer Anthropogonie im eigentlichen Sinne oder gar Theogonie habe dies nichts mehr zu tun (vgl. Cöllen 2015, S. 93 f.).
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schen Ständegesellschaft gleichgesetzt. Zu Anfang der Zeit, in einer primordialen Theoxenie wandelt Heimdallr/Rígr in der Welt der Menschen und zeugt der Reihe nach mit einem Urelternpaar bzw. Urmutter den Stand der Knechte, der Bauern und des Adels, indem er sich in einer befremdlichen ménage à trois drei Nächte lang zu dem jeweiligen Paar ins Ehebett legt.⁹⁰ Die Urehepaare tragen allesamt keine individuellen Namen, zwei davon Lallwortnamen, es kennzeichnet ihren Status als überindividuelle, prototypische Vorfahren, ein bezeichnendes Namenskonzept, auf das wir noch weitere Male treffen werden. Nun wird dem ersten Ehepaar, auf das Rígr stößt, Ái und Edda, „Urgroßvater“, „Urgroßmutter“ (Rþ 2), arm und hässlich, ein Sohn mit dem sprechenden Namen Þræll „Knecht“ geboren, dem zweiten, den freien Bauern Afi und Amma, „Großvater“, „Großmutter“ (Rþ 16) der Sohn Karl, zuletzt gelangt Rígr zum wohlhabenden Ehepaar Faðir und Móðir „Vater“, „Mutter“ (Rþ 25), hier gebiert die schöne Mutter das ebenso schöne, edle Kind Jarl. Mehrere Nachkommen folgen, bis mit dem Konr ungr (Rþ 43) die Gesellschaftsbildung schließlich vollendet ist.⁹¹ Man hat diese Rolle des Heimdallr bzw. Rígr als Ständeetablierer/Gründer oft genug als lediglich mittelalterliche, gelehrte Konstruktion sehen wollen, eine Nachahmung christlicher, biblischer Konzepte, aber keineswegs als echten, alten Mythos. Das Gedicht ließe sich „unschwer“ als Erklärung zur Schaffung der mittelalterlichen Stände erkennen, so etwa Krause, mit einem bestenfalls „notdürftig mythologisierenden Rahmen“.⁹² Aber Cöllen beobachtet ganz richtig: Es sei gerade der auffallende Anachronismus in dieser vorgeblich mittelalterlichen Ständeschilderung, der auf ein
Man hat hierin eine Verbindung zur altirischen Sitte, dem Gast die Ehefrau für eine Nacht zu überlassen, erwogen, gab dabei aber ganz richtig zu bedenken, dass dann zumindest nicht der Ehemann mit von der Partie gewesen sein dürfte (vgl. Komm.Edd. Rígsþula, von See et al. 2000, S. 492). Gleichermaßen ist überlegt worden, Rígr zum altirischen Wort für König rí (ríg), lat. rex, regis zu stellen (vgl. Komm.Edd. Rígsþula, von See et al. 2000, S. 489), was indes einige lautliche Schwierigkeiten bereitet. Cöllen verweist auf das bei Cleasby/Vigfusson angeführte rígr in der Bedeutung „stiffness“. Es wird zum Verb reigjask gestellt „gjøre et Kast med Nakken“, also eigentlich „den Nacken steif, steil machen“ (vielleicht zu lat. rigidus „starr, steif“, air. riag „Tortur“), vgl. Cöllen 2015, S. 72. Im Bedeutungszusammenhang der Vaterschaft hat man sich wohl allzu sehr auf das Konzept der ,Steifheit‘ im Rahmen eines Zeugungsvorgangs fokussiert (weshalb Cöllen diese Etymologisierung auch nicht überzeugend findet und eher den Königsgedanken im Vordergrund sehen möchte), allerdings umfasst dieses Bedeutungsspektrum keineswegs nur die ,Steifheit‘, sondern ebenso eine Vorstellung der ,Verdrehtheit‘. Siehe insbesondere ne. wry „[o]f the features, neck, etc.: abnormally deflected, bent, or turned to one side; distorted, deflected from a straight course; inclined or turned to one side, wrested; perverted“ (OED online, „wry, adj. and adv.“); siehe auch nhd. Reckung „gewaltsames Strecken des Körpers“. Der Begriff könnte sich also auf ein wie auch immer ,verdrehtes‘ Aussehen beziehen. Aber es ist gerade auch die ruhelose Wandertätigkeit selbst bzw. die Personen, die diese ausüben, die im mittelalterlichen Island mit Bezeichnungen aus diesem semantischen Feld belegt werden: Heimdallr/ Rígr ist ein reikunarmaðr (reika „to stroll, walk“, reikan „strolling about“), als Bezeichnung allerdings ähnlich kompromittierend wie etwa flǫkkunarmaðr (flakka „to rove about as a beggar“). Vgl. Cochrane 2011– 2012, S. 47. Vgl. Cöllen 2015, S. 44– 47. Vgl. Krause 2006, S. 182.
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hohes Alter verweise.⁹³ Auffallend ist in der Tat, wie abfällig und despektierlich über Heimdallrs ersten Schöpfungs- oder Zeugungsakt, die Knechte, gesprochen wird, ausführlich werden ihre körperlichen Abweichungen, Defizienzen und Mängel beschrieben, schon das Knechtkind hat lotr hryggr, „einen krummen, gebogenen Rücken“ und langir hælar, „lange Fersen“ (Rþ 8), ein Ausdruck, der nicht ganz klar ist. Man hat ihn im Sinne einer „langsame[n] und schleppende[n] Gangart“ übersetzen wollen.⁹⁴ Die zukünftige Knecht-Frau ist nämlich ebenso gengilbeina, vielleicht „krummbeinig“ (Rþ 10), „eine die krumme, verdrehte Wege geht“.⁹⁵ Das ist im altnordischen Kulturkreis immer pejorativ gemeint, die wandernde, heimatlose Frau, ein Begriff mit höchst alarmierenden Konnotationen, es ist die meretrix, die Hure, die Hexe.⁹⁶ Auch die Kinder (in gleicher Weise Männer wie Frauen) sind der Reihe nach mit ausgesprochen abwertenden Namen versehen: Klúrr „der Grobe, Klotzige“, Drumbr, „Stumpf, Klotz“, Drǫttr, „einer der sich schwerfällig bewegt“ (Rþ 12), entsprechend die weiblichen Pendants Drumba, Trǫnobeina (eigentlich „die Kranichbeinige“) (Rþ 13). Hier ist tatsächlich keine Spur von einer christlichen Ethik zu entdecken, die Standesunterschiede anerkennt als natürlich und gewollt und als Teil der göttlichen Ordnung sieht. Das wäre jedenfalls aktuelle, mittelalterliche Denkart.⁹⁷ Hier hat man indes den Eindruck, dass diese göttliche Schöpfung gar nicht geglückt ist, ja sie macht zumindest einen ausgesprochen rohen, irgendwie unfertigen Eindruck ‒ bis sie schließlich in der Adelsschönheit des Jarlkindes ihre Vollendung findet. Für einen solchen prozesshaften Entwurf von Schöpfung finden sich indes zahllose Parallelen in den Anthropogonien dieser Welt: ein metaphorischer blend der sukzessiven Vervollständigung, Perfektionierung des Schöpfungsaktes als lokale, räumliche Bewegung ins Zentrum und damit in die gesellschaftliche Mitte, der wiederum kombiniert wird mit einer temporalen Entwicklung, einem Voranschreiten in der Reihe der Nachkommen, der Generationenfolge. Auffallend ähnlich etwa erscheint die schrittweise ,Verbesserung‘ der Nachkommen der berühmten französischen Adelsfamilie der Lusignan. Die zunächst ganz und gar nicht geratenen französischen Adelssprösslinge sind bezeichnenderweise Kinder eines Mischwesens, der Schlangenfrau oder Wasserfrau Melusine; allesamt unvollkommen, unzulänglich, äußerlich
Vgl. Cöllen 2015, S. 54 ff. Vgl. Komm. Edd. Rígsþula, von See et al. 2000, S. 550. Der Edda Kommentar verweist auf vergleichbare Nomina agentis, die auf -gengil enden (Komm.Edd. Rígsþula, von See et al. 2000, S. 552 f.), nicht ganz klar scheint, ob sich die Bezeichnung auf das Aussehen der Beine bezieht bzw. ihre Funktion. Im mythischen Denken sind indes diese beiden Aspekte kaum zu trennen. Selbst wenn die Übersetzung gengilbeina als „Fußgängerin“ oder „Gehendbein“ bevorzugt würde, evoziert dies nur in einem modernen Wissensrahmen eine verhältnismäßig neutrale Bedeutung, das mittelalterliche Evokationspotenzial ist durchgehend negativ, es entspricht in etwa dem des reikunarmaðr. Vgl. dazu Heizmann 2002a. Vgl. Cöllen 2015, S. 54.
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wie charakterlich ‒ bis auf die letzten zwei.⁹⁸ Hier zeigt sich das nämliche Entwicklungskonzept, allerdings innerhalb ein und derselben Familie, noch dazu einer Adelsfamilie, wo es kaum darum gehen kann, Standesmerkmale festzuschreiben. Keine Soziogenese also, eine primordiale Anthropogenese wird hier entworfen, eine Menschwerdung, die in Stufen erfolgt, körperlich wie intellektuell wie kulturell. Ob (pseudo)historische wie mythische wie kosmogonische Familiengenealogien, ihre ersten ,Produkte‘ weisen oftmals schwere Mängel auf. Sehen wir uns eine Episode der japanischen Kosmogonie an⁹⁹: Das Urelternpaar Izanagi und Izanami zeugt als Erstes ein so genanntes ,Blutegel-Kind‘, Hiruko, das nicht auf seinen Beinen stehen kann, schwächlich und knochenlos ist, unförmig wie ein Blutegel. Der Mythos berichtet, dass das „unziemliche Benehmen“ der Braut beim Hochzeitsritus das Unglück heraufbeschworen habe, sie habe den Ritus falsch, verkehrt herum ausgeführt, dazu habe sie das erste Wort gesprochen, was ausschließlich dem Bräutigam zustehe.¹⁰⁰ Aufgrund dieses Tabubruchs ist den Eltern ein „unangenehmes und ungeeignetes Kind“ geboren worden. Sie wollen es nicht annehmen und setzen es in einem Schilfboot auf dem Meer aus.¹⁰¹ Die japanischen Ureltern zeugen nun nicht nur Nachwuchs, sie müssen ja gleichzeitig die Welt erschaffen, im japani-
Vgl. Kellner 2004, S. 443. Die japanische Mythologie, gerade ihre kosmologischen Konzepte von Gründung und Anfang sind für vorliegende Untersuchung in mehrerer Hinsicht interessant. Zusammenhänge mit der altnordischen Mythologie und Heldensage sind immer wieder beobachtet worden, so haben ganze Motivkomplexe, z. B. die Verbindung der so genannten Schwanenmädchenmythen mit Schmiedemythen (wie sie im Nordischen etwa in der Wielandsage erscheinen), exakte Entsprechungen im japanischen Mythos. Aufzeichnungen der japanischen Mythen finden sich nahezu ausschließlich in zwei literarischen Quellen, dem so genannten Kojiki („Aufzeichnungen alter Geschehnisse“) und dem Nihongi oder Nihon shoki („Annalen Japans“). Beide Werke sind Auftragsarbeiten aus dem Jahr 712 und 720, eine „Doppelgleisigkeit“ (Naumann 1996b, S. 14), die den politischen Umständen des 7. Jhs. geschuldet ist. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Quellen sind entsprechend größtenteils politisch motiviert. Der Mythos sollte die göttliche Abstammung ebenso wie den göttlichen Auftrag des kaiserlichen Herrscherhauses, des Kaisers Temmu selbst legitimieren und für alle Zeiten sichern. Ein dynastischer Herrschaftsanspruch, der indes nicht unbestritten war, entsprechend versuchten die einzelnen Adelsgeschlechter die Abstammungsmythen ebenso für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren (vgl. Naumann 1996b, S. 18 – 21). Izanagi und Izanami umschreiten den ‚Himmelspfeilerʻ (in anderer Version die ganze Welt) verkehrt herum. Naumann erklärt das Abschreiten der Welt dermaßen, dass das Geschwisterpaar sich versichern musste, dass kein weiterer Partner zur Fortpflanzung zur Verfügung gestanden habe, entsprechend ihr Inzest legitimiert sei (vgl. Naumann 1996b, S. 59 f.). Ein eigentliches Inzest-Verbot habe freilich zumindest für die japanische Oberschicht zu dieser Zeit überhaupt nicht bestanden, Geschwisterehen, Ehen zwischen engen Verwandten, seien durchaus üblich gewesen und erst spät durch die strengen chinesischen Exogamie-Vorschriften tabuisiert worden. Dagegen gehörten zum Unerhörten, zum Kategorienbruch gerade äußerste exogame Verbindungen, so etwa erzählerisch ausgearbeitet im Schwanenmythenkomplex. Auch im Norden erscheint der Tabubruch des Vanen-Gottes Freyr ja in zweierlei Natur, es ist zum einen die Geschwisterehe, andererseits aber gerade der Wunsch nach einer exogamen, riesischen Verbindung. Numazawa 1946, S. 182.
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schen Denken also Inseln. Aber auch die erste Insel Aha misslingt, sie hätten keine Freude daran gehabt, wie es heißt.¹⁰² Sie beginnen also von Neuem (nachdem nun endlich der Eheritus richtig ausgeführt worden ist) und führen den Schöpfungs- und/ oder Zeugungsprozess fort. In allen bekannten Versionen wird der Knabe ausgesetzt, weil er nicht geeignet war, wenn auch nicht ganz klar wird, worin seine Schwäche bestand, manche denken an eine Art Verkrüppelung, eine Behinderung, vielleicht ein Beindefekt von Geburt an. In jedem Fall zeigt sich darin das kosmogonische Motiv der „anfänglichen Unvollkommenheit des Geschaffenen und Wiederholung der Arbeit“,¹⁰³ und gerade dadurch wird der Knabe zum Anfänger, zur Verkörperung des Anfangs schlechthin. Die offenkundigste Entsprechung zu diesem Anfangsmythologem im nordischen Kulturraum findet sich in der (pseudo)historischen Sagagestalt Ívarr inn beinlausi, Ívarr¹⁰⁴ „der Beinlose“, „der Knochenlose“. Er ist der erste Sohn des Wikingeranführers Ragnarr mit Áslaugr, dem letzten Völsungenspross (siehe Ragnars saga loðbrókar),¹⁰⁵ der wiederum seinerseits ein merkwürdiges Epitheton bzw. Spitznamen trägt: loðbrók. Damit scheint eine Art haarige, fellähnliche Hose gemeint, wenn auch letztendlich bis heute kaum eindeutig geklärt ist, wie diese vorstellbar sei. Nun wird vielfach auf die „überdeutlich[en]“ inhaltlichen, motivlichen Zusammenhänge zwischen der eddischen Rígsþula und der Vǫlsunga saga verwiesen,¹⁰⁶ die wiederum
„Als nun die Zeit der Geburt herangekommen war, wurde zunächst die Insel Ahaji als Mutterkuchen betrachtet, und ihre Gemüter hatten keine Freude daran. Daher erhielt sie den Namen Ahaji no shima (= die nicht zufriedenstellende Insel)“ (Numazawa 1946, S. 197). Numazawa 1946, S. 197. Siehe an. Ívarr „Bogenschütze“ (Heizmann 1986a, S. 528), wörtlich der „Eibenmann“. Olsen (Hg.) 1906a–1908. Siehe von See 1994, S. 596 f.: „Überdeutlich sind demgegenüber die Parallelen zwischen der Rígsþula und der Völsungensage, speziell der VRS [die Vǫlsunga saga und Ragnars saga loðbrókar als ursprünglich einheitliches Sagakonstrukt, d. Verf.]. Die schlangengleichen Augen des Jarls – ǫtul vóro augo sem yrmlingi („scharf waren die Augen wie bei einer Schlange“, Rþ. 34, 7/8) – sind eine Anspielung auf das frægðarmark, das „Ruhmeszeichen“ des Völsungengeschlechts, das dem gleichnamigen Enkel Sigurds den Beinamen ormr í auga verschaffte (RS k. 9, S. 135). Die nicht minder auffällige Vogelsprachenkundigkeit teilt der Konr ungr der Rígsþula (Rþ. 44, 1) mit Sigurd dem Drachentöter, und der Ratschlag von Vögeln bestimmt dann nicht nur die Geschicke Sigurds, sondern auch die des Konr ungr (Rþ. 47 f., VS k. 19/20, S. 46 f., vgl. auch RS k. 9, S. 134). Ähnlich steht es mit der Befähigung zum Runenzauber: Die Kunst, Schwerter stumpf zu machen, eine typische Eigenschaft Odins (Heimskr., Yngl.saga k. 6), beherrschen außer ihm in der Edda nur noch Sigurd und Konr ungr, und sie wird in der Sigurddichtung mit demselben Wort deyfa bezeichnet wie in der Rígsþula (Sd. 27, 6 = Rþ.43,7), die Kunst der Geburtshilfe ebenfalls nur hier mit demselben Wort bjarga (Sd. 9, 2 = Rþ. 43, 6, vgl. auch VS k. 21, S. 51). Die grænar brautir, auf denen Sigurd zu Gjúki zieht (Fm 41, 2), erscheinen schon in der ersten Zeile der Rígsþula (1, 2). Und auch das Wort konr – ein zentrales Wort der Rígsþula, da auf ihm das Wortspiel mit konungr beruht – ist sonst innerhalb der gesamten Edda nur noch ein einziges Mal belegt: in der Sigurddichtung, in der Sigurd konr Sigmundar und Yngva konr genannt wird (Rm 13, 2 und 14, 3).“ Daneben trete der Konr ungr als jüngster Sohn die königliche Erbfolge an (Rþ 41). Auf gleiche Weise werde der Enkel des Drachentöters Sigurd (Sigurðr ormr í auga) als der jüngste Sohn Ragnars und Áslaugs zum rechtmäßigen Erbe seines Geschlechts. Möglicherweise könne der Name Konr ungr selbst
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ihrerseits für lange Zeit (in der Handschriftentradition bis ins 18. Jh.) als Einheit mit der Ragnars saga aufgefasst wurde,¹⁰⁷ wenn auch beide Sagas wohl ursprünglich durchaus getrennte Traditionen hatten und deren Erzählstoffe auch völlig unabhängig voneinander auftraten.¹⁰⁸ Die wahrscheinlichste Intention für dieses Sagakonstrukt sei damit wohl eine möglichst weit in die nordische Vergangenheit zurückreichende, genealogische Legitimierung des norwegischen Königshauses (mit seinem jüngst gekrönten Haupt Hákon Hákonarson). Die eigens dafür erfundene Sigurd-BrynhildTochter Áslaugr bildet dafür eine wichtige Koppelstelle: „Über Ragnar loðbrók und Áslaug sollte es [das Königshaus, d.Verf.] mit Sigurd, dem berühmtesten Sagenhelden der Heidenzeit, und dadurch letztlich mit Odin, dem angeblichen Stammvater des Völsungengeschlechts, genealogisch verbunden werden.“¹⁰⁹ Und offenbar hat gerade diese genealogisch legitimierende Ausgangssituation der Ragnars saga Ívarr und seinem Vater Ragnarr zu ihren Beinamen verholfen. Der Ausdruck loðbrók scheint auch von den Zeitgenossen als „hairy breeches“, „shaggy trousers“¹¹⁰ verstanden worden zu sein, insbesondere aber als ein denkbar ungewöhnliches Kleidungsstück in seiner Hauptfunktion als Monsterabwehr oder Schutzwerkzeug für den Drachenkampf. Wie dieser Effekt erzielt worden sei, darin ist sich wiederum die Überlieferung eher uneins.¹¹¹ Im haarigen Kleidungsstück als solches mochte man ihn jedenfalls kaum sehen, es musste entsprechend wohl auf gewisse Weise präpariert worden sein, um den Träger gegen das Drachengift zu feien: Ragnarr bewerkstelligt dies mithilfe von heißem Pech und Sand, darin habe er die
mit dem Beinamen des jungen Königssohnes Hákon ungi (auch konungr ungi) in Verbindung gebracht werden. Nicht zuletzt sei die Erwähnung der Vorliebe für die Falkenjagd des Konr ungr der Rígsþula auffallend. Belege dafür seien im Norden äußerst spärlich und fänden sich auch hier sonst nur noch in der Sigurddichtung (vgl. von See 1994, S. 597). Die spätere Zweiteilung hält v. See durchaus für berechtigt, die Vǫlsunga saga sei die „Prosaparaphrase eddischer Heldenlieder“ (von See 1994, S. 584), entsprechend wichtig für die Heldensagenforschung. Die zweite Saga, Ragnars saga loðbrókar, wirke eher wie ein „bloßer Appendix“, mit der Vǫlsunga saga „genealogisch nur locker verknüpft“ (von See 1994, S. 584). Aber von einer gerade umgekehrten Situation müsse man in der handschriftlichen Überlieferung ausgehen: Dort zeige sich eher die Vǫlsunga saga wie eine Art „Vorgeschichte“ zur Ragnars saga loðbrókar. Jedenfalls würden noch in den Papierhandschriften des 17./18. Jhs. beide Sagas durchweg als eine einzige betrachtet (vgl. von See 1994, S. 584 f.). Vgl. Teichert 2008, S. 127. von See 1994, S. 585. McTurk 1991, S. 7. Der Name erscheint erstmals im 11. Jh. in lateinischer Sprache bei William von Numièges und Adam von Bremen, im 12. Jh. in der Íslendingabók und nur in skandinavischer Tradition in Kombination mit dem Namen Ragnarr (vgl. McTurk 1991, S. 6 f.). Das Sterbelied Krákumál erklärt die Namensgebung als Ergebnis (und nicht etwa Vorbedingung!) eines Drachenkampfes (vgl. McTurk 1991, S. 7), auch der Ragnarssona þáttr (13./14. Jh.) weiß um die Umstände des Drachenkampfes, spricht aber von raggað klæði („shaggy clothes“). Somit stelle sich zunächst die Frage nach der ursprünglichen Form des Kleidungsstücks, so Rory McTurk, und ebenso, trotz der narrativen Plausibilisierungsversuche, nach seiner ursprünglicheren Bedeutung (vgl. McTurk 1991, S. 8).
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Hose getränkt und sich anschließend im Sand gewälzt, so weiß es die Saga zu berichten.¹¹² Kaum weniger exotisch sind die Vorbereitungen in Saxo Grammaticus Bericht, hier erhält das Kleidungsstück die Härte durch gefrorenes Wasser.¹¹³ Freilich wirken diese Erklärungen letztendlich gezwungen, sie machen den Eindruck von Sinnaktualisierungen für ein Motiv, das wohl in mythischen Konzepten durchaus üblich und gewöhnlich ist für die Ausgestaltung von ‚Anfängernʻ, in späteren Rezeptionsstufen aber als solches nicht mehr verstanden wurde und entsprechend neu interpretiert werden musste. Vater und Sohn entsprechen sich in ihrem mythisch körperhaften Verweisrahmen, wenn auch nur noch beim Sohn die Konzeptionierung einer urspünglich körperhaften Defizienz durchsichtig ist. Ragnarr und Ívarr sind Gründergestalten in eben jener Anfangssituation wie wir sie in der Rígsþula (aber auch im japanischen und französischen Gründungsmythos) entworfen sehen: Ihre genealogische, zeitliche Randständigkeit findet ihre Entsprechung in deren gesellschaftlicher Randständigkeit, einer eigenartigen, zauberischen wie moralischen Grenzwertigkeit, und diese zeigt sich auch und gerade in ihrer Aufgabe als Monsterabwehrer par excellence. Ívarr besitzt ja die gleichen Qualitäten wie sein Vater: So wird er auf einem Schild vor dem Kampf hergetragen, um seinerseits die stärkste Waffe des Gegners, eine Ungeheuer-Kuh Sebelja oder Sibýlja außer Gefecht zu setzen. Es ist ein magisches Aufeinandertreffen mit magisch wirksamen Mitteln. Woraus Ívarr und Ragnarr letztendlich ihre Könnerschaft wie magisches Spezialwissen beziehen, davon wird noch zu sprechen sein.
Hann lætr gera sér föt með undarligum hætti, þat eru loðbrækr ok loðkápa, ok nú er ger eru, þá lætr hann þau vella í biki. Síðan hirðir hann þau. Þat er eitthvert sumar, er hann heldr her sínum til Gautlands ok leggr í leynivág einn skip sitt ok var skammt þaðan, þat er jarl réð fyrir. Ok er Ragnarr hafði þar eina nótt verit, vaknar hann snemma um morgininn, ríss upp ok tekr þessi in sömu vápnföt, er áðr var frá sagt, ok ferr í ok tekr spjót mikit í hönd sér ok gengr af skipunum einn saman ok þar, er sandr er, ok nú veltist hann í sandinum (Kap. 3). („Er ließ sich aber Kleider von wunderlicher Art machen, nämlich LodderHosen und eine Lodder-Kappe; und als beide fertig waren, ließ er sie in Pech sieden, und sodann härtete er sie. Nun fuhr er eines Sommers mit seinem Heere gen Gautland, und legte seine Schiffe in einer versteckten Bucht an, nicht weit von dem Gebiete des Jarls. Dort blieb Ragnar eine Nacht, und am folgenden Morgen stand er früh auf, nahm die vorgedachte Kleidung, legte sie an, und nahm einen großen Spieß in seine Hand, so ging er heimlich von dem Schiffe nach einer Sandbank, und wälzte sich da im Sande“ [von der Hagen (Übers.) 1828, S. 6 f.]). Gest.Dan. 9.4: Cuius rei summam Regnerus ab intermeantibus expertus, laneum a nutrice sagulum villosaque admodum femoralia, quibus inflictos anguium morsus elideret, expetivit. Nam ut munimenti gratia referto pilis cultu utendum credidit, ita agilitatis causa tractabilem sumpsit. Cumque navigio Suetiam appulisset, incidente gelu, aquis de industria corpus iniecit humefactamque vestem, quo minus penetrabilis redderetur, brumae durandam praebuit. („Diese Wundermär vernahm Regner von fahrenden Leuten und liess sich von seiner Nährmutter einen wollenen Mantel und recht zottige Hosen geben, um damit die Bisse der Schlangen unschädich [sic] zu machen. Zum Schutze meinte er eine recht haarige Kleidung nehmen zu müssen, sie durfte ihn aber auch nicht in rascher Bewegung hemmen. Als er zu Schiff nach Schweden kam und Kälte einfiel, legte er sich mit Fleiss ins Wasser, liess sein Kleid sich vollsaugen und dann in der Kälte steif frieren; so konnte kein Biss durchdringen“).
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Es ist am wenigsten Zufall, dass im japanischen Mythos wie in der nordischen Saga die identische Begründung für die Devianz des ersten Sohnes gegeben wird: der pervertierte, verkehrt ausgeführte Hochzeitritus bzw. Zeugungsakt. Auch Áslaugr warnt ihren Ehemann vor dem in den meisten Kulturen tabuisierten Beischlaf in der ersten Brautnacht, aber Ragnarr hält sich nicht daran und zeugt auf diese Weise den ‚unvollständigenʻ, defizitären, beinlosen Ívarr. Tatsächlich ist es zunächst der Bräutigam selbst, der Schutz vor der hochgefährlichen, weil transgressiven Gestalt der Braut benötigt. Bereits im Gilgamesch-Epos wird der erste Geschlechtsakt mit der Braut nicht durch den Bräutigam vollzogen, sondern stellvertretend von speziell präparierten Kultteilnehmern, etwa den Brautführern oder den ranghöchsten, wirkmächtigsten Anführern einer Gemeinschaft.¹¹⁴ Und auch darin zeigt sich eine bedeutsame mythische Referenz zur Rígsþula: Der Erzahne Rígr legt sich ausdrücklich zwischen das zukünftige Elternpaar als einerseits Vollzieher jenes ius primae noctis,¹¹⁵ andererseits aber im Sinne eines symbolum castitatis, das dem Ehemann hilft, die unbedingt notwendige, apotropäische Karenzzeit einzuhalten.¹¹⁶ Der Hinweis Ursula Dronkes auf keltische und altindische Hochzeitsriten¹¹⁷ ist also trotz v. Sees ableh-
Vgl. Wettlaufer 1999, S. 59. In einem ursprünglichen Sinn ist dieser stellvertretende Beischlaf also nicht etwa Willkürakt, auch wenn er als prototypisches Symbol feudaler Unterdrückung schon im Gilgamesch-Epos und von da an durchgehend (gegebenfalls als lediglich literarische Formel) bis in die Neuzeit erscheint (vgl. Wettlaufer 1999, S. 59 – 73). Diese Doppelfunktion besitzt wohl auch der Hammer Thors, der bekanntermaßen bei Brautweihungen eine wichtige, aber keineswegs eindeutige Rolle spielt. So wird ein Hammer im oder unter dem Ehebett, dem „hammarsäng“, deponiert, Brautpaare müssen über eine Axt steigen (vgl. Marold 1974, S. 210). Wohl stehen fruchtbarkeitsfördernde, phallische Konzepte im Vordergrund, aber diese waren nicht allein ausschlaggebend, warum gerade der Thors-Hammer als Symbol der Eheschließung fungieren konnte. Der Hammer ist beides, Symbol der Grenze wie ihrer Überwindung. Das, was vorher getrennt war, soll jetzt zusammen. Man kennt andere Grenzüberschreitungsriten bei Eheschließungen bis heute, etwa das Tragen der Braut über die Schwelle. Aber ebenso kann der Hammer als symbolum castitatis fungieren, als ‚Keuschheitsschwertʻ: Ein blankes Schwert wird in das Bett zwischen Mann und Frau gelegt, um eine (gegebenenfalls absolute wie lediglich zeitliche) Tabuisierung des sexuellen Kontaktes zu bezeichnen (vgl. Ranke et al. 2010, Sp. 96). Ganz abgeschwächt findet sich das Motiv in der Hrólfs saga kraka, wo der junge Held Bǫðvarr bjarki das Bett mit der Frau seines Bruders teilt, der ihm zum Verwechseln ähnlichsieht, nicht etwa um Ehebruch zu begehen, sondern zwecks Wissenserwerb. Hier wird die unverbrüchliche Grenze lediglich durch getrennte Bettdecken symbolisiert. Schjødt möchte diese merkwürdige Episode als Teil eines Initiationsrituals sehen (vgl. Schjødt 2003, S. 272). Tatsächlich nutzt der Held die liminale (buchstäblich grenzwertige moralische) und damit hochpotente Situation für seine persönliche Entwicklung und Vervollkommnung. „The royal title Rígr for the god has not been casually chosen. Behind its adoption lies Norse knowledge of the numerous Celtic traditions (that persisted long into Christian times) of gods who slept with the wives of kings, and begot great sons upon them, and of heroic kings, who, like surrogate gods, slept with the wives of their subjects. Rígr-Heimdallr looks much at home in their company“ (Dronke 1992, S. 671). In einem altindischen Hochzeitsbrauch wird ein hölzerner Stab als Repräsentant eines Fruchtbarkeitsdämons Gandharva zwischen die Eheleute gelegt, damit die Braut ein Kind empfängt (vgl. Dronke 1992, S. 672 f.).
3.5 Der Schlangenblick
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nender Haltung durchaus berechtigt¹¹⁸: Für den altnordischen Kontext ist dies aber nur die halbe Wahrheit.
3.5 Der Schlangenblick Zunächst aber geht es um die Vollendung der Schöpfung. In der Rígsþula wie in der Ragnars saga wird diese verkörpert durch zentrale, prototypische Mitglieder der Gesellschaft, auf der körperhaften Ebene sind sie mit den Merkmalen der Vollständigkeit, der Symmetrie, aber auch der Helligkeit gekennzeichnet, was wiederum die Vorstellung einer Ästhetik, einer Körperschönheit hervorruft. So erscheint die Mutter des Jarls mit brún biartari, brióst liósara, háls hvítari hreinni miollo (Rþ 29) „die Brauen glänzender, die Brust heller, der Hals weißer als reiner frisch gefallener Schnee“, das Jarlkind mit hellem Haar und weißen Wangen und Augen mit nämlichem ,Schlangenblick‘, der auch die Vǫlsungen auszeichnet (bleict var hár, biartir vangar, ǫtul vóro augo sem yrmlingi) (Rþ 34). Auch dessen Frau wird „weiß und klug“ (hvítri oc horscri) sein (Rþ 37). Cöllen versteht entsprechend das Adjektiv hvítr als Hinweis auf die helle, bleiche Hautfarbe als Signal von Schönheit und Adel¹¹⁹: Die Bezeichnung hvítastr ása spricht für Heimdallr klar aus, was für Rígr nie expressis verbis gesagt wird. Was früher als romantische Naturmythologie gedeutet wurde, entblößt sich nun als unverstellte, derbe Ideologie. Mit Heimdallr-Rígr wird die ideale Physis des höchsten Standes zum Mythos gemacht.¹²⁰
Zur prototypikalischen Rahmenstruktur, zu den wichtigsten Kategorieneigenschaften der Farbe ,weiß‘ (bzw. dem Konzept des ,Strahlens‘) gehört (im modernen Gebrauch) die Vorstellung einer äußeren Ästhetik, einer Körperschönheit. Und wie es scheint, hat Snorri diese Farbkategorie ebenso bereits auf diese Art verstanden. Es mag also durchaus sein, dass hier ein „primitive[r] ,Lamarckismusʻ“¹²¹ seinen Ausdruck findet, wie Cöllen es ausdrückt, aber er erschöpft sich am wenigsten darin. Mythisches Denken meint immer ,mehr‘, es denkt sich stets über seine körperhaften, formalen Grenzen hinaus, und damit sind mythische embodiments keineswegs so plakativ und eindimensional und „derb[ ]“,¹²² wie es auch hier den Anschein haben mag. Mythische Körper sind also niemals nur ,schön‘ oder ,hässlich‘. ,Weißheit‘, ,Strahlen‘ gelten gleichermaßen als prototypische, bedeutungsgebende Eigenschaften einer mythisch Die im Weiteren vorgeschlagene Verbindung zu einer vorgeblich überkulturell gültigen, indogermanischen Dreiständeordnung (eine Art Kastensystem, wie es bekanntlich George Dumézil für die indoeuropäischen Völker als gemeinsame Struktur veranschlagt) wird man allerdings mit v. See ebenso kritisch sehen müssen (vgl. von See 1994, S. 596). Vgl. Cöllen 2015, S. 102 f. Cöllen 2015, S. 103 f. Cöllen 2015, S. 57. Cöllen 2015, S. 104.
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magischen Kategorie. Nicht der schöne, sondern der übernatürliche, gefährliche, potente Körper ist gemeint. Der berüchtigte Schlangenblick, jenes wunderbare Strahlen der Augen weist den Träger (oder Trägerin) dieses Merkmals nicht primär als schön aus, vielmehr sind in dem Bild des ormr í auga („Schlange im Auge“), des serpentinus oculus („Schlangenauge“) die Begriffe Glanz (frǫn „glänzend“) und Schärfe (hvǫss „scharf“) Synonyme. Vielfach erkannt ist es Hinweis auf des Trägers, der Trägerin (insbesondere qua Abstammung) inhärente Macht, Potenz, Legitimation. Wir treffen hier auf das wohl grundlegendste bildgebende Konzept des ,gefüllten Containers‘: der Körper imaginiert als Behältnis mit wie auch immer gearteter Substanz. Diese Substanz kann, abhängig von der Quantität und Qualität des Inhalts, äußerlich sichtbar sein, der Körper kann diese aussenden, abstrahlen, und insbesondere das Auge als wichtigstes körperhaftes Pars-pro-toto-Konzept bündelt, emittiert und überträgt diesen ,Stoff‘. Grundsätzlich gilt kulturübergreifend, was Thomas Rakoczy für die antike, vormoderne Auffassung der Wirkungsweise des Auges beschreibt: Das Auge ist kein passives rezeptives Sinnesorgan, sondern ihm wohnt eine Kraft inne, die beim Sehen nach außen auf die Objekte, auf die der Blick fällt, ausgesandt wird und diese im Extremfall, wie etwa dem bösen Blick, auch beeinflußen kann. Diese visuelle Strömung der Sehstrahlen […] ist eine materielle, oft feurige Emission aus dem Auge, die aber zugleich mit der psychischen Qualität der Empfindung verbunden ist, ein ‚psychophysisches‘ Phänomen, das in unserer Kultur ohne Gegenstück ist. In dieser, der unseren entschieden gegenläufigen und in kultureller Hinsicht äußerst langlebigen Auffassung, liegt der Schlüssel zum Verständnis aller im weiteren Verlauf unserer Untersuchung dargelegten Eigenarten hinsichtlich des Blickes, die von dieser andersgearteten Position aus ihren merkwürdigen Charakter verlieren und zu beinahe normalen Phänomenen des Alltags werden, die niemanden mehr überraschen.¹²³
Und es sind nun gerade jene vorwissenschaftlichen Vorstellungen vom Wesen des Sehvorgangs, die zu Vermeidungsstrategien zwingen. Wurzelmetathesen und andere linguistische Kniffe zur Verhüllung des eigentlich Gemeinten bis hin zum vollständigen Ersatz sind gerade hier notorisch: Bemerkenswerterweise variieren Bezeichnungen für das Auge in den indogermanischen Sprachen derart, daß dahinter wohl linguistische Tabus zu vermuten sind. Durch die Neuprägungen in den Tochtersprachen, die zum Teil erkennbar deformiert sind, also die zugrunde liegende Wurzel verschleiern, wird die Nennung und somit Evozierung des gefürchteten Objektes umgangen. Ein solches Widerstreben, das Auge beim eigentlichen Namen zu nennen, dürfte seinen Grund wohl in der Furcht vor seinem Blick haben.¹²⁴
Schon die Nennung des ,normalen‘ Auges ist so risikoreich, dass es häufig genug mit dem Epitheton ,gut‘ ergänzt werden muss. Aber selbst wenn dezidiert der böse, schädliche, gefährliche Blick gemeint ist, kann in der reinen Umkehrung der Semantik
Rakoczy 1996, S. 20. Rakoczy 1996, S. 41.
3.5 Der Schlangenblick
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vom ,guten‘ Auge die Rede sein als äußerste Konsequenz eines magischen Entzugs.¹²⁵ Das expressis verbis gute, strahlende, schöne Auge ist also keineswegs Gewähr für ein positives Denotat. Es zeigt bestenfalls eine offenbar für notwendig erachtete sprachliche Vorsichtsmaßnahme, den Versuch einer Umsemantisierung. Auf gleiche Weise kann davon ausgegangen werden, dass im Rahmen dieser Vermeidungsstrategien benachbarte Körperteile als semantischer Ersatz einspringen müssen ebenso Kleidungsstücke, die diese üblicherweise bedecken und damit in (magisch übertragbarem) Kontakt stehen. Und in diesen magischen Bezugsrahmen muss im Grunde genommen der ganze Körper, vorzugsweise der unbekleidete, ,blanke‘, miteingeschlossen werden: So wie das Auge im Schlangenblick, im Königsblick („den kongeblikket“¹²⁶) strahlt, strahlt der Körper in hyperpotenter Weißheit, etwa in der Manifestation des so genannten furor heroicus, der Wutverzerrung des irischen Helden, eine entsetzliche, magische Aufschwellung des Körpers: Die Haare stacheln sich in diesem Zorn dermaßen in die Höhe, dass sogar Äpfel daran hängen bleiben können, aus der Stirn heraus wächst der lón láith, „der Mond des Kriegers“, eine strahlende Lichterscheinung, und ein Blutstrahl schießt aus seinem Scheitel in die Höhe.¹²⁷ Das ist der schaurig schöne, zum Bersten volle irische Held. In ähnlich monströser Exorbitanz bis hin zur Asozialität tritt schließlich auch der germanische Held in Erscheinung.¹²⁸ Matthias Teichert verweist insbesondere auf die literarische Inszenierung dieses Heldenkonzepts in Form des Drachenkampfes, mit dem Ergebnis einer „psychischen und physischen Verwandlung des Heros in das von ihm im Drachenkampf besiegte Monster.“¹²⁹ Aber damit ist es wohl nicht einmal der Drachenkampf selbst, der den Helden recht eigentlich zum Monster macht, vielmehr trägt er alle Eigenschaften des Drachens schon in sich.¹³⁰ Sigurðr (ebenso wie seine Nachkommenschaft Svanhildr und Sigurðr ormr-í-
Vgl. Rakoczy 1996, S. 41, Anm. 7. Lassen 2003, S. 17. Siehe eDIL, „2 lúan“: „lúan in sense of radiance, light. First element also lón (and lon?), lonn, lonna. Second element also irgaile, láich. See én gaile s. lén. Used of some kind of radiation (?) above the head of a warrior in battle. ‚Krieger-Mond‘.“ Vgl. grundlegend dazu von See 1993. Teichert 2014, S. 146. So ist die Knochenlosigkeit des ersten Ragnarsohns Ívarr mit einigem Recht als die Beinlosigkeit der kriechenden Drachenschlange verstanden worden (vgl. Chadwick 1959, S. 187). Auf ähnliche Weise vereint ein östlicher Motivkomplex aquatischer außernatürlicher Wesen gerade diese beiden Elemente. In den Mythen der Sinti und Roma des Balkans erscheinen so genannte Nivaši, männliche Wassergeister, die die Seelen der von ihnen Ertränkten in Töpfe einsperren, „um sich an ihrem Wimmern zu ergötzen“ („Nivaši“, Berger 1984, S. 803). Menschenfrauen, die sich mit diesen einließen, trügen von da an eine Schlange im Leib und würden von ihnen in der Heilkunst unterrichtet. Deren weibliche Pendants, die Nivaši-Töchter, trügen außer dem dichten Haar, das ihnen als Kleidung diente, nurmehr rote Schuhe. (Siehe die erste Begegnung, bezeichnenderweise auf dem Wasser, zwischen der nackten, nur in ihr prächtiges Haar gehüllten Áslaugr und dem Wikingeranführer Ragnarr). Ausdrücklich der erstgeborene Sohn einer Nivaši-Tochter sei „knochenlos“, könne aber gleich nach der Geburt bereits herumschwimmen und herumlaufen (!) (vgl. „Nivaši“, Berger 1984, S. 803).
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3 Der Glanz des mythischen Körpers
auga) ,strahlen‘, glänzen tödlich gefährlich, so wie Fáfnir nicht nur seinen giftigen Inhalt ausschnaubt, er ist auch gleichzeitig fráni ormr, die „glänzende Schlange“. In der engen, typologischen Verwandtschaft zur Midgard-Schlange¹³¹ wird die Art dieses Glänzens unmissverständlich deutlich: In Hymiskviða (23) ist die Midgard-Schlange nicht nur die gift-speiende Schlange, sie wird auch zum orm eitrfán, zur „gift-glänzenden Schlange“, d. h., im Zustand des Glänzens wird der giftige Inhalt abgestrahlt, emittiert. In der Tat unterscheiden sich Monster wie Monstergegner auf keine Weise in der gefährlichen Qualität ihrer Emissionen, nicht einmal in der Vorgehensart. Entsprechend können Monster wie Monstergegner nur auf die gleiche Art, ,hinterrücks‘, ,heimtückisch‘, was im Einzelfall bedeuten kann rituell gesichert, getötet werden: So oder so lässt diese Art der Tötung auf Monströses schließen. Und nicht einmal in der weiblichen Physis muss ,Weißheit und Strahlkraft‘ ausschließlich oder zuvorderst Schönheit im Sinne einer weichen, eben typisch weiblichen Attraktivität bezeichnen, das mag sie manches Mal, vielleicht sogar im häufigeren Fall tun,¹³² aber gerade jenes vorgebliche Paradebeispiel für mythischen Liebreiz und Schönheit, die leuchtend weißen Arme des Riesenmädchens Gerðr, sind am wenigsten dazu geeignet, eine solche Vorstellung zu stützen. Erst ihr unvermitteltes, plötzliches Aufblitzen bringt den Gott Freyr nahezu um den Verstand (Skm 6; Gylf 37) und genauso folgenschwer verläuft bekanntlich die erste Begegnung zwischen Balderus und Nanna, wie sie Saxo entwirft. Auch hier ist es der venustissimi corporis nitor „der Glanz ihres liebreizenden Körpers“ (Gest.Dan. 3.2), der den nämlichen Effekt bei dem jungen Halbgott hervorruft. Selbst bei dieser vorgeblich weiblichen Konzeptualisierung von Schönheit handelt es sich um eine höchst aktive, ja aggressive Potenz, kaum anders als bei ihren männlichen, nun in diesem Sinne freilich mehr denn je fraglich schönen Pendants.¹³³ Denn für unsere weiteren Überlegungen könnte das bedeuten, weder Heimdallr noch Balder sollten in diesem Sinne als ästhetische, schöne Götter gekennzeichnet werden, es geht nicht um Schönheit als Merkmal einer Standesideologie oder gar die Bevorzugung „germanische[r] Rasseschönheit“,¹³⁴ die
Vgl. Teichert 2014, S. 159. Entsprechend kann diese Farbeigenschaft für Männer im heroischen Milieu das Konnotat von Feigheit und Weichlichkeit bekommen. So verwendet etwa die Laxdœla saga, Kap. 198 (Einar Ólafur Sveinsson (Hg.) 1934) das Motiv der blassen Haut als Ausdruck „mangelnder Männlichkeit“ und ist explizit als Beleidigung gemeint (vgl. Brückmann 2012, S. 52). Auch die christlichen Märtyrerlegenden kennen diese spezifische Funktionalisierung der Nacktheit zur Bannung des unerlaubten Blickes. Hier ist es nicht magische, sondern göttliche Wirksamkeit, die den nackten Leib der Märtyrerin mit aggressiver Strahlkraft erfüllt oder umgibt. In einer Art „Autoillumination“, einer überirdischen Strahlung, bannt der entblößte Leib die Umstehenden und verunmöglicht ein Betrachten. Der entblößte Leib der Hl. Martina leuchtet „weißer als Schnee“ und lässt die Umstehenden erblinden (vgl. Weitbrecht 2008, S. 273). Die Hl. Agnes wird im Bordell von blendendem Glanz umgeben, „ita vt nullus posset eam prae splendore nec contingere nec videre“, selbst die wilden Löwen in der Arena werden vom Anblick der nackten Thekla bezwungen, so dass sie ihren Blick senken müssen und ihr die Füße lecken (vgl. Weitbrecht 2008, S. 271). Neckel 1920, S. 100.
3.5 Der Schlangenblick
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Weißheit ist zunächst einmal prototypisches Kennzeichen des außergewöhnlichen Vermögens, einer göttlichen Potenz, eines (außer- oder übernatürlichen) Erfülltseins. Die glänzenden Augenbrauen (oder Wimpern) der Jarlsfrau mögen zu Snorris Zeiten als weibliches Schönheits-Attribut gegolten haben, mehr als befremdlich indes als Charakteristikum in diesem Sinne bei Balder. Aber das ist damit auch nicht gemeint. Es ist vielmehr eine seit Jahrtausenden eingeübte sprachliche Vorsichtsmaßnahme: Balders strahlende Brauen¹³⁵ sind Instrumente zur Erzeugung des Schlangenblicks, er trägt wie die Vǫlsungen die Drachenqualitäten in sich und man scheute sich zu Recht, die mächtige Befindlichkeit gerade dieses Trägers buchstäblich ,unverblümt‘ anzusprechen.¹³⁶ Es ist der gleiche Sinnbezirk, in den der ebenso missverstandene Odinsname Svipdagr gehört: Nicht etwa die ‚Helligkeit des Tagesʻ in seinem Blick ist gemeint, „dessen aussicht klar wie der tag ist“¹³⁷ u. ä., der Name gehört zu svipa „einen schnellen blick werfen“ (gegebenenfalls „eine schnelle bewegung machen“).¹³⁸ Es ist der unberechenbare, unstete, schillernde, oszillierende, tödlich gefährliche Blick, der gerade durch die Asynchronie der Augen bewirkt wird. Mythische defiziente Körpermerkmale sind also niemals ,lebensweltlicheʻ, wenn überhaupt, erst zu Beginn der Neuzeit als (bedauernswerte) Behinderung konzipiert, und, wiederum der Alleinheit mythischer Denkweise geschuldet, es macht nicht einmal einen Unterschied, ob die Abweichung, die Pervertierung, die Asynchronie bewusst, mit Absicht eingesetzt wird oder unbedacht, ,im Übermutʻ, künstlich, rituell erzeugt oder qua (emotionaler) Befindlichkeit ‒ die Wirkung, der Effekt ist stets der gleiche. Aus nämlichem Grund teilen die Bedeutungskonzepte (und damit Bezeichnungen) der Augen das Schicksal eines anderen Körperteils ‒ der Sexualorgane. In glei-
Vgl. an. etym. Wb 1962, „brá“: brá (< urgm. *brēhwō, *brē(g)wō); bregða: eigentlich „das bewegliche, das augenlid“, got. brahv „blick“, brahv augins „im augenblick“. Vgl. bregða „schnell bewegen, schwingen; winden, flechten; verändern, wechseln“ (an. etym. Wb 1962, „bregða“). Dazu gehört das Nomen bragð „schnelle bewegung; vorhaben; list; aussehen […]“, auch ne. dial. braid „schnelle bewegung“ (an. etym. Wb 1962, „bragð“). Siehe augnabragð „das zwinkern mit den augen, augenblick“, ein spezifischer Ausdruck der Augen, der gerade im Zusammenhang mit den Körperverrenkungen der Ljót im Rahmen ihres Schadenszaubers erscheint (Vatnsdœla saga, Kap. 26). Das bedeutungsgebende Konzept ist eine plötzliche, unerwartete Aktion, eine rasche Bewegung, hier der Augenbrauen, des Augenlids oder der Wimpern, die an der Bewegung des Auges mitwirken. Grundsätzlich kann jede unberechenbare, unstete Aktion damit bezeichnet werden, insbesondere ist damit auch die schnelle Veränderlichkeit von Lichtphänomenen gemeint, das Funkeln, das Glitzern, das Oszillieren. Siehe Rakoczy 1996, S. 61. Die Eigenart der antiken Quellen diesbezüglich beschreibt er folgendermaßen: „Alle hier angeführten Stellen sind im Ausdruck äußerst knappgehalten und nennen das schräge Auge oder seinen Blick nur flüchtig. Geisterhaft blitzt es auf, um gleich danach wieder zu entschwinden […]. Das scheint auf der Furcht zu beruhen, solch eine gefährliche Sache beim Namen zu nennen. Dazu kommt noch, daß beim üblichen lauten Lesen der Texte an diesen Stellen die bedenklichen Begriffe ebenfalls ausgesprochen werden. Daher ist es sicherer, die Sache nur kurz anzudeuten und den Rest dem Wissen des Lesers, für den das als Markierung ausreicht, zu überlassen.“ an. etym. Wb 1962, „svipa“. an. etym. Wb 1962, „svipa“.
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cher Weise treffen wir hier auf Tabu- oder Hüllwörter, in gleicher Weise wird insbesondere das männliche Geschlechtsteil, der Hoden mit einer Container-Metapher gefasst, und in gleicher Weise hat dieses Körperteil eine hohe Repräsentationsfähigkeit, dabei, wichtig genug, gerade nicht eingegrenzt auf seine rein ,natürliche‘, sexuelle Funktionsfähigkeit, er verkörpert nicht nur sexuelle Potenz und Zeugungskraft, vielmehr ebenso wie das Auge Lebenskraft, Macht, Potenz schlechthin. Und auch in diesem Bereich scheint bei der Nennung mindestens in gleichem Maße die Furcht vor einer unbeherrschbaren, schädlichen Macht im Vordergrund gestanden zu haben denn peinliche Berührtheit oder moralische Ressentiments. Sexuelle Potenz und visuelle Potenz sind in dieser magisch konkreten Vorstellungswelt austauschbar. Anne Lassen verweist in ihrer Untersuchung zum Konzept des Auges und des Sehens (bzw. dessen vorgeblicher Funktionsuntüchtigkeit, der Blindheit) auf zahlreiche Wissenskonzepte dieser Art in den altnordischen Quellen.¹³⁹ Konkret zeigt sich dieses Gleichheitsempfinden etwa im Rechtswesen, wo häufig genug gerade Bestrafungsmaßnahmen an diesen Körperteilen austauschbar erscheinen: die Blendung bzw. die Kastration.¹⁴⁰ Zweifelsohne zeigt sich darin der enge Zusammenhang zwischen Macht und Sexualität in der altnordischen (Männer)gesellschaft, aber ihre Frage, ob wir dann in der Bestrafung der Blendung nicht auch sexuelle Untertöne sehen müssten, ist so gesehen nicht ganz richtig gestellt. Blendung und Kastration konnten als Strafe für sexuelle Vergehen austauschbar zur Anwendung kommen (siehe die Sigrgarðs saga ok Valbrands, in der die Blendung als Strafe allein für ein sexuelle Übertretung erscheint), aber ihre Schlussfolgerung daraus, dass, da ja die lüsternen Augen der eigentliche Auslöser für das Verbrechen gewesen seien („øjnene er lystens sæde“¹⁴¹), diese auch zuallererst bestraft werden müssten,¹⁴² ist zumindest verkürzt. Die Augen sind nicht die Ursache, am wenigsten in Form einer modernen, tiefenpsychologischen Verdrängungstheorie, es ist ihre magisch gegründete Identität, die sie (auch) in der Bestrafung austauschbar macht. Diese magische Austauschbarkeit oder Entsprechung sehen wir auch ikonographisch (wie sprachlich) ausgedrückt im B-Brakteaten von Nebenstedt I (IK128), insbesondere zeigt sich hier die konkrete therapeutische Anwendbarkeit, die Alltagstauglichkeit dieser Vorstellung: Abgebildet ist eine anthropomorphe, unbekleidete Gestalt, nach Klaus Düwel „eine nach links schreitende Männerfigur mit überdimensioniertem Auge“,¹⁴³ beide Hände mit abgespreizten Fingern, eine Hand verdeckt die Schamgegend. Die Runeninschrift wird folgendermaßen gelesen: Glīaugiʀ wīu r[ū] n[ō]ʀ („Glīaugiʀ (= der Glanzäugige), [ich] weihe die Runen“). Glīaugiʀ „der Glanzäugige“ wird dabei zum Odinsheiti Báleygr „der Flammenäugige“ gestellt. Mögli-
Vgl. Lassen 2003. Vgl. Lassen 2003, S. 45. Lassen 2003, S. 49. Vgl. Lassen 2003, S. 48 f. Düwel 2008, S. 47.
3.6 Walvaters Pfand und Heimdallrs Ohr
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cherweise ist Odin selbst abgebildet,¹⁴⁴ aber hier gerade nicht in der Funktion eines Götterfürsten, der sich kaum nackt mit einer Hand am oder vor dem Geschlechtsteil präsentieren könnte,¹⁴⁵ es ist Odin in seiner ursprünglicheren Konzeptualisierung als liminaler Grenzgänger und Zauberer.¹⁴⁶
3.6 Walvaters Pfand und Heimdallrs Ohr Die Blindheit selbst, der Zustand eines Körperorgans, den wir heute als Funktionslosigkeit bezeichnen würden, gehört unterschiedslos zur gleichen Kategorie der fatalen Abweichung von der normalen, üblichen Sehfähigkeit. Sie ist auf gleiche Weise einschlägig und bedeutsam wie alle anderen Sehabweichungen. Denn als sicheres Wissen über Blinde galt: Der Blinde vermag nach wie vor Augenstrahlen zu emittieren, nun aber eben finstere, schwarze, gewiss gefährliche, schädliche, darin gleicht er ‒ die folkloristischen Quellen sind voll davon ‒ den Toten. Dem Schutz vor ihrem Blick sind weltweit ein nicht unerheblicher Teil der Bestattungsriten gewidmet. Es ist dieser Verständnisrahmen, der uns komplett verloren gegangen ist: In dem Maße, in dem moderne Wissenschaftskonzepte jener Vorstellung vom Sehen und insbesondere dem machtvollen und/oder dem ,bösen‘ Sehen seine Plausibilität entzogen, verschwand es auch als Erklärungsmodell für komplexe Ereignisketten: Vorstellungen von Krankheitsursachen, Infektionen, plötzlich eintretende, also buchstäblich nicht nachvollziehbare Unglücks- oder Schicksalsschläge waren mehr oder weniger selbstverständlich auf das Konto dieser Fernwirkung des Blickes gegangen.¹⁴⁷ Es ist das so wichtige feature der direkten Manipulierbarkeit, das unsere ‚Steinzeit-Denkmodelleʻ
Vgl. Düwel 2008, S. 47 f. Ganz abwegig scheint hier Diether Schürs Interpretationsvorschlag, der in der Nacktheit der Gestalt eine „höchst irdische Notlage“ (Schür 2007, S. 13) erkennen will. Die kleinen kreisrunden Objekte, die die Gestalt umgeben, seien Geldstücke aus einem Tempelraub, das „Männlein“ (Schür 2007, S. 15) ein Räuber (vgl. Schür 2007, S. 15 f.). In identischer Funktion wird der Verweis auf den Phallos verstanden werden müssen. Im Mittelmeerraum war er spätestens seit dem 6. Jh. v.Chr. als Apotropaion schlechthin bekannt. Als fascinus taucht er im antiken Bildmaterial allerorten auf, notorisch kombiniert mit Augendarstellungen und der gespreizten Hand, so wie auf dem Brakteaten dargestellt. Es sind allesamt Elemente eines Abwehrzaubers gegen den Bösen Blick. Dabei lassen sich keinerlei Unterschiede in der Verwendung dieser Schutzmittel im öffentlichen bzw. privaten Raum feststellen (vgl. Rakoczy 1996, S. 152 f.). So betont Rakoczy, die Angst vor dem Bösen Blick sei keineswegs ein „im Verborgenen oder lediglich im Kinderzimmer blühender Aberglaube“ (Rakoczy 1996, S. 153) gewesen, sondern vielmehr in höchsten staatstragenden Kreisen akzeptiert. Der römische Triumphzug, gewiss eine öffentliche Zurschaustellung von politischer wie militärischer Macht ohnegleichen, galt als besonders gefährdetes Ziel und gerade hier sei der Phallos als Abwehrmittel par excellence „durch den Kultus des römischen Staates (religione tutatur) sanktioniert gewesen“ (Rakoczy 1996, S. 153). Siehe dazu die umfangreiche folkloristische Materialsammlung bei Seligmann 1910; Seligmann o. J.
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von Ursache und Wirkung erst richtig plausibel macht.¹⁴⁸ Jahrtausende regierte auf diese Weise eine, wenn man so will, nahezu unangefochtene Tyrannei des Auges, alltägliches wie mythisches, religiöses Denken, Philosophie, Literatur und Rechtswesen sind gleichermaßen davon tief durchdrungen bis zu jenem massiven Paradigmenwechsel, einer gründlichen und nahezu kompletten Umsemantisierung hin zu einem modernen, wissenschaftlichen Körperverständnis.¹⁴⁹ Nicht nur der Blinde steht entsprechend außerhalb gesellschaftlicher, moralischer Konventionen, alle ‚Fehlsichtigenʻ tun dies, wenngleich in moderner Lesung bei weitem weniger bemerkt. Die typischen mythischen wie literarischen Stereotypen des bösartigen Blinden wie dessen Gegenkonzept des hellsichtigen Weisen, der Außergewöhnliches vermag, gelten für jede Funktionsauffälligkeit des Auges, und ebenso ist die vermeintliche Diskrepanz zwischen all diesen Vorstellungen gering genug ‒ wer blind ist, weiß mehr, Anderes, er kann in ganz andere Welten blicken, Grenzen überschreiten und von dort, von der ,anderen‘ Seite, wichtiges, machtvolles Wissen erwerben. Aber dermaßen Deviante vermögen nicht nur Anderes, Schwarzes, Jenseitiges zu erblicken, sie vermögen es auch zu blicken, in einer nur für das moderne Denken paradoxen, „transitive[n]“¹⁵⁰ Art und Weise.¹⁵¹ In einem mytho-logischen Sinn bewirkt der Blinde Asymmetrie und Umsturz, Finsternis und Tod auf gleiche Weise wie der Scharfäugige, der Scheelblickende, der Einäugige. Natürlich kann dieses Mehr-Wissen auch zum Vorteil für die Gemeinschaft verwendet werden. Viel zitierter, zweifelsohne positiver Vertreter dieses mythischen Wissensrahmens ist der blinde Seher Teiresias, er stellt sein außernatürliches Wissen wohltätig, gewinnbringend in den Dienst der Menschheit. Aber gerade die Vorstellung einer positiven Nutzung dieser Macht ist nicht nur in der norrönen Literatur spärlich und spät. Lassen nennt neben wenigen anderen etwa eine Stelle in der Óláfs saga Tryggvasonar (Kap. 64), in der der König einen blinden Seher aufsucht. In der Óláfs saga helga (Kap. 96) sind es drei Brüder, ein Stammler, ein Tauber und ein Blinder, die als Ratgeber für den König fungieren.¹⁵² Viel mehr wissen
Siehe Lakoff 2008, S. 54 f.: „The agent is the energy source; and the patient is the energy goal; there is a transfer of energy from agent to patient. […]. The agent is in control of his action […]. The agent bears primary responsiblity for both his action and the change.“ Zumindest einen Teil dieser „geheimnisvolle[n] Bedeutungsaufladung“ (Merkle 2000, S. 8) scheint die Blindheit dennoch bis in jüngere Zeit nicht verloren zu haben. In einer Statistik aus dem Jahr 1970 erwarteten 98 Prozent der deutschen Bevölkerung von Blinden „Außergewöhnliches“, hartnäckig halte sich das Stereotyp, so Harry Merkle in seiner Studie über das Bild der Blinden in der Literatur, Blinde seien nicht normal (vgl. Merkle 2000, S. 8). Offenbar wird also immer noch eine ins Außernatürliche erweiterte Hyperkompensation der körperlichen Einschränkung erwartet, wenn auch nicht mehr unbedingt in einem ausschließlich beängstigenden, negativen Sinn. Rakoczy 1996, S. 42. Diese magischen Fähigkeiten des Auges finden ihren Widerhall bis hinein in die syntaktischen Strukturen der Sprache. So werde im Griechischen vorzugsweise nicht etwa „Schreckliches“ (δεινόν) erblickt vielmehr geblickt, man blicke nicht nur „feurig“, vielmehr blicke man „Feuer“ (vgl. Rakoczy 1996, S. 42 f.). Vgl. Lassen 2003, S. 56 – 59.
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die Quellen nicht von einer gutartigen Ratgebertätigkeit, was nun kaum mehr verwundern muss. Und so ist wohl auch die Vorstellung einer Art magischen Tauschhandels, nicht zuletzt in der Absicht, das dermaßen Eingetauschte strategisch zu nutzen, eine spätere. Ein do-ut-des-Konzept, ein Opfer an eine wie auch immer geartete, übernatürliche Macht stand nicht am Anfang, es ist die Unnatürlichkeit, Monstrosität des Körpers selbst, die entsprechend Unnatürliches, Monströses bewirkt. Und doch scheint es gerade diese Art von Tauschhandel, die Snorri (und wohl auch dem Vǫluspá-Autor) vorgeschwebt hat, um Odins Augendeformation zu plausibilisieren. Es wird zu Odins berühmtem Augenpfand, „Walvaters Pfand“ (veði Valfǫðrs,Vsp 27). Im Tausch für sein Auge erhält Odin von Mímir (bzw. seinem Brunnen) ‚Weisheitssubstanz‘. Aber allein die Tatsache, dass diese Vorstellung in der norrönen literarischen, aber auch folkloristischen Tradition gar keine gute Grundlage hat, ja dass überhaupt die mythische Episode des Tauschhandels am Mímir-Brunnen mit zahlreichen Inkongruenzen schon innerhalb Snorris Erzählung selbst behaftet ist, deutet darauf hin, dass wir es mit einer Aktualisierung, einer Neusemantisierung zu tun haben. Odins Wissensquell ist der Kopf Mímirs (in dieser Form der Überlieferung nur als Mímr), aber das ist ein Leichenteil, ein (wiederbelebter) Toter, Odin der Nekromantiker nutzt die Toten als Wissensquelle, was in der nordischen Mythologie wiederum eine gut belegte Tradition hat. Körperliche Deformation und Aberration, sexuelle Abweichung und Perversion gehören untrennbar zu Odin. Auf unterschiedlichen Symbolisierungsebenen zeigt sich das semantische Feld des Liminalen, Abgewiesenen, Asozialen, Neurotischen,¹⁵³ ein Konzept das noch Äonen entfernt ist von seiner späteren Funktion des Allvaters. Von Odins ‚Schiefheit‘, seiner ‚Asymmetrie‘ wissen dann nur noch seine kaum mehr damit in Verbindung gebrachten heiti, nicht zuletzt sein Name selbst. Seine sexuellen Perversionen sind ebenso legendär wie tabuisiert, voller Scham hüten sich alle, mit Ausnahme Lokis, davon zu sprechen, nur die ,Sehbehinderung‘ blieb von diesem alten Leben, von diesem alten Wissensumfeld übrig, von der man sich indes flugs beeilte zu versichern (seit Snorris Zeiten und im Grunde genommen bis heute), dass es wohl eigentlich keine sei, sie sei ja kompensiert worden: Odin habe sich eben als richtige, fürsorgliche Vaterfigur zum Wohle der Gemeinschaft geopfert.Wenn man nun aber gerade davon nicht mehr ausgehen will, was erzählt dann der Mythos ‚eigentlich‘? Immerhin scheint sich doch Snorri auf Traditionen zu stützen, die Odin und Heimdallr tatsächlich mit dem Verlust eines Körperteils zusammenbringen. Die Idee des Ursprungs eines Gewässers aus einem Auge oder Kopf ist im Irischen ein gut belegtes Motiv, bekannt als so genanntes „,eye-and-well‘ motif“.¹⁵⁴ Darin geht es um eine bewusste, freiwillige oder provozierte Verstümmelung meist (aber bezeichnenderweise nicht ausschließlich) des Auges, die zur Entstehung einer Quelle,
Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 94. Carey 1983, S. 214.
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eines Flusses führt. Zentral scheint dabei das Konzept des Fließens von Flüssigkeit, das aus dieser unerklärlich grausamen Aktion entsteht. So reißt sich die Heilige Brigit eigenhändig eines ihrer Augen aus der Höhle (um der legendenhaft stereotypen, unerwünschten Ehe zu entgehen) und bringt damit nicht nur ihre Augenhöhlen zum Bluten, sondern ebenfalls eine Quelle zum Fließen.¹⁵⁵ Aber die Vorstellung der ,Weisheit aus der Quelle‘ muss damit nicht zwangsläufig verknüpft sein.¹⁵⁶ Im Nordischen scheint diese Idee ohnehin nicht verstanden worden zu sein, weder die Vǫluspá noch Snorri können schlüssig darüber berichten, hier stehen zwei, wenn nicht drei mythische Vorstellungen mehr oder weniger unvereinbar gegenüber: Die Idee, dass aus einem Körperteil ein Gewässer entspringen könne, dass eine Verstümmelung, genauer ein Verstümmelter das Entspringen eines Gewässers bewirken könne und dass durch eine Verstümmelung der dermaßen Entstellte übernatürliche Macht, Wissen, Weisheit erlange. Die älteste Version dazu treffen wir in dem Gedicht Sid Nechtain sund forsin tsléib ¹⁵⁷ in den Dindshenchas an (11. Jh.). Die Quelle Segais, in einem Feenhügel verborgen, wird von Nechtan und seinen drei Mundschenken bewacht. Wer auch immer dort unerlaubt hineinblickt, dessen Augen platzen aus dem Kopf. Aus schierem Übermut, „aus Fürwitz“¹⁵⁸ (was in mythischer Sprache lediglich eine Art Platzhalter bedeutet, um im CAUSATION-Konzept das feature der Intention, der bewussten Handlungsabsicht nicht unbelegt zu lassen) begeht dessen Ehefrau Boann eine Reihe von Tabubrüchen. Sie bricht das Sichtverbot und unternimmt einen tuaithbel, jene
Siehe Carey 1983, S. 214: „In the Old Irish Life of Brigit the saint’s brothers, indignant because her intention to remain a virgin is depriving them of her bride-price, wish to betrothe her against her will. When she insists that she will not marry, she is told that her eyes are so beautiful that she will not be allowed to remain unwed. Thereat suddenly she thrust her finger under her eye […]. ‚Here is that lovely eye for you,‘ said Brigit. ‚It seems to me,‘ she said, ‚that no one will ask you for a blind girl [… ].‘ Her brothers rush around her at once, but they had no water to wash the wound. ‚Let my staff,‘ she said, ‚be planted upon the sod before you.‘ That was done. A stream burst from the earth […].“ Ganz unmotiviert klingt ein anderes legendenhaftes Beispiel aus der Erzählung Talland Etair (11. Jh.): Der Poet Aithirne Ailgesach verlangt auf einer Reise durch Irland das einzige Auge des MunsterKönigs Eochaid mac Luchta. Bizarrer noch als das Begehren ist die Reaktion des Königs darauf: „Then the king put his finger under his eye […], so that he plucked it from his head and gave it to Aithirne. ‚Lead me, servant,‘ said the king, ‚toward the stream, for the washing of my face.‘ Then he poured three waves of the water […] on his face. ‚Is the eye plucked from my head, servant?‘ said the king. ‚Woe is me!‘ said the servant. ‚The hollow is red (is derg in derc) with your blood.‘ ‚Be that its name forever,‘ said the king, ‚namely, Dergderc.‘ Thus the king wrought generosity, namely, giving his only eye for the sake of honour. As a miracle of generosity God gave him two eyes.“ In der zweiten Rezension der Dindshenchas (12. Jh.) plausibilisiert die Geschichte nicht den Ursprung eines Namens für ein Gewässer, sondern vielmehr den Ursprung des Gewässers selbst. „Here as in the Brigit story no water can be found with which to wash away the blood, but a spring bursts from the ground when the king pulls up some rushes […] He immerses his head three times and miraculously receives two eyes“ (Carey 1983, S. 214 f.). Vgl. Gwynn (Hg.) 1991 [1913], S. 26 – 33. Birkhan 1997, S. 690.
3.6 Walvaters Pfand und Heimdallrs Ohr
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keltische Version der magischen Inversion mit entsprechend absehbaren Konsequenzen: Die Quelle steigt über die Ufer, verfolgt die Fliehende bis zum Meer und macht sie auf dem Weg dorthin einäugig, einarmig und einbeinig. Nach üblicher Manier magischer Denkmodelle wird hier Ursache und Wirkung austauschbar verwendet, denn die Verstümmelungen sind nicht nur lediglich Ergebnis dieser Frevelaktion, vielmehr unabdingbare Voraussetzung. Im (invertierten) Ritual macht sich Bóand (Boann) bereits schief, asymmetrisch, verkehrt, was zur Entstehung des mythischen Urflusses Irlands, des Boyne führt. Ausdrücklich betont auch Birkhan, dass im keltischen Denken kein Unterschied bestanden habe zwischen „[w]irkliche[m] oder vorgebliche[m] Verstümmeltsein“¹⁵⁹: Die Iren haben diese Unpaarigkeit des sonst Paarigen als Zeichen besonderen magischen Vermögens verstanden und auch beim Ausüben von Zauber die Unpaarigkeit als magisches Mittel eingesetzt. Immer wieder ist davon die Rede, daß der Zauberer auf einem Fuß steht und ein Auge zusammen kneift: for lethcois 7 lethsuil eigentlich ,auf Halb-Bein und Halb-Auge‘. Schon daß man Unpaarigkeit durch ein Kompositum mit ,Halb-‘ (leth zu lat. latus ,Seite‘) ausdrückt, scheint höchst bemerkenswert. Wirkliches oder vorgebliches Verstümmeltsein verleiht also übermenschliche Kraft.¹⁶⁰
Die Gestalt des Nechtan wird überwiegend aus vorkelt. *Néptŏnos hergeleitet, es ist der inselkeltische Neptūnus in seiner Funktion als „Herr des Süßwassers“. In einer parallelen Tradition über die Entstehung des Shannon ist es Sionan, eine Enkelin des Meergottes Ler, die die „Quelle des Wissens“ entweiht, und vom Wasser in gleicher Weise bestraft wird wie Boann.¹⁶¹ Es geht in diesen Fällen nicht um Wissenserwerb, es geht um eine Gründung, einen Anfang, den Ursprung eines Gewässers, das in Form einer Übertretung eines Seh- bzw. Wissenstabus modelliert wird, oder aber das Körperteil selbst wird in magischer Sympathie zum konkret körperhaften Ursprung des Gewässers.¹⁶² Es ist diese Vorstellung, die nicht ganz kohärent ins Germanische eingepasst werden konnte, und die nicht nur zu der Idee verleitete, damit die Einäugigkeit (und in der Folge das übernatürliche Wissen) Odins zu begründen, sondern ebenso anzunehmen, Heimdallr hätte seinerseits ein Körperteil, gar ein Ohr geopfert zu eben nämlichem Zweck. Das Vergleichsmoment war der Akt der Verstümmelung, dem sich beide Götter unterzogen zu haben schienen, was bei Heimdallr gewiss der Fall war, Birkhan 1997, S. 733. Birkhan 1997, S. 732 f. Vgl. Birkhan 1997, S. 690 f. Siehe Carey 1983, S. 216 f.: „Each of the three stories first cited describes the violent removal of an eye as being simultaneous with, or directly responsible for, the bursting of a spring from the earth: the idea seems to be based both on the gush of blood (or tears) from the eye-socket, and on the resemblance between an eye and a pool – we may compare the Welsh phrase Ilygadyffynnon, literally ‚eye of the fountain,‘ which W. O. Pughe renders ‚the issue of a spring.‘ Although in one case taken over into a story celebrating the chastity of a saint, and in another included in an exemplary tale of kingly generosity, the motif in all three examples seems to supply a mythical explanation for the origin of a spring or pool through sympathetic magic.“
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wenn auch nicht zu diesem Zweck, bei Odin niemals. Die Frage, was geschah am Mímir-Brunnen, ist eng verknüpft mit den Ereignissen an einem anderen mythischen, mutmaßlichen Wasserort: Singasteinn. Dafür muss aber noch einmal Heimdallrs mysteriöse körperliche Disposition genauer betrachtet werden.
3.7 Heimdallr Brisingr Man kann die Fülle von Heimdallrs Zuschreibungen und Epitheta etwa grob in drei Gruppen einteilen. Zunächst einmal geht es um seinen hohen sozialen Status. Heimdallr gilt als „mächtig“ und „heilig“, mikill ok heilagr (Gylf 27), er wird als kostigr (Húsdr 8) bezeichnet, „der mit guten Eigenschaften Ausgerüstete; der Kostbare“, ein Wort, das wohl für „herausragende Personen“ verwendet werde, aber ebenso für „ein gutes Stück Land“,¹⁶³ wie im Übrigen auch das schwierige heilagr eher weniger für Personen verwendet werde als vielmehr für Objekte, die mit den Göttern in Beziehung stehen, die Weltesche, das Götterland, Göttersitze, Ströme des Götterlandes, geweihte Stätten usw. In Hdl 43 wird Heimdallr als stillir stórauðgaztr ¹⁶⁴ bezeichnet, also ein Herrscher, der der Allerreichste ist, auch hier ein Ausdruck, der zumeist für weltliche Reichtümer, materielle Besitztümer, gebraucht wird. Heimdallrs Zähne sind aus Gold, er ist der Gullintanni. Und auch sein Pferd trägt einen Goldnamen, Gulltoppr, „die Goldmähne“ (Gylf 27), eine Fülle von Assoziationen also, die auf materiellen Überfluss, insbesondere Gold, Reichtum verweisen, auf Macht, den hohen Status u. ä. Aber bedenken wir dazu seine ,Entstellung‘, so erscheint Heimdallr recht eigentlich als reicher, hässlicher Mann. Eine weitere Eigenschaftsgruppe des Gottes besitzt starke Assoziationen mit dem Meer, mit Wasser allgemein. Er ist der mǫgr átta mœðra ok einnar (Húsdr 2), der „Sohn von acht Müttern und einer“ (die neun Mütter werden üblicherweise als die Wellentöchter des Meeresgottes Ægir interpretiert), es bezeichnet also seine aquatische Herkunft, seine Herkunft aus dem Meer, wie sich ja überhaupt jener mythische Konflikt am Meer oder sogar im Meer abspielt. Heimdallr hat ebenso eine Verbindung zum Mímirbrunnen, andererseits wohnt er in Himinbjǫrg (Grm 13) bei der Brücke Bifrǫst. Der „Himmelsberg“ am Rande der Welt ist nun seinerseits mit starken Wasserassoziationen versehen, „heilige Wasser“ fallen von den Himmelsbergen (hnigo heilog vǫtn af himinfiollom), ein Bild, das wir etwa in der Helgakviða Hundingsbana I (HH I 1) aufgerufen haben, bekanntlich explizit in einem Urzeitkontext. Es geht um die Geburtsumstände, die Anfänge des Helden Helgi, die mit einer ganzen Kosmogonie gleichgesetzt werden. Und dieser Plural vǫtn („Gewässer“) werde nun nicht etwa für „Regen“ verwendet, was in diesem Zusammenhang zumindest naheliegend wäre, so
Vgl. Cöllen 2015, S. 225. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „auðigr and auðugr“: as. eâðig „beatus, opulentus; […], rich, opulent; ríkr ok au[ðigr], „powerful and opulent, […], wealthy“ […], skip mikit ok au[ðigr], „with a rich lading.“
3.7 Heimdallr Brisingr
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Cöllen, vielmehr bezeichne dieser Ausdruck stets „durch das Land fließende ,Flüsse‘ oder ,Bäche‘“.¹⁶⁵ Das bildgebende Konzept ist die Vorstellung eines Berges, von dessen Hochlagen Wasser, Steine und Geröll als gigantischer Wasserfall herabstürzen.¹⁶⁶ Nun weiß die Húsdrápa (2) in einer einzigen Strophe von Heimdallr und Loki als Kontrahenten in einem offenbar legendären, wenn auch kaum mehr bekannten Kampf zu berichten.¹⁶⁷ Snorri kennt ein interessantes Detail, dass die Kämpfer sich in Seehund-Gestalt, í sela líkjum (Skáldsk 8), begegnet seien, Amphibienwesen, Mischwesen vielleicht, an einem Ort namens Singasteinn, eine Bezeichnung mit sehr unsicherer Etymologie (wie viele weitere der Strophe), aber nicht ganz unwichtig für das Verständnis des Ganzen. Als zumindest potentiellen Wasserort hat man ihn indes noch nie mit einem hydronymischen Benennungskonzept zusammengebracht, aber Snorri selbst scheint den Namen synonym zu einer anderen maritimen Örtlichkeit verstanden zu haben: Vágasker „die Schäre, eine Erhebung aus dem Wasser, eine Felseninsel“.¹⁶⁸ In Jürgen Udolphs namenkundlichen Studien findet sich das vor allem im Niederdeutschen vertretene Wasserwort siek, sik, auch sick (*sik, an. sîk) etwa in der Bedeutung „Bodensenkung, sumpfige Niederung“, „eine stets feuchte Stelle im Akker“, „feuchte Niederung, feuchte, sumpfige Stelle“, „Wasserlauf, Sumpf, wasserhaltiger Grund“, in Südniedersachsen zunächst als „Rinnsal, kleiner Bach“ mit einer Bedeutungsveränderung hin zu „Sumpf, Senke“, „stillstehendes oder langsam rinnendes Wasser“. Auch das Englische kennt das Wort (nicht indes das Niederländische) mit ähnlicher Bedeutungsentwicklung von „Wasserlauf“ > „a field, a piece of meadow along a stream“, also vom Gewässer selbst hin zum Land, das davon durchdrungen wird. Udolph vermerkt ein starkes Vorkommen dieser Wurzel in Orts-
Cöllen 2011, S. 122. Den Ausdruck Himinfjǫll sieht Cöllen entsprechend als den „in den Himmel hochragende[n] Berg“, weniger als „Berg im Himmel“ (Cöllen 2011, S. 124), also nicht unbedingt als Wohnsitz der Götter, eher sei damit die Vorstellung eines Ahnen- oder Totenbergs verknüpft (siehe Helgafell), vgl. Cöllen 2011, S. 125 – 128. Ebenso findet sich in der Heldendichtung die Ortsbezeichnung Sefafjǫll (HH II). Hier hat die wiedergeborene Walküre Sigrún ihren Wohnsitz. Er wird meist als „Sippenberg“ verstanden (vgl. Much 1920, S. 173 f.). Diese Möglichkeit soll hier nicht in Abrede gestellt werden, aber wenn wir die aquatische Natur dieser Ortsbezeichnung in unsere Überlegungen miteinbeziehen, so ist sefa (wie bereits Sophus Bugge vermutete) gegebenenfalls zu altn. sef „Binse“ zu stellen (vgl. sef als „Bezeichnung verschiedener schilfartiger Wasserpflanzen“, Heizmann 2012b, S. XVIII). Damit ist nicht der ‚Binsenberg‘ als solcher gemeint, vielmehr die spezifische Eigenart des Ortes als ‚Wasserort‘, ähnlich dem Ort Logafjǫll (HH I), wo dieselbe Sigrún herausreitet. Dieser ist wohl kein „Flammenberg“, auch log ist sehr altes Hydronym, das in zahlreichen alteuropäischen Fluss- und Gewässernamen erscheint. Ráðgegninn bregðr ragna / rein- at Singasteini / frægr við firna *slœgjan / Fárbauta *mǫg – vári / Móðǫflugr ræðr mœðra / mǫgr hafnýra fǫgru / – kynni ek – áðr *ok einnar / átta – mærðar þáttum (Húsdr 2). „Der ratkluge, berühmte Grenzwächter der Götter [Heimdallr] kämpft mit Fárbautis überaus gerissenem Sohn [Loki] beim Singasteinn [eine Schäre]. Dann aber besitzt der mutig-kraftvolle Sohn von acht Müttern und einer [Heimdallr] die schöne Meerniere [das Brisingamen]. Das tue ich in Abschnitten des Gedichts kund“ (Heizmann 2009, S. 521). Schier 1976, S. 584.
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namen in Dänemark: Fluren mit Quellen, Quellgebiete trügen Namen mit dem Bestandteil sig (sîk) „sumpfige Niederung, im Winter meist überschwemmtes Land“.¹⁶⁹ Und so findet sich ein in unserem Sinne durchaus einschlägiges Steensiek in Angeln oder Stensig bei Nørlyng.¹⁷⁰ Singasteinn wäre dann etwa ein ‚Gebiet, das von einem Wasserlauf durchzogen oder überschwemmt ist‘. Auch zum mysteriösen Streitobjekt fagrt hafnýra im dramatischen Kampf am Singasteinn weiß Snorri offenbar mehr zu sagen: Er identifiziert es als das Brísingamen,¹⁷¹ das wohl berühmteste Schmuckstück der altnordischen Mythologie. Es gehört Freyja, ein Halsband oder Gürtel, aber auch darin wollen ihm nicht alle folgen. Bis heute scheint nicht entschieden, ob im fagrt hafnýra tatsächlich eher eine Insel, ein Stück Land (und dann im größeren Rahmen eines Weltschöpfungsmythos) zu sehen sei¹⁷² oder eben jenes wertvolle Kleinod Freyjas, freilich mit gegebenenfalls nicht minder starken weltschöpferischen, generierenden Assoziationen.¹⁷³ Gemeinsam ist dieser Argumentation, dass die beiden Kontrahenten Heimdallr und Loki entsprechend ihrer typischen Funktion im Mythos einerseits als Gründer/Schützer/Bewahrer, andererseits als Verhinderer/Schädiger einer wie auch immer gearteten Genese auftreten. Heimdallr hätte also in diesem Kampf Loki letztendlich die kosmogonische Kostbarkeit (ob nun primordiale Urinsel oder ,Gebärhilfe‘) wieder abgenommen und die Ordnung der Schöpfung wieder hergestellt. An dieser Stelle soll indes ein anderer Interpretationsansatz verfolgt werden. Tatsächlich muss dabei wohl nicht einmal die (Re)generationsthematik zurückgewiesen werden, das Bild des Stammvaters, des göttlichen Ahnen, wie es Cöllen ausgearbeitet hat, passt, wie sich weiters zeigen wird, sehr gut in diesen Kontext, aber offenbar ist man eher geneigt, wie auch immer geartete Fruchtbarkeitskonzepte im Bereich der typisch weiblichen Regenerationsfähigkeit, der Gebärfähigkeit zu vermuten und entsprechend danach das Suchschema zu gestalten. Hier aber soll im Gegenteil die Domäne der männlichen Schöpfungskraft erwogen werden, der männlichen Zeugungskraft und Potenz, die als bildgebendes Konzept in Kosmogonien bestimmt nicht weniger häufig vertreten ist. Heimdallr steht hier freilich zunächst einmal tatsächlich eher als Opfer denn als Akteur im Mittelpunkt. Loki ist zweifelsohne
Vgl. Udolph 1994, S. 402. Vgl. Udolph 1994, S. 410. „Dann stritt er mit Loki um das Brísingamen“ (þá deildi hann við Loka um Brísingamen [Skáldsk 8]. Schier möchte den Begriff hafnýra als Ortsbezeichnung sehen und letztendlich identisch mit Singasteinn. Es sei also eine Örtlichkeit gewesen, die im Zentrum des Kampfgeschehens gestanden habe (vgl. Schier 1976, S. 584). Vgl. Heizmann 2009, S. 506 f. Heizmann und viele weitere ziehen die Interpretation des hafnýra als pflanzliches Objekt vor, als einen gewissen westindischen Pflanzensamen, der durch die Meeresströmungen bis in nordische Regionen gespült werden konnte. Diese Exotik habe ihm zu magischen Qualitäten verholfen. Unter dem Namen vettenyrer „Wichtnieren“ oder løsningsstene (lausnarsteinar) soll er zur Geburtsförderung eingesetzt worden sein, was seine generative wie regenerative Funktion („Regenerationskleinod“, Heizmann 2009, S. 515) unterstreiche (vgl. Heizmann 2009, S. 514 f.). Ähnlich Kunstmann 2020, S. 100 – 106.
3.7 Heimdallr Brisingr
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der Dieb des „Brisinggürtels“, aber er hat ihn nicht zurückgegeben, zumindest nicht an Heimdallr. Bevor wir nun aber den Versuch unternehmen können, den genauen Hergang dieses mythischen Ereignisses zu rekonstruieren, insbesondere was Snorri, der für gewöhnlich als guter Kenner der mythologischen Zusammenhänge gelten darf, dazu veranlasst haben könnte, ,Meerniere‘ und ,Schmuckgürtel‘ als identisch anzusehen, gilt es eine letzte, vielleicht rätselhafteste Gruppe von Heimdallr-Attributen in Augenschein zu nehmen: Diese unterstützt nachdrücklich die Vorstellung, in Heimdallr eine wie auch immer geartete behornte Gottheit zu vermuten. Heimdallr teilt mit dem Widder mehrere Beinamen, und dazu gehört etwa der Ausdruck heimdali („Widder“) selbst. Nun wurde schon früh bezweifelt, dass diese Verbindung ursprünglich sei, die erwähnten Namen seien erst sekundär auf Heimdallr übertragen worden,¹⁷⁴ aufgrund von Verwechslungen, von etymologisch falsch verstandenen Homonymien, der Name des Gottes Heim-dallr sei mit dem Widderheiti heim-dali (cervus domesticus, der „Haus-Hirsch“) einfach gleichgesetzt worden, und entsprechend sei auch die Eigenschaft des Gullintanni, „mit den Goldzähnen“, ursprünglich nur dem Widder zugekommen, man staune, wegen seiner „metallglänzende[n], „goldfarbige[n]“ Zahnbeläge, die bei Schafen mitunter beobachtet werden könnten.¹⁷⁵ Aber das muss schon aus dem Grund ganz abwegig erscheinen, weil dieses Epitheton ja bei Leibe nicht das einzige ist, das bei Heimdallr auf Glanz, auf Gold, auf Reichtum verweist. Heimdallr ist kein Widder, diese Assoziation ist tatsächlich aus einer späteren Bedeutungsverengung des ersten Bestandteils seines Namens, Heim-, entstanden. Dieser hat, was als neuer Ansatz hier vorgeschlagen werden soll, nichts mit ,Heim‘ oder ,Welt‘ im Sinne von domesticus zu tun, er hängt vielmehr mit dem ahd. Begriff hamal zusammen, der noch mhd. nichts anderes bedeutet als „mutilus“, „verstümmelt“, „gestutzt“.¹⁷⁶ Das (seltene) mhd. Substantiv hamel bezeichnet einen „abgehauenen Stamm“, „Klotz“, (ähnlich der Beiname Hallinskíði (Gylf 27), etwa „schiefes Holzscheit“). Das as. hamelian, engl. to hamble, bedeutet „die Knieflechsen durchschneiden und so lähmen“.¹⁷⁷ Das deutsche Verb hammeln ist „verschneiden“, wobei Grimm auf eine zweite Bedeutung verweist, die er indes für homonym hält, „ein ungeschicktes thierisches springen mit dem ganzen beine“, es sei somit zu hampeln oder humpeln zu stellen.¹⁷⁸ Hier scheint indes eine Wurzelgleichheit sehr wahrscheinlich, es geht um ein ‚gehindert sein am normalen Bewegen‘, ein ‚komisches Gehen‘ (siehe ,Hampelmann‘). Aber auch der Name des dänischen Sagenhelds Amlóði (Hamlet) hat
Vgl. Cöllen 2015, S. 259, mit Verweis auf Birger Pering. Vgl. Much 1930, S. 64 f. Siehe Cöllen 2015, S. 264. DWb „hammel“; „hammeln“; „hämmeln“. „[D]er begriff den wir heute mit dem worte verbinden, scheint ihm nicht von alten zeiten her eigen und noch im mhd. nicht bezeugt. ahd. begegnet das adj. hamal, durch welches mutinus (l. mutilus) übersetzt wird.“ Siehe etwa hamalstat „richtplatz“, daneben in der Bedeutung „des zerrissenen, abschüssigen terrains“. DWb, „hammel“; „hammeln“; „hämmeln“. Vgl. DWb, „hammel“; „hammeln“; „hämmeln“.
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im Neuisländischen und Norwegischen die Bedeutung „Trottel“.¹⁷⁹ Es ist also zunächst ein ‚Asymmetrisch seinʻ oder ‚machenʻ im ganz allgemeinen Sinn. Bei behornten Tieren bezieht sich die Asymmetrie zunächst nur auf die Hörner, eine Abweichung von ihrer üblichen Paarigkeit, das tirolerische humlet bedeutet „ohne Hörner“ oder „mit stumpfen, gekappten Hörnern“, auch der bayerische hummelbock oder der preußische hummel ist zunächst ein „hornloses oder einhorniges [kurs. d. Verf.] rind“.¹⁸⁰ Erst im späteren Mittelalter wird der Begriff dann noch weiter eingegrenzt auf den beschnittenen, kastrierten Schafbock. Das bedeutet aber, die spezifische ‚Widderhaftigkeit‘ des Heimdallr ist tatsächlich sekundär, nicht aber sein Verstümmeltsein an Hörnern und/oder Geschlechtsteilen. Und wenn nun in einem alltäglichen, sprachpraktischen Verwendungssinn die Defizienz von Horn wie Hoden schon immer gleichgeschaltet war, so wird dies auf nämliche Weise für die mythische Bedeutungsebene angenommen werden können: Es ist exakt diese Doppelfunktion, die das mythische Konzept der ‚Meer-Niere‘ vereinigt. Es handelt sich hier in der Tat um ein Körperteil, eine Trophäe, wenn man so will, aus jenem berüchtigten HeimdallrKampf. Tatsächlich hat dieser Kampf bzw. dessen Ergebnis alles mit der Identität, der Wesenheit Heimdallrs zu tun, mit seiner mythischen Funktion (und so in letzter Konsequenz mit seiner ,Weißheit‘). Die ursprünglich wesentlich erweiterte Semantik von ‚Niere‘ spiegelt dies wider: So bedeutet etwa ahd. nioro keineswegs ausschließlich ‚Niere‘, „paariges, an der Bildung und Ausscheidung des Harns beteiligtes Organ“,¹⁸¹ es bedeutet auch und gerade „Lende“ und ‒ „Hoden“. Schon auf frühester idg. Sprachstufe kann man diese Doppelbedeutung nachweisen, idg. *negu̯ hrós „Niere, Hoden“, eigentl. „runde Anschwellung“.¹⁸² Das Verb ‚entnieren‘ selbst bedeutet explizit „entmannen“.¹⁸³
Wahrscheinlich gehört sprach- wie motivgeschichtlich der ganze Amlethus/Amloði-Komplex hierher. Amlethus (freilich nur vorgebliche) Verrücktheit, seine Narretei, seine merkwürdige, nicht recht motivierte Verbindung zum Meer würde sich damit in seiner Grundkonzeption auf die mythologische Gestalt des Heimdallr stützen (siehe unten). Der zweite Namensbestandteil von Heimdallr, -dall, wird üblicherweise zu „hell“, „klar“, „superbus“ gestellt. Er passt aber wohl besser zu isl. oder norw. dilla, eine unsichere, schwankende Art sich zu bewegen, vgl. ae., me. dil, dille, deille, dylle „sluggish, slow, stupid, dull“ (OED online, „dill, adj.“), viellleicht zu dull „to be foolish, not quick in intelligence or mental perception“, nhd. „toll“ (OED online, „dull adj.“), also eine Verdeutlichung des Erstglieds. Auch Birger Pering möchte letzterer Etymologie den Vorzug geben, indem er auf norw. dalla „laufen, trippeln, watschelnd gehen, schwankend gehen“ verweist (vgl. Pering 1941, S. 253 f.) ‒ dann allerdings kaum im Sinne eines „Hof- und Landwichtes“, der berufsmäßig über den Hof zu schlendern habe. an. etym. Wb 1962, „Auðhumla, Auðumla, Auðumbla“. Auch der Name der nordischen Urkuh Auðum(b)la dürfte auf diesem bedeutungsgebenden Konzept beruhen: auðr „Reichtum“ und *humala „hornlos“ (vgl. Lex.Simek 2006, „Auðumla“, S. 30 f.; an. etym. Wb 1962, „Auðhumla, Auðumla, Auðumbla“). Pfeifer 1993, „Niere“. Ahd. nioro m. ‚Niere‘, auch ‚Hoden‘ (9. Jh.), mhd. nier(e) ‚Niere, Lende‘, germ. *neuran- m., anord. nȳra, schwed. njure, griech. nephrói (νεφροί) ‚Nieren‘. Siehe auch die mögliche Verbindung mit ie. *snā-, *sneu- ‚fließen, Feuchtigkeit‘.
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Die Meerniere ist Heimdallrs „Gürtel“ und Loki ‚entniert‘ ihn in einem buchstäblichen Sinn (Brísings girðiþjófr), aber sie ist auch Heimdallrs „Horn“. Das Gjallarhorn, das hljóð (Vsp 27) und fagrt hafnýra sind ein und dasselbe Objekt. Es ist das Horn des gehörnten Heimdallr,¹⁸⁴ und Loki hat es ihm abgebrochen und geraubt, er hat ihn dadurch verstümmelt, schief, einseitig gemacht, zu einem grotesk entstellten Wesen, einem wunderlichen Anblick in der Götterwelt.¹⁸⁵ In jedem Fall sind es die prototypischen Körperteile männlicher Virulenz und Potenz, beide haben die gleichen starken, sexuellen Konnotationen, entsprechend ist der Verlust des Horns als symbolische Kastration empfunden worden. Das apokalyptische Signalhorn ist ein christliches Missverständnis, der letzte Posaunenstoß eines erzengelgleichen Heimdallrs,¹⁸⁶ indes vollkommen korrekt hat Snorri dessen Platz innerhalb des nordischen Endzeitszenarios verstanden, so wie es die Vǫluspá beschreibt: „Mímirs Söhne spielen, das Verhängnis entflammt / beim alten Gjallarhorn; / laut bläst Heimdallr, das Horn ist in der Höhe, / Odin spricht mit Mímirs Haupt“ (Vsp 46).¹⁸⁷ Was auch immer Míms synir tun, unsere modernen Spiel-Konnotationen von Bedeutungslosigkeit und Konsequenzenlosigkeit führen bei der Auffassung dieser Aktivität auf die falsche Fährte. In der Tat, was hier passiert, ist bitterer Ernst: Hier gerät die Welt ins Wanken. Der Übersetzungsvorschlag Mühlenhoffs, diese Vorgänge weniger als Spiel zu verstehen denn als unruhige Bewegung, trifft die Situation exakt: Míms synir „können […] nur die einzelnen quellen und gewässer sein oder ihre wellen.“¹⁸⁸ „[S]ie, die ohnehin das bewegliche Element darstellen, werden unruhig und fangen an zu spielen“.¹⁸⁹ Man muss hier keinen „dramatischere[n] Ausdruck“ erwarten,¹⁹⁰ es ist ja gewissermaßen eine Klimax der Ereignisse, die sich fortsetzt im Ausdruck mjǫtuðr kyndisk, „das Verhängnis, das Schicksal entflammt, wird ange-
DWb, „entnieren“: „entnieren, exsecare, entmannen: wer ein frei weibsbild schwecht, ward entniert und seines mannlichen glids beraubt. […]. Origenes war ein solcher liebhaber der reinikeit, dasz er sich aus eifer des glaubens selbs entnieret. […]; ein eunuch, einer dem ausgeworfen, der entniert und der seiner testikel beraubt ist. […]; er entnieret und stutzt sie wie die hund. „[N]ierenlos“: „adj. ohne nieren“, „zur zeugung untüchtig“. […] Die nierengegend, die lenden (wie beim lat. ren), aber wie lende […] wieder innerlich: gurtend uwer nieren (var. lende). […] der glaube ist die gurt seiner nieren. Jes. 11, 5. Vgl. Cöllen 2011, S. 262: [H]eimdala hjǫrr („das Schwert des heimdali“) könne als Gleichsetzung zu ‚Haupt‘ nur dann verständlich werden, wenn man heimdali „als ein gehörntes Wesen“ verstehe. Was im Irischen mit dem Kompositum leth- („Halb“‐) ausgedrückt wird, leth-cois, leth-suil (vgl. Birkhan 1997, S. 732 f.), ist im Nordischen Hallinskíði, „der Schräggeneigte“, „Schiefe“. Wenn ein halbwegs realistisches Szenario für ein Signalhorn entworfen werden sollte, ergäben sich für den Ernstfall spätestens jetzt massive logistische wie logische Probleme: Heimdallr schlägt also Alarm, dafür müsste er allerdings seinen Wächter-Platz verlassen, er muss das Horn aus der Quelle entnehmen, Wasser ausgießen, trocknen und kann zu guter Letzt Alarm blasen. Das macht kein Wächter der Welt. Leika Míms synir en mjǫtuðr kyndisk / at inu galla Gjallarhorni; / hátt blæss Heimdallr, horn er á lopti, / mælir Óðinn við Míms hǫfuð. Vgl. Müllenhoff 1883, S. 141. Müllenhoff 1883, S. 142. So Cöllen 2015, S. 167 f.
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zündet“, und schließlich seinen Höhepunkt findet in horn er á lopti, „das Horn ist in der Luft“. Was wird hier beschrieben? Es ist der Weltenbrand, ein Fluss, ja alle Flüsse geraten außer Rand und Band, mit entsetzlichem Lärm werden sie hoch in die Luft gewirbelt und verdampfen. Wir kennen dieses Bild aus den Metamorphosen, wenn Ovid die schrecklichen, apokalypsegleichen Folgen von Phaetons Absturz mit dem Sonnenwagen schildert, und auch dieser wurde bereits in der Antike in einem explizit eschatologischen Zusammenhang gesehen. Exakt in dieser Gestalt und wohl nur in dieser ist er auch den Nordleuten bekannt geworden (auf die engen Verbindungen des Phaeton-Mythos zu mithräischen Endzeitvorstellungen kann an dieser Stelle nur verwiesen werden), es sind die nämlichen Bilder, die hier aufgerufen sind. Es sind die Flüsse, die expressis verbis ihr bitterernstes ‚Spiel‘ treiben, die Flüsse brennen, um dann zu verschwinden: Damals mit zerstreueten Haaren beweinten / Quellen die Nymphen und Seen. / Es vermißt die pirenischen Wellen / Ephyre, Argos vermißt Amymone, Böotien Dirce. / Nicht die Flüsse sogar, die empfangen geschiedene Ufer, / Bleiben verschont. Sieh, Tanais dampft inmitten der Wellen, / Auch Peneios der Greis und der Teuthranteer Caicus / Und mit dem phegischen Strom Erymanthos der rasche Ismenos, / Xanthos bestimmt zu erneutem Brand und der gelbe Lycormas / Und, der treibt sein Spiel mit geschlängelten Wellen, Maiandros; / Melas, Mygdoniens Fluß, und der Tänarusstrom Eurotas. / Babylons Strom auch brennt, Euphrates; es brennet Orontes, / Ganges, Phasis zugleich und der schnelle Thermodon und Ister. / Siedend empört sich Alpheos, es brennt Spercheos’ Gestade, / Und von den Gluten zerfließet das Gold, das Tagus herabführt. / Die mit hellem Gesang die mäonischen Ufer erfüllten, / Wurden gewärmt, die Vögel der Flut, im Bett des Caystros. / Fern ans Ende der Welt entwich der erschrockene Nilstrom. / Und er versteckte das Haupt, das er jetzt noch birgt, und die sieben / Mündungen lagen in Staub, nun sieben vertrocknete Täler. / Gleiches Geschick entleert die Ismarier Hebrus und Strymon, / Padus und Rhodanus auch und den Rhein, die hesperischen Ströme, / Und, dem Obergewalt auf Erden verheißen, den Thybris (Ovid, Meta. II, V. 238 – 259).¹⁹¹
Nun wird hljóð üblicherweise zur idg.Wurzel *kleu- „hören“ gestellt. In der Bedeutung „Laut“ oder „Ton“ ist es eben das, was man hören kann, und was man „viel nennen oder rühmen hört“, wird dann „berühmt“.¹⁹² Aber es handelt sich hier nicht um diese Wurzel, vielmehr um eine sehr ähnliche bzw. homonymische, und die findet sich wiederum in einem relativ begrenzten Bereich der Hydronymie, was inzwischen bei der starken Affinität Heimdallrs zu Wasser kaum überraschen kann: Hier treffen wir ebenfalls auf eine Wurzel *kleu-, lat. cluo, etwa in cloaca, griech. κλύζω, „bespüle, spüle ab, reinige“, κλύδων „Wogenschlag“, (κατα)-κλυσμός „Plätschern“, „Überflutung“, κλύσμα „Brandung, Strand“, κλυδωνίζομαι „von den Wogen umhergeworfen werden“ und Ähnliches. Im Gotischen erscheint dazu hlutrs, das nhd. lauter (auch altn. hlér „Meer“). Entsprechend findet sich die Wurzel in alteuropäischen Flussna-
Übers. Suchier 1862– 1868. Vgl. lat. inclutus, gr. ϰλυτός „berühmt“, κλέος, „der Ruhm“, russ. slava „Ruhm“, slovo „Wort“ (an. etym. Wb 1962, „hljóð“).
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men, ein *Cluentus im Italischen (Cluentensis vicus), einen air. Cluad,¹⁹³ die zahllosen Lauterbäche, und nicht zuletzt die friesische Göttin Hludana, die aus einigen Weiheinschriften bekannt ist, darunter sind bezeichnenderweise auch friesische Pächter der Fischerei.¹⁹⁴ Heimdallrs abgebrochenem Horn, dem hljóð, entspringen diese Fluten,¹⁹⁵ es sind die mythischen Urzeitquellen, der Mímirbrunnen, Hvergelmir, die Quellen aller Flüsse dieser Welt (Grm 26). Heimdallr ist die mythische Personifikation eines Flussgottes, vielleicht genauer in seiner spezifisch nordischen Konzeption eines Wasserfallgottes.¹⁹⁶ Er ist der Urstrom, der alles Fluss- und Quellwasser speist. Damit
Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „cluō“. Nicht gut einzusehen ist, warum die Interpretation Theodor Siebs des Namens Hludana als Bezeichnung einer Art Meeresgöttin (vgl. Siebs 1892, S. 458), schließlich expressis verbis von Fischern (conductores piscatus) verehrt, rundweg abgelehnt wird und dafür die Bedeutung „die Berühmte, die Laute“ als „natürliche Auffassung“ (Gutenbrunner 1936, S. 85 f.) vorzuziehen sei. Auch eine Verbindung zur germanischen Erdgöttin Hlǫðin/Hlóðyn ist immer wieder erwogen worden und von dort aus weiter zu „Frau Holle“ (vgl. Beck 1999d, S. 644), was aber von der inhaltlichen Seite keinerlei Anknüpfungspunkte bietet. Diese homonymische Wurzel hat im Übrigen wohl auch zur irrtümlichen Interpretation des Namens der Slaven als „die Ruhmreichen“ geführt. Inzwischen wird aber in der slavistischen Forschung einem hydronymischen Konzept der Vorzug gegeben, der Name wird als Herkunftsbezeichnung, als ein Flussgebiet, ein Wasserort interpretiert. Das ursl. *slǎv’āne erscheint griech. Σκλαυηvoί, Σκλαβηvoί, Sklavenoí (Σκλάβoι, Sklávoi), übernommen ins Lateinische als Sclaveni, Sclavini, Sclavi, zunächst lediglich aus Lautgründen. Die ungewohnte Anlautgruppe sl- sollte vermieden werden: „Dieser allgemeine Name der Slawen leitet sich von einem Gewässernamen ab und der Wortbildungstypus -’ane/ěne ist nur von geografischen Objekten denkbar, z. B. Pol’ane ‚Feldbewohner‘, Drěvl’ane ‚Waldbewohner‘. […]. Der zugrunde liegende Gewässername lautete etwa *Slova, zur indogermanischen Wurzel *k’leu-/k’lō(u)-/k’lū- ‚spülen, rein machenʻ, vgl. griechisch κλύζω klýzō ‚spülen‘, lateinisch cluō ‚reinige‘, cloāca ‚Abzugskanal‘, keltische Gewässernamen Cluad, Clut (vgl. englisch Clyde) usw.; andere slawische Gewässernamen, die dieses Appellativ enthalten, sind u. a. Sluja (Smolensk), Sława, Sławica (Polen), Slavnica (Serbien), man beachte auch den Beinamen des Dnepr, altrussisch […] Slovutič. Mit Ausnahme von Slavnica liegen alle genannten Gewässernamen in dem Gebiet, das von J. Udolph [in seinen ‚Studien zu den slavischen Gewässernamen und Gewässerbezeichnungen‘, Heidelberg 1979] als Urheimat der Slawen sehr wahrscheinlich gemacht wurde: das Gebiet nördlich der Karpaten“ (Pohl 2013). Der Anklang des Stammesnamens an slovo „Wort“ bzw. sluti, slovǫ „genannt werden, heißen“ (davon abgeleitet slava „Ruhm“) sei damit rein zufällig, eine Volksetymologie, habe aber wohl gerade dessen Verbreitung und Aufstieg gesichert (vgl. Pohl 2013). Für die Verehrung eines solchen finden sich auch Belege in der Sagatradition (Landnámabók), etwa der Fors á Rangárvöllum (vgl. Egeler 2015b). Nicht ohne Grund nimmt dessen Verehrer Hrólfr rauðskeggi einen wichtigen Platz in Islands Genealogien ein. Er und seine Familie erscheinen als „herausragende“ und „eminent positiv gewertete Figuren“ (Egeler 2015b), schon nahezu (wenngleich noch Heiden) in einem Status der ,Verklärung‘. Der Sohn Þorsteinn rauðnefr opfert dem Wasserfall eine ganze Schafherde, eine Kultpraxis, die eine gute Erklärung liefern könnte für das enigmatische Attribut sonardreyri, „gestärkt mit dem Blut einer (Schaf/Schweine?)-Herde“, mit dem Heimdallr in Hdl 38 bedacht wird. Ausdrücklich betont de Vries, ausgehend von fränkischen Belegstellen (sonista, sonesti „herde“), dass bei diesem Begriff keineswegs von „schweineherde“, sondern von „herde im allgemeinen“ ausgegangen werden müsse (vgl. an. etym. Wb 1962, „sonar-“). (Siehe auch den Eid des Achilles an den Flussgott Spercheios über die Zusicherung von 50 Widdern, Il. 23, 144– 48). Mit Míms hǫfuð könnte dann der Flussgott/Wasserfallgott Heimdallr selbst gemeint sein. Odin spricht mit
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findet er eine unmittelbare Entsprechung im antiken, griechischen Repräsentanten des Süßwassers, des Urwassers überhaupt, im Flussgott Acheloos. Dieser gilt als der älteste und am meisten verehrte Fluss in Griechenland neben seinen 3000 Bruderflüssen.¹⁹⁷ Hesiod nennt ihn ᾿Aχελῷόν τ’ ἀργυροδίνην „Acheloos mit silbernem Strudel“ (Hesiod. Theog. 340), vielleicht wegen des weißlichen Bodens des Flussbettes, wie es heißt, und die dadurch bedingte helle Farbe des Wassers.¹⁹⁸ In der bildenden Kunst erscheint er stets als eine Art Mischwesen, als Stier mit menschlichem Oberleib und Armen oder Menschenkopf, als Mensch mit Stierhörnern, als eine Art Meerdrache mit Fischleib und gehörntem menschlichem Kopf und Armen. Natürlich, er ist der Gestaltenwandler schlechthin, das ist der Natur der Sache geschuldet, die er buchstäblich verkörpert, das Wasser.¹⁹⁹ Die übliche bildliche Tradition von antiken wie mittelalterlichen Flussgottdarstellungen hat darin ihren Ursprung,²⁰⁰ und ein wichtiges Detail kommt hinzu: Der Flussgott wird nicht nur stets gehörnt, sondern auch mit einem Horn in seinem Schoß ruhend oder in der linken Hand, und zwar ausschließlich in der linken Hand, dargestellt.²⁰¹ Stark phallische Assoziationen scheinen dabei stets mitzulaufen, denn mit der Gestalt des primordialen Urflussgottes Acheloos ist gleichermaßen seine Verstümmelung verbunden: Es ist das Aition des legendären Füllhorns, bis heute Symbol einer wie auch immer gearteten Fülle, eines nicht enden wollenden Überflusses an Reichtum, Segen und Fruchtbarkeit. In einem ursprünglichen Sinn ist es freilich zunächst einmal das befruchtende, lebenspendende Wasser des Flussgottes selbst.²⁰² In seinem berühmtesten Mythos verliert Acheloos in einem Zweikampf gegen Herkules ein Horn, sie sind Konkurrenten um die Gunst einer Frau, Deianeira. Eine spätere Zutat, wie wohl zu Recht vermutet wird,²⁰³ aber schon in der Antike wurde der Gewaltakt des Herkules und frustrierter Liebhaber gleichgesetzt und entsprechend als symbolische wie reale Kastration empfunden. In Sophokles Tragödie Die Trachinierinnen spricht die junge Deianeira voller Abscheu von ihrem Freier Heimdallr, sei es, um ihn (gegebenenfalls mit seiner Zauberkunst) zu beruhigen oder aber tatsächlich im Sinne einer Beratschlagung, um Rat einzuholen, wie es als „Sitzen unter Wasserfällen als eine heidnische Technik“ bekannt ist, zur „Erlangung übernatürlicher Inspiration“ (Egeler 2015b). Vgl. Stoll 1884– 1886, Sp. 7. Vgl. Hirschfeld 1893, Sp. 213. Vgl. Clarke 2004, S. 103. Vgl. Appuhn-Radtke 2003. Vgl. Hartwig 1883, S. 11. Schon durch die Ikonographie wird also deutlich, dass hier nicht der alltägliche, ‚rechte‘ Verwendungszweck des Horns als Trinkgefäß gemeint ist. Der Norden kennt diese Füllhornmotivik gerade in letzterem, ursprünglicherem Sinne gut, in Gestalt des Horns des Útgarðaloki. Thor soll es in einem Wettkampf leeren, scheitert aber, da die Spitze des Horns im Meer endet. Es erweist sich also als unversieglich, bekanntermaßen die prototypische Eigenschaft von Füllhörnern. Thors missglückter Versuch wird dabei als Erklärung für die Entstehung der Gezeiten herangezogen, also seinerseits als Urzeitgeschehen ausgewiesen (siehe Gylf 46). Die Verbindung Thors zum insbesondere bewegten Wasser scheint nicht nur hier eine sehr feste, sie spielt auch im Edda-Lied Þrymskviða eine besondere Rolle und auch hier wiederum im Zusammenhang mit Heimdallr (siehe unten). Vgl. Matz 1913, S. 95.
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Acheloos als einem Monster: „Mein Freyer, der zum Vater dreygestaltet kam / Und um mich warb, bald wie ein Stier zu sehen, bald / Als bunte Schlange fort sich windend, bald auch in / Des Mannes Leib stierhauptig, und dem schattigen / Kinnbart entfloß des Quellenwassers Sprudelborn.“²⁰⁴ Sophokles scheint auf ikonographische Darstellungskonventionen vom Flussgottheiten zu referieren, die sich etwa in der Version des ‚Stiermanns‘ mit der Darstellungsweise des Minotaurus überschneiden.²⁰⁵ Und es ist gerade diese Charakterisierung, die sich in einer anderen, sehr berühmten, germanischen Abstammungssage findet. Hier ist an das stiergestaltige Meeresungeheuer, „bistia Neptuni Quinotauri similis“, zu denken, wie es bei Fredegar heißt (III, 9), das mit der Gattin des Frankenkönigs Chlodio (Hludio) am Strand, wir wollen annehmen im Rheindelta, den Meroveus (Merowech) zeugt und damit die Ahnenreihe der Merowinger begründet.²⁰⁶ Durch Gestaltenwandel versucht Acheloos der drohenden Niederlage zu entkommen, er ringt mit Herkules in Menschenform, als sich windende Schlange und schließlich als Stier, und da bezwingt ihn Herkules und bricht ihm das Horn ab (siehe auch Met. 9, 1– 97). Schon Homer kennt diese Assoziation des Flusses mit einem Stier, hier erscheint der trojanische Skamandros als mythischer Urfluss, von Achilles schwer beleidigt stürmt er gegen ihn an, hier noch in seiner ursprünglichen, noch nicht anthropomorphen oder theriomorphen Gestalt als reißende aufbrausende Wasserflut. In Il. 12, 21 heißt er ausdrücklich διοτρεφής, διιπετής, „dem Himmel entfallen, dem Himmel entströmt“²⁰⁷ und auch der Skamandros hat im Beinamen ein Farbwort, er wird als Ξάνθος, „der Gelbliche“, bezeichnet, was sich wiederum weniger auf die Farbe des Wassers selbst zu beziehen scheint als vielmehr auf die Fähigkeit des Flusses, Gegenstände gelb oder weiß zu machen (siehe etwa Aristoteles hist. anim. 3, 12).²⁰⁸ Es ist die nämliche Eigenschaft der Urquelle unter dem Weltenbaum. Die Unentschiedenheit zwischen einer Vorstellung von ,weißem Schlamm‘ oder ,weißem Wasser‘ beruht darauf. Wir können diese Fähigkeit auf einer symbolischen Ebene lesen, mythische Flüsse als ,heilige‘ Container können dieses ihnen innewohnende ,Heil‘ übertragen und an anderen sichtbar machen, genauso als reale, geologische Tatsache der antiken Goldflüsse, deren Goldvorkommen noch so reich waren, dass es tatsächlich an Gegenständen, an Tierfellen und Haaren sichtbar haften blieb. Hierher gehören die goldenen Zähne des Heimdallr, sie entsprechen den Zähnen eines an Übers. Ast 1804, S. 139. Siehe Clarke 2004, S. 101: „On this reading, then, Acheloos has a man’s body and a bull’s head: both variants refer to the same articulation of Acheloos as a monster resembling a Minotaur.“ Die Chlod-Namen der Merowinger werden selbstredend mit „berühmt“ oder „glänzend“ in Verbindung gebracht, aber gerade in Hinsicht auf den eindeutig aquatischen Hintergrund auch ihrer Gründungssage könnte dies noch einmal überdacht werden. Zumindest könnte man von nämlichen volksetymologischen Übertragungen wie im slavischen Namenmaterial ausgehen, wo nach dem Vorbild der Namen Vladislav ‚Ladislaus‘, Bolesław, Vác(es)lav ‚Wenzel‘ usw. der Slavennamen wohl neu motiviert wurde (vgl. Pohl 2013). Vgl. Wörner 1909 – 1915, Sp. 981. Vgl. Wörner 1909 – 1915, Sp. 978.
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deren Urzeitwesens: Ymir. Aus seinen Körperteilen ist die Welt erschaffen, aus seinen Zähnen das Geröll, das Gestein der Erde ‒ bei einem sagenhaft reichen Flussgott ist das aus purem Gold. Seinem wunderbaren Goldwasser verdankt Gulltoppr seine goldene Mähne, schließlich sollen sich selbst Göttinnen die Schönheit und Blondheit ihrer Haare durch ein Bad im Fluss Skamandros erhalten haben.²⁰⁹ So weiß das Etymologicum magnum (um 1100) (ähnlich die Scholien zu Il. 21, 1) zu berichten, dass zu den Vorbereitungen der göttlichen Schönheitskonkurrentinnen (oder ausschließlich der Aphrodite) im berühmten Schönheitswettbewerb des Paris ein Bad im Skamandros gehörte, um so ihr Haar buchstäblich zu Gold zu machen. Darüber hinaus scheint aber das Bad im Fluss auch als Vereinigung, als Geschlechtsakt mit dem Flussgott selbst verstanden worden zu sein, der auf diese Weise rituell vollzogen wurde. Nach einem Bericht des Pseudo-Aischines (ep. 10) badeten die jungen Mädchen der Troas vor ihrer Hochzeit im Skamandros und boten dabei dem Flussgott ihre Jungfräulichkeit an in einer Art von ius primae noctis²¹⁰: „λαβέ μου, Σκάμανδρε, τὴν παρθενίαν“ („Nimm, Skamander, meine Jungfräulichkeit!“).²¹¹ Auch wenn wir in der Literatur der frühen Kaiserzeit diesen Brauch bereits persifliert sehen, so muss darin doch zunächst sehr altes rituelles Handeln vermutet werden. Es geht darum, die sagenhafte Potenz eines Flussgottes für die zukünftige Ehe nutzbar zu machen, ja ihn dadurch recht eigentlich selbst zum Erzeuger, zum Stammvater der Nachkommenschaft zu machen.²¹² Es ist exakt diese Funktion, in der der nordische Rígr/Heimdallr erscheint. Als Realprobe könnte nun also der Versuch unternommen werden, zumindest einige der immer noch nicht restlos geklärten, zumindest schwierigen Begriffe der Húsdrápa-Überlieferung des Heimdallr sub specie einer Flussgottheit zu lesen. Zu Snorris Zeiten kannte man den Begriff vǫrðr goða, der wohl zeitgemäß, aber eigentlich ,falsch‘ als „Wächter der Götter“ verstanden wurde ‒ ein Wächter wohlgemerkt, über den in den Grímnismál gesagt wird, er trinke „in der ruhigen Halle (i væro ranni) fröhlich den guten Met“ (Grm 13). Für einen Wächtergott klingt das in der Tat kaum sehr motiviert oder pflichtbewusst.²¹³ Und es ist auch etwas anderes damit gemeint: Eine übliche bildliche Darstellungsform des Flussgottes in der Antike ist nun gerade seine liegende, ruhende, zuschauende Position, „the reclining river-god“ beim Fest-
Vgl. Wörner 1909 – 1915, Sp. 978 f. Vgl. Nollé 2006, S. 60. Nollé 2009, S. 45. So werden etwa auf einer Münze des 3. nachchristlichen Jhs. „die durch die Brückenpfeiler schießenden Wassermassen [des Flusses Mäander, d. Verf.] ganz markant gestaltet: Auf der besser erhaltenen linken Seite dieser Münze ist deutlich zu erkennen, dass das in die Brückenbögen einschießende Wasser die Gestalt von Phalloi mit deutlich ausgeformter Eichel hat“ (Nollé 2009, S. 45). Wohl könne man hier von einem „individuellen Einfall eines Stempelschneiders“ ausgehen, so Nollé, dennoch sei dieser kaum denkbar ohne einen entsprechenden „kulturellen Kontext“ (vgl. Nollé 2009, S. 45). Vgl. Cöllen 2015, S. 231.
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mahl, beim Symposium, stereotyp das Bild des „reclining banqueter“,²¹⁴ damit verkörpert er den reichen, üppigen, spendablen Müßiggänger. Wie man sich dann an dieser Stelle nun wohl grundsätzlich fragen muss, ob mit vǫrðr (< urn. warþuR) überhaupt, will heißen ursprünglich „Wächter“, „Hüter“ gemeint ist. So könnte an die spezifische Toponymie eines Flusses gedacht werden und der Begriff etwa zu nhd. „Werd(er)“, ahd. warid, werid, mhd. wert „Insel, Halbinsel, erhöhtes wasserfreies Land zwischen Sümpfen“²¹⁵ gestellt werden, die „Flussinsel“, oder „Land am Wasser“, siehe me. warth „a flat meadow, esp. one close to a stream; a stretch of coast“.²¹⁶ Dazu passen die abfälligen Bemerkungen von Loki in der Lokasenna jedenfalls gut, ob er (bzw. seine Zuhörerschaft) sich nun dieses Doppelsinns noch bewusst war oder nicht. Der aurgo baki ist der „schmutzige, schlammige, feuchte Rücken“ des Flussgottes, die Geröll- und Wassermassen, Sandbänke und Untiefen, aber gleichzeitig ist es auch sein hässliches, schiefes, einseitiges, verstümmeltes Äußeres, das nämliche, das Skírnir (im Auftrag von Freyr, dem seinerseits das Schicksal des verschmähten Liebhabers droht) Gerðr an den Hals wünscht. Damit würde aber auch die Interpretation ragna reinvári als „der Weg-Wächter der Götter“ oder „Landwächter der Götter“²¹⁷ eher weniger wahrscheinlich; vári stellt sich als hapax legomenon dar, wird aber (trotz nicht unerheblicher lautlicher Schwierigkeiten) zu verja „schützen“, „verteidigen“ gestellt (in Übereinstimmung zu vǫrðr). Aber es gibt noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit, die offenbar bis dato nicht erwogen wurde (obwohl gerade dann die Problematik der Vokallänge gar nicht in Erscheinung träte): vari/vári „Flüssigkeit, Wasser“, ein Wort, das in zahlreichen alten Flussnamen, einem insbesondere für den Norden sehr bedeutsamen erscheint.²¹⁸ Als Kronzeuge in dieser Hinsicht dürfte aber das Wort rein dienen, für das als Grundbedeutung „rain, grenze, land“²¹⁹ anzusetzen ist. Als nordisches Lehnwort erscheint es allerdings im slavischen Sprachgebiet in einer interessanten Spezialbedeutung mit einer relativ begrenzten Verbreitung: Es ist ausschließlich mit den lokalen, ukrainischen Flusssystemen verbunden. Der Begriff scheint von Anfang an lediglich in einer aquatischen Spezialbedeutung entlehnt worden zu sein und diese findet sich wiederum nur in altgutni-
Vgl. Gais 1978, S. 367 f. Vgl. Udolph 1994, S. 730, mit zahlreichen weiteren Beispielen. OED online, „warth, n.“. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Werder“: „Flussinsel“, mhd. werder, wert m, ahd. werid, wg. *waruþa- m, ae. waroþ m, „Strand, Ufer“. Herkunft unklar, wohl zu anord. ver, wær „Meer“ als „Land am Wasser“. Vgl. Heizmann 2009, S. 507. Vgl. an. etym. Wb 1962, „vari/vári 2“: „flüssigkeit, wasser“. Auch Udolph verweist im Zusammenhang mit dem Toponym ‚Werder‘ (das bezeichnenderweise im Niederländischen und Altenglischen bekannt ist, aber gerade nicht im Nordischen) auf „ae. wær, anord. ver ‚Meer‘, aind. var ‚Wasser‘, avest. vār ‚Regen‘“. Die von idg. *uer- /*ṷor- abgeleiteten Flussnamen, etwa *Warina, *Vara, *Var-ana/ina u. ä. seien in der alteuropäischen Hydronymie eine der produktivsten Sippen (vgl. Udolph 1994, S. 730). an. etym. Wb 1962, „rein“.
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schen und norwegischen Dialekten.²²⁰ Nur hier wird das Wort auch auf maritime Verhältnisse angewendet im nämlichen Bedeutungsspektrum. Im Altgutnischen bedeutet rein „Riff, Sandbank“, was einem me. rēne, entspricht, siehe ukr. rin’, rini, „grober Sand“, auch „mit kleinen Steinchen bedecktes Ufer“, rin’ „kleine Steinchen im Fluss“ (Galicien) oder rin’ „Geröll, Schotter, grober Flusssand“, zarinok „Uferstelle, wo sich das Geröll ablagerte, Schotterbank“, obrínok „kleine Flussinsel von rin’ umgeben“, altruss. rěn’ „Sandbank“.²²¹ Der Grund für die Entlehnung sei schließlich nicht schwer zu finden, so Thörnqvist, der Dnjepr sei bekanntermaßen einer der bedeutendsten Wasserstraßen der Nordleute gewesen. Er stellte in dieser Zeit den schnellsten Verbindungsweg zwischen dem Kiewer Reich und Byzanz dar, berüchtigt für die Gefährlichkeit seiner Wasserstrudel, Untiefen und Stromschnellen, mit denen die Nordmänner aber durchaus vertraut waren, so vertraut, dass sie sie mit eigenen, nordischen Namen belegten.²²² Der Byzantiner Konstantin Porphyrogennetos überliefert uns einige davon.²²³ Insofern liege es durchaus nahe, so Thörnqvist weiter, etwa in rěn’ eine nordische Bezeichnung für die dnjeprtypischen Sandbänke zu suchen.²²⁴ Vielleicht ist es dann auch kein Zufall, dass in der Rígsþula zu Rígrs Ahnenreihe ausgerechnet ein Danr und Danpr gerechnet werden. Letzterer steht sicher im Zusammenhang mit dem Fluss Dnjepr (latinisiert Danaper). Herodot (IV 123 f.)²²⁵ weiß von vier großen Strömen zu berichten, die im Land der Thyssageten entspringen, Lykos, Oaros, Tanais, Syrgis. In Ὄαρος wird ein anderer Name für den Dnjepr selbst vermutet als östlichster und ältester Vertreter des alteuropäischen Wasserworts, wie wir es in vari gesehen haben. Siehe auch die Mitteilung des Jordanes (Get. Kap. 52): „Danabi amnis fluenta […] quam lingua sua Hunni Var appellant“ und des Konstantin Porphyrogennetos (Kap. 38): „ποταμὸς πρῶτος ὁ καλούμενος Βαρούχ“. An den slavischen Beiname des Dnjepr sei erinnert: Slovutič. Nicht zuletzt wissen wir von einem Danr als dem eponymen Ahnherrn der Dänen, und auffallend ‚hydrophil‘ erscheint auch dieser bei Saxo Grammaticus.²²⁶
Vgl. Thörnqvist 1931, S. 428 – 32. Vgl. Thörnqvist 1931, S. 428. Vgl. Thörnqvist 1931, S. 430 f. Siehe Οὐλβορσí: anord. Holmfors, ᾿Aειφός: anord. Aiðfors, Βαρουφόρος: anord. Bárufors, Γελανδρí: anord. Gelandi, Λέαντι: anord. Hlæjandi, Στρούκουν: anord. Strukn (vgl. Jäger et al. 1984, S. 507). Siehe gutn. rajn, staijnrain „Steinreihe, kleine Landzunge, die vom Lande ausgeht und im niedrigen Wasser sichtbar ist“, Rain (ON), ein Steinriff in der Nähe von Aurgrund (Stora Carlsö), norw. dialekt. mœrrein(a); mœlrein, malreine „Untiefe“, altnorw. marreinsbakki, marreinubakki „Sandbank unter dem Wasser, welche die Grenze zwischen der Ebbe und Tiefe draußen bildet“ (Thörnqvist 1931, S. 432). Feix (Hg.) 2001. Gest.Dan. 1.1: Dan igitur et Angul, a quibus Danorum coepit origo, patre Humblo procreati non solum conditores gentis nostrae, verum etiam rectores fuere. („Dan also und Angul, mit denen der Stamm der Dänen begonnen hat, Söhne des Humblus, sind nicht allein die Urväter unseres Volkes, sondern auch
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Alles, was wir damit über Heimdallr in Erfahrung bringen konnten, findet Platz im mythischen wie realen geographischen Bedeutungsspektrum eines nordischen Flusses respektive Flussgottes.²²⁷ Flüsse haben einen zentralen, primordialen Platz in den Kosmogonien, sie führen Ahnen-Reihen von Fürsten und Königen an, römische Flüsse tragen den Ehrennamen Pater, der Tiberis Pater in Rom, natürlich der Rhenus Pater, der „Vater Rhein“. Der ,weiße Gott‘ Heimdallr, der rein-vari, der vǫrðr, der brísingr ist die Verkörperung eines Flusses. Allerdings ist damit jener Fragenkomplex, den wir zu Beginn unserer Überlegungen bereits angeschnitten haben, noch nicht beantwortet: Was könnte Snorri dazu bewogen haben, hafnýra und Brísingamen als identisch (und in der Folge als Streitobjekt) anzunehmen?²²⁸ Dafür muss zunächst noch einmal grundsätzlich überlegt werden, welche Art von Schmuckstück man sich unter dem Brísingamen überhaupt vorstellen sollte. Einigkeit darüber scheint ja bereits zu Snorris Zeiten (und weit davor) keineswegs bestanden zu haben. Ob Gürtel, und damit ein Schmuckstück für die Lenden, oder Halsschmuck, zur Zierde der Hals- und Schulterregion, mag in der Tat zunächst vernachlässigbar sein,²²⁹ auf merkwürdige Weise unentschieden zeigt sich aber auch der Beowulf-Autor. In einer eher kryptischen Stelle im Epos ist ausdrücklich die Rede von einer gewissermaßen Zweigeteiltheit der Eigenschaften. Brosinga mene
seine Herrscher gewesen“). Verum a Dan (ut fert antiquitas) regum nostrorum stemmata, ceu quodam derivata principio, splendido successionis ordine profluxerunt. („Von Dan aber (wie die Vorzeit sagt) ist, wie aus einem Urquell hergeleitet, die Ahnenreihe unserer Könige in ruhmreicher Aufeinanderfolge hergeflossen“). Das schwierige bregða við der Húsdrápa wäre dann leicht unterzubringen als der impetus von zumindest in der Vorstellung noch amorphen Wassermassen, ganz ähnlich wie der wütende trojanische Skamandros gegen den frevelnden Achill anstürmt. Entsprechend kann ohne weiteres von der Grundbedeutung des Wortes ausgegangen werden, „sich schnell bewegen, winden, verändern, wechseln“, also „sich gegen jemand rasch bewegen“ (Schier 1976, S. 580). Ebenso kann bei áðr von seinem wörtlichen Sinn ausgegangen werden, „zuvor“, „früher“ (Schier 1976, S. 581). Heimdallr besaß die Meerniere (= ‚Füllhorn‘) in der Tat zunächst, vor Lokis Angriff. Und vielleicht findet sich sogar in Saxo Grammaticus Ursprungssage der Dänen noch eine allerletzte Reminiszenz an diesen Urkampf, im Streit der Brüder Humblus und Lotherus, in denen nun recht gut Heimdallr und Loki (Loður) erkannt werden könnten: Nachdem rechtmäßig von seinen Untertanen zum König gewählt, wird aus Humblus „durch die Tücke seines späteren Geschicks“ wieder „ein Privatmann“ (Gest.Dan. 1.2). Er wird von seinem Bruder Lotherus besiegt und gefangen genommen, kommt aber mit dem Leben davon, indem er sich zurückzieht und dem Thron entsagt. Und wie es schien, so Saxo, habe er gleichwohl an diesem Leben trotz allem Gefallen gefunden: Ceterum iniuriae tam patiens fuit, ut honoris damno tamquam beneficio gratulari crederetur, sagaciter, ut puto, regiae condicionis habitum contemplatus. („Übrigens trug er die Unbill so ergeben, dass man glauben konnte, er freue sich der Einbusse an Rang wie einer Wohlthat.“ Gest.Dan. 1.2). Vgl. Heizmann 2009, S. 510. Vgl. Heizmann 2009, S. 515, mit Verweis auf den Zaubergürtel der Aphrodite (κεστὸς ἱμὰς), den die Göttin ausdrücklich vom Busen löst, als Hera diesen erbittet (Il. 14, 214– 23). Gerade hier findet dieses Schmuckstück allerdings nicht Verwendung in einem wie auch immer gearteten Regenerationsgeschehen, sondern als Liebeszauber, wenn nicht Schadenszauber. Hera setzt ihn ein, um ihren Ehemann Zeus auszuschalten und das Kriegsgeschehen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
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sei „sigle ond sincfæt“ (V. 1199) gewesen, also Halsband (lat. monile) und zugleich eine Art Behälter, „wertvoller Kelch“, „kostbares Gefäß“ (vgl. ae. sinc „Schatz, Reichtum, Gold, Wertsachen“, fæt „Fass, Gefäß, Becher“). Wenn auch gegebenenfalls als ferne Reminiszenz, ist doch Letzteres exakt die Semantik des hafnýra, des Füllhorns, der primordiale kostbare Container, gefüllt mit unerschöpflichen Reichtümern.²³⁰ Die altenglische Quelle vermutet aber darin zumindest gleichberechtigt ein Halsband. Nun geht Schier davon aus, dass Snorri die Loki-Kenning Brísings girðiþjófr (Haustlǫng 9) im Sinne von þiofr Brísingamens „Dieb des Brisingamen“ (Skáldsk 16) wohl missverstanden habe,²³¹ denn Loki zeigt sich in der Tat als Dieb eines Schmuckstücks, wenn auch in einer sehr späten Quelle, dem Sǫrlaþáttr des 14. Jhs.²³² Die ersten beiden Kapitel der Fornaldarsaga berichten von einer mythischen Begebenheit, wie Freyja durch einen pikanten Liebeshandel in den Besitz eines kostbaren (hier namenlosen) Halsschmucks (gullmen) gelangt: Sie bietet sich an, mit vier Zwergen, die das kunstvolle Kleinod geschmiedet haben, jeweils eine Liebesnacht zu verbringen. Dies bleibt indes Odin nicht verborgen und er beauftragt Loki, das Schmuckstück zu entwenden, allerdings weniger um Freyjas Untreue (die hier als seine Geliebte auftritt) zu bestrafen, vielmehr verfolgt er ein ganz besonderes Ziel. Er bietet nun seinerseits Freyja einen Tauschhandel an: Für die Rückgabe ihres Geschmeides muss sie Totenzauber betreiben, einen ewigen Kampf zwischen zwei Königen, Heðinn und Hǫgni, entfachen. Freyja willigt ein und es kommt zum berühmten Hjaðningavíg, einem nimmer enden wollenden, gegenseitigen Abschlachten zweier Heere, die immer wieder aufs Neue, draugrgleich, zum Leben erweckt werden. Und da nun eine Kenning Heimdallr gleichermaßen als den mensækir Freyju, „Freyjas Geschmeideholer“ oder „Bringer“ (Skm 8) fasst, Heimdallr also offenbar verstanden wird als jemand, der Schmuckstücke bringen oder zur Verfügung stellen kann, scheint Snorri diese beiden Kenningar im Zusammenhang zu sehen, als mythische „mininarration“²³³ eines Diebstahls und seiner Rückgabe. Beim Versuch, dem Rätsel um den Kampf am Singastein näher zu kommen, wird wohl regelmäßig auf den Sǫrlaþáttr als Aition für Freyjas Schmuckstück verwiesen, aber kaum einmal wird auf die Eigenart dieser Quelle ihrerseits näher eingegangen. Merkwürdig unvermittelt stoßen die mythische Eingangserzählung und der weitere sagenhafte Erzählfortgang hier aufeinander mit wenig oder gar nicht gekitteten narrativen Bruchstellen. Freyja spielt fortan keine Rolle mehr, genauso wenig, wie es scheint, ihr Schmuckstück. Eine narrative Doppelgängerin, die mysteriöse Gǫndul,
Die Vorstellung von Brosinga mene als fantastischer Reichtumsspender und kaum als singuläres Schmuckstück (wenn auch in gegebenenfalls synekdochischer Funktion) passt jedenfalls bedeutend besser zur vermuteten Vergleichsstelle der altn. Þiðreks saga: Heimir (Hama) soll dem als unermesslich reich geltenden Erminríkr (Eormenric) eine nicht unerhebliche Menge an Gold und Silber geraubt haben und diese zum Eintritt in ein Kloster verwendet haben (vgl. Þiðr. II, S. 375 – 77). Vgl. Schier 1976, S. 584 f. Guðbrandur Vigfússon und Unger (Hg.) 1860 – 1868. Nünning et al. 2009, S. XII.
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übernimmt ihren Platz als Zwietrachtsäerin. In der Saga ist sie es, die zunächst durch aufreizende Reden, schließlich durch eine Art Vergessenstrank dem Helden Heðinn dermaßen den Verstand verwirrt, dass dieser durch eine Reihe schändlicher Taten die schicksalhafte Konfrontation heraufbeschwört. Die Namensähnlichkeit zum Odinsheiti Gǫndlir ist nicht zufällig, und gerade die Semantik dieser Namen ist für das Verständnis der Erzählstruktur von besonderer Bedeutung, wenn auch prima facie am wenigsten klar. Die Bezeichnungen werden als Ableitungen zum Begriff gandr verstanden, mit dem wiederum ein hochkomplexer Wissensrahmen nordischer Zauberkunst aufgerufen wird. Entsprechend kann an dieser Stelle nur ganz grundsätzlich auf einige elementare Voraussetzungen dieses magischen Verständnismodells verwiesen werden. Zu Recht bringt Eldar Heide die Begriffe gandr, gǫndul(l) mit dem gegebenenfalls noch berühmteren nordischen Magie-Konzept seiðr zusammen.²³⁴ Tatsächlich sind die Bezeichnungen wohl synonymisch aufzufassen, sie sind vergleichbar nicht nur bezüglich der Gedankenmodelle, auf die sie gründen, sondern gerade auch bezüglich der Konkreta, Techniken, Mittel, die mit der zauberischen Praxis verbunden sind. Die Etymologie von seiðr ist, wenn auch lange Zeit diskutiert, wohl relativ durchsichtig, die althochdeutschen wie altenglischen Vergleichsstellen weisen auf eine Wortbedeutung „cord, string and snare, cord, halter“ hin, ebenso erscheint der Begriff in der Skaldik als „cord or girth, girdle“ (siehe etwa Ragnarsdrápa 15).²³⁵ Weniger klar scheint dabei allerdings, auf welche Weise das Weltwissen über eine Schnur zur Grundlage eines magischen Verständnisrahmens werden konnte, auf welche Weise man sich hier außernatürliche Syntagmatismen menschlicher Wirkmöglichkeit, eben jenes Grundprinzip von Magie im weitesten Sinne, vorstellen sollte. Man mag wohl an magisches Binden, Fesseln denken, auch im Sinne von Auslegen von Fallstricken, auch an das buchstäbliche Herbeiziehen von Gegenständen durch diese,²³⁶ aber es trifft doch nicht den eigentlichen, grundsätzlichsten Vorstellungsgehalt. Weniger geht es um die unterschiedlichen (wenn auch ins Magische, Übernatürliche erweiterten) Einsatzmöglichkeiten einer Schnur (Faden, Zwirn), vielmehr um den konkreten Prozess ihres Zu-Stande-Kommens. Es ist der Akt der Rotation, der Drehung, des Zwirbelns, den die Schnur als Ergebnis, als Produkt buchstäblich an sich verkörpert. Das lässt sie zu einem hochpotenten, magisch aufgeladenen Objekt werden, gleichermaßen sind es die Werkzeuge, die diesen Prozess in Gang bringen, die damit ihrerseits die Rotation, die Drehbewegung nicht nur vollführen, sondern durch sich medialisieren: die Spindel, der Spinnrocken.²³⁷ Indem also eine Drehbe-
Siehe dazu die neuere umfassende Untersuchung von Christina Kunstmann (Kunstmann 2020). Vgl. Heide 2006b, S. 164. „A straightforward etymology for seiðr could then be ‚snare, cord, string, halter‘“ (Heide 2006b, S. 164). Siehe awnord. seiðr „Band, Gürtel“, awnord. sími „Band, Schnur“. Oliver Haid und François-Xavier Dillmann gehen hier von einer Homonymie aus (vgl. Haid und Dillmann 2007, S. 859). Nach Ausweis der Dinge handelt es sich aber um die gleiche Wurzel. Vgl. Heide 2006b, S. 165; Kunstmann 2020, S. 91. Die modernen isländischen und norwegischen Bedeutungen des Wortes gandr haben diese Idee bewahrt, auch die Form göndull existiert noch: „Some of the meanings of these words connect them
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wegung als Spinnen, Verdrehen, Kreiseln und Ähnliches ausgeübt wird,²³⁸ kann in einer Art magischer Konkordanz Nämliches etwa im Bereich der Naturgewalten
with spinning. In Modern Icelandic, göndull may mean ,coarse yarn‘ and other twisted items […]. Gand in modern Northern Norwegian may mean ,spinning top propelled by a string‘ […], which closely resembles a spindle twirling on the floor (using a certain spinning technique)“ (Heide 2006b, S. 164), siehe auch nynorsk gand ,snurrebass‘ „Kreisel“ (Heide 2006a, S. 122). Ähnlich Cleasby/Vigf. 1874, „göndull“: „of entangled things“ und Klee 1873, S. 36, Anm.: göndul „knoten, verwickelung“; göndull „nodulus“. Göndler wäre dann als Nomen agentis zu verstehen: „tricas nectens“ (vgl. Meyer 1878, S. 120), etwa der Verknoter, der Verwickler. Vermutlich gehören auch die altnordischen wie modernen isländischen und norwegisch umgangssprachlichen Ausdrücke für Penis hierher. Heide verweist auf eine erotische Szene in der Bósa saga ok Herrauðs (39), in der mit dem Begriff gǫndull zweifelsohne ,Penis‘ gemeint sei (wenn auch, wohl gezielt zweideutig gewählt, in einer Doppelbedeutung ‚Reittier‘. Vgl. Heide 2006a, S. 266 f.). Ähnlich sei eine moderne isländische Bedeutung („in Icelandic pornography“) des Begriffs gandur (vgl. Heide 2006b, S. 167). Daneben sei seit dem 18. Jahrhundert das samische Wort nåejtiendïrre bekannt, „which corresponds to gandr as a magic projectile, which the noaidis used against each other. Literally, it means ,noaidi’s penis‘ […]“ (Heide 2006b, S. 167).“ Dies sei im Sinne einer (nach Meulengracht Sørensen) typischen „phallic aggression“ der altnordischen Kultur zu verstehen, „which is based upon the notion that the one who penetrates in intercourse is the strongest (Heide 2006b, S. 167).“ Die zunächst naheliegende Überlegung, das gemeinsame bedeutungsgebende Konzept in einem Sinnbezirk für ‚Stab, Stock‘ zu suchen, passt indes kaum zur mutmaßlichen ursprünglichen Bedeutung der Wurzel gan- (siehe aisl. gana „to rush, run frantically“, Cleasby/Vigf. 1874, „gana“). Tolley bezweifelt, dass der von Dio Cassius überlieferte Name der semnonischen Seherin Ganna im Sinne von „staff“ zu verstehen sei, das so genannte „witch’s broomstick motif“ entstamme späteren Traditionen. Noch weniger passt es als bekanntes namengebendes Konzept für den ,Wolf‘, wenn sich auch, entgegen seiner Meinung, immerhin für den Namen der „Mighty Serpent (Jǫrmungandr)“ in der Bedeutung ,Stock‘ eine gewisse Plausibilität wahrscheinlich machen ließe (vgl. Tolley 1995, S. 67). Tolley plädiert entsprechend für eine Grundbedeutung von gandr als „sorcerer spirit“ (Tolley 1995, S. 67), der ausgesandt werden könne, um Informationen einzuholen, und der gleichermaßen unterschiedliche (Tier)formen annehmen könne. In der Vsp 22 ist von einer seiðkona die Rede, die eine Tätigkeit vollführt ‒ vitti ganda ‒ eine umstrittene Stelle, die Tolley verstehen möchte als „summoned gandir with a drum“. Ähnlich erhalte in Vsp 29 Odin spáganda („gandir of prophecy“). Dahinter stehe die Vorstellung, dass gandir in Bewegung gesetzt werden können, so in der Fóstbræðra saga (Kap. 23), „víða hefi ek gǫndum rennt í nótt, ok em ek nú vís orðin þeirra hluta, er ek vissa ekki áðr“ („I have caused gandir to run far in the night, and I have now become wise about those things that I did not know before“) (vgl. Tolley 1995, S. 67). In der Þiðreks saga (II, 271) werde ausdrücklich davon gesprochen, wie ,Ostacia fœrr út ok rærdi sinn gand, þat kollum ver at hon færi at sæiða‘ („Ostacia goes out and moves her gandr, that is, she begins to practise seiðr“): „The effect of Ostacia’s seiðr is to summon various animals, and change herself into a dragon“ (Tolley 1995, S. 67). Vielleicht muss hier aber noch genauer unterschieden werden: Nicht werden etwa Zaubergeister, Monster herbeigerufen, vielmehr werden sie erzeugt durch Bewegung. Hier wie in der Vǫluspá zeigt sich also ganz deutlich der gemeinsame Wissensrahmen von gandir und seiðr. Tatsächlich werden also nicht Schnüre oder gar Penisse als solche losgeschickt (wenn auch Eldar Heide in gewisser Weise davon ausgehen möchte, vgl. Heide 2006a, S. 141), vielmehr geht es um die Vorstellung der drehenden Bewegung, der Rotation, der heftigen Bewegung, die mit der Ausübung des Geschlechtsverkehrs verbunden ist. Siehe das moderne skandinavische Bedeutungsspektrum erotischer Alltagssprache: „I norsk og svensk (i alle fall) er det ein del ord og uttrykk som set penis i samband med snøre e.l. eller set erotisk hopehav mellom kjønna i samband med snøre e.l. Snöre kan på svensk tyde ,kuk‘. […]. Snorr(e)/snurr tyder og ,penis‘, og snorra/
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(Sturm, Unwetter, Erdbeben) erzeugt werden.²³⁹ Auf eine einfache Formel gebracht würde dies bedeuten: „[M]agic wind is made by something twisting“,²⁴⁰ was sowohl durch die Aktion selbst möglich wäre, durch einen Gegenstand mit dieser Funktionsmöglichkeit, oder aber durch einen Gegenstand, ein Produkt, an dem diese Aktion bereits vollzogen worden ist. Ineinander gewundene Knoten, ganz allgemein Objekte, die auf diese Weise zu Stande gekommen sind, erfüllen damit den gleichen Zweck, ja die magische Wirksamkeit der ursprünglichen Bewegung wird dadurch gewissermaßen konserviert und kann als Medium weitergereicht werden.²⁴¹ Aber darüber hinaus, vielleicht noch wichtiger, kann jegliche Wirklichkeit,Wirklichkeitsrezeption als solche verdreht, transformiert, verformt, fingiert werden, neue Wirklichkeiten, Realitäten hervorgebracht, buchstäblich hervorgesponnen werden, mit all ihren möglichen Effekten mentaler Veränderungen, Gemütswandel, Sinnesverwirrung, Unsichtbarkeit von ehedem Sichtbarem, aber auch buchstäbliche Gespinste wie wilde Tiere, monströse Wesen und Ähnliches.²⁴² Zunächst nicht ganz klar ist, ob und welchen Einfluss Konzepte des finnischen Schamanismus, Seelenwanderung, Aussenden von Hilfssnurra tyder ,samlag‘ eller ,[ha] samlag‘ […]. Jamfør at snurra er det svenske ordet for snurrebass“ (Heide 2006a, S. 275). Auf das nämliche bedeutungsgebende Konzept des modernen englischen umgangssprachlichen Ausdrucks „screw“ („the act of sex, or a sexual partner“, vgl. Cambridge Dictionary online, „screw“) sei an dieser Stelle verwiesen. Ähnlich in der Vatnsdæla saga (Kap. 37): Hier ist es ein so genannter gizki, ein mit Goldfäden verflochtenes Tuch, das durch eine rasche, rotierende Bewegung ein schreckliches Unwetter auslöst (siehe Kap. 9.3). Heide 2006b, S. 165. Siehe die nicht nur im Norden verbreitete Praxis von so genannten ,Windknoten‘, „that one can buy sailing winds from people skilled in sorcery, usually in the form of a cord with three knots on it, which will release wind when untied“ (Heide 2006b, S. 165). Daneben erscheint gand auch als Bezeichnung für ein ausdrücklich den Sami zugeschriebenes magisches ‚Gewirk‘ zum Schadenszauber, „in particular, it designated a sort of artificial mannikin made of twigs, nails, hair etc., which might in vengeance be sent unseen into the intestines of a victim“ (Tolley 1995, S. 66, Anm. 22). Hierher gehört auch die berüchtigte Praxis des ,Nestelknüpfens‘, die in den lateinischen Quellen des frühen Mittelalters als „ligamenta, ligatura, phylacteria“ erscheint (vgl. Grimm 1844 II, S. 1125 f.). Das Nestelknüpfen wirkt apotropäisch, wird aber auch und gerade zum Zwecke des Schadenszaubers eingesetzt, Gebilde aus Faden, Draht, geknüpft, verwoben mit unterschiedlichsten, zauberwirksamen Anhängseln, „häufig von blech, daher sie in ahd. glossen pleh, plehhir heißen […]“ (Grimm 1844 II, S. 1126). Besonders gefürchtet ist deren Einsatzmöglichkeit gegen Neuvermählte. Der Ehemann vermag dadurch seinen ehelichen Pflichten nicht mehr nachzukommen, d. h. er wird impotent (vgl. Grimm 1844 II, S. 1127). So berichtet noch eine folkloristische Quelle des 17. Jahrhunderts, wie sich eine Frau aus Island durch die Drehbewegung des eigenen Körpers in einen Trancezustand versetzte und in bzw. durch diesen Zustand ins weit entfernte Jütland zu reisen vermochte, um von dort Auskünfte einzuholen. Sogar jener berüchtigte theriomorphe Gestaltenwandel in einen Wolf schien auf diese Weise im Volksglauben noch für möglich gehalten worden zu sein. Siehe eine denkwürdige Episode aus Trøndelag: Ein Junge soll die Verwandlung eines ,Gandfinn‘ in einen Wolf beobachtet haben, darauf wiederholt er diese Prozedur: Er legt einen Stock auf den Boden und beginnt sich um den Stock zu drehen. Tatsächlich verwandelt er sich nach kurzer Zeit in einen Wolf. Auch in der nordsamischen Volkstradition in Varanger ist dieses Motiv in leichter Abwandlung bekannt (vgl. Heide 2006a, S. 250).
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geistern (in Tiergestalt) in diese Vorstellungen genommen haben, man wird aber wohl davon ausgehen müssen, dass es zumindest in späterer Zeit, nachdem das Wissen über das pagane Zauberwesen, die Manipulation von Wirklichkeit mit magischen Mitteln ohnehin nahezu verschwunden war, zu Vermischungen kam.²⁴³ Schließlich scheinen gerade im Sǫrlaþáttr Elemente des finnischen Schamanismus eine ganz besondere Rolle zu spielen: Loki, der hier als eine Art Diener von Odin erscheint, wird explizit in Tiergestalt zu Freyja ausgesandt, in Gestalt einer Fliege (und eines Flohs), eine Reminiszenz an die so genannte samische „gand-flue“, die der Schamane zu seiner Hilfe herbeibeschwört und aussendet, um Mensch und Tier zu stechen und (gegebenenfalls tödlich) zu schaden.²⁴⁴ Es ist aber im Besonderen Freyja, die in der Erzählung zu einer Art Hilfsgeist avanciert. Gerade ihre Fähigkeiten macht sich Odin zu Nutze, und diese erscheinen gewissermaßen kondensiert in Gestalt eines nun in jeder Hinsicht einschlägigen Mediums, eines Zaubergegenstandes: Es mag wohl stimmen, Freyjas Schmuckstück wird in der späten Erzählung zum Beweisstück wie Gegenstand eines Beziehungszwists und damit (auf indirekte Weise) zum Auslöser eines Schadenszaubers. Aber das ist bereits eine narrative Neumotivierung, eine späte, burleske Aktualisierung eines längst nicht mehr verstandenen Zaubervorgangs. Das Hjaðningavíg ist zunächst einmal die nordische Version eines gut bekannten, überkulturellen, wohl bereits indogermanischen Motivs, auch im Norden in zahlreichen unterschiedlichen Varianten überliefert.²⁴⁵ Hier geht es um die narrative Implementierung eines Zauberakts, der die Ungeheuerlichkeit einer Totenauferstehung zu bewirken vermag. In den einzelnen Traditionen ist der Zauberakt, der dieses bewirkt, ein wichtiges, erwartungsgemäß kulturspezifisch stark variierendes Element ebenso auf welche Weise diesen ausnahmslos als unnatürlich und grausig aufgefassten, draugrhaften Umtrieben ein Ende gesetzt werden kann. Interessant genug, kann dies in Snorris Version erst zum absoluten Weltenende, Ragnarök ‒ also niemals ‒ geschehen, diese Umtriebe können offenbar nicht abgestellt werden. Über die Intention, insbesondere die Art der Mittel, die angewendet werden, schweigt er sich
Clive Tolley möchte diese grundsätzlich getrennt halten, dass in der berühmten Beschreibung einer schamanistischen Séance in der Historia Norwegiae des 12. Jahrhunderts die norwegischen Beobachter ihr eigenes (darüber hinaus christliches) Verständnis von Zauberkonzepten des seiðr auf fremde religiös magische Vorstellungen übertragen hätten und dadurch Missverständnisse entstanden seien (vgl. Tolley 2006, S. 957). So sei etwa gerade der Begriff gandus (< gandr), der hier verwendet werde für Geistwesen aller Art, dem Schamanismus fremd (vgl. Tolley 2006, S. 956, mit Verweis auf John McKinnell). Ohne in die Diskussion hier im Einzelnen einzusteigen, wird aber wohl zumindest ein grundsätzliches Ähnlichkeitsempfinden vorhanden gewesen sein. Insofern mag man darüber streiten, ob die Jenseitsreise des Schamanen mittels eines Hilfsgeistes etwa in Form eines Zauberfisches, eines Wals, eines Adlers u. ä. das gleiche ist wie die Vorstellung eines unmittelbaren Gestaltenwandels des Zauberers, der Zauberin in nämliches Tier. Vgl. Heide 2006a, S. 57. Siehe auch die sogenannte Hilde-Dichtung. Vgl. Landolt 2010.
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ohnehin aus.²⁴⁶ Ohne jeglichen nachvollziehbaren Grund wird Hildr, die Tochter Heðins, zur Totenbeschwörerin in der Snorra-Edda (Skáldsk 49) wie Ragnarsdrápa.²⁴⁷ Im Sǫrlaþáttr, bereits missionsgeschichtlich überformt, kann der Spuk immerhin beendet werden durch das Eingreifen eines Christenmenschen und seinen noch mächtigeren Zauber. Gleichermaßen begrenzt in ihrer zeitlichen Wirkung zeigen sich die altindischen wie keltischen Versionen der nekromantischen Zauberakte (siehe Kap. 6.10), auch hier wird dem versierten Totenzauber durch massiven, noch versierteren Gegenzauber alsbald ein Ende gesetzt. Wenig plausibel erscheint da der Zwang zum (Toten)zauber, schließlich das Kerngeschäft Freyjas, der Vanen-Priesterin, als Bestrafung. Es spricht also einiges dafür, dass das nordische Halsband selbst von Anfang an als machtvoller Zaubergegenstand gemeint war, als seiðr-Werkzeug, als gandr. Hier zeigt sich nun der Grund für die merkwürdige Zweigeteiltheit der Fornaldarsaga. Die mythische Eingangserzählung ist nach Vorstellungen der Zauberkunst der Sami, die zweifelsohne als unerreichte Meister der Zauberkunst des skandinavischen Mittelalters galten, ausgestaltet worden, im Anschluss, in der Haupterzählung selbst, kommen einheimische, emische Zauberkonzepte zum Einsatz (etwa der notorische Vergessenstrunk). Entsprechend tritt Odin zunächst nach Art eines mächtigen finnischen noaidi (Schamane) auf, der seine Hilfsgeister aussendet zu unterschiedlichsten Zwecken, in diesem Fall, um an Zaubermittel zu gelangen. Loki, wie bereits erwähnt, als bösartige Gand-Fliege, daneben aber ist es Freyja, die (wenn auch in typischer interpretatio germanica) als finnische Zauberin bzw. Skandinavierin mit finnischen Zauberkenntnissen agiert. Der vierfache Beischlaf Freyjas mag im späten Sǫrlaþáttr als naiver Liebeshandel angelegt sein, der typischen Sexbesessenheit einer ‚Liebesgöttin‘ geschuldet, aber nun wird man dahinter viel eher die Funktionalisierung einer massiven Transgression mittels weiblich deviantem, hochtabubehaftetem, promiskuitivem Sexualverhalten sehen müssen (in Entsprechung zu den explizit männlich konnotierten ergi-Perversionen der (passiven) Homosexualität, Kastration, Gender-Wechsel u. ä.). Freyjas Transgression ist kaum ihren unbeherrschbaren Gelüsten geschuldet, vielmehr verfolgt sie damit ein dezidiertes Ziel: die Ausübung von seiðr. Sie erwirbt sich durch ihre sexuellen Exzesse Zaubermacht in Gestalt eines Halsbands, und Odin, ihr (gegebenenfalls noch machtvollerer) Zaubermeister, macht sich dies zu Nutze. Für ihr auch in der modernen Forschung immer mit einem gewissen Befremden aufgenommenen Stelldichein gibt es schließlich eine kaum weniger anrüchige Parallele in der Saga-
Allerdings erscheint auch hier, zweifelsohne als Reminiszenz, ein mysteriöses Halsband, das Hildr ihrem Vater zur Versöhnung (at sætt), wie es heißt, anbietet. „What is curiously absent in both Ragnarsdrápa and Skáldskaparmál is a credible pattern of motivation; it is particularly hard to tell what makes Hildr tick. One could understand her desire to destroy her abductor, but neither version offers any justification for her treatment of her father. […] The ultimate reason for the Hjaðningar tragedy appears to be Hildr’s absolute wickedness. […]. She bears a striking resemblance to Skuld in Hrólfs saga kraka, another sorceress who has the power to raise slain warriors from the dead“ (Hermann Pálsson 1998, S. 50).
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welt. Die Episoden gleichen sich in den Protagonisten wie in der Zielsetzung. Die schmiedenden Zwerge sind ein gut bekanntes Stereotyp des nordischen Mythos, komplex genug sind ansonsten die Frage nach Herkunft und Art dieser außernatürlichen Wesenheiten, gar ob man letztendlich mit Reflexen früherer, autochthoner Bevölkerungsgruppen zu rechnen habe.²⁴⁸ Sicher scheint jedoch, dass tatsächlich ab irgendeinem Zeitpunkt die Ethnie der Sami, die in den isländischen Sagas ohnehin kaum anders als ein rätselhaftes, halbmythisches, legendäres Volk auftraten,²⁴⁹ mit diesen zauberkundigen, chthonischen Wesenheiten (neben anderen sagenhaften, liminalen Geschöpfen wie Trolle, Riesen usw.) identifiziert wurde.²⁵⁰ Und nun beschreibt Snorri in Haralds saga ins hárfagra (32) ein bemerkenswertes Aufeinandertreffen zwischen dem Harald-Sohn Eiríkr blóðøx und zwei mächtigen samischen Zauberern. Auf seiner Rückkehr von einer Heerfahrt nach Bjarmaland und Finnmǫrk findet Eiríkr in einem Wald in einer samischen Hütte eine wunderschöne Frau mit Namen Gunnhildr (seine spätere Ehefrau, die für ihre Zauberkunst ebenso gefürchtete wie legendäre Gunnhildr konungamóðir). Sie sei von ihrem Vater Ǫzurr toti aus Halogaland hierher geschickt worden und habe so das samische Zauberhandwerk erlernt. Nun kommt man in der Folge überein, die Samen, die sich gerade auf der Jagd befinden, zu töten. Und Gunnhildr, offenbar nun selbst eine Meisterin ihres Faches, geht dabei ebenso transgressiv wie effektiv vor: Nachdem die beiden Zauberer zurückgekehrt sind, lädt sie diese in unverblümt sexueller Absicht in ihr Bett ein. Sobald sich die Männer neben ihr niederlassen, legt sie ihre Arme um ihre Nacken, was diese sogleich in tiefen Schlaf fallen lässt. Mit mehreren Weckversuchen überprüft sie deren Handlungsunfähigkeit, dann stülpen Eiríkr und seine Männer, die durch Gunnhilds zauberische Mittel unentdeckt (‚unsichtbar‘) blieben, zwei Seehundfelle (selbelgi) über die Zauberer, verknoten sie (ok bindr at sterkliga fyrir neðan hendrnar) und dermaßen präpariert können diese nun getötet werden. In dieser kurzen Episode sind, wenn auch schon stark überschrieben und im narrativen Verlauf kaum mehr verständlich, die Hauptelemente samischer Zauberkunst vereint. Zumindest angedeutet ist hier die im nordischen Mittelalter gewiss als schamlos konnotierte Sexualpraxis einer ménage à trois, die Ähnlichkeit zur skrupellosen Polyandrie Freyjas offensichtlich (auch an Friggs rituellen Beischlaf mit Odins zwei Brüdern (Ynglinga saga 3) zum mutmaßlich gleichen Zweck wird man denken müssen), darüber hinaus mit einer Klientel von mythischen oder realen Sexualpartnern, mit denen sich die nordische
Vgl. Lex.Simek 2006, „Zwerge“, S. 504 f. Vgl. Hermann Pálsson 1999, S. 29 f. „The dwarf Svási in Haralds þáttr hárfagra (Flateyjarbók) corresponds to the Sami Svási who figures in Ágrip and Heimskringla. And in one version of the ballad of Valfríðr (Valfinna) völufegri the heroine is said to be fostered by two Sami men (fœða hana Finnar tveir), but elsewhere she is reared by a couple of dwarfs in a boulder (Ala hana dvergar tveir í steini). Two of the dwarfs in Vǫluspá are called Finnr and Ská-Finnr (Hermann Pálsson 1999, S. 33).“
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Frau (oder Göttin) üblicherweise gar nicht einlässt.²⁵¹ Das Ziel dieses sexuellen Tabubruchs ist auch in der samischen Zauberkunst die magische Transgression, das Eintreten in jenseitige Welten in einem (oder durch einen) anderen Bewusstseinszustand. Eine tranceartige Besinnungslosigkeit ist dafür äußeres Kennzeichen wie Voraussetzung, wenn auch in der Erzählung als trickreiche Überwältigung neu plausibilisiert. In diesem Zustand werden jene berüchtigten Schamanenkämpfe ausgetragen als Wale, Seehunde, aber auch Rentier-Bullen oder Vögel. In der Erzählung sind die Seehundbälge nicht recht motiviert, wohl als eine Art pervertierte Transformation dargestellt. Der Gedanke an eine apotropäische Maßnahme liegt nahe,²⁵² aber ursprünglich ist diese Vorstellung hier nicht.²⁵³ Insbesondere findet sich hier eine Referenz auf den Kampf zwischen Heimdallr und Loki in Seehundgestalt (von dem wiederum nur Snorri zu berichten weiß).²⁵⁴ Ob erst von Snorri oder schon früher
So verweist etwa Hermann Pálsson auf die Tatsache, dass sich in alten norwegischen Gesetzestexten die Bezeichnung halffinnr ausschließlich auf Personen beziehe, deren Mutter Sami und der Vater Norweger sei, aber niemals anders herum. Dies mache für sich schon das problematische Gefälle in der Beziehung beider Gruppen deutlich. Ähnlich halftroll, half(berg)risi (vgl. Hermann Pálsson 1999, S. 31). Auch die Gefangennahme und insbesondere Hinrichtung der Zauberin Katla (Eyrbyggja saga, Kap. 20) gelingt nur mithilfe eines übergestülpten Seehundfells (vgl. Kunstmann 2020, S. 202). Das Einnähen des Deliquenten in eine Ochsenhaut bei germanischen Hinrichtungen (vgl. von Amira 1922, S. 226 f.) dient demselben apotropäischen Zweck (siehe Kap. 5.3). Gunnhildr agiert in typischer Manier einer samischen Trancehelferin (siehe die so genannten noaidegázzi „gand pigerne“, vgl. Heide 2006a, S. 310), die den Schamanen während seiner Trancereise unterstützt. In zeitgenössischen Quellen wird dies als erotisches Spiel beschrieben. Lieder, die dabei gesungen werden, tragen Namen wie mewre (siehe finn. möyriä, „rote, sparke opp; brøle som en stut, tyr“), ostsam. kikkâ („spille, parre seg som tiur“). Heide vermutet entsprechend: „Det er elles fleire ting som kan tyde på at det var ei seksuell side av transeferda til noaidane“ (Heide 2006a, S. 268). So schildere Isaac Olsen (1705) die Vorbereitungen einer Trancereise eines Schamanen (17. Jh.), der von einer Familie engagiert wurde, um verlorengegangene Rentiere wieder zurückzubringen. Er trägt den Familienmitgliedern auf, sich zu Bett zu begeben, selbst aber legt er sich zur ältesten Tochter und schläft mit ihr. Erst dann gelingt es ihm mittels seiner Hilfsgeister, die Rentiere aufzuspüren und zurückzubringen (vgl. Heide 2006a, S. 269). Die wichtigste Aufgabe der jungen Helferin indes ist es, den Schamanen wieder in den Wachzustand zu bringen, d. h., ihn in der Unterwelt zu finden und zurückzuholen. Im joik dankt der zurückgeholte Schamane dem Mädchen, das er als „det aller ledt færdigste og Utugtigste som være kand“ (Heide 2006a, S. 268, nach Isaac Olsen) anspricht, also unmissverständlich als ‚Hure‘. Die Ähnlichkeit zu einem Schamanenkampf ist in der Forschung bereits aufgefallen, siehe etwa Ursula Dronke: „We are reminded of the Lappish shaman whose spirit took on the likeness of a seal to rescue a soul from a hostile, envious shaman spirit. The story is reported from the late twelfth century by Norwegian merchants staying with the Lapps“ (Dronke 1992, S. 669). Sie denkt zwar an eine Stelle in der Historia Norvegiæ (S.85 f.), wo in der Tat, wie Heizmann vermerkt, nicht von Seehunden, sondern von Walen die Rede ist (vgl. Heizmann 2009, S. 507, Anm. 14), allerdings vermag der dort verwendete Ausdruck „in cetinam effigiem“ kaum eine eindeutige Aussage über die biologische Eigenart des Tieres (in einem modernen naturwissenschaftlichen Sinn) zu liefern, siehe Tolley: „The obvious translation, ,whale‘, is problematic since the setting is a lake; cetus can in fact refer to any large water beast“ (Tolley 1995, S. 64, Anm. 17).
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scheint hier ein Zusammenhang gebildet worden zu sein zwischen Heimdallr, dem Flussgott, dem Gestaltenwandler par excellence und den samischen Trancekämpfern. Heimdallr verliert auf diese Weise letztendlich seinen ‚Gürtel‘, den wir als dessen Geschlechtsteil gedeutet haben, und wird gerade dadurch zum ‚weißen‘ Segenspender. Das hat vordergründig nichts mit Freyjas Schmuckstück, ihrem potenten seiðrZauber zu tun, aber auch hier findet sich auf bizarre Weise eine Übereinstimmung in der schamanistischen Tradition: Der Schamane, der nach seinem Kampf erfolgreich von seinem Gand-Mädchen in die Welt der Lebenden zurückgebracht worden ist, bedankt sich bei ihr mit einem Lied, einem joik – mit einem denkwürdigen Angebot: To thank her, the noaidi then tells her that „she shall now possess and use [his] male member in accordance with her will and as it pleases her, and she shall now possess and make use of it as a tether […], and as a draught-rope, and drape it around her shoulders like an ornament, and she shall have it as an oar-loop and a sled-tackle and around her neck like a chain, and over her shoulders like a piece of jewellery and an ornament, and tie it around her waist like a belt.“²⁵⁵
Der Penis wird expressis verbis mit einem Halsband, einem Gürtel, mit dem Gewundenen, dem kunstvoll Verflochtenen gleichgesetzt. Hier zeigt sich dieses Empfinden einer magischen Identität wie Funktionalität auf eine besonders anschauliche, konkret körperhafte Weise.²⁵⁶ Wie auch immer wir diese Zusammenhänge im Weiteren beurteilen wollen, was auch immer dem Halsschmuck der Freyja später an weltschöpferischen, positiven Konnotationen zugeschrieben wurde, um Reproduktion, Förderung, Wachstum, Prosperität konnte es nach Ausweis der Dinge zunächst nicht gehen, ja, wahrscheinlich nicht einmal um Totenzauber als solchen. Von zwei Hauptwirkungen wissen die nordischen Sagaquellen wie die folkloristischen Quellen über dermaßen zauberische Gewirke zu berichten. Zuvorderst sind sie im Einsatz als positive wie negative Winderzeuger (siehe die Windknoten oder der isländische gizki). Kaum weniger wichtig ist das Anwendungsgebiet in den zwischenmenschlichen, sexuellen Belangen. Siehe den meist durch und durch bösartigen Nestelzauber, hochmanipulativ allemal (selbst im so genannten ,Liebeszauber‘), in den überwiegenden Fällen mit einem einzigen er-
Heide 2006b, S. 168, nach Olsen 1910 [1715], S. 46 f.: „Den nemnde jenta som hentar noaiden attende og blir takka med ,utuktig‘ joik […], får meir til takk. Noaiden seier at ,skal nu have og bruge mands lem effter sin villie og som hun behager, og hun skal nu bruge den til kiøre vad siger hand, og til drage baand, og drage den over sine axeler og skuldre som en prydelße, og hun skal have den til hammel baand og Jocka baand, og om sin hals som En kiæde, og over sine skuldre som en smycke og prydelße, og binde den om kring sit lif som Et bilte.“ Heide weist darauf hin, dass die Assoziation von Schnur und Geschlechtsteil bei tierischen Penissen noch offensichtlicher sei aufgrund ihrer Länge und sie entsprechend tatsächlich als Bänder zu unterschiedlichsten Zwecken verwendet worden seien. So seien für die Schlittenbefestigung („Jocka baand“) Rentierpenisse benutzt worden ebenso „oksepeisar […] til hamleband“ (vgl. Heide 2006a, S. 276), eine im Bootsbau verwendete spezifische Schnurvorrichtung zur Ruderhalterung (vgl. Solholm 1984, S. 110 f.).
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klärten Ziel: die sexuelle Schwächung des Mannes. Der Einsatz gegen Neuvermählte ist dabei, wie bereits erwähnt, besonders gefürchtet.²⁵⁷ Nun beschreibt Snorri das Hjaðningavíg nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) um seiner selbst willen. Er erzählt den Mythos, um die Kenning für ‚Schlacht‘ begreiflich zu machen, die wiederum als ,Unwetter‘, ,Sturm‘ der Hjadninge bezeichnet wird ([o]rrosta er kǫlluð Hjaðninga veðr eða él, Skáldsk 49 [50]). Das heißt, das zauberische Heraufbeschwören einer ewigen Schlacht wird hier zum (zauberischen) Wetterphänomen. Und gerade ein Wetterphänomen hat natürlich kein Ende, wenn nicht am Ende aller Tage. Zweifelsohne ist das eine nordische Sonderentwicklung oder Weiterentwicklung dieses Motivs, in den anderen Traditionen sind die Untoten Kämpfer, die (wenn auch gezwungenermaßen) um des reinen Schlachtenglückes willen kämpfen. Aber auf gleiche Weise, durch seinen Kampf mit Loki, bewirkte dies Heimdallr (bzw. bewirkt, in mythischer Zeitlosigkeit, immer wieder aufs Neue).²⁵⁸ Und diese Funktion als Sturmmacher, die untrennbar verknüpft ist mit dem Verlust seines Geschlechtsteils, wiederholt sich in einer denkwürdigen Begebenheit des Donnergottes Thor, wie sie im Edda-Lied Þrymskviða ‒ aber nur hier ‒ geschildert wird. Auffallend genug findet ebenfalls nur hier, an einziger weiterer Stelle in der altnordischen Dichtung, das Brísingamen Erwähnung, und schließlich, kaum mehr zufällig, spielt gerade hier Heimdallr eine zentrale Rolle. Die Ereignisse der Þrymskviða werden für gewöhnlich als schwankhaft beschrieben. Im Mittelpunkt steht der Raub des Thor-Hammers Mjǫllnir und dessen Wiederbeschaffung, die letztendlich nur gelingen kann durch eine burleske Travestie, die Verkleidung Thors zur Braut.²⁵⁹ Zu Recht ist der Hammerdiebstahl (mit der sich daran anschließenden tief demütigenden Verweiblichung als Braut) als buchstäbliche ‚Entmannung‘ und damit Verlust der (sexuellen) Potenz Thors gewertet worden.²⁶⁰ Aber merkwürdig genug scheint dieses dann doch zunächst in jeder Hinsicht despektierliche wie sensationelle Ereignis, immerhin geht es um einen (symbolischen) Kastrationsakt an einem der mächtigsten, ‚männlichsten‘ Götter des Asen-Pantheons, nicht
Vgl. Grimm 1844 II, S. 1127. Einige Erklärungsversuche seines Beinamens Vindler gehen in diese Richtung, dann allerdings kaum als „Gott des ‚Reibfeuers‘“, wie Cöllen vermutet, vielmehr „Vindhlér, das Meer (hlér), durch den Wind (vindr) zu schäumenden Wellen geformt“ (Cöllen 2015, S. 266, Anm. 44, mit Verweis auf George Dumézil). Dazu passt der Ausdruck lanz Haddingia / ax óscorit („des Landes der Haddinge / ungeschnittene Ähre“, Gðr II, 22). Die ,ungeschnittenen Ähren‘ werden als der Seetang aufgefasst, das ‚Land der Haddinge‘ ist entsprechend das Meer. Thor bemerkt am Morgen den Verlust seines wichtigsten Utensils, des Hammers Mjǫllnir. Wutentbrannt schickt er Loki ins Riesenland, um etwas über den Verbleib in Erfahrung zu bringen. Dort erklärt sich der Riese Þrymr, tatsächlich der Räuber des Hammers, nur unter der Bedingung zur Rückgabe bereit, wenn er Freyja zur Braut erhält. Nachdem diese entrüstet ablehnt, reist Thor nun selbst ‒ als Braut verkleidet ‒ ins Reich der Riesen. Loki begleitet ihn als Magd. Es gelingt ihm, den Hammer wiederzuerlangen, unter den Riesen richtet er ein Blutbad an. Vgl. etwa Cöllen 2015, S. 128; McKinnell 2014b, S. 203; McKinnell 2014b, S. 206 f.; Perkins 2001.
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einmal einen Platz gefunden zu haben in den literarischen Niederschlägen des berüchtigten altnordischen Männervergleichs. Besonders erklärungsbedürftig freilich, warum ausgerechnet Heimdallr (hier als hvitastr ása, so wie ihn auch Snorri kennt) in dieser tiefsten Männlichkeitskrise als der geeignetste Ratgeber (Þrkv 15) erscheint. Heimdallr ist es, der die merkwürdige Ausrüstung anrät: das „Linnen der Braut“, „den großen Halsschmuck der Brisinge“ auf der Brust ausgebreitet, dazu „klirrende Schlüssel“ um die Hüften gebunden. Nach dem bisher Gesagten wollen wir annehmen, Heimdallr ist Leidensgefährte und eigentliches Vorbild. Dessen mythisches Schicksal wurde in den späteren Balladen auf Thor übertragen bzw. fand darin Nachahmung.²⁶¹ Er beweist dabei in der Tat zauberisches Wissen, wie es sonst nur die Vanen besitzen, vissi hann vel fram sem vanir aþrir (Þrkv 15). Nicht anders hätte sich Freyja, die Vanin, genauer die Vanen-Priesterin, für diese Reise gerüstet.²⁶² Aber auch hier ist die Beschaffenheit des Schmuckstücks keineswegs klar, ja, der narrative Verlauf weist vielmehr auf tiefe logische Brüche hin: Als Freyja, vor Wut bebend und ‚schnaubend‘ ([r]eið varð þá Freyia oc fnásaði, Þrkv 13), Thors Aufforderung, mit ihm ins Land der Riesen zu reisen, ablehnt, hat dieses rabiate Gebaren offenbar auch Konsequenzen für das Brísingamen: stǫcc þat iþ micla men Brísinga, heißt es dort, was übersetzt wird mit „es fiel der große Halsschmuck der Brisinge“, was wohl meinen soll, er fiel zu Boden, zerbarst. Allerdings passt dies kaum zum weiteren Prozedere, und auch McKinnell steht dieser Übersetzung aus schierem Pragmatismus (schließlich habe das Schmuckstück ja im Weiteren noch Thor zur Verfügung stehen müssen als Teil seiner Verkleidung) eher skeptisch gegenüber.²⁶³ Tatsächlich wollen wir uns die Götter im Folgenden wohl kaum als Perlenaufsammler vorstellen. Eher werden wir davon ausgehen müssen, dass durch die heftige Bewegung Freyjas im Zorn ihr Schmuckstück ebenso erschüttert wurde, Anhängsel unterschiedlicher Art aneinanderstießen, durcheinander gerieten, aber natürlich grundsätzlich heil blieben.²⁶⁴ Bei Schmuckteilen wie scillingas oder lunulae ist freilich schon immer der Das Alter des Liedes lässt sich nicht sicher bestimmen, für gewöhnlich wird es als spät eingestuft. Klar scheint seine stilistische Nähe zur Ballade, was zu dem Umstand passen könnte, dass die Episode des Verlustes des Hammers und seine Wiedererlangung mit keinem Wort erwähnt wird in der skaldischen wie eddischen Dichtung so wenig wie bei Snorri selbst. Buchstäblich fungiert also nun Heimdallr als mensækir, „Halsbandsucher“ für Thor. Thors entsetztes Bemerken des Verlustes seines ‚besten Stücks‘ wird mit einem etymologisch verwandten Begriff beschrieben, oc síns hamars um sacnaði („und seinen Hammer vermisste [er]“, Þrkv 1) ‒ er wird zum ‚Hammersucher‘. Das Brísingamen mag damit wohl auf der reinen Erzählebene das verweiblichende Schmuckstück sein, auf der magischen Ebene das Zauberamulett, aber in einem noch abgründigeren Sinn ist es Substitut für Thors verlorene Männlichkeit. Heimdallr stellt dann ‒ wie die samischen Schamanen ‒ einen Phallus als Schmuckstück zur Verfügung. Siehe McKinnell 2014b, S. 217, Anm. 34. Das Verständnis dieser Stelle ist mit dem schwierigen Verb stǫcc verbunden, „[w]hen applied to inanimate objects, the primary sense of stǫkkva seems ,to be scattered‘“ (McKinnell 2014b, S. 217, Anm. 34), also etwa „springen, bersten, spritzen“ (an. etym. Wb 1962, „støkkva“). Dabei macht McKinnell aber insgesamt auf die Besonderheit der Wortwahl in der Þrymskviða aufmerksam, sie deute auf einen altenglischen Hintergrund, dazu gehöre der Begriff men Brísinga selbst, der exakt so nur im
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Amulettcharakter, die apotropäische Funktion mitzudenken²⁶⁵ und dies in ganz besonderem Maße durch den akustischen Effekt, das Klirren und Klingen der aneinanderstoßenden Metallteile als gezielt provozierte, zauberische Sinnesverwirrung. Nun scheint aber gerade die Þrymskviða auf ganz besondere Weise ein ‚geräuschvolles‘ Gedicht. Das Klimpern und Klirren von Freyjas Halsschmuck samt seinen Blechanhängern und Amuletten steht hier keineswegs alleine da, im Gegenteil, wie Larissa Naiditsch in ihrer schönen Untersuchung über die Spezifik des Wortschatzes des Edda-Lieds pointiert hervorhebt: „[T]he lay itself seems to sound.“²⁶⁶ Der klirrende Schlüsselbund (hrynia lucla, Þrkv 16) gehört zu diesen metallernen Soundeffekten genauso wie der buchstäblich schallende Schlag mit dem Hammer, den die Riesenschwester anstelle ,klingender Münze‘ (hon scell um hlaut fyr scillinga, Þrkv 32) von Thor erhält.²⁶⁷ Diese akustische Untermalung hat beschwörenden Charakter wie in all den anderen Fällen, wo man in nordischen Quellen auf sie stößt,²⁶⁸ und was auf diese Weise beschworen werden sollte, auch das ist in einem ,akustischen Semem‘²⁶⁹ festgehalten. Schon am Gedichteingang stoßen wir auf einen fulminanten, mutmaßlich geräuschvollen Ausbruch Thors, ganz in Entsprechung zu Freyjas lautstarkem, durchaus unweiblichem Schnauben ob des ,unmoralischen Angebots‘, so dass sogar der Göttersaal, wiederum mutmaßlich tönend, darunter erzittert (Þrkv 13). Daneben werden auch feinere Töne angeschlagen: ,Rauschend‘ bewegt sich Loki mit dem Federkleid (fiaðrhamr dunði, Þrkv 5, 9) durch die Luft, das er sich für die erste Reise zum
Beowulf (mit entsprechender Vokalabweichung) erscheine, auch der Ausdruck scillinga, „metal decorations on jewellery“ möchte er für eine Entlehnung aus dem Altenglischen halten, hier erscheine scillingas etwa als Glosse für lunulae (vgl. McKinnell 2014b, S. 217, Anm. 34, mit Verweis auf Jesaja 3, 18 – 20 [„An jenem Tag wird ihnen der Herr ihren Schmuck wegnehmen: die Fußspangen, die kleinen Sonnen und Monde, die Ohrgehänge und Armkettchen, die Schleier und Turbane, die Fußkettchen und die Prachtgürtel, die Riechfläschchen und die Amulette […].“]). Vielleicht also sollte auch hier eher die Besonderheit der ae. Semantik bedacht werden: siehe ae. stincan „aufwirbeln, duften“ bzw. got. stigqan „zusammenstoßen“ (an. etym. Wb 1962, „støkkva“). Ausdrücklich sind auch die Anhängsel der ‚Nestel‘ metallerne, blecherne Scheibchen, pleh(hir) (vgl. Grimm 1844 II, S. 1126 f.). „In the vocabulary of Þrymskviða, the semantic field: ,sounds, noise‘ plays an important role. First of all, the very title of the lay and the name of its character, the giant Thrym (Þrymr), mean ,noise‘. Different kinds of noise are mentioned in the lay, thus the lay itself seems to sound“ (Naiditch 2011, S. 115). Vgl. Naiditch 2011, S. 115. Erwähnt seien auch hier die vielzitierten Freyranhänger, die Saxo mit so viel Abscheu beschreibt, deren „weibische[ ] Körperbewegungen“, „den Bühnenlärm der Schauspieler“ und insbesondere „das weichliche Klappern der Glocken“ (quod apud Upsalam sacrificiorum tempore constitutus effeminatos corporum motus scaenicosque mimorum plausus ac mollia nolarum crepitacula fastidiret [Gest.Dan. 6.5]). Und wohl nicht zufällig erscheint skillingar als Bestandteil einer bizarren Verkleidung eines Zauberers, des „Muschelmanns“ (skeljakarl), in der Bragða-Mágus saga (Kap. 24). Auch hier scheint neben dem bizarren optischen Eindruck der akustische ausschlaggebend: Durch eine Vielzahl aneinandergereihter Muscheln und Metallplättchen wird der Zauberer bei jeder Bewegung zum irritierenden Geräuschemissionär. Siehe „sememe of ,sounding‘“ (Naiditch 2011, S. 115).
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Riesen von Freyja erbeten hat. In der Tat referiert eine Reihe von Ausdrücken auf das semantische Feld von wie auch immer gearteten Lufteffekten, geräuschvoll bewegter Luft. Eine weitere Beobachtung Naiditchs lässt sich daran nahtlos anschließen: „Another semantic field crucial for Þrymskviða is ,quick movement‘ and ,travel‘.“²⁷⁰ Entsprechend finde sich eine Vielzahl von Verben, die eine intensive, aber auch raumausgreifende Bewegung ausdrückten, ,hrista‘ (to shake), ,dýia‘ (to shake, to bristle), ,fló‘ (flew) (twice), ,aka‘ (to go, to travel) (twice), ,falla‘ (to fall), ,vóru um reknir‘ (were driven), ,skyldu vel renna‘ (swift were they to run, should well run), ,bíta hvassara‘ (bite more keenly), ,bíta breiðara‘ (bite broader), ,útan stǫkk/endlangan sal‘ (leapt out the length of the hall).²⁷¹
Wir können an dieser Stelle ein drittes Bedeutungsfeld hinzufügen: das Verwirren und Entwirren von Haaren, Fäden, Schnüren: Thor schüttelt seinen Bart (scegg nam at hrista), er rauft sich vor Wut die Haare, scǫr nam at dýia, (wörtlich: „den Schopf begann er hin und her zu werfen“), stǫcc þat iþ micla men Brísinga, das BrísingamenGehänge stößt klirrend aneinander. Wie anders in der Welt der Riesen! An einem besonders wirkmächtigen Platz, auf dem (Grab)hügel, sitzt der Riese Þrymr und verrichtet eine Tätigkeit, die zwar üblicherweise als typische Tätigkeit des Müßiggangs des Adels gedeutet wird, bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings eine weitere, in unserem Sinne einschlägige Symbolebene. Es sind ja die gleichen Materialien, Haare, Goldschnüre, die Þrymr ‚der Lärmer‘ hier bearbeitet, allerdings flicht er sie zu goldenen Halsbändern für seine Hunde (gullbǫnd snøri), er glättet wirres (Pferde)haar (mǫn iafnaði, Þrkv 6), darüber hinaus hat er Thors Hammer tief verborgen im Erdinneren: ein Gegenzauber also,²⁷² gegen die Aufruhr im Asenland, gegen Thors ureigenste Funktion des Donnerers, des Unwettermachers. Der Edda Kommentar zur Þrymskviða fasst die frühe Forschungsgeschichte des Liedes unter der Rubrik ‚Naturmythologie‘ zusammen, „die sämtlich den Verlust des Hammers als Symbol für das Ausbleiben von Regen und Gewittern als Kern des Mythos ansehen“,²⁷³ was deren Überholtheit offenbar selbstredend impliziert. Aber wie auch immer man im Weiteren diese in der Tat in weiten Teilen überkommenen na-
Naiditch 2011, S. 115. Naiditch 2011, S. 115. „[I]n the vocabulary of Þrymskviða the semantic fields of ,sounds, noise‘ and ,quick movement, changing of place‘ play an important role, connected with the sound pattern of the lay“ (Naiditch 2011, S. 121). Und gerade das Verb dýja hat wohl ganz allgemein die Bedeutung „schütteln“, allerdings haben die weiteren Anschlussmöglichkeiten häufig die Bedeutungseinschränkung der Bewegung von Luft- bzw. Wassermassen, siehe shetl. däi, „bewegung des meeres, welle“, farö. dýggja „durchnass machen“, asl. dunati „blasen“, lit. duje „daune“ zur idg. Wurzel *dheu „stieben, wirbeln, wehen“ (und damit ähnlich stǫkkva, „spritzen, aufwirbeln“). Vgl. an. etym. Wb 1962, „dýja“. Dazu passt, dass der hier verwendete Ausdruck þursa dróttinn noch in zwei weiteren, runischen Beschwörungsformeln erscheint (vgl. Komm.Edd. Þrymskviða, von See et al. 1997, S. 537). Komm.Edd. Þrymskviða, von See et al. 1997, S. 512.
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turmythologischen Ansätze („das Lied als Frühlingsmythos“, „die handelnden Personen als Allegorien der Jahreszeiten“, Þrymr „als Gebieter der tosenden Winterstürme“, „Thor als Sommer“ und einiges mehr)²⁷⁴ anschlussfähig machen will, so stellt sich doch ganz grundsätzlich das ganze Gedicht bis tief in seine lexikalischen Strukturen als eine einzige, wenn man so will, meteorologische Onomatopoesie²⁷⁵ dar. Dabei ist die Funktion des Hammers als Blitz- und Donnerelement (wohl schon indogermanisch) durchsichtig, aber Thor hat daneben noch eine andere wichtige Funktion, die gerade für ein seefahrendes Volk des Mittelalters von besonderer Bedeutung gewesen sein dürfte: „Thor, sagen sie, hat den Vorsitz in der Luft, er lenkt Donner und Blitz, giebt Winde und Regen, heiteres Wetter und Fruchtbarkeit“.²⁷⁶ Und zur Herstellung von Wind, für Windzauber werden Drehbewegungen ausgeführt bzw. Medien verwendet, in denen diese bereits gespeichert sind oder in dieser Funktion verwendet werden können. Ganz folgerichtig taucht hier das Brísingamen wiederum als Zaubergegenstand auf, insbesondere aber, gleichermaßen erwartbar, spielt das Haar Thors, Bart wie Haupthaar, eine besondere Rolle. Diesem Zusammenhang zwischen Thors Bart und Wind hat Richard Perkins eine ganze Untersuchung gewidmet mit dem Ergebnis, Thor müsse als „the wind-raiser“ der altnordischen Kultur verstanden werden.²⁷⁷ Er stellt dabei eine ganz grundsätzliche, aber gerade für unseren Zusammenhang besonders wichtige Frage: „How was Thor thought of as producing winds and breezes? Did he simply have wind and weather at his command? Or did he do it in some other way?“²⁷⁸ Darüber gibt der Rǫgnvalds þáttr ok Rauðs (wenn auch in den unterschiedlichen Varianten nicht ganz eindeutig) Auskunft: Der als großer Thorverehrer bekannte Rauðr fordert Thor zu einer ganz besonderen Aktion auf: Þeyt þú („sound“) í mót þeim skeggrǫdd oder skeggraust (vielleicht „voice of one’s beard“, auch þína skeggbrodda („bristles of the beard“).²⁷⁹ Und obwohl Thor selbst im Weiteren keineswegs vom Erfolg seines Tuns überzeugt ist, blés Þórr fast í kampana, was etwa als „Thor blew a hard blast into his beard“²⁸⁰ aufgefasst wurde. Grundsätzlich könne also von einer Art sympathetischer Magie ausgegangen werden, „by causing his beard (skeggbroddar) or the voice of his beard (skeggrǫdd, skeggraust) ,to sound‘ (þeyta) (or perhaps ,to vibrate‘), Thor could well have been encouraging the wind to blow.“²⁸¹ Alle diese vorgeschlagenen sympathetischen Effekte finden eine genaue Entsprechung im Edda-Lied. Es sind die unentschiedenen oder besser ununterscheidbaren akustischen wie sensorischen Effekte von bewegter Luft. Aber ganz offensichtlich bearbeitet Thor seinen Bart noch auf andere Weise, was wiederum we-
Siehe Komm.Edd. Þrymskviða, von See et al. 1997, S. 512. Siehe Naiditch 2011, S. 121: „Onomatopoeia is especially salient here.“ Gest.Ham. 4, 26 (Laurent [Hg.] 1893). Siehe Perkins 2001. Perkins 2001, S. 27. Vgl. Perkins 2001, S. 46. Perkins 2001, S. 40. Perkins 2001, S. 46.
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niger die Texte als vielmehr bildlich figürliche Darstellungen deutlich machen. Die Statuette von Eyrarland (Island), von der letztendlich Perkins Überlegungen ihren Ausgang nehmen, stellt eine männliche, sitzende Figur dar (der mutmaßliche Thor), die zwei Bartstränge in den Händen hält, die in einem merkwürdig dreigeteilten Objekt zwischen seinen Beinen enden. Nicht ganz klar ist, ob damit Thors Hammer oder gar sein Geschlechtsteil gemeint sein könnte, zumal andere, ähnliche figürliche Darstellungen exakt diese Kombination zeigen: ithyphallisch mit einer Hand am Bart. Es ist eine Anhäufung von Symbolen, die für sich schon aussagekräftig genug sind, sich in der Kombination gegebenenfalls verstärken, im Grunde genommen aber identisch sind. Thor übt hier einen ‚Schnurzauber‘, seiðr-Zauber im eigentlichen Sinn aus. Andere Statuetten aus dieser Gruppierung machen dies noch deutlicher, etwa die Bernsteinfigur aus Feddet (Dänemark)²⁸² oder die Walrossbeinfigur aus Lund (Schweden).²⁸³ Auch in diesen Fällen zieht eine männliche Figur an ihrem Bart, aber noch genauer: Sie zwirbelt ihn ein wie eine Schnur, formt aus ihm etwas Gewundenes.²⁸⁴ Nun ist, wie bereits erwähnt, die Identität der Loki-Kenning des Þjóðólfr ór Hvini (Haustlǫng, 9. Jh.) Brísings girðiþjófr mit þjófr Brísingamens nicht unbedingt selbstredend: Ersteres ist genau genommen „der Gürteldieb des Brising“, Letzteres der „Dieb des Geschmeides der Brisinger.“ Aber Snorri ging wohl von identischen Ereignissen, Gegenständen oder Personen aus, die sich ein Konzept teilen: ,brising‘. Es geht um Personen oder Dinge nach Art eines ‚bris‘. Üblicherweise wird die Wurzel zu brisa „glänzen“ oder „glühen“ gestellt (vgl. brísingr „Feuer“). Eine frühe Erklärung von Jacob Grimm bleibt dabei indes ständig unberücksichtigt, obgleich gerade mit seinem Ansatz das schwierige lautliche Verhältnis zur angelsächsischen Vergleichsstelle brosinga mene des Beowulf eine lautgesetzliche Erklärung fände. Unter dem Eintrag „breis (brisen)“ vermerkt Grimm ein Wort, das in der Schriftsprache inzwischen ausgestorben ist, indes im Schweizerdeutschen und den oberdeutschen Dialekten noch bis in jüngste Zeit lebendig war. Das Bedeutungsspektrum umfasst etwa compages, „Gefüge“, „Verbindung“, nodus „Knoten“, „Gürtel“, „Band“, „Saum“, den Zustand der Umschlingung, der Verknüpfung, entsprechend das Verb ,breisen‘: nodis, funiculis stringere, cingere, also „verknoten“, „schnüren“, „heften“ (mhd. brîsen breis gebrisen).²⁸⁵ Im genauen Wortsinn wären dann tatsächlich die Brísingar die „kunstvoll Siehe Perkins 2001, S. 69. Siehe Perkins 2001, S. 64. Damit könnten auch die prima facie unterschiedlichen Beinamen des Vaters der zauberkundigen Gunnhildr konungamóðir ‒ Ǫzurr tóti bzw. lafskeggi ‒ in Einklang gebracht werden: lafskeggi ist wohl sicher der „wagbeard“, ,der Bart, der sich hin und her bewegt‘, der Kontext macht es wahrscheinlich, zu Zauberzwecken. Das Epitheton tóti dürfte entsprechend dann schwerlich „Schnauze“ (siehe an. etym.Wb 1962, „toti“) oder „teat“ (vgl. Finlay 2003, S. 54) oder Ähnliches gemeint haben, sondern wird vielleicht ursprünglicher an an. tjóðr, ne. tether, nhd. „Tüder“, „Tuder“ („Tau“) anzuschließen sein (vgl. Kluge/Seebold 2002, „Tüder“). Auch an „Zotte“, an. toddi ist zu denken. „[U]nsere ahd. quellen bieten das wort nicht dar, es ist aber in allen deutschen sprachen vorauszusetzen, da ein berühmter weiblicher schmuck, der Freyja halsband brîsînga men heiszt, womit
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Schmiedenden“ wie die „zauberisch Schnürenden“, eben jene Zwerge, mit denen Freyja ihr Arrangement traf, der Brising aber ist Heimdallr selbst, vielleicht der „verschlungene“ Flussgott,²⁸⁶ vielleicht der Vindhlér, das aufgepeitschte Meer, aber er könnte, dann in identischer Funktion mit den Zwergen, selbst der „zauberisch Schnürende“ sein. In diesem Sinne kann man denn auch bestenfalls spekulieren, was jenes „Zauberlied Heimdalls“ (Heimdallar galdr), das (bis auf Bruchteile) bedauerlicherweise nicht auf uns gekommen ist, zum Inhalt hatte, aber immerhin die Tatsache, dass die Überlieferung von einem Zauberlied weiß, das eigens Heimdallr zugeschrieben wurde, rückt ihn ziemlich deutlich in die Sphäre der Zauberei. Man mag auch darüber spekulieren, wie gut Snorri informiert war über den Heimdallr-Loki-Kampf. Er kennt jedenfalls wichtige Details, die er, wie er selbst vermerkt, dem galdr entnimmt, gleichermaßen weiß er, dass Úlfr Uggason ausführlich, in vielen Strophen seines Gedichts Húsdrápa über diese Ereignisse berichtet. Aber merkwürdigerweise erfahren wir nichts davon, vieles, wenn nicht das meiste bleibt im Unklaren, ja man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Snorri gezielt Informationen zurückhält und wir in dieser Praxis jene tief verwurzelte christliche Scheu, wenn nicht Schrecken vor dem paganen Zauberwesen vermuten müssen, die entsprechende Quellen bestenfalls andeutet, aber ansonsten schweigend übergeht. Und das umso mehr, wenn man in Erwägung ziehen muss, dass ein Phallus als wirkmächtiges Zaubermedium im Mittelpunkt gestanden haben könnte und ‚Freyjas Halsband‘ dafür lediglich eine euphemistische Umschreibung gewesen wäre. Und gerade die enge Verbindung einer weiteren Göttin zu einem phallischen Zauberkomplex, gewiss identisch in der Funktion, vielleicht sogar identisch in der Gestalt selbst mit Freyja, könnte diese Möglichkeit weiter stützen. Schließlich ,erschläft‘ sich nicht nur Freyja ein Schmuckstück,²⁸⁷ auch Gefjon, die kona farandi (Gylf 1) der Gründungssage des dänischen Seeland soll ihre Schenkel, wie Loki weiß, um einen geheimnisvollen weißen Jüngling, sveinn inn hvíti, gelegt haben, mit nämlicher Belohnung: ein Schmuckstück.²⁸⁸ Aber Gefjon lässt sich nicht nur mit weißen Knaben ein, sie zeugt mit einem stiergestaltigen
brosinga mene im Beovulf 2399 zusammentreffen musz. vielleicht wäre auch altn. besser brisînga men zu schreiben und ags. brosinga aus brusinga hervorgegangen, was auf briusan braus brusun, statt breisan brais brisun, nach bekanntem wechsel beider ablautsreihen führen würde. brisîng und brosing angesetzt, erwüchse der passende sinn monile nexuum, connodationum, das künstlich verschlungne halsband“ (DWb, „breis“; „breisen“). Grimm zitiert eine literarische Flussbeschreibung, in der das Wort breisen für einen „das land einfassenden, gleichsam einschnürenden bach“ verwendet wird, „welcher alle garten wässert und die ganz ebne zwischen der statt Tripoli und dem berg Libano, und breiset das ganz land, und seind seine wasser kül und süsz“ (DWb, „breis“; „breisen“). Darüber hinaus erscheint Hnoss (oder Gersimi), „die Kostbarkeit, das Kleinod“, als ihr einziges Kind, wohl nichts anderes als eine Allegorie auf das Brísingamen selbst. „Þegi þú, Gefion! þess mun ec nú geta, / er þic glapþi at geði: / sveinn inn hvíti, er þér sigli gaf, / oc þú lagðir lær yfir“ (Ls 20). („Schweig, Gefjon! Den werde ich nun erwähnen, / der dich zur Liebeslust verführte: / der weiße Bursche, der dir Schmuck gab, / und du legtest die Schenkel um ihn“).
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Riesen vier Stiersöhne, die sie vor den Pflug spannt und damit Seeland vom Festland ,wegpflügt‘ (Gylf 1). Ob weißer Knabe oder Stierwesen, in beiden wird man Heimdallr, den weißen Asen, den gehörnten Wassergott vermuten müssen.²⁸⁹ Und Gefjon ist dabei wohl auch nicht ,die Gebendeʻ, wie deren Name üblicherweise etymologisiert wird, vielmehr wird die Benennung zu ae. geofon „Meer“ gestellt werden müssen,²⁹⁰ sie wäre damit weibliches Pendant zum männlichen Meer/Flussgott. Besonders einschlägig ist dabei ihre Erwähnung in einer Episode der christlichen Missionsgeschichte im Norden, in der ein Phallos als Zaubergegenstand wie Gegenstand der Verehrung im Mittelpunkt steht. In der Flateyjarbók wird die rituelle Verehrung eines Pferdepenis, des so genannten Vǫlsi durch eine Bauernfamilie geschildert. König Óláfr Haraldsson (Olaf der Heilige) beobachtet zusammen mit seinen Begleitern den Ritus inkognito und setzt diesem dann ein unvermitteltes Ende. Wie jeden Abend wird der auf besondere Weise präparierte Phallos in der Familie von Schoß zu Schoß gereicht, damit ein Beischlaf (auch der männlichen Mitglieder!) zumindest simuliert bzw. mit entsprechenden Versen teils unverhüllt obszön in Aussicht gestellt. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, von ekstatisch willig, passiv ergeben bis empört ablehnend, wird hier eine hochdeviante, offenbar rituell geforderte, sexuelle Transgression von den Kultteilnehmern, den Familienmitgliedern, vollzogen. Als die Reihe schließlich an den christlichen König Olaf kommt, wirft er den Vǫlsi zum Entsetzen der Hausfrau der Hündin Lærir zum Fraß vor. Wie üblich schließt die Erzählung mit der Bekehrung der Familie und damit der Bestätigung der Überlegenheit des christlichen Glaubens. In einer dieser rituellen Ansprachen wird nun explizit Gefjon als einziges mythisches Wesen neben dem ominösen Mǫrnir bzw. Maurnir (mit dem offenbar der Phallus selbst gemeint ist) namentlich genannt.²⁹¹ Entsprechend wahrscheinlich ist es, dass die Göttin Gefjon mit dem paganen Phalluskult auf besondere Weise verbunden gewesen sein muss, zumal es zur üblichen Strategie dieser nordischen Bekehrungsgeschichten („conversion-þættir“)²⁹² gehört, das gottlose Handeln der Heiden nach einer bekannten mythischen Referenzsituation narrativ
Auch in der darstellenden Kunst ist die anthropomorphisierte Gestalt des Flussgottes nicht einheitlich, sondern entspricht seinem realen geographischen Erscheinungsbild, z. B. der ‚junge‘ Fluss am Oberlauf als (behörnter) Jüngling oder der jugendliche Ephebe, der die Verjüngung und Entsumpfung eines Flusses verkörpert, die Nebenflüsse erscheinen in Gestalt kleiner Kinder, die dem bärtigen, ‚alten‘ Flussgott auf den Schoß gesetzt werden u. ä. (vgl. Matz 1913, S. 103; 114 f.). Eine seltene Bezeichnung, wie sie wenige Male im ae. Beowulf und im as. Heliand erscheint. Siehe etwa gebenes strôm „Meeresflut“, Heliand, V. 2936, V. 4315 (vgl. Reichl 2012, S. 511). Auch Gefjons übervorteilter Liebhaber, König Gylfi, trägt einen Wassernamen: gylfr „,flussname‘, auch welle, meer“ (an. etym.Wb 1962, „gylfr“); siehe auch „gjalfr“, Lex.Poet., S. 183: „1) brysende lyd […] 2) isœr om havets brusen, […] g[jalf]rs grund, havet.“ Þess sver ek við Gefjun ok við ǫnnur guðin, at ek tek nauðig við rauðum nosa. Þiggi Maurnir þetta blæti! En, þræll hjóna, þríf þú við Vǫlsa! („I swear by Gefjun and by other deities that I am forced to take the red snout. May Maurnir receive this offering! But, servant of the household, you grab Vǫlsi!“ [Vǫlsa 7]). Heizmann (Hg.) 2012a. Perkins 2001, S. 33.
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auszuformen und diese dann im Weiteren so auszugestalten, dass der christliche Bekehrer daraus sieghaft, der Heide (und mit ihm sein paganes Vorbild) als bezwungen hervorgeht. Die Etymologie des Namens Mǫrnir wie die mythische Wesenheit, die sich dahinter verbirgt, ist am wenigsten klar, nicht einmal die grammatikalische Form. So kann der Name als Nominativ Singular aufgefasst werden, wie meist angenommen, aber ebenso als Plural, dann zu mǫrn fem. sing. „Riesin“. Erstere Bedeutung wird üblicherweise mit „Schwert“ wiedergegeben und wäre dann in einem zweiten, übertragenen Sinne als Phallos zu verstehen.²⁹³ Wenn wir freilich bedenken, dass auch Gylfi, mit dem Gefjon sexuell verkehrte, ähnlich wie Heimdallr das personifizierte Wasser darstellt, so spricht einiges dafür, auch in Mǫrnir (Maurnir) eine Wasser/ Flussbezeichnung zu vermuten.²⁹⁴ Heimdallrs neun Mütter (‚die Wellen‘) werden ohnehin austauschbar mit Wasser- wie Riesinnennamen belegt. In einem ganz konkreten Sinn ist damit die riesenhafte Gewalt wie Gewalttätigkeit des Wassers gemeint, die drohend von den Bergen herabstürzenden Wasser-, Geröll- und Schlammmassen, am einschlägigsten dabei gewiss Gjálp und Greip, die im Hyndluljóð (37) als personifizierte Wellen, als Mütter des Heimdallr erscheinen.²⁹⁵ In einer bekannten Thor-Episode, seiner Geirrøðr-Reise (Skáldsk 18; Þórsdrápa 9), verhindert Gjálp ²⁹⁶ als Riesin fast erfolgreich Thors Flussüberquerung, indem sie durch ihren eigenen Urin das Flusswasser zum Anschwellen bringt. Ob nun Verkörperung oder Beherrschung des Wassers, die Idee, das mythische Bild ist dasselbe. Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Cöllen: Die oben behandelten Namen scheinen sowohl mit Wellen als auch mit Riesen in Beziehung zu stehen. Die Namen von Heimdalls Müttern bzw. Namen, die mit ihnen verwandt sind, können tatsächlich auch für Riesen verwendet werden. Dies braucht nicht zu verwundern, denn der Gedanke, die Wellen seien Riesinnen und das Meer ein Riese (Ægir), impliziert die Vorstellung, dass das potentiell gewaltsame und gefährliche Meer seinen Charakter mit den Riesen teilt.²⁹⁷
Man wird also durchaus an die zahlreichen Gewässerbezeichnungen mit der Wurzel gm. *mari *marin denken müssen, „größeres stehendes Gewässer, Binnengewässer, feuchte, sumpfige Stelle“,²⁹⁸ insbesondere aber gerade in diesem Zusammenhang an Bezeichnungen für erdrutschartige Überschwemmungen: „Mur“, „Moräne“ < rom. mora „Geröllstrom“, ladin. Mara „Schutt, Geröll von Gebirgsbächen.“²⁹⁹ Bei manchen
Vgl. Heizmann 2006, S. 540. Siehe von Unwerth 1910, S. 180, der auf „Mǫrn f. Fluss (d.i. die Marne)“ zumindest als formale Möglichkeit verweist. Vgl. Cöllen 2015, S. 144 f. An. „Lärm, Getöse“, nisl. „Brausen,Welle, See“, dazu an. gjalfr „Lärm, heftiger Wogengang, Meer“ (Cöllen 2015, S. 144). Cöllen 2015, S. 145. Vgl. z. B. „Maar“, Greule 2014, S. 333, „Mörn, die“, Greule 2014, S. 355. Vgl. Brandenstein 1952, S. 22, Anm. 2.
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Flussnamen sind ohnehin grundsätzlich beide Deutungen möglich, siehe etwa Murn < *Murina „Sandbach“ ebenso wie < *Morina (*mori- „Meer“).³⁰⁰ In diesem Sinne wird die Szene der phallosfressenden Hündin zum Zerrbild einer sexuellen Interaktion, Lærir in der Bedeutung „Schenkel“ zweifelsohne „ein ,sprechender‘ Name“,³⁰¹ Assoziationen zur ‚Hündin‘ Freyja ebenso naheliegend wie zur schenkelspreizenden Gefjon (wie überhaupt zu den Schenkeln sämtlicher Beteiligter). Aber auf der strukturellen Ebene wird noch weiter gedacht werden müssen. Im dramatischen Ende, der Wegnahme des Penis, könnte man nun eine Referenz sehen auf den Urkampf und Kastrationsakt zwischen Heimdallr und Loki, ja darüber hinaus ließe sich beim Namen Lærir selbst an eines der berüchtigten Wortspiele in Saxos Amlethus-Sage denken, in der wir bereits die (Anti)helden-Fassung des Heimdallr-Mythos vermutet haben: Am Strand versuchen die Begleiter Amlethus weiszumachen, dass ein dort angetriebenes Ruder ein Messer sei. Darauf antwortet dieser, dies müsse aber ein großer Schinken gewesen sein, der damit geschnitten worden sei (,Eo‘, inquit, ,praegrandem pernam secari convenit‘. Gest.Dan. 3.6). Rudolf Meißner vermutet dahinter ein homonymisches Wortspiel, das freilich nur in der altdänischen Originalsprache verständlich werde. Isl. bedeute wohl der „Schinken“ (= ‚Schenkel‘) lær, adän. indes lār (ndän. laar), was wiederum auch als Plural von lā „Woge, Gewässer“ aufgefasst werden könne.³⁰² Das Durchpflügen des ‚Meeres‘ mit einem ‚Ruder‘ wäre dann gleichgesetzt mit dem Durchschneiden eines ‚Schinkens‘ mit einem ‚Messer‘. Die stark phallischen Assoziationen sind kaum von der Hand zu weisen, zumal es im Weiteren zu einem (in heimtückischer Absicht) arrangierten Geschlechtsverkehr zwischen Amlethus und seiner Ziehschwester kommt (ausgerechnet in einem abgelegenen Sumpf, wohin er sie verschleppt).³⁰³ Saxo Grammaticus weiß, wie bereits erwähnt, von einem Kampf zwischen Humblus und Lotherus (die Namensähnlichkeit zum Gründervater Heimdallr wie Kontrahenten Loki/Loðurr sind kaum zufällig), den Söhnen des eponymen Gründers
Vgl. Greule 2014, S. 364. Heizmann 2006, S. 540. Vgl. Meißner 1927, S. 389. Siehe dazu auch die Untersuchung Manfred Lurkers über den als typischen Schwellenbewohner aufgefassten Hund und die damit verbundenen magisch mythischen Vorstellungen. Besonders einschlägig in diesem Zusammenhang ist dabei eine Redewendung aus der Seemannssprache, in der ein Zusammenhang zwischen Hund und Meer hergestellt wird mit dem tertium comparationis der Fressgier: „In der Seemannssprache bedeutet ‚de grote Hund‘ soviel wie das Meer und ist damit ein Bild für die verschlingende See; der Schiffskoch schüttet Speisereste oft mit den Worten über Bord: ‚Dat is wat för’n groten Hund‘“ (Lurker 1983, S. 139). Amlethus Tarnung sei durch diesen Vorfall nur deshalb nicht enthüllt worden (so Saxos ganz widersinnige Begründung), weil sein Milchbruder eine Bremse mit einem Strohhalm am Hinterleib präpariert habe, und Amlethus dadurch gewarnt gewesen sei. Naheliegender scheint hier allerdings das Motiv der gand-flue, das zauberische Entsenden eines Hilfsgeistes, das mit einem devianten Geschlechtsakt verbunden ist.
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Dänemarks, Dan.³⁰⁴ Daneben berichtet er allerdings von einem weiteren Zweikampf, wenn auch für vorliegenden Zusammenhang bis dato nicht in Erwägung gezogen. Tatsächlich gehört dieser wiederum in den Sagenkomplex um Amlethus und schon deshalb kann er kaum unberücksichtigt bleiben. Freilich wird dieser Kampf nicht Amlethus selbst zugeschrieben, vielmehr dessen Vater Horwendillus (Aurvandill) und einem gewissen Collerus (Kollr), König von Norwegen. Die Gestalt des Horwendillus seinerseits ist enigmatisch genug mit einer komplexen mythischen wie heroischen Tradition, sie muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Unser Interesse gilt hier dem Gegner. Ohne nähere Erklärung sucht Collerus den Zweikampf mit Horwendillus. Nachdem er die Weltmeere nach ihm durchkämmt hat, treffen sich beide auf einer Insel, an der sie zufällig zur gleichen Zeit angelegt haben. Die Insel wird, durchaus ungewöhnlich, da für den Erzählverlauf redundant, als frühlingshaft grün, üppig, von großer Schönheit beschrieben. Ausdrücklich weckt sie in beiden Anführern den Wunsch, diese zu ‚durchstreifen‘.³⁰⁵ Gleichermaßen auffallend sind die umfangreichen Verhandlungen, die nun zunächst begonnen werden: Für den Fall des Todes des Unterlegenen soll ein prächtiges Begräbnis gewährt werden. Daneben aber gebe es „noch ein anderes nicht weniger trauervolles Unheil, welches zwar das Leben nicht nimmt, aber ein Glied des Körpers vernichtet. […]. Oft trifft ja die Kämpfer bei Erhaltung des Lebens ein Verlust an den Gliedern: dieses Geschick gilt als schlimmer denn der Tod, weil der Tod die Erinnerung an alles nimmt, der Lebende aber die Verkrüppelung des Leibes immer fühlen muss“ (Gest.Dan. 3.6). Auch dies müsse mit einer großen Summe Goldes („zehn Talent Gold“) gesühnt werden. Die Möglichkeit einer Verstümmelung wird also nicht nur angesprochen, sondern darüber hinaus explizit mit Gold und prächtigem Überfluss in Zusammenhang gebracht.³⁰⁶ Und tatsächlich verliert Kollr sein Leben durch das Abschlagen eines Beines, also durch jenen Gliederverlust, der zuvor so ausdrücklich im Fokus des Interesses stand. Das Aufeinandertreffen wird in der Gestalt des nordischen rituellen Zweikampfs, des hólmganga, geschildert. Austragungsort, die Insel (ein zu rituellen Zwecken abgegrenztes Gebiet) wie die spezifische Beinverletzung sind dafür symptomatisch. Allerdings spricht Saxo dem Kollr auch eine Schwester zu, Sela, auch sie offenbar durch und durch wasseraffin, „die in Wikingfahrten geübt und in dem Kriegswerke
Dan und sein Bruder Angus sind ihrerseits Söhne des gleichnamigen Erzgründers Humblus (Gest.Dan. 1.1). Humblus II. soll mit dem Leben davon gekommen sein und fortan ein zurückgezogenes Leben als ,Privatmann‘ geführt haben (Gest.Dan. 1.2). Invitabat duces iucunda litorum species, hortabatur exterior locorum amoenitas interiora nemorum verna perspicere lustratisque saltibus secretam silvarum indaginem pererrare (Gest.Dan. 3.6). („Die Schönheit des Gestades lockte die Anführer zum Besuche, die Anmut der Küstenstriche trieb sie, sich auch das frühlingsgrüne Innere anzusehen, die Lichtungen zu durchschreiten und auch das abgeschiedene Dickicht des Waldes zu durchstreifen“). Quem, ne pacto deesset, regio funere elatum magnifici operis tumulo ingentique exsequiarum apparatu prosecutus est (Gest.Dan. 3.6). („Der Abmachung nachkommend liess er ihn mit königlichem Leichenzuge begraben, widmete ihm einen Grabhügel von grossartiger Arbeit und einen prächtigen Leichenschmaus“).
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erfahren war“,³⁰⁷ wie es heißt. Unverzüglich nach seinem Sieg verfolgt und ermordet Horwendillus diese ‒ durchaus entgegen der Logik des vorausgegangenen hochritualisierten Prozederes, entgegen insbesondere der Erzählplausibilität, in der durchgehend von Ehre, Menschlichkeit und Erbarmen für den Unterlegenen die Rede ist. Das scheint ein empfindlicher Bruch. Gerade aber in der Eigenart der Eigennamen selbst scheint die Plausibilität des ursprünglicheren Mythos noch durchzuscheinen. Und dieser verweist wiederum auf den Kampf zwischen Heimdallr und Loki,³⁰⁸ ja darüber hinaus auf die zauberische Sphäre, den (sexualisierten) Schadenszauber. Kollr bedeutet zunächst „Kopf, Schädel“,³⁰⁹ dann aber mit weiteren, interessanten Spezialbedeutungen. Altn. kolla ist die „Kuh ohne Hörner“, dazu nhd. küll-, kielbock „hornloser Bock“,³¹⁰ was exakt der Bedeutung tirol. humlet, bayer. Hummelbock, preuß. Hummel entspricht: „Widder ohne oder nur mit einem Horn“. Mit der stereotypen Beinverletzung des Holmgangs könnte also ursprünglich eine andere Verstümmelung gemeint sein: die typische Verstümmelung des Flussgottes, die Enthornung bzw. Kastration. Das frühlingshafte Grün entlang des Wassers, das beide Parteien ausdrücklich durchstreifen, ist ja schon aus den Eingangsversen der Rígsþula bekannt, „entlang irgendeines Meeresstrandes“ (fram með sióvarstrǫndo noccorri, Rþ, Eingangsprosa), „über grüne Wege“ (gronar brautir, Rþ 1) wandelt auch der Rígr. Sela wird zu selr „Seehund“ gestellt werden können.³¹¹ Man mag dahinter den großen Komplex der Schwanenjungfrauen- bzw. als Untergruppierung Seehundfrauen-Erzählungen sehen,³¹² aber das Motiv des Seehunds muss im Heimdallrkomplex anders beurteilt werden. Insbesondere wenn wir an eine Gestalt aus dem isländischen,
Deinde sororem eius, Selam nomine, piraticis exercitam rebus ac bellici peritam muneris, persecutus occidit (Gest.Dan. 3.6). Anna Lena Deeg sieht den mythischen Kampf zwischen Heimdallr und Loki expressis verbis als Holmgang. So wie „in der Sagaliteratur die Funktion des Holmgangs in der Wiedererlangung einer gestörten gesellschaftlichen Ordnung“ liege, dienten „mythische Duelle ‒ dem Genre des Mythos Rechnung tragend ‒ der Wiederherstellung einer bedrohten kosmischen Ordnung“ (Deeg 2015, S. 96 f.). Sie verweist aber auch auf eine Diskrepanz: „Anders als bei den meisten Holmgängen der Sagaliteratur wird in der Húsdrápa nicht um die Ehre oder den Besitz eines der Beteiligten gefochten“ (Deeg 2015, S. 94), vielmehr um fremdes Besitztum, das Schmuckstück Freyjas (vgl. Deeg 2015, S. 94 f.). In der Interpretation des Wortes hafnýra als ,Geschlechtsteil/Horn‘ des Heimdallr und damit buchstäblich ureigenster Besitz und Ehre des Heimdallr entfällt diese Abweichung. Zu Grunde liegt wohl die Vorstellung von etwas Abgerundetem, Blankem, siehe entsprechend die Bedeutung in Ortsnamen „runder Gipfel“ (vgl. an. etym. Wb 1962, „kollr“). Siehe DWb, „kielbock“. Siehe von Unwerth 1910, S. 161 f., wobei von Unwerth kolla in dieser Zusammensetzung als Diminutivableitung zu kona („Frau“) interpretiert. Auch in zusammengesetzten Namen für weibliche Tiere tauche das Wort auf, etwa dýr-kolla („Hirschkuh“) u. ä., entsprechend Selkolla in genauer Wortbedeutung als ‚Seehundfrau‘ gedeutet werden könne. Dies könnte durchaus dem synchronen, aktuellen Verständnis des Namens in seinem unmittelbaren kulturellen Umfeld entsprochen haben, allerdings ist damit gerade nicht die männliche Bezeichnung Kollr (Collerus) bei Saxo erklärt. „It seems to have been a widespread idea that seals may sometimes appear in the shape of humans and, inversely, that some people may take on the shape of seals“ (af Klintberg 2018, S. 63).
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folkloristischen Geisterglauben denken, auf die einzig Rydberg in diesem Zusammenhang und auch nur en passant verweist³¹³: Selkolla, ein bösartiges weibliches Monster, ein succubus in Gestalt eines Menschen und mit dem Kopf eines Seehunds, der nur ein Mann der Kirche, Bischof Guðmundr, Herr wird.³¹⁴ Der eigenartige Name ist in Bezug gesetzt worden zu (tatsächlich existierenden) Ortsnamen, ,Seehundkopffelsen‘, dass etwa die geographische Eigenart des Ortes selbst nicht nur dem Ort den Namen gegeben hätte, sondern auch zu jener Legendenbildung angeregt hätte.³¹⁵ Nun mag dieses Prinzip in der Ortsnamenkunde in vielen Fällen auch so zutreffen, indes scheint diese Erklärung gerade in diesem Fall nicht recht zu greifen. Die Angst und der Schrecken, die diese Gestalt verbreitet, ihre extreme, insbesondere sexuelle Aggressivität gegenüber Männern scheinen ‚Seehundfelsen‘, Aufenthaltsorte für Seehunde als Aition kaum zu rechtfertigen.³¹⁶ Entsprechend möchte schon von Unwerth die Gestalt der Selkolla als Mahre interpretieren.³¹⁷ Die ganze Existenz Selkollas ist schließlich mit zwei Wirkungsbereichen verknüpft: Deviantes sexuelles Verhalten, das sie in Männer wie Frauen induziert, das sie aber auch selbst ausübt,³¹⁸ was zu einer insbesondere sexuellen Schwächung der Männer führt und nicht selten deren Leben kostet. Daneben aber vermag sie offenbar auch Stürme heraufzubeschwören,
Vgl. Rydberg III 1906, S. 851. Siehe Guðmundar saga biskups (Jón Sigurðsson und Guðbrandur Vigfússon [Hg.] 1858), Kap. 34 f. „I therefore consider it likely that Selkollukleifar could be the origin of the conceptions about the thirteenth-century female demon who was said to sometimes appear with a seal’s head“ (af Klintberg 2018, S. 64). Siehe af Klintberg 2018, S. 63 f.: „In this rich folklore, however, I have not found any single motif that shows affinity to the figure of Selkolla. The women who shift their shape between human being and seal in the folk legends totally lack Selkolla’s violence and aggressiveness. She is considerably closer related to the horrifying revenants and trolls of the Icelandic sagas than to any of the beings that appear in more recent North Atlantic folklore about seal people.“ Letztendlich will af Klintberg aber doch der toponymischen Begründungsgeschichte den Vorzug geben. Vgl. von Unwerth 1910, S. 170. Von Unwerth weist darauf hin, dass sich gerade Verstorbene in der isländischen Volksüberlieferung in der Gestalt eines Seehunds (siehe etwa Eyrbyggja saga, Kap. 53 f.) zeigten. Schon die Art ihrer Entstehung selbst ist mit einem unziemlichen Sexualakt verknüpft: Auf dem Weg zur Taufe ihres Neugeborenen geben sich die Eltern ihren sinnlichen Begierden hin am „großen Stein“, Mikla-steins (Guðmundar saga, Kap. 34). Währenddessen stirbt das Kind und die ungetaufte Kinderseele wird zum Seehundmonster, so eine mögliche Interpretation. Wahrscheinlicher ist aber, dass das Kind ausgewechselt wurde von den außernatürlichen Bewohnern eben jenes Steins gegen einen berüchtigten Wechselbalg. Gerade die starke Wasseraffinität findet hier eine Erklärung: In der Gesellschaft von Kobolden und Nixen zeige sich deren eigentliches Wesen (vgl. DWb, „kielkropf“). Siehe das etymologisch verwandte nhd. kielk(r)opf: „m. misgeburt, als teufelskind (zwergkind), ,wechselbalg‘ […]: denn was zur selben zeit der reinigung empfangen wird, wird auch ein untüchtige, gebrechliche frucht, als wahnwitzige kinder, natürliche narren, kilkröppe, wechselbelge (DWb, „kielkropf“). Ähnlich in einer mecklenburgischen Volkssage: „[D]a trägt bei Danzig ein bauer einen wechselbalg zur taufe, auf einer brücke aber schreien stimmen aus dem wasser: kielkropp, kielkropp, wo geist hen? darauf der bauer zum kinde: böst du vom düwel, so gâ ôk tom düwel, und wirft es in den strom“ (DWb, „kielkropf“).
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durch zauberische Manipulation Schiffe zu gefährden. Und dies bewirkt sie wiederum ausgerechnet in Gestalt eines rohen, unansehnlichen Pferdeknochens (hrossknútu eina hrá ok óþokkuliga),³¹⁹ von dem die Seeleute, die diesen in ihrem Schiff entdeckt haben, intuitiv wissen, dass es sich um die Seehundfrau handeln müsse. Aus Furcht vor dem Knochen, wie es heißt, wagen sie diesen erst nach ihrer glücklichen Ankunft ins seichte Wasser zu werfen. Und an nämlicher Stelle sei Selkolla zum letzten Mal gesehen worden. Aber hier muss natürlich zu Recht die Frage gestellt werden, „how could the bone of a horse remind the men of Selkolla?“³²⁰ Nun bringt Unwerth Vǫlsaþáttr und Guðmundar saga zusammen, er denkt an ein Pferdeopfer, das für Mahre ehedem bezeugt gewesen sei, entsprechend sei der Sprung vom Opfer (im ersteren Fall) zur Verkörperung (im letzteren) nicht weit.³²¹ Vielleicht aber muss man eher (gleichfalls aus christlicher Unkenntnis) an eine Verschiebung vom Pferdephallus zum rohen, garstigen Pferdeknochen denken. Und auf einem Schiff dürfte wohl der apotropäische wie provozierende Windzauber näher liegen als ein Mahrenopfer. Der beherzte Wurf des Knochens/Phallus ins Meer scheint dessen Besänftigung bewirkt zu haben.³²² Ja, man mag noch einen Schritt weitergehen: die Untröstlichkeit der Hausfrau im Vǫlsaþáttr über den Verlust des Phallus, ihr Ausschauhalten über die Grenzen des Diesseits, in die Totenwelt (Hefi mik um hjarra ok á hurðása, vita ef ek borgit fæblætinu helga [Vǫlsa 13])³²³ könnte dann vielleicht sogar von Anfang an als paganes Ritualelement impliziert gewesen sein, der Wurf in den Schlund der Lærir (,Schenkel‘ wie ,Fluten‘) wäre dann identisch mit dem Wurf ins Meer und könnte vielleicht sogar mit der verzweifelten Suchaktion Freyjas nach ihrem Geliebten zusammengebracht werden: Freyja nennt sich bekanntlich ebenso Gefn und sie ist Mardǫll. Der schwierige Name wurde u. a. ‒ in Anlehnung an Heimdallrs Name ‒ als „Meeresleuchten“ (zu ae. deall „leuchtend“) gedeutet. Aber man könnte auch hier auf gleiche Weise im zweiten Namensbestandteil eine auffällige Art der Bewegung gefasst sehen. In einem spezifisch patriarchalen Wissensrahmen ist das weibliche, langsame, nicht zielgerichtete Gehen, das Schlendern mit weiblicher sexueller Abweichung, insbesondere Promiskuität konnotiert (siehe die ,Fahrt‘ der Gefjon, die sie
Guðmundar saga, Kap. 35. af Klintberg 2018, S. 69. Vgl. von Unwerth 1910, S. 174. Wenn auch in christlicher Diktion dies ausschließlich die Anrufung des Bischofs Guðmundr vermochte. „Lift me over door-hinges and onto door-beams to see if I can save the holy offering“ (Heizmann [Übers.] 2012a, S. 1104). Gro Steinsland und Kari Vogt verweisen auf die Ähnlichkeit zu einem Ritualelement im Bestattungskult. Im Reisebericht des Ibn Fadlan (922) wird geschildert, wie ein Sklavenmädchen, das ihrem Herrn freiwillig in den Tod folgt, zum Zeichen des bevorstehenden, existenziellen Übergangs über ein Türgerüst gehoben wird. Von dort blickt es, wie es selbst bezeugt, ins Jenseits und entdeckt dort ihre toten Verwandten und ihren toten ,Ehemann‘ (vgl. Fraehn [Übers.] 1823, S. 15 – 17). Der Türrahmen markiere entsprechend die Grenze zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt (vgl. Steinsland und Vogt 1981, S. 103 f.).
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im nordischen Kulturkreis kaum verhohlen als Hure ausweist).³²⁴ Damit allerdings wäre der Name nicht nur formal identisch mit einer Bezeichnung aus dem Hexenwesen, sondern gleichermaßen erwartbar pejorativ in der Bedeutung. In der Eyrbyggja saga (Kap. 16) warnt Geirriðr Gunnlaugr, nachts allein nach Hause zu gehen, denn „margir eru marlíðendr, eru ok opt flǫgð í fǫgru skinni“. Mar-líðendr geben Cleasby/Vigf. wieder mit „part. pl. ,sea-sliders‘, sea-farers“; margir eru marlíðendr entsprechend als „many there are who slide over the sea,“ „of witches, spirits“ (siehe flǫgð).³²⁵ Marlíðendi entspräche damit im genauen Wortsinn Mar-dǫll, „die über das Meer zieht“. Und tatsächlich legt sich Freyja diesen Namen zu, ja erwirbt ihn sich nachgerade durch eine Wanderschaft,³²⁶ eine rastlose Suche nach einem mysteriösen Liebhaber, angeblich sogar Ehemann, von dem wir indes kaum mehr als den Namen kennen: Óðr. Er soll zeitweilig verschwunden sein und auf der Suche nach ihrem kostbaren Gefährten habe sie goldene Tränen vergossen. Nun vermutet Detter in Amlethus/Amlóði das Kompositum aml-óði (ohne es freilich mit Heimdallr in Beziehung zu setzen), ein Synonym zu fífl.³²⁷ Wohingegen Meißner darauf hinweist, dass mit dem zweiten Namensbestandteil óðr kaum ein „Trottel“ bezeichnet werden könne.³²⁸ Óðr sei „wütend, rasend“, eher ein „Tobsüchtiger, der in Fesseln gehalten werden muss“, und diese Vorstellung sei ganz verschieden von Amleths Beschränktheit.³²⁹ Andererseits hält er die Überlegung Kemp Malones, dass „das Motiv des verstellten Stumpfsinns“³³⁰ dann wohl jünger als der Beiname selbst gewesen sein müsse,³³¹ für unwahrscheinlich,³³² er möchte vielmehr davon ausgehen, dass der Beiname speziell für dieses Gebaren gegeben wurde, und einen ursprünglich anderen, ‚eigentlichen‘ Namen ersetzt habe. Tatsächlich aber treffen Melones Überlegungen genau den Punkt (auch wenn darin die Gestalt des Heimdallr genauso wenig vorkommt). Der Zusammenhang mit Heimdallr, seine Verstümmelung, Kastration war längst nicht mehr klar, entsprechend wurde aml-óði zu irgendeinem Zeitpunkt ganz wörtlich als ,Beschränktheit des Verstandes‘ interpretiert und die ursprünglichen, mythischen Referenzen mussten in diesen neuen Erzählrahmen eingepasst werden. Aber es gibt neben der ganz allgemeinen Bedeutung ‚Raserei‘, ,Wut‘ auch eine sexuelle Konnotation dieses Begriffes: die ,sexuelle Begierde‘, die ,Brunst‘. Heide verweist auf das Verb œða „gjøre rasende
Vgl. Heizmann 2002a, S. 206. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „mar-líðendr“. Siehe eine weitere Reminiszenz im Rätselwettbewerb Odins mit Vafþrúðnir, Vm 48: [H]veriar ro þær meyiar, er líða mar yfir, / fróðgeðiaðar fara? („[W]er sind die Mädchen, die übers Meer ziehen, / klug gesinnt fahren?“), auch wenn hier die Konnotationen zunächst nicht negativ zu sein scheinen. Vgl. Heizmann 2009, S. 513. Vgl. Detter 1892, S. 6 f., aber kaum im Sinne von „verdrusswütend“ (Detter 1892, S. 7). Vgl. Meißner 1927, S. 384. Vgl. Meißner 1927, S. 384. Meißner 1927, S. 385. Siehe Malone 1928, S. 262. Er denkt an eine „feigned idiocy“, die von der Brutuslegende ihren Ausgang genommen habe und eine ältere Konzeption überdeckt habe. Vgl. Meißner 1927, S. 385.
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eller afsindig“, ähnlich œði, aber darüber hinaus in der Bedeutung „Brynde eller vellystig Lidenskab.“³³³ Die befremdliche, grausame Raserei wie sexuelle Gier Hamlets passt dazu, wenn auch diese Eigenschaften schwer eingefügt werden konnten in den neuen Rahmen seiner vorgeblich harmlosen Idiotie. Um den gestutzten Geliebten, den ehedem rasenden, brünstigen Flussgott vergießt Freyja ihre Tränen, um den Verlust seines Sexualorgans. Dafür hält der Mythos das gleiche Bild bereit, das Bild des gefüllten Containers, der gewaltsam geöffnet wird und damit zum Reichtumsspender schlechthin wird: In ihrer maßlosen Trauer ‚erweint‘ sich Freyja ihr Geschmeide. Auf die Ähnlichkeit zwischen Freyjas kostbaren Goldtränen und den Bernsteintränen der Heliaden-Töchter ist dabei gewiss zu Recht verwiesen worden,³³⁴ vielleicht gehört hierher auch ein (zeitgleicher) altengl. idiomatischer Ausdruck: wopes hring, „ring of weeping“, der einen untröstlichen Tränenausbruch umschreibt. So bricht Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, in Freudentränen aus über die wiedergefundenen Kreuzesnägel (die sie zum Gebissstück für das Pferd ihres Sohnes hat umarbeiten lassen). Sie gießt, wie es heißt, „a ring of weeping“ über dieses wira gespon („web of wires, filigree work“),³³⁵ menschliches, organisches wie künstliches Gespinst durchdringen sich und werden eins. Das heißt, die Tränen selbst, ihre filigrane, netzartige Konsistenz, werden mit dem kunstvoll verflochtenen Geschmeide gleichgesetzt. Allerdings möchte Richard North diese „idea of metal ornament“³³⁶ mit Balders Ring Draupnir zusammenbringen. Der Ring Balders stelle die ursprüngliche, mythische Referenz für den altenglischen Ausdruck dar. Balder habe seinen Ring mit einer Botschaft aus Hel geschickt, der Aufforderung zum Weinen: „,[W]opes hring‘ encourages us to visualize a symbol of compunction, one meant to move St Helena, the apostles, Beccel and St Andrew and even the Lord to tears“.³³⁷ Ob tatsächlich an dieser Stelle eine dermaßen komplizierte Assoziation zu einem (seltenen) Sprachbild aufgerufen werden sollte (einschließlich Handlungsaufforderung), scheint wenig wahrscheinlich, vielmehr dürfte das tertium comparationis zwischen ‚Metall(arbeit)‘ und ‚Tränen‘ auf einer mehr körperhaften Ebene anzusetzen sein: So wie der Balderring, ,der Tropfer‘, ganz offensichtlich eine organische Funk-
Vgl. Heide 2006a, S. 270. „I (sør)vestnorsk og i finlandssvensk i nyare tid finn vi, i tillegg til raseritydingane, brunst-tydingar: o(d)en adj. ,brunstig‘, o(d)n., o(d)e f., o(d)e m. ,brunst‘, ,sæd, sperma‘. Det gjer vi i mellomnederlandsk òg. Verbet woeden er ,å trå sterkt etter‘, og adjektivet woedig er ,sterkt tråande, brennande av kjærleik‘. […]. Tydingane ,raseri‘ o.l. finst òg i fleire germanske språk. På bakgrunn av dette er det grunn til å tru at dei ulike tydingane, ,forstand, raseri, kåtskap, brunst‘ o.l., har høyrt til rota frå eldste tid, som ulike sider av same sak“ (Heide 2006a, S. 270 f.). Siehe ähnlich an. etym. Wb 1962, „œði“, mit Verweis auf nnorw. øda „brunst“. Die Töchter des Sonnengottes Helios beweinen den Absturz ihres Bruders Phaeton in Gestalt von Pappeln, als Harz tropfen ihre Tränen ins Meer (bzw. in den Paradies- oder Urfluss Eridanos) und werden zu Bernstein (vgl. Heizmann 2009, S. 514). North 2013, S. 896. North 2013, S. 896. North 2013, S. 907.
3.7 Heimdallr Brisingr
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tion besitzt, Gold als Flüssigkeit absondern kann, so vermag das auf umgekehrte Weise das Tränenorgan Freyjas. Es sind mythische, unversiegliche Spender, und darin gleichen sie dem Horn/Geschlechtsteil Heimdallrs. Auf diese flüssigkeitsaffine Herstellung referieren auch mehrere Kenningar: „Wie soll man Gold umschreiben?“ „Tränen der Freyja“ (grátr Freyju), „Tropfen Draupnirs“ (dropa Draupnis), „Augen der Freyja“ (augna Freyju), auch der Ausdruck für Gold als „Feuer des Meeres“ erscheint in dieser Aufzählung (Skáldsk 32). Interessant genug ist aber gerade in dieser Kenningzusammenstellung noch von einem weiteren organischen Behälter, einem Körpercontainer und seinen Absonderungen die Rede: Gold als „Mundzählung, Stimme und Rede der Riesen“ (munntal ok rǫdd ok orð jǫtna). Hier wird auf einen ansonsten unbekannten, aber offenbar sehr alten und für die Goldkenningbildung gerne verwendeten Mythos der Riesenbrüder Þjazi, Gangr und Iði angespielt. Und wie wir noch sehen werden, fügt sich auch diese Kenning nahtlos ein in die Vorstellung von Gold als Emission letztendlich aquatischer Produzenten (siehe Kap. 7.7). Nun ist Balder kein Flussgott und Heimdallr nicht gestorben. Der gemeinsame Denkraum ist ein anderer. Heimdallr ist eine kosmische wie genealogische Gründergestalt, ein Stammvater. Wir werden das Nämliche auch von Balder annehmen müssen.
4 Der Glanz des mythischen Ortes 4.1 Fosetesland – Ódáinsakr – Glæsisvellir Vom Glanz des Körpers kehren wir zurück zum Glanz des Ortes. Es sei erinnert, auch die Umgebung, das nächste Umfeld, Objekte der Adelsfamilie sind weiß, ein weißes Linnen als Tischtuch (hvítan af hǫrvi), das Brot aus Weißmehl (hvíta af hveiti), silberne Schüsseln (silfri varða) (Rþ 29/30). Auch hier scheint sich die Körperweiße kontagiös auf die Umgebung zu übertragen, eine unmittelbare Entsprechung zu finden. Zweifelsohne ist der Glanz des Ortes im Baldermythos auf ganz besondere Weise mit der Wohnstatt des Gottes selbst, Breiðablik, „das weithin Glänzende“ (Grm 12), verbunden. Aber um diese Konzipierung genauer fassen zu können, muss zunächst ein anderer mythischer Glanzort betrachtet werden, die Wohnstatt des einzigen Sohnes, der Balder zugeschrieben wird: Forseti (Skáldsk 5). Dieser soll wie sein berühmter Vater eine glänzende Halle bewohnen, Glitnir, so wissen es die Grímnismál (15) zu berichten, „von Gold gestützt“ und „mit Silber gedeckt“. Wie Balder scheint er als Rechtsgott verstanden worden zu sein, wenn auch ein offenbar erfolgreicherer als sein Vater: Forseti bringe jeden Streit zum Einschlafen, wie es heißt, Menschen kämen zu ihm und er schlichte allen Streit (Gylf 32),¹ eine außergewöhnliche, ja fast magische Friedensstifterfunktion, die über eine normale Richtertätigkeit hinauszugehen scheint. Aber auch dieses Richteramt ist durchaus nicht unbestritten, fraglich zumindest, ob es sich in seinem Namen ausdrückt als „der Vorsitzende“, praeses, princeps (in einer Gerichtsverhandlung), wie seit Jacob Grimm vorgeschlagen wird.Wir werden auf diese Problematik noch ausführlicher zu sprechen kommen, zumal Jacob Grimm selbst in einer späteren Ausgabe seiner Deutschen Mythologie dem eigenen Etymologisierungsvorschlag durchaus nicht mehr folgen wollte. Aber überhaupt scheint Forsetis Position als Sohn Balders kaum eine ursprüngliche: „Forseti must have been proclaimed Baldr’s son after the myth of Baldr had acquired its canonical form, since Baldr in his capacity as father does nothing and because no one expected Forseti to avenge his parent.“² Nun erscheint in lateinischen Quellen des 8./9. Jahrhunderts tatsächlich ein friesischer Gott Fosite (oder Fos(e)te, Foseti), die Möglichkeit einer Verbindung ist früh
Forseti heitir sonr Baldrs ok Nǫnnu Nepsdóttur. Hann á þann sal á himni er Glitnir heitir, en allir er til hans koma með sakarvandræði, þá fara allir sáttir á braut. Sá er dómstaðr beztr með guðum ok mǫnnum. Svá segir hér: Glitnir heitir salr, / hann er gulli studdr / ok silfri þakðr it sama, / en þar Forseti / byggvir flestan dag / ok svæfir allar sakar (Gylf 32, Grm 15). („Forseti heißt der Sohn Balders und der Nanna, Neps Tochter. Er wohnt im Himmel in dem Saal, der den Namen Glitnir trägt. Alle, die zu ihm wegen Rechtsstreitigkeiten kommen, gehen versöhnt wieder fort. Es ist die beste Gerichtsstätte bei Göttern und Menschen. So heißt es hier: Glitnir heißt ein Saal, er wird von Gold gestützt, / und ebenso ist er mit Silber gedeckt, und Forseti wohnt / dort die meiste Zeit und schlichtet allen Streit“). Liberman 2004, S. 20. https://doi.org/10.1515/9783110789140-005
4.1 Fosetesland – Ódáinsakr – Glæsisvellir
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erwogen worden, wobei wiederum die schiere Namensähnlichkeit (einschließlich ihrer lautgeschichtlichen Unstimmigkeiten) als sehr unsicherer Ausgangspunkt gilt. Schließlich ist von einem Sohn des Balder gerade in der dänischen Tradition nirgends die Rede, dennoch aber möchte Jacob Grimm an dieser Verbindung festhalten: [E]s wäre seltsam, dasz der friesische Fosite den Nordländern unbekannt gewesen, und noch seltsamer, dasz der eddische Forseti ein davon ganz verschiedner gott sein sollte. freilich hätte man bei Saxo gramm. eine erwähnung gerade dieser gottheit erwartet, der ihrer völlig geschweigt; allein er gedenkt mancher anderer nicht, und in seinen tagen mag Fosites name unter den Friesen verklungen gewesen sein.³
Vielleicht aber könnte ein anderer Anhaltspunkt oder Ausgangspunkt für diese Verbindung in Erwägung gezogen werden, der gerade in diesem Zusammenhang kaum Beachtung erhält. Dem friesischen Gott wird eine Insel zugeschrieben, Fos(i)tesland, die nach den Quellen zwischen Dänemark, Friesland und Sachsen gelegen haben könnte.⁴ Eine Art ‚heiligeʻ Insel sei sie gewesen, von seinen Bewohnern in höchster Verehrung gehalten.⁵ Die genaue Lage des Eilands ist indes bisher kaum genauer festzumachen. In der Vergangenheit sind die unterschiedlichsten Kandidaten vorgeschlagen worden. Als Favorit galt insbesondere Helgoland, seit Adam von Bremen im 11. Jh. Fosetesland mit der Insel ,Heiliglandʻ, dem heutigen Helgoland, gleichsetzte. Auch der norwegische Ortsnamen Forsetlund ist, durchaus ebenso unsicher, mit Götternamen wie Götterinsel in Verbindung gebracht worden. Aber für eine weitere Analyse ist die sichere geographische Verortung dieser Insel nicht einmal von Bedeutung, es liegt in der Eigenart der Sache, dass dies ohnehin kaum einmal gelingt, ja nachgerade nicht gelingen soll. Nicht nur ein Heiligtum, das dem Gott auf dieser Insel
Grimm 1844 I, S. 212. Siehe Siebs 1909, S. 535: „Der name des gottes Fos(e)te, Fos(i)te ist uns gut bezeugt: er wird in Alkuins Vita Sancti Willibrordi, in Altfrids Vita Sancti Liudgeri und in der Hamburgischen kirchengeschichte des Adam von Bremen genannt; als seine cultstätte wird in allen drei quellen das Fos(e)tesland, Fos(i)tesland angegeben.“ Spätere Erwähnungen beruhten auf diesen Quellen. Siehe Alkuins Vita Sancti Willibrordi: Et dum pius verbi Dei praedicator iter agebat, pervenit in confinio Fresonum et Danorum ad quandam insulam, quae a quodam deo suo Fosite (Fositae, Fosite) ab accolis terrae Fositesland appellabatur, quia in ea ejusdem dei fana fuere constructa. („Und auf dieser reise kam der fromme prediger des wortes gottes an der grenze der Friesen und Dänen zu einer insel, die von den bewohnern nach einem gotte Fosite, den sie verehren, Fositesland genannt wurde, weil hier heiligtümer dieses gottes errichtet waren“ [Übers. Siebs 1909, S. 535 f.]). (Siehe Levison [Hg.] 1920, S. 124 f.). Qui locus a paganis in tanta veneratione habebatur, ut nihil in ea vel animalium ibi pascentium vel aliarum quarumlibet rerum quisquam gentilium tangere audebat, nec etiam a fonte, qui ibi ebulliebat, aquam haurire nisi tacens praesumebat („Dieser ort wurde von den heiden so heilig gehalten, dass niemand irgend etwas von dem vieh, das dort weidete, oder von sonstigen dingen da zu berühren wagte oder anders als schweigend aus der quelle, die dort sprudelte, wasser zu schöpfen sich gestattete“ [Übers. Siebs 1909, S. 535 f.]). Willibrord selbst wird durch einen Sturm auf die Insel verschlagen und dort festgehalten, er lässt sich weder von diesen Tabus noch von König Radbods Todesdrohungen abhalten, er schlachtet das unantastbare Vieh und tauft drei Menschen aus nämlicher Quelle.
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zugeschrieben wurde, war mit zahlreichen sakralen Unverletzlichkeitsbeschränkungen belegt, die ganze Insel scheint irgendwie abgerückt, schwer zugänglich, verborgen, „von sehr schroffen Klippen eingeschlossen“, „nur durch einen einzigen Zugang ist sie erreichbar.“⁶ Ein auffallender Aspekt, er gehört zu den wichtigsten Stereotypen in den Beschreibungen von so genannten Jenseitsinseln, ,Inseln der Seligenʻ u. ä. Dazu gehört ebenso die Betonung der außergewöhnlichen Fruchtbarkeit, mit der diese Inseln gesegnet seien und so auch Fosetesland: „Die insel ist nämlich sehr fruchtbar an getreide, sehr reich an vögeln und hat auch vieh.“ So spricht einiges dafür, dass es nicht zuletzt dieser Denkrahmen war, der Forseti zu einer Ansippung an Balders Familie verholfen hat,⁷ als Bewohner und Herrscher über eine Art Jenseitsinsel, einer ganz besonderen, paradiesischen Anderwelt, die sich auffallend von den übrigen nordischen Jenseitskonzepten wie Hel oder Walhall unterscheidet. Dieses ,andereʻ Jenseits erscheint im Norden unter den Namen Ódáinsakr (meist mit „Unsterblichkeitsfeld“, genauer aber wohl mit „gefilde des unverstorbenen“ übersetzt⁸) und Glæsisvellir („Glanzgefilde“).⁹ Beide Begriffe scheinen austauschbar, ergänzen sich oder die eine Örtlichkeit wird inmitten der anderen (oder in unmittel-
Siehe Altfrids Vita Liudgeri (Pertz [Hg.] 1829), S. 410: [C]onsilio ab imperatore accepto, transfretavit in confinio Fresonum atque Danorum ad quandam insulam, quae a nomine Dei sui falsi Fosete Fosetesland est appellata. Cui cum navigando appropinquasset, tenens in manu sua crucem, et ad Dominum preces cum laudibus fundens, viderunt, qui in ea navi erant, caliginem tenebrosam de eadem insula egredientem, qua recedente magna in ea serenitas perstitit. („Nachdem er sich beim kaiser rat und weisung geholt hatte, fuhr er im grenzgebiet der Friesen und Dänen nach einer insel über, die – nach dem namen ihres falschen gottes Fosete – Fosetesland hiess. Und als er zu schiffe nahe herankam, das kreuz in händen, zum herrn betend und ihn lobpreisend, da sahen die leute im schiffe eine dichte dunkle nebelwölke von der insel wegziehen, und heiterer himmel breitete sich über ihr aus“ (Übers. Siebs 1909, S. 537). Siehe Adam von Bremens Descriptio Insularum Aquilonis: Sermo est, piratas, si quando praedam inde vel minimam tulerint aut mox perisse naufragio aut occisos ab aliquo, nullum domum redisse indempnem. Quapropter solent heremitis ibi viventibus decimas praedarum offerre cum magna devotione. Est enim haec insula feracissinia frugtim, ditissima volucrum et pecudum nutrix; collem habet unicum, arborem nullam; scopulis includitur asperrimis, nullo aditu preter unum, ubi et aqua dulcis, locus venerabilis omnibus nautis, praecipue vero pyratis. („Es geht die rede, dass die seeräuber, die von je auch nur die geringste beute weggeholt hätten, entweder bald darauf durch schiffbruch umgekommen oder von irgend jemand im kampf erschlagen seien; keiner sei je ungestraft nach hause zurückgekehrt. Deshalb pflegen sie den dort lebenden eremiten mit großer ehrfurcht den zehnten von ihrer beute darzubringen. Die insel ist nämlich sehr fruchtbar an getreide, sehr reich an vögeln und hat auch vieh; sie hat nur eine einzige erhebung, hat keinen baum, ist von sehr schroffen klippen eingeschlossen; nur durch einen einzigen zugang ist sie erreichbar [kurs. d. Verf.], und da ist auch süßes wasser; die stätte steht bei allen seefahrern, besonders aber bei den seeräubern in verehrung“ (Text u. Übers. Siebs 1909, S. 538 f.). (Siehe Schmeidler [Hg.] 1917, S. 231 f.). Zur Frage der umstrittenen Etymologie seines Namens und möglichen Verbindungen zu Nannas Namen siehe Kap. 11.5.3. So etwa Much 1924, S. 99. Vgl. ausführlich dazu Heizmann 1998a; Egeler 2015a.
4.1 Fosetesland – Ódáinsakr – Glæsisvellir
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barer Nachbarschaft) vermutet.¹⁰ So berichtet eine der wichtigsten Quellen, die Hervarar saga ok Heiðreks (ca. 1300), Kap. 1, in einer Art mythischen Prolegomenon vom Erzahnen Guðmundr, Herrscher über Jǫtunheimar, der auf seinem Hof Grund in den Glæsisvellir lebe. Krankheit und Alter fielen von jedem Menschen ab, der dorthin gelange, und niemand könne dort sterben (freilich, um im gleichen Atemzug vom Tod des Guðmundr zu berichten, wenn auch nach einem außergewöhnlich langen, mehrere Menschenalter dauernden Leben). Und auch von einem Sohn wird berichtet, Hǫfunðr, ein kluger Richter, dessen Urteile niemals angezweifelt oder missachtet werden müssten.¹¹ Schon Rudolf Much möchte hier „an eine mit Balder-Frey nächst verwante gestalt“¹² denken, auch und gerade weil „von späteren gliedern derselben geschlechtsreihe wider etwas dem Baldermythus ganz ähnliches erzählt wird.“¹³ In Fosetesland sei entsprechend eine Toteninsel zu vermuten, die, mit „erweiterung der geographischen kenntnisse“, in immer weitere Ferne gerückt sei, in Foste aber ein Totenrichter.¹⁴ Tatsächlich erwähnt eine späte, folkloristische Überlieferung (18. Jh.) die Verehrung eines Holzidols mit Namen ‚hölzerner Gudmundʻ in der Region Tele-
Siehe aber Lummer 2017, S. 84, der vor einer allzu unbedenklichen Gleichsetzung dieser beiden Ortsnamen warnt: „[T]his idea originates in the opening account of Hervarar saga ok Heiðreks, which is the only Old Norse narrative to state that Ódáinsakr is an integral part of Glasisvellir. All other sources that mention Ódáinsakr suggest it is somewhere else […].“ Suo finst ritad i fornum bokum, ad Jotunheimar voru kalladir nordur vmm Gandvik, enn fyrir sunnann Ymisland. Enn adur Tyrkiar og Asiamenn komu a Nordurlond bygdu norduralfurnar risar og sumt halfrisar; giordist þa mikid sambland þiodanna; risar feingu sier kuenna vr Mannheimum, enn sumir gifftu þangad dætur sinar. Gudmundur hiet hofdingi i Jotunheimum, bær hans hiet a Grund enn hieradid Glæsiswellir. Hann var rikur madur og witur, og vard suo gamall og allir hans menn, ad þeir lifdu marga mannzalldra. Þui trudu heidnir menn, ad i hans riki mundi Odaens akur, sa stadur, er aff huorium manni, er þar kiemur, huerfur sott og elli, og ma eingi deya. [Eptter dauda Godmundar blotudu menn hann og kolludu hann god sitt]. Gudmundur kongur atti son þann, er Haufondur hiet; hann var bædi forspar og spakur, wakur ad viti; hann var settur domandi yfer aull þau lond, er honum lau i nand; hann dæmdi alldrei rangann dom; einginn þordi eda þurfti hans dom ad riufa (Jón Helgason [Hg.] 1924, S. 89). („So findet es sich in alten Büchern geschrieben, dass [die Gegenden] nördlich von Gandvík Jǫtunheimar hießen, und südlich [davon lag] Ymisland. Und bevor die Türken und die Leute aus Asien ins Nordland kamen, bewohnten Riesen den nördlichen Weltteil, und ein Teil war Halbriesen. Da kam es zu einer großen Völkervermischung: Die Riesen nahmen sich Frauen aus dem Land der Menschen, und einige gaben ihre Töchter dorthin. Guðmundr hieß ein Häuptling in Jǫtunheimar, sein Hof hieß Grund, im Bezirk Glæsisvellir. Er war ein reicher und weiser Mann, und er und alle seine Männer wurden so alt, dass sie viele Menschenalter lang lebten. Daher glaubten die Heiden, dass in seinem Reich der Ódáinsakr wäre, der Platz, wo von jedem Menschen, der dorthin kommt, Krankheit und Alter abfällt, und niemand sterben kann. Nach Guðmunds Tod opferten ihm die Menschen und nannten ihn ihren Gott. König Guðmundr hatte einen Sohn, der Hǫfunðr hieß; er war sowohl zukunftskundig als auch klug, von schneller Auffassungsgabe. Er war als Richter über all die Länder gesetzt, die in seiner Nähe lagen; er fällte nie ein ungerechtes Urteil; niemand wagte oder war dazu gezwungen, sein Urteil zu missachten“ (Übers. Egeler 2015a, S. 35). Much 1924, S. 99. Much 1924, S. 99. Vgl. Much 1924, S. 100.
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mark, die indes als sehr unsicher gewertet wird, zu spät, zu vereinzelt, nicht einmal die Identität scheint klar.¹⁵ Auch Saxo Grammaticus erwähnt in seinem 4. Buch einen Ort Undensakre, ¹⁶ dazu fügt der dänische Historiker Stephan Johannes Stephanius (1599‒1650) einige Details hinzu, es handle sich um einen Ort, „wo die Gerechten und Friedfertigen ohne Mühe, ohne Furcht und Verdruß, ja sogar ohne Tod [verweilten]“, dieser befinde sich indes an der Grenze Norwegens,¹⁷ und er erwähnt dort einen weiteren andersweltlichen Ort, neben Vdaenßakur, „id est, Ager immortalium, aut, Vitalis ager“, das „überaus berühmte“ Glæßewoll, „id est, splendidos campos“.¹⁸ Weiter weiß Saxo zu berichten, Guðmundr habe (neben 12 vorzüglichen Söhnen) 12 schöne, verführerische Töchter besessen. Wer sich freilich mit diesen einlässt, verfällt augenblicklich dem Wahnsinn, vergisst sein früheres Leben und muss dort bleiben. Dieses Motiv ist auf der narrativen Ebene gleichgeschaltet mit dem herrlich fruchtbaren Obstgarten, den Guðmundr sein Eigen nennt, wer von dessen kaum minder verführerischen Früchten (Äpfeln) isst, kann ebenso diese Welt nicht mehr verlassen. Auch hier erkennen wir sehr übliche Jenseitsstereotype, Saxo waren sie wohl mit einiger Sicherheit bekannt aus dem antiken Schrifttum, aber sie sind keineswegs auf den griechischen oder römischen Mythos beschränkt. Weltweit finden sich etwa diese auf dem Prinzip des magischen Contagions gegründeten Vorstellungen einer Anähnelung, einer Assimilation: Letztendlich ist es der unmittelbare körperhafte Kontakt, das buchstäbliche sich Einverleiben von Elementen des Anderen, das einen unwiderruflich zu einem Teil davon macht. Die rigorose Weigerung von Saxos Helden Thorkillus und seinen Männern bei ihrer Expedition zum Anderweltwesen Utgarthilocus (und auch die Ausnahmen) zeigt das gewusste Wissen um die unerbittlichen Konsequenzen dieser Örtlichkeit: Ein allzu enger Kontakt und damit nicht nur Identifizierung, sondern nachgerade Infizierung mit jener Gegenwelt wird zu einer Reise ohne Wiederkehr. Auch hier wird diese Welt nicht anders verstanden als eine Totenwelt. Mögliche Zusammenhänge werden sehr zurückhaltend bewertet, zumal auch dem gleichnamigen isländischen Bischof des 13. Jhs. große Verehrung entgegengebracht worden sei (wenngleich er nicht heiliggesprochen wurde). Egeler sieht „objektive Maßstäbe“ nicht gegeben, die eine Entscheidung darüber erlaubten, ob es sich um katholische Heiligenverehrung oder heidnisches Relikt handle (vgl. Egeler 2015a, S. 112), auch wenn er dem folkloristischen Quellenmaterial eine gewisse Suggestivität einräumt. Objektive Maßstäbe werden wir in einem solchen Fall wohl ohnehin vergeblich einfordern, bestenfalls Wahrscheinlichkeiten. Die Verehrung des Holzgötzen macht nicht den Eindruck katholischer Heiligenverehrung: Heiligenstatuen und Heiligenbilder werden gewöhnlich nicht mit Hinweis auf ihre Materialität benannt (‚hölzerner Gudmundʻ) – wenn doch, dann führen sie ihrerseits heidnische Traditionen fort (vgl. Kroll 1963). Ebenso werden katholischen Heiligenbildern keine Speiseund Trankopfer dargebracht. Fiallerum Scaniae praefectum exsilio adegit, quem ad locum, cui Undensakre nomen est, nostris ignotum populis concessisse est fama („Fiallerus, den Statthalter von Schonen, trieb er ins Elend; der soll gewichen sein an einen Ort, der Undensakre heisst, den Leuten hier zu Lande unbekannt“ [Gest.Dan. 4.2]). Vgl. Heizmann 1998a, S. 77. Stephanius 1645, S. 104.
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Auffallenderweise erscheinen aber diese spezifischen Anderwelten – wenn auch der so genannte Volksmund darüber gut informiert zu sein scheint¹⁹ – in der Skaldendichtung wie eddischen mythologischen Dichtung nicht: Für keinen dieser beiden Orte (und ebenso wenig für die Figur des Guðmundr) finden sich Belege in der eddischen Literatur oder der Skaldendichtung; gerade die Textgenres, die traditionell als die verlässlichsten Quellen für die nordische Mythologie gelten, hüllen sich zum Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex in Schweigen.²⁰
Siehe ähnlich Heizmann: Neben jenen Mythischen Stätten und Jenseitsorten […], deren Kenntnis in erster Linie den Überlieferungen der Lieder-Edda […], der Snorra-Edda […] und der Skaldischen Dichtung verdankt wird, finden sich in den awnord. Qu[ellen] Hinweise auf weitere, eher als ,volkstümlichʻ zu klassifizierende Vorstellungen. ,Volkstümlichʻ in dem Sinn, daß sie ihren Niederschlag weniger oder gar nicht in den genannten spekulativen mythol[ogischen] Texten relig[iöser] Eliten gefunden haben, sondern in populären Gattungen wie den Vorzeitsagas und verwandten Texten.²¹
Andererseits finden sich diese Vorstellungen keineswegs nur als verstreute literarische, narrative Elemente, sondern gerade auch als religiöse Ideen, die sich nachhaltig im kulturellen Gedächtnis niedergeschlagen haben. Ja, so einflussreich und bedeutsam waren diese, dass sie noch zur spätpaganen, isländischen Landnahmezeit des 9./ 10. Jhs. tödliche Konflikte heraufbeschwören konnten. Das heißt, das religiöse Wissensmodell Ódáinsakr/Glæsisvellir bestimmte nicht nur volkstümliches, populäres religiöses Denken, sondern gerade auch religiöses Handeln bis zur äußersten, tödlichen Konsequenz. So berichtet die Landnámabók von einer schweren kriegerischen Auseinandersetzung in der 17 Menschen das Leben lassen mussten. Streitpunkt war, kaum erklärlich, ein kleines, vordergründig unscheinbares Stück Land, noch dazu schwer zugänglich, die so genannten Hvanndalir. Jahrhunderte später wird eben dieses Gebiet vom dänischen Historiker Thomas Bartholin (1659 – 1690) als Vdaensakr (Ódáinsakur) bezeichnet werden und damit verbindet er offenbar gut etabliertes religiöses Wissen: Viele Anwohner seien von dem eitlen Glauben erfüllt (de qvo ea vana opinione imbuti fuerunt multi accolarum),²² so berichtet er, dass niemand dort sterben könne, auch wenn er von einer schweren Krankheit befallen werde. Obwohl einst reich besiedelt,
Die altnordischen Quellen liefern Informationen darüber an unterschiedlichen Stellen, was gerade auf die Verbreitung und den Bekanntheitsgrad dieser Ideen schließen lässt, z. B. Hervarar saga 1; Þórsteins þáttr bæjarmagns 5, 11, 12; Helga þáttr Þórissonar 1– 3; Samons saga 22; Bosa saga 22; Bosa saga 7, 8, 10, 14, 16 (vgl. Lex.Simek 2006, „Glæsisvellir“, S. 140; Lex.Simek 2006, „Guðmundr“, S. 156). Egeler 2015a, S. 19. Entsprechend ist späte Einflussnahme aus der christlichen, biblischen Paradiesrhetorik vermutet worden (vgl. Lex.Simek 2006, „Glæsisvellir“, S. 140; Lex.Simek 2006, „Guðmundr“, S. 156). Heizmann 2002c, S. 527. Bartholin 1689, S. 587, zit. n. Heizmann 1998a, S. 74; Heizmann 1998a, S. 99.
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hätten die Bewohner gerade aus diesem Grund diesen Ort wieder verlassen.²³ Im 18. Jh. untersucht der isländische Gelehrte Olaus Olavius den Odáinsager erneut, er sei ihm sehr gerühmt worden, seine Popularität scheint also in der isländischen Bevölkerung ungebrochen, dort wüchsen Kräuter, die „dem Tod selbst fürchterlich wären“.²⁴ Freilich sind auch seine botanischen Ergebnisse eher enttäuschend, jedenfalls macht er nicht die erhofften Funde, die diesen Ort vor allen anderen und nachhaltig über die Jahrhunderte als Ort der Unsterblichkeit ausweisen könnten. Lediglich die konkret erkennbare Abgeschiedenheit oder Unzugänglichkeit des Ortes, das ,Inselhafteʻ scheint genügt zu haben, um einen Ort mit dieser Bedeutsamkeit zu belegen und den dazu entsprechenden Wissensrahmen zu öffnen. Wie so häufig in mythischen, paganen Jenseitskonzepten wird auch hier, fern jeglicher (paganen Vorstellungen ohnehin fremden) Transzendenz, eine konkrete Anbindung dieser Anderwelt an eine reale Topographie gesucht und vermutet. Aber dazu gehörte auch eine Vorstellung des ,Glänzendenʻ, ,Gläsernenʻ, und zwar so selbstredend, dass sich diese in nichts konkretisieren musste. Glanz, Helligkeit, Weißheit wurde diesen Örtlichkeiten unterstellt, erwartet oder vorausgesetzt, einer Realprobe konnten diese Eigenschaften naturgemäß freilich noch bei weitem weniger standhalten als vorgeblich außergewöhnlich gediehenes Vieh, die reichen Wiesen, die „Fettigkeit der Milch“.²⁵ Und dennoch war es verstehensrelevantes Wissen, selbstredendes Wissen, das, was eben ,jederʻ wusste über ,solcheʻ Orte. Man wird also von einem gut ausgearbeiteten Interpretations- oder Herstellungsrepertoire von symbolischem Wissen ausgehen können, was bei der Beurteilung dieses Wissensapparats Konsequenzen in mehrerer Hinsicht hat: Selbst wenn sich dieses Wissen ganz augenscheinlich nicht im gelehrten, religiös mythologischen Schrifttum nordischer Eliten niedergeschlagen hat, kann aus diesem Umstand nicht unbedingt geschlossen werden, dass es sich um
Vgl. Bartholin 1689, S. 587, zit. n. Heizmann 1998a, S. 74. Die Unsterblichkeit der Bewohner des Ódáinsakr war also ausdrücklich an diesen Ort gebunden und konnte im (für das mythische Denken typischen) Durchspielen von Alternativen sogar zum Fluch werden ‒ ein nicht unbedingt spezifisch nordisches Plausibilisierungsbedürfnis, aber gewiss ein ,volkstümlichʻ menschliches. Es ist die, wenn man so will, die common sense-Bearbeitung des zunächst kognitiv nicht fassbaren religiösen Konzepts der Unsterblichkeit, des ewigen Weiterlebens. Egeler verweist in diesem Zusammenhang auf den griechischen Mythos des Tithonos (vgl. Egeler 2015a, S. 500), den sterblichen Geliebten der Eos. Die Göttin bittet Zeus um dessen Unsterblichkeit. Dieser Wunsch wird erfüllt, aber er erweist sich auch hier als Fluch, denn Eos vergisst, gleichzeitig um die Gabe der ewigen Jugend zu bitten. Tithonos bleibt wohl am Leben, aber als zusammengeschrumpfter, hinfälliger Greis, der, in einer Kammer eingesperrt, dahinvegetiert (vgl. Meyer 1979, Sp. 869). Auch dazu finden sich im Norden Parallelen, etwa in der bizarren Gestalt des Königs Aun, der nach der Beschreibung der Ynglinga saga (Kap. 25) wohl sein Leben zu verlängern vermag, indem er der Reihe nach seine Söhne opfern lässt, aber gerade nicht seine Jugend. Er verfällt zusehends, er muss vor Schwäche herumgetragen werden, schließlich, bettlägerig geworden, muss er mit einem Milchhorn gefüttert werden wie ein Baby. Olafur Olafsson 1787, S. 193, zit. n. Heizmann 1998a, S. 75. In einem Reisebericht aus dem 18. Jh. werden die „schöne[n] grasreiche[n] Wiesen“ gerühmt und man erzähle sich „verschiedene Fabeln von der übermäßigen Fettigkeit der Milch daselbst“ (Heizmann 1998a, S. 75, Anm. 6).
4.1 Fosetesland – Ódáinsakr – Glæsisvellir
177
ein „spätes randständiges Phänomen“²⁶ handeln müsse. Wissen ist nicht nur Expertenwissen, es geht auch nicht nur um das „gesagte und aufgeschriebene Wissen“, vielmehr „um den ganzen Wissens-Apparat darum herum“.²⁷ Wissen nur auf das gelehrte Schrifttum zu reduzieren, würde den Kulturbegriff auf unzulässige Weise eingrenzen. Der Kampf der isländischen Bauern um die Hvanndalir ist eine ,kulturelle Tatsacheʻ,²⁸ auch wenn diese im jeweiligen Deutungssystem mit Deutungsmonopol nicht derart erscheint. Dennoch möchte Egeler in jener spezifischen Kombination von Motiven keine autochthonen (nord)germanischen Jenseitsvorstellungen annehmen, er sieht darin vielmehr Entlehnungen, Elemente, die letztendlich keltischen Ursprungs seien und von dort ihren Weg in nordische religiöse Vorstellungen gefunden hätten: Der nordische Motivkomplex, für den hier die Hypothese einer keltischen Herkunft untersucht wird, zeigt in Hinblick auf folgende Leitmotive Parallelen zum keltischen Vergleichsmaterial: (1) die Lokalisierung der jeweiligen Anderweltsorte jenseits einer Wasserbarriere – insbesondere, aber nicht notwendigerweise auf einer Insel im engeren Sinne – und ihre Assoziation mit (2) Unsterblichkeit, (3) anderweltlichen Frauengestalten, (4) Sexualität, (5) Licht/Glanz/Kristall und (6) Gärten.²⁹
Da diese spezifische Konstellation in anderen Jenseitskontexten fehle, stelle dies einen starken Hinweis darauf dar, „dass die nordisch-keltischen Übereinstimmungen typologisch selten und aufgrund dieser Seltenheit vermutlich signifikant sind.“³⁰ Gemeinsames vorgeschichtliches Erbe möchte er dabei ausdrücklich ausschließen, also etwa „[i]ndogermanische Deutungen des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes“, wie in der Vergangenheit verschiedentlich vorgeschlagen wurde. Dazu gehöre auch Bruce Lincolns Deutung des Ódáinsakr als „‚authentische[r] germanische[r] Reflex‘ indogermanischer Paradiesvorstellungen“.³¹ Und gewichtigstes Argument gegen diese Auffassung sei gerade, dass sich der Motivkomplex Glæsisvellir/Ódáinsakr innerhalb der literarischen Tradition als spätes Phänomen darstelle: Das wesentlichste Argument für diese Auffassung ist das vollständige Fehlen jeglicher Anspielungen auf den Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex in den Hauptquellen für die Mythologie des vorchristlichen Nordens: der Skaldendichtung, der eddischen Dichtung und Snorris Prosa-Edda.
So Egeler 2015a, S. 502. Vgl. den entsprechend weitgefassten diskurstheoretischen Wissensbegriff: „Hier geht es also nicht nur um das gesagte und aufgeschriebene Wissen (Episteme), sondern auch um den ganzen WissensApparat darum herum, durch den etwas durchgesetzt wird. Episteme sind danach nicht nur der diskursive Anteil im Wissenschaftsapparat, sondern Wissen ‚haust‘ auch im Handeln von Menschen und in den Gegenständen, die sie auf der Grundlage von Wissen produzieren“ (Jäger 2001, S. 90). Vgl. etwa Konersmann 2006, S. 13 – 69. Egeler 2015a, S. 495. Siehe Heizmann 1998a, S. 95: „Inseln, Glas bzw. Bernstein, Äpfel, Frauengestalten, Unsterblichkeit“. Egeler 2015a, S. 496 f. Egeler 2015a, S. 502.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Das völlige Schweigen dieser Quellen legt nahe, dass der Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex zumindest nicht zum Kernbestand der spätheidnischen Mythologie Nordeuropas gezählt haben dürfte […].³²
Entsprechend unwahrscheinlich sei „die Annahme eines großen Alters für den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex“ ebenso wie „eine Interpretation der Parallelen zwischen dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex und dem keltischen Vergleichsmaterial als gemeinsames indogermanisches (o. ä.) Erbe“.³³ Die Ursprünge lägen damit ausschließlich in Kulturkontakten wie literarischen Beziehungen „während der Wikingerzeit und der isländischen Landnahmezeit“.³⁴ Nun sollen Möglichkeiten der (frühen) Einflussnahme und Kulturkontakte des keltischen Kulturkreises hier gar nicht ausgeschlossen werden, sie sind gewiss mehr als wahrscheinlich, aber die Ausschließlichkeit, die Egeler einfordert, werden wir kaum unterstützen können.³⁵ Nicht nur spricht einiges dafür, dass diese Wissensmodelle tatsächlich wesentlich weiter zurückverfolgt werden können bis hinein in die indoeuropäische und mesopotamische religiöse Gedankenwelt, auch muss die Einschätzung des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes als späte Entwicklung, als „spätes und randständiges Phänomen“³⁶ innerhalb der nordischen mythischen Literatur unbedingt noch einmal überdacht werden. Das späte Erscheinen und damit die scheinbare Randständigkeit könnten sich etwa lediglich auf die Bezeichnung, die Benennung eines bereits existenten, autochthonen Anderweltkonzeptes beziehen. Schließlich scheint gerade die Vehemenz und Radikalität, mit der hier religiöse Überzeugungen versucht wurden durchzusetzen, auf fest verwurzelte, existenzielle Glaubensvorstellungen hinzudeuten. Ob kürzlich erlerntes, wenn auch populäres, aber grundsätzlich fremdes, literarisches Gedankengut diesen Einsatz von Leib und Egeler 2015a, S. 502. Egeler 2015a, S. 502. Egeler 2015a, S. 502. Diese Ausschließlichkeit scheint Egeler in einer späteren Arbeit (vgl. Egeler 2017, S. 2 f.) zumindest insofern relativieren zu wollen, als dass er für das keltische Material seinen Radius erweitert und Übertragungen, Entlehnungen oder Adaptionen aus dem griechischen (und in der Folge lateinischen) Kulturbereich diskutiert, das Motiv Ódáinsakr/Glæsisvellir also immerhin „from Scandinavia via Ireland to Roman and Greek Antiquity“ (Egeler 2017, S. 2) zurückverfolgt werden könne. Auffallend bleibt dabei sein Versuch einer strikten Trennung zum mesopotamischen und ägyptischen Material. Auch ältere indoeuropäische Traditionen bleiben nach wie vor unberücksichtigt. Sein eigener dezidierter Forschungsansatz, „[to] present a multifocal history of the processes of reception, adaptation, and transformation of mythological narratives“ (Egeler 2017, S. 2) der nordischen Jenseitskonzepte Ódáinsakr/Glæsisvellir, Vínland, Hvítramannaland, erfährt dadurch allerdings eine kaum vertretbare Einschränkung. Was bleibt von der in Aussicht gestellten Multifokalität (vgl. Egeler 2017, S. 3), wenn wichtige religionsgeschichtliche Überlieferungsprozesse jenseits oder vor diesem spezifisch antiken, keltisch germanischen Überlieferungsstrang strikt abgewiesen bzw. ignoriert werden? Gewiss kann es hier wie woanders nicht um die zweifelsohne sinnlose Suche nach Ursprung und Eigentlichkeit religiöser Symbolik gehen, wohl aber um das Zulassen der ganzen Bandbreite der Entwicklungsmöglichkeiten eines Motivkomplexes. Egeler 2015a, S. 502.
4.2 Glastonbury – Avalon
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Leben hätte bewirken können? Egeler verweist ausdrücklich darauf, dass sich für die blutige Auseinandersetzung der Isländer kein einziges irisches Pendant finden lasse, „[t]his development has no precedent in Ireland“, erklärt dies aber damit, „that, by the time the Ódáinsakr had become associated with the Icelandic landscape, it had become an Icelandic concept in its own right which was handled in a way very different from the literary usage of the Land of Women in Ireland.“³⁷ Es gleicht darin den exklusiven Nutzungsbedingungen eines anderen, isländischen Ortes der Toten, Helgafell (Landnámabók 32, 1). Um den Familiengrabhügel des Landnehmers Þórólfr Mostrarskegg wurde in der Tat auf kaum weniger erbitterte, blutige Weise gerungen.³⁸ Auch hier ergaben sich diese Streitigkeiten nicht spontan, unmotiviert, sondern ganz offensichtlich aufgrund gut ausgearbeiteter, ‚selbstredender‘ Wissensrahmen von ‚solchenʻ Orten: The mythification of the real-world site – or to put it the other way around, the localization of the otherworldly realm – is undertaken in a simple, matter-of-fact way. […] [T]he spontaneity with which these episodes localize the myth of a mountain of the happy dead on the Þórsnes peninsula parallels the case of the Ódáinsakr and of its localization on the Tröllaskagi peninsula strikingly closely. Both cases are treated as if there was nothing more natural in the world than to find an otherworldly land in one’s own back garden.³⁹
Freilich scheint hier weniger die ‚Natürlichkeitʻ, die Selbstverständlichkeit, mit der diese Semantisierungen vorgenommen werden, beachtlich und damit deutungspflichtig (ohnehin lag für lange Zeit das Außersystemische, das Jenseits mehr oder weniger ,gleich um die Ecke‘), vielmehr die auffallende Stereotypie des Symbolinventars, mit dem eine Konzeptualisierung, Klassifizierung wie Identifizierung von Anderwelten, Totenwelten vorgenommen wird. Diese Vorstellungen hatten die Neusiedler bereits aus ihrer alten Heimat mitgebracht, das schließt spätere Anschlussmöglichkeiten an das Konzept der keltischen ‚Inseln des Westensʻ nicht aus, aber die Voraussetzung für eine lediglich eng begrenzte, lokale wie zeitliche Entlehnungssituation ist damit nicht mehr gegeben.
4.2 Glastonbury – Avalon Nun gibt es in der Tat in den keltischen Traditionen eine tiefe und nachhaltige „Verbindung von Glas und Jenseitswelt“⁴⁰ ‒ ,gläserneʻ Jenseitswelten, die zunächst einmal dem Reich Guðmunds in Einzelmotiven wie in ganzen Mythenkomplexen ähneln, die Abwesenheit von Alter, Krankheit und Tod, überirdisch schönen, verführerischen auch heilkräftigen Frauen, ein Obstgarten mit sagenhaften Früchten, oft, aber nicht
Egeler 2017, S. 270. Siehe Egeler 2017, S. 305 f. Egeler 2017, S. 306 – 308. Heizmann 1998a, S. 92.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
immer expressis verbis Äpfel, aber ganz im Gegensatz dazu heißen viele dieser Inseln nicht nur ,Glasinselnʻ (lat. insula vitrea, kelt. inis gutrin/ynys wydrin, afr. Isle de Voirre), es sind auch gläserne Welten. Wir begegnen ganzen Inseln aus Glas, Glasbergen, einem gläsernen Meer, unterschiedlichen Gegenständen aus Glas,⁴¹ es gibt gläserne Boote, Bäume mit gläsernen, silbernen Blättern, Kristallsäulen, wie überhaupt die Szenerien von „überwältigende[m] leuchtende[m] Glanz“ bestimmt werden.⁴² Das Benennungsmotiv von Guðmunds Reich macht sich indes so wenig wie in den daran angeschlossenen, vorgeblichen Realtopographien auf irgendeine Weise erklärlich: „Die Glæsisvellir sind ‚glänzende Gefildeʻ nur, weil sie ‚glänzende Gefildeʻ heißen; in keiner der verschiedenen Glæsisvellir-Sagas spielen Elemente wie ‚Lichtʻ, ‚Glanzʻ oder ‚Kristallʻ eine Rolle für die Handlung der jeweiligen Geschichten.“⁴³ Aber auch im wohl berühmtesten keltischen ,Paradiesʻ, Ynys Afallach, besser bekannt unter seinem latinisierten Namen Avalon, das keltische ,Elysiumʻ, die legendäre letzte Ruhestätte oder (durchaus unentschieden) Rückzugsort des sagenhaften Königs Arthurs, findet sich keine Spur von diesem Anderwelt-Charakteristikum. Dennoch wird es (zumindest seit dem 12. Jh.) ausdrücklich als ‚Glasinselʻ, als urbs vitrea u. ä. bezeichnet. Aber noch ein weiterer Mangel macht sich in der (mythisch erzählten) Topographie (im Grunde genommen noch auffälliger) bemerkbar. Obwohl Ynys Afallach/Avalon nachgerade das Apfelmotiv bereits so augenscheinlich in seinem Namen auszuweisen scheint, taucht es als Erzählmotiv so wenig auf wie das Glanz-/Lichtmotiv – und das wiederum in auffallender Übereinstimmung zu nordischen Konzepten: In der Handlung der arthurischen Avalon-Erzählungen spielen die Äpfel Avalons, nach denen die Insel benannt sein soll, allerdings kaum eine Rolle. Die Beschreibung Avalons als insula pomorum in der Vita Merlini hat keinen Bezug zur Handlung der Geschichte: Die Bezeichnung als insula pomorum illustriert die enge Assoziation Avalons mit Äpfeln, aber wird im weiteren Verlauf der Ereignisse kein einziges Mal aufgegriffen und mag somit nicht mehr sein als eine gelehrte Übersetzung des volkssprachlichen Namens ins Lateinische. Eine Interpolation in William von Malmesburys De antiquitate Glastoniensis ecclesiae verbindet den Namen Avalons im Zuge einer „etymologischen“ Erklärung des Namens Glastonbury mit einer Sau unter einem Apfelbaum; diese Ortsnamensgeschichte ist jedoch offenkundig erst von ihrem Verfasser frei erfunden worden. Ansonsten fallen inhaltliche Bezugnahmen auf die Äpfel Avalons vornehmlich durch ihre Abwesenheit auf.⁴⁴
Vgl. Heizmann 1998a, S. 92. Egeler 2015a, S. 491. Egeler 2015a, S. 491. Egeler 2015a, S. 458. Gleichzeitig aber taucht in der irischen Literatur der Apfel sehr wohl als „handlungstragendes Element“ in den Jenseitserzählungen auf, aber zunächst überhaupt nicht in den Benennungen selbst (vgl. Egeler 2015a, S. 458). „Dieser Befund ist nicht zuletzt in Hinblick auf das eigentümliche Verhältnis interessant, das die irische und die arthurische Variante des ‚Apfelmotivsʻ zueinander zeigen: Die irische anderweltliche ‚Apfelinselʻ ist eine Apfelinsel, weil anderweltliche Äpfel mit wundersamen Eigenschaften auf ihr und beim Umgang mit ihr eine zentrale Rolle spielen. Die arthurische Apfelinsel Avalon hingegen ist eine Apfelinsel ausschließlich aufgrund der Semantik ihres Namens, der selbst noch für Geoffrey von Monmouth und die auf ihn folgende Generation von Autoren Avalon deutlich erkennbar als ‚Apfelinselʻ benannte“ (Egeler 2015a, S. 479). Eine Entlehnung des
4.2 Glastonbury – Avalon
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Der Name Avalon ist seit dem Mittelalter Gegenstand zahlreicher gelehrter Spekulationen, aber bis heute keineswegs geklärt: Zum ersten Mal erwähnt in der Historia Regum Britanniae (Kap. 178) des Geoffrey von Monmouth (1139)⁴⁵ erscheint er noch in einer gewissermaßen Entlehnungszwischenstufe als insula Avallonis,⁴⁶ später dann aber (zwischen 1148 und 1155) vom gleichen Autor bereits vollständig lateinisch etymologisiert und insbesondere entpersonalisiert als insula pomorum, die „Apfelinsel“ (Vita Merlini, V. 908).⁴⁷ Denn genau genommen handelt es sich bei diesem Ausdruck um einen personalisierten Genitiv, „Avallonis is apparently the genitive of Avallo, who is clearly a personage“,⁴⁸ so Alexander Krappe, also die Insel eines ‚Avalloʻ. Ähnlich auch Giraldus Cambrensis, der ausdrücklich „ab Avallone quodam“ vermerkt, sich also ebenso auf eine Person bezieht. Und tatsächlich ist dieser in den walisischen Genealogien des 10. Jhs. kein Unbekannter, hier erscheint er als Erzahne der walisischen Könige. Krappe verweist auf die chthonische, unterweltliche Natur dieses Avallo oder Avallach, was wiederum in gutem Einklang zur Caesarnotiz stehe, dass alle Britannier ihre Abstammung auf den Unterweltgott Dispater (< di(ve)s „reich“ als Übersetzung des griechischen Πλούτων) zurückführten.⁴⁹ Und noch einmal erscheint jener Avallo/ Avallach in der Gralslegende als Euelake (Evalac), hier als 300-Jähriger, dem seine ursprüngliche Unsterblichkeit schon zum Fluch geworden ist, über und über mit Wunden bedeckt siecht er bettlägerig dahin.⁵⁰ Also wieder jenes ‚Durchspielen von Alternativenʻ, wie es schon in der Ausgestaltung des Königs Aun der Ynglinga saga oder des Eosgeliebten Tithonos beschrieben wird. Das englische Glastonbury scheint auf besondere Weise in diesen Anderweltkomplex mit hineinverwoben, wobei trotz zahlreicher Forschungsbemühungen immer noch nicht ganz klar ist, was eigentlicher Auslöser, eigentlicher Anknüpfungspunkt gewesen sein könnte, der diese angelsächsische Siedlung aus dem 6. Jh. mit der letzten Ruhestätte des sagenhaften König Arthus und seiner Frau Gwenhyver (Guinevere) in Verbindung brachte.⁵¹ Tatsächlich glaubte man (oder konnte zumindest Namens Avalon/Ynys, Afallach aus dem Irischen sei aber allein schon aufgrund der irischen Beleglage auszuschließen (vgl. Egeler 2015a, S. 479). Reeve und Wright (Hg.) 2007. Sed et inclytus ille Arturus letaliter uulneratus est, qui illinc [de fluminde Cambula] ad sananda uulnera sua in insulam Auallonis euectus Constantino cognato suo et filio Cadoris ducis Cornubiae diadema Britanniae concessit, ab incarnatione domini dxlij. Clarke (Hg.) 1973. Krappe 1943, S. 313. Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „Dis pater“; Krappe 1943, S. 313 f. Vgl. Krappe 1943, S. 314. Giraldus Cambrensis stellt diese Verbindung selbstverständlich her: „Quæ nunc autem Glastonia dicitur, antiquitus insula Avallonia dicebatur. Est enim quasi insula tota paludibus obsita, unde dicta est Britannice Inis [Ms. emin] Avalion, id est, insula pomifera. Pomis enim, quæ aval Britannica lingua dicuntur, locus ille quondam abundabat. Unde et Morganis, nobilis matrona et partium illarum dominatrix atque patrona, necnon et Arthuro regi sanguine propinqua, post bellum de Kemelen Arthurum ad sanandum ejusdem vulnera in insulam quæ nunc Glastonia dicitur deportavit. Dicta quoque quondam Britannice Inis [Ms. eius] gutrin fuerat, hoc est, insula vitrea“ (Brewer und Dimock [Hg.]1891, S. 128).
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
vorgeben), dort die Gebeine König Arthurs und seiner Frau Guinevere gefunden zu haben. Im gleichen Atemzug wurde Glastonbury selbst als ‚Glasinselʻ (inis gutrin, d. h. insula vitrea) etymologisiert und damit zum legendären Avalon erkoren. Zweifelsohne ein „Propagandacoup“⁵² (nicht zuletzt aus politischen Überlegungen), um die Kirchenpfründe aufzubessern, die Beschaffungsumstände für neue Reliquien, hier wie woanders im Mittelalter eher fragwürdig, aber nicht recht möglich scheint es, eine Verbindung zwischen diesen Vorstellungen erst ab diesem Zeitpunkt anzunehmen. Egeler hält diese Identifikation der ‚Glasinselʻ mit der ‚Apfelinselʻ, die hier so selbstverständlich von den mittelalterlichen Autoren vorgenommen wird, für ein „rein sekundäres Motiv“, das nicht über das Jahr 1191 hinausgeht.⁵³ Aber wie hätte dieser Propagandacoup gelingen sollen? Auf irgendeine Weise musste doch bereits auf vorhandene Traditionen zurückgegriffen worden sein.⁵⁴ Siehe Heizmann: „Im keltischen Bereich waren sowohl Avalon als auch die Glas-Insel eindeutig mit der Vorstellung einer elysischen Jenseitswelt verbunden, und zwar schon geraume Zeit vor der Exhumierung der angeblichen Gebeine Arthurs in Glastonbury. […] der Komplex Avalon-Glasinsel – unabhängig von den Glastonbury-Traditionen ‒ [ist] bereits in einer weit älteren Überlieferung greifbar.“⁵⁵
Nun sind mittelalterliche Etymologisierungsversuche immer Laienetymologien, für den Ortsnamen Glastonbury wurden sie eher als zweifelhaft eingestuft, nur der vordergründige Anklang an das Konzept ,Glasʻ habe ganz offensichtlich genügt, um den Wissensrahmen dieses Begriffs zu evozieren. Freilich ist auch die Etymologisierung des mythisch legendären Ortsnamens Ablach eine mittelalterliche. Dennoch stellt auch die moderne Forschung ynys Afallach oder insula Avallonis zu altir. aball, wal. afal, bret. und corn. aval „Apfel“ und scheint damit immerhin geneigt, dieser (in nicht geringerem Maße) Volksetymologie zumindest mehr Plausibilität einzuräumen. Aber nicht einmal unsere mittelalterlichen Gewährsleute scheinen sich dieser dann doch prima facie einleuchtenden und passenden Apfel-Etymologie für ihre Wunderinsel so sicher gewesen zu sein. Immerhin existiert ja die Vorstellung von einem eponymen Namengeber Avalloc, Avallach, der über diese Region geherrscht haben soll, wenn („Was jetzt aber Glastonbury heißt, wurde in alten Tagen die Insel Avalon genannt. Es ist nämlich gleichsam eine Insel, ganz bedeckt mit Sümpfen, weshalb es auf Britannisch Inis Avallon genannt wurde, das heißt: Apfelinsel. An Äpfeln nämlich, die in der britannischen Sprache aval heißen, war jener Ort einst überreich. Weshalb auch Morganis, die eine edle Dame und die Herrin und Patronin jener Gegend und ferner auch mit Arthur durch königliches Blut verwandt war, nach der Schlacht von Camlan Arthur zur Heilung seiner Wunden auf die Insel fortbrachte, die jetzt Glastonbury genannt wird. Einst war sie auf Britannisch auch Inis gutrin genannt worden, das heißt, ‚Glasinselʻ; nach diesem Namen bezeichneten später die Sachsen bei ihrer Einwanderung jenen Ort als Glastingeburi. Glas heißt in ihrer Sprache nämlich ‚Glasʻ, und eine Burg oder Stadt wird buri genannt“ [Übers. Egeler 2015a, S. 226]). Egeler 2015a, S. 444. Vgl. Egeler 2015a, S. 444. Vgl. Heizmann 1998a, S. 89. Heizmann 1998a, S. 92.
4.2 Glastonbury – Avalon
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auch von Egeler „von vorneherein als hinfällig“ bezeichnet, als „ein spätes literarisches Konstrukt“.⁵⁶ Die Tatsache, dass Auallach/Afallach als „Ahnherr mehrerer prominenter Dynastien“ erscheint, möchte er unberücksichtigt lassen.⁵⁷ Allerdings soll auch dieser nicht näher bestimmte Töchter besessen haben, und ausdrücklich hätten sie die „Abgeschiedenheit des Ortes“ gesucht: [V]el cognominatur de quodam Avalloc, qui ibidem cum suabus filiabus, propter loci secretum, fertur inhabitasse.⁵⁸ Tatsächlich erweisen sich vormoderne, eponyme Namengeber und Gründungsväter nahezu immer als fiktiv, wertlos damit freilich lediglich in einem realhistorischen Referenzrahmen, aber über eine mythische Plausibilität ist damit nichts gesagt. Es ist ja immerhin merkwürdig, warum solche Konkurrenz-Etymologien zum scheinbar so durchsichtigen Namen notwendig wurden. Schließlich ist die mythische Verbindung des Apfels (als magische Zauberfrucht par excellence) zur Anderswelt durchaus bekannt, etwa Apfelbäume, die am Eingang zur Unterwelt stehen, die lebensspendenden Äpfel der Iðunn, die den Göttern ewige Jugend verleihen, und nicht zuletzt die wohl berühmtesten Äpfel der antiken Mythologie, die sagenhaften Äpfel der Hesperiden, die auf einer Insel weit im Westen vermutet wurden.⁵⁹ All dies mag durchaus zu der Vorstellung beigetragen haben, bei Avalon handele es sich um eine ‚Apfelinselʻ. Aber die Apfel-Etymologie ist wohl ebenso sekundär wie die vielbemühte Glas-Etymologie für Glastonbury. Die arthurische Tradition scheint davon auch gar nichts zu wissen: Der Doppelname „Apfelinsel“/„Glasinsel“ werde wohl für Glastonbury, die postulierte Begräbnisstätte Arthurs in Anschlag gebracht, aber darüber hinaus werde „keinerlei etymologische oder mythologische Verbindung“ zwischen beiden hergestellt: „Die beiden Namen scheinen hier distinkte Überlieferungen zu repräsentieren, für die zwar eine Identifikation postuliert, zwischen denen aber keine wirkliche Beziehung aufgezeigt wird.“⁶⁰ Auch walisische Quellen (die üblicherweise nach einheimischen Namenskorrelaten suchten) verwendeten den englischen Ortsnamen. Ganz offensichtlich seien die kymrischen Schreiber mit keiner (einheimischen) Tradition vertraut
Egeler 2015a, S. 227. Vgl. Egeler 2015a, S. 227. Chambers 1927, S. 266. „[O]der es ist nach einem gewissen Avalloc benannt, der wegen der Abgeschiedenheit des Ortes mit seinen Töchtern ebendort gelebt haben soll“ (Egeler 2015a, S. 228). Marek Winiarczyk sieht die Versuche, historische Abhängigkeiten zwischen diesen Anderwelttopoi herzustellen, grundsätzlich problematisch: Die deutlichen Ähnlichkeiten etwa der Naturschilderungen utopischer Inseln in der griechischen und lateinischen Literatur habe man lange Zeit als Abhängigkeiten einzelner Autoren voneinander interpretieren wollen und entsprechend versucht, Entlehnungsrichtungen ausfindig zu machen. Erst in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe Ernst Robert Curtius begonnen, diese methodische Herangehensweise zumindest zu problematisieren. So sei dieser nunmehr davon ausgegangen, „dass es eine literarische Konvention gegeben haben müsse, die ein Grundrepertoire an Motiven bereitstellte und von der man von Homer bis in die Kaiserzeit hinein sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa Gebrauch gemacht habe“ (Winiarczyk 2011, S. 133 f.). Für diesen Symbolpool verwendet Curtius den (von Cicero geprägten) Begriff locus amoenus „Ideallandschaften“ (vgl. Curtius 1948, S. 191– 209). Egeler 2015a, S. 226 f.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
gewesen, die „ihnen eine Identifizierung Glastonburys mit der ‚Glas-ʻ oder der ‚Apfelinselʻ nahegelegt hätte.“⁶¹ Dabei scheinen sich aber zunächst gerade ,Apfelʻ und ,Glasʻ und ein eponymer ‚Gründervaterʻ Avallo(c) nicht nur in einem gemeinsamen Denkraum eines spezifischen Anderwelt-Konzepts zu treffen, man wollte auch eine durchaus reale Entsprechung in der historischen Topographie der nördlichen Meere ausfindig gemacht haben: die so genannten Bernsteininseln. Durch antike Berichte wissen wir von einer Insel oder auch einer ganzen Inselgruppe im Norden, deren kostbarstes und berühmtestes Handelsgut der Bernstein war, siehe etwa Pytheas von Massilia, der im 4. Jh. v.Chr. eine Expedition ins Nordmeer zu den friesischen Inseln (und wohl noch weiter) unternahm und von einer sagenhaften Bernsteininsel berichtet (nur in Auszügen erhalten bei Plinius, nat. hist. 37, 35 – 36). Seine keltischen Gewährsleute nennen ihm deren Namen als Abalus oder Abalum. Diese Bezeichnung glaubte man nun zum keltischen *aballos „Apfel“ stellen zu können, und so schien gleichermaßen nicht wenig dafür zu sprechen, sie mit dem keltischen Avalon, der ‚Apfelinselʻ⁶² in Verbindung zu bringen. Nun war die übliche lateinische Bezeichnung für Bernstein glaesum, die latinisierte Form eines germanischen Begriffs, der auf gleiche Weise auch „Harz“ und „Glas“ meinte. Die Bezeichnungen lassen sich problemlos auf ein idg. Benennungskonzept *ghlēso- „das Glänzende“ zurückführen, das bedeutungsgebende Begriffsfeld ist das des ‚Funkelns, Glänzens, Leuchtensʻ. Die antike Welt wusste um die Zusammensetzung des Bernsteins, dass es sich um Harz, ein Naturprodukt handelte, das erfahrungsgemäß von Bäumen produziert wird. Die früheste und ursprüngliche Semantik des ‚Glanzesʻ wurde so auf ein Naturprodukt angewendet und von dort später übertragen auf eine technische Neuerung, das Glas. Plinius (nat. hist. 4, 97; 37, 42) berichtet jedenfalls von der glaesaria insula als einem zunächst durchaus realen, geographisch bestimmbaren Handelsort, der nach gängiger Händlerpraxis ganz offensichtlich nach seinem Handelsprodukt Bernstein, glaesum, benannt wurde. Nun hat gerade diese Doppelnamigkeit in mancher Hinsicht Kopfzerbrechen bereitet, am wenigsten gleichwohl Plinius selbst, der die beiden Benennungen, Glaesaria und Abalus offenbar problemlos nebeneinanderstehen lassen konnte.⁶³ Aber so nachvollziehbar die Glas-Semantisierung, so erklärungsbedürftig scheint doch die Apfel-Verbindung, und so fragt Krappe gewiss mit einigem Recht: Now it is of course perfectly clear why an island on which amber was washed ashore or was sold should be called Glaesaria or something like it by a population of Teutonic speech. But how are we to explain the Celtic name Abalus? What has the apple to do with amber?⁶⁴
Egeler 2015a, S. 229. Vgl. Much 1924, S. 102. Vgl. Krappe 1943, S. 305 f. Krappe 1943, S. 306.
4.2 Glastonbury – Avalon
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Krappe vermutet, man habe von der Kostbarkeit des Produkts auf die Außergewöhnlichkeit der Produzenten geschlossen: Es mussten jedenfalls besondere Bäume sein, nicht von dieser Welt, die an einem paradiesischen, göttlichen Ort wuchsen, und ihre ,Früchteʻ wurden an den Ufern der glaesiae oder electrides angeschwemmt und dort aufgesammelt. Im Laufe der Zeit entwickeln diese Inseln mehr und mehr legendäre Züge und werden schließlich zu einer Paradiesinsel, zu einer Art sagenhaftem „Eldorado“ des Nordens.⁶⁵ Der griechische Mythos (wie im Übrigen auch ein baltischer Mythos) erklärt die Konsistenz des Bernsteins als Tränen eines überirdischen Wesens. Im Griechischen sind es die Tränen der Heliadenschwestern um Phaeton, „den Strahlenden“, seinen Absturz verorten die Griechen im Land der mythisch sagenhaften Hyperboräer, bezeichnenderweise im hohen Norden gelegen.⁶⁶ Eigenschaften und Konnotationen dieses Nordreichs passen gut in einen ,Paradies-Katalogʻ, aber Apollonius fügt an dieser Stelle noch eine interessante Information hinzu: Die Kelten selbst hielten die Bernsteintropfen für die Tränen von Apollo, weil er von Zeus in das Land der Hyperboräer verbannt worden sei. Und es scheint nun gerade der Name des griechischen Gottes Apollo, der weitere Koppelungsmöglichkeiten bietet: From other sources we know that the Celts had a divinity currently identified with the GraecoRoman Apollo.We know a number of his cult titles; but his name is always given in the form of an interpretatio romana. If we assume, as we safely may, that the identification was favored by resemblance of name, we should conclude that the god was known as *Aballo or *Abello, and this would explain the name given to the amber island of the North Sea by the Celtic informants of Pytheas; for it stands to reason that it was sacred to the god whose tears the precious substance was supposed to be.⁶⁷
Krappe vermutet also einen keltischen Apollo als Namengeber für die Insel, nicht ganz klar ist dabei zunächst, ob der Namensanklang an das keltische Wort für Apfel(baum) für ihn zufällig ist ebenso wie die Identifikation mit dem griechischen Apollo.⁶⁸ Wie es scheint, will er sich beide Möglichkeiten offenhalten. Die Verbindung des griechischen Gottes Apollo zum Land der Hyperboräer im Norden ist jedenfalls alt und ebenso die Vorstellung, er habe dort einen Garten besessen,⁶⁹ nicht unwahrscheinlich, dass die
Vgl. Much 1924, S. 101. Vgl. Argonautica IV, 592– 626 (Race [Hg.] 2009). Krappe 1943, S. 306. In einem früheren Aufsatz favorisiert Krappe noch die Idee eines gleichen Ursprungs, also überhaupt die eigentliche Herkunft des Gottes aus dem Norden. „[T]he consistent connection of the Hellenic Apollon with the north and with amber“ deute auf jeden Fall in diese Richtung, „the Hellenic Apollon himself had his home in north-western Germany“ (Krappe 1942, S. 365), „the resemblance of the name of the amber isle, Abalus, Celt. Avallon, to the name of the Greek god, whose paradise and sacred property that isle was fabled to be, can hardly be a mere chance“ (Krappe 1942, S. 366), später, dass möglicherweise auch nur die Namensähnlichkeit eine große Rolle gespielt habe. Vgl. Pindar (Pyth. X, 27 f.): „Neither by ship nor by land canst thou find the wondrous road to the trysting place of the Hyperboreans […]. In the banquets and praises of that people Apollo chiefly re-
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fantastischen Bernsteinbäume des Nordmeeres dafür Ausgangspunkt waren.⁷⁰ Die Pappeln, die der griechische Mythos dafür in Anschlag bringt, sind sekundär und Krappe schließt letztendlich daraus, dass es Apfelbäume gewesen sein müssen, die beim Gott Apoll als bedeutungsgebendes Konzept für seinen Namen fungiert hätten: Joining these facts to the consistent association of the Celtic Apollon with apples and apple orchards and adding the Greek statements which tacitly identify the Nordic and the Hellenic Apollon, we are led to conclude that the two are one and that Apollon was from the beginning the god of the apple tree.⁷¹
Nun wurde diese Schlussfolgerung, Apollon der ,Apfelbaumgottʻ, bestenfalls als „kurioser Einfall“ konstatiert, mit einer „Wesenseigentümlichkeit“ eines Gottes,⁷² der mit so vielen anderen, jedenfalls ,göttlicherenʻ Epitheta ausgerüstet war, wie Φοῖβος „der Strahlende“ oder Λύκειος, ebenso „der Strahlende“ (weniger die homonymische Wurzel „der Wölfische“), der schreckliche Bogenschütze ἑκα(τη)βόλος „nach Belieben treffend“, schien das jedenfalls nicht zusammenzugehen.⁷³ Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Transformationen und Entwicklungen einzugehen, denen Apollo im Laufe der griechischen Religionsgeschichte unterworfen war, in diesem Zusammenhang genügt die Feststellung, dass Apollo jedenfalls zunächst ein durchaus ungriechischer Gott ist, eine „fremdartige[ ] und furchteinflößende[ ] Persönlichkeit mit dem Habitus und der Prätention eines streitbaren und gewalttätigen oriental[ischen] Götterkönigs,“⁷⁴ seine Gleichsetzung mit Helios, dem griechischen Sonnengott (und schließlich mit dem ,Logosʻ schlechthin) ist sekundär und erfolgt relativ
joices […] neither sickness nor baneful eld mingles among that chosen people; but, aloof from toil and conflict, they dwell afar from the wrath of Nemesis […]“ (Krappe 1943, S. 317 f.). Krappe versucht damit die merkwürdige, aber nahezu durchgehende Diskrepanz zwischen Paradieskonnotaten und realer Topographie zu erklären: „The strange idea of localizing an earthly paradise of the type described by Pindar and Sophocles in the dreary Frisian archipelago will certainly require some explanation“ (Krappe 1942, S. 306). Aber noch der Theologe und Orientalist Johann Gottfried Hasse verlegt im 18. Jh. den biblischen Garten Eden kurzerhand nach Preussen, expressis verbis ins baltische Samland (siehe Hasse 1799). Nun sind Hasses Spekulationen freilich fantastisch genug, aber durchaus nicht so bodenlos, wie es zunächst den Anschein haben mag. Möglicherweise hat der Bernstein tatsächlich einen Platz in der biblischen Paradiesrhetorik. In Gen. 2 ist die Rede von einem rätselhaften Objekt, dem „Bdellium“ (bedolach), das zusammen mit anderen Bodenschätzen, Gold und Karneolsteinen genannt wird, man vermutet darin ein Baumharz. Das unbekannte Land, aus dem es stammt, wird als sagenhaftes Goldland beschrieben, Hawila, vom biblischen Fluss Pischon ganz umflossen. Es ist mit einigen Gründen im Süden vermutet worden, auf der arabischen Halbinsel, die gut als Herkunftsort für kostbare Salben und Harze infrage kommen könnte (vgl. Jericke 2011). Aber der Namensanklang an die Paradies- bzw. Bernsteininsel Abalum, Avalon sowie den Fluss Havel ist immerhin auffallend. Krappe 1942, S. 367 Fauth 1979b, Sp. 441. Vgl. Fauth 1979b, Sp. 442. Vgl. aber auch Harris 1925, der in einer Reihe von Aufsätzen ebenso in diese Richtung argumentiert. Fauth 1979b, Sp. 447 f.
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spät, auch wenn seine zahlreichen Beinamen gerade aus dem Bedeutungsfeld des ,Strahlensʻ und des ,Lichtsʻ ihn dafür zu prädestinieren scheinen. Eine Abstammung aus Kleinasien scheint für viele am wahrscheinlichsten, insofern könne man mit guten Gründen davon ausgehen, dass auch sein Name kleinasiatisch sei,⁷⁵ wenn auch letztendlich Etymologie wie Wesen des Gottes „in dichtes Dunkel gehüllt“⁷⁶ blieben. Diese Voraussetzungen passen nicht gut zur vermuteten Apfel-Etymologie und noch viel weniger zur gerade konträren Vorstellung einer rein nordischen Herkunft dieses Gottes. Aber was auch immer für ein Etymon sich für den Namen des Gottes Apollo vermuten ließe, es hat wohl zunächst nichts mit Äpfeln zu tun, so wenig wie der Name der Insel selbst. Ob der keltische mythische Ahnherr Avalloc, Avallach eine Entsprechung finden könnte zum östlichen Apollo, mag wohl ebenso fraglich sein, er wird aber (mindestens in seiner Funktion) analog zum nordischen Vǫlsungr gedacht werden können: Und gerade hier ist es schließlich ausgerechnet ein Apfel, der zum Ursprung, zum ,eigentlichenʻ Gründer der wohl berühmtesten germanischen Dynastie der Vǫlsungen wird: Die Walküre Hljóð lässt auf Geheiß Odins einen Apfel auf König Rerirs Knie gleiten, diesen Apfel gibt er seiner Frau zu essen, die daraufhin mit Vǫlsungr schwanger wird. Der Hinweis der Saga, Rerir habe dabei auf einem Hügel gesessen, ist bezeichnend: Die Örtlichkeit ist ein Grabhügel, Rerir betreibt die Praxis des ,Sitzens über den Totenʻ mit dem Ziel eines magischen Kontagiums, einer dynastischen Anbindung im buchstäblichen Sinn. Es geht also nicht um Äpfel als solche, noch weniger um Glas oder Bernstein, vielmehr um uralte Abstammungstraditionen: Es geht um die zeugende, phallische Kraft aus einer jenseitigen Welt, aus der Totenwelt der Ahnen. Schon Much übersetzt Vǫlsungr als „Spross des Phallus“.⁷⁷ Das isländische Phallusidol Vǫlsi gehört hierher.⁷⁸ Der Beowulf-Held Sigmund trägt den Beinamen Wælsing oder Wælses eafera (siehe germ. walu „Stab“, engl. dial. weal „Penis“).⁷⁹ Siehe Frisk 1960 – 1972, „’Απόλλων“: „Da der Gott Apollon zweifellos aus Kleinasien stammt, ist wahrscheinlich auch der Name kleinasiatischer Herkunft.“ Die Etymologie seines Namens (vgl. ’Απέλλων (dor.), ’Απείλων (kypr.), Ἄπλουν [thess.]) aber bleibe dennoch ungeklärt. Die Versuche, diesen mithilfe von indogermanischem Material zu erklären, hätten sich jedenfalls allesamt als unhaltbar erwiesen. Fauth 1979b, Sp. 441. Much 1924, S. 119. Siehe ausführlich Heizmann 1992. Much 1924, S. 119. Much folgert aus dieser fruktalen Zeugung, dass Sigmund oder Siegfried dann mit dem sterbenden Gott Attis verwandt sein müssten, zumal Attis auf ähnliche Weise aus einem Granatapfel (oder einer Mandel), die sich seine Mutter Nana (!) in den Schoß gelegt habe, entstanden sei (vgl. Much 1924, S. 118 f.). Das exakte Vergleichsmoment zeigt sich hier indes lediglich in der außermenschlichen, mythischen Abstammung, diese wird in der Tat hier wie da medialisiert im Konzept einer phallos- oder besser hodenähnlichen Frucht. In der Bedeutungsgeschichte des Apfels hat Vennemann Ähnliches vermutet. Und auch wenn sich seine Theorie einer semitidischen Herkunft des Apfelworts als nicht haltbar erweisen könnte, so sind seine grundsätzlichen Überlegungen zur gewissermaßen ‚natürlichen‘ Hüllwortentwicklung von Früchten und anderen biologischen Objekten „of the proper size“ für die männlichen Geschlechtsorgane in diesem Zusammenhang nach wie vor be-
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Das zweifelsohne berühmteste, aber kaum weniger fiktive, mythische Herrscherpaar Arthur und Gwenhwyvar, die Erzahnen Britanniens, werden aus eben diesem Grund mit diesem Ort verbunden. In der Vita Gildae des Caradoc of Llancarfan aus dem Jahr 1130, also noch vor der Auffindung der Gebeine des Königspaars, erscheint eine durchaus bemerkenswerte und in diesem Sinne einschlägige Episode. Glastonbury wird hier als Festung eines Königs Melwas (Melvas, Melyagraunce, Melyagaunce) beschrieben, der in Guinevere (Gwenhwyvar) schon seit langer Zeit verliebt gewesen sei, und sie schließlich, als sich die Gelegenheit ergeben habe, auf seine Burg entführt habe. Nicht ganz klar ist, ob dies mit oder ohne Zutun der Königin geschieht, wie ihr überhaupt eine notorische, indes kaum jemals klar ausgesprochene Neigung zur Untreue, eine Art von „levity“ im walisischen Schrifttum anhängt,⁸⁰ wovon in anderem Zusammenhang noch zu sprechen sein wird. Egeler möchte diese Auseinandersetzung als rein militärische Aktion betrachten, der Ort Glastonbury werde hier lediglich als Befestigungsanlage, als Burg charakterisiert, darüber hinaus zeigten sich keinerlei anderweltliche Bezüge, ja lägen nachgerade im Widerspruch zur Paradiesinsel Avalon: Glastonbury erscheint in der Vita Gildae somit als eine Festung eines mit Arthur verfeindeten Königs; die Landschaft von Glastonbury und insbesondere die quasi-Insellage Glastonburys erhalten keine anderweltliche, sondern eine rein fortifikatorische Interpretation. Die Vita Gildae zeichnet nicht nur ein Bild von Glastonbury, in dem eine Gleichsetzung mit Avalon nicht ausgesprochen wird, sondern sie zeichnet Glastonbury in einer Weise, die zu einer Interpretation Glastonburys als Avalon in direktem Widerspruch steht.⁸¹
Aber offenbar weiß die Heiligenvita sehr genau um die Besonderheit des Ortes, um die ganz spezifisch paganen Konnotationen der ‚Insellageʻ, der ‚Uneinnehmbarkeitʻ und ‚Undurchdringlichkeitʻ, sowohl durch künstliche Befestigungsanlagen wie natürlichen Bewuchs (Schilf- und Sumpfpflanzen), und nutzt die Gelegenheit zur Darstellung der Kompetenz und Überlegenheit eines Vertreters des neuen Glaubens. Nur ein Heiliger, unter besonderem Schutz und kraft seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten, vermochte in diesem Streit, an diesem Ort zu schlichten. Die Gestalt des Königs Melwas gehört in eine sehr alte inselkeltische Tradition, sein Name wird im 12. Jh. etwa Maelgwas (Mailguas) gelautet haben,⁸² und wenn die legendäre Gestalt des Königs deutsam: „There is hardly a fruit or other naturally given round or oblong object of the proper size that is exempt from such metaphorization. As a matter of fact, the relationship between words for fruits such as apples and words for body parts seems to be a one-way road“ (Vennemann 2003a, S. 620). Für das Apfelwort im Westen sei diese phallische Bedeutungsverschiebung zwar unterblieben (im Gegensatz zu so vielen anderen Begriffen in der Bedeutungsfamilie „‚egg‘, ‚seed‘, and ‚fruit‘, all of which are involved in nonhuman procreation“ (Wilkins 1996, S. 273), aber gerade das Irische stehe am nächsten dazu. Ir. ubhall sei „a ball or globe, any globular object or member, a round fruit, specifically an apple; a protuberance […]“ (Vennemann 2003a, S. 646, Anm. 53). Vgl. Rhys 1891, S. 50. Vgl. Egeler 2015a, S. 225. Rhys 1891, S. 51.
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Arthur wohl erst relativ spät mit dieser Örtlichkeit in Verbindung gebracht wurde, so waren die Verbindungen des Herrschers Melwas zu Glastonbury gewiss ursprünglich und alt (die Heiligenvita nennt Arthur ausdrücklich gerade nicht rex, auch diesen Titel hat sie für Melwas vorbehalten).⁸³ In seinem ganzen Habitus erweist er sich keineswegs als diesseitiger König, vielmehr als Herrscher über eine jenseitige Welt, über ein Totenreich: Glastonbury had been identified, at an unknown date, with the land beyond the grave. It must appear doubtful whether the mediaeval writers had any knowledge of the true origins of the name. But as Jessie Weston suggested long ago, the place must already in pre-Christian times have enjoyed a local reputation for sanctity.⁸⁴
Die Bedeutung seines Namens wird unterschiedlich diskutiert, aber eine gewisse Todesbezogenheit des Namensträgers als eine Art „prince of death“ wird dabei immer wieder vermutet.⁸⁵ Rhys schlägt eine Zusammensetzung von mael und gwas vor, also etwa „lord“, „prince“ und „youth“, „young man“ = „a prince who was a youth“,⁸⁶ was er in Beziehung setzt zu einer irischen mythischen Gestalt Mider, von dem ausdrücklich berichtet werde, obwohl er über tausend Jahre alt sei, habe er sein Aussehen bewahrt, „comely and youthful“.⁸⁷ Und so sei wohl auch Melwas zu verstehen „as one who was fancied to be ever young.“⁸⁸ Unschwer lässt sich darin der Unsterblichkeitstopos der Paradieswelten erkennen, insbesondere aber ist es der nämliche Motivkomplex, der dem eponymen Avalloc (Euelake, Evalac) anhängt. Früh wurde dessen Entsprechung zu eben jenem Maheloas erkannt, der auch im altfranzösischen Arthus-Stoff des Chrétien de Troyes, Erec et Enide, erscheint. Hier ist Maheloas expressis verbis der Herrscher über eine „Glasinsel“, l’Isle de Voirre, und ihm wird wiederum ein Bruder Guigomar an die Seite gestellt als Herrscher über die Insel Avalon. Aber auch in Chrétien de Troyes Lancelot ou le Chevalier de la charrette erscheint er als Maleagant, Sohn des Bademagus, König von Gorre (= Voirre), und hier ist nicht etwa Arthus der Befreier der Königin, vielmehr der Ritter Lanzelot. Er bewerkstelligt dies unter eigenartigen Umständen, entsprechend dem Titel der Dichtung: Der Karrenritter. Nur in einem Karren kann er in die ansonsten uneinnehmbare Festung gelangen, was ihn ausdrücklich größte Überwindung gekostet habe, da dies das Fortbewegungsmittel der verurteilten Verbrecher gewesen sei und ihm in jeder Hinsicht zur Schande gereichte.⁸⁹ Zuvor hat er mit seinem Pferd schwimmend die Themse
Vgl. Rhys 1891, S. 52, Anm. 2. Krappe 1943, S. 315. Krappe 1943, S. 314. Rhys 1891, S. 51. Rhys 1891, S. 51. Rhys 1891, S. 51. Siehe Lupack 1994: „The classic account of the abduction story is in Chrétien de Troyes’s Lancelot or the Knight of the Cart, in which Lancelot, because of his great love for Guinevere, suffers the ig-
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überquert, von den Pfeilen der Bogenschützen des Maleagent tödlich getroffen, muss er sich dann zunächst zu Fuß auf den Weg machen. Aber Chrétien de Troyes weiß hier noch weitere Besonderheiten über den Herrschaftsbereich des Königs Melwas hinzuzufügen: [I]t was, among other things, the land from whose bourne no traveller returns, for once he is there, he must there for ever abide in bondage and exile. In his own words it was a country – ‚Dont nul estranges ne retorne: / Mès par force el païs séjorne / En servitute et en essilʻ [V. 645 – 647].⁹⁰
Es ist also ein Ort ohne Wiederkehr. Unübersehbar wird hier Jenseits-Motiv auf Jenseits-Motiv gehäuft. Dies beginnt bereits mit der eigenartigen Praxis des Vaters Bagdemagus, hier allerlei Volk ‚gefangenʻ zu halten, Männer wie Frauen: „Das klingt, als ob es das Reich der Toten wäre, die nicht ins Leben zurückkehren können.“⁹¹ Die Flussüberquerung, der Beschuss mit Pfeilen wie der Tod des Reittiers werden später in ähnlichem Zusammenhang noch einmal erscheinen. Es sind Motive zur Kennzeichnung des unumkehrbaren existenziellen Übergangs. Es folgt das kaum weniger einschlägige „Schreckensszenario“ der Überquerung einer Schwertbrücke (V. 3025 – 30). Bei Chrétien mögen diese Ereignisse längst ihre ursprüngliche mythisch religiöse Bedeutsamkeit und insbesondere Plausibilität verloren haben, bereits als reines literarisches Spiel, als „reine utopisch-irreale Liebesgeschichte“ erscheinen,⁹² die Karrenfahrt lediglich demütigende Bewährungsprobe für eine bedingungslose Liebe,⁹³ aber sie ist im Grunde genommen unmissverständlichster Hinweis auf das schaurige Ziel, das Lanzelot nur so erreichen kann: Nicht nur Verbrecher – Tote, Leichen erreichen auf diese Weise ihre endgültige Destination. Nicht zuletzt ist die Ähnlichkeit der Entführungsszene der Guinevere im Wald beim „maying“,⁹⁴ eine Art vergnügliches Picknick, zur wohl berühmtesten mythischen, jenseitigen Entführungsszene der Proserpina durch den Unterweltfürsten Hades (gleichfalls beim Blumenpflücken auf einer Wiese) längst gesehen worden.⁹⁵ Ein dichtes Netz von Jenseitsassoziationen ist um Glastonbury bereits vor Auffindung des Grabes des mythischen Königspaars gewunden. ‚Glasinselnʻ und Apfelinselnʻ haben darin in der Tat noch keinen Platz, zumal die Waliser selbst ganz offenbar zunächst gar nichts mit diesen Konzepten anzufangen wussten. Wohl berichtet
nominy of riding in a cart, a form of transportation reserved for criminals so that he can continue his quest to free her. The story is, however, told by others both before and after Chrétien.“ Rhys 1891, S. 54. „[A]us dem kein Fremder zurückkehrt: Vielmehr verbleibt er gezwungenermaßen in dem Land in Knechtschaft und Verbannung“ (Knapp 2011, S. 366). Knapp 2011, S. 366. Vgl. Knapp 2011, S. 369. Vgl. Knapp 2011, S. 368. Siehe in der Version von Thomas Malory: Le Morte d’Arthur, Kap. 2: Soo as the quene had mayed and alle her knyghtes, alle were bedasshed with herbys mosses and floures in the best maner and fresshest (Davison [Hg.]1817, S. 366). Vgl. Rhys 1891, S. 54.
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die Heiligenvita Gildas ausdrücklich, dass Glastonbury bereits in „alten Tagen“ Ynisgutrin genannt worden sei und so immer noch von den einheimischen Britanniern, aber das gleiche wird auch behauptet für den angeblich alten britannischen Ortsnamen Gwlad yr Haf „land of the summer“, Somerset. Die Region, über die der Unterweltfürst herrsche, werde als Aestiva Regio bezeichnet, regnante in aestiua regione, so Rhys, was wohl als eine Übersetzung des angelsächsischen Toponyms Somerset zu verstehen sei, „summer country“.⁹⁶ Aber auch diese Übertragung macht stark den Eindruck einer Volksetymologie, wenn auch bis in heutige Zeit unterstützt. Melwas verbirgt sich und die Königin unerreichbar in der Urbs Vitrea inmitten „thickets of reed, river, and marsh“ (Kap. 10). Sämtliche Sommerassoziationen wirken hier sehr konstruiert wie etwa, der Ort habe nur zur Sommerzeit bewohnt werden können und Ähnliches. Man wird das bedeutungsgebende Merkmal eher im ausdrücklich beschriebenen Sumpf- und Wassercharakter der Landschaft vermuten müssen.⁹⁷ So scheint weit wahrscheinlicher eine vorgeschlagene Alternativ-Etymologie zu ae. Sumorsǣte (< Sumortūnsǣte) als Seo-mere-saetan „the dwellers by the Sea-lakes“.⁹⁸ Auch an das Homonym sommer m. „scheffel, getreidemasz“ könnte gedacht werden, ahd. sumbir, calathus, mhd. sumber, sumer, somer, ein ,aus Stroh oder Schilf geflochtener Korb‘,⁹⁹ was gut zum explizit erwähnten Bewuchs der Sumpfregion, eine Art Schilfdickicht, passen würde. Vielleicht sollte also tatsächlich (wie manches Mal erwogen) die Möglichkeit einer Rückentlehnung nicht ganz ausgeschlossen werden für Sumorsǣte wie für Glastigberi.¹⁰⁰ Die angelsächsischen Einwanderer könnten ihre eigenen Benennungskonzepte auf diese spezifische Art von Örtlichkeit verwendet haben: ein teilweise überflutetes, sumpfiges Marschland mit einer inselartigen Erhebung. Und gerade darin gleicht es auffallend der Realgeographie der Bernsteininseln selbst. Pythias beschreibt die Lage der Bernsteininsel Abalus an einem so genannten aestuarium mit dem Namen Metuonidis von der enormen Ausdehnung von 6000 Stadien (1100 km).¹⁰¹
Rhys 1891, S. 52. Vgl. Knight 2012 [1909], S. 20 f. Knight 2012 [1909], S. 2. Vgl. DWb, „sommer“; vgl. Schulze 1966, S. 505. Siehe auch ahd. semida „Schilf“. Schon Rhys verweist auf die Möglichkeit von „second-hand versions“ (Rhys 1891, S. 2) der Mythen durch die normannischen Eroberer, auch wenn er grundsätzlich die inselkeltische Originalität des Arthur-Stoffes nicht infrage stellen möchte: „[T]hey came from the mouths of Brythonic Celts; but the Normans, having made their conquests in South Wales, became familiar with them, and handled them freely so as to adapt some of them to their own tastes. The result was that in some cases the secondhand versions would seem to have been brought back to the Welsh, and to have in some instances modified the originals or even replaced them (Rhys 1891, S. 2 f.). „It follows, that if one wished to make a comprehensive collection of the sagas about Arthur, one would have to take all the romances into account, since things even of mythological interest have been lost in Welsh, and are now only to be found in the Anglo-Norman versions and those based on them“ (Rhys 1891, S. 4). Pytheas Gutonibus, Germaniae genti, accoli aestuarium oceani Metuonidis nomine spatio stadiorum sex milium; ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum; (nat. hist. 37, 35).
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Auch die Übersetzung dieser Toponyme macht zunächst gewisse Schwierigkeiten. Mit aestuarium ist wohl nicht die „Meeresbrandung“ als solches gemeint, vielmehr eine (wesentlich häufigere) Bedeutung wie sie auch bei Caesar erscheint, vgl. Caes. Gall. 2, 28, 1: aestuaria ac paludes, etwa „schlammige Gewässer, in denen man leicht versinkt.“¹⁰² Das können Binnengewässer sein, eine Flussmündung, aber auch ein Wattenmeer, ein Haff,¹⁰³ wie es in dieser Ausdehnung am wahrscheinlichsten an der Ostsee, im Baltikum, zu vermuten ist.¹⁰⁴ Ein germanischer Sumpf trägt den Namen Metia. Metuonis wäre dann etwa „Medenland, Wiesen- Marsch- und Moorland“ (vgl. germ. *mēþwon-, *mēðwon; engl. meadow).¹⁰⁵ Kaum anders erscheint die Umgebung von Glastonbury in dieser Zeit. Erst im 13./14. Jh. wird mit umfangreichen Trockenlegungsarbeiten begonnen. Nicht unwahrscheinlich, dass die angelsächsischen Neuankömmlinge mit ‚Glastonbury‘ zunächst lediglich den ‚Ort am glänzenden Wasserʻ bezeichnet hätten. Schließlich wissen wir von zahlreichen weiteren ‚Glasortenʻ und ‚Glasflüssenʻ ohne offensichtliche mythische Implikationen.¹⁰⁶ Wie überhaupt bei alten Toponymen in weitaus geringerem Maße mythisch religiöse Deutungskonzepte im Vordergrund stehen, sondern eher pragmatische, realgeologische, Bodenbeschaffenheit, Bewuchs, Wasserqualität u. ä. Ähnlich mochte auch Somerset seinen ursprünglichen toponymischen Eigenschaften entsprechend der ‚befestigte Ort im Schilflandʻ bedeutet haben. Und auch der Name der Bernsteininsel ‚Abalus‘ dürfte zunächst einmal ‒ fern jeglicher Apfel- oder Götterkonnotationen¹⁰⁷ ‒ in diese Richtung deuten.¹⁰⁸ Wenig wahrscheinlich allerdings, dass es dabei bleibt, bzw. jene Reichert 2002, S. 2. Siehe Burr 1948, S. 182: „[E]in niedriges, von vielen kleinen Wasserläufen durchzogenes Flußdelta […], das bei Flut teilweise unter Wasser gesetzt ist.“ Oft werde die Nordseeküste als realtopographische Entsprechung angenommen, so Reichert, er plädiert indes mit guten Gründen ausdrücklich für die Ostseeküste. Abgesehen von den Bernsteinfunden, die ohnehin im überwiegenden Maße an der Ostsee vorkämen, könne als aestuarium Oceani wohl ein Wattenmeer bezeichnet werden, aber niemals die offene Nordsee von Dover nach Norwegen (vgl. Reichert 2002, S. 2). Vgl. Reichert 2002, S. 4. Vgl. Greule 2014, S. 177– 81. Die legendären Bernsteinabbaugebiete selbst hatten offenbar dort, wo sie konkret verortbar waren, für die ansässige germanische Bevölkerung keineswegs den Nimbus des Fantastischen und Paradiesischen. Der Hinweis Pytheas (nat. hist. 37, 35 f.), die Bevölkerung habe den kostbaren Bernstein gar als Brennstoff verwendet, mag die antike Leserschaft verwundert haben, klingt aber gerade in seinem Pragmatismus überzeugend. Es sind eben die Realproben, an denen vorgebliche Paradiesinseln immer wieder zu scheitern neigen. Hier wäre etwa an das voreinzelsprachliche, alteuropäische Wasserwort apa zu denken als „Grundwort in Gewässernamen (ahd. -affa) […]. Gm. *apō ‚Wasser, Flussʻ entspricht air. ab (*abā) ‚Flussʻ, lat. amnis ‚Flussʻ (*ab-ni‐), heth. ḫab-ā, zum/am Flussʻ, urig. *h2eb- als Nebenform zu urig. h2ep- ,Wasserʻ […]“ (Greule 2014, S. 39); dazu εὔρῑπος (Hom.) „Meeresarm“, kymr. afon „Fluss“ (vgl. Meier-Brügger 2000, S. 109 f.); des Weiteren ai. aváni „Lauf, Bett eines Flusses, Strom, Fluß, avatáh „Brunnen“, lett. avuōts „Quelle“, Ava, „Fluß z. Schwarzen Meer (Udolph 2003, S. 28). Auf den nördlichen Grenzfluss der Grafschaft Somerset, Avon, sei hier besonders verwiesen, einer der zahlreichen Avon-Flüsse Britanniens; dazu ἠϊόεις „mit (hohen) Ufern, am Ufer befindlich“, auch „schilfreich“, wenn auch für Frisk weniger
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mythischen Syntagmatismen nicht bereits von Anfang an mitgedacht und irgendwann ‚wiedererkanntʻ werden. Im mythischen Denken wird die Verortung einer Anderwelt ganz gewöhnlich in, genauer aufgrund einer konkreten, diesseitigen Topographie vorgenommen. Dabei wird auf ein konventionalisiertes geophysisches wie botanisches Symbolinventar zurückgegriffen, das wohl kulturspezifisch sein mag, grundsätzlich aber ein Konzept von Liminalität und Exklusivität fasst. Es geht also um die konkrete Empirie der Andersartigkeit eines Ortes, die sinnliche Erfahrung einer natürlichen Exklusion.
4.3 Indogermanische Jenseitswelten Die Entstehung einer Jenseitswelt gehört in den Kosmogonien dieser Welt unhintergehbar zum Schöpfungsgeschehen. Und wenngleich viel Augenmerk auf die Entstehung eines Diesseits, der Welt als solcher gelegt wird, so ist doch in keiner Kosmologie vergessen die Etablierung ihres Gegenentwurfs, das Systemaußen, das Jenseits, das Totenreich. Die Weltentstehung als Effekt und Ergebnis einer Zerteilung eines Urwesens gehört bekanntlich zu einem Konzept von sehr alten, indoeuropäischen kosmogonischen Mythen.¹⁰⁹ Lincoln fasst diese zusammen als „a common Indo-European mythologem which told of the creation of the world from the sacrifice and dismemberment of a primordial androgyne.“¹¹⁰ Es ist wohl die grundlegendste Vorstellung von Metonymie, die in dieser (mythischen) Metapher ihren Ausdruck findet. Urbild jeder kosmischen Demiurgie ist eine Dekomposition als unhintergehbare Voraussetzung zur Komposition, zur Entstehung von etwas Neuem. Die Gewalttätigkeit, die diese Schöpfungsakte notorisch begleitet, ist dabei ebenso irritierend wie
wahrscheinlich (vgl. Frisk 1960 – 1972, „ἠϊών; ἠϊόεις“). Siehe Buttmann 1825, S. 22: „[…] gerade in den meisten, wo nicht in allen Fällen, wo Homer sich des Ausdrucks ἠϊών bedient, ist von einem flachen Sandgestade [kursiv d.Verf.] die Rede, wie das längs dem Meere vor Troja. Ueberhaupt beruehren alle die das Wort von ἠΐων ableiten den Umstand, daß das Wort durchaus nur vom Meerufer gebraucht wird, nur leicht oder gar nicht […].“ Die Ableitung des Wortes von ἴον „Veilchen“, entsprechend darunter ein „Strom mit blumigen Ufern“ zu verstehen sei, sei zwar falsch, dennoch sei in dieser Erklärung vielleicht etwas sehr Altes bewahrt worden: der „Begriff eines Wiesenbodens.“ Buttmann möchte das Wort zu εἰαμενή „Niederung, feuchte Wiese, Aue“ stellen, „ein Grasland, ein Bruch, eine Aue, wie sie um ein Moor zu sein pflegt“, ein „ueberschwemmte[r]“ Ort. So oder so aber sei in beiden griechischen Lexemen das nhd. „Aue“ zu vermuten (vgl. Buttmann 1825, S. 23 f.). Insgesamt scheinen gerade keltische Kosmogonien (als zusammenhängendes Wissensmodell) keinen Niederschlag im mythologischen Schrifttum nach der Christianisierung gefunden zu haben (vgl. Maier 1994b, „Kosmogonie“). So finden sich bestenfalls verstreute Reminiszenzen, Mythologeme von Gründungen und Anfängen jeglicher Art, herausgelöst aus einem ursprünglichen, umfassenden Kontext der Weltschöpfung. Siehe etwa im berühmten Táin Bó Cuailnge „Rinderraub von Cuailnge“ (O’Rahilly [Übers.] 2001 [1976]): In einem Kampf kosmischen Ausmaßes zerreißen sich buchstäblich zwei Stiere und werden durch die Zerstückelung und Ausstreuung der einzelnen Körperteile über das ganze Land zu primordialen Namengebern der einzelnen Örtlichkeiten. Lincoln 1975, S. 122.
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erklärungsbedürftig: Schöpfungsmythen sind Mordtaten, aber der eigentliche Beweggrund für die primordiale Tat (bzw. Untat) wirkt häufig genug eher dürftig und kaum psychologisch motiviert. Gewalt und Anfang gehören offenbar untrennbar zusammen, eine Eigenart, die insbesondere in der älteren Mytheninterpretation den Vorwurf der Vertuschung laut werden ließ. Diese Abgründe an (Un)menschlichkeit, diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit schienen eine Verdrängung notwendig zu machen, flugs war der ,Sündenbockʻ geboren, das Gewaltopfer, das zum Gott erhoben wird, zum ,heiligenʻ Ursprung. Die Abweisung dieser lange Zeit hochfavorisierten Idee von Ursprung (nicht nur in der Balder-Diskussion) als gewiss verfehltes Ursprungs-Modell muss momentan noch zurückgestellt werden, aber ausdrücklich muss schon an dieser Stelle betont werden: Der Mythos möchte keinesfalls das Phänomen einer schrecklichen, eben ,unerklärlichenʻ Gewalt begreiflich machen. Es geht vielmehr um die Begründung der Empirie einer Wirklichkeit mithilfe von Gewaltmodellen. Im Altnordischen kennt man den Urzeitriesen Ymir, der von Odin und seinen Brüdern Víli und Vé erschlagen und zerteilt wird, diese Tat wird zum germanischen Weltschöpfungsakt, und nach Ansicht von Lincoln kommt gerade die nordische Version dem indoiranischen Vorbild am nächsten, die meisten Einzelmotive, strukturelle Gemeinsamkeiten und nicht zuletzt das Namenmaterial selbst sei hier am treuesten bewahrt: The linguistic correspondences between Germanic and Indo-Iranian versions of the myth can also be used to demonstrate that the myth is Proto-Indo-European […] in origin and not merely an Indo-Iranian myth that reached Europe by secondary diffusion.¹¹¹
Die auffallenden Korrespondenzen zwischen den germanischen und altindischen Quellen gehen also auf sehr altes, indogermanisches Mythenmaterial zurück: The main problem, of course, is that of establishing contact between Iran and Scandinavia. Several attempts have been made to do so: Reitzenstein suggested that the Manichaeans carried mythic material to the Northmen, and others have suggested the Ostrogoths and the Christians as likely intermediaries, but none of their arguments is particularly convincing. Moreover, if they are to be believed, the influence would have come at a relatively late date (no earlier than the third to fourth century A.D.), and as we shall see, this is an impossibility. For, if we are correct, the Old Norse account preserves certain details from the P-I-E Ur-myth that have been almost completely lost in even the earliest Indian and Iranian texts. If this is the case, the Norse version must date back to a P-I-E original.¹¹²
In kritischer Gegenposition dazu möchte neuerdings wieder Sabine Walther eine späte Entlehnung im 12./13. Jh. annehmen.¹¹³ Die Vorstellung des zerstückelten Urriesen Ymir, aus dessen Körperteilen die Welt entstanden sei (so etwa in den Vafþrúðnismál
Lincoln 1975, S. 124. Lincoln 1975, S. 124 f. Vgl. Walther 2015.
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und Grímnismál), sei den christlichen, apokryphen Adams-Texten entnommen. Nun sind Ähnlichkeiten zwischen diesen Textstellen schon früh bemerkt worden, aber in der Forschungsgeschichte eher als typologische denn historische Abhängigkeiten betrachtet worden, zumal die Erschaffung Adams ausdrücklich den umgekehrten Weg geht: Adam wird nicht zerstückelt, er entsteht gerade durch Zusammenfügung der unterschiedlichsten Teile des Kosmos. Aber problematischer ist wohl ihre Annahme, dass die Nordgermanen überhaupt keine Vorstellungen von komplexen Schöpfungsmodellen entwickelt hätten. Mit Elard H. Meyer sieht sie „die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine solche Kosmologie bei den Nordgermanen für nicht gegeben“¹¹⁴: [Ü]ber den ersten Ursprung und das Werden des Weltalls zu grübeln und darzustellen, was jenseits der Grenzen aller sinnlichen Naturanschauung sich abgespielt hatte, das lag hoch über dem Vermögen und Streben des Volkes. Es vermag Naturbilder, aber keine Gedankenbilder zu zeichnen. Die Erfindung einer Kosmogonie fällt überhaupt nicht mehr ins Gebiet mythologischen Schaffens, sondern darüber hinaus in das der Reflexion. Sie ist ein Stück Naturphilosophie, ja trotz ihrem physikalischen Anstrich ein Stück Metaphysik. Sie setzt lange Denkarbeiten voraus. Darum ist ihre Heimat nicht bei Hirten und Bauern, sondern in den Körperschaften gebildeter Priester, welterfahrener Sänger oder spekulativ angelegter Weiser zu suchen.¹¹⁵
Nun stellt sich aber die Frage, inwiefern die Germanen des Nordens dann zu dermaßen durchaus komplexen Inversionen und Übertragungsleistungen (etwa die Umkehrung einer Makrokosmos-Mikrokosmos-Entsprechung) fähig gewesen sein sollten, wenn sie ohnehin diese „lange[n] Denkarbeiten“¹¹⁶ überhaupt nicht leisten konnten. Warum hätten sie nicht einfach christliche Konzepte so übernehmen sollen, wie sie auf sie trafen? Aber E. H. Meyer ist noch rigoroser in seiner Einschätzung. Er spricht nicht nur den Germanen, sondern kurzerhand allen indogermanischen Völkern eine „echte ursprüngliche Kosmogonie“¹¹⁷ ab. Alle vorhandenen Konzepte seien letztendlich Ergebnis babylonischen Kulturtransfers und Kulturkontakts. Und wenn nun diese Vorstellungen ,eigentlichʻ babylonisch seien, so Walther, könne man auch nicht mit indogermanischen Konzepten argumentieren, wie es eben Bruce Lincoln versuche, und dessen Beweisführung, im zerteilten Ymir frühe, jedenfalls vorgermanische, indogermanische Vorstellungen zu sehen, hinfällig werde. Nicht zuletzt habe sich der Autor selbst in jüngerer Zeit von diesen früheren Ansätzen distanziert. Wir lassen in dieser Argumentation die unsäglichen (wenn auch zeittypischen) Prämissen eines E. H. Meyer beiseite, schriftlosen Ethnien intellektuelle Leistungsfähigkeit, insbesondere die Fähigkeit zur ,Transzendenzʻ und ,Metaphysikʻ abzusprechen, wenn
Walther 2015, S. 256. Meyer 1891, S. 2. Meyer 1891, S. 2. Meyer 1891, S. 13.
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auch Walther immer noch daran zu zweifeln scheint.¹¹⁸ Aber zu Recht verweist sie auf die tief ideologischen Vorgaben eines George Dumézil, etwa die postulierte Reinheit und Unvermischtheit des eigenen, in diesem Fall indogermanischen Systems, eine auf der Vorstellung von Einheit von Sprache, Religion und Kultur gegründete kulturelle Überlegenheit des ,Ariertumsʻ. Es sind diese überkommenen Vorstellungen, von denen sich Lincoln distanziert, zu Recht sieht er die Forschungsgeschichte der Indogermanistik (insbesondere diese vorwissenschaftlichen Prämissen in der Methodik des religionsgeschichtlichen Vergleichs) heute wesentlich kritischer, die unter dem Einfluss Dumézils stark ideologische und unter dem Einfluss Eliades stark religiöse Einschläge bekommen hat. Diese Vorstellungen sind in der Tat bezüglich ihres religiös ideologischen Forschungsinteresses heute überholt. Keineswegs aber distanziert sich Lincoln im gleichen Atemzug von seinen sprachgeschichtlichen Forschungen.¹¹⁹ Seine Ergebnisse bezüglich der Gestalt Ymir/Yama im Rahmen kosmologischer, kosmogonischer Vorstellungen, die gewisse Kulturen (die wir zweifelsfrei einer indoeuropäischen Sprachfamilie zuordnen können) gekannt haben, bleiben weiterhin gültig. Sie stützen sich auf Sprachmaterial, das indoeuropäisch ist. Auch die Zwitterhaftigkeit dieses Urwesens zeigt sich keineswegs nur in dessen Ableitungen eines idg. *əm(i)ós „Zwilling, Zwitter“, sondern in einer Reihe vergleichbarer Mythologeme im Germanischen. Die religiöse Idee eines germanischen Stammvaters Tuisto erwähnt schon Tacitus, und dessen (germanischer) Name ist die exakte semantische Entsprechung zum Benennungskonzept eines Yama/Ymir. Die Möglichkeit von ,Synkretismenʻ, gegebenenfalls babylonische, semitische Einflüsse, schließt Lincoln ausdrücklich nicht aus, insbesondere aber auch nicht die Möglichkeit von Universalien, transkulturellen, allgemein menschlichen, kognitionsbasierten Symbolbildungen.¹²⁰ Nun hat als Erster Hermann Güntert den Namen des germanischen Urriesen Ymir direkt zur altindischen mythologischen Figur des Yama gestellt, einem Wesen, das zunächst nicht unbedingt als Gott gedacht wurde, wohl als der erste Mensch, aber genauso „der erste Tote und Gestorbene“, der zum „ehrwürdige[n] Ahnher [sic] und Stammvater des Menschengeschlechts“¹²¹ wurde: Meist denkt man sich ihn als Gott gewordenen Menschen, insofern er nach seinem irdischen Tod dauernd der Herrscher des Totenreichs wird, in dem er zuerst angekommen war und somit schon
„Es ist auch schwer vorstellbar, wie die Germanen vor der Schriftlichkeit und ohne irgendwelche Institutionen eine Kosmogonie über viele Jahrhunderte bewahrt haben könnten“ (Walther 2015, S. 259). Vgl. Walther 2015, S. 259. Vgl. Lincoln 1975, S. 124. Lincoln will jedenfalls offen lassen, ob die zahlreichen, zweifellos nicht indogermanischen Belege für diese Vorstellung Hinweis sein könnten auf gewisse kognitive oder kulturelle Universalien: „Alternately, one could see a universal structure of the human mind behind it, or one could maintain that it is a myth found throughout the world whenever societies reach a certain stage of cultural development […]“ (Lincoln 1975, S. 124). Güntert 1923, S. 316.
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als der Urahne der Menschheit, als Stammvater kraft der patria potestas über seine ihm allmählich in immer größeren Massen nachfolgenden Nachkommen gebietet.¹²²
Eine Grundbedeutung des Begriffs yamá- (*yemo) ist schon im Altindischen „Zwilling“, viele Mythenversionen versuchen dem narrativ Rechnung zu tragen, indem etwa ein mythischer Zwillingsbruder am anderen eine mörderische Freveltat vollbringt (siehe z. B. die römische Gründungsage von Romulus und Remus) oder aber ein Zwillingspaar sich inzestuös vereint und dadurch ‒ ebenso frevlerisch ‒ zu den Stammeltern der Menschheit wird. Die Semantik einer ,Zweiheitʻ, umfasst nun aber nicht nur die Vorstellung einer ,Doppeltheitʻ im Sinne eines Paares, sondern mindesten ebenso grundlegend das Konzept des ,Sowohl als auchʻ, des buchstäblich unentschiedenen ,Dazwischenʻ, eben des „Zwitters“, und es scheint eher dieser Aspekt, der bei der mythisch-religiösen Ausgestaltung des Yama Grundlage und Ausgangspunkt war: eine zunächst noch ungetrennte Einheit, das Ganze schlechthin, als „androgyn[es]“, „hermaphroditisch[es]“ Urwesen imaginiert,¹²³ dessen Transformation primordiale Zerstückelung, ein Opfer, das die Götter darbringen.¹²⁴ Sehr ähnlich Güntert 1923, S. 316. Vgl. Güntert 1923, S. 334. Zum religionsgeschichtlichen Phänomen der Bisexualität siehe grundlegend Hermann Baumann: Das doppelte Geschlecht (Baumann 1986). In der typischen Doppelgeschlechtlichkeit eines mythischen Urwesens möchte Baumann allerdings nichts „Allmenschliches“ sehen, was Lincoln zumindest nicht ausschließt, vielmehr eine besondere Eigenart der „so genannten archaischen Hochkulturen“ (vgl. Baumann 1986, S. 9). Naturvölker hätten weder „ein wohl ausgebildetes bisexuelles Weltbild“ entwickeln können, noch hätten diese eine „lebendig gestaltete Auseinandersetzung mit dem Problem sexueller Zwischenstufen“ gekannt (vgl. Baumann 1986, S. 343). Siehe aber kritisch dazu Thiel 2002, S. 355 f. Problematisch erscheinen Baumanns Folgerungen daraus: In den Hochkulturen habe nachgerade das Ideal der Androgynie geherrscht im Gegensatz zum primitiven, heterosexuellen Geschlechterantagonismus „bei Völkern einfachster Lebensgestaltung“ (vgl. Baumann 1986, S. 343 f.). Entsprechend sei es naheliegend, „in der Sitte des rituellen Geschlechtswandels einen Versuch zu sehen, sich dieser Gottheit anzugleichen und ihr in ihrer durch das doppelte Geschlecht erhöhten Macht gleich zu sein“ (Baumann 1986, S. 129). Die zahlreichen, ja überwiegenden Fälle in der Kultpraxis, in denen ein „göttliches Vorbild“ nicht nachweisbar sei, seien dann als lediglich magische Handlungen zu betrachten, die „an sich nichts mit Religion zu tun [haben]“ (Baumann 1986, S. 129). Baumanns kaum mehr zulässiger Religionsbegriff kann an dieser Stelle unkommentiert bleiben, aber nicht das Postulat eines erstrebenswerten Ideals der Androgynie. Heterosexualität, ein gewissermaßen ‚natürlicher‘ Geschlechtsantagonismus gilt auch in den so genannten Hochkulturen als Status quo (wie andererseits Thiel betont, dass von jenen „primitive[n] Mann-Weib-Antagonismen“, wie sie Baumann grundsätzlich in Schwarzafrika voraussetzen will, genauso wenig die Rede sein könne.Vgl. Thiel 2002, S. 356). Die Ungeteiltheit, prototypisch verkörpert in der Doppelgeschlechtlichkeit bzw. Ungeschlechtlichkeit, ist der unentschiedene wie unentscheidbare Zustand des ‚Zuvor‘ oder ‚Außerhalb‘, des ungeordneten, kategorienlosen Chaos. Die rituell ausagierte Androgynie, Homosexualität, der Geschlechtertausch, die Travestie bis hin zur Kastration ist ein Weg, diesem außersystemischen, buchstäblich ‚unmenschlichen‘ Zustand nahezukommen, kultisch nachzuvollziehen. Dazu gehört ebenso die deviante, pervertierte Heterosexualität, etwa (Tempel)prostitution, Inzest. Aber auf keine Weise ist es ein angestrebter, göttlicher Idealzustand. Die berühmten platonischen Kugelmenschen (Symposion) sind eine spätere philosophische Fiktion.
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erscheint im Norden Ymir. Und ebenso wie an vielen anderen Stellen der Indogermania kennt man hier noch weitere Urwesen, etwa Mannus. Bereits sein Name deutet darauf hin, dass er explizit als erster Mensch gedacht ist, sicher gehört er zu einem ai. Manuṣ, der dort eine ganz ähnliche Sagentradition aufweist wie Yama. Früh wurden diese miteinander verbunden und als identisch betrachtet. Der germ. Tuisto zeigt sich damit als noch durchsichtige (oder wieder durchsichtige) Lehnübersetzung zum ai. Yama. Ymir steht dazu als Synonym, als nicht mehr verstandenes, zum reinen Nomen proprium erstarrtes Namenskonzept.¹²⁵ Im Germanischen scheint sich also nicht nur sehr altes indogermanisches Namensmaterial auf drei vordergründig durchaus unterschiedliche mythische Gestalten zu verteilen, es sind die strukturierenden Elemente selbst, „Grundanschauungen“, wie Güntert jene mythologischen Denkvorlagen nennt, die sich in den einzelnen Figuren in gewisser Weise arbeitsteilig konzentrieren, und gleichzeitig Anlass zu „Variation und Verkettung verwandter Sagenelemente, Namensvertauschung und Synonymbildung“¹²⁶ gegeben haben: I. Grundanschauung: Welt und Menschen entstehen aus dem Opfer eines Urwesens. a) Ein Wesen von riesigen Maßen, aber von menschlicher Gestalt wird geopfert; aus den zerstückelten Körpergliedern entsteht das Weltall. Diese Ansicht beruht auf primitiven Ansichten von der Segen und Kraft verleihenden Macht eines blutigen Opfers (Ymir, Puruṣa, Yama). […] II. Grundanschauung: Die Menschen stammen von einem hermaphroditischen, menschenähnlichen Urgeschöpf (Tuisto, Ymir, Tveggi, Δοίας, Prajāpati, Puruṣa, Zrvān). a) Das Urwesen erzeugt ein Menschenpaar aus sich (Ymir, Puruṣa, Gayōmart). […] III. Grundanschauung: Der erste Gestorbene wird Herrscher im Totenland. a) Der erste Tote ist Herr der Seligen (Yama, Yima) und Totenrichter (Yama). b) Der erste Mensch und Sterbliche ist der Ahnherr des Menschengeschlechts, also schon wegen seiner patria potestas auf Erden ein mächtiger König, von dem besonders die Königsfamilien sich herleiten (Yima, Jamšēd, Yama, Mannus).¹²⁷
Mit dem Namen des vedischen Yama ist der awestische Yima identisch, wenngleich er im Iran eine andere Entwicklung genommen hat. Er ist der Jamšēd der persischen Sage
Vgl. Güntert 1923, S. 338 f. Güntert 1923, S. 392. Güntert 1923, S. 392 f. Siehe auch Oldenberg 1967, S. 319 f: Im Altindischen erscheint Prajāpati als eine Art Urschöpfer, der die Erde schuf, indem er seine Gelenke selbst, freiwillig, löste, also ein freiwilliges Opfer vollbrachte. Von Zeit zu Zeit müssen aber jene gelösten Gelenke wieder gestärkt, geheilt werden, und das geschieht dann durch ein erneutes Opfer an gewissen „Gelenkspunkten“ (Oldenberg 1967, S. 321) des Jahres (etwa Berührungspunkte von Tag und Nacht,Vollmond und Neumond, Anfänge der Jahreszeiten usw.).
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(eine Zusammenfügung von Yima und xšaēta „Yima, der Lichte“, vgl. šēd „Sonne“). Früh scheint auch hier der Eigenname in Verbindung mit dem Epitheton zu einer erstarrten Formel, einem Nomen proprium, geworden zu sein. Güntert geht jedenfalls davon aus, dass „die Vorstellung von Licht und Glanz unzertrennlich mit Yima verbunden [war]“,¹²⁸ er habe xvarənah, „Majestätsglanz als Zeichen besonderer magischer Kraftfülle“¹²⁹ besessen wie Jamšēd. Beide verlieren indes diese Gunst. Yima der Lichte sei zum Lügner und Frevler geworden (siehe Y. 32, 8).¹³⁰ Zunächst aber ist er der „Paradieskönig“, er einigt sich mit Ahuramazdāh, „ein Schützer und Wächter der Welt zu werden“,¹³¹ und damit beginnt eine Art Goldenes Zeitalter,¹³² es gibt kein Alter und keinen Tod, (Y. 9, 5). „[N]icht soll es unter meiner Herrschaft kalten Wind geben, nicht heißen, nicht Krankheit, nicht Tod!“ (Vid. 2, 5).¹³³ Dann aber kommt es zur Katastrophe, strenger Winter mit Eis und Schnee kommt über das Paradies, Überschwemmungen,¹³⁴ bei denen Mensch und Tier ihr Leben lassen müssen. Ahura gebietet ihm, eine feste Burg zu bauen, Wiesen anzulegen, um eben deren Überleben gerade in der Abgeschiedenheit zu sichern. Dieser Darstellung von „Yimas ,Burgʻ“ liege nun sicher eine Vorstellung des „Landes der Seligen“ zugrunde, so Güntert, sogar die grünen Wiesen fehlen nicht (V. 2, 26 und 34), die man in den Vorstellungen vom Paradies so häufig findet, und wenn er „einen Erdwall errichtet, ganz so wie heutzutage die Leute aufgeweichten Lehm auseinanderkneten“ (v. 31 f.), so lautet der alte iranische Namen für einen solchen Lehmwall paridaēza- ,παραδέισος, Paradiesʻ.¹³⁵
Schon der vedische Yama wird als ‚Paradieskönigʻ geschildert, es ist ein bedeutsamer Teil seiner Konzeption: Nach seinem irdischen Tod wird er zum Herrscher eines be-
Güntert 1923, S. 370. Güntert 1923, S. 370. Siehe Zarathustra’s Verspredigten (Bartholomae [Übers.] 1905). Güntert 1923, S. 371. Vgl. Güntert 1923, S. 371. Avesta (Wolff [Übers.] 1910). Hier vermutet Güntert, dass sich der (nichtindogermanische) Sintflutmythos und die Vorstellung einer ausgewählten, paradiesischen Lebensgemeinschaft vermischt haben. Auch in der nordischen Kosmogonie sieht er Anklänge an das Motiv der Sintflut: Aus den Wunden des erschlagenen Ymir fließt so viel Blut, dass darin (mit Ausnahme Bergelmirs und seiner Frau) alle Reifriesen ertrinken müssen (vgl. Güntert 1923, S. 371 f.). Güntert 1923, S. 372. Dieses ,Paradiesʻ wurde von Yima aus der Erde gegraben, als eine Art Höhle, „Yima’s enclosure is an underworld“ (Lincoln 1981, S. 234), so auch der Pahlavi-Text Mēnōg ī Xrād 62, 15 – 19: „The enclosure made by Yima was in the home of the Aryas below the earth, and the genus and species of every creature and creation of Ohrmazd the lord, the best and most choice of men and horses and cattle and birds, each was brought there. And every forty years a child was born to one man and one woman of that place. And their lives were 300 years long, and their pain and misfortune were very slight“ (zit. n. Lincoln 1981, S. 234 f.). Ausdrücklich wird in einer anderen Pahlavi-Glosse zum Vīdēvdāt 2, 41 erklärt, dass es in diesem Garten keinen Tod gebe (vgl. Lincoln 1981, S. 235).
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sonderen Totenreiches, „zum König im Reich der Seligen am höchsten Himmel“, wo nach altindischer Vorstellung „unvergänglicher Glanz [ist], wo das Licht wohnt“, „wo die glanzerfüllten Welten sind“,¹³⁶ eine „durch Tage, Wasser und helle Nächte ausgezeichnete Ruhestätte.“¹³⁷ Epitheta des Lichts, des Glanzes und der Unsterblichkeit kennzeichnen also diese paradiesische Anderswelt, eine zunächst durchgehend positive Konzeption eines Jenseits und seines Verwalters¹³⁸: „Wo unter einem schönbelaubten Baum Yama mit den Göttern zecht, dort sieht unser Vater, der Vorsteher des Gaues, seine Vorfahren wieder“ (X, 135, 1). Den Seligen bereitet er hier ihre Sitze (X, 18, 13) und Aufenthaltsstätte (X, 14, 9); er ist ein „Sammler der Menschen“ […].¹³⁹
Yama ist der Wegbereiter, der Quartiermacher der Toten, so wird er im Totenritual angesprochen: „Yama hat zuerst den Weg gefunden.“¹⁴⁰ Es ist jene heitere, lichte Paradieswelt Indiens, die wir in der europäischen Indogermania wiederfinden, wo gerade die Idee von „feasting, light, beauty, and happiness“ im Zentrum steht, es gibt ebenso die Vorstellung eines gütigen, väterlichen Herrschers über dieses Jenseits, „[t]his picture of Yama as first king, first mortal, first of the dead, so clearly delineated in India.“¹⁴¹ Sie findet sich indes am wenigsten beim etymologisch und auch genetisch am nächsten verwandten germanischen Urriesen Ymir. Gewiss können Grundanschauung I und II relativ problemlos an dessen Schöpfungsmythologeme (wenngleich mit Modifikationen) angeschlossen werden, jedoch scheinen die Quellen auf seltsame Weise zum dritten Aspekt zu schweigen, Ymir erscheint nicht als „Herrscher im Totenland“, als „Herr der Seligen“ oder „To-
Güntert 1923, S. 317. Güntert 1923, S. 317. Die Konzeption des altindischen Jenseitsherrschers scheint sich indes buchstäblich im Lauf der Zeit mehr und mehr verdüstert zu haben: „[A]us dem fröhlichen Ahnherrn, der lustig unter seinem schattigen Baum mit den Göttern und seinen ihn in immer dichteren Scharen umgebenden, nachgekommenen Familiengenossen zecht, wird im weiteren Verlauf der indischen Religion ein finsterer, dämonischer Todesgott, der mit seiner Schlinge die daumengroße Seele seiner Opfer bei dem Tode einfängt und mit sich schleift“ (Güntert 1923, S. 318). Eine mögliche Ursache für diese Entwicklung sieht Güntert im Namen des Gottes selbst: „[F]ür das Sprachgefühl der späteren Inder war nämlich Yamaḥ der ‚Bändiger, Bezwingerʻ, da man seinen Namen mit yamati ‚hält zusammen, bändigt, bezwingtʻ zusammenbringen mußte; […]. Vielleicht ist sogar diese falsche Deutung des Namens an der ganzen Namensverschiebung schuld, die wir feststellten: seitdem man in Yama einen die Menschen bezwingenden Todesgott sah, konnten die Sagen vom Opfertod nicht mehr an seinem Namen haften und schlossen sich an die Synonyme […] an. […].Wir beobachten demnach hier den interessanten Fall, daß die (angebliche) Durchsichtigkeit eines Götternamens den Glauben an das Wesen des Namenträgers wesentlich beeinflussen kann“ (Güntert 1923, S. 390 f.). Güntert 1923, S. 317 f. Güntert 1923, S. 317. Vgl. Rg.Veda (10, 14): „We bring gifts with libation to King Yamá, gatherer of mankind, son of Vívasvat, / Who went forth to the great heights, who showed the path to many. / Yamá first found the way for us; this cattle pasture is not to be borne away from us; / Where our fathers of old [have gone], by this path those who are born after, themselves should go“ (zit. n. Lincoln 1981, S. 225 f.). Lincoln 1981, S. 227.
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tenrichter“¹⁴² (so wenig wie Tuisto, Mannus oder Tveggi). Offenbar hat sich gerade die dritte Güntert’sche Grundanschauung besonders früh von jenem primordialen Zerteilungsopfer wegentwickelt und ist in der Folge als überhaupt nicht mehr zusammengehörig betrachtet worden. Das Keltische (auch wenn eine zusammenhängende Kosmologie hier gänzlich fehlt) hat nicht Weniges davon bewahrt.Von den vielen keltischen Jenseitswelten mag Avalon wohl die berühmteste sein, eine andere mit eher begrenztem Bekanntheitsgrad ist aber gerade für diese Überlegungen nicht uninteressant. So wird eine Insel, südwestlich von Irland gelegen, als Tech Duinn bezeichnet, „Haus des Donn“,¹⁴³ eine Art irische Toteninsel. Im 8. Buch des Lebor Gabála Érenn („The Book of the Taking of Ireland“)¹⁴⁴ wird berichtet, wie diese Insel zu ihrem Namen kam: Donn ist der älteste Sohn des ersten menschlichen Landnehmers von Irland, Míl. Die Tuatha Dé Danann, die mythischen Ureinwohner Irlands, ,Dämonenʻ, leisten allerdings heftigen Widerstand gegen diese Eroberung und setzen ihre magischen Fähigkeiten ein, um die Angreifer zu vertreiben. Die Dindshenchas (eine Sammlung sagenhafter aitiologischer Texte über die Entstehung der irischen Toponymie) wissen darüber Weiteres zu berichten: Donn klettert den Mast seines Schiffes hoch, um Gegenflüche auszuschicken, dabei trifft ihn aber die Hauptwucht des Tuatha Dé Danann-Zaubers und er stürzt tödlich getroffen ins Wasser. Sein Bruder Amairgen erklärt daraufhin, dass „Donn’s folk would forever after travel to his last resting place“,¹⁴⁵ der irische Dichter Mael Muru of Othan (9. Jhr.) beschreibt die Szene: „A stone cairn was raised across the broad sea for his people, / A long-standing, ancient house, which is named the House of Donn after him. / And this was his mighty testament for his hundredfold offspring: / ,You shall all come to me, to my house, after your deathʻ.“¹⁴⁶ Ein primordialer, mythischer Landnehmer, der nicht nur einen Herrschaftsbereich für die Lebenden etabliert, sondern ebenso, nach seinem eigenen gewaltsamen Tod, eine Heimstatt für die Toten ‒ hier sind jene ursprünglichen und gewiss schon alt-
Güntert 1923, S. 393. Meyer 1919, S. 537. Lebor Gabála Érenn 8, 394 f. (Macalister [Hg.] 1956). Lincoln 1981, S. 228. Lincoln 1981, S. 228. Lincoln und Meyer (vgl. Meyer 1919, S. 542) verweisen in diesem Zusammenhang auf eine kurze Textstelle bei Caesar (De bello Gallico 6, 18): Galli se omnes ab Dite patre prognatos praedicant idque ab druidibus proditum dicunt. Der Göttername Dis pater sei gängige römische Bezeichnung für einen Gott der Unterwelt (vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „Dis pater“: „Unterweltsgott, Gemahl der Proserpina“), es sei aber bezeichnend, dass Caesar in der interpretatio romana nicht den dafür üblicheren Name Pluto gewählt habe. Grund dafür sei wohl der Namensbestandteil ,paterʻ gewesen, der auf „this deity’s absolute fatherhood […]“ verweisen sollte, „stating that, within Druidic teachings, the primordial father was also regarded as lord of the dead – precisely the ideology we encountered in Indian sources“ (Lincoln 1981, S. 227). „[H]e is the first king of myth, having won the real Ireland upon his first landing. First king, he is also first to die, and upon his death, he established the realm of the dead to which all his descendants venture when their time comes. In all this, he is strikingly similar to the Indian Yamá and to Caesar’s Dis pater“ (Lincoln 1981, S. 228 f.).
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indischen Strukturen noch vereint. Auch wenn die Sage von explizit paradiesischen Verhältnissen des Reichs des Donn, „the dusky, the dark one“,¹⁴⁷ nichts zu berichten weiß, ist sie doch als tröstliche Aussicht für sein (zukünftiges) Volk und Nachkommen angelegt. Und so kommt auch Kuno Meyer zum Ergebnis: Donn ist mythischer Ahnherr, Gestorbener und Herrscher über ein Totenreich in einer Person, in der Abgeschiedenheit seiner Insel bietet er den Toten ebenso letzte Heimstatt wie der himmlische Yama oder Yima in seinem unterirdischen Paradies: Nach all diesem glaube ich es als gesichert betrachten zu können, daß die heidnischen Gälen an ihre gemeinsame Abkunft von einem Stammesvater Donn glaubten, der zugleich der Totengott war, dessen Wohnsitz auf einer Insel lag, wohin alle echten Gälen nach ihrem Tode kamen. Als Ahnherr und Totengott ist Donn somit das genaue Gegenbild des gallischen Dis pater, der nach Caesar (De bello gallico VI 18) ebenfalls beide Rollen in sich vereinigte.¹⁴⁸
In diesen Vorstellungskomplex einer abgeschiedenen, unzugänglichen, inselhaften Spezifik einer Anderwelt scheint die Seereise prima facie gut zu passen. Insofern scheint es durchaus plausibel, dass die religiöse Vorstellungswelt der nordischen Schiffsbestattungen auf irgendeine Weise damit im Zusammenhang steht. Die BalderBestattung wäre dann ihr mythisches, religiöses, rituelles Korrelat.¹⁴⁹ Schiffe haben im kulturellen Symbolsystem, in der Kollektivsymbolik des Nordens einen zentralen Stellenwert, es ist die prototypische Verkörperung von schneller, effizienter und auch geschützter Bewegung, von einer Reise von A nach B. Das Schiff ist dabei gleichzeitig ,Containerʻ, ,Behausungʻ, in der sich der Mensch für die Zeit der Reise einen eigenen sozialen Mikrokosmos schaffen kann. Das Schiff taucht entsprechend häufig in sakralen Kontexten auf, insbesondere in Bestattungskontexten, in seinen unterschiedlichsten medialen Formen: als rituelle Performanz, als materielle Vergegenständlichungen in der Funeralkultur, in der Ikonographie (bekanntlich schon seit der Bronzezeit), in der Literatur. Nun aber gibt es eklatante Diskrepanzen zwischen narrativer, mythischer wie (pseudo)historischer Erzähl- und Handlungspraxis. Die tatsächlich ausgeübte Ritualpraxis ist für diesen Zusammenhang bei weitem nicht so selbstverständlich. Und auch Egeler, der grundsätzlich von einer religiösen Vorstellung der transmarinen Seereise ausgehen möchte, verweist darauf, dass etwa in den Vorzeitsagas wohl das Motiv der Brandbestattung auf einem Schiff einige Male erscheine, unmittelbar vor der Bestattung werde der Leichnam auf dem Schiff niedergelegt, dennoch werde eine „Funktion des Schiffs als Fahrzeug für die Reise ins Totenreich […] in keinem dieser Zeugnisse ausdrücklich angesprochen“.¹⁵⁰ In keiner der altnordischen Quellen komme, abgesehen von der Balder-Bestattung in der Gylfaginning (und einer weiteren, späten Ausnahme), die Idee der Jenseitsreise übers Meer
Lincoln 1981, S. 229. Meyer 1919, S. 542. Vgl. Egeler 2015a, S.180. Egeler 2015a, S. 120.
4.3 Indogermanische Jenseitswelten
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vor.¹⁵¹ Denn das, was wenigstens bei Snorri erzählerisch ausgearbeitet wird als die wohl gerade vornehmste Aufgabe oder Eigenschaft eines Schiffes, erfüllt es in der Praxis gerade nicht ‒ sich zu bewegen: [O]ne of the realities of the grave ships yielded up from the earth and from literary records is that they do not and have not moved. Erik Moltke (1979 – 80) asserted that up until ca. 1000 C.e. the grave was imagined as a place in which people stayed; therefore a ship in it would probably not have been conceived as a means of transportation to the other world. […]. As a rule, then, funeral ships did not move.¹⁵²
Genauer, sie werden offenbar gerade nicht zu Wasser gelassen, vielmehr erhält ein gewöhnliches, ,profanesʻ Schiff seine Bedeutung als Totenschiff dadurch, dass es aus seinem natürlichen Umfeld, dem Wasser, entfernt wird und auf einen Scheiterhaufen zur Verbrennung, jedenfalls auf einen ausgewählten Begräbnisplatz an Land gebracht wird. Dort wird schließlich ein Grabhügel als letzter Akt des Bestattungsritus darüber aufgeschichtet. Tatsächlich scheint diese Bewegung die einzige Reise, die letzte Reise zu sein, die der Tote unternimmt, die Reise in den Grabhügel. Die Kultteilnehmer sorgen auf diese Weise für Beweglichkeit, ritualisiert, kontrolliert, temporär begrenzt. Und oft genug erscheint diese Möglichkeit anschließend bewusst zurückgenommen, eingeschränkt, wenn nicht gar verhindert. Das Bestattungsschiff des Þorgrímr beschwert Gísli wie als Sicherheitsvorkehrung mit einem schweren Stein, bevor der Grabhügel darüber aufgeschüttet wird (Gísla saga, Kap. 17).¹⁵³ Wir kennen noch andere solche Sicherungsmaßnahmen in diesem rituellen Zusammenhang, das Oseberg Schiff scheint an einem Ankerseil im Grabhügel festgebunden.¹⁵⁴ Welchen Sinn sollte es also machen, das Transportmittel par excellence zwar zur Verfügung zu stellen, in symbolhafter wie realer wie performativer Form, gleichzeitig aber dessen Funktionsmöglichkeit wiederum durch einen symbolischen wie realen Akt zu verunmöglichen? Jedenfalls weisen diese Ritualelemente auf eine explizite Vermeidung, Verhinderung einer Reise hin. Zunächst erscheint hier die Vorstellung eines sicheren und gesicherten, insbesondere prestigeträchtigen Rückzugsorts an Ort und Stelle. Ähnlich wie der Wagen ist das Schiff gut sichtbares, lesbares Zeichen von Ansehen, Bedeutung und Prestige (vgl. lat. praestigiae „Gaukelei, Blendwerk“).¹⁵⁵ Es geht also eher um rituellen Ersatz, Kompensation in einem Begräbniskontext, und hier ist zunächst und immer der therapeutische Fokus auf dem unzufriedenen, be-
Vgl. Egeler 2015a, S. 118 f. Lindow 1997, S. 80 f. Björn Karel Þórólfsson (Hg.) 1943. Eine Maßnahme, die möglicherweise ursprünglich allen Toten zukommen musste, wird hier nur mehr für den besonders missliebigen, rachsüchtigen Toten notwendig. Vgl. Lindow 1997, S. 80. Siehe auch Egeler 2015a, S. 120 f. Vgl. Hardt 2003, S. 415: „Als P[restigegüter] werden Gegenstände bezeichnet, die geeignet sind, den Status und das gehobene Ansehen von Einzelpersonen und Gruppen zu erwirken und nach außen sichtbar zu machen.“
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
dürftigen Toten, aber auch auf dem natürlichen Sicherheitsbedürfnis der Hinterbliebenen. Beweglichkeit wird also substituiert, ‚vorgegaukeltʻ, ist aber am wenigsten realiter beabsichtigt, ja nachgerade gefürchtet. Der Grabhügel ist die Jenseitsinsel, der lundr lognfara, und gerade hier wohl zunächst (noch) nicht im Sinne eines locus amoenus-Konzepts als paradiesischer „windstiller“ Ort, vielmehr ist es der „Hain“, die „Insel“, die der Tote selbst nur ‚windlosʻ, will heißen mit kultischer Unterstützung – und nur so – erreichen kann. Und kein anderer als Freyr ist schließlich ausdrücklich der „Fahrer bei Windstille“,¹⁵⁶ auch um den Antrieb seines Schiffes muss er sich nicht sorgen, wie ‚von Zauberhandʻ bewegt es sich von selbst, ein Umstand, der weiter unter noch genauer betrachtet werden muss. Die Schiffsreise scheint tatsächlich plausibel erst in dem Moment als die ,Inselʻ als Jenseitskonzept in den Mittelpunkt rückte. Sie hat aber mit der Idee der nordischen Glanzgefilde, der Glæsisvellir, dem Ort der Toten, zunächst nichts zu tun. Älter scheint zunächst die Vorstellung eines ausschließlich terranen, abgegrenzten, ummauerten Bereichs, etwa durch einen unüberwindlichen Berg, durch einen undurchdringlichen Wald. Eine gewisse Inselhaftigkeit mag in dieser Anderwelt schon im Indogermanischen angelegt gewesen sein. Siehe die durch Überschwemmungen heimgesuchte Endzeitlandschaft mit der festen, uneinnehmbaren Burg des altiranischen Paradieskönigs Yima, errichtet mit einem Lehmwall, als sicheres Refugium für die Überlebenden. Individuelle wie apokalyptische Endzeitvorstellungen treffen sich bekanntlich seit frühester Zeit. Sie mochten ein Pendant finden in den sumpfigen Marschlandschaften von Avalon/Glastonbury, den endlosen Haffen des östlichen Baltikums und seinen Bernsteininseln (bzw. Fundstätten). Von ausdrücklich transmarinen Vorstellungen ist hier aber tatsächlich (noch) nicht die Rede. Im Grunde genommen weiß auch der Baldermythos nichts von einer inselartigen Anderwelt. Die mythischen Reisenden Hermóðr wie Skírnir zeigen, dass ihre Destination auf dem Pferderücken zu Lande zu erreichen war. Ab irgendeinem Zeitpunkt werden wohl auch im Baldermythos terrane wie marine Paradies- oder Jenseitsverortungen kombiniert worden sein, aber das hat wohl weniger mit realen geographischen, ,reisepraktischenʻ Bedingtheiten einer Fjordlandschaft zu tun,¹⁵⁷ hier mussten einfach zwei sehr unterschiedliche Jenseitstopographien ‚geklittertʻ werden.¹⁵⁸ Entsprechend vermutet auch
Lognfara (Skm 39) gilt als hapax legomenon. Das Erstglied wird üblicherweise mit logn „Windstille“ übersetzt, für das Zweitglied -fari kann theoretisch „Fahrt“ oder das Nomen agentis „Fahrer“ angenommen werden, lognfǫr wäre dann als „windstille Fahrt“ zu verstehen, im Sinne von heimlicher, verschwiegener Fahrt, der lundr als „Hain der Lustfahrten“. Bereits formal schwierig bei diesen Interpretationen erweist sich, dass logn üblicherweise nicht in einem metaphorischen Sinn erscheint, vielmehr sehr konkret die „Flaute“, eben Windlosigkeit bedeutet. Auf semantischer Seite widersprächen sich dann die Konzepte ‚Windstilleʻ und ‚Fahrtʻ. Man hat sich entsprechend damit beholfen, -fari einfach unberücksichtigt zu lassen (vgl. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 96 f.). So Egeler 2015a, S. 518 f. „Very few of the journeys we have studied are presented simply and directly as journeys to the land of the dead, […]. They are mingled with the idea of breaking into a burial mound, of sailing north to a supernatural kingdom, and of calling up the dead at the grave, and the idea of a land of perpetual
4.3 Indogermanische Jenseitswelten
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Hilda Ellis Davidson zwei ganz unterschiedliche Konzeptionierungen, wie diese (für die Lebenden!) erreichbar seien, etwa „the long journey through many dangers, on a supernatural steed or with a supernatural guide, and finally the passing of a difficult barrier to reach the goal, which is set in a realm closely connected with the realm of the dead.“¹⁵⁹ Daneben aber existiere, und wie es scheint mit den älteren Rechten, das Narrativ der „story of penetration into the world of corruption and physical death – the grave itself – where wonderful treasures are to be found by the brave man“.¹⁶⁰ Auch das indoiranische Paradies (pairi.daēza-) ist durch und durch erdhaft, lehmig gedacht.¹⁶¹ Vielleicht ist davon noch eine kleine Spur in den (wenn auch späten) Fjǫlsvinnsmál, im Svipdag-Lied zu finden: Dort gibt es einen Umgrenzungswall um Menglǫds (fantastisch strahlendes!) Anderwelt-Gehöft¹⁶² mit Namen Gastropnir, und der ist expressis verbis aus den Gliedern des Lehmriesen Leirbrimir gemacht, es ist also ein Lehmwall.¹⁶³
life is found strangely counterbalancing the land of perpetual death. We are not dealing here with anything which can be summed up as the expression of a belief […]; it is rather a case of confused traditions, whether literary or religious, passing into the literature, and possibly in some cases of symbolism whose significance has been misunderstood or passed out of mind“ (Ellis 1968, S. 195). Ellis 1968, S. 193. Ellis 1968, S. 193. Vgl. idg. „dheiĝh-“ (Pokorny et al. 1973, S. 833): „Lehm kneten und damit mauern oder bestreichen“; dhoiĝho-s „Gebilde, Wall“, ai. dḗhmi „bestreiche, verkitte“, dēhī ́ f. „Wall, Damm, Aufwurf“, av. pairi-daēzayeiti „mauert ringsum“, pairi-daēza- m. „Umfriedigung“ (daraus gr. παράδεισος), apers. didā „Festung“. ‚Augna gamans / fýsir aptr fán, / hvars hann getr svást að sjá; / garðar glóa mér þykkja / of gullna sali, / hér munda eg eðli unaʻ (Fjm 5). („Zur Freude der Augen treibt’s jeden zurück, / wo er Liebes zu sehen bekommt. / Die Zäune scheinen mir zu glänzen um goldne Säle, / hier wär ich mit der Heimstatt zufrieden“). ‚Segðu mér það, Fjölsviðr! / er eg þig fregna mun / og eg vilja vita: hvat sá garðr heitir, / er með goðum sáat / menn it meira forað?ʻ (Fjm 11). („Sag mir das, Fjölswid, was ich dich fragen werd / und was ich wissen will: / Wie heißt der Wall, bei den Göttern sah / man keinen gefährlicheren Gegenstand?“). ‚Gastropnir heitir, / en ek hann görvan hefk / ór Leirbrimis limum; / svá hefik studdan, / at hann standa mun / æ meðan öld lifirʻ (Fjm 12). („Gastropnir heißt er, und ich hab ihn gemacht / aus Leirbrimirs Gliedern; / so hab ich’s gestützt, dass er immer stehn / wird, solang die Welt besteht“). Lincoln erwähnt in diesem Zusammenhang eine Stelle im Rigveda 7, 89, wo im Rahmen eines Begräbniskontextes von einem „house of clay“ (mṛnmáyam gṛhám) die Rede ist, möglicherweise eine metaphorische, euphemistische Bezeichnung für die Begräbnisurne oder allgemeiner eine Bezeichnung für die jenseitige Welt der Toten, ähnlich „the house of dust“ des Gilgamesch Epos (vgl. Lincoln 1991b, S. 107). Noch zwei weitere Sanskrit-Ausdrücke bezeichnen das Jenseits als Einfriedung mit einem Erdwall, eine Festung mit Mauern aus gehärteter Erde (dehī-). In den Upanishaden erscheint der Name sétu- („Grenzwall“) für eine paradiesische Jenseitswelt, in einem Begräbnistext des Avesta der Begriff *saitu-. In diese Reihe gehöre auch der unterirdische Rückzugsort, das „post mortem realm“ vara-, das Yima für seine Anhänger baute. Indes betont Lincoln, dass diese Lehmbauweise gerade nicht üblichen, indoeuropäischen Befestigungsmethoden entspreche, hier habe man es vorrangig mit Steinbauten zu tun, und wenn tatsächlich Erdbauwälle die Norm gewesen wären, so hätte man sie kaum extra semantisch kennzeichnen müssen. Entsprechend nimmt er ganz im Gegenteil dazu an, dass ganz bestimmte sepulkrale Erdbauwerke, Grabhügel, damit kodiert werden sollten: „The otherworld’s walls are thus seen
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Schließlich beschreibt auch die Snorra Edda Gold/Kristallelemente als Charakteristikum von Jenseitswelten, noch motiviert, wenn auch nicht narrativ ausgearbeitet, etwa als Glasir, ein goldglänzender Baum oder Hain vor den Toren Walhalls, „der schönste bei Göttern wie Menschen“ (Skáldsk 34). Daraus ist die Goldkenning „Glasirs glühendes Blatt“ (Glasis glóbarr) gebildet (Skáldsk 34).¹⁶⁴ Aber es ist auch der Ort der Galgenbäume, der Leichen – vargr hangir fyr vestan dyrr (Grm 10).
4.4 Die Reise des Gilgamesch Die keltischen wie germanischen Mythologien führen also offenbar sehr altes indogermanisches Gedankengut fort und tatsächlich müssen diese Vorstellungen auch nicht auf Indogermanisches reduziert werden, auch in babylonisch/sumerischen Jenseitskonzepten wird man fündig, und auch hier ist das weiße, schimmernde, ,gläserneʻ Jenseits nicht unbedingt ausschließlich positiv konnotiertes Antidot gegen die drohende Finsternis des Todes: In der berühmten Jenseitsreise des mesopotamischen Helden Gilgamesch ist die kristalline Materialität, auf die er dort trifft, ganz im Gegenteil Ausweis der Leblosigkeit, einer faszinierenden, verlockenden, gleichwohl tödlichen Schönheit. Der wohl fast göttliche, aber dennoch sterbliche Held Gilgamesch unternimmt eine kosmisch anmutende Jenseitsreise zur Insel des unsterblichen Utnapishtim und dessen Frau. Untröstlich über den Tod seines geliebten Freundes Enkidu, möchte er etwas über das Geheimnis des Todes erfahren. Sein Reiseweg führt ihn durch unterschiedliche weltliche wie außerweltliche Sphären, weg von der Stadt Uruk, dem Zentrum der Zivilisation, in die lebensfeindliche Steppe, Sinnbild des Chaos, schließlich gelangt er durch einen finsteren Berg in einen lichtdurchfluteten Edelsteingarten. Danach überquert er das ,Wasser des Todesʻ und gelangt ans Ziel seiner Reise. Wir treffen auf die bekannte Motivkombination Insel, Wasser und Strahlen, das sich hier indes zeigt als der kristalline Glanz einer „phantastischen, unbelebten, starren Natur aus Karneol, Lapislazuli und anderen Edelsteinen“.¹⁶⁵ Die Vegetation erweist sich zwar als „wunderschön, aber erstarrt und ungeniessbar, denn sie besteht aus unbelebter Materie“.¹⁶⁶ Kristall ist hier also in
to be nothing more than the burial mound writ large; the otherworld, nothing more than the grave. Such was already suggested with regard to the Old Norse Hel by Gustav Neckel almost seventy years ago, and almost a century ago Abel Bergaigne, who, in considering RV 7.89.1 […] glossed ‚la maison de terreʻ (mṛnmáya- gṛhá-) as ‚la tombeʻ“ (Lincoln 1991b, S. 114). Siehe auch den so genannten Glasislundr der Helgakviða Hjǫrvarðssonar als Wohnort des Königs Hjǫrvarð, von dem in der Prosaeinleitung ein in diesem Zusammenhang aufschlussreiches Detail mitgeteilt wird: Er habe vier schöne Ehefrauen sein Eigen genannt, in auffallender Übereinstimmung zu Guðmunds schönen Töchtern und den keltischen Anderwelt-Frauen (vgl. Krappe 1947, S. 144; Egeler 2015a, S. 37 f.). Pezzoli-Olgiati 2005, S. 238. Pezzoli-Olgiati 2005, S. 239.
4.4 Die Reise des Gilgamesch
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besonderem Maße mit Leblosigkeit assoziiert.¹⁶⁷ Auf seinem Weg ins Jenseits sind alle Elemente in steigendem Maße lebensabweisend, ja tödlich.¹⁶⁸ Diese spezifische Konnotation hat sich im Plausibilisierungsmodell von Jenseitswelten erhalten und kollidiert in gewisser Weise mit der Assoziierung einer paradiesischen Exorbitanz an unbegrenzten Möglichkeiten der menschlichen Bedürfnisbefriedigung, gefasst in den grundsätzlichsten Bedürfnislagen von Sexualität und Essen.¹⁶⁹ Bezeichnenderweise ist es eine „Schenkin“, „eine Vertreterin des Schankgewerbes“,¹⁷⁰ deren moralisches Ansehen im alten Mesopotamien gering gewesen sei, die Gilgamesch nach wechselvoller Reise an einer entfernten Meeresküste antrifft, und ihn (in altbabylonischer Version) zum Genuss jener irdischen Lebensbedürfnisse auffordert, zu Tanz und Spiel und körperlicher Lust.¹⁷¹ Und auch hier findet sich schon das bedeutsamste Charakteristikum der Bewohner dieser Jenseitswelten: Wie Guðmundr verstorbener König und gleichzeitig unverstorbener Ahne ist, sind Utnapishtim und seine Frau die entrückten, vergöttlichen, unsterblichen Ahnen Gilgameschs. So erklärt der vergöttlichte Ahne auf Nachfragen des Gilgamesch, wie es dazu gekommen sei, dass er und seine Frau ewiges Leben erlangt haben. Enlil habe zu ihnen gesprochen: „Bisher war Utnapischtim (nur) ein Mensch, / Von nun an (aber) sollen Utnapischtim und (auch) sein Weib (fürwahr) uns Göttern gleichen / Und wohnen an der Ströme ferner Mündung!“ / Und also nahmen sie mich dann und ließen mich an der Ströme ferner Mündung wohnen.¹⁷²
Siehe ähnlich auch die sagenhafte mesopotamische ‚weiße Inselʻ, das ‚reineʻ Land Dilmun (in der Realtopographie das heutige Bahrain), das sich nur durch eine „Reihe von negativen Aussagen“ (Stolz 2004b, S. 33) charakterisieren lässt. Auch diese Gegenwelt kennt zunächst „noch keine Krankheit, kein Alter“, aber gleichermaßen „noch keine Sexualität“ (Stolz 2004b, S. 33). Hier werde eine Art „vorzeitliches Nicht-Leben“ dargestellt (Stolz 2004b, S. 33), eben jener bewegungslose Urzustand der ‚Stunde Nullʻ, der im Weiteren nur durch massive Übertretungen und Tabubrüche beendet werden kann. Im assyrischen Gründungsmythos folgen nun nicht nur eine Reihe unnatürlicher, inzestuöser, regelloser Geschlechtsakte, sondern ebenso pervertierte Geburtsvorgänge (vgl. Stolz 2004b, S. 34 f.), bis schließlich der ‚Normalzustandʻ, der Status quo erreicht ist. Siehe Röllig (Hg.) 2009, S. 102: Tafel IX, 173 – 188: „Ein Karneol(baum) trägt Früchte, / […]. / Ein Lapislazuli(baum) trägt Blätter, / […]. / „Dort steht auch eine Zeder, hoch aufragend zum Himmel, ihre Äste sind aus Tigerauge und …, / aus Meereskorallen ihre Nadeln, die Zapfen aus (rötlichem) sasuStein. / Statt Dornen und Disteln wachsen darunter Glaskristalle.“ In seinem allgemeinsten Sinn ist somit der locus amoenus ein Ort, der zum Verweilen einlädt (vgl. Kledt 2000, S. 1004), ja recht eigentlich verführt, da er paradiesische, also unbegrenzte Möglichkeiten des Vergnügens, der menschlichen Bedürfnisbefriedigung bereithält. Das heißt nicht unbedingt, dass der Mensch dort keine Tätigkeiten verrichtet (auch wenn Servius in seinem Kommentar zu Vergils Aeneis amoenus ganz offensichtlich als a-munus „frei von Arbeit“ verstanden hat, vgl. Kledt 2000, S. 1004). Aber es sind vergnügliche, kurzweilige, ,spielerischeʻ, konsequenzenlose Beschäftigungen, insbesondere unverbindliche Liebesbeziehungen. Nicht zuletzt ist der Mensch in der Tat frei von landwirtschaftlicher Arbeit (vgl. Kledt 2000, S. 1004), die dem vormodernen Menschen in den allermeisten Fällen vor die Bedürfnisbefriedigung des Essens gesetzt war. Sämtliche locus amoenus-Topoi beziehen sich damit auf die (vollständige) Befriedigung menschlicher Bedürfnislagen. Lanczkowski 1986, S. 18. Vgl. Lanczkowski 1986, S. 18. Lanczkowski 1986, S. 19.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Die „relevanten Leitmotive“, die Egeler in dieser Kombination nur für signifikant hält im keltischen und germanischen Kontext, finden sich also bereits hier alle versammelt: „(1) de[r] Inselcharakter der jeweiligen Anderweltsorte und ihre[ ] Assoziation mit (2) Unsterblichkeit, (3) anderweltlichen Frauengestalten, (4) Sexualität, (5) Licht/ Glanz/Kristall und (6) Gärten.“¹⁷³
4.5 Breiðablik – Bredebliche – Heorot In diesen Wissensrahmen gehört auch der Baldersohn Forseti und seine Wohnstatt Glitnir („die Glänzende“). Und so verwundert im Weiteren auch kaum mehr, dass auch die Skaldik von einer Mitbewohnerin der besonderen Art zu berichten weiß, die Forseti ausgerechnet mit der Unterweltgöttin Hel in Verbindung zu bringen scheint. Glitnir ist Bestandteil einer Kenning des Ynglingatal, die sich eindeutig auf Hel bezieht, wenn auch für Abram dieser Umstand so „obskur“ erscheint, dass eine Interpretation ganz unsicher bleiben müsse.¹⁷⁴ Neben den gut verständlichen Ausdrücken für die
Egeler 2015a, S. 483, nach Heizmann 1998a, S. 95. Um die postulierte Einzigartigkeit dieses Motivplots und damit ausschließliche Signifikanz für den nordischen und irischen Kulturkreis zu untermauern, sieht Egeler Übereinstimmungen zu anderen mythischen Motivkomplexen entsprechend kritisch. So verweist er in diesem Zusammenhang auf eine Erzählung über eine südpazifische Paradiesinsel, die wohl im Motiv der ‚verführerischen Frauenʻ eine gewisse Ähnlichkeit zeige, aber auch darin kaum, da bei diesen die Absicht zur Verführung fehle, selbst unsterblich könnten sie Unsterblichkeit gerade nicht gewähren und von Glanz sei nirgends die Rede. Das spezifische Detail der (trotz der paradiesischen Umstände) Lebensfeindlichkeit der klimatischen Verhältnisse scheint ihm nicht bemerkenswert genug (vgl. Egeler 2017, S. 103 f.). Ähnlicher zum irischen Kontext erschienen gewisse legendäre Anderweltinseln der chinesischen taoistischen Tradition: Hier seien Fauna wie Flora charakterisiert durch Glanz und Weißheit, Edelsteine und Gold, die Bewohner tatsächlich unsterblich durch die Kultivierung eines gewissen Unsterblichkeitskrauts. Andere bemerkenswerte Übereinstimmungen, etwa die ausdrücklich unorganische, unbiologische, kristalline, metallische Weißheit dieser Anderwelten, lässt er unberücksichtigt. Da keine ernsthafte Möglichkeit bestehe, dass diese Konzepte sich historisch beeinflusst haben könnten, also in irgendeiner historischen Abhängigkeit stehen könnten, hält er sie für „quite irrelevant“ für seine Analyse (vgl. Egeler 2017, S. 310). Immerhin könnten sie unter einer gewissen anthropologischen Perspektive von Interesse sein, etwa hinsichtlich eines offenbar gesamtmenschlichen (wenn auch ausdrücklich nicht „universelle[n]“) Bedürfnisses, Anderwelten im Diesseits zu verorten (vgl. Egeler 2017, S. 309 ff.). Aber selbst wenn es sich hierbei tatsächlich um lediglich typologische Ähnlichkeiten handeln sollte, so wäre deren nahezu identisches Erscheinen in Jenseitskontexten an den unterschiedlichsten Orten der Welt doch zumindest methodologisch bedeutsam genug. Es wäre (wieder einmal) einschlägiger Beleg dafür, dass unmittelbare Beeinflussung, eine (historische) Kontaktsituation gerade keine zwingende Voraussetzung für Ähnlichkeit ist. Zum Gilgamesch-Epos ist diese eingeforderte historische Kontiguität wohl gegeben, aber auch bzgl. der chinesischen und japanischen Traditionen scheint es nicht unwahrscheinlich, dass, ähnlich anderen Metamythologemen (z.B. ,Schwanenmädchenʻ, ,göttlicher Schmiedʻ, ,Weltenbaumʻ), von einem Mythenkontinuum ausgegangen werden kann mit einer Ausbreitung über den gesamten (nord)eurasischen Raum von Island bis nach Japan. Vgl. Abram 2003, S. 21 f.
4.5 Breiðablik – Bredebliche – Heorot
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Unterweltgöttin Hel Loka mær, „die Tochter Lokis“, und jódis Ulfs ok Narfa („die Schwester des Wolfes und Narfis“) erscheine in Ynglingatal (7) der Ausdruck Glitnis gnó, „Glitnir’s goddess“.¹⁷⁵ Glitnir sei aber doch gewiss „quite unlike Hel’s dominion“,¹⁷⁶ darüber hinaus seien gar keine weiblichen Wesen in der Glitnirs-Halle bekannt, entsprechend sieht er wenig Hoffnung auf eine Lösung des Problems. Zumindest bei Snorri könne man nicht fündig werden: Gylfaginning is little help here in unlocking the meaning of Þjóðólfr’s kenning. Neither Snorri nor Grímnismál offers up any plausible alternative to Hel as the referent of Glitnis gnó; the only figure associated with Glitnir is male: Forseti, Baldr’s (otherwise unknown) son. Thus, if Glitnir in Ynglingatal refers to the same hall as these other texts, it provides no hope of a solution: no analogous female figure shows up in the tradition as it is preserved.¹⁷⁷
Genauso wenig sieht er vergleichbare Parallelen für die Vorstellung eines ,sexuellen Vergnügensʻ, das die Todesgöttin an den Leibern der männlichen Verstorbenen habe.¹⁷⁸ Nicht rechtverständlich lässt Abram damit aber den gesamten Walkürenkomplex außer Acht, der neben all seinen grausamen und durchaus plastisch geschilderten Verbindungen zum Tod in der Schlacht mit hocherotischen Konnotationen aufgeladen ist. Umgekehrt steht gerade der so genannten ‚Liebesgöttinʻ Freyja die Hälfte der Gefallenen auf dem Schlachtfeld zu,¹⁷⁹ auf die tödlichen Umarmungen der Proserpina (bzw. der Nanna) in Balderus Träumen sei an dieser Stelle nur verwiesen. Hingegen möchte Kristen Mills diese ungewohnte Assoziation von ,glänzender Himmelshalleʻ und ,Reich des Todesʻ (wenn auch nur als subtile Möglichkeit) in Verbindung zu Forsetis Eltern Balder und Nanna sehen. Deren Aufenthaltsort sei schließlich explizit das Reich der Hel. Warum sollte also nicht auch eine ähnliche gedankliche Verknüpfung für deren Sohn angenommen werden? While Forseti has no direct link with Hel in extant sources, if Snorri is correct in assigning his parentage to Baldr and Nanna, then there may be a tenuous connection between Hel and Forseti, as Baldr and Nanna dwell there after death. […] Given the paucity of evidence assigning Glitnir to Forseti, I see little reason to assume that Glitnir could not, in some traditions, have been a name for Hel’s abode.¹⁸⁰
Kveðkat dul, / nema Dyggva hrør / Glitnis gnǫ / at gamni hefr, / þvít jódís / Ulfs ok Narfa / konungmann / kjósa skyldi; / ok allvald / Yngva þjóðar / Loka mær / of leikinn hefr (Yt. 7). („I do not doubt but that Glitnir’s goddess has Dyggvi’s corpse for pleasure; the sister of the wolf and Narfi had to choose a king-man. Loki’s daughter has taken the ruler of Yngvi’s people“ [Hollander (Übers.) 1967, S. 20]). Abram 2003, S. 23. Abram 2003, S. 24. Vgl. Abram 2011, S. 90. Siehe insbesondere dazu Heizmann 2001b; Egeler 2011; Egeler 2012. Vgl. Mills 2013, S. 201 f. Vgl. Mills 2013, S. 196 f.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Es ist der strahlende Goldglanz von Forsetis Wohnstatt, hier in der Kenning ganz offensichtlich als Todesattribut ausgewiesen, der Mills noch zögern lässt, ohne Not, wie sich nach dem bisher Dargelegten gezeigt hat, auch ihr vorsichtiger Vorschlag, die besondere Fähigkeit des Gottes unter diesem Aspekt zu betrachten, ist durchaus erwägenswert. Tatsächlich vermag Forseti buchstäblich allen Streit „einzuschläfern“ (svæfir allar sakar). Eine wie auch immer geartete Todesassoziation scheint gerade hier mitzuschwingen: Snorri states that the quarrels settled by Forseti are legal disputes, and that all who come to him with a dispute leave satisfied by his judgment. However, Grímnismál says nothing about people leaving, and the „putting to sleep of all quarrels“ could conceivably be a euphemism for death, although I would not want to push this point too far.¹⁸¹
In jedem Fall passt es zum Charakteristikum der typischen Jenseitsinsel, die nicht mehr verlassen werden kann, ja recht eigentlich den Wunsch nach Rückkehr überhaupt verschwinden lässt. Und es passt besonders gut zu der Vorstellung der verführerischen Anderweltfrauen, die den Herrscher über dieses Jenseitsreich darin unterstützen. Die Jenseitsnatur von Balders und Nannas Aufenthaltsort bei Hel ist unbestritten, aber offenbar gehört sie bereits zu ihrer ureigensten, strahlenden Heimstatt Breiðablik. Snorri schreibt diesem Ort Abwesenheit von Unreinheit zu, Breiðablik zeichnet sich also durch strahlende Reinheit aus, eine Entsprechung zur typischen, strahlenden Weißheit der jenseitigen Landschaften. Und gerade die Erwähnung der Abwesenheit von feiknstafi („Fluchrunen“, „Unheilsstäbe“) fasst die wohl wichtigste und ursprünglichste Eigentümlichkeit dieser Welten: Balders Wohnstatt ist ein Ort, der keine Todesverfallenheit (vgl. feigr „dem Tode verfallen“) kennt. Das entspricht in genauem Wortsinn dem Ódáinsakr, dem „Feld des Unverstorbenen“. Es ist Breiðablik selbst, das bereits alle Kennzeichen eines Jenseitsortes in sich trägt, in Glitnir wird dieses chthonische Elemente expressis verbis in einer Kenning gefasst, unabhängig davon, ob man Balders Sohn Forseti ein Wohnrecht darin einräumen will oder letztendlich ein Synonym für Balders Göttersitz selbst sehen will. Auch in den formelhaften Beschreibungen griechischer Heroengräber, also dem konkreten Ort, wo Totenkult, Ahnenkult betrieben wurde, wo den verstorbenen Helden Verehrung zuteilwurde, finden sich literarische Entsprechungen. Schon in den frühesten Nennungen werden deren Grabstätten mit den Epitheta „τηλέφαντον“ oder „τηλεφανὴς“ („weit leuchtend“, „weithin sichtbar“) bezeichnet.¹⁸² Es ist eine genaue Entsprechung zur Bildungsweise des altnordischen Breiða-blik. Pindar (Isthm. fr. 5) verwendet den Ausdruck für die Beschreibung des Grabes des Kinder-Heroen Meli-
Mills 2013, S. 196, Anm. 649. Die Aneinanderrückung von ,Todʻ und ,Schlafʻ ist in der langen Geschichte der Thanatologie indes immer eine der naheliegendsten gewesen. Vgl. Pache 2004, S. 137.
4.5 Breiðablik – Bredebliche – Heorot
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kertes.¹⁸³ Corinne Pache erkennt hier die typischen Elemente der altgriechischen Heroen-Kultsprache: Melikertes (Palaimons) Tod muss mit „γέρας“ („Ehren“), also adäquaten Begräbnisriten kompensiert werden, und diese müssen „τηλεφανὴς“ sein, „weithin sichtbar“ gemacht werden. Das berühmte Heldengrab des Agamemnon (Od. 24, 83‒84) ebenso das Grab des Achill werden mit ähnlicher Terminologie beschrieben. Heldengräber besitzen also diese Eigenschaft der auffälligen Sichtbarkeit, des Strahlens, die auf diese Weise nicht nur über dem (geographischen) Raum, sondern auch über der Zeit stehen, diese gewissermaßen transzendieren.¹⁸⁴ Und auch Breiðablik scheint ja ein durchaus diesseitiges, irdisches Pendant zu besitzen: Schon früh ist bemerkt worden, dass eine von Menschenhand geschaffene Halle mit auffallend ähnlichen Worten beschrieben wird: die prachtvolle ,Hirschhalleʻ Heorot des angelsächsischen Epos Beowulf¹⁸⁵: Von „weithin strahlendem Glanz“ sei diese, líxte se léoma ofer landa fela („fernhin leuchtet’ es über viele Lande“),¹⁸⁶ von unvergleichlicher Berühmtheit, einem Ruhm, der sogar den der Königsburg in den Schatten gestellt habe.¹⁸⁷ Tatsächlich erscheint nur an dieser einzigen Stelle im Altenglischen das im Übrigen auch im Altnordischen sehr seltene feiknstafr: nalles fācenstafas / Þēod-Scyldingas þenden fremedon (V. 1017), „mit Freveln waren / Befleckt noch nicht die Fürsten der Dänen“. Und auch die ,Reinheitʻ der Halle, die Notwendigkeit zur Wiederherstellung ihrer Reinheit wird mehrfach hervorgehoben, gewiss im Sinne einer kultischen Reinheit, einer sakralen Restauration.¹⁸⁸ Diese wörtlichen Übereinstimmungen sind jedenfalls kaum zufällig: Heorot wird bekanntermaßen mit einigem Recht im dänischen Lejre, jenem berühmten Zentralort auf Seeland vermutet, in englischen wie skandinavischen Traditionen der Stammsitz des legendären dänischen Skjǫldungen-Geschlechts. Aber auch Balder ist damit genealogisch wie räumlich (wie im Übrigen auch der Gott Freyr/Fróði) aufs engste verknüpft. In den verschiedensten dänischen Chroniken wird Balder erwähnt, stets in Verbindung mit dem seeländischen Königshaus: Gerade Saxo Grammaticus kennt Balder ganz im Gegen Der Knabe fällt dem (göttlich induzierten) Wahnsinn seiner Mutter zum Opfer (siehe das ähnliche Schicksal der Kinder von Medea oder Herkules). Ino stürzt sich mit ihm von einem Felsen herab ins Meer und wird dadurch zur ,weißen Göttinʻ, zur Leukothea. (Siehe Ovid, Met. 4, 506‒542). Vgl. Pache 2004, S. 137. Gering (Hg.) 1906. Vgl. Beow. V. 305 – 311: „[D]ie Wache am Schiff / Hielt ein tapf’rer Krieger. Der Trupp der Gauten / Eilte aufwärts, bis ihr Auge schaute / Das glänzende Haus, das goldgezierte, / Wo der Herrscher saß. Unterm Himmelsdache / War nicht eins so berühmt bei den Erdbewohnern; / Fernhin leuchtet’ es über viele Lande.“ Vgl. Sarrazin 1897a, S. 368. Sarrazin verweist auf zahlreiche weitere Belegstellen, die ausdrücklich die „Pracht und den Glanz“ des Bauwerks thematisierten. Vgl. Sarrazin 1897a, S. 371: Für die ,Reinigungʻ der Halle (Beow. V. 432, 825, 1176, 2352) wird das Verb fǣlsian, „wieder in einen guten Zustand bringen“, „reinigen“, verwendet, was nach Sarrazin in eine sakrale Richtung deute. Ebenso werde das dazugehörige Adjektiv fǣle „mit vorliebe auf personen und sachen angewandt […], mit denen der begriff der heiligkeit verbunden ist.“ Der Autor vermutet als ursprünglichen Sinn ,zum Opfer geeignetʻ und vergleicht damit altn. falr, ahd. feili, mhd. veile, „verkäuflich“. Siehe auch mndd. vēlich, „beschützt, sicher“ (vgl. Kluge/Seebold 2002, „feil“).
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satz zu Snorri als ,Halbgottʻ und legendären König, so wie er auch bei Æthelweard in der angelsächsischen Königsliste des Hauses Wessex (anstelle eines üblichen Beldeg, Bældæg) geführt wird.¹⁸⁹ Und am dänischen Stammsitz befindet sich nun Heorot, als auffallender, beeindruckender Prestigebau geschildert, schon Gregor Sarrazin denkt hier an keine „gewöhnliche bier- und schmaushalle“,¹⁹⁰ er vermutet eine spezifische, rituelle Funktion, die weit über die Gebrauchsfunktion einer lediglich profanen Festhalle hinausgeht. Nun wirkt tatsächlich bereits die Beschreibung formelhaft, ebenso hymnisch wie stereotyp, nach Art einer ritualisierten Redegewohnheit. Neben vielen durchaus realistischen Details ‒ ein historisches Pendant wird in den seit einiger Zeit auch archäologisch nachweisbaren baulichen Hinterlassenschaften von zwei eisenzeitlichen Hallen in Lejre für zumindest möglich gehalten,¹⁹¹ ist es gerade der Goldglanz insbesondere des Daches (der Beowulf-Poet scheint gar den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Gebäude sogar in der Nacht ,strahleʻ¹⁹²), der immer wieder Anlass zu Zweifeln an der Wirklichkeitstreue der Beschreibung gegeben hat¹⁹³: The only surprising aspect of the depiction of Heorot in Beowulf is the assertion that the dryhtsele was a golden or shining building. On the one hand, the poet provides numerous realistic details regarding the structure; on the other hand, he introduces an unlikely and almost magical visual element more suitable to a saga or folktale than to an epic drawing on historical characters and events.¹⁹⁴
Bereits in der klassischen antiken Literatur sind die tecta aurata, die „goldbedeckten Dächer“, bei profanen wie sakralen Prestigebauten als literarisches Stereotyp gut bekannt (wiewohl es diese zumindest teilweise in der Realität so auch gegeben hat).¹⁹⁵ Adam von Bremen berichtet im 11. Jh. vom ‚goldenenʻ Tempel in Uppsala, ein Gebäude, das er freilich nicht aus eigener Anschauung gekannt hat.¹⁹⁶ Auch hier erscheinen die einzelnen Details durchaus nicht realistisch, sie mögen ebenso biblischen wie christlichen oder antiken literarischen Topoi entnommen sein, dennoch findet sich in manchen Details eine auffallende Ähnlichkeit zur Schilderung von Heorot: die große Berühmtheit, der überirdische Goldglanz, das ,weithin Entgegenleuchtenʻ.¹⁹⁷ Die
Vgl. Schier 1995, S. 138. Sarrazin 1897a, S. 368. Siehe dazu die systematische Untersuchung von John Niles (Niles und Osborn 2007). Vgl. Wentersdorf 2007, S. 415. Vgl. Wentersdorf 2007, S. 413 – 16. Wentersdorf 2007, S. 413. Vgl. Wentersdorf 2007, S. 421– 23. Vgl. Niles 2007, S. 171, Anm. 5. Adam von Bremen (4, 26) berichtet von dem „sehr berühmten Tempel“ (Nobilissimum illa gens templum habet), dass dieser „ganz von Golde“ gearbeitet gewesen sei (totum ex auro paratum est), ebenso wie Scholion 135 dazu weiß, dass den Tempel eine „goldene Kette [umgibt], welche an dem Giebel des Gebäudes hängt und den Herankommenden weithin zublinkt, ,,darum weil das Heiligthum selbst im Thale gelegen und ringsum wie ein Theater von Bergen umgeben ist“ (Laurent [Übers.] 1893,
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nordische Literatur kennt goldene, goldstrahlende oder goldbedeckte Gebäude jedenfalls ausschließlich als Wohnungen der Götter,¹⁹⁸ also mit explizit mythologisch religiöser, fiktiver Referenz. Aber aus welchem Grund sollte der altenglische Dichter dieses Motiv gewählt haben? „Since gilded roofs were not a demonstrable or likely feature of Anglo Saxon architecture, why might the Old English poet have elected to introduce this exotic element into his descriptive references to Hrothgar’s longhall?“¹⁹⁹ Wentersdorf denkt an eine didaktische Funktion: Die Gier nach Gold, die menschliche Hybris finde in der Zerstörung all dieser Pracht ihre letztendlich gerechte (göttliche) Strafe.²⁰⁰ Vom Standpunkt eines christlichen Schreibers mag eine solche Überlegung durchaus plausibel sein, aber sie ist wohl nicht die ursprüngliche. Der strahlende, nahezu übernatürliche Glanz entstammt einem anderen Wissensrahmen. Christliche Didaxe einschließlich ihrer moralischen Implikationen wären den Grímnismál ohnehin fremd. Natürlich geht es zunächst um die Kennzeichnung einer sagenhaften, ungewöhnlichen Exorbitanz, aber es ist wohl weiters zu vermuten: Heorot wie der Uppsala-Tempel sind gezielt als Jenseitsstätten, als Stätten der Toten markiert worden. Sie sind die irdischen Pendants zu den gleichermaßen strahlenden, himmlischen Göttersitzen. John Niles hat einen ähnlichen Eindruck: The hall is literally described as „the foremost of the halls under heaven for earth-dwellers“ (309 – 310). It is as if, while never directly alluding to Christian cosmology, the poet wished to make an implied comparison to (or contrast with) a brilliant hall or brilliant halls in heaven, inhabited by the denizens of that place.²⁰¹
Die dänische Überlieferung weiß nichts von Heorot, aber sie kennt Bredebliche, sprich Breiðablik. Auch Bredebliche liegt keineswegs im Himmel, sondern auf Seeland, in Lejre, darüber hinaus weiß Johannes Messenius in seiner Scondia illustrata zu berichten, dass Balder dort nicht nur ein sehr irdisches Herrscheramt innehatte, sondern auch mit Kulthoheit versehen war, er soll eine neue Art des Opfers eingeführt haben, „novum Diis sacrificandi morem instituit“.²⁰² Sarrazin ist der Erste, der auf den Namen S. 223). (Catena aurea templum illud circumdat pendens supra domus fastigia, lateque rutilans advenientibus, eo quod ipsum delubrum in planitie situm montes in circuitu habeat positos ad instar theatri (Schmeidler [Hg.] 1917, S. 257 f.). Vgl. Wentersdorf 2007, S. 416 f. Wentersdorf 2007, S. 424. Vgl. Wentersdorf 2007, S. 425 f. Niles 2007, S. 172, Anm. 6. Is protinus in loco Bredebliche sub Lethra prope Roschildiam sito, novum Diis sacrificandi Morem instituit (Peringskiöld [Hg.] 1700 – 1705, S. 5). Thietmar von Merseburg (I, 9) berichtet von Opferritualen, einschließlich Menschenopfern, in Lejre: „Hier will ich aber doch die wunderbaren Geschichten, die ich von ihren Opfern gehört habe, nicht unberührt lassen. Es ist ein Ort in jenen Gegenden, Namens Lederum [Leire], die Hauptstadt jenes Reiches im Gau Selon [Seeland], wo immer nach Verlauf von neun Jahren im Monat Januar, um die Zeit, wo wir die Erscheinung Christi feiern, Alle zusammenkamen und ihren Göttern 99 Menschen und eben so viele Pferde nebst Hunden und Hähnen, die man in
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Bredebliche der schwedischen Chronik hinweist als Name der Wirkungsstätte Balders.²⁰³ Und zwar ganz offensichtlich unabhängig von der isländischen Überlieferung ‒ die Lieder-Edda oder Handschriften der Snorra Edda in Kopenhagen waren zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Messenius musste bereits 1616 in finnische Verbannung gehen und hatte von da an für lange Zeit keinen Zugang mehr zu schwedischen Bibliotheken.²⁰⁴ Es spricht wohl Vieles dafür, dass die irdische Glanzhalle Heorot nicht nur ein ideelles Abbild, eine Vorstellung (mehr oder weniger fiktiv oder literarisch typisiert) zu ihrer mythischen Entsprechung Breiðablik/Glitnir sein sollte, sie scheint auch weniger Ort der Herrschaft und Königswürde zu sein²⁰⁵ als vielmehr Teil einer Kultinszenierung, Teil einer Konzeptionierung einer Rituallandschaft, des ,Kult-Konzepts Lejre‘. In seiner ganzen Erscheinungsform, in seiner Opferpraxis ohnehin, gleicht es Uppsala auffallend. Vielleicht nirgendwo mehr wird die tiefe, enge Bezogenheit der beiden Götter Balder und Freyr augenscheinlicher als am Ort ihrer Verehrung.
4.6 Bleiche Blumen: Bleikir akrar ok slegin tún Die ‚Blumenhaftigkeitʻ Balders wird nun anders beurteilen werden müssen. Sie ist wohl zunächst rein körperliche Eigenart, ihre Bedeutsamkeit erhält sie aber letztendlich als konstitutives Element, als Markierung eines mythischen Raums. Kauff-
Ermangelung der Habichte darbrachte, opferten, indem sie für gewiß glaubten, daß diese ihnen bei den Göttern der Unterwelt Dienste leisten und dieselben wegen ihrer begangenen Missethaten mit ihnen aussöhnen würden“ (Laurent [Übers.] 1848, S. 17 f.). Die Ähnlichkeit zur Überlieferung von Adam von Bremen über die Opferpraktiken in Uppsala ist offenbar: „Auch pflegt alle neun Jahre ein allen schwedischen Landen gemeinsames Fest in Ubsola gefeiert zu werden. In Bezug auf dieses Fest findet keine Befreiung von Leistungen statt. Die Könige und das Volk, alle schicken ihre Gaben nach Ubsola, und ‒ was grausamer ist als jegliche Strafe ‒ diejenigen, die bereits das Christenthum angenommen haben, kaufen sich von jenen Ceremonien los. Das Opfer nun ist folgender Art. Von jeder Gattung männlicher Geschöpfe werden neun dargebracht, mit deren Blut es Brauch ist, die Götter zu sühnen. Die Körper aber werden in dem Haine aufgehängt, der zunächst am Tempel liegt. Dieser Hain ist nämlich den Heiden so heilig, daß jeder einzelne Baum durch den Tod oder die Verwesung der Geopferten geheiligt erachtet wird. Dort hängen auch Hunde und Rosse neben den Menschen, und von solchen vermischt durcheinanderhängenden Körpern habe er, erzählte mir ein Christ, zweiundsiebenzig gesehen. Uebrigens sind die Lieder, die bei der Vollziehung eines solchen Opfers gesungen zu werden pflegen, vielerlei und unehrbar, und darum besser zu verschweigen“ (Gest.Ham. 4, 27). Vgl. Sarrazin 1897b, S. 392 f. Vgl. Schier 1995, S. 135– 137. Vgl. Christensen 2007, S. 29: Nicht ganz klar scheint, was Thietmar von Merseburg in seiner Beschreibung der Lejre-Opfer mit dem Zusatz „die Hauptstadt jenes Reiches“ (caput istius regni) meint, ohnehin eine spätere Hinzufügung, die aber möglicherweise von ihm selbst stammt. Christensen gibt zu bedenken, dass die Hauptstadt eines Landes doch wohl weit über seine Grenzen hinaus bekannt und entsprechend als solche erwähnt sein müsste. Wenn indes Lejre in der altnordischen Literatur erscheine, dann bestenfalls in eher obskuren Anspielungen, aber niemals als Hauptstadt.
4.6 Bleiche Blumen: Bleikir akrar ok slegin tún
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mann erschien Balders Charakterisierung „gezwungen und seltsam“,²⁰⁶ ohnehin der besondere Akzent auf dessen Körperschönheit irgendwie verdächtig,²⁰⁷ die fragile Ästhetik von Blumen, deren Kurzlebigkeit, gewiss auch die Implikation des leichten Pflückens machte den Vergleich mit einem altnordischen Krieger befremdlich. Gleichwohl ist dieses Evokationspotenzial gezielt für Balder ausgewählt worden: Es ist ein Wissensrahmen, der auf die Hinfälligkeit Balders, seine Anderweltlichkeit verweist. Gerade in rituellen Begräbniskontexten erscheinen Blumen als duftiges, olfaktorisches wie ästhetisches Antidot, als Gegensemantisierungen eines Todesbildes, in dem Zerfall und Verwesung primär behandlungsbedürftig erscheinen. In einem mythischen Denkmodell markieren sie jenen fragilen Kipppunkt zwischen äußerster Harmonie und Harmlosigkeit, kindlicher wie jungfräulicher Unschuld und abgrundtiefem Grauen. Entsprechend ist auch die Ambivalenz dieses Wissenskonzepts allerorten spürbar, letztendlich findet es in einem hochverdichteten mythischen wie literarischen Topos seinen Ausdruck: Todgeweihte pflücken Blumen. Die berühmteste Blumenpflückerin ist dabei gewiss Persephone, die Tochter der Demeter. Und es wird ihr zum Verhängnis. In einem Narzissenfeld, tief in ihre Aktivität versunken, wird sie von Hades überrascht und in die Unterwelt entführt. Der Gründungsmythos der Nemäischen Spiele weiß vom Kind Opheltes, das beim Blumenpflücken (oder im Schlaf, erschöpft vom Blumenpflücken) von einer riesigen, gelbäugigen Schlange erdrückt wird: „[A]s Persephone’s plucking the narcissus precipitates one chain of events, so Opheltes’ plucking of flowers precedes the serpent’s attack and opens up the door to Hades, as it were. There seems to be a thematic connection between flower-picking and death.“²⁰⁸ The contrast between the inherently peaceful scene of the small child playing with grass and flowers and the sudden attack of the serpent is striking. The parallel between Opheltes and Persephone’s fate is once again unmistakable: meadows are peaceful places where the most dangerous events take place; the flowery leimōnes of ancient Greece, moreover, are often found close to, or even in, the underworld.²⁰⁹
Noch mehr Details weiß der Mythograph Hyginus zu berichten,²¹⁰ so habe ein Orakelspruch verboten, das Kind Opheltes auf dem Boden abzusetzen, bis es groß genug sei, selbst zu laufen. Hypsipyle, die Kinderfrau, aber setzt das Kind inmitten einer wilden Selleriewiese ab. Und hier ereignet sich die Attacke der Schlange ‒ für den
Kauffmann 1902, S. 62. Vgl. Kauffmann 1902, S. 58 f. Pache 2004, S. 99. Siehe die Blumen pflückende Guinevere der Arthuslegende als Vorspiel zum Raub durch den keltischen Unterweltfürsten Melwas. Pache 2004, S. 101. Zusätzlich impliziert die Semantik von λειμών eine Vorstellung von ‚Feuchtigkeitʻ. Ausdrücklich ist damit die feuchte Wiese als „feuchter, grasreicher Ort, Au“ gemeint, dazu etwa λίμνη f. „stehendes Wasser, Teich, See, Sumpf“ (Frisk 1960 – 1972, „λειμών“). Siehe Hyginus Mythographus: Fabulae, 74 (Marshall [Hg.] 2002, S. 73 f.).
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antiken Rezipienten am wenigsten unerwartet.²¹¹ Auch Statius beschreibe zunächst eine paradiesähnliche, bukolische Szenerie. Aber trotz oder gerade wegen der Schlaflieder, die zur Beruhigung des Kindes vorgetragen werden, birgt dieses friedvolle Bild gleichwohl ebenso intrinsisch sein schieres Gegenteil.²¹² Pache vermutet, dass hier gezielt Motivelemente des (alt)griechischen Wiegenlieds narrativ verarbeitet worden sind, um eine implizite Verbindung zum Tod herzustellen: Yet the combination of child, meadow, and flowers also spells danger, and the reader knows that the bucolic setting is more threatening than reassuring. […]. Thus we find again the themes that are also central to Bacchylides and Euripides’ versions of the story: flower-picking and falling asleeep as a prelude to death.²¹³
Tatsächlich scheint auch die Isländersaga diese floralen Todesimplikationen zu kennen, für vorliegende Überlegungen umso bedenkenswerter, weil dieses Genre romantische Ausgestaltungen von Naturschönheit als literarisches Motiv nicht kennt: Berühmtes Beispiel etwa der verhängnisvolle Sinneswandel eines Protagonisten der Njáls saga, Gunnarr von Hlíðarendi, der ausgerechnet durch den Anblick einer frisch gemähten Wiese, eines bleichen (zur Ernte reifen Kornfelds), überhaupt der Schönheit der ihn umgebenden Landschaft zur Umkehr bewogen wird: „Schön ist der Hang, so schön ist er mir noch nie erschienen, die gelben Kornfelder und die gemähten Wiesen, und ich werde wieder heim reiten und nirgendwohin fahren“ (Nj, Kap. 75).²¹⁴ In der Folge bedeutet dies seinen Tod. Eine Szenerie, die die Saga-Forschung nicht wenig befremdet hat, eine fast schwärmerische Ansprache, die beispiellos sei in der Sagaliteratur,²¹⁵ die sich gerade aufgrund des üblicherweise kompletten Fehlens von „florid descriptions of both landscape and emotions“ auszeichne,²¹⁶ – ebenso beispiellos wie die ,kamillegleichenʻ Augen des Balder. Böldl weist frühere Interpretati-
Eppich oder Sellerie, apium graveolens (griech. σέλινον), unter dem heute der gewöhnliche Küchensellerie zu verstehen ist, galt im antiken Mittelmeerraum als ausgesprochen wirkmächtige Pflanze. Noch im heutigen Griechenland gilt er als Glückspflanze (vgl. Murr 1890, S. 172). Sein Gebrauch zusammen mit Knoblauch und Zwiebeln deutet auf einen apotropäischen Charakter. Der Sellerie bevorzugt feuchte Standorte, Sumpfgebiete oder Flussauen, schon Homer erwähnt den „die Grotte der Kalypso schmückende[n] σέλινον“ (Od. 5, 72). Wohl auch aufgrund seines stark aromatischen Geruchs spielt er (wie so häufig bei stark riechenden Gewächsen) eine besondere Rolle im Totenbrauchtum, vgl. Murr 1890, S. 172. Nach Plutarch sei der Eppich zum Bekränzen der Toten sowie deren Gräber verwendet worden, er war typische Totenmahlspeise, weshalb er auch als böses Omen galt (Plut. Timol. 26). Vgl. die sprichwörtliche Redensart: „Es gibt nur noch Eppich für ihn“ für einen Sterbenskranken. In den Isthmischen Spielen, die ebenso wie die Nemäischen Spiele ihrem Ursprung nach Begräbnisspiele sind, wurden Eppichkränze verliehen (vgl. Murr 1890, S. 172 f.). Siehe Statius: Thebais 4, 786 – 93. Vgl. Pache 2004, S. 106 f. Pache 2004, S. 107. Fǫgr er hlíðin, svá at mér hefir hon aldri jafnfǫgr sýnzk, bleikir akrar ok slegin tún, ok mun ek ríða heim aptr ok fara hvergi (Einar Ólafur Sveinsson [Hg.] 1954). (Übers. Böldl 2005, S. 275). Vgl. Böldl 2005, S. 251. Rudd 2016, S. 143 f.
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onsansätze „germanischer Schollen- und Naturverbundenheit“ zu Recht zurück, aber es ist wohl auch nicht Ausdruck (zumindest nicht primär) „der Bindung an seine [Gunnars, d.Verf.] florierende Wirtschaft“.²¹⁷ Es ist vielmehr Rezeptionshinweis für die Todesverfallenheit des Helden (vereindeutigt durch die Kombination mit einem bis heute gut lesbaren Unheilsmotiv: das Straucheln des Pferdes.) Das Korrelat der gemähten Wiesen (slegin tún) sind ja die gepflückten Blumen in ihrer hinfälligen Schönheit, die bleikir akrar evozieren in ihrer bleichen Weißheit nicht minder starke Jenseitsassoziationen. Nun ist die Blumenmetaphorik auch und gerade bedeutsamer Teil einer christlich religiös motivierten Formensprache,²¹⁸ die wiederum nahezu durchgehend mit einer Licht- und Glanzmetaphorik kombiniert ist. Stereotyp sind sie in der christlichen Apokalyptik-Rhetorik. Paradies-, Utopie-, Jenseitstopographien ‒ einschließlich ihrer Bewohner ‒ werden dermaßen gekennzeichnet. Und dazu gehört (neben Christus oder Engelserscheinungen) gerade eine besonders herausgehobene Gruppe: Es sind die Verstorbenen, die im Jenseits weilenden Märtyrer. Exklusive (christliche) JenseitsBewohner erscheinen in strahlender, duftiger Weißheit. Schon in den frühesten Apokryphen-Texten werden wir diesbezüglich fündig, etwa im griechischen Manuskript des sogenannten Akhmîm-Codex der Petrus-Apokalypse (ApkPetr., ca. erste Hälfte 2. Jh.), bezeichnenderweise eine Grabbeigabe, aber auch in kanonischen Bibeltexten, allen voran im 2. Brief des Petrus (2 Petr.). Zwischen beiden werden ohnehin wie auch immer geartete ideengeschichtliche und wohl auch literarische Zusammenhänge vermutet.²¹⁹ Die paradiesischen Jenseitstopoi sind hier von besonderem Interesse: Christus führt die Apostel auf einen Berg und offenbart ihnen in einer Art Jenseitsschau das Schicksal der Seligen: Und indem wir noch bitten, erscheinen plötzlich zwei Männer und stehen vor dem Herrn. Auf die vermochten wir nicht geradeaus zu sehen. Denn es gieng von ihrem Antlitz aus ein Strahl wie von der Sonne, und leuchtend war ihr Gewand, wie es niemals eines Menschen Auge sah, und kein Mund kann erzählen oder ein Herz erdenken den Glanz, in den sie gehüllt waren, und die Schönheit, die von ihrem Angesicht ausgieng; drum da wir sahen, wurden wir voll Staunens. Denn ihre Leiber waren weißer als aller Schnee und röter als jede Rose. Und Rot und Weiß war bei ihnen vereinigt. Und in einem Worte, ich kann ihre Schönheit nicht auseinandersetzen. Denn ihr Haar war lockig und glänzend und leuchtete über ihrem Antlitz und ihren Schultern gleichwie ein
Böldl 2005, S. 251. So verweist Rudd ebenso auf die starken christlichen Untertöne in der Gunnarrszenerie, die ein religiöses Bild der Ernte implizierten: Nun werde geerntet, was gesät worden sei, und Gunnarr werde zu einem Teil davon (vgl. Rudd 2016, S. 145). Vgl. Kraus 2003, S. 74 ff.: Gerade in der Wortwahl seien typische Übereinstimmungen zur apokalyptischen Semantik erkennbar. Die Motivik gehöre damit in die literarischen Traditionen von Weltenden und Weltzeitaltern, wie sie auch aus anderen jüdischen und frühchristlichen Texten bekannt seien (vgl. gr. Henoch, äth. Henoch, gr. Baruch, ApkEsdr., Sibyllinen 2– 3, Offb. 21,1– 8). Siehe auch die Paulus Apokalypse (ApkPaul) und die klaren Verbindungen zu spätantiken Traditionen, etwa die Beziehungen zu den Sibyllinischen Büchern oder Übereinstimmungen zu einem koptischen Zauberpapyrus (4./5.Jh.) (vgl. Kraus 2003, S. 84 f.).
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Kranz, geflochten aus Nardenblüten und bunten Blumen, oder wie der farbige Bogen in der Luft. Derart war ihre Herrlichkeit. Da wir also ihre Schönheit sahen, erschraken wir vor ihnen, da sie so plötzlich erschienen. Und ich trat zu dem Herrn und sprach: „Wer sind diese? „ Er antwortet mir: „Das sind unsere gerechten Brüder, deren Gestalt ihr ja schauen wolltet.“ Und ich sagte zu ihm: „Und wo sind alle Gerechten oder wie sieht der Himmel aus, in dem die wohnen, die solchen Glanz tragen?“ Und der Herr zeigte mir einen sehr weiten Ort außerhalb dieser Welt über und über glänzend im Lichte und die Luft dort von Sonnenstrahlen durchleuchtet und das Land selbst blühend von unverwelklichen Blumen und erfüllt von Wohlgerüchen und von Gewächsen, die herrlich blühen und unvergänglich sind und gesegnete Frucht tragen. So stark war die Blüte, daß der Duft auch zu uns von dort getragen wurde. Die Bewohner jenes Ortes waren bekleidet mit einem Gewande strahlender Engel, und ihr Gewand war gleichen Aussehens wie ihr Land, und Engel weilten dort unter ihnen. Und gleich war die Herrlichkeit derer, die dort wohnen, und mit einer Stimme priesen sie Gott den Herrn frohlockend an jenem Orte. Und es spricht der Herr zu uns: „Dies ist der Ort eurer Hohenpriester, der gerechten Menschen.“²²⁰
Nur zu bekannt erscheinen die Charakteristika wie Protagonisten dieser Jenseitsbilder, ausdrücklich tauchen diese aber auch in der christlichen Literatur „plötzlich“ und „unvermittelt“ auf.²²¹ Jenseitsanschauungen dieser Art seien zuvor unbekannt, jedenfalls zeige die Quellenlage eindeutig genug den nicht christlichen Ursprung dieser Motive²²²: Üppig blühende Landschaften, brillant illuminiert von himmlischem Licht, Blüten und Blütenduft, Blumenkränze, die ins Haar eingeflochten sind, Nimbus, Strahlenkranz markieren in Kombination, aber auch austauschbar schon in der antiken Rhetorik den exklusiven, entrückten, sprich toten Status seiner Träger. Mit einer „unbesiegbaren Zähigkeit“ sei an diesen uralten Vorstellungen festgehalten worden, der „Glaube an dieses Land des ewigen Lichtes“ sei damit „Satz für Satz, ja Wort für Wort [hinübergegangen] in die Jenseitshoffnung der christlichen Gemeinde.“²²³ Das Christentum nimmt also diese Bilder wohl auf und aktualisiert sie für seine spezifischen Bedürfnisse,²²⁴ aber es hat sie nicht erfunden. Nicht die Vorstellung der Tu Dieterich 1893, S. 3 – 5. Vgl. Dieterich 1893, S. 1. Siehe ähnlich Vielhauer 1978, S. 512: „Würde nicht am Ende das einstimmige Gotteslob erwähnt – wenn auch nur, um die Einheit der Seligen zu kennzeichnen –, so fehlte diesem Bild des Paradieses jeder ‚religiöseʻ Zug – er wird auch so noch von lauter Schönheit zugedeckt.“ Dieterich 1893, S. 33 f. Die bezeichnende Motiv-Kombination ,Weißheitʻ, ,Blumen(duft)ʻ, ,Bekränzungʻ findet sich etwa im christlichen Kontext eines prophetischen (Todes)traums, von dem Gregor der Große berichtet: „Ein anderer Bruder in demselben Kloster hieß Merulus, der betete und weinte gar viel; nie verstummte der Psalmengesang in seinem Munde, außer wenn er sich Speise oder Schlaf gönnte. Dieser hatte eines Nachts eine Erscheinung, als ob ein Kranz aus weißen Blumen sich vom Himmel auf sein Haupt herniederlassen würde. Bald darauf erkrankte er und starb in großer Ruhe und Heiterkeit der Seele. Als nach vierzehn Jahren Petrus, der gegenwärtige Vorsteher dieses Klosters für sich neben seinem Grabe einen Ort zum Begräbnis zurichten lassen wollte, strömte nach dessen Versicherung ein solcher Wohlgeruch aus dem Grabe, als ob dort alle Blumenwohlgerüche vereinigt gewesen wären. Daraus ergab sich klar, wie wahr das nächtliche Gesicht gewesen war“ (Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen ausgewählte Schriften, 4, 47. Funk [Übers.] 1933, S. 256).
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gendhaftigkeit und Gerechtigkeit, die man den Bewohnern jener Anderswelten notorisch zuschreibt, sind ursprünglich christlicher Provenienz, nicht die himmlischen Lobgesänge, das unablässige Singen von Chorälen in gottesfürchtigen Konventen. Diese Motive finden sich bereits im altgriechischen Kontext, etwa bei Hekataios von Abdera, der den Hyperboräern diese Gewohnheit zuschreibt, täglich besängen sie auf diese Weise ihren Gott Apollo, und so im Vergil’schen Elysium (Aen. 6, 657).²²⁵ Aber auch die antiken Traditionen führen damit lediglich eine lange Symbolkette fort, die ihrerseits in indogermanischen Vorgängern gründet. So ist auf die Ähnlichkeiten der apokalyptischen Bilder in 2 Petrus 3 (die einzige Bibelstelle, in der eine kosmische Zerstörung durch Feuer erscheint) zur altnordischen Ragnarǫk-Vorstellung manches Mal verwiesen worden²²⁶: Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb. Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles, was auf ihr ist, werden (nicht mehr) gefunden. […]. An jenem Tag wird sich der Himmel im Feuer auflösen, und die Elemente werden im Brand verschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt (2 Petr. 3).
Einer totalen kosmischen Zerstörung folgt also die kosmische Regeneration, Elemente, die gut bekannt sind aus altnordischen apokalyptischen Vorstellungen, aber ebenso als die stoische Idee der „universal conflagration“ (ἐκπύρωσις)²²⁷, einem (ewigen) Zyklus von Weltenbrand und Regeneration (παλιγγενεσία), ein philosophisches Konzept, das wiederum seinerseits in einer Art „demythologization“²²⁸ wesentlich ältere Mythen indoeuropäischen Ursprungs fortsetzt.²²⁹ Klar präsent ist jedenfalls hier der Einfluss iranischer apokalyptischer wie eschatologischer Mythenkonzepte, Einflüsse wie sie auch auf das frühe Judentum angenommen werden.²³⁰ So weiß schon das persische Bundahišn (ein später Text des 9. Jhs., der indes mutmaßlich Jahrtausende älteres, religiöses Gedankengut weiterführt),²³¹ wie der
Vgl. Dieterich 1893, S. 35 – 37. Stereotyp wurde den Ethnien an den äußersten Grenzen der bewohnten Welt (sagenhaften wie historischen) gerade der Zug der ‚Gerechtigkeitʻ zugeschrieben. So sind die Hyperboräer des Nordens ein „heiliges, priesterliches Volk“, Homer (Il. 13, 6) kennt die „Milch trinkenden Nomaden“ als die „gerechtesten Menschen“ (vgl. Dieterich 1893, S. 35). Aischylos weiß von der Gerechtigkeit der Gabier, den gleichen Ruf besitzen die Skythen. Selbst die Inder, die ,Hundsköpfe‘ und die Pygmäen werden mit dem Epitheton ‚gerechtʻ belegt (vgl. Dieterich 1893, S. 36). Man mag darin einen Euphemismus gerade für die ‚unrichtige‘, nicht normative, marginale Existenz dieser Gruppierungen sehen. Andererseits hofft man gerade die Totengeister (durch ausreichend rituelle Kompensation) zu befrieden und damit in einen ausgeglichenen, gerechten Zustand zu bringen. Siehe etwa Pearson 2001. Grundlegend zum Ragnarǫk-Mythologem als Teil eines indoeuropäischen Mythenkomplexes Hultgård 2017. Pearson 2001, S. 538. Vgl. Pearson 2001, S. 539. Vgl. Pearson 2001, S. 538 f. Vgl. Pearson 2001, S. 542. Vgl. Pearson 2001, S. 543 f.
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Drache Gochihr vom Mond auf die Erde fallen wird, die Erde dadurch in Bedrängnis kommt, wie das Metall in den Bergen schmilzt und zu Flüssen anwächst und wie die Menschen durch dieses geschmolzene Metall waten müssen. Die Rechtmäßigen, Guten werden auf diese Weise von den Bösen geschieden (vgl. Bundahišn, Kap. 34, 17˗19).²³² Aber auch Zarathustra hat diese religiösen Konzepte nicht selbst entwickelt, er hat seinerseits diese Ideen aus den religiösen Vorstellungen seiner Zeit übernommen.²³³ Die Übereinstimmungen zur nordischen Glaubenswelt, einem religiösen System, buchstäblich am anderen Ende der Welt, sind dabei bestechend: Owing to their geographical separation, and their relative synchronicity, there can be no possibility of tracing influences from the one to the other. Nor, for that matter, can any substantial Christian influence be seen in the Völuspa, even if one must allow for minor Christian glosses here and there in the transmission of the text.²³⁴
Direkte christliche Einflussnahme scheidet also aus, wenngleich auch die potentielle Einflussnahme eines anderen religiösen Systems erwogen werden muss, das in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten einen mächtigen Stand im römischen Imperium besaß, gerade (aber keineswegs ausschließlich) in militärischen Kreisen: der Mithraismus. Seine Herkunft aus östlichen, indoiranischen Religionskonzepten (Schöpfungsmythen) ist unbestritten, wenngleich er auf der langen Reise in den Westen tiefgreifende Veränderungen durchgemacht hat bis hin zu seiner letzten Erscheinungsform als Erlösungslehre, als Mysterienreligion. Die Möglichkeit der Einflussnahme parsischer Religionskonzepte auf die jüdische Religion ist häufig genug aus innerreligiösen, apologetischen Gründen abgewiesen worden. Die Entlehnungen seien, so Böklen, als peripher und bestenfalls von „antiquarische[m] Interesse“ gesehen worden.²³⁵ In welcher Art sie auf nordische Religionskonzepte vorstellbar wären, kann an dieser Stelle kaum vermutet werden. So oder so aber hat Böklens methodischer Grundsatz seine Gültigkeit: Denn selbstverständlich macht es einen ganz wesentlichen Unterschied, ob eine Vorstellung ausschliesslich für den Parsismus und das Judentum, oder auch noch für andere Religionen als gemeinsamer Besitz nachgewiesen werden kann. Im ersteren Fall ist die Wahrscheinlichkeit für Abhängigkeit der einen Religion von der anderen eine erheblich grössere, als im letzteren, wo dann gleich noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten in Betracht zu ziehen ist.²³⁶
Bevor Böklen nun mit der Gegenüberstellung unterschiedlicher eschatologischer Konzepte beginnt, möchte er dabei gleichzeitig auf einen wichtigen Zusammenhang
Anklesaria (Hg.) 1956. Vgl. Widengren 1983, S. 78, zit. n. Pearson 2001, S. 543. Pearson 2001, S. 544 f. Vgl. Böklen 1902, S. 3 f. Böklen 1902, S. 8.
4.6 Bleiche Blumen: Bleikir akrar ok slegin tún
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verweisen. Zwei Denkmodelle erscheinen in diesen religiösen Systemen nahezu durchgehend verbunden: Das Christentum, das Judentum wie der Parsismus wiesen „zwei sich durchkreuzende Gedankenreihen“²³⁷ auf. So werde das Schicksal der ganzen Menschheit, des Kosmos, des Weltenendes schlechthin gleichgeschaltet mit dem individuellen Schicksal des Einzelnen nach seinem Tod. Beide Gedankenreihen erschienen keineswegs immer „reinlich geschieden“,²³⁸ d. h., Endzeitvorstellungen und Paradiesanschauungen, individuelles und kosmisches Ende sind oftmals kaum unterscheidbar, an vielen Punkten fallen sie einfach zusammen. Man kann wohl mit Böklen vermuten, dass beide Anschauungen auf dieselbe Wurzel zurückgehen.²³⁹ Sie nutzen denselben Wissensvorrat, denselben Symbolpool, sie bedingen und plausibilisieren sich damit gegenseitig. Die Denkfigur der Grenze ist in ihrem ursprünglichen Sinn eine konkret räumliche und erst in einem zweiten, abstrahierenden Schritt eine temporale. Es sind diese Raum- und Zeitachsen, die sich hier durchkreuzen, und Ereignisse und Orte auf paradoxe Weise zusammenfallen lassen: τὰ ἔςχατα ὡς τὰ πρῶτα, die ,letzten Dingeʻ sind wie die ,ersten Dingeʻ. Entsprechend kann das erwartete ideale Dasein der Menschheit als tatsächlich schon einmal in Wirklichkeit dagewesen vorgestellt werden, aber ebenso, „dass es irgendwo an einem unzugänglichen, verborgenen Orte der Erde eine Vereinigung frommer Menschen gebe, die seit langer Zeit schon ein Leben führen, wie es für die ganze Menschheit von der Zukunft erwartet wird.“²⁴⁰ Eine schöne Konkretisierung dieser Idee findet sich auch im Nordischen. So weiß die Landnámabók (in der Sturlubók- und Hauksbók-Rezension) von einem ‚weißenʻ Ahnen zu berichten, den sie in einem sagenhaften, aber doch gegenwärtig gedachten Hvítramannaland, dem „Weißmännerland“, verortet: Ein gewisser Ari Másson sei dorthin abgetrieben worden; er konnte von dort nicht mehr zurückkehren, sei aber dort getauft worden und gut angesehen gewesen.²⁴¹ Nun wird in einer anderen Version (Melabók-Rezension) diese Geschichte gerade nicht erwähnt, dafür erscheint Ari
Böklen 1902, S. 8. Vgl. Böklen 1902, S. 8. Vgl. Böklen 1902, S. 9. Böklen 1902, S. 136. Landnámabók (Sturlubók), Kap. 43: Hann varð sæhafi til Hvítramannalands; það kalla sumir Írland hið mikla; það liggur vestur í haf nær Vínlandi hinu góða; það er kallað sex dægra sigling vestur frá Írlandi. Þaðan náði Ari eigi á brutt að fara og var þar skírður. Þessa sögu sagði fyrst Hrafn Hlymreksfari, er lengi hafði verið í Hlymreki á Írlandi. Svo kvað Þorkell Gellisson segja íslenska menn, þá er heyrt höfðu frá segja Þorfinn (jarl) í Orkneyjum, að Ari hefði kenndur verið á Hvítramannalandi og náði eigi brutt að fara, en var þar vel virður. („Er wurde nach Hvítramannaland („Weißmännerland“) abgetrieben; das nennen einige Írland et mikla („Großirland“); das liegt gegen Westen im Meer nahe Vínland dem Guten; es heißt davon, dass es sechs Segeltage westlich von Irland liegt.Von dort konnte Ari nicht zurückfahren, und er wurde dort getauft. Diese Geschichte erzählte zuerst Hrafn Hlymreksfari, der lange in Limerick in Irland gewesen war. So sagte Þorkell Gellisson, dass isländische Männer sagten, als sie es Jarl Þorfinn auf den Orkneys erzählen gehört hatten, dass Ari in Hvítramannaland erkannt worden sei und nicht zurückfahren konnte, und dass er dort gut angesehen war.“) (Übers. Egeler 2015a, S. 505).
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4 Der Glanz des mythischen Ortes
Másson aber explizit in genealogischer Verbindung, als Stammvater der bedeutenden Familie der Reyknesingar. Egeler vermutet zu Recht: „Diese prominente Stellung Aris als Stammvater einer wichtigen isländischen Familie könnte jedoch die Motivation dafür dargestellt haben, in dem Überlieferungsstrang der Landnámabók […] eine Entrückungsgeschichte mit ihm zu verbinden […].“²⁴² Dass die sagenhafte Anderwelt als Írland et mikla („Großirland“) erscheint, mag spezifisch irische Zutat sein (mit weiteren Standardmotiven der immrama, der irischen Jenseitsreisen),²⁴³ natürlich auch die christliche Taufe.²⁴⁴ Aber hier werden wesentlich ältere Konzepte von Jenseitsbewohnern aktualisiert.²⁴⁵ So wird die ,Frömmigkeitʻ der Jenseitsbewohner zur Frömmigkeit christlicher Mönche, die ,frommen Choräleʻ werden nun eben zum ewigen Lobpreis des Christengottes abgehalten und nicht etwa für Apollo, die ‚Weißheitʻ wird zur Eigenart der Konventkleidung. Auch hier stoßen wir also auf die uralten Kodierungen vom Anfang: das Aneinanderrücken bzw. Analogieempfinden von Stammvaterschaft einerseits und Weißheit/Unsterblichkeit/Abgerücktheit andererseits. Auch im Norden wusste man um dieses Konzept und konnte es in diesem Sinne gezielt funktionalisieren zur Markierung des außernatürlichen Ahnen.
Egeler 2015c. Später scheint Egeler indes diese spezifisch nordische Aktualisierung des irisch monastischen Hvítramannaland als Ursprungsort wie Ort der Ahnen nicht mehr unterstützen zu wollen, vielmehr hält er nun den christlichen Erlösungsgedanken für die Hauptintention des Erzählers: „Why was this tale attractive to tell and retell in Iceland? The Book of Settlements mentions that the first man about whom the tale of Hvítramannaland was told was a man, Ari, who was blown off course and never returned home. The clear implication is that he was lost at sea. But by introducing Hvítramannaland, the storyteller is able to avoid the conclusion that Ari found a watery grave. Instead, his disappearance acquires traits of translation to a land of Christian salvation. In this way, Hvítramannaland becomes a coping strategy: Ari’s Christian friends, relatives, and later on his descendants could in this way comfort themselves with the thought that he did not die a pagan at sea, but gained salvation in an Irish monastic otherworld“ (Egeler 2017, S. 73). Vgl. Egeler 2015a, S. 509. Vgl. Egeler 2015c; Egeler 2015a, S. 507. Siehe die nämliche mythische Dichotomie der indogermanischen Gründergestalten Yamá, Donn, Dis pater, „all derived from a P-I-E figure regarded as both the first man and the ruler of the dead, having established the land of the dead and the path to that land through his original, exemplary death“ (Lincoln 1981, S. 239). Ähnlich Meyer 1919, S. 542.
5 Balder muss sterben 5.1 Balders Träume Aber sehen wir, was Snorri weiter von Balder zu berichten weiß. Unmittelbar nach den beeindruckenden Heldentaten Thors erfahren wir von den Ereignissen um Balders Tod: Dazu sagte Gangleri: „Sind noch mehr Ereignisse mit den Asen geschehen? Eine ungeheure Heldentat vollbrachte Thor auf dieser Fahrt.“ – Der Hohe antwortete: „Es muß von der Begebenheit erzählt werden, die den Asen übler schien. Und der Anfang dieser Geschichte ist, daß Balder der Gute heftige und für sein Leben gefahrdrohende Träume hatte. Als er den Asen von diesen Träumen erzählte, hielten sie gemeinsam Rat, und es wurde beschlossen, gegenüber Balder eine Friedenszusicherung für alle Arten der Gefahr zu verlangen. Frigg nahm Eide darüber ab, daß Feuer und Wasser Balder verschonen sollten, ebenso Eisen und alle Metallarten, Steine, die Erde wie die Bäume und die Krankheiten, die Tiere, die Vögel wie das Gift und die Schlangen.“¹
Balder wird gequält von aufwühlenden, ja lebensbedrohlichen Träumen (drauma stóra ok hættliga um líf sitt). Er scheint in einer schweren Krise, desolat. Die Asen nehmen seine Träume sehr ernst, sie werten seinen Zustand nicht nur für ihn allein, sondern für alle, die ganze Göttergemeinschaft als bedrohlich, entsprechend werden unverzüglich Gegenstrategien eingeleitet, man beruft eine Versammlung ein, man berät sich und beschließt verbindliche Friedenszusicherungen für Balder einzuholen. Die Asen wollen sich der Loyalität der ganzen Schöpfung gegenüber Balder versichern: Dafür müssen Eide geschworen werden von allen Elementen, jedem Lebewesen, von dem Gefahr ausgehen könnte. Frigg übernimmt die Einholung dieser Eidesleistung, sie ist offenbar Spezialistin für die formelle, korrekte Durchführung dieser bindenden Wirksamkeit von Worten. Es geht um eine rechtsverbindliche Wirksamkeit, aber gewiss auch (und bekanntlich lange Zeit überhaupt nicht getrennt gedachte) magische Wirksamkeit formalisierten Sprechens. Es ist wohl auch und gerade die Macht ihrer Wortmagie, die die Ordnung der Dinge ‒ fürs Erste ‒ (wieder)herstellt²: Balders Unverletzlichkeit und Unangreifbarkeit. Über den Inhalt jener Leib und Leben bedrohenden Träume erfahren wir nichts. Snorri scheint gerade darüber gar nichts zu wissen, er will oder kann kein weiteres Þá mælir Gangleri: „Hafa nokkvor meiri tíðindi orðit með Ásunum? Allmikit þrekvirki vann Þórr í þessi ferð!“ Hár svarar: „Vera mun at segja frá þeim tíðindum er meira þótti vert Ásunum. En þat er upphaf þessar sǫgu at Baldr inn góða dreymði drauma stóra ok hættliga um líf sitt. En er hann sagði Ásunum draumana, þá báru þeir saman ráð sín, ok var þat gert at beiða griða Baldri fyrir alls konar háska, ok Frigg tók svardaga til þess at eira skyldu Baldri eldr ok vatn, járn ok alls konar málmr, steinar, jǫrðin, viðirnir, sóttirnar, dýrin, fuglarnir, eitr, ormar“ (Gylf 49). Siehe Monika Schulzʻ grundlegende Untersuchung zur Semiotik von Zaubersprüchen: Magie oder Die Wiederherstellung der Ordnung (Schulz 2000). https://doi.org/10.1515/9783110789140-006
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5 Balder muss sterben
Wort darüber verlieren. Nun gehören Träume bekanntlich nicht nur im altnordischen Kontext zu den zuverlässigsten Schicksalskündern. In allen vormodernen Gesellschaften wird in ihnen eine ganz besondere Art von Wirklichkeitskonzeption gesehen, gerade auch die Möglichkeit zum Zugang, zur Kontaktaufnahme zu anderen Wirklichkeiten, zu außernatürlicher, übernatürlicher, zukünftiger Wahrheit, die dem Träumenden (und seinen Deutern) auf übliche Weise der Erfahrung nicht zugänglich gewesen wäre.Vom unmittelbar gegenwärtig wirksamen Traum, dem schädlichen, gar tödlichen erfahren wir häufig genug in der nordischen Sagawelt³: In der Fóstbræðra saga wird Þormóðr Kolbrúnarskáld mit einem Augenleiden (augnaverkr) geschlagen, das ihm die erboste Þorbjǫrg kolbrún im Traum und damit leibhaftig durch einen Traum zugefügt hat.⁴ Ähnliches muss Gestr in der Bárðar saga Snæfellsáss (Kap. 21)⁵ erfahren: Seine Taufe und damit Konversion zum christlichen Glauben wird von seinem Vater als schmähliche, unmoralische Transgression aufgefasst, er erscheint diesem im Traum und reißt ihm die Augen heraus. Daraufhin platzen ihm die Augen aus dem Kopf und er stirbt daran. Das Auge erscheint als pars-pro-toto-Konzept von Lebenskraft, entsprechend ist beim Verlust der Sehkraft stets mitgedacht der Verlust der männlichen Potenz und Virilität, d. h., das gewaltsame Herausreißen des Augapfels kommt einer Kastration gleich.⁶ Es sind Grenzüberschreitungen moralischer, ethischer und nicht zuletzt ideologischer Konventionen, die auf diese Weise geahndet werden: „The reason why eye pain is inflicted on both Þormóðr and Gestr is clearly indicated in the text and their reactions are construed as signs of recognition: they have transgressed norms and expectations […].“⁷ Leibhaftig personifiziert erscheint der Traum in der Heimskringla, Ynglinga saga, Kap. 13. Dort verliert König Vanlandi sein Leben, nachdem er seine finnische Ehefrau Drífa schmählich im Stich gelassen hat. Diese schickt ihm die Hexe Hulðr, die ihn als Nachtmahr zu Tode drückt. Er verfällt in einen tiefen Schlaf und träumt, wie es scheint, Furchtbares, Albtraumhaftes. Damit beginnt seine Agonie, Schlaf und Traum wird er nicht überleben.⁸ Kopf und
Siehe die folgenden Beispiele aus Kanerva 2013. Fóstbræðra saga, Kap. 11 (Björn Karel Þórólfsson [Hg.] 1943). Þormóðr hat sich bekanntlich einer sehr unschönen Verfehlung in Liebesdingen schuldig gemacht. Ein Gedicht, ursprünglich Þorbjǫrg gewidmet, hat er kurzerhand einer neuen Verehrerin zugeeignet. Sein Vater rät ihm, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, da er einen tödlichen Ausgang dieser Angelegenheit fürchtet. In diesem Fall kann die Gefahr tatsächlich noch einmal abgewendet werden (vgl. Kanerva 2013, S. 7 f.). Þórhallur Vilmundarson und Bjarni Vilhjálmsson (Hg.) 1991. Entsprechend erscheinen im mittelalterlichen Rechtswesen die Blendung bzw. die Kastration als mitunter austauschbare Strafmaßnahmen (vgl. Lassen 2003, S. 45). Kanerva 2013, S. 20. Þá gerðisk honum svefnhǫfugt, ok lagðisk hann til svefns. En er hann hafði lítt sofnat, kallaði hann ok sagði, at mara trað hann. Menn hans fóru til ok vildu hjálpa honum. En er þeir tóku uppi til hǫfuðsins, þá trað hon fótleggina, svá at nær brotnuðu. Þá tóku þeir til fótanna, þá kafði hon hǫfuðit, svá at þar dó hann (Bjarni Aðalbjarnarson [Hg.] 1941). („Da wurde er sehr schläfrig und legte sich nieder zum Schlafe. Als er aber nur ein wenig geschlafen hatte, schrie er auf und sagte, daß ihn die Mare träte. Da kamen seine Leute herbei und wollten ihm helfen. Als sie ihn aber oben am Kopfe faßten, trat jene auf seine Beine,
5.1 Balders Träume
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Füße stehen im Zentrum des dramatischen Geschehens, hier scheint sich der tödliche Impetus zu konzentrieren, nicht zufällig sind es auch jene Stellen, an denen sich die Klagefrauen weltweit an der Leiche, gewissermaßen strategisch apotropäisch, zu positionieren haben, im irischen Begräbnisbrauch auf gleiche Weise wie im altägyptischen, auch die Behandlung des Osiris ist davon nicht ausgenommen: From times immemorial two figures take part in the funerary procession who deserve our attention in the highest degree. They are the two official wailing women, who occupy a fixed place in the funerary procession, in front of and behind the coffin, and who are usually distinguished as „the big wailing woman“ and „the small wailing woman“; at an early age they were identified as Isis and Nephthys.⁹ Thus the two sisters stand respectively at the head and at the foot of Osiris’ bier, both in the texts and in the monuments.¹⁰
Auf gleiche Weise im Schlaf, aber wenn man so will, nur mittelbar, wegen eines Traums kommt Jarl Hákon in seiner unterirdischen Grube zu Tode. Auch er fällt in einen unruhigen Schlaf mit heftigsten Albträumen, die ihn auf ähnlich furchterregende Art agieren lassen wie den erbärmlichen Vanlandi, ausdrücklich sind ebenso „Fersen und Nacken“ (hælunum ok hnakkanum) davon betroffen.¹¹ Gewiss, es sind hier nicht die Albträume selbst, die ihn ums Leben bringen, schon gar nicht die Nachtmahr, der personifizierte, tödliche Traum, in diesem Kontext scheint für solche magischen Interaktionen nicht allzu viel Platz. Der menschliche Diener übernimmt die Aufgabe der Nachtmahr. Sein träumender Herr löst bei ihm eine tiefe Bestürzung aus, so dass er ihn tötet. Und auch der Knecht träumt zuvor in diesem Sinne Bezeichnendes: Er träumt, reichlich beschenkt zu werden mit einem goldenen Halsband, das der König Olaf ihm um den Hals legt. Es ist ein Bild, das die Vorstellung der beschenkten Braut im Hochzeitszeremoniell evoziert: „Er [Karkr, d.Verf.] sprach: ‚Ich war im Traum in Lade, und Olaf Tryggvason legte mir ein goldenes Halsband um den Hals.ʻ“ Der Jarl versteht dieses Bild problemlos und ebenso dessen enge Assoziation
daß sie fast zerbrachen. Sie griffen nun nach seinen Füßen, doch die Mare drückte jetzt so auf sein Haupt, daß er dort sterben mußte“ (Niedner [Übers.] 1922). Bleeker 1958, S. 2. Bleeker 1958, S. 11. [E]n í móti degi þá sofnaði jarl ok brátt lét hann illa, ok svá mikit varð at því, at jarl skaut undir sik hælunum ok hnakkanum, svá sem hann myndi vilja upp rísa, ok lét hátt ok ógurliga. En Karkr varð hræddr ok felmsfullr ok greip kníf mikinn af linda sér ok skaut gǫgnum barka jarli ok skar út ór.Þat var bani Hákonar jarls (Óláfs saga tryggvasonar, Kap. 49 [Bjarni Aðalbjarnarson (Hg.) 1941]). („[A]ber gegen den Tag schlief der Jarl ein, und bald hatte er schwere Träume. Das ward so arg, daß der Jarl Nacken und Fersen unter sich anzog, als wollte er emporspringen, und laut und fürchterlich schrie. Kark aber erschrak und war voller Angst. Er riß sich ein großes Messer vom Gürtel, stieß es dem Jarl durch die Kehle und durchschnitt diese völlig. So fand Jarl Hakon seinen Tod“ (Niedner [Übers.] 1922).
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5 Balder muss sterben
mit dem Tod: „Der Jarl erwiderte: ‚Ein blutrotes Halsband wird Olaf dir um den Hals legen, wenn du ihn triffst.ʻ“¹² Träume gehören also zu den res factae einer mittelalterlichen Wirklichkeit und noch lange danach. Aber auch nachdem ihre übernatürlichen, religiösen Zuschreibungen zumindest so nicht mehr ausschließlich gültig waren, behielten sie doch einen bedeutsamen Platz innerhalb der Literatur als stereotype rezeptionslenkende, narrative Marker. Literarische Träume sind also ‒ wie einst ihre mythischen Vorgänger ‒ immer ,wahrʻ, sie referieren stets auf reale Ereignisse oder Zustände und entsprechend weiß der mittelalterliche Rezipient, im Grunde genommen längst bevor die eigentliche Geschichte beginnt, was Balder unhintergehbar erwartet (wo gleichwohl die Asen noch therapeutische Gegenmaßnahmen für wirkungsvoll zu halten scheinen). Allein durch literarische Konventionen steht Balders Schicksal von Anfang fest.¹³ Und während also nun in Snorris Beschreibung das Unheil seinen Lauf nimmt, erfahren wir aus einer anderen Quelle, aus einem Eddalied, das den bezeichnenden Namen Baldrs draumar trägt, von einer denkwürdigen Unternehmung Odins. Auch hier gibt es, ganz ähnlich wie in Snorris Darstellung (der aber offenbar dieses Lied nicht gekannt hat), nur einen knappen Hinweis auf Balders ballir draumar, „böse Träume“ (Str. 1), obwohl zumindest der Titel vermuten lassen könnte, dass das Lied nun eben jene unseligen Träume zum Inhalt habe. „[O]riginell ist der Eingang des Liedes nicht“, so bemerkt schon Schröder,¹⁴ beängstigende Träume würden „mit besonderer Vorliebe“ in einer ganz bestimmten literarischen Gattung an den Beginn des Geschehens gesetzt, den Balladen, den Folkeviser.¹⁵ Nun folgt auch hier sogleich die Krisensitzung der Götter, und wenn nun in der Snorra Edda die Eidesversicherungen der ganzen lebenden Welt eingefordert werden, beschließt hier Odin in die Unterwelt zu reiten, nach Niflhel, zum Grabhügel einer toten Vǫlva. Dort erweckt Odin die Seherin nach allen Regeln der Nekromantie aus ihrem Todesschlaf und zwingt diese zu durchaus widerwillig gegebenen Informationen. Informationen freilich, die merkwürdig redundant scheinen, wie überhaupt die ganze Aktion.¹⁶ Wichtige Einzelheiten, die Odin der Vǫlva buchstäblich abringen muss, etwa
Hann segir: „ek var nú á Hlǫðum ok lagði Óláfr Tryggvason gullmen á háls mér.“ Jarl svarar: „þar mun Óláfr láta hring blóðrauðan um háls þér, ef þú finnr hann“ (Óláfs saga tryggvasonar, Kap. 49). (Niedner [Übers.] 1922). Siehe die ,Narrativisierungʻ dieses Bildes in der Ynglinga saga, Kap. 19, wo sich König Agni durch einen raffiniert eingefädelten Mordplan seiner Frau Skjalf an seinem eigenen goldenen Halsband erhängt. Vgl. Lindow 1997, S. 39. Vgl. Schröder 1964, S. 331. Vgl. Schröder 1964, S. 331. Siehe Malm 2004, S. 8: „Thus the description of Óðinn’s visit to the vǫlva is generically bewildering […].“
5.1 Balders Träume
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wer auf welche Weise zum Mörder Balders wird,¹⁷ nutzen die Asen des Weiteren ja gar nicht zu ihrem Vorteil. Und durchaus ist schon vorher klar, dass es Balder ist, dessen Leben bedroht ist.¹⁸ Odins Frage: „Wem sind die Bänke mit Ringen bestreut, die Bretter prächtig mit Gold belegt?“ (hveim ero beccir baugom sánir, flet fagrliga flóð gulli? Bdr 6) scheint also überflüssig. Darüber hinaus bedarf Odin, der Allwissende, der Meister der Zauber und Beschwörungen ohnehin nicht der Hilfe einer Seherin, um Zukunftsschau zu betreiben. Aber die Widersprüchlichkeiten gehen weiter. Beginnt das Gespräch zunächst in Form einer Wissenseinholung, der Frage nach zukünftigen Ereignissen, vollzieht sich ab einem bestimmten Punkt eine Art „code slippage“,¹⁹ die Frageform ändert sich und plötzlich finden wir uns unversehens im formalen Rahmen eines Rätselwettbewerbs,²⁰ eines Spiels, über dessen Regeln und Ziele (im wirklichen Leben wie in literarischen Konzepten) die mittelalterliche Leserschaft gut informiert war. Aber diese Erwartungen werden genauso wenig erfüllt. In den Vafþrúðnismál etwa wird Odin ebenfalls zum Grenzgänger, er begibt sich zu einem Anderweltwesen, einem Riesen, um ihn zu einem Wissenswettstreit herauszufordern. In bekannter Manier verbirgt er seine Identität, stellt Rätselfragen und gewinnt die Herausforderung (den Reglements entsprechend) durch eine Frage, an der der Riese Vafþrúðnir scheitert. Es ist im Übrigen eine Frage, die ebenso Balders Todesumstände betrifft: „[W]as sagt’ Odin, eh er den Scheiterhaufen bestieg, / selbst dem Sohn ins Ohr?“ ([H]vat mælti Óðinn, áðr á bál stigi, / siálfr í eyra syni? Vm 54). Und Vafþrúðnir erkennt nun gerade an dieser Frage die wahre Identität Odins, weil eben kein anderer Mensch wissen könne, was er, Odin, in „Urtagen“ dem Sohn ins Ohr sagte. (Ey manni þat veit, hvat þú í árdaga / sagðir í eyra syni. Vm 55).²¹ Es ist die nämliche Frage auf die bekanntlich auch König Heiðrekr in der Hervarar saga als einzige keine Antwort weiß und auch hier auf gleiche Weise zur Enttarnung Odins beiträgt. Ist also die Form, der Rahmen in Letzterem logisch nachvollziehbar und erwartbar, so ist er es im EddaGedicht gerade nicht. Und womit sollte man einer Toten im Falle einer Niederlage auch drohen können? Schließlich scheint nicht einmal der Rätselwettstreit bis zum Schluss durchgehalten, denn wieder gibt es einen empfindlichen „generic break“²²: Zu guter Letzt endet das Ganze in einer Art senna, einem Schimpfduell. Der Ton wird härter, unsere zunächst noch so verschlafen und verdrießlich wirkende Vǫlva wird plötzlich
Hǫðr berr hávan hróðrbarm þinig; / hann man Baldri at bana verða / oc Óðins son aldri ræna (Bdr 9). („Höd bringt den hohen Ruhmbaum hierher; / er wird Balder zum Töter werden / und Odins Sohn das Leben rauben“). Vgl. Malm 2000, S. 277: „[T]he poem presents events concerning the death of Baldr, but in a condensed and puzzling way. Óðinn asks a vǫlva in Hel about the future of Baldr, i. e. the future of the gods, but the reasons for Óðinn’s asking are obscure. Because of Baldr’s bad dreams Óðinn’s first question is who will die, but he obviously knows the answer since he journeys to Hel.“ Malm 2004, S. 6. Vgl. Malm 2004, S. 8. Vgl. Malm 2000, S. 279. Malm 2004, S. 6.
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5 Balder muss sterben
„taunting, actively imperative, and threatening“,²³ wie Mats Malm gut beobachtet, das ist der Ton, den die verfeindeten Riesen den Asen gegenüber anschlagen.²⁴ Nun haben die mythologischen Angaben, die das Gedicht enthält, genaue, teilweise wörtliche Entsprechungen in der Vǫluspá und dürften wohl auf eine gemeinsame Tradition zurückgehen.²⁵ Entgegen der Seherin der Vǫluspá, die von Balders Tod als einem vergangenen Ereignis spricht, das wohl stattgefunden hat in eben jenen Urtagen der Vafþrúðnismál, scheint die Vǫlva aus Baldrs draumar zumindest prima facie von zukünftigen Geschehnissen zu sprechen, Balder, so möchte man zunächst der Logik des zeitlichen Ablaufs entsprechend annehmen, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht tot. Dennoch bleibt es dabei, die Asen brauchen diese Informationen nicht. Es muss wohl einen anderen Grund geben, warum Odin nach Hel reitet und Kontakt mit dem Jenseits bzw. einem seiner Bewohner aufnimmt, um ein überflüssiges Rätselspiel zu spielen, das er darüber hinaus selbst, mutwillig und ohne Not, abbricht, ein Umstand, der jedenfalls immer befremdet hat. Malm geht einen anderen Weg, er möchte weg von der rein inhaltlichen Ebene des Gedichts hin zu einer funktionalen. Für ihn stehen nicht Wissens-, sondern eher Machtfragen im Mittelpunkt, das Verhandeln und Aushandeln eines Machtgleichgewichts zwischen Riesen und Asen: Formally, Óðinn’s goal is thus to gather information. In essence, though, the questions posed should be seen as a probing of the power balance between æsir and giants just as in Vafþrúðnismál. […]. I think it safe to presume that the question of knowledge is subordinated the question of power.²⁶
Damit wären aber die Fragen und deren Beantwortung zweitrangig, auch und gerade jene letzte Rätselfrage, die notorisch, erwartbar, immer unlösbar ist.²⁷ Es ginge dann gar nicht darum, was die richtige Antwort gewesen wäre, sondern lediglich um die Erwartung, die damit verbunden ist: der jähe Abbruch, das Spielende, die Konsequenzen, die, ebenfalls im mythischen wie literarischen Erwartungsrahmen festgelegt, durchaus folgenschwer, ja lebensbedrohlich sein können.²⁸
Malm 2004, S. 7. Vgl. Malm 2004, S. 6 f. Siehe vor allem Vǫluspá 31– 35. Vgl. Malm 2000, S. 278. Malm 2000, S. 280 f. „[H]veriar ro þær meyiar, er at muni gráta / oc á himin verpa hálsa scautom? („Wer sind die Mädchen, die auf Verlangen weinen / und zum Himmel werfen der Hälse Zipfel?“ Bdr 12). Schröder möchte darin eine „zu primitive Erklärung“ sehen, gleichzeitig verweist aber auch er auf die vielen Unstimmigkeiten, wenn man von einem herkömmlichen Rätselwettbewerb ausgehen wollte: Warum sollte die Vǫlva gerade an diesem durchaus „trivialen Rätsel“, das schon einige Male zuvor ganz offenbar erfolgreich gelöst worden sei, Odin in seiner wahren Identität erkennen? (König Heiðrekr weiß die Antwort auf das 22. Rätsel sofort, es sind bekanntermaßen ‚die Wellenʻ). Und schließlich stünde dann das Rätsel „in vollkommenem Widerspruch zu der Grundidee des Gedichtes“. Gerade weil die Götter „verwirrt und ratlos“ seien, begebe sich Odin doch zur Vǫlva und erwarte Antworten, eine „Grundidee“, die also bestenfalls ansatzweise durchgehalten sei (vgl. Schröder 1964, S. 336 f.). Tatsächlich scheint es sinnvoll, die inhaltlichen Aspekte nicht gänzlich unberücksichtigt zu lassen, soviel
5.1 Balders Träume
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Wenn nun Friggs Krisenstrategien auf das Diesseits, auf das Systeminnere dieser Welt gerichtet sind, so hat Odin offenbar ähnliche Sicherungsmaßnahmen im Sinn, die indes den Grenzbereich, die Schwelle dieses Systems und darüber hinaus anvisieren. Im Folgenden kommt es immerhin zu einer, wenn auch frostigen Festlegung des Status quo, zu einer Art Nichtangriffspakt. Aber wer ist diese tote Vǫlva, die es wagt, Odin dermaßen zurechtzuweisen? Erstaunlich selbstbewusst verkündet sie: „Reite nun heim, Odin, und sei stolz! / So komme kein Wesen mehr wieder zu uns, / bis Loki loskommt aus den Fesseln / und Ragnarök zerstörend kommt“ (Bdr 14).²⁹ Odin enthüllt bekanntlich ihre Identität ebenso wie sie die seine, sie sei keine Seherin oder weise Frau, und macht genau damit klar, dass er ohnehin ihrer Hilfe von Anfang an nicht bedurft hatte, dass es in dieser Art von Kommunikation niemals um Wissenserwerb gegangen war. Vielleicht, so können wir mutmaßen, hat ihre Funktion dann etwas mit ihrer eigentlichen, wahren Identität als „dreier Riesen Mutter“ zu tun, einer Riesin also, die drei Kinder geboren hat. So hat man in ihr Angrboða vermutet, mit der Loki in der Tat drei Monster, den Fenriswolf, die Midgardschlange und Hel gezeugt hat (Gylf 34), vielleicht aber auch Loki selbst, dessen Geschlechtsidentität (und entsprechend auch seine Fähigkeit zu gebären) durchaus nicht festgelegt ist (siehe Ls 23).³⁰ Auch die geheimnisvolle Riesin Þǫkk, der ja später ein endgültiger und verhängnisvoller Part bei Balders Todesumständen zufallen wird, wird mit ihr in Verbindung gebracht. Es soll aber eine weitere Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden: Durchaus bekannt ist etwa der Topos des Helden, der Heldin auf Abenteuerfahrt, die das Grab der mütterlichen Ahnin, des väterlichen Ahnen zwecks Unterstützung aufsuchen, etwa Svipdagr, der auf nämliche Weise seine tote Mutter Groá erweckt, damit diese ihn in seiner gefährlichen Brautwerbung unterstütze, und auch Hervǫr erbittet sich Hilfe von ihrem toten Vater, indem sie ihn in seinem Grabhügel auf der Insel Sámsey erweckt.³¹ Könnte die tote Vǫlva also nicht ebenso eine enge Verwandte sein, gar Odins Mutter Bestla, die in der Tat die Mutter dreier Riesen ist, nämlich Odins und seiner Brüder Víli und Vé? Jedenfalls begegnen sich beide selbst nach dem eindeutigen Ausgang im Rätselspiel noch auf Augenhöhe, ja die Tote darf Odin sogar noch herablassend zurechtweisen (Heim ríð þú, Óðinn, oc ver hróðigr), sie behält das letzte Wort und besiegelt damit eine Trennung, die endgültig ist. Es sind Sicherungsmaßnahmen bzw. Rückversicherungsmaßnahmen, die sich die Asen aus der Unterwelt einholen müssen, ein massiver und endgültiger Trennungsgedanke steht damit im Zusammenhang, aber was hat Balders gefährdeter Zustand damit zu tun? Die Antwort darauf enthält uns Snorri bekanntlich vor, Balder hat keine
scheint zumindest klar, die Fragen stehen allesamt im Zusammenhang mit Balders tödlichem Schicksal. „Heim ríð þú, Óðinn, oc ver hróðigr! / Svá komit manna meirr aptr á vit, / er lauss Loki líðr ór bǫndom / oc ragna rǫc riúfendr koma.“ Vgl. Malm 2000, S. 282; Malm 2004, S. 12 f. Siehe auch Schröder 1964, S. 333.
230
5 Balder muss sterben
Vorgeschichte, ja er hat überhaupt keine Geschichte, sein ganzes Leben scheint wie ein einziger böser Traum.
5.2 Das Thingereignis Auf einer vordergründigen, narrativen Ebene konstruiert Snorri nun eine, wenn man so will, nicht enden wollende Pannenserie, eine Ereignisfolge, die (wieder merkwürdig redundant) unter der Rubrik Absichtslosigkeit, Versehen, Unbedachtheit verhandelt wird, mit Ausnahme Lokis, dieser scheint mit voller Absicht, planvoll und unerbittlich, Balders Ende voranzutreiben. Ein gründlich misslungenes Spiel nimmt nun im Folgenden die wohl zentralste, auffälligste Position im Mythos ein. Die Asen können es offenbar mit der (vermeintlich) erfolgreichen Eidesleistung nicht einfach auf sich beruhen lassen, ein Schießspiel wird zur Erprobung von Balders neu erworbener (oder wieder erworbener?) Unverwundbarkeit veranstaltet. Aus schierem Übermut, nur ,zum Spaßʻ, so berichtet uns Snorri, lassen sie ihn ausgerechnet auf einer Thingversammlung aufstehen und „zur Unterhaltung“ aller, zu Balders eigener und der Asen (þá var þat skemtun Baldrs ok Ásanna) nach ihm schlagen, mit allerlei Wurfgeschossen, Steinen nach ihm werfen,³² bis er in diesem Geschosshagel ‒ unerwartet wohl nur für die Asen selbst ‒ den Tod findet. Zunächst aber scheint tatsächlich niemand und nichts ihm etwas anhaben zu können, seine Unverwundbarkeit ist bestätigt, was alle für mikill frami, einen „großen Vorteil“, halten. Außer einer: Das sah Loki, Laufeys Sohn, dem nicht gefiel, daß Balder nichts verletzte. Er ging nach Fensalir zu Frigg und nahm die Gestalt einer Frau an. Da fragte Frigg, ob diese Frau wisse, was die Asen auf der Thingversammlung täten. Sie sagte, daß alle auf Balder schössen und daß ihn nichts verletzte. Dazu meinte Frigg: ‚Weder Waffen noch Hölzer werden ihm ein Leid zufügen, von ihnen allen habe ich Eide genommen.ʻ Die Frau fragte: ‚Haben alle Dinge geschworen, Balder zu schonen?ʻ Darauf antwortete Frigg: ‚Westlich von Walhall wächst ein Baumsproß, der wird Mistelzweig genannt. Er schien mir zu jung, um von ihm den Eid zu fordern.ʻ Sofort brach die Frau auf. Und Loki ergriff den Mistelzweig, riß ihn ab und ging zum Thing. Dort stand Höd weit außerhalb des Versammlungskreises, denn er war blind. Da sprach Loki zu ihm: ‚Warum schießt du nicht auf Balder?ʻ Er antwortete: ,Weil ich nicht sehe, wo er steht, und zum anderen, weil ich keine Waffe habe.ʻ Loki meinte: ‚Mache es doch so wie die anderen, und erweise Balder die Ehre wie sie. Ich werde dich dorthin weisen, wo er steht. Wirf diesen Zweig nach ihm.ʻ Höd nahm den Mistelzweig und schoß ihn nach Lokis Anweisung auf Balder. Das Geschoß durchbohrte ihn, und er stürzte tot
Gylf 49: En er þetta var gert ok vitat, þá var þat skemtun Baldrs ok Ásanna at hann skyldi standa upp á þingum, en allir aðrir skyldu sumir skjóta á hann, sumir hǫggva til, sumir berja grjóti. En hvat sem at var gert, sakaði hann ekki, ok þótti þetta ǫllum mikill frami. („Und als dies beschlossen und bekannt wurde, geschah es zur Unterhaltung Balders und der Asen, daß er vor der Versammlung aufstehen sollte. Aber von allen anderen sollten einige auf ihn schießen, andere nach ihm schlagen, wieder andere Steine werfen. Was jedoch auch gemacht wurde, nichts schadete ihm, und das schien allen ein großer Vorteil“).
5.2 Das Thingereignis
231
auf die Erde. Deshalb entstand das größte Leid unter Göttern wie unter Menschen.³³
Eine eigentliche Begründung, das eigentliche ,psychologischeʻ Motiv für Lokis Gehässigkeit (genauso wenig indes für die merkwürdige, ja exzessive Ausgelassenheit der Asen) liefert uns Snorri nicht. Es scheint der schiere Übermut der hocherfreuten Götter ebenso wie die Missgunst eines eben notorisch böswilligen Loki, die das Unheil bewirken. Aber diese Erklärungen sind kaum mehr als semantische Platzhalter: Sie füllen eine narrative Leerstelle, den slot des Grundes.³⁴ Die übermuot der Helden der mittelhochdeutschen Literatur ist dafür berüchtigt, allen voran die der Nibelungen. Und stets geht sie einher mit einer exorbitanten, letztendlich zerstörerischen superbia oder hôhvart: „Der wichtige Begriff übermuot schillert“, so Reichert, auch das „übermütige Verhalten“ des Helden Siegfried werde wohl zunächst wie ein „‚Kavaliersdeliktʻ“³⁵ behandelt, mehr und mehr aber die Ursache für Unheile aller Art bis hin zur „Schlusskatastrophe“.³⁶ Es gleicht dem fürwitzigen Verhalten, das aus schierer
En er þetta sá Loki Laufeyjarson þá líkaði honum illa er Baldr sakaði ekki. Hann gekk til Fensalar til Friggjar ok brá sér í konu líki. Þá spyrr Frigg ef sú kona vissi hvað Æsir hǫfðusk at á þinginu. Hon sagði at allir skutu at Baldri ok þat at hann sakaði ekki. Þá mælir Frigg: „Eigi munu vápn eða viðir granda Baldri. Eiða hefi ek þegit af ǫllum þeim.“ Þá spyr konan: „Hafa allir hlutir eiða unnit at eira Baldri?“ Þá svarar Frigg: „Vex viðarteinungr einn fyrir vestan Valhǫll. Sá er mistilteinn kallaðr. Sá þótti mér ungr at krefja eiðsins.“ Því næst hvarf konan á brut. En Loki tók mistiltein ok sleit upp ok gekk til þings. En Hǫðr stóð útarliga í mannhringinum, þvíat hann var blindr. Þá mælir Loki við hann: „Hví skýtr þú ekki at Baldri?“ Hann svarar: „Þvíat ek sé eigi hvar Baldr er, ok þat annat at ek em vápnlauss.“ Þá mælir Loki: „Gerðu þó í líking annarra manna ok veit Baldri sœmð sem aðrir menn. Ek mun vísa þér til hvar hann stendr. Skjót at honum vendi þessum.“ Hǫðr tók mistiltein ok skaut at Baldri at tilvísun Loka. Flaug skotið í gǫgnum hann ok fell hann dauðr til jarðar, ok hefir þat mest óhapp verit unnit með goðum ok mǫnnum (Gylf 49). Siehe Reichert 2017, S. 495: „Woran sterben literarische Figuren? Werke, in denen die Figuren sterben, weil die Handlung es braucht, ohne dass man weiß, warum, empfinden wir als schlecht. Lessing stellte (in der ,Hamburgischen Dramaturgieʻ) in einer bösen Rezension eines schlechten Trauerspiels die rhetorische Frage, woran die Protagonistin sterbe, und beantwortete sie selbst: ‚Sie starb am fünften Akte.ʻ Dass die Figuren des Nibelungenliedes nicht nur sterben, weil es die Sage fordert, sondern die Logik ihres Todes in sich tragen, sind sich die meisten Interpreten sicher; wenn man die Warumfrage genau stellt, sind die Meinungen aber sehr unterschiedlich. Eine Antwort, die zunächst naheliegend erscheint, aber dann doch nicht stimmt, ist, dass alle Figuren, die sich der übermuot [orig. fett] […] schuldig machen, im Nibelungenlied sterben, und die, die davon frei sind, entweder am Schluss noch leben oder auf friedlichem Wege aus dem Werk ausscheiden, ohne in den Untergang gezogen zu werden.“ Damit sei die übermuot also wohl ein wichtiges Element, aber man werde „keine Automatik [orig. fett]“ einfordern können, „dass wer sich der übermuot schuldig macht durch sie umkäme“ (Reichert 2017, S. 496). Vgl. Reichert 2017, S. 396. Vgl. Reichert 2017, S. 397. Im altsächsischen Heliand werden bei der Beschreibung der Reaktion der Juden auf die Lehre Christi Begriffe aus dem nämlichen semantischen Feld der superbia verwendet, wlank, gēlmōd, gelp, die deren „spöttische“, „arrogante“, aber gleichermaßen auch „aggressive“ Haltung betonten: [S]tôdun uulanca man, gêlmôde Iudeon, sprâkun gelp mikil, habdun it im te hosca (V. 3927b–29). „Da standen stolze Männer, die übermütigen Juden; sie sprachen mit großem Hohn, taten
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5 Balder muss sterben
Neugier zur Missachtung von Grenzen und damit zur Katastrophe führt. Dahinter steht die Vorstellung der Konsequenzenlosigkeit des Handelns, sei es aufgrund der Unantastbarkeit des Herrschenden, der buchstäblich über allem steht, aber auch der Dummheit oder Borniertheit des Unwissenden, der die Folgen seines Handelns gar nicht abschätzen kann ‒ und gerade des Spielers, der durch die Spielregeln von vorneherein Konsequenzen ausschließt (bzw. auszuschließen glaubt). Auf einer narrativen Ebene sind sie austauschbar, weil es nur darum geht, eine Begründung für die Handlungsabsicht zu liefern, erst dann ist ein Plausibilisierungsmodell vollständig. Aber gerade dieses maßlose, exzessive, exponierte Verhalten provoziert eine andere gefürchtete, gleichwohl absehbare Reaktion: Neid, insbesondere den ,Neid der Götterʻ. Seit der Antike (und weit davor) gibt es die Vorstellung göttlicher Missgunst, den φϑόνος θεῶν, ebenso allerorten gefürchtet wie in unseren heutigen Wissenskonzepten nahezu gänzlich unbekannt. Dabei ist es gar nicht unbedingt die Ungerechtigkeit und Boshaftigkeit eines strafenden Gottes, die primär verurteilt wird, es ist vielmehr die Maßlosigkeit und Unbedachtheit des Menschen selbst, die den Göttern zum Ärgernis werden muss. Wenn der Mensch seine Grenzen überschreite, so erklärt Rakoczy diese Vorstellung, so sei das eben jene Art von Hybris, die das Einschreiten der Götter in letzter Konsequenz sogar verlange.³⁷ Auch in dieser Hinsicht ist diese Szene also eindeutig markiert: Für die mittelalterlichen Rezipienten stirbt Balder erwartbar, vorhersehbar. Das verstehensrelevante Wissen des narrativen Rahmens führt unausweichlich auf seinen Tod hin, er trägt (wie die Protagonistin des bürgerlichen Trauerspiels, das Lessing mit so viel Häme aburteilt) die Logik seines Todes bereits in sich. Aber die Merkwürdigkeiten in Snorris Bericht gehen weiter, was soll der mikill frami, der „große Vorteil“ (wie der Ausdruck üblicherweise übersetzt wird) sein, den alle Götter sehen? Soll diese Erklärung der Götteraktion jene Unbehaglichkeit nehmen, die doch so augenfällig an ihr zu haften scheint? Soll man sehen, es sind praktische, vernünftige Erwägungen, die die Asen zu ihrem Verhalten geführt haben? Oder sollten wir mikill frami eher in Richtung ,ruhmvolleʻ, ,große Auszeichnungʻ, ,Ehrerbietungʻ interpretieren? Schließlich bezeichnet Loki selbst das Bewerfen Balders Hǫðr gegenüber als sæmð, als „Ehre“, die er Balder erweisen solle. Das Verb sœma bedeutet im buchstäblichen Wortsinn, jemand etwas zukommen lassen, was seinem Rang entspricht, seiner Würde, um sich damit auch gleichzeitig des Wohlwollens eines gegebenenfalls Höhergestellten zu versichern. Siehe etwa das ae. sœman in der Bedeutung „schlichten, versöhnen“ oder gesōm, „freundlich“, mhd. suome „angenehm“³⁸ als der positive Gemütszustand, der Effekt, der dadurch erzielt wird. Aber mit Gegenständen beworfen zu werden ist üblicherweise keine Auszeich-
das zum Spott“ (Staiti 2000, S. 161). „Das Adjektiv oƀarmōd(ig) dient also im ‚Heliandʻ der Charakterisierung der Feinde als solcher, es gehört zur traditionellen Kriegermetaphorik“ (Staiti 2000, S. 162). Vgl. Rakoczy 1996, S. 1. Vgl. an. etym. Wb 1962, „sœma“.
5.2 Das Thingereignis
233
nung, es bewirkt keinen ausgeglichenen Gemütszustand, schon gar nicht bei einem Krieger oder Würdenträger, nicht zu Snorris Zeiten, zu keiner Zeit. Also doch ein ,Spaßʻ, obgleich ein zweifelhafter? Tatsächlich kannten die Wikinger ein ähnliches Spiel, es hatte sogar einen Namen, knútukast, ein sadistisches Spiel, das in den eigenen Hallen gespielt wurde, aber gerade auch als Bestrafung, ja sogar als Hinrichtungsart in angelsächsischen Quellen erscheint.³⁹ Höchst demütigend in jedem Fall, tödlich gerade für denjenigen, der sich dabei schwach und passiv verhielt, heldenhaft derjenige, der aktiv daran teilnahm und seinerseits zum Täter wurde. Es gibt eine anschauliche Beschreibung eines solch rauen Zeitvertreibs während des Essens in der Hrólfs saga kraka: Der Held Bǫðvarr bjarki rettet vermutlich in letzter Minute dem Bauernjungen Hǫttr das Leben. Bǫðvarr entdeckt ihn tatsächlich unter einem großen Haufen von Knochen in einer Ecke der Halle des Königs Hrólfr in Lejre. Jeden Abend wird er während des Essens als Zielscheibe für Knochen benutzt und ist damit einem ständigen, über kurz oder lang tödlichen Geschosshagel ausgesetzt. Der Held beendet das furchtbare Treiben, indem er seinerseits aktiv in das Spiel eingreift, einen riesigen Knochen im Flug fängt, auf den Werfer zurückschleudert und ihn damit tötet. Und wiederum ist es die Mutter Hǫtts, die Bǫðvarr um Hilfe bittet, weinend berichtet sie ihm über diese Geschehnisse, von denen sie aber ihrerseits offensichtlich nur vage Kenntnisse hat. Sie vermutet, ihr Sohn habe bereits schwere Verletzungen erlitten, ja sie wisse nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben sei oder schon tot. Ganz offenbar hofft sie nicht einmal auf Rettung, sie erwartet nur letztendliche Gewissheit über den Zustand des ihrer Meinung nach unentrinnbar todgeweihten Sohnes. Bǫðvarr verspricht indes seine Hilfe, nicht ohne sich verächtlich über dieses in seinen Augen nicht sehr männliche Tun auszulassen.⁴⁰ Ian McDougall verweist auch auf die Gǫngu-Hrólfs saga (Kap. 26), die Bárðar saga Snæfellsáss (Kap.13), die Þorsteins þáttr bæjarmagns (Kap. 6), wo ähnliches wüstes Vgl. McDougall 1993, S. 216 – 20. Hrólfs saga kraka og Bjarkarímur, Kap. 23: „[V]karl minn áttum einn son, þann er Hǫttr hét ok einn dag fór hann til borgarinnar at skemta sér, en þeir glettuz við hann konungsmenninir, ok þat stóðz hann illa. Síðan tóku þeir hann ok settu í beina sorp. En þat er háttr þeira um matmál ok svá sem af er etit hverju beini, þá kasta þeir til hans; fær hann af því stundum stór mein, ef á hann kemr, ok ekki veit ek, hvárt hann er lífs eða dauðr. En þau laun vilda ek af þér hafa fyrir minn beinleika, at þú kastaðir til hans minna beini heldr en meira, ef hann er ekki dauðr út af.“ Bǫðvarr segir: „ek skal gera eptir því, sem þú heiðir, ok ekki þykkir mér þat svá garpligt at berja menn beinum eða hata bǫrn eða smámenni“ (Finnur Jónsson [Hg.] 1904). („‚Mein Mann und ich haben einen Sohn, der Hött heißt, und eines Tages ging er nach der Burg, um sich zu vergnügen, aber die Königsmannen trieben ihren Spaß mit ihm, und das wollte er sich nicht gefallen lassen; darauf nahmen sie ihn und setzten ihn in den Kehricht zwischen die Knochen; und das ist nun ihre Art während der Mahlzeit, daß sie, sobald sie einen Knochen nach dem anderen abgenagt haben, nach ihm werfen; und davon bekommt er zuweilen großen Schaden, wenn es ihn trifft, und ich weiß nicht, ob er noch lebt oder tot ist; aber den Lohn will ich von dir haben für meine gastliche Aufnahme, daß du nach ihm lieber mit kleinen Knochen wirfst als mit großen, wenn er daran noch nicht gestorben ist.ʻ Bödwar sagte: ‚Ich werde tun, um das du mich bittest; und das scheint mir nicht gerade heldenmäßig, nach den Menschen mit Knochen zu werfen oder Kinder und schwache Leute zu mißhandelnʻ“ (Herrmann [Übers.] 1905, S. 69 f.).
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5 Balder muss sterben
Knochenschmeißen beschrieben wird, teils zur Freude, teils zum Verdruss der daran Beteiligten. Denn stets ist dieses Spiel mit mindestens ernsten Blessuren, wenn nicht tödlichen Verletzungen verbunden ‒ es sei denn, man legt eben jenes männliche, aktive, heldenhafte Verhalten an den Tag, das in diesem Fall erwartet wird. Die Protagonisten fangen wie Bǫðvarr das tödlich gefährliche Wurfgeschoss (meist einen Ochsenknochen) im Flug, schleudern ihn auf den Gegner und bringen ihn damit ums Leben. Dann aber muss man sich ‒ durchaus ungut ‒ nicht nur an die Balder-Spielszene selbst erinnert fühlen, sondern auch an die Ereignisse, die zeitgleich ablaufen: Auch Frigg, die Mutter Balders, ist tief beunruhigt, sie ahnt wohl mehr als sie weiß, was auf dem Thing geschieht, sie kennt die Umstände, aber nicht den genauen Status quo, in dem sich ihr Sohn Balder zum Zeitpunkt befindet. Und sie ist ebenso untröstlich, sie beweint (wenn auch im Erzählrahmen der Vǫluspá erst nach dem Unglück) vá Valhallar (Vsp 33), das „Unglück“, die „Not Walhalls“, wie gemeinhin übersetzt wird. Aber vá bedeutet auch „Abweichung“, „Fehler“, „Ungerechtigkeit“. Beweint sie womöglich eher die Handlungsweise der Asen, ihr verachtenswertes, gar ,unmännlichesʻ Tun? Nun ist jenes „murderous bone-throwing at boisterous dinner parties“ wohl ein gut bekanntes literarisches Motiv, gleichzeitig sagt es aber nicht unbedingt etwas über seine tatsächliche Realisierung in der Kulturgeschichte der Wikinger aus (oder deren gegebenenfalls zweifelhaften Tischsitten).⁴¹ Denn vom ,Knochenwerfen bei Tischʻ erfahren wir auch aus einem ganz anderen Kulturkreis und bereits wesentlich früher, es ist ja Odysseus selbst, der ebenfalls beim berüchtigten Zechgelage der Freier nur knapp einem Knochengeschoss, einem Kuhfuß, wie es heißt, entgeht (Od. 20). Der Fall der Tischsitten wird hier der Auftakt zum Untergang, es kommt zum erbarmungslosen Abschlachten der Freier in der Festhalle.⁴² Und auch in diese Dramaturgie des Untergangs wird unmittelbar zuvor ein Spiel, ein Wettkampf geschaltet, mit eben jenem exotischen Hornbogen, der auch den Beowulfvettern bei ihrem Schießspiel zum Verhängnis wird. Die blutige Freier-Szene der Odyssee steht ebenso am Ende einer narrativen Klimax, einer Verdichtung der Ereignisse, sie läutet den Untergang ein der hier wie da noch Ahnungslosen. In der christlichen Literatur des Mittelalters galt das knútukast als nachgerade Barbarenstereotyp. Es gehörte zu den „stock representations of barbarous behaviour“⁴³ und war als solches fest mit den heidnischen Dänen verbunden. Diese waren über die Grenzen hinaus bekannt für jenes brutale Amüsement gerade ihren christlichen Feinden gegenüber: Abbo von Fleury beschreibt (in lateinischer Sprache) das Martyrium des Hl. Edmund, Passio S. Eadmundi, die Ælfric of Eynsham englisch wiedergibt: Die Dänen banden den Märtyrer an einen Baum „and used him for target
Vgl. McDougall 1993, S. 219 f. Vgl. Heinrich 1986, S. 23. McDougall 1993, S. 220.
5.2 Das Thingereignis
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practice (quasi ludendo ad signum) as a brutal form of amusement ‒ swilce him to gamenes as Ælfric puts it.“⁴⁴ Nun zeigt diese Beschreibung wenig Ähnlichkeit mit der Erwähnung des Todes des Königs in der Angelsächsischen Chronik, die tatsächlich außer den dürren Fakten seines Sterbejahres 869 durch eine Niederlage in einem Kampf gegen die Dänen nichts Weiteres zu sagen weiß.⁴⁵ Eine hagiographische Fiktion also möglicherweise, wie sie sich häufig genug im religiös fundierten und motivierten Genre der Heiligenlegende findet. Dennoch möchte McDougall der Schilderung einiges Gewicht einräumen, wenn schon nicht unbedingt als authentisches historisches Zeugnis, aber zumindest im Sinne eines bekannten, konventionalisierten Wissensrahmens, der darüber hinaus auf irgendeine Weise mit dem skandinavischen Paganismus, mit einer Art von ritualisiertem Habitus verbunden scheint. Auch das Martyrium des St. Ælfheah (1012) wird auffallend ähnlich beschrieben. So wie der Hl. Edmund ,sebastiangleichʻ sein Leben lassen musste, scheint der Hl. Ælfheah von Osbern von Canterbury zu einem englischen St. Stefan stilisiert worden zu sein.⁴⁶ Die zwei ältesten Quellen zu diesen Ereignissen, ein Eintrag in der Angelsächsischen Chronik aus dem Jahr 1011 und ein Bericht von Thietmar von Merseburg (975 – 1018) stimmen gerade in diesen Punkten überein⁴⁷: Die erbosten Wikinger bombardieren den Märtyrer mit schweren Geschossen, dennoch verbleibt er in caelesti iucunditate, in „himmlischer Freude“, einer seiner Peiniger wird (als Strafe Gottes) in seinen Gliedern verkrüppelt, sogar deren Anführer Thorkel oder Thurcil (vielleicht der historische Þorkell hávi Strút-Haraldsson),⁴⁸ konzipiert als der ,edle Heideʻ, setzt sich für diesen vergeblich ein.
McDougall 1993, S. 202 f. Vgl. McDougall 1993, S. 203. Vgl. McDougall 1993, S. 205. Talia loquentem profanorum agmen vallavit et diversa hunc ad interficiendum arma congerit. Quod cum eorum dux Thurcil a longe vidisset, celeriter accurrens: „Ne, queso, sic faciatis!“ infit. „Aurum et argentum et omne, quod hic habeo vel ullo modo acquirere possum, excepta navi sola, ne in christum Domini peccetis, libenti animo vobis omnibus trado.“ Tam dulci affatu infrenata sociorum ira ferro et saxis durior non mollitur, sed effuso innocenti sanguine placatur, quem communiter capitibus boum et imbribus lapidum atque lignorum infusione protinus effundunt. Inter tot frementium impetus potitus est caelesti iucunditate, ut signi sequentis efficatia protinus testatur. Unus namque inter primicerios membris effectus debilis agnovit in semet ipso, quod deliquit in Christi electo […] (Holtzmann [Hg.] 1935, S. 451). („The troop of wicked men surrounded him as he spoke these words, and collected various weapons to kill him. When their leader, Thorkel, saw this from a distance, he ran quickly, and said: ‚Do not, I beg you, do this. I will give to all of you with a willing heart gold and silver and all that I have here or can get by any means, except only my ship, on condition that you do not sin against the Lord’s anointed.ʻ The unbridled anger of his comrades, harder than iron or stone, was not softened by such gentle words, but it was appeased only by the shedding of innocent blood, which together they forthwith shed by the heads of oxen and showers of stones and a constant stream of blocks of wood. Among so many attacks of the raging folk, he received the heavenly joy, as the working of the following sign at once proved. For one of the leaders became crippled in his limbs, and realised that he had sinned against Christ’s elect […]“ (Douglas et al. 1979 [Übers.], S. 349). Vgl. McDougall 1993, S. 210.
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5 Balder muss sterben
Nun ist ein weiteres Detail des Heiligenmartyriums in der angelsächsischen Chronik hier von Interesse: Dieses Bombardement hat nicht in der Festhalle stattgefunden, die Dänen führten Ælfheah vielmehr zu diesem Zwecke zu einem husting.⁴⁹ Der englische Begriff entspricht dem nordischen Wort húsþing, also eine Art „Versammlung“, später auch im Sinne von „Gerichtshof“ oder „Tribunal“ verwendet,⁵⁰ dort sei er zu Tode gebracht worden mit Geschossen aller Art. Bezeichnenderweise dürfen neben erwartbaren Geschossen wie Holz, Steine, Pfeile gerade Ochsenschädel (capitibus boum) nicht fehlen.
5.3 Ochsenköpfe Die durchgehende Erwähnung von Ochsenköpfen ist auffallend. Sie erscheinen als das Wurfgeschoss par excellence, aber doch mehr oder weniger als blindes Motiv, schon allein aus praktischen Erwägungen der Verfügbarkeit. Wie aber kommt der Ochsenschädel zu seinem exponierten Platz in Wurfhandlungen? So findet sich eine ähnlich enigmatische Erwähnung eines Knochens in angelsächsischen Quellen seit dem 9. Jh. gerade im Zusammenhang mit einem primordialen Totschlag, Kains Mord an seinem Bruder Abel. Kain soll dies mit dem Kieferknochen eines Esels bewerkstelligt haben, in der Kunst und Literatur ist dieses Motiv unter dem Namen „Cain’s jawbone“ bekannt. So erscheint es sprichwörtlich (wenn auch nicht mehr genau verstanden)⁵¹ bei Shakespeare, Hamlet, wenn Hamlet in der Friedhofsszene spricht: „That skull had a tongue in it, and could sing once; / how the knave jowls it to the ground, as if it were / Cain’s jaw-bone that did the first murder!“ (5, 1, 77‒79). Im Dialog Solomon and Saturn ist zu lesen: „Tell me why stones are not fruitful? I tell thee, because Abel’s blood fell upon a stone when Cain, his brother, slew him with the jawbone of an ass (mid ánes esoles cinbáne).“⁵² Im mittelenglischen Þe Lyff of Adam and Eue (ca. 1375) wird Kains Untat auf gleiche Weise beschrieben: „Wið þe cheke-bon of an asse he smot him on þe hed.“⁵³ Es ist eine rein englische Tradition, keine Spur davon in den rabbinischen Traditionen, und doch so verbreitet, dass sie in die Mysterienspiele Einzug halten konnte.⁵⁴
„Then took they the bishop, led him to their hustings on the eve of Sunday, the octaves of Easter, which was on the 13th before the Kalends of May; and there they then shamefully slaughtered him: they cast upon him bones and the horns of oxen, and then one of them struck him with an axe-iron on the head, so that with the blow he sank down“ (Giles [Übers.] 1914, S. 101). Der Begriff erscheint meist im Plural: hustings, siehe ae., me. husting, husteng(e); „Old English hústing, < Old Norse hús-þing“, „house-assembly, a council held by a king, earl, or other leader, and attended by his immediate followers, retainers, etc., in distinction from the ordinary þing or general assembly of the people“ (OED online, „husting, n.“). Vgl. Kuhl und Bonnell 1924, S. 140. Kemble 1848 (Hg.), S. 186 f. Emerson 1906, S. 854. Vgl. Kuhl und Bonnell 1924, S. 141.
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Schapiro verweist auf eine alttestamentarische Erzählung über Samson (Buch der Richter 15, 14). Er soll die Philister mit dem Kieferknochen eines Esels besiegt haben, wohl ein etymologisches Missverständnis, das seinen Ursprung wahrscheinlich im Toponym lechi habe, das gleichermaßen hebr. „Kiefer“ bedeute. Das erkläre aber gerade nicht die hohe Popularität dieses Motivs ausgerechnet im nordisch angelsächsischen Bereich. Es müsse auf jeden Fall weitere Faktoren gegeben haben, die diese Anknüpfung begünstigt hätten. Das Motiv sei schließlich auf keine Weise selbstverständlich: „The choice of a jaw-bone is highly imaginative and rare, unlike the familiar every-day weapons in the other versions, and implies a peculiar style of fantasy“.⁵⁵ Schapiro möchte darin letztendlich einen spezifischen Darstellungsmodus vermuten, „the beast-head with open jaws“ als Sinnbild roher, unmenschlicher Gewalt: „The animal jaw is the most powerful sign of violence and destructiveness.“⁵⁶ Einer Erklärung, der wir wohl ein Stück weit folgen können, aber da mag der Knochen eines vergleichsweise harmlosen Haustieres, eines Pflanzenfressers, nicht unbedingt der beste Vertreter sein. Die Frage bleibt: Was mag im angelsächsischen Bereich dazu bewogen haben, die übliche Mordwaffe Kains, eine Keule oder Ähnliches, durch einen Knochen, den Teil eines Tierschädels zu ersetzen?⁵⁷ Von welchen Denkvoraussetzungen sollten wir ausgehen, in denen ausgelassenes, ‚spielerischesʻ (Ochsen)knochenwerfen, bizarrer Mord, (gemeinschaftlich ausgeführte) Hinrichtung zusammen gedacht werden konnten? Einerseits wird diese Handlungsweise ausdrücklich in Gesetzestexten als niðingsverk, als „Schurkentat“, als „unmännliche Tat“ gebrandmarkt,⁵⁸ andererseits erscheint in der Lex Castrensis des Sven Aggesen (ca. 1181) gerade diese Art der Bestrafung: Jedermann, der die Regeln der Gemeinschaft dreimal verletzt habe, müsse sich in die äußerste Ecke der Halle setzen, so dass jeder Knochen auf ihn werfen könne.⁵⁹ Ob damit nun auch letztendlich der Tod des Betreffenden mit einkalkuliert war, ist fraglich (wenngleich nicht ausgeschlossen), aber ebenso möglich, dass wir es bei dieser Erwähnung mit einer Art „antiquarian invention“,⁶⁰ einer lediglich Literarisierung, Stereotypisierung von ,grausamem Wikingertumʻ zu tun haben. Aber dennoch, selbst wenn nur als literarische, symbolische Vorstellung, als
Schapiro 1942, S. 211. Schapiro 1942, S. 211. Vgl. Schapiro 1942, S. 204. Vgl. McDougall 1993, S. 223 f.: So heiße es ausdrücklich im Eriks Sjællandske lov (siehe auch Valdemars Sjællandske lov und das altschwedische Västgötalag), wer mit Knochen oder Steinen werfe und andere damit verletze, müsse dafür Strafe bezahlen. Amplius, si quem obstinata presumptio ternis incorrigibilem notauerit excessibus, et resipiscere detrectauerit, extremum omnium locandum statuerunt et pro arbitrio cuiuslibet ossibus eum iactandum. (Lex Castrensis, Kap. 5, Gertz [Hg.] 1917, S. 73 f.). („Further, if obstinate arrogance should, through three offences, mark anyone off as incapable of being corrected, and should he refuse to repent, they have decreed that he should be seated as far as possible away from everyone else, to be pelted with bones as anyone pleases.“ (McDougall 1993, S. 222, Anm. 48). McDougall 1993, S. 223.
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gegebenenfalls lediglich fiktives Strafmaß, so geht es doch um eine Vorstellung der Demütigung und des Ausschlusses, das ,an den Rand der Gemeinschaft Verweisenʻ. Selbst Odysseus erscheint (zunächst unerkannt) als der geschmähte Außenseiter, der verachtete Bettler, wie der Bauernjunge Hǫttr auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung. Hier wie da scheint das Verhalten der Festgäste zunächst infam und ungehörig, aber doch auf seine Weise gerechtfertigt, zumal es dazu dient, unerwünschte, randständige, fremde Elemente zu kennzeichnen und aus der Systemmitte zu vertreiben. Aber die berühmte Szene der Odyssee zeigt ebenso: Dieser Bruch, dieses Verlassen üblicher, kultureller Konventionen kann sich gegen die Ausführenden selbst wenden, deren buchstäblich grenzwertiges Verhalten scheint seinerseits eine lebensbedrohliche Grenze für die ganze Gemeinschaft anzuzeigen ‒ so oder so ist es der Zustand eines Systems, das aus den Fugen gerät und kurz vor dem Zusammenbruch steht. In diesem Sinne gleicht das ingrimmige, sardonische Lächeln des Odysseus über die Ahnungslosigkeit wie Impertinenz der Freier⁶¹ dem wissenden, heimtückischen Blick des Loki. Hier wie da erscheint dieser gezielt eingeplante Kippmoment des Spiels (des spielerischen Handelns) aus dem plötzlich durchaus folgenschwerer, sogar tödlicher Ernst werden kann. Literarische wie mythische Spiele sind Rezeptionshinweise. Sie sind prädestiniert zur Kennzeichnung von Liminalität, aber sie schaffen auch Liminalität: Ihr Auftauchen im Mythos, in Narrativen bedeutet so gut wie immer, Wirklichkeitskonstruktionen beginnen instabil zu werden. Denn zum sicher gewussten Wissen über Spiele gehört: Sie müssen es nicht lange bleiben. Die Verbindung zwischen exzessivem Spiel und Tribunal erscheint in gleicher Weise in der Balder-Erzählung: Der Geschosshagel, der Ælfheah wie Hǫttr wie Balder trifft, bewirkt nicht nur eine Degradierung, er symbolisiert sie. Im Fall des Heiligen kennzeichnet es den abscheulichen, gefährlichen Andersdenkenden, den Christen, dem überhaupt nur mit dieser Art von hochtabuisierter, ritualisierter, in letzter Konsequenz apotropäischer Behandlung beizukommen ist. Denn die Art wie Ælfheah zu Tode kommt, ist unmissverständlich: Es ist eine rituelle Inszenierung, Ælfheah ist eine rituell Auszustoßender, der Geschosshagel ist Behandlung wie Kennzeichnung seines Tabustatus. Die Vorstellung eines Eselsknochens als Mordwerkzeug findet darin seinen Anknüpfungspunkt. Tatsächlich ist der Ochsenschädel in der nordischen Mythologie ein bekanntes Mittel zur Monsterabwehr, es ist ja Thor selbst, der mithilfe eines gigantischen Stierschädels (und nur dessen Schädel) das schrecklichste liminale Wesen (fast) überwältigen, zumindest im Zaum halten kann: die Midgard-Schlange. Es existiert eine feste und lange Tradition in der apotropäischen wie divinatorischen Funktio Dabei praktizieren die Freier hier ihrerseits einen bis in die jüngste Zeit geübten Rügebrauch, die so genannte ,Heimsuchungʻ oder ,Ausfressenʻ. Es ist zunächst Penelope, die sich nicht normgerecht verhält, die sich selbst nach zehnjähriger Abwesenheit ihres Ehemanns immer noch dem Heiratsmarkt verweigert und somit potentielle Kandidaten um ihre Chancen bringt. Das Prassen der Freier ist somit ein gezielter Disziplinierungsakt zur Normenregulierung. Vgl. Schmitz 2008, S. 162.
5.3 Ochsenköpfe
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nalisierung von Stier- (Ochsen-, Kuh‐)körperteilen,⁶² gerade auch mit festem Platz in rechtsnormierenden Maßnahmen (so etwa im nordischen Holmgang).⁶³ Auch das Einwickeln oder Einnähen eines Delinquenten in eine Ochsen- oder Kuhhaut bzw. das Schleifen auf einer Ochsenhaut zur Hinrichtungsstätte kennt noch das europäische Mittelalter. Von Amira vermutet, um diesen einem „Opfertier“ gleichzumachen,⁶⁴ aber nach Ausweis der Dinge muss eher von einem apotropäischen Charakter dieses bizarren Elements einer Hinrichtung ausgegangen werden: Es ist die Gemeinschaft, die in dieser hochgefährlichen Übergangsphase bis zur endgültigen Ausmerzung des monströsen Schädigers geschützt werden muss, ja dem ohne diese Maßnahmen vermutlich überhaupt nicht Herr zu werden wäre. Der Stierkörper erscheint damit als Antidot schlechthin gegen das Systemaußen (einschließlich seiner monströsen Bewohner),⁶⁵ der Stierknochen (und erst sekundär der Eselsknochen) sind nicht nur Ausweis einer monströsen Tat, er ist selbst magisch aufgeladenes, hochwirksames Instrument zur Monsterabwehr. Und so vermutet auch McDougall: So wie Ælfheah verurteilt und hingerichtet wurde, ist es also auch Balder ergangen: „[A]nd the Norsemen who killed Ælfheah may have stood him up as a target at their húsþing in much the same way that, as we have already seen, Baldr was set up as a target at the þing at Ásgarðr.“⁶⁶ Aber würde das nicht bedeuten ‒ eine Schlussfolgerung freilich, die McDougall nicht zieht ‒ ausgerechnet Balder, ‚der Guteʻ, ‚der Besteʻ, könnte sich einer Übertretung, einer Gesetzesverletzung schuldig gemacht haben, gar einer monströsen, asozialen, für die er jetzt vor dem Thing, dem Gericht der Asen, geradestehen muss? Im germanischen mittelalterlichen Rechtswesen werden Gewaltverzichtserklärungen aus einem ganz bestimmten Grund eingeholt: Tatsächlich steht dann ein schwerwiegender Vorwurf im Raum, der Verdacht einer schlimmen Übertretung, für die die Gegenpartei Kompensation fordern kann. Gerade diesen legitimen Forderungen soll mit Eidesversicherungen zuvorgekommen werden: Ein Friedensgelöbnis wird getätigt (die so genannte germanische ‚Urfehdeʻ). Der Zweck ist die „Beendigung einer bereits ausgebrochenen oder [die] Abwendung einer angedrohten Fehde durch Vergeltungsverzicht“ etwa zwischen zwei verfeindeten Familien. Anwendungsfälle sind z. B. „Totschlag“, „Raub“ oder „Ehrverletzung“.⁶⁷ Aber wie könnte ein solcher ungeheurer Vorwurf Balder treffen? Darüber hinaus scheinen sich die Asen, im Grunde noch beunruhigender, mit den geleisteten Eiden gar nicht zufrieden geben zu wollen. Sie verlangen, dass Balders Unverletzlichkeit,
Vgl. allgemein Esterle 1974. Vgl. Esterle 1974, S. 58, der darauf verweist, dass in Skandinavien das Rinderopfer eher weniger im Totenkult (im Gegensatz zum Pferd) erscheine, vielmehr sei es „eng mit rechtlichen Vorstellungen und Praktiken (Tempeleid, Holmgang)“ verbunden. Vgl. von Amira 1922, S. 226 f. Vgl. Esterle 1974, S. 91. McDougall 1993, S. 222. Saar 2006, S. 541.
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seine ,Heiligkeitʻ, letztendlich seine Unschuld in aller Öffentlichkeit nochmals erprobt und bestätigt wird. Auf dem Thing müsse sich also zeigen, wie hoch der soziale Rückhalt, eben die Ehre und Wertschätzung des einzelnen ‒ Balders ‒ in der Gemeinschaft sei, so Merrill Kaplan. Dabei komme es aber üblicherweise nicht zu körperlichen Attacken, gar zu Bewerfungsszenen, diese Thingversammlung sei dann wohl nicht mehr rechtmäßig abgelaufen.⁶⁸ Aber wiederum kennen wir aus dem mittelalterlichen Rechtswesen zahllose Fälle, in denen eben genau auf diese Weise, keineswegs chaotisch, vollkommen im Einklang mit dem Gesetz, Angriffe auf Leib und Leben des Beschuldigten vorgenommen werden, gemeint sind die so genannten Gottesurteile. Bleibt der Beschuldigte dabei heil bzw. lässt sich im Fall einer Verletzung, die nicht unbedingt ausgeschlossen war, seine Unversehrtheit schnell (häufig auf außergewöhnliche, wundersame Weise) wiederherstellen, so ist dessen Unschuld und Ehre bestätigt oder wieder hergestellt. Ein potentieller Rechtsbrecher musste ja zwangsläufig unterliegen, sei es im Zweikampf wie in anderen Formen von Elementordalen (etwa Feuer-, Wasser-, Gift- oder Eisenproben),⁶⁹ da er sich durch seine Unehrenhaftigkeit von vorneherein als „geistig und körperlich minderwertig“ darstellte.⁷⁰ Das Gottesurteil ist also in diesem Sinn eine Weissagung, die auf die Bestätigung von Ereignissen in der Vergangenheit abzielt.⁷¹ In dieser Funktion deckt es sich auffallend mit dem mittelalterlichen Glauben an die Wirkkraft der Prophetie von Träumen, auch die Wahrheitsanzeigen von Träumen müssen ja keineswegs nur in die Zukunft gerichtet sein, vielmehr können sie ebenso Effekte bereits vergangener Ereignisse sein. Auch in Balders Fall müsste dann immerhin in Erwägung gezogen werden, dass es sich gegebenenfalls weniger um eine Frage des Schutzes, denn um eine Frage der Ehre und des Ansehens handelte, das aber dann auf irgendeine Weise, in der Vergangenheit, beschädigt worden wäre. Die erleichterte Reaktion der Asen wäre insofern plausibel, Ruhm und Ehre, frami, schien wieder hergestellt, jeder Wurf, der Balder unverletzt ließ, war einzig und allein in diesem Sinne tatsächlich ein ehrenvoller für ihn. Und dennoch steht immer noch der sprichwörtliche Elefant im Raum: Loki bricht die Reglements, um einem merkwürdigen Treiben ein Ende zu setzen, aber warum wird es überhaupt in die Wege geleitet? Nicht wenig befremdet hat Friggs so genannter Geheimnisverrat, naiv, gedankenlos, wie es scheint, verrät die eigene Mutter Balders Schwachstelle, als große Unvorsichtigkeit oder Vertrauensse-
Siehe Kaplan 2012, S. 41 f. „It is easy to see the scene as a breakdown of the proper functioning of the assembly, where weapons are to be sheathed and conflicts conducted with words“ (Kaplan 2012, S. 41). Vgl. Blümle 2011, S. 33 f. Vgl. Otte 2002, S. 23 f. Vgl. Schild 2010 ff. Auch Blümle betont für die Rechtspraxis dieser so genannten Gottesurteile, dass diese keinesfalls etwas mit Körperstrafen zu tun hätten, sie seien vielmehr „Mittel zur Wahrheitsfindung“ (Blümle 2011, S. 34).
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ligkeit ist es jedenfalls manches Mal bewertet worden.⁷² Aber Frigg macht gar nicht den Eindruck, als müsse sie ein Geheimnis bewahren, sie lässt sich zunächst vom verkleideten Loki Bericht erstatten über die Vorgänge, die á þingum stattfinden, dann gibt sie ohne zu zögern Auskunft.⁷³ Aber warum ist sie (und mit ihr wohl auch die anderen Göttinnen) nicht einmal anwesend? Der Ausschluss wirkt wie eine rituelle Vorgabe, aber man wird noch mit einer weiteren Möglichkeit rechnen müssen, die gerade die Frauen sich buchstäblich abwenden lässt ‒ es ist die Scham, die Reaktion auf eine beschämende, entwürdigende Situation. Peinlichkeit, Obszönität, aber auch extreme Grausamkeit erzeugen ein kognitives Spannungsmoment, das in diesem Fall durch Entzug, durch ein Nicht-Akzeptieren erträglich wird. Und der Mensch besitzt noch eine andere Bewältigungsstrategie für dermaßen mentale Extremsituationen: das Lachen. In einer berühmten homerischen Episode reagieren die Götter in gleicher Weise auf die Obszönität und Peinlichkeit einer Situation (Od. 8, 266 – 366): Der Gott Hephaistos fängt in einem von ihm als unzerstörbar geschmiedeten Netz seine Frau Aphrodite und den Kriegsgott Ares, in flagranti, beim Liebesakt. Der Betrogene ruft die Göttergesellschaft zusammen, damit sie Zeuge würden von dieser Ungeheuerlichkeit
Nicht zuletzt hat gerade diese Szene zahlreiche logische Brüche und Katachresen, viel muss Snorri hier kitten: Wenn Frigg tatsächlich davon ausgeht, dass sie mit einer Frau spricht, dann müsste sie auch wissen, dass diese als Frau keinen Zugang und damit keine Kenntnisse von dem Geschehen am Thing haben konnte. Es scheint aber so, dass im Grunde genommen alle, auch die Frauen, sehr wohl Bescheid darüber wussten und Frigg vielmehr über den Stand der Dinge, das (möglicherweise rituelle) Prozedere auf dem Laufenden gehalten werden wollte. Andererseits scheint wiederum Loki sehr genau gewusst zu haben, dass nur Frigg machtvolles, rituelles Wissen besitzt, um Balders causa zu einem Ende zu bringen. Lindow sieht in dieser Befragungsszene Parallelen zu einer Art „abbreviated contest of wisdom“ (Lindow 1997, S. 59), einen Wissenswettstreit, wie ihn üblicherweise Odin zu führen pflegt. Frigg sei somit in der Rolle der Seherin, die unwillig ihr Wissen preisgebe. Und so wie Odin dabei Informationen über die Einzelheiten von Balders Totschlag erfahren habe (die tote Vǫlva hält Lindow dabei für Angrboða, Lokis Frau), so erfahre Loki nun von Frigg, Odins Frau, wichtige Details über das Wie (vgl. Lindow 1997, S. 59). Kaum minder befremdet hat bekanntlich auch Kriemhilds Geheimnisverrat ‒ ohne Not ‒ der einzig verwundbaren Stelle an Siegfrieds Leib. Ein Erzählelement, das im Weiteren im Nibelungenlied ähnlich schlecht integriert ist, auf irgendeine Weise aber mit einer Tradition verbunden ist, die Kriemhild ganz im Gegensatz zu ihrer hehren, arglosen Erscheinung im Nibelungenlied als mordgierig, ja teuflisch darstellt. Eine Problematik, die Jan-Dirk Müller bezeichnenderweise ganz zu Beginn seiner seminalen Untersuchung über das Nibelungenlied stellt: „Wie nun ward Kriemhild zur Unholdin?“ (Müller 1998, S. 1). Müller möchte also davon ausgehen, wie im Übrigen der überwiegende Teil der Forschung, dass Kriemhild dies jedenfalls nicht von Anfang an gewesen sei und ihr schlimmer Charakterwandel erst durch die Folge grausamer Schicksalsschläge (literarisch) plausibel werde (vgl. Müller 1998, S. 1). Dennoch scheint aber eine andere Tradition diese Plausibilisierungskonzepte gar nicht zu benötigen: Im Gedicht Rosengarten (1250) ist Kriemhild von Anfang an die blutrünstige Teufelin, die den Helden nach dem Leben trachtet. Womöglich muss also vielleicht ganz im Gegenteil davon ausgegangen werden, dass die Mordlust Kriemhilds ursprünglichere Anlage gewesen ist, worauf allein schon der Name, „die Grimmige“, hindeuten könnte. Eine nachgerade gezielte Tötungsabsicht scheint auch im nordischen Kontext auf irritierende Weise durch, und auch hier ist dieses Motiv, wie wir noch sehen werden, ursprünglicher und muss durch ganz neue Begründungsstrategien ersetzt werden.
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mit den Worten: „Kommt und seht die Dinge zum Lachen, und nicht zu ertragen! (Od. 8, 307).“ Und auf nämliche Art ‒ bezeichnenderweise ebenso geschlechtsspezifisch ‒ reagieren die Götter: Die Göttinnen bleiben vor Scham in ihren Gemächern, die (männlichen) Götter aber lassen ihr sprichwörtliches unauslöschliches Gelächter erschallen.⁷⁴ Warum also wird Balder zu einer Gerichtsverhandlung zitiert, die gar den Eindruck eines Strafkommandos macht? Warum bleibt Snorri unverdrossen bei seiner Spielversion, und warum müssen diese vorgeblichen Spiele an einem bestimmten Punkt abgebrochen werden? Werden denn nicht alle Asen zu Spielverderbern? Es ist ja nicht nur der ohnehin übel beleumdete Loki, der so handelt, auch die vorgeblich besorgten Eltern Odin und Frigg scheinen irgendwie Anteil daran zu haben, Odin verdirbt sein ,Spielʻ ebenso ohne Not wie Frigg. In welchem Denksystem auch immer man diese Handlungen verorten will, es sind ritualisierte, planvoll ausgeführte Handlungen mit einem dezidierten Ziel: eine Abweisung des Unerwünschten, ja Gefürchteten, und Balder ist dabei das Zielobjekt.
5.4 Loopholes Die Schilderung von Balders ,Erprobungʻ vermag also kaum den Eindruck eines Spiels zu erwecken. Merrill Kaplan sieht in Snorris Mythenversion vielmehr eine auffallende ‚Rechtslastigkeitʻ, sein Bericht weise eine Fülle von Rechtsbegriffen auf, sei nachgerade „saturated with legal detail.“⁷⁵ In der Tat fühlen wir uns eher an ein Tribunal erinnert, in dem Balder gar aufgefordert wird aufzustehen: [A]t hann skyldi standa upp á þingum (Gylf 49). Der eigenartige Duktus der Eidabnahme und die Sonderstellung, die die Mistel darin einnimmt, tut ein Weiteres dazu: Die besondere Art, wie die Mistel von dieser Rechtssphäre ausgenommen werde, so Kaplan, deute ebenso in diese Richtung. Der Mistelzweig scheint zu jung, wie es heißt, um von ihm den Eid einzufordern (Sá þótti mér ungr at krefja eiðsins, Gylf 49), der Ausdruck ,jungʻ referiere aber weder auf äußere Jugendschönheit oder Ästhetik noch auf ein Konzept von Harmlosigkeit oder Schwäche (wenn auch in der Vǫluspá so angedeutet), er deute vielmehr auf eine Art „legal agreement“,⁷⁶ eine rechtliche Vereinbarung, an der die Pflanze aufgrund dieser Eigenschaft keinen Anteil haben könne. Das heißt, sie kommt für eine Gewaltverzichtserklärung von vorneherein nicht infrage, sie wäre ungültig: Die Mistel ist nicht eidfähig.⁷⁷ Unter diesem Aspekt macht denn auch Friggs Vorgehen den Eindruck eines offiziellen Rechtsweges: Sie holt die Eide ein (tók svardaga), nachdem sie diese zunächst korrekt öffentlich angezeigt hat (vitat), ganz wie im mittelalterlichen
Vgl. Duerr 1994, S. 93 ff. Kaplan 2012, S. 40. Kaplan 2012, S. 40. Siehe Kaplan 2012, S. 38 – 40.
5.4 Loopholes
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Rechtswesen gefordert.⁷⁸ Und da nun aber der Sinn des Eides die zukünftige Gewaltvermeidung sei und dieser durch die Eidunfähigkeit (der Mistel) unterlaufen werde, habe Snorri mit diesem Mythos eine crux, „a loophole“, einen Makel des isländischen Rechtssystems aufzeigen wollen.⁷⁹ Dies gehöre wiederum in den größeren Komplex des Dilemmas der Racheunfähigkeit innerhalb einer Familie, was bekanntlich John Lindow zu seiner Interpretationsgrundlage des Baldermythos macht⁸⁰: „Snorri’s narrative of the mistilteinn, however, presents the legal problem in its most abstract and insoluble form.“⁸¹ Nun scheint dieser rechtshistorische Ansatz von Lincoln und (darauf aufbauend) Kaplan durchaus möglich und mag zu einer gewissen Zeit unter diesem spezifischen Aspekt verstanden worden sein. Aber das Motiv der ,wasserdichtenʻ, rechtlichen Absicherung, der bedingungslosen Friedenszusicherung aller Geschöpfe und Wesenheiten, das im Baldermythos eine so bedeutsame Rolle spielt, findet sich in auffallend ähnlicher Weise bereits Jahrtausende früher, ausgerechnet bei der Überlistung und Bezwingung von Indras Erzfeind, dem Wasserräuber Vṛtra (siehe bereits Rigveda 1, 32, 14). Im indischen Epos Mahābhārata (5, 10), das (wenn auch wohl zum großen Teil nachchristlich) bedeutend ältere vedische Traditionen fortführt, schließen Indra und Vṛtra auf Geheiß der Götter einen Pakt. Keiner dürfe den anderen töten, weder „bei Tag noch bei Nacht“, weder mit „etwas Trockenem noch mit etwas Nassem“, nicht „mit der flachen Hand noch mit der Faust“, nicht „mit einem Stock noch mit dem Bogen“.⁸² Schließlich erschlägt Indra den Vṛtra (in einer Parallelversion den Kopfdämon Namuci) in der Dämmerung mit dem Schaum des Meeres (in dem sein Donnerkeil verborgen ist), also nicht am Tag noch in der Nacht, nicht mit etwas Trockenem noch etwas Feuchtem, und umgeht so mit List die Vereinbarung.⁸³ Hier geht es um nämliche
Vgl. Kaplan 2012, S. 40 f. Vgl. Kaplan 2012, S. 42. Siehe Lindow 1997. Kaplan 2012, S. 55. Lommel 1978b, S. 414 f. Der Tod Vṛitras und die Sünde von Indra (5, 10): „,Ye lords of the Brahmana race, ordain so that Indra himself or the gods do not kill me by what is dry, or wet; by stone, or by wood; by a weapon fit for close fight, or by a missile; in the day time, or at night. On those terms eternal peace with Indra would be acceptable to me, – Very good! was what the Rishis told him, O best of Bharata race.‘ Thus peace having been concluded, Vritra was very much pleased. And Indra also became pleased though constantly occupied with the thought of killing Vritra. And the chief of the deities passed his time in search of a loophole, uneasy (in mind). And on a certain day when it was evening and the hour awful, Indra caught sight of the mighty Asura on the coast of the sea. And he bethought himself of the boon that was granted to the illustrious Asura, saying, ,This is the awful evening time; it is neither day, nor night; and this Vritra, my enemy, who hath stripped me of my all, must undoubtedly be killed by me. It [sic] I do not kill Vritra, this great and mighty Asura of gigantic frame, even by deceit, it will not go well with me.‘ And as Indra thought of all this, bearing Vishnu in mind he beheld at that instant in the sea a mass of froth as large as a hill. And he said, ,This is neither dry, nor wet, nor is it a weapon; let me hurl it at Vritra. Without doubt, he will die immediately.‘ And he threw at Vritra that mass of froth blended with the thunderbolt. And Vishnu, having entered within that froth, put an end to the life of Vritra. And
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,kognitive Schlupflöcherʻ, um die Aushebelung eines binären Systems, wo Kategorienlosigkeit, ,Nichtzuordenbarkeitʻ stets als Bedrohung für das Ganze, die Systemschließung wahrgenommen wird. Merkwürdigerweise erscheint dieses buchstäbliche Sprengen des Systems auch im alten Indien zunächst keineswegs als Heilstat, es ist eine Unrechtstat, ein Vertragsbruch. Indra lädt dadurch schwere Schuld auf sich, wie es heißt, wohl atmet der ganze Kosmos auf durch diesen Befreiungsschlag, der Himmel heitert auf, „and there also blew a pleasant breeze; and all beings were much pleased“.⁸⁴ Aber nun ist es Indra, der desolat ist, „exceedingly sad“, er zieht sich von allen Lebewesen zurück und verbirgt sich, so dass die Welt öde und königlos wird.⁸⁵ In der Namuci-Erzählung rollt gar in einem skurrilen Szenario der abgeschlagene Kopf des Dämons hinter Indra her, schmäht ihn und bezichtigt ihn als „Verräter“, „Vertragsbrecher“, „Betrüger“, „Mörder des Nichtbetrügers“.⁸⁶ Aber dem über die Maßen machtvollen Feind ist eben nur auf diese ‒ ausdrücklich betrügerische ‒ Weise beizukommen. Wir treffen noch weitere Male auf dieses Plausibilisierungsmodell: Sophus Bugge (mit Verweis auf Konrad Hofmann) ist der Erste, der auf die Erzählung Toledot Jeschu („Geschichte Jesu“), eine jüdische Schmähschrift über das Leben Jesu, aufmerksam macht. Jesus erscheint hier als Scharlatan und Zauberer. Wegen seiner Machenschaften wird er angeklagt, er muss vor dem Rat stehen und wird schließlich zum Tode verurteilt, bezeichnenderweise gleich auf zweifache Art: Er wird gesteinigt und schließlich gekreuzigt. Die Kreuzigung gelingt freilich erst, nachdem die Eidesversicherungen, die der listige Zauberer Jesus zuvor von jeder Holzart genommen hat, durch Judas unterlaufen werden. Hier ist es der Kohlstrunk, der zum tödlichen Kreuzholz für Jesus wird.⁸⁷
when Vritra was killed, the cardinal points were free from gloom; and there also blew a pleasant breeze; and all beings were much pleased“ (Übers. Ganguli 1883 – 1896, S. 18). Übers. Ganguli 1883 – 1896, S. 18. Der Tod Vṛitras und die Sünde von Indra (5, 10): „Now when the mighty Vritra, terrible to the gods, was killed, Indra became overpowered by falsehood, and he became exceedingly sad; and he was also overpowered by the sin of Brahmanicide on account of having killed the three-headed son of Twashtri. And he betook himself to the confines of the worlds, and became bereft of his senses and consciousness. And overpowered by his own sins, he could not be recognised. And he lay concealed in water, just like a writhing snake. And when the lord of celestials, oppressed with the dread of Brahmanicide, had vanished from sight, the earth looked as if a havoc had passed over it. And it became treeless, and its woods withered; and the course of rivers was interrupted; and the reservoirs lost all their water; and there was distress among animals on account of cessation of rains. And the deities and all the great Rishis were in exceeding fear; and the world had no king, and was overtaken by disasters“ (Übers. Ganguli 1883 – 1896, S. 18 f.). Lommel 1978b, S. 416. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 47– 49. Neckel bringt noch eine Fülle weiterer Beispiele aus unterschiedlichsten Regionen der Welt, wenngleich er den orientalischen Raum als Ursprung annehmen möchte (Neckel 1920, S. 182 f.). Die Wirkfähigkeit dieser Pflanzen gründet jedenfalls nicht in gewissen magischen Inhaltsstoffen, gerade das altindische Beispiel zeigt, dass die Vorstellung einer Wirksamkeit überhaupt nichts mit einem Pflanzenkonzept per se zu tun haben muss, die Potenz ergibt sich
5.4 Loopholes
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Die Toledot Jeschu ist eine jüdische, volkstümliche Version der Lebensgeschichte Jesu, ein gewissermaßen „Anti-Evangelium“⁸⁸ in Form einer Sammlung von polemischen, sagenhaften Erzählungen. Aufgrund der großen Anzahl von Textüberlieferungen (was für deren Beliebtheit in allen Bevölkerungsschichten spricht) ist eine zeitliche Einordnung schwierig, sie schwankt entsprechend zwischen dem 4. bis 11. nachchristlichen Jahrhundert.⁸⁹ Jesus ist hier der Betrüger, der sich Göttlichkeit nur anmaßt, lediglich mithilfe übler magischer Praktiken vermag er Wunder zu wirken. Seine Mutter Maria ist von liederlichem Lebenswandel und hat ihn durch Ehebruch empfangen. Sein Gegenspieler Rabbi Jehudah (Judas) ist entsprechend in tiefster Diskrepanz zur christlichen Überlieferung der kluge Schriftgelehrte, der Jesus überführt und zu Tode bringt.⁹⁰ Am Vorabend des Passahfestes wird Jesus schließlich gesteinigt, als der Leichnam ans Kreuz gehängt werden soll, weigern sich die Hölzer, ihn anzunehmen: Der findige Magier Jesus hat zuvor sämtliche Hölzer beschworen. Jehudah weiß indes Abhilfe, er läuft in den Garten und nimmt einen Kohlstrunk. Jesus hat ihn als Einziges nicht beschworen, weil er ihn als zu schwach eingeschätzt hatte. Und daran wird er schließlich aufgehängt (vgl. Toledot Jeshu 24, 8‒13). Die Ähnlichkeit zum Baldermythos ist wohl auch in der judaistischen Forschung registriert worden, auch ist die Möglichkeit einer Einflussnahme des Baldermythos seinerseits auf die Toledot diskutiert worden, indes „aus geographischen sowie kulturellen Gründen [als] höchst unwahrscheinlich“ abgelehnt worden.⁹¹ Man wird aber (jedenfalls bedeutend wahrscheinlicher) den umgekehrten Fall erwägen müssen, dass die jüdische Legendensammlung Einfluss auf den nordischen Mythos genommen haben könnte. Nun können Richard Cole und andere zeigen, dass Kenntnisse über jüdisches Schrifttum im Norden vorhanden waren,⁹² insbesondere die französischen Viktorinen spielen dabei eine Schlüsselrolle, intensive Verbindungen ins mittelalterliche Norwegen sind bekannt, und selbst wenn Snorri Informationen darüber nur aus zweiter oder dritter Hand erhalten hätte, was Cole für durchaus möglich hält, müsse doch gleichzeitig davon ausgegangen werden, dass dieser stark inspiriert worden sei vom europäischen jüdischen Geistesleben bzw. vom christlichen Diskurs darüber. Dieser Diskurs ist, wenn auch nicht durchgehend, so doch in weiten Teilen geprägt von Diskriminierung und Ablehnung jüdischer Glaubensvorstellungen und kulturellen Lebens, „contemplation of their position as ‚Otherʻ was a staple of European intellectual life“.⁹³ Hinzu komme eine zweite Tendenz, „the common European association of Jews with
vielmehr aus dem Grenzphänomen selbst, dessen Uneindeutigkeit und Randständigkeit. Auch wenn Neckel die Vorstellung vom „Völkergedanken“ als Erklärung nicht ausreicht, so wird man doch in diese Richtung denken müssen. Heindl 2007, S. 45. Vgl. Heindl 2007, S. 45. Vgl. Heindl 2007, S. 55. Heindl 2007, S. 59. Siehe Cole 2014. Cole 2014, S. 239.
246
5 Balder muss sterben
magic, and of Jewish magic as being especially potent“,⁹⁴ was mit Sicherheit ebenso in Skandinavien bekannt gewesen sei. Und diese grundsätzliche Vorstellung, „the perception of ‚the Jewʻ as somehow occult“,⁹⁵ habe nicht nur Snorri in sein Werk einfließen lassen, sondern sei insgesamt in der nordischen Literatur in nicht wenigen Motiven als letztendlich antisemitisches Stereotyp fassbar. Wir werden uns insbesondere mit letzterer Problematik noch genauer auseinandersetzen müssen, vorläufig sei nur auf eine Unstimmigkeit verwiesen: Die zauberischen Elemente dieser ‚othernessʻ, die Cole zuvorderst als antijüdisches Konstrukt sehen möchte, werden in ungleich häufigerer Weise einer anderen Ethnie zugeschrieben, mit der der Norden, Snorri, jedenfalls in wesentlich engerem, konkretem Austausch stand: die Sami. Daneben ist die Toledot-Sammlung nun ja gerade kein antijüdisches, sondern ein antichristliches Pamphlet. Die möglichen Verbindungswege, die er indes vorschlägt, sind durchaus bedenkenswert und auch seine anschließenden Überlegungen: This is a trend that should be born in mind when we consider Snorri’s work. Would an intellectual as eclectic in his tastes as Snorri have found at least some inspiration in the vivid connotations of Jewishness that were circulating in medieval Scandinavia?⁹⁶
Nun findet sich im Targum Sheni, Est. 7, 9 (eine aramäische apokryphe Bibelübersetzung vom Buch Ester), ein recht ähnliches Motiv: Für den verräterischen Haman soll ein Galgen gefunden werden, indes lehnen alle Bäume ab, weil dies unter ihrer Würde sei. Schließlich weiß die Zeder Rat und Haman wird an den Baum gehängt, den er bereits für seinen Widersacher Mordechai ausgewählt hatte.⁹⁷ Zweifelsohne sind die beiden Schilderungen ansonsten sehr unterschiedlich, aber auch die christliche Kreuzesholzsage gehört in diesen Kontext. In einer ungarischen Fassung ist es die Espe, in der griechischen die Steineiche, die die Freveltat zulassen, und fortan fluchwürdig sind. Aufgrund der vielfältigen, volkstümlichen, oralen Beziehungen sind Entlehnungsrichtungen durchaus schwierig, wenn nicht unmöglich zu beurteilen,⁹⁸ schließlich scheint auch die Kohlstängel-Episode in der Toledot-Tradition keineswegs ursprünglich.⁹⁹ Insgesamt mache diese Episode vielmehr den Eindruck, „nur locker und im nachhinein mit der Gestalt des Judas verbunden worden [zu sein].“¹⁰⁰ In den so genannten aramäischen Fragmenten erfahren wir von weiteren seltsamen Umständen der Hinrichtung. Nachdem Jesus lebendig gekreuzigt und gesteinigt worden
Cole 2014, S. 244. Cole 2014, S. 245. Cole 2014, S. 249. Vgl. Cassel [Hg.] 1888, S. 335 – 337. Vgl. Heindl 2007, S. 59. „Die Narration von der Beschwörung der Bäume durch Jeschu und seinem schmachvollen Ende auf einem Kohlstrunk ist nicht Teil des inhaltlichen Grundbestands der Toledot Jeshu; sie ist nur im HelenaTypus zu finden, nicht jedoch im Pilatus-Typus, den ältesten Manuskripten […]. Überdies war sie ursprünglich nicht mit dem Namen Judas assoziiert“ (Heindl 2007, S. 60). Bammel 1997, S. 29.
5.4 Loopholes
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war, nimmt Rabbi Judah den Toten vom Kreuz und begräbt ihn in seinem Garten unter einem Bewässerungskanal. Dann holt er den Leichnam von dort wieder hervor, lässt ihn an den Füßen durch die Stadt schleifen, um alle vom Tod des Zauberers zu überzeugen. Die meisten Toledot-Kommentatoren nehmen an, dass von hier das bizarre Motiv des Kohlstängels seinen Ausgang genommen haben muss, eben als Teil eines (Gemüse)gartens, der schließlich in Joh. 19, 41 als Ort von Jesu Grabstätte erwähnt wird.¹⁰¹ Tertullian (siehe De Spectaculis 30, 6) kennt offenbar ebenso den Inhalt dieser Schrift, indes spricht er nicht von einem ,Kohl-Beetʻ, sondern von einem ,SalatBeetʻ als Begräbnisort. Und gerade letzteres ist nun ein durchaus prominenter Ort der antiken Mythologie. Tertullians Zeitgenosse Athenaios berichtet, wie der tödlich verwundete Adonis auf ein Lager aus Lattich gebettet worden sei oder er habe vor dem Eber Schutz gesucht in einer Lattichwiese und sei dort getötet worden.¹⁰² Newman hält damit den Adoniskult für die eigentliche Inspiration des bizarren Details der Toledot Jeschu.¹⁰³ Der jüdische Autor des 2. Jhs. habe damit gezielt eine Analogie zwischen Jesus und Adonis herstellen wollen, eine wie die andere heidnische Irrlehre, „the familiar stuff of paganism“.¹⁰⁴ Ab einem gewissen Zeitpunkt, gerade mit der Überwindung des Paganismus, seien diese polemischen Anspielungen aber nicht mehr verstanden worden. Sie mussten entsprechend neu motiviert werden, und das sei mithilfe der Kreuzesholzlegenden geschehen.¹⁰⁵ Die Toledot Jeschu-Sammlung zeigt sich in ihrem ganzen Duktus als ein Stück „jüdische Volksliteratur“.¹⁰⁶ Die zahlreichen, unterschiedlichen Überlieferungsstränge behandeln in vielfältiger Abwandlung, Aktualisierung, Erneuerung letztendlich das gleiche Problem: Auf welche Weise kann einem gefährlichen, durchtriebenen Feind der Garaus gemacht werden? Und die Maßnahmen, die insbesondere der kluge Judas zu ergreifen weiß, sind ja keineswegs nur dem Lebenden gewidmet, in jeder seiner Aktionen zeigen sich apotropäische Maßnahmen, die auch und gerade dem Leichnam Jesu, dem kaum weniger gefährlichen Toten zukommen müssen: das Umbetten des Toten, die Bestattung unter einem (Fließ)gewässer, das Binden und
Vgl. Newman 1999, S. 64 f. Lattich (Lactuca sativa) ist in der Antike ein Pflanzenkonzept mit einschlägigem Wissensrahmen. Er gilt als Totenspeise, aber auch bei den Komödiendichtern erscheint die ‚Salatpflanzeʻ als bekanntes und beliebtes Motiv. Athenaios (Deipnosophistae, II 69) weiß von einer Lattichsorte zu berichten mit dem vielsagenden Namen „Eunuch“. Plinius (nat. hist. 19, 127) erwähnt eine Lattichsorte ἀστυτίς („impotent“). Seine medizinischen, diuretischen Eigenschaften ließen Männer energielos werden, ἔκλυτοι πρὸς τὰ ἀφροδίσια. Athenaios verweist auf die Redensart, dass diejenigen, die ἀσθενεῖς („ineffizient im sexuellen Verkehr“) seien, wohl Lattich gegessen hätten (vgl. Casadio 2003, S. 251 f.; Murr 1890, S. 168 – 170). Ebenso bezeichnend, dass von einer anderen berühmten Totenspeise ‒ Sellerie ‒ das schiere Gegenteil behauptet wird. Vgl. Newman 1999, S. 76. Newman 1999, S. 77. Vgl. Newman 1999, S. 79. Heindl 2007, S. 44.
248
5 Balder muss sterben
Schleifen. Wir erkennen darin unzweifelhaft gesammeltes Volkswissen über Totenbannung, ein Umstand, der auch Snorri nicht verborgen geblieben sein konnte.
5.5 Die Strafe der Steinigung Im Rahmen eines juristischen Denkmodells, und wir wollen für den Augenblick noch darin verbleiben, ist Balders Behandlung eine Bestrafung und es ist die Art der Bestrafung selbst, die uns Auskunft geben kann über das eigentliche Verbrechen, das dem Opfer, dem Verurteilten zur Last gelegt wird. Das ist eine Rechtsvorstellung, die in der Geschichte des Strafrechts als „,reflectingʻ punishments“ erscheint: „In the ,reflectingʻ punishments the outer form of the punishment is intended to symbolize or refer to the nature of the crime.“¹⁰⁷ Ein Konzept, das in mancher Weise über das bekannte Talionsprinzip in der Strafverfolgung hinausgeht. Gewiss geht es im frühen Rechtsempfinden zunächst um einen Ausgleich, Kompensation, die Vorstellung Gleiches mit Gleichem zu vergelten, zum anderen aber gerade um die spezifische Art der Behandelbarkeit eines Verbrechens, das seinerseits wiederum Ausdruck des spezifischen Wesens des Verbrechers selbst ist. Danach richten sich die Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Norm. Wilhelm Speyer schickt in seiner Untersuchung zu einer uns besonders grausam erscheinenden Todesart, die Zweiteilung, eine in jeder Hinsicht grundlegende, methodologische Überlegung voraus: Der Gebildete der modernen westlichen Kultur beurteilt die Art, einen Menschen zu töten, meist ausschließlich nach dem gefühlsmäßigen Moment und unterscheidet so zwischen verschiedenen Graden der Grausamkeit. Daß aber die meisten Hinrichtungsarten aus einer mythischen Weltdeutung entstanden sind, weiß er nicht mehr.¹⁰⁸
Eine magisch apotropäische Denkweise haben wir schon beim Esel- und Ochsenknochenwerfen vermutet. Ähnlich wurde in Persien und anderen Ländern des Mittelmeers die Zweiteilung als rituelle Beseitigung von Sakralfrevlern gewählt. Hier galten die Christen als Feinde der Götter und entsprechend häufig sind sie auf diese Weise hingerichtet worden.¹⁰⁹ In slavischen und germanischen Quellen sollen Baumfrevler durch die so genannte evisceratio („Ausdärmen“), das Herauswickeln der Gedärme um den geschädigten Baum, zu Tode gebracht worden sein. Dies wird in der Tradition Mannhardts und v. Amiras üblicherweise als Kompensation eines sakralen Frevels interpretiert, der, in jeder Hinsicht schwerwiegend und konsequenzenreich für die ganze Gemeinschaft, nur mit diesen drastischen Maßnahmen gesühnt und ausgeglichen werden konnte; eine Interpretation, die von Ström nicht unbedingt geteilt
Ström 1942, S. 101. Speyer 1980, S. 193. Vgl. Speyer 1980, S. 193 f.
5.5 Die Strafe der Steinigung
249
wird,¹¹⁰ wir werden seine Argumente dazu noch im Einzelnen näher beleuchten müssen. Die Art der Strafe, die die ,Deliquentenʻ Balder, Hǫttr, die angelsächsischen Märtyrer erfahren, ist im Rechtsdiskurs die Strafe der Steinigung. Nun sei gerade die Steinigung, so schon Rudolf Hirzel, immer am meisten als eine „Handlung öffentlicher Selbsthilfe“, gar als „Ausbruch der Volkswut“ betrachtet worden, in diesem Sinne womöglich gar keine „rechte Strafe“, „im besten Falle eine Exekution ohne vorausgehendes Rechtsverfahren“,¹¹¹ der ,entfesselte Volkszornʻ schlechthin. Jener Vorstellung von spontanem, hochemotionalem, kaum beherrschbarem Handeln begegnet Hirzel indes unmissverständlich: „Sicher ist, daß die Steinigung nicht bloß oft einen guten rechtlichen Grund hatte sondern auch in gewissen festen Formen vor sich ging, also in der einen wie der andern Beziehung in eine rechtliche Ordnung sich einfügte.“¹¹² In keinem einzigen Fall der von ihm untersuchten Fälle (des antiken mediterranen Raums) habe die Strafe der Steinigung in einer „plötzliche[n] Aufwallung“ stattgefunden, stets sei sie auf eine gewisse Weise „ordnungsgemäß“ erfolgt, zumindest „nach vorausgegangener Beratung der Gemeinde“.¹¹³ Von Vorstellungen von „tumultuarisch[en]“¹¹⁴ Szenerien muss man sich also distanzieren. Aber er betont auch ausdrücklich: Die Steinigung war zunächst einmal von ihrem Ursprung her nicht als Todesstrafe gedacht, ja wohl nicht einmal als Strafe in einem strafrechtlichen Sinn. In der Regel sei dieses Verfahren einfach angewandt worden, um „unliebsame Personen“ loszuwerden: „[D]ie Steinigung gleicht hier der Ächtung und schlägt zu demselben Zweck, der Ausschließung aus dem Gemeinde-Bereich nur ein roheres und drastischeres Verfahren ein.“¹¹⁵ Sei sie als explizite Todesstrafe gedacht gewesen, habe man dafür Sorge tragen müssen, dass der Delinquent nicht entkommen konnte. „Der ursprüngliche und wesentliche Endzweck war aber nicht die Tötung sondern die Ausstoßung.“¹¹⁶ Das grundsätzliche Wesen der Steinigung ist damit die Abwehr eines „μίασμα“, einer Verunreinigung, die, wichtig genug, die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit bedrohte, die Handlungspraxis des Bewerfens brachte sichtbar für alle zum Ausdruck, „daß zwischen der Gemeinde und dem Gesteinigten jedes Band zerrissen war.“¹¹⁷ Aber diese Vorstellung von Verunreinigung ist eine magisch religiöse Denkfigur. Diagnose wie Therapie ist dann gleichermaßen magischer Natur ‒ eine Zuschreibung, über die die Forschung in der Vergangenheit nicht wenig uneins war. Es berührt die Frage einer möglichen sakralen Natur der germanischen Todesstrafe, wie und ob diese mit dem Menschenopfer verbunden sei, sich diese dann gegebenenfalls
Vgl. Ström 1942, S. 100 f. Hirzel 1909, S. 225. Hirzel 1909, S. 226. Hirzel 1909, S. 230. Hirzel 1909, S. 231. Hirzel 1909, S. 242. Hirzel 1909, S. 244. Hirzel 1909, S. 245.
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5 Balder muss sterben
religiös legitimieren ließe, ob man also letztendlich überhaupt, trotz der zahlreichen, nachweislichen Tötungsakte im nordisch germanischen Raum, von Todesstrafen, Hinrichtungen in einem strafrechtlichen Sinn sprechen könne.¹¹⁸ „Ein Verbrecher wurde nicht geopfert, weil er sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte, sondern weil er wegen seines Verbrechens aus dem Gemeindeverbande ausgestoßen und dadurch zum Opferobjekt geworden war. Kein einziges Zeugnis spricht dafür, daß ein Verbrecher wegen seines Vergehens direkt geopfert worden wäre, damit durch dies Opfer das Verbrechen gleichsam gesühnt sei.“¹¹⁹
Ström wiederum möchte im Akt der Steinigung auf keine Weise eine solche ,sakraleʻ Grundlage sehen: „It is in no circumstances possible to show the presence of any sacral elements in the Germanic stoning, though there have been several attempts to do so.“¹²⁰ Gewiss zu Recht weist Ström die Vorstellung zurück, dass öffentliche Tötungsakte der germanisch nordischen Vorzeit in jedem Fall mit einem Opfer an eine ,höhere Machtʻ, an ,Götterʻ gleichgesetzt werden könnten, und wirft dabei gerade dem Rechtshistoriker v. Amira (der eine umfassende Sammlung von germanischen Todesstrafen zusammengestellt hat) vor, dieser sei nicht in der Lage gewesen, zwischen ,magischenʻ und ,sakralenʻ Handlungspraktiken zu unterscheiden.¹²¹ Tatsächlich ist in v. Amiras Sinne etwa das Ertränken eines Delinquenten als „Übergabe an die Wassergeister“ aufzufassen,¹²² das Hängen „als Ritus eines Opfers an den Sturmgott“
Vgl. Mogk 1909, S. 638: „Alle bisher angeführten Zeugnisse geben dazu nicht den geringsten Anhalt: die Menschenopfer sind rein sakrale Handlungen, keine strafrechtlichen, und sind für die Frage auch des sakralen Strafrechts ganz auszuscheiden. Das beweisen einerseits die Opferobjekte, andererseits die Tatsache, daß das germanische Strafrecht vermutlich überhaupt keine Todesstrafe kannte.“ Potenzielle Opferobjekte seien aber außerhalb des Gemeindeverbandes gestanden und von diesem Standpunkt aus müssten die Opferungen von Verbrechern verstanden werden, so etwa die Äußerung des Óláfr Tryggvason, wenn er den Trondheimern vorwirft, dass sie þrælar eða illmenni, „Knechte oder Übeltäter“ opferten (vgl. Mogk 1909, S. 640). Sollte man sich also nordische Friedlose, so wie Oliver Hein pointiert formuliert, dann als „Reservoir für Menschenopfer“ vorstellen? (Vgl. Hein 2002, S. 168). Mogk vermutet jedenfalls eine (fälschliche, anachronistische) strafrechtliche Vorstellung der germanischen Menschenopfer, die letztendlich durch Tacitus Bericht (Germ., Kap. 12) entstanden sei. (Dieser zähle wohl die einzelnen Todesarten für Verräter, Überläufer, Feiglinge und Ähnliche auf, aber gerade nicht, ob es sich dabei um sakrale oder legale Akte gehandelt habe). Der Römer indes, so Mogk, habe sich diese Tötungen nur als Strafakte erklärlich machen können, als strafrechtliche Konsequenzen (vgl. Mogk 1909, S. 642 f.). Mogk 1909, S. 639. Ström 1942, S. 112. Siehe Ström 1942, S. 110, Anm. 57: „That Amira […] adduces Hirzel’s account of the Greek penalty of stoning in support of his sacral interpretation of its Germanic counterpart is due to a complete misapprehension of Hirzel, explained by Amira’s inability to distinguish between sacral and magical elements. H[irzel] repeatedly maintains the defensive character of the penalty of stoning, and denies that it has any sacrificial import.“ Vgl. von Amira 1922, S. 199 f.
5.5 Die Strafe der Steinigung
251
(also Wodan bzw. Odin), das Rädern ein „Opfer an den Sonnengott“,¹²³ überhaupt sämtliche Elemente der Hinrichtung, die sich rein juristisch nicht erklären ließen,¹²⁴ eben durch dieses sakrale Element erklärlich würden. Daneben verweist v. Amira aber auch auf den starken Abwehrcharakter, auf das Konzept der Reinheit bzw. die Handlungsaufforderung zur Normierung, zur Wiederherstellung der Reinheit in diesem Strafakt. Eine richtige Beobachtung, auch wenn sie bei ihm bereits völkisch rassenideologische Anklänge bekommt: Durch die öffentliche Todesstrafe wollte die Gesellschaft so energisch als möglich ausmerzen, was aus ihrer Art geschlagen war. Die öffentliche Todesstrafe entsprang also dem Trieb zur Reinhaltung der Rasse, einem Trieb der auch im Privatstrafrecht der Sippe zur Todesstrafe wegen Geschlechtsschimpfes geführt hat und nicht nur in der Menschenwelt, sondern bekanntlich auch in tieferen Regionen der Tierwelt verbreitet ist.¹²⁵ Mit dem Trieb des Volkes zur Reinhaltung seiner Rasse vereinigt sich die Forderung der Gottheit, daß die von ihr stammende Rasse rein gehalten werde.¹²⁶
Hier zeigt sich die Problematik: eine Begriffsverwirrung, die in einer unklaren Handhabung der Terminologie selbst besteht, eine übliche Schwierigkeit in der frühen religionsgeschichtlichen Forschung, gerade weil man noch bemüht war, einen Unterschied zwischen ,sakralʻ und ,magischʻ oder ,religiösʻ aufrecht zu erhalten. Die Interpretation v. Amiras kritisiert Ström zwar zu Recht, aber gerade jene Unterscheidung, die er sich wünscht, „to distinguish between sacral and magical elements“, existiert in einem modernen, religionswissenschaftlichen Zugang nicht (mehr), nicht aus einer terminologischen Ignoranz, sondern weil sämtliche (,magischeʻ, ,sakraleʻ, ,heiligeʻ) Elemente religiöser Diskurse formal-methodisch gleich behandelt werden. Wiederum ist der Hinweis auf die Irrationalität mancher Todesstrafen (besser Todesarten) v. Amiras berechtigt. Es ist ja insbesondere deren oft genug unfassbare, fantastisch anmutende Grausamkeit, die sich aus rein technischen Bedingtheiten heraus nicht erklären lässt und entsprechend deutungspflichtig ist. Betrachten wir etwa die Tötung durch evisceratio. Ström bezweifelt die Interpretation als göttliche Sühnemaßnahme, es sei vielmehr ein (spät)mittelalterliches Konstrukt, „typical products of the wildgrowing mediaeval symbolism in the sphere of legal forms.“¹²⁷ Schließlich wüssten die Provinzialgesetze des Nordens von dieser Art der Bestrafung gar nichts und Baumbeschädigungen würden hier lediglich finanziell ausgeglichen.¹²⁸
von Amira 1922, S. IV. Vgl. von Amira 1922, S. 204. von Amira 1922, S. 67 von Amira 1922, S. 233. Vgl. Hein 2002, S. 168, Anm. 16: Hein möchte v. Amiras Einschätzungen nicht unbedingt „kurzschlüssig – pars pro toto – als Vorbote der NS-Rassenideologie“ interpretieren. Die von Amira behauptete Forderung der Gesellschaft nach der ‚Reinhaltung der Rasseʻ und der daraus folgenden Notwendigkeit einer Todesstrafe hält er dennoch für „[n]icht wenig willkürlich“. Ström 1942, S. 102. Vgl. Ström 1942, S. 102.
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5 Balder muss sterben
Tatsächlich scheint es fraglich, wie, ja ob überhaupt diese Strafmaßnahmen in der Realität so durchgeführt worden sind, in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen gibt es Hinweise, dass wir es mit literarischen, hagiographischen, vielleicht sogar rechtshistorischen Fiktionen zu tun haben. Insofern ist es wahrscheinlich auch unnötig, über ausreichende Verfügbarkeit und Aerodynamik von ausgerechnet Ochsenköpfen bei Hinrichtungen wie Abendessen zu spekulieren (so zu Recht ironisch McDougall), auch werden Entdärmungen nicht das Mittel der Wahl gewesen seien, Ernteausfälle für Waldbauern zu kompensieren. Es kann also Ström insofern zugestimmt werden: „[T]he act is purely symbolical and is intended to reflect the crime in detail with a graphic plasticity that strikes us as grotesque.“¹²⁹ Aber das heißt doch gerade auch, diese Strafe, und sei sie fiktiv in jeder Hinsicht, so historisch niemals zur Ausführung gekommen,¹³⁰ referiert auf eine Symbolstruktur, eine Denkfigur, in der diese Aktion plausibel und sinnvoll erscheint. Einen gewissen apotropäischen magischen Charakter der Steinigung möchte Ström (wenn auch zögerlich) denn auch unterstützen, dafür spreche in Island schon allein der liminale Austragungsort am Meeresstrand¹³¹ und die Praxis des „stone-piling“ (kasa, dysja)¹³² über einem zu Tode gesteinigten Delinquenten (insbesondere bei solchen mit nachweislich bösartiger, negativer Wirkmacht, wo also das Gefährdungspotenzial auch oder gerade nach deren Tod für die Gemeinschaft hoch lag).¹³³ Er verweist auf Philostratos, der von einer Steinigung eines Bettlers zu berichten weiß, der dadurch nicht nur getötet wurde, sondern über dem gleichzeitig ein riesiger Berg an Steinen angehäuft wurde.¹³⁴ Ebenso erscheine Ström 1942, S. 102. In der Njáls saga widerfährt Bróðir in der Schlacht bei Clontarf (1014) dieses Schicksal. Er hat den König Brjánn erschlagen, eine schlimme Freveltat, die nur auf diese Weise gesühnt werden kann: Ihm wird der Bauch aufgeschlitzt, das Darmende an einer Eiche befestigt und nun wird er um den Baum getrieben, bis er stirbt (vgl. Heizmann 1986b, S. 534). Úlfr hræða reist á honum kviðinn ok leiddi hann um eik ok rakti svá ór honum þarmana; dó hann eigi fyrr en allir váru ór honum raktir (Nj, Kap. 157). („Wolf the Quarrelsome cut open his belly, and led him round and round the trunk of a tree, and so wound all his entrails out of him, and he did not die before they were all drawn out of him“ (Dasent [Übers.] 1900, S. 327). Vgl. Ström 1942, S. 105. Die Zauberin Katla der Eyrbyggja saga wird an diesem Ort zu Tode gesteinigt ebenso Auðbjǫrg in der Gísla saga und der Zauberer Þorgrímr. Ebenso wird der Meeresstrand als bannender Begräbnisort gewählt für potentielle oder tatsächliche Wiedergänger (etwa für den bösartigen Þórolfr bægifótr). Ström 1942, S. 108. Kauffmann erinnert an die Sitte der griechischen ἐρηαῖα („Steinhaufen“), auf die die Vorübergehenden Steinen legten oder warfen: „Den Brauch führt der Mythus darauf zurück, daß, als dem Hermes wegen der Argustötung der Prozeß gemacht wurde, die Götter Steine nach ihm geworfen hätten, um sich von der Blutschuld frei zu halten“ (Kauffmann 1902, S. 259). Auch in Skandinavien sei dieser Brauch des Steinewerfens ganz geläufig gewesen: „Bei der Bestattung der Leiche bedeutete hlaþa grjóti so viel als sich am Begräbnis beteiligen und berja grjóti, berja grjóti í hél, grýta í hél wird von der Bestattung zaubermächtiger Personen gebraucht, etwa in dem Sinn von ‚in die Unterwelt verbannenʻ“ (Kauffmann 1902, S. 259). Siehe Vita Apollonii 4, 10 (Conybeare [Hg.] 1912). Ein Beispiel, das im Zusammenhang mit René Girards so genannter Sündenbocktheorie noch genauere Betrachtung finden wird (siehe Kap. 8.1.5).
5.5 Die Strafe der Steinigung
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diese Art der post mortem-Behandlung nachgerade als Infamie, als letzte Rache an missliebigen Feinden. Schon bei der Einnahme von Troja sei der Steinberg als schimpfliche, entwürdigende Art der Bestattung aufgefasst worden, im Gegensatz zur üblichen, ehrenvollen Erdbestattung ‒ kaum anders im nordisch skandinavischen Raum des Mittelalters: Das dysja oder kasa galt als schändlich, die Bestattung im Grabhügel, im haugr, indes ehrenvoll und angemessen. In der Sturlunga saga II werde über einen getöteten Feind gesagt, er sei auf diese Weise unter die Erde gebracht worden, wie ein Fuchs oder Dieb (hann var kasaðr í urð sem melrakki eðr þjófr).¹³⁵ Besondere Beachtung muss nun aber gerade Hirzels Beobachtung geschenkt werden, dass nicht selten zu einer bereits ausgeführten Leib- und Lebensstrafe, also unmittelbar am toten Delinquenten, die Steinigung hinzukam. In einer spanischen Sage des Mittelalters sei der Missetäter, nachdem er mit Pfeilen und Speeren zu Tode gebracht worden sei, zusätzlich noch gesteinigt worden. Jakobus, der Jünger Christi, sei zuerst von den Zinnen eines Turmes herabgestürzt worden und danach sei der Leichnam gesteinigt worden.¹³⁶ In der Toledot Jeshu wird gleichermaßen von einer Art doppelten Todesstrafe für Jesus berichtet, und siehe die ähnlich wunderlichen Todesumstände des Fürsten Hákon: Von seinem Diener Þormóðr Karkr wird er in einer Grube unter einem Schweinestall getötet und enthauptet. Mit dem abgeschlagenen Haupt seines Herrn begibt dieser sich zu König Olaf, der ihn sogleich ebenso köpfen lässt. Im Anschluss lässt er beide Köpfe steinigen.¹³⁷ In all diesen Fällen weist die Irrationalität der Handlung über einen rein strafrechtlichen, juristischen Rahmen hinaus, und es geht wohl auch nicht darum, dem „Rechtsgefühl“ bei besonders schweren Straftaten Genüge zu tun, wie etwa Hirzel vermuten möchte.¹³⁸ Zunächst einmal gilt wohl ganz grundsätzlich: Die reale, effektive Handlung, bis zum Tod steinigen, und die lediglich ,symbolischeʻ, rituelle, einen Toten steinigen, meinen das gleiche. Die Aktionen referieren auf die gleiche konkrete, körperhafte Denkfigur: In jedem Fall wehrt die Wurfhandlung ab und bannt zugleich, sie verhindert ein unerwünschtes Kontagium. Und auch der Knochenberg, der über dem Bauernburschen Hǫttr aufgetürmt wurde und aus dem ihn Bǫdvarr befreien muss, ist trotz oder gerade in seiner Komik ein apotropäisches Setting, ein infamer Bannort für den unerwünschten Außenseiter in der Trinkhalle, ganz wie es der Steinhaufen für den gefährlichen Toten ist. Und so überrascht es, dass Ström trotz der Überfülle an Belegen, die Hirzel für den magisch abweisenden Charakter der Steinigung im Mittelmeerraum beibringen kann, und die er selbst mit einer weiteren Fülle an nordischen Beispielen ergänzt, dieses Konzept in letzter Konsequenz als nicht ursprünglich für die Steinigung im Norden annehmen möchte: „Whether the Germanic stoning as such can be conceived as
Vgl. Ström 1942, S. 108. Vgl. Hirzel 1909, S. 227 f., Anm. 6. Siehe Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 50. Vgl. Hirzel 1909, S. 227 f., Anm. 6.
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5 Balder muss sterben
originating in superstitious or religious notions is, however, another question.“¹³⁹ Es gebe keine überzeugenden Gründe für diese Annahme, selbst wenn man sehe, dass die Steinigung sogar bevorzugt gegen solche Elemente der Gesellschaft gerichtet gewesen sei, die mit negativer, zauberischer Wirkmacht, Hexenmacht, ausgerüstet gewesen seien. Nicht einmal die magisch induzierte Unverwundbarkeit der GudrunSöhne Hamðir und Sǫrli, die bezeichnenderweise nur durch eine Steinigung durchbrochen werden kann,¹⁴⁰ überzeugt ihn.¹⁴¹ Aber Ström geht noch einen Schritt weiter zurück, und sieht im ursprünglichen Akt der Steinigung genau das, was Hirzel zuvorderst und eindeutig zurückgewiesen hat, nämlich eine Form der Bestrafung, „that most closely corresponds to the simple demands of ungoverned popular justice. […]. In its unregulated primitive form, as a manifestation of a spontaneous popular act born out of the fortuitous conditions of a concrete situation […],“¹⁴² eben jener ,spontane Volkszornʻ, der, in seinem impetus unkontrollierbar, zum nächstliegenden Instrument greifen lässt: In my opinion, given in full awareness of the risk of hazarding any definite answer to the question, the frequently recurring recourse to stoning in popular justice in forms corresponding to outbreaks of immediate and instinctive emotions would seem rather to indicate that the psychological point of departure for this form of execution is the direct collective reaction that finds expression in spontaneous action with the weapons nearest to hand.¹⁴³
Die psychologischen Wurzeln dieser Art der Bestrafung seien in diesem Sinne nicht magisch apotropäisch, sondern „premagical“, „emotionally conditioned“, und erst in einem zweiten Schritt mit magischen Ideen unterlegt, was entsprechend erst sekundär, später zur magischen Handlungspraxis, zum „apotropaeic ceremonial“ geführt habe.¹⁴⁴ Nun mag es ein ,prälogischesʻ Weltbild geben, das ,wilde Denkenʻ des LéviStrauss, das ,mythische Denkenʻ, wie auch immer wir es nennen wollen, aber gewiss kein ,prämagischesʻ. Das menschliche Denken ist von seinem Ursprung her zunächst und immer ,mythischesʻ, ,magischesʻ Denken, und das bedeutet tatsächlich: Sämtliche Erscheinungsformen menschlicher Wirklichkeit können (zunächst einmal) nicht anders als mit konkreten, körperhaften Vorstellungen gefasst werden. Das Hauptkennzeichen magischen Denkens ist ja gerade nicht seine Transzendenz, seine Referenz auf Übernatürliches, Außernatürliches, ein allerorten und pausenlos vermutetes Eingreifen außernatürlicher Kräfte, es ist vielmehr seine Unterschiedslosigkeit, buchstäblich ,Gleich-Gültigkeitʻ, ja Unkenntnis einer Differenz von Abstraktionsstufen, es gibt keinen Unterschied von lediglich Gedachtem, Fiktivem oder Wirklichem,
Ström 1942, S. 111. Siehe Hamðismál 25; Vǫlsunga saga, Kap. 42. Auch wenn er diese als Beispiel anführt (vgl. Ström 1942, S. 111, Anm. 61). Ström 1942, S. 102 f. Ström 1942, S. 114. Vgl. Ström 1942, S. 114.
5.5 Die Strafe der Steinigung
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Bezeichnetem und Bezeichnendem. Dieser Wissensrahmen gibt Handlungskonzepte, Handlungsmöglichkeiten vor, die sich unausweichlich, alternativlos nach Erfahrungen in einer konkreten Welt richten müssen. Natürlich entspringt die Wurfhandlung zunächst einem ,instinktivenʻ Abwehrgestus,¹⁴⁵ der (durchaus alltäglichen) Erfahrung eines möglichen direkten Kontaktes mit einem Raubtier, einer Giftschlange usw. und dessen Vermeidung. Aber das prälogische Denken unterscheidet im Weiteren nicht, es denkt sich immer weiter und wendet diese Art der Gefahrenvermeidung ausnahmslos auf jegliche Art von (drohender) Grenzüberschreitung an, auf körperliche, räumliche, soziale, jenseitige. Es macht auch für den magisch denkenden Menschen gewiss zunächst einen Unterschied, ob diese Kategorienbrüche durch einen fehlplatzierten Jungen in der Wikinger-Halle begangen werden, durch den Dieb oder Verräter, der soziale Vereinbarungen bricht, oder durch den heimtückischen Zauberer, der alle Vereinbarungen bricht. Sie werden durchaus unterschiedlich bezüglich ihres Gefährdungspotenzials eingeschätzt, alle diese Deplatzierungen können indes leicht ins Grenzenlose, Außernatürliche, Unnatürliche, Monströse wachsen. Und diese Unentschiedenheit zeigt sich nun auf gleiche Weise im vormodernen Rechtsempfinden. Kann in dem einen Fall die Steinigung ein rein symbolhafter Akt werden, ein Spiel, ein juristischer Zeige-Gestus, muss sie im anderen Fall konkret, bis zur letzten Konsequenz, der endgültigen Vertreibung und Bannung ausgeführt werden, was häufig genug den Tod bedeutet ‒ und darüber hinaus. Und da ein menschlich geschaffenes, rituelles Setting ‒ das Spiel, die Gerichtsverhandlung ‒ trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, aber auch als anvisierte Erwartung, die Neigung hat zu expandieren, seinen Rahmen zu sprengen, können auch nicht beabsichtigte Ereignisse, der Tod des Delinquenten, aber auch das durchaus unerwartete Überleben eintreten. In der Forschung hat man sich gerade immer auf Letzteres konzentriert, als Konzept der so genannten ‚Zufallsstrafenʻ („indeterminate or chance punishment“) galt es als wichtiger Beleg, ja nachgerade „corner-stone“ der Sakraltheorie,¹⁴⁶ eben die Vorstellung der Hinrichtungsopfer als Götteropfer, die entsprechend angenommen, gefordert, aber auch zurückgewiesen werden können. Im Zusammenhang mit Balders Bewerfung ist dies ohnehin unerheblich ‒ Balder ist kein Götteropfer. Auch eine gewisse Sonderform der Steinigung gehört in diesen Kontext, im angelsächsischen Raum unter dem Namen „running the gauntlet“¹⁴⁷ („Spießrutenlauf“) bekannt. Ström möchte diese Form der Strafe gar nicht als Todesstrafe sehen, da der Tod hier nicht beabsichtigt gewesen sei,¹⁴⁸ es sei letztendlich in das Ermessen der Beteiligten gestellt gewesen (und nicht der Götter oder einer überirdischen Macht), wie schwer, gegebe-
Wobei es sich bei einer Wurfhandlung kaum um eine Instinkthandlung im eigentlichen Sinn handelt, sondern um eine erlernte Handlung, die ebenso wie andere erlernte Handlungen eingeübt werden muss, indes so früh in unserem Leben, dass wir uns daran schlicht nicht mehr erinnern können (vgl. Barrett 2008a, S. 310). Vgl. Ström 1942, S. 225. Ström 1942, S. 232. Vgl. Ström 1942, S. 232, Anm. 38.
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5 Balder muss sterben
nenfalls tödlich, die Strafe zur Ausführung kam. Nun unabhängig davon, dass bei dieser Art von Strafe sehr häufig der Tod mit einkalkuliert war, ja gegebenenfalls so häufig zur Ausführung kam, bis der Tod eintrat, hat Ström hier ein sehr rationalistisches, modernes Ursache- und Wirkung-Denken von den Dingen, wie sie sein konnten oder gerade nicht. Das Einwirken außernatürlicher Kräfte konnte immer und überall möglich sein, es ist das Urprinzip magischen Denkens, ob dies dann jeweils einer konkreten Gottheit, für die darüber hinaus noch dieses Opfer bestimmt gewesen sein soll, zuzuschreiben ist, steht in der Tat auf einem anderen Blatt. Aber es scheint kaum nachvollziehbar, wenn er hier „the belief in the intervention in human actions by divine powers“ nicht sehen kann, ja eine solche Annahme nicht nur für „extremely one-sided but absolutely false“ hält.¹⁴⁹ Schließlich sei der ,Glücksfall’ doch gar nicht im Prozedere der Hinrichtung eingeplant gewesen. Es sei absurd anzunehmen, dass etwa einem aufs Rad geflochtenen Verurteilten, dessen Glieder zerschlagen würden, gleichzeitig die Gelegenheit zur Flucht gegeben werden könnte. Ein Zufallsmoment, eingearbeitet in ein zeremonielles, rituelles Prozedere müsse entsprechend gewiss spät, sekundär sein.¹⁵⁰ Als feststehendes, konventionalisiertes, zeremonielles Element möglicherweise, aber die grundsätzliche Möglichkeit, das Einbrechen des Unmöglichen ins Mögliche schließt das nicht aus. Natürlich kann man sich auf jede erdenkliche Art vorstellen, dass etwa die technisch einwandfreie Hinrichtung durch das Rad scheitert, ebenso wie beim ,harmlosenʻ Spießrutenlauf ein Mensch dann eben doch zu Tode kommt. Nicht zuletzt sehen wir dieses unerklärliche Herauskippen aus einem vom Menschen geschaffenen, ritualisierten Rahmen gerade auch bei explizit religiösen Settings, so genannten symbolischen Opferhandlungen, wo eine prima facie harmlose (als konsequenzenlos eingestufte) Handlung plötzlich tödliche Effekte zeigt. Siehe etwa den unbeabsichtigten, unfreiwilligen, ja recht eigentlich unmöglichen Tod des Königs Víkarr durch einen reyrsproti, einen Rohrstängel (Gautreks saga, Kap. 7),¹⁵¹ der in der Forschungsliteratur häufig im Zusammenhang mit Balders Mistel-Tod erscheint. Ein fingierter, ritueller Tötungsakt wird zum tatsächlichen, wirklichen Tötungsakt, die rituelle Wirklichkeit wird zur erzählten Wirklichkeit. Gewiss aber fürchtete der vormoderne, pagane Mensch zunächst wohl weniger den Henker (etwa als Vertreter einer wie auch immer gearteten, vielleicht auch missliebigen Staatsmacht) als vielmehr den Missetäter selbst, seine Wirkmacht, die in dieser liminalen Übergangsphase ins Unermessliche, jedenfalls nicht mehr Berechenbare gesteigert war. Diese musste stets mit einkalkuliert werden. Natürlich vermochte er (oder sie) Henkerstricke zum Reißen zu bringen, Waffen stumpf zu machen, Feuer wirkungslos, solche ,Unmöglichkeitenʻ können später im christlichen Denken ‒ keineswegs einheitlich ‒ als Gottesurteile plausibilisiert sein, aber eben auch als Wirkmacht des Satans, als Hexen- oder Zauberkunst schon zuvor.
Ström 1942, S. 234. Ström 1942, S. 234 f. Ranisch (Hg.) 1900; Nedoma (Hg.) 1990.
5.6 De mortuis nihil nisi bene
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Die Situation der Heldenbrüder Hamðir und Sǫrli, die von ihrer eigenen Mutter gegen Eisen, Speere, Waffen aller Art zauberisch gefeit wurden, erscheint in diesem Zusammenhang gleichermaßen einschlägig. Die Gemeinschaft kann sich ihrer nicht entledigen, genauso wenig gelingt die Hinrichtung ihrer Schwester. Hier wie da sind übliche, bewährte, eigentlich ,todsichereʻ Mittel wirkungslos ‒ aber gegen wen oder was? Es ist die gefährliche Potenz der Todgeweihten, der Sterbenden, in letzter Konsequenz der Toten selbst. Nur mit diesen rituellen Maßnahmen kann ihnen entgegengetreten werden. Auch der Göttersohn Balder ist (auf gleiche Weise von der eigenen Mutter) magisch gefeit, und es ist Odin, der eigene Vater, der ähnlich wie in der Vǫlsunga saga zur Steinigung rät, irritierend widersprüchlich zur Erzähllogik ‒ nicht aber zur Rituallogik.
5.6 De mortuis nihil nisi bene So ist es Zeit, die Fäden zusammenzuführen: Snorri schildert Balder als perfekte Idealisierung göttlichen wie weltlichen Heldentums ‒ aber Balder ist kein Held. Er vollbringt keine Heldentaten, keine einzige. Ein für nordische Verhältnisse für sich betrachtet schon durchaus bemerkenswerter Umstand. Von keinen Aktivitäten (geschweige denn Heldentaten) weiß Snorri zu berichten, außer dass er träumt, zum Thing gebeten wird, dort aufstehen muss und sich bewerfen lassen muss, stumm, klaglos, wehrlos! Balder wirkt naiv, blauäugig und vor allen Dingen ‒ passiv. Er hat schlimme Träume, aber er unternimmt nichts, nichts gegen die doch offenbar tödliche Bedrohung, alle weiteren Maßnahmen, Gegenmaßnahmen, Aktionen werden von Frigg, Odin, dem Familienkreis unternommen, hingegen Balder: „Ever passive, Baldr neither utters a quip nor takes evasive actions.“¹⁵² Schon die grundsätzliche Art seiner Beschreibung musste weniger Bewunderung als vielmehr Unbehagen evozieren: Der Hinweis auf seine außergewöhnliche Augen- wie Körperstrahlung wurde vom vormodernen Menschen (im Gegensatz zum modernen) eher mit einer nachgerade Bedrohung zusammengebracht, mit einer Vorstellung von gefährlichem, magischem Sehen. Aber dieser Wissensrahmen hatte noch weiteres Evokationspotenzial: Die Art der Schilderung dieser Vorzüge war ungleich gefährlicher für den Betroffenen selbst. Sie musste unweigerlich die Aufmerksamkeit anderer – und das bedeutet stets missgünstige Aufmerksamkeit – auf ihn ziehen. Eine vorlogische, primitive Neidtheorie geht davon aus, dass der Gewinn des einen zugleich der Verlust des anderen sein muss.¹⁵³ Güter, Besitz, ein (vermeintlicher) Überschuss an materiellen wie ideellen Lindow 1997, S. 41. Vgl. Rakoczy 1996, S. 7, Anm. 1. Auch der Besitz körperlicher oder abstrakter Eigenschaften gründet auf der Vorstellung des rein materiellen Besitzes, der in einem gemeinsamen ,Besitztopfʻ, der buchstäblichen ,Habeʻ verortet wird. Besitzt ein Individuum viel davon, etwa Schönheit oder Glück, so muss es nach der Logik dieses Konzepts die Teilhabe anderer daran zwangsläufig schmälern.
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5 Balder muss sterben
Eigenschaften muss entsprechend stets Missfallen erwecken, genauer gesagt aber ist es gerade die öffentliche Zurschaustellung, das explizite Darauf-Verweisen, das Exponieren, Lobesworte, ,übermäßigesʻ Lob, das ein kaum einschätzbares Risiko birgt, das zwangsläufig die Aufmerksamkeit eines ganz unberechenbaren Dritten wecken musste.¹⁵⁴ Und der Neid eines Eifersüchtigen verleiht dem Blick die schrecklichste Zerstörungskraft, die verhängnisvollste Qualitätsänderung und war entsprechend am meisten gefürchtet. Diese mythisch magischen Präsuppositionen für ‚Lobʻ sind also entscheidend, denn die antike wie mittelalterliche Zuhörerschaft wusste sehr genau: So hätte man niemals über einen Lebenden gesprochen, sprechen dürfen. Es setzt unabwendbar einen zerstörerischen Automatismus in Gang ‒ bei Göttern wie Menschen. Die berühmte Aischylos-Szene, Die Heimkehr des Agamemnon,¹⁵⁵ macht diesen Neidmechanismus deutlich: Agamemnon, der Eroberer Trojas, ist der „‚klassischeʻ Beneidete schlechthin“,¹⁵⁶ und so ist die ganze Begrüßungsszene voll von Anspielungen auf die Gefahren, die allerorten von potentiellen Neidern drohen könnten, insbesondere natürlich der gefährlichsten, der göttlichen. Was indes gerade diese Szene so abgründig macht, ist eine weitere versteckte, heimtückische Dimension oder Potenz dieses Neidblicks: Er kann offenbar gezielt geweckt und entsprechend gewollt und absichtsvoll zum Untergang eines Betroffenen führen. Das ist der eigentliche Grund, warum sich Agamemnons Frau Klytaimnestra in „hymnischen Lobpreisungen“¹⁵⁷ ergeht, deshalb versucht sie, ihren Mann dazu zu bringen, die nur für ihn ausgelegten, kostbaren Purpurteppiche zu betreten, der φθόνοϛ, der Neid der Götter, soll geweckt werden, „so daß genau die Gefahr herbeibeschworen wird, welche abgewehrt werden soll […].“¹⁵⁸ Die rachsüchtige Klytaimnestra wünscht nichts sehnlicher als seinen Tod. Diese perfiden Absichten sind ohne genaue Kenntnisse dieses Vorstellungskomplexes kaum zu erkennen, auch Agamemnon fällt ihnen letztendlich zum Opfer, der antike Rezipient wird vom Chor ausführlich ins Bild gesetzt über Klytaimnestras eigentliche Absichten.¹⁵⁹
Vgl. Rakoczy 1996, S. 86 f. Steinmann und Bierl (Hg.) 2016. Rakoczy 1996, S. 7. Rakoczy 1996, S. 75. „Auch dies, Neidabwehr durch den Hinweis auf zuvor erlittenes Unglück, so daß das momentane Glück verdient und die Gesamtbilanz ausgeglichen erscheint, gehört, genauso wie die umgekehrte Sichtweise, daß zu großes Glück ein kompensierendes Unglück erfordere, zu den immer wiederholten Aussagen aus dem Bereich des Neides“ (Rakoczy 1996, S. 9). Rakoczy 1996, S. 76. Vgl. auch Seligmann o.J., S. 50, der in seiner umfangreichen Beispielsammlung über den Bösen Blick auch einige (bis heute beliebte) irische ,Segensprücheʻ aufführt. In der Logik dieser magischen Denkform müssen indes wohl so manche dieser so genannten Segensprüche (vom heutigen Rezipienten mangels verstehensrelevanten Wissens unerkannt) als Flüche betrachtet werden. So etwa: „Möge die Menge deiner Kühe weiße Kühe sein, möge dein Haus ein Haus auf der Höhe sein, und möge dein Weib eine hübsche Frau sein!“ Die eigentliche Absicht, der „wirkliche Wunsch des Spruches“ sei hingegen, „daß die ausgezeichnete Farbe des Viehes, die hervorragende Lage des Hauses auf einem
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Und zu diesem Verwendungswissen über den Bösen Blick gehört nun eine weitere unerbittliche Konsequenz: Richtig loben, selig preisen darf man einen Menschen nur dann, wenn er gestorben ist. Das bedeutet nämlich, „daß das Lob dann keinen Schaden mehr anrichten kann, wie das zu Lebzeiten immer der Fall ist.“¹⁶⁰ Für Agamemnon bedeutet die Lobrede, das Ende ist nahe, er weiß um die Gefahr und warnt Klytaimnestra: „[L]obe mich erst, wenn es mir bis zum Ende gut ergeht.“¹⁶¹ Die fantastische Lobrede auf Balder musste also die nordische Zuhörerschaft kaum weniger befremden als die anschließende unbekümmerte Ausgelassenheit der Asen beim Spiel. Schon hier schwingt also ,etwasʻ mit, zunächst nur in einer Art subkutanen Bedeutungsstruktur, Assoziationen, die buchstäblich in der Luft liegen, eine unheilvolle, verhängnisvolle Atmosphäre. Aber letztendlich bleiben nur zwei Konsequenzen, die sich hier auftun, die eine so unschön wie ungeheuerlich die andere: Die Asen provozieren bewusst (ganz ähnlich wie Klytaimnestra) und bringen Balder sehenden Auges zu Fall oder aber es ist die Demonstration eines Faktums: Balder ist nicht nur unabwendbar feigr, todgeweiht – er ist tot. Das würde bedeuten: Friggs Eide, die Balder doch für unverletzlich erklären sollten, Odins Erkundigungen im Jenseits (kaum anders als die Hermóðrs) wären längst nicht mehr, ja wären womöglich überhaupt noch nie einem Lebenden geschuldet. Was nun im Folgenden der innerkulturelle wie überkulturelle Vergleich gleichermaßen wahrscheinlich machen wird, deutet sich bereits hier an: Snorris Balder-Schilderung ist von Anfang an die eines toten Mannes. Balder steht vor dem Thingtribunal als Toter.
Hügel, und die gefälligen Eigenschaften des Weibes die Aufmerksamkeit des bösen Auges auf den Besitzer ziehen mögen.“ Rakoczy 1996, S. 76 f., Anm. 172. Rakoczy 1996, S. 76 f., Anm. 172.
6 Freyr-Gestalten 6.1 Der eingesalzene Freyr-Frotho Der Versuch einer Neukonzeptionierung der Gestalt Balders muss mit der Hinterfragung eines anderen Wissensmodells beginnen: Es ist Freyrs unangefochtene Position als germanischer Fruchtbarkeitsgott, die dafür dekonstruiert werden muss. Das Verhältnis zwischen Balder und Freyr stellt sich Neckel als Konkurrenzverhältnis vor. Die beiden Götter seien im Wettbewerb gelegen, den Freyr letztendlich für sich entscheiden konnte. Balder sei also durch Freyr (insbesondere durch das Erstarken seines mehr und mehr überregionalen Kultzentrums Uppsala) verdrängt worden. Aber auch Njǫrðr sei ja ein „alter Nebenbuhler“,¹ immerhin habe sich dieser durch eine Spezialisierung als Fischerei- und Schifffahrtsgott behaupten können.² Aber welcher Art sollte dieses Konkurrenzverhältnis gewesen sein? Fruchtbarkeitsaspekte für Balder sind in der Forschung ohnehin immer eher zögerlich bis ablehnend beurteilt worden, Balder hat wohl am wenigsten mit ,guten Erntenʻ und ,schönem Wetterʻ zu tun, aber das hat auch Freyr, wenn auch dessen Idealverkörperung eines Fruchtbarkeitsgottes bisher selbstredend war, – zunächst – nicht. Auch Freyr ist am wenigsten der ,leutseligeʻ, ,sonnigeʻ Götterfürst, als den ihn Neckel (und mit ihm viele andere) so gerne sehen möchten. Bei unserer Spurensuche werden wir einem ganz anderen Freyr begegnen, seiner abgründigen, grausamen, ja neurotischen Natur. Allem voran ist auch Freyr wie Balder ein ,Gestorbener‘.³ Wenn aber Balders Sterblichkeit plakativ im Zentrum mythischen (wie pseudohistorischen) Erzählens steht, scheint sie in der Gestalt des göttlichen Freyr zunächst konsequent ausgemerzt. Seine (ursprüngliche) Sterblichkeit hat er an seine pseudohistorischen Pendants, Fróði bzw. Frotho, abgegeben. Bei Saxo erscheinen nicht weniger als fünf Könige mit dem (latinisierten) Namen Frotho. In der Tat eine wahre ,Frothones-Freyr-Yngvi-Flut‘, wie Alfred Ebenbauer anmerkt, und „für manchen vielleicht ein wenig viel, was da dem Wanengott aufgebürdet wird“.⁴ Aber wir werden wohl mit Schier und in der Folge Ebenbauer davon ausgehen müssen, dass wir es ursprünglich mit einem einzigen Fróði, einem einzigen Friedensherrscher, zu tun [haben], der als Ahnherr an der Spitze des Skjöldungenstammbaums steht, der (als identisch mit Frey) der mythische Begründer des dänischen Königshauses ist.⁵
Neckel 1920, S. 105. Vgl. Neckel 1920, S. 104 f. Kurt Schier verweist als Erster unmissverständlich auf diese Tatsache und fordert entsprechend Konsequenzen für die mythologische Forschung. Siehe Schier 1968. Ebenbauer 1976, S. 142. Ebenbauer 1976, S. 146. https://doi.org/10.1515/9783110789140-007
6.1 Der eingesalzene Freyr-Frotho
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Aus dieser Überlegung möchte Schier indes ‒ gerade umgekehrt ‒ eine ursprüngliche, wesenhafte Göttlichkeit des weltlichen Königs Fróði ableiten.⁶ Es wird aber wohl gerade dessen Funktion als Stammvater des schwedischen Königsgeschlechts der Ynglingar sein, die für die vorliegende Untersuchung in jeder Hinsicht grundlegend sein wird. In der Ynglinga saga ist es expressis verbis Freyr, der stirbt, nicht einmal unzeitgemäß oder gewaltsam, vielmehr alt geworden, an einer Krankheit,⁷ und noch weniger als von Balder ist von ihm eine Wiederkehr oder Auferstehung bezeugt. Und so gibt Schier zu bedenken: Die Rückkehr eines toten Gottes ins Leben ist ein so auffallenendes Motiv, daß er wohl sicher im Mythus – wenn auch nur in Andeutungen – oder in der späteren christlichen Literatur in irgendeiner Weise erwähnt worden wäre. Wir suchen vergebens. Weder in den Freyr- noch in den Fróði-Überlieferungen ist von der Rückkehr des Gottes oder seiner Wiedergeburt die Rede.⁸
Und gerade dann gestalte sich doch eine Verbindung zu einem (zyklischen) Fruchtbarkeitskomplex schwierig: Wenn die Rückkehr des Gottes das Wiedererwachen der Vegetation und aller Fruchtbarkeit symbolisiert, so müßte ohne Zweifel die Auferstehung oder die Wiedergeburt das zentrale Motiv des Mythus bilden, weil allein dadurch der Tod des Gottes erst seinen Sinn erhält. Aber wir können die klare Aussage der Texte nicht hinweginterpretieren: der Mythus berichtet zwar von Freys Tod, nicht aber – wenn man von der unsicheren Annahme der Grímnismál absieht – von seiner Auferstehung oder Neugeburt.⁹
Am erinnerungswürdigsten aber sei den Menschen offenbar der lange andauernde und aufwändig gestaltete Umzug des toten Freyr bewahrt geblieben, seine Bestattung, kaum anders als bei Balder. So berichte Saxo Grammaticus in seinem 5. Buch vom toten König Frotho, der eingesalzen drei Jahre lang durch die Lande gefahren worden sei, bis er schließlich bestattet worden sei.¹⁰ Die Leiche nicht zu beerdigen und so-
Vgl. Schier 1968, S. 407. Neben der mythischen Überlieferung vom Tod Freyrs in der Endzeitschlacht gegen den Feuerriesen Surtr in der Snorra Edda existiert ein ‚historischer‘ Bericht über dessen Tod und Beerdigung in der Ynglinga saga, Kap. 10: Freyr tók sótt en er at honum leið sóttin leituðu menn sér ráðs ok létu fá menn til hans koma, en bjoggu haug mikinn ok létu dyrr á ok þrjá glugga. En er Freyr var dauðr báru þeir hann leyniliga í hauginn ok sǫgðu Svíum at hann lifði og varðveittu hann þar þrjá vetr. En skatt ǫllum helltu þeir í hauginn, í einn glugg gullinu en í annan silfrinu, í hinn þriðja eirpenningum. Þá hélsk ár ok friðr. („Nun wurde Freyr krank, und als seine Krankheit schlimmer wurde, berieten sich seine Leute unter einander und ließen nur wenig Volks zu ihm. Sie errichteten einen großen Grabhügel und machten eine Tür daran und drei Fenster. Und als Frey tot war, trugen sie ihn heimlich in den Hügel und sagten den Schweden, er sei noch am Leben. So verwahrten sie ihn dort drei Jahre, sie schütteten aber alle Abgaben in den Grabhügel, durch ein Fenster das Gold, durch das zweite das Silber und durch das dritte die Kupfermünzen. So dauerten Frieden und Fruchtbarkeit weiter“ (Niedner [Übers.] 1922). Schier 1968, S. 392. Schier 1968, S. 393. Vgl. Schier 1968, S. 395.
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6 Freyr-Gestalten
lange wie ein lebendes Wesen zu behandeln, bis sie augenscheinlich in ihre Bestandteile zerfällt und damit erst ,wirklich‘, ,richtig‘ tot ist, wird als Element des Bestattungswesens verstanden werden müssen. Tatsächlich findet sich ein weiteres, ganz ähnliches nordisches Szenario, wenn auch anders plausibilisiert und rationalisiert, dem eine ursprünglich ähnliche (rituelle) Vorstellung zu Grunde gelegen haben mag. Es sind die merkwürdigen Bestattungsumstände einer der Ehefrauen des norwegischen Gründervaters Harald Schönhaar, der Samenprinzessin Snæfriðr. Infolge einer Verhexung habe Harald eine kranke Abhängigkeit zu seiner Frau entwickelt und deshalb nicht einmal deren Tod wahrhaben wollen. Jahrelang habe der dermaßen Verwirrte am Bett der noch vermeintlich lebenden Ehefrau gewacht, bis er schließlich durch einen Trick des klugen Þorleifr wieder zu Sinnen kam und den fortschreitenden Verwesungszustand des Körpers erkannte. Eiligst wurde daraufhin der Leichnam bestattet, verbrannt.¹¹ Die Zeitspanne der, wir müssen es annehmen, kultischen Aufwartung ist dieselbe wie die rituelle Behandlungszeit des toten Freyr, drei Jahre. In beiden Fällen wird von in täuschender Absicht geschaffenen Umständen ausgegangen, um die Realität des unwiederbringlichen Todes zu vertuschen, und ganz offensichtlich sind es hier wie da die lang andauernden kultischen Aufwartungen einer Sekundärbestattung, die nicht mehr verstanden wurden. Beim ,Gott‘ Freyr hatten diese indes zentrale religiöse Bedeutung: Die Vorstellung vom Tode Freys muß das Verhältnis der Menschen zu diesem Gott in besonderer Weise geprägt haben. Die Grabstätte des Gottes, der nach der Ynglingasaga Ahnherr eines großen Königsgeschlechtes ist, könnte das äußerlich sichtbare Zeichen des für Königshaus und Volk offenbar hochwichtigen Ereignisses sein: des Todes und der Einhügelung eines Gottes.¹²
Nur die mythologische Tradition stellt Freyr in einen ausschließlich göttlichen und eschatologischen Kontext, der Gott Freyr scheint jedenfalls ein anderer als der der Überlieferung der Ynglinga saga: „Die mythologische Tradition Islands einerseits und die Zeugnisse von Freyr in Uppsala und Balder in Dänemark andererseits gehören allem Anschein nach verschiedenen Schichten einer religiösen Überlieferung an.“¹³ Damit zeigt sich dieselbe merkwürdige Diskrepanz, wie sie auch in der Darstellung des Balder der Snorra Edda bzw. Saxo Grammaticus Bericht erscheint. Umso auffallender indes, dass gerade die dermaßen anschaulich geschilderten Bestattungsbräuche im germanischen Bestattungsbrauchtum der späten Völkerwanderungszeit bzw. frühen Vendelzeit kein Gegenstück finden. Nicht nur hätte das bedeutet, dass Freyr entgegen dem von Odin eingesetzten Brauch der Verbrennung gerade nicht verbrannt worden wäre, es widerspräche eindeutig der Bestattungsart der dänischen und schwedischen Königsgräber. Es gibt keine Körperbestattungen hier in der späten Völkerwande-
Vgl. Haraldar saga hárfagra (Kap. 24) (Bjarni Aðalbjarnason [Hg.] 1941). Schier 1968, S. 408. Schier 1995, S. 140.
6.1 Der eingesalzene Freyr-Frotho
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rungszeit oder frühen Vendelzeit.¹⁴ Wie es scheint, zeigt sich hier lediglich ein literarischer „Reflex eines fremden Bestattungsrituals“,¹⁵ der nicht an ritualpraktisches Handeln angeknüpft werden kann, der so offenbar nie praktisch zur Anwendung gekommen ist im Norden. Die vorgebliche Verheimlichung des Todes des Freyr ist ja gewiss zunächst Interpretation christlicher outsider, wie auch Schier zu Recht vermutet, vielleicht erst die Quelleninterpretationen eines Snorri oder Saxo, vielleicht aber bereits eines zeitgenössischen, jedenfalls christlichen Beobachters. Nur diesem wäre kaum erklärlich gewesen, auf welche Weise der tote König im Grabhügel hätte weiter wohnen können und schließlich doch, im Grunde noch merkwürdiger, gestorben wäre.¹⁶ Und so macht sich Schier auf die Suche nach dieser auffallenden Kombination von Einzelmotiven ‒ und wird in allen Einzelheiten fündig in skythischen Bestattungsbräuchen. Dabei sind wir in der selten glücklichen Lage, nicht nur Quellenmaterial in Gestalt archäologischer Hinterlassenschaften, der großartigen Sepulkralanlagen, Grabhügel (Kurgane) zu besitzen, sondern ebenso eine hochzuverlässige literarische Quelle, die Berichterstattung des Geschichtsschreibers Herodot (Buch IV): Die von Saxo Grammaticus und Snorri beschriebene Bestattung von Fróði und Freyr stimmt so auffallend mit den von Herodot geschilderten skythischen Königsbestattungen überein, daß man an einem Zusammenhang kaum zweifeln kann. Wir finden bei Herodot nicht nur vereinzelte Motive, die aus dem nordischen Überlieferungsbestand allein nicht zu erklären sind, sondern vor allem ‒ was ungleich schwerer wiegt ‒ eine weitreichende Entsprechung des ganzen Motivkomplexes.¹⁷
Wie indes diese „skythisch-nordgermanischen Gemeinsamkeiten“ einzuschätzen seien, möchte Schier lieber offen lassen, ob etwa ihr Ursprung bereits im Indogermanischen zu vermuten sei, in einer Zeit in der (Prä)-Skythen und (Prä)-Germanen „in enger räumlicher und kultureller Verbindung lebten“,¹⁸ gegebenenfalls über Vermittlung anderer Völker, oder ob die Skythen ihrerseits (dann freilich ein bis zwei Jahrtausende ältere) sumerische Begräbnisbräuche übernommen haben könnten. Schier überlegt, ob Germanen diese Art der Bestattung kennengelernt haben könnten, die dann einen dermaßen Eindruck hinterlassen haben müsste, dass sich immerhin „die Kunde“ davon, aber nicht der Ritus selbst erhalten hätte. Dennoch müsse bei wie auch immer gearteten Entlehnungen letztendlich „eine gemeinsame religiöse Idee“ vorausgesetzt werden, dass also der germanische Gott Freyr seinerseits prädestiniert gewesen sein müsse, (fremde) Bestattungselemente mit ihm zu verbinden ‒ ein wei-
Vgl. Schier 1968, S. 403 f. Vgl. Schier 1968, S. 405. Vgl. Schier 1968, S. 400. Schier 1968, S. 403. Schier 1968, S. 405.
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6 Freyr-Gestalten
terer Beleg dafür, dass dessen Tod und Bestattung bereits zuvor von zentraler, auch und gerade kultischer Bedeutung gewesen sein müssen.¹⁹ Auf seiner Spurensuche entwirft Schier nun unterschiedliche Kontaktszenarien: Seit dem 6. Jh. v.Chr. seien skythisch-germanische Begegnungen (bis ins 3. vorchristliche Jahrhundert noch auf der Krim und an der Dnjepr-Mündung) zumindest denkbar, wenn auch über Art und Ausmaß wie Intensität der Austauschmöglichkeiten nur spekuliert werden könne. Auf eine weitere Möglichkeit verweist er noch zögerlicher, auf die nachchristlichen Kontakte der Nordleute ab dem 8. Jahrhundert in Südrussland. Schließlich müsse dabei bedacht werden, dass sich dann die skythischen Begräbnisrituale „in allen Einzelheiten [orig. gesperrt]“ (wenn auch gegebenenfalls über slavische Vermittlung) hätten erhalten müssen, was kaum wahrscheinlich sei.²⁰ Allerdings kommt er in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Traditionskreis zu sprechen, der wiederum seit langem in Verbindung mit dem Balderkomplex diskutiert wird, wenn auch mit durchaus unentschiedenem Ergebnis. Nicht die Skythen selbst, vielmehr deren Nachfahren, das Reitervolk der Alanen und in deren Nachfolge ein weiteres rezentes Kaukasus-Volk (bzw. Sprachgemeinschaft), die Osseten, „die ,Iranier Europas‘“,²¹ wären damit Bindeglied wie Übermittler dieser Traditionen; eine Theorie, die immerhin insofern Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen könnte, als gerade das Reitervolk der Alanen mindestens seit der Zeit der Völkerwanderung in engem und wiederholtem Kontakt mit Europa stand. Die Ostgoten nehmen dabei eine besondere Rolle ein, insbesondere aber drangen die Alanen selbst im Zuge des Hunnensturms bis weit nach Westeuropa vor, nach Gallien, und scheinen gerade dort, auf welche Weise auch immer, ihre kulturellen, religiösen Spuren hinterlassen zu haben.²² In der westlichen Forschung ist diese Diskussion im Besonderen mit dem Namen des Indogermanisten George Dumézil verbunden und dieser möchte gerade im os-
Vgl. Schier 1968, S. 405. Vgl. Schier 1968, S. 406. Dumézil 1959, S. 125. So lebte offenbar der frühchristliche Autor Claudius Marius Victor (425) in unmittelbarer Nachbarschaft zu Alanen, die nicht weit von seiner Heimatstadt Marseille sesshaft geworden waren. In einem Exkurs über den aus christlicher Sicht zu verdammenden Totenkult beschreibt er expressis verbis Alanen als typischstes Beispiel einer exzessiven, ruinösen, eben paganen Ahnenverehrung, die ganz offensichtlich weiterhin in einer christlichen Umgebung, vor aller Augen, praktiziert wurde: „That evil pollutes more, […] since it has an appearance of virtue; for all peoples forthwith embraced this crime, endlessly making offerings to the spirits of the dead, – witness now the Alans – and those [peoples] who regarded their beloved parents as their gods, afterwards even their kings [as gods] […]“ (Übers. Abosso 2015, S. 78 f.). Eine dermaßen Ausgangslage würde den Unverstand über den Ritualablauf in den nordischen Quellen ebenso erklären wie die gleichzeitigen exakten Detailschilderungen. Dies würde aber auch bedeuten, dass die potentiellen Kontaktzonen jedenfalls späte wären und vor allen Dingen weniger im Osten, am Schwarzen Meer, sondern bedeutend westlicher zu suchen wären. Nicht zuletzt erhielten dadurch auch gewisse Motivübereinstimmungen, die seit Jahrzehnten in Zusammenhang mit dem keltischen Mythos und Heldenerzählungen (Artuslegende) diskutiert werden, wenn auch gleichermaßen kontrovers (siehe etwa Littleton und Thomas 1978, Littleton 1979), gewisse Ansatzpunkte.
6.1 Der eingesalzene Freyr-Frotho
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setischen Heldenepos, einer Erzählsammlung der Abenteuer (wie des Untergangs) des urtümlichen kaukasischen Heldenvolks der Narten,²³ Entsprechungen zum nordischen Loki-Balder-Antagonismus sehen.²⁴ Auch das kaukasische Epos weiß von einem heimtückischen Mord an einem Helden Soslan/Sosryko auf Betreiben des durchtriebenen Tricksters Syrdon, Narty fydbylyz („die Geißel der Narten“).²⁵ Interessant genug, möchte indes Dumézil selbst, wenn auch sonst stärkster Befürworter historisch genealogischer Abhängigkeiten, wenn sie denn innerhalb Völkerschaften der Indogermania anzusetzen wären, gerade hier kaum mehr als typologische Abhängigkeiten konstatieren. Eine zweifellos vorhandene Homologie²⁶ sei gegebenenfalls gegründet in ähnlichen Lebensumständen, sozialen Bedingtheiten zweier Hirtenund Kriegervölker.²⁷ Einen potentiellen Entlehnungsweg via Ostgoten lehnt er ab,²⁸ die enge Verwandtschaft zwischen Loki und Syrdon könne damit nicht erklärt werden.²⁹ Schier möchte sich indes mit dieser (auffallend flachen) Erklärung gerade für gewisse spezifische, einzelmotivliche Entsprechungen in den beiden MordkomplottErzählungen kaum zufriedengeben.³⁰ Übereinstimmungen zwischen dem nordischen Loki und dem ossetischen Syrdon sind ohne Zweifel vorhanden. Ihr hochambivalentes, transgressives Wesen, ihre marginale, verachtete Stellung in der Gesellschaft sind dabei wohl zunächst der Eigenart, dem Typus des (mythischen) Tricksters geschuldet. Dessen Funktion in den Mythen dieser Welt ist von einer nachgerade beeindruckenden Gleichförmigkeit, durchgehend überkulturell vergleichbar, stets und grundsätzlich geht es um das ,in Frage Stellen‘, die ,Befragbarkeit‘ von Grenzen. Auf der rein narrativen, motivlichen Ebene scheinen sich indes zunächst kaum Übereinstimmungen zu ergeben zwischen dem ossetischen Helden Soslan und Balder, allerdings erscheinen beide hypernormativ, unverletzlich, mit eben jener berüchtigten Ausnahme, die für so viele mythische wie heroische Gestalten den Untergang bedeutet. Es ist die Aufgabe des Tricksters, diese potentielle Bruchstelle aufzuspüren. Beim ossetischen Helden geschieht dies in unterschiedlichen, durchaus bizarren Versionen durch ein anthropomorphisiertes, sprechendes, messerscharfes Zahnrad, „das Rad des Barsag“, das ihm, narrativ schwach bis gar nicht motiviert,³¹ über die
Siehe etwa Dumézil 1930. In seiner Untersuchung zum Gott Loki widmet Dumézil nahezu die Hälfte den Narten-Epen (vgl. Dumézil 1959, S. 125 – 224). Dumézil 1959, S. 130 Vgl. Dumézil 1959, S. 184. Vgl. Dumézil 1959, S. 208. Vgl. Dumézil 1959, S. 203 f. Vgl. Dumézil 1959, S. 200 f. Vgl. Schier 1968, S. 407. Die Gründe für Dumézils ablehnende Haltung sind augenscheinlich: Eine späte, nachchristliche Überlieferungslage widerspräche, zumindest in diesem Fall, seiner Theorie eines germanisch-ossetischen (und damit letztendlich gemeinsamen indoeuropäischen) Mythenpools. Plötzlich rollt das Rad bei der Jagd aus dem Gebüsch und schneidet zunächst den Begleitern des Helden die Beine ab (vgl. Dumézil 1959, S. 166). In der Folge gelingt es Sosryko zunächst, das Rad zu
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(einzig verwundbaren) Knie (oder Hüfte) fährt, ihm die Beine abtrennt und dadurch tötet. In einer Version, keineswegs in allen, ist es tatsächlich der durchtriebene Syrdon, der zum Hauptarrangeur dieses Mordkomplotts wird. Nun lassen sich zweifelsohne auf der reinen Erzählebene (jenseits des überkulturellen Trickstertypus³² und der Unverwundbarkeitsausnahme) wenig spezifische Vergleichbarkeiten zum Baldertod ausmachen, noch weniger Anknüpfungspunkte ergeben sich zu den Todesumständen von Freyr bzw. Fróði, aber die Verbindung zum skythischen Bestattungswesen ist gewiss nicht ohne Grund entstanden, wahrscheinlich sogar aktiv konstruiert worden.³³ Aber Schier wie Dumézil gehen wohl trotz ihres richtungsweisenden Ansatzes von einem grundsätzlichen Missverständnis aus: Weder ist Freyr ein sterbender Gott ³⁴ noch das Heldengeschlecht der Narten Menschen, die „mythische Elemente an sich gezogen und bis in unsere Zeit bewahrt haben, nämlich die Erinnerung an jene Götter der Skythen, in denen die Griechen unter anderen einen Ares und Apollon wiedererkannten.“³⁵ Ebenbauer könnte sich vorstellen, die „Frothones-Freyr-Yngvi-Flut“ nach Art von Odinsheiti, als Beinamen zu lesen. Selbst wenn die Bedeutung von Fróði nicht ganz klar sei, so erscheine das Wort doch als Adjektiv und Beiname von Freyr (Frey inn fróði, Skm 1; 2).³⁶ Ganz allgemein kann man beim Attribut fróði eine Ausgangsbedeutung „von Körper- oder Geisteskraft erfüllt“ annehmen.³⁷ Es ist die Metapher des ,gefüllten Containersʻ, ein ,zum Bersten voll Seinʻ mit jeglicher Art von positiven Eigenschaften,³⁸ ein „von Manneskraft geschwellter Held“³⁹ als wichtigste Eigenschaft des Erzstammvaters. Fróði könnte also wie Yngvi als ein Ehrenname aufgefasst worden sein, der tatsächlich mehreren unterschiedlichen, auch gegebenenfalls historischen Herrschern gegeben wurde, wir müssen jetzt annehmen, gerade zur Kennzeichnung des spezifisch toten Status des Trägers.
überwältigen, „und die Narten bedienen sich seiner, um den Mist auf die Felder zu fahren“ (Dumézil 1959, S. 167). Vgl. Schier 1968, S. 407. Die germanisch nordischen Verbindungen zum ossetischen Heldenepos sind ebenso zahlreich wie konsequenzenreich. Dies kann an dieser Stelle kaum einmal angedeutet werden und muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. Mögliche Anknüpfungspunkte beschränken sich jedenfalls keineswegs auf die Gestalten Soslan/Sosryko/Balder bzw. Syrdon/Loki (siehe dazu etwa die schöne Untersuchung von Clive Tolley [Tolley 2012]). Vgl. Schier 1968, S. 407. Dumézil 1959, S. 127. Vgl. Ebenbauer 1976, S. 142. an. etym. Wb 1962, „Fróði“; „fróðr“. Vgl. nschw. dial. frode „feist“, aschw. froda, f., frod, n. „Üppigkeit“, nschw. dial. froda „fett werden“, frodlem „Phallus“, mhd. vruotic, vruetic, „üppig wachsend, kräftig“ (an. etym. Wb 1962 „Fróði“; „fróðr“). Güntert 1923, S. 92.
6.2 Von Schlafliedern und Wundermühlen
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6.2 Von Schlafliedern und Wundermühlen Nicht nur in der Religionsgeschichte erscheinen die Kultorte Lejre und Uppsala eng miteinander verbunden (siehe die auffallende Motivdoppelung der Opferschilderungen), auch Snorri weiß zu berichten, dass ihre Herrscher freundschaftlichen Kontakt pflegten und sich gerne besuchten. So kommt bekanntlich Fjǫlnir, der Sohn YngviFreyrs bei einer Einladung des Friedens-Fróði in Lejre auf seltsam verächtliche Weise ums Leben, indem er, volltrunken, in ein riesiges Metfass stürzt – nur einer unter den vielen merkwürdigen, ehrlosen Toden der Ynglingar-Könige. Nicht besser ergeht es indes Fróði selbst. Bei einem Gegenbesuch in Schweden erwirbt er zwei Riesenmägde, die ihm ohne Unterlass eine geheimnisvolle Wunschmühle, Grotti, mahlen müssen. Damit ,ermahlenʻ sie, neben Gold, gerade den berühmten Fróði-Frieden, eine sagenhafte, paradiesische, ja überirdische Friedenszeit, die indes nur so lange währt, wie die Mägde die Mühlsteine am Laufen halten. Aus Verdruss und Ärger zerschlagen sie diese schließlich, was dem ,Friedensfürstenʻ und schließlich ganz Lejre zum tödlichen Verhängnis wird. Die Quellen sind sich nicht ganz einig über die letztendlichen Gründe: Was im so genannten Mühlenlied (Grottasǫngr) selbst lediglich als Prophezeiung der Riesinnen ausgesprochen wird, dass Fróði den Thron von Lejre, den „Lejrestuhl“, verlieren werde durch Brandschatzung des feindlichen Heeres des „Sohnes von Yrsa“, Rolf Kraki,⁴⁰ erzählt Snorri (Skáldsk 42) als bereits eintretende Ereignisse, ja, als die Fähigkeit der Wundermühle selbst, dies hervorzubringen, buchstäblich dieses feindliche Heer zu produzieren, das sich gegen den Fürsten stellt. Aber hier ist der Anführer ein ,Seekönigʻ mit dem ungewöhnlichen und vielleicht für einen kriegerischen Heerführer nicht unbedingt sprechenden Namen Mýsingr, (,Mäuserichʻ).⁴¹ Er nimmt die Mühle samt Mägden mit sich und lässt sie Salz mahlen, bis sein Schiff zerbricht. Die Mühle selbst sinkt zum Meeresgrund und wird dort zu einem Wasserstrudel. Wie so häufig zeigt Snorri sich gut informiert über folkloristisches Wissen, hier ist es das Volkswissen über Wundermühlen, ein weit verbreitetes Wandermotiv, die volkstümliche Aitiologie (,Wie kommt das Salz ins Meer?ʻ) ist bekannt von Island bis Japan.⁴² Die Tätigkeit des Mahlens und das Hilfsmittel dazu, die Mühle in ihren unterschiedlichsten technischen Ausführungen, ist in der Geschichte der Menschheit wohl eines der unentbehrlichsten Werkzeuge der ersten Stunde, entsprechend alt und bebürdet ist deren symbolische Bedeutsamkeit. Ihr Evokationspotenzial, ihr metaphorisches Potenzial ist hoch. Mühlen sind die Verwandler, die Transformatoren par excellence: „[T]ransformation and reproduction are generally connected with
Munat þú halda Hleiðrar stóli (Grt 20). („Du wirst nicht halten Lejres Sitz“); mun Yrso sonr / við Hálfdana hefna Fróða (Grt 22); („Yrsas Sohn, / der Verwandte Halfdans, wird Frodi rächen“). Siehe Cleasby/Vigf. 1874, „Mýsingr, m.“: Daneben existiert die Form mýslingr, m., zu mýsla, u, f., mús, germ. mäuslein, a little mouse. Vgl. AaTh-Motivindex 565 „Magic Mill“ (Thompson 1955 – 58); (siehe auch Uther 2014).
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grinding.“⁴³ Die grundsätzlichste, konkrete Erfahrung von Mühlen und ihrer Wirkweise ist deren Fähigkeit, Materie wesenhaft zu verändern, etwa Pflanzenkörner zu Mehl zu mahlen und damit die wichtigste aller Nahrungsmittelgrundlagen des frühen Menschen zu schaffen. Aber auch die Transformation unorganischer Materialien, etwa Stein und Erde in der Metallverarbeitung (fast ebenso früh und mindestens ebenso begehrt), gehört dazu. Unabhängig davon, ob es nun um das Zerreiben von organischem oder nichtorganischem Material geht, der Produktionsprozess von Cerealien oder Metall zu ihrem jeweiligen Endprodukt gleicht sich jedenfalls bis hinein in die einzelnen Arbeitsschritte, in ihren grundsätzlichsten Prinzipien. Die Übertragungsmöglichkeiten dieses Wissensmodells sind nahezu unbegrenzt, von einer konkreten, handwerklichen Praxis hin zu „the overall themes: creation and destruction.“⁴⁴ Man hat die Grotti-Mühle wohl nicht zu Unrecht mit jenem finnischen ,Wunderdingʻ Sampo des Kalevala verglichen. Wenngleich über dessen eigentliche Natur, insbesondere seine vorgebliche Mühlen-Natur nichts explizit verlautet wird,⁴⁵ so steht doch dessen tiefe Verbundenheit mit dem finnischen Weltschöpfungszyklus und dessen Hauptakteur, dem finnischen ‚Anfangs-Heldenʻ Väinämöinen außer Frage. Freilich produziert das finnische Gegenstück in keinem Fall Unheil, selbst dessen Bruchstücke sind noch glückbringend. Aber ganz offenbar musste der Sampo gerade zerbrochen, zerstört werden, um diese Potenz zu entwickeln, und womöglich konnte er dies nirgendwo sonst als am Grund des Meeres, jeglichem menschlichen Zugriff entzogen.⁴⁶
Fendin 2006, S. 159. Fendin 2006, S. 161. Siehe Tolley 1994– 97, S. 63: „The Finnish sampo is never described in detail, nor is its precise function determined; nonetheless, investigation reveals that it represents a highly developed expression of the image of the world mill: the cosmic turning regulates fertility, ‚grinding outʻ well-being like a mill.“ „The proper place for the sampo is clearly Pohjola; the Finns once called the North Star pohjan naula, ‚nail of the northʻ […]. The sampo, as the world pillar, would be fixed to the firmament, the kirjokansi, at the North Nail [= Star]“ (Tolley 1994– 97, S. 66). In der ersten Episode des Zyklus wird der kosmische Held Väinämöinen von seinem Pferd geschossen und treibt lange Zeit hilflos in den Fluten des Ozeans. Dadurch vollbringt er gleichzeitig Schöpfungsakte von kosmischem Ausmaß. Schließlich gelangt er in die Jenseitswelt Pohjola und muss hier als Gegenleistung für seine Heimkehr für dessen Herrin den sampo beschaffen (von Ilmarinen geschmiedet), der den Bewohnern zu großem Wohlstand verhilft. Dann aber stiehlt Väinämöinen das kostbare Stück, in einem heftigen Seekampf mit der Herrin von Pohjola (in Gestalt eines vaakalintu, eines Fabelwesens, eines Greifs) zerbricht der sampo und sinkt zum Meeresgrund. Aber selbst (oder gerade) die Bruchstücke, die davon an Land gespült werden, sind immer noch heilbringend und schaffen Fruchtbarkeit und Wohlstand (vgl. Tolley 1994– 97, S. 64 f.). Der zerbrochene sampo gleicht damit dem abgerissenen Horn Heimdallrs in seiner Füllhorncharakteristik, das am Grund eines Gewässers zunächst der Ursprung des Gewässers selbst ist, aber in der Folge auch Ursprung unermesslichen Reichtums. Es ist entsprechend kein Zufall, dass das Bild der ,Meer-Mühle‘ auch im Hamletkomplex eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Schon früh erscheint es als Kenning in einer SkaldenStrophe des Isländers Snæbjǫrn, der so genannten „Hamletstrophe“ (um 1010/20), und damit um zwei Jahrhunderte früher als Saxos Darstellung (vgl. Krause 2014, S. 361): Amlóða líðmeldr (= Amlóða líðs meldr „das Mahlgut des Rauschtranks Amlodis“). ,Amlodis Rauschtrank‘ sei dabei als das „aufgeregte
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Im Grottasǫngr erscheint die Mühle ebenso als ,Reichtumsmühleʻ, aber es ist ausschließlich Gold, was sich der Friedensfürst wünscht, der Motivkomplex von Ernte, Nahrung, Getreide spielt überhaupt keine Rolle. Der Untergang Fróðis ist eng mit dem Untergang der Zauber-Mühle verbunden, das Unglück ist das Zerbrechen der Mühle, das Stoppen der Mahltätigkeit, aber sie vermag doch gleichermaßen, wie der Sampo, an anderem Ort weiter zu produzieren, in kosmischen Ausmaßen zu produzieren. Es sind merkwürdige Widersprüchlichkeiten, die Snorri offenbar versucht hat hier zu vereinen, Diskrepanzen, die auch und gerade in der Gestalt des Fróði selbst nahezu unvereinbar wirken, so sehr, dass man eine Vermischung mehrerer Charaktere annehmen wollte von unterschiedlichen, vielleicht historischen, vielleicht fiktiven, vielleicht aber sogar auch göttlichen Persönlichkeiten. Fróði, der so genannte Friedensfürst, wirkt hier durchaus nicht wie der sanfte, barmherzige Gutmensch, auf den doch sein Name so augenscheinlich zu verweisen scheint, der Gewährer jenes himmlischen Friedens,⁴⁷ der wohl nicht zu Unrecht Assoziationen an das Goldene Zeitalter der griechischen Mythologie hervorruft.⁴⁸ Eher scheint ein tyrannisches, launisches, unberechenbares Wesen im Vordergrund zu
Meer“ zu verstehen und „dessen Mahlgut alles, was vom Meere zermahlen wird“ (Krause 2014, S. 365). Snorri fügt erklärend hinzu: her er kallat hafit Amlóða kvern („[H]ier wird das Meer Amlodis Mühle genannt“ (Skáldsk 25). In der Vergleichsstelle der Gesta Danorum (Gest.Dan. 3.6) wird das gleiche Bild bemüht, um Hamlet glauben zu machen, der Sand der Dünen sei Mehl. Krause sieht Amlóði schon qua seiner Stellung in der Strophe analog zum Meeresgott Ægir, als das „mythisch personifizierte sinnlos tobende Meer“, als eine Art „Sturmdämon“ (vgl. Krause 2014, S. 368). Siehe Ynglinga saga, Kap. 10; Skáldsk 42: „Fridleifs Sohn hieß Frodi. Er übernahm die Königswürde von seinem Vater zu der Zeit, als Kaiser Augustus Frieden für die ganze Welt schuf; damals wurde Christus geboren. Aber weil Frodi der mächtigste aller Könige im Norden war, wurde der Friede in der ganzen nordischen Sprache nach ihm benannt, und man nannte ihn Frodi-Friede. Kein Mann verletzte den anderen, auch wenn er wegen des Totschlags an seinem Vater auf ihn stieß, oder wegen der Lösung oder Bindung eines Brudertotschlags. Es gab auch keinen Dieb oder Räuber, so daß ein Goldring lange auf der Jalangsheide liegen blieb.“ Saxo (Gest.Dan. 5) wie Snorri versuchen dem Froði-Frieden einen realhistorischen wie (christlich) religiösen Rahmen zu geben, sie verlegen ihn (Jahrhunderte zu früh, wenn man denn von tatsächlichen historischen Personen ausgehen möchte) in die Regierungszeit des Kaisers Augustus und der Geburt Christi. Schippel hält es zu Recht für ein ursprünglich fremdes Motiv: „Dass jedoch mit der zerstörung der glücksmühle, des ‚schicksalsteinsʻ (regingrióti Grottas. 20, 4), das aufhören des friedlichen, wol gar ‚goldenenʻ oder ‚Schlaraffenzeitaltersʻ zusammengebracht wird, dürfte der ursprünglichen sage fremd sein. von vornherein mutet eine solche ableitung nicht wie ein sagen- oder märchenmotiv, sondern wie ein gelehrter zusatz an. auch wird eine solche im liede selbst keineswegs angesprochen, vielmehr nur geschildert (str. 6), wie bluttat schweigt, solange die mägde noch dem Fróði reichtum und glück mahlen, und dieser, der als Fruote von Tenemarke ja auch in Deutschland bekannt war […] und schon von Saxo Grammaticus als mächtiger fürst erwähnt wird, erscheint durchaus nicht als ‚friedensfürstʻ. auf einen umschwung der zeiten vollends findet sich keinerlei hindeutung, denn die bezeichnung der mühle als dólgs siǫtull (Grottas. 16, 7) ‚des kampfes beschwichtigerʻ, bezieht sich eben nur auf jene vorübergehnde wunderwürkung“ (Schnippel 1924, S. 46 f.).
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stehen.⁴⁹ Freilich ein merkwürdiger Tyrann, den offenbar nichts so sehr kümmert als seine ungestörte Nachtruhe. Bei Todesstrafe verbietet er seinen Männern, ihn des Nachts zu wecken.⁵⁰ Im Grottasǫngr liegt ebenfalls alles im Schlaf, der Fürst aber zwingt die Riesenmädchen zuvor unerbittlich, die Nacht durchzuarbeiten. Aus dieser unwürdigen, mitleidlosen Behandlung entwickelt sich ‒ nach der Erzähllogik des Grottasǫngr ‒ der riesische Unwille, narrativ nachvollziehbar kommt es zur Eskalation, die Katastrophe scheint absehbar. Snorri hat sein Erzählkonzept ebenso daraufhin ausgerichtet. Und dennoch, wie merkwürdig ist doch das strikte Weckverbot, von dem Saxo zu berichten weiß. Es sei eben Froðis „tyrannennatur“, die ihm da zum Verderben werde, so versucht Neckel eine Erklärung.⁵¹ Das klingt nicht recht einleuchtend, immerhin hat sein Getreuer Regno von den Racheabsichten der HaraldSöhne erfahren, die nach des Königs Leben trachten. Auch Gewaltherrscher entbehren üblicherweise nicht des gesunden Menschenverstandes, wenn es um Leib und Leben geht. Ein wichtiges, jedenfalls auch im Mühlenlied stark im Vordergrund stehendes Konzept ist schließlich der ,Zornʻ, im Lied wird er den Riesinnen zugeschrieben, aber zunächst einmal gilt es doch, den Zorn Fróðis abzuwehren, seinen aggressiven, unberechenbaren Gemütszustand auszugleichen, ihn zu begütigen, bei guter Laune zu halten, und das gelingt offenbar nur, indem seine unablässige Gier nach Gold gestillt wird (was noch am ehesten einer ,Tyrannennaturʻ gleichkommen könnten) ‒ und sein Schlaf nicht unterbrochen wird. Deshalb dürfen sich die Mägde keine Ruhepause gönnen, Tag und Nacht will er das Knarren der Mühle hören (áðr hann heyrði hlióm ambátta, Grt 2), ein Geräusch, so charakteristisch in prähistorischen wie rezenten Bauernkulturen, dass es seinerseits als prototypisches Symbol für Normalität, für die beruhigende Einförmigkeit und Berechenbarkeit des Alltags stehen konnte.⁵² Könnte der Grottasǫngr also vielleicht ein Arbeitslied sein? Die Mahltätigkeit, ob mit dem archaischen Mahlstein oder der moderneren Drehmühle ist schließlich umso effek-
„Froði war der grausame tyrann, der brudermörder und bedrücker der hilflosen knaben, der ihnen durch zauberer nachstellt, bis er mitten in seinem wolleben vom feuerqualm erstickt wird, ein opfer der eigenen tyrannei“ (Neckel 1906, S. 164). Dieses Bild sieht Neckel im Grottasǫngr bestätigt: „Die beiden besprochenen gedichte kennen den Froði als tyrannen, beide wahrscheinlich auch als brudermörder. Am stärksten ist seine tyrannennatur im Grottasǫng herausgearbeitet. hier ist der könig glücklicher friedensfürst und verhasster bedrücker in einer person. diese eigenartige verschmelzung widersprechender züge verdient unsere aufmerksamkeit. die mächtige würkung des gedichts beruht zum großen teil auf ihr“ (Neckel 1906, S. 172). Gest.Dan. 7.1: Dormientem tamen ad vigilias evocare passus non est, eo quod Frotho excitationis suae poenas ferro exigere solitus fuerat. („Er wollte aber nicht den schlafenden König zur Wache herausrufen lassen, weil Frotho eine Störung seiner Nachtruhe mit dem Schwerte zu strafen pflegte“). Vgl. Neckel 1906, S. 165. Siehe Fendin 2006, S. 161: „The repetitive grinding rhythm is transformed into a loud and suggestive sound reproduced in the surrounding environment. In the Old Testament the grinding sound is mentioned several times as an expression of the ever-proceeding daily life. The grinding sound probably engendered a sense of trust that day-to-day life, the basis of society, would go on.“
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tiver, je gleichförmiger, rhythmischer sie ausgeführt wird. Der Rhythmus des Liedes unterstützte dann einen gleichförmigen, monotonen Arbeitsrhythmus, dazu käme eine einfache, repetitive und damit suggestive Wortfolge.⁵³ Allerdings ist gerade dadurch die Ähnlichkeit zu einem Wiegenlied, einem Kinder- oder Schlaflied kaum weniger wahrscheinlich. Im Unterschied zum Arbeitslied werden im Wiegenlied indes Rhythmus und Redundanz nicht zur Effizienz der Bewegungsabläufe, vielmehr primär zur Versicherung und Beruhigung des Kindes eingesetzt. In den Inhalten gleichen sich die Liedformen nicht selten: Die Beschwerlichkeit und Einförmigkeit der Arbeit (die hier wie da nahezu ausnahmslos von Frauen ausgeführt wird) ist in beiden Formen ein durchgehender Topos, der sich in einer ebenso melancholischen wie (wenngleich wohl meist verhalten) zornig aggressiven Grundstimmung ausdrückt.⁵⁴ Weibliche Frustration, Wut und Ingrimm, ja sogar deren Übersteigerung ins Monströse, Fantastische wie bei den Riesenmädchen Fenja und Menja, finden wir also durchaus in Arbeitsliedern, bisweilen sind es sogar die Mahlsteine selbst, die sich über die Maßen über ihr schweres Los erzürnen.⁵⁵ Freilich finden sich gerade auch Motive, die nichts in einem Arbeitslied zu suchen haben, sondern, wie Joseph Harris vermutet, deutlich an „the childish sound of a lullaby“⁵⁶ anklingen. Auch Neckel fühlt sich an Elemente eines „schlummerlied[s]“⁵⁷ erinnert: „Er sitze auf Reichtum, / er schlafe auf Daunen, / er erwache nach Lust, / dann ist gut gemahlen.“ (siti hann á auði, / sofi hann á dúni, / vaki hann at vilia! / þá er vel malit, Grt 5). Hier steht die Beruhigung, das Einsingen in den Schlaf und dessen Bewahrung eindeutig als Motivation im Vordergrund.⁵⁸ Aber Fróði ist kein Kind, und doch scheint
Vgl. Schnippel 1924, S. 44. Vgl. del Giudice 1988, S. 270 f. Das Wiegenlied sei somit immer auch „a vehicle for expressing – consciously or not – a feminine worldview“ (del Giudice 1988, S. 271). In Gerstner-Hirzels Typologie erscheint dieses Element als die „Wiegenklage“ oder „Lieder der unlustigen Wiegenden“ (GerstnerHirzel 1984, S. 27), oft verbunden mit Weinen um die verlorene Ehre als Hinweis auf einen erniedrigenden und demütigenden Zustand, der gerade durch diese Tätigkeit, das „Wiegenmüssen“ hervorgerufen werde (vgl. Gerstner-Hirzel 1984, S. 24). Häufig genug seien es die Klagen der jungen Mädchen, der älteren Geschwister und der Mägde (vgl. Gerstner-Hirzel 1984, S. 26). „The grinding stones spoke in rage: ,What torture you caused us! Crush, crush, dawn and dusk our faces went crush, crush, crush. Now you are not men, its’s our turn to grind you!ʻ“ (Übers. Nelson 1976, S. 38 f.). Siehe Fendin 2006, S. 161. Vgl. auch Schnippel 1924, S. 43. Harris 1990, S. 240, zit. n. Naumann 1999, S. 99. Neckel 1906, S. 165. Vgl. Gerstner-Hirzel 1984, S. 10 f. Der Aspekt der Beruhigung muss als die zentralste Funktion des Wiegenlieds angenommen werden, wenngleich dieser in einer nahezu durchgehenden, oft genug paradoxen Ambivalenz erscheint mit Ermahnungen, Imperativen, ja Drohungen, die an das Kind gerichtet werden. Zunächst aber wird ein Szenario der Geborgenheit entworfen, ein blumengeschmücktes Lager, eine behagliche Stube, potentielle Störenfriede oder Gefahrenbringer werden zurückgewiesen, die ganze Umgebung zum „Stillesein“ aufgefordert (vgl. Gerstner-Hirzel 1984, S. 12). Darauf folgen Motive der Bewegung, vom Tanzen, von Kutschfahrten ebenso wie Gegenstände oder Orte oder Personen der „Verheißung“, vom Himmel, von Blumen, der Jungfrau Maria (vgl. GerstnerHirzel 1984, S. 14).
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er aus irgendeinem Grund nicht nur auf das Gold, sondern ebenso auf den beruhigenden Klang der Mühle und im besonderen Maße auf die begütigenden Worte der Mädchen angewiesen zu sein, um Ruhe zu finden, kostbare Ruhe. Aber was sollten bei Fróði die schlimmen, zumindest unerwünschten Konsequenzen des Erwachens, ja recht eigentlich des Wachzustands sein? Sie sind offenbar so sehr gefürchtet, dass jegliche Möglichkeit zum Unfrieden im Keim erstickt wird, ja ‚selbstverständlicheʻ, legitime Tötungsabsichten, Racheangelegenheiten dafür ausdrücklich sanktioniert werden („auch wenn er den Töter des Bruders gebunden fände“).⁵⁹ Gehen aber solche Maßnahmen nicht weit über den Erhalt eines üblichen, natürlichen, wenn auch königlichen Schlafbedürfnisses hinaus? Warum kommt dem Schlaf des Fróði ein so merkwürdig zentraler Stellenwert zu? Wir müssen daraus folgern: Es ist seine Ruhigstellung, seine Zufriedenstellung, die erst eine Friedenszeit für alle entstehen lässt. Das ist der eigentliche, sprichwörtliche Fróðifrieden. Die Motivkombination Schlaflied und Blumenpflücken wurde schon angesprochen, ihre besondere mythische wie literarische Funktionalisierung nicht nur als Entwurf einer naiven, kindlichen Sorglosigkeit, sondern gerade zur Kennzeichnung des Kipppunkts, des Umschlagens dieser friedvollen Harmonie ins schiere Gegenteil. In Theokrits Idyllen (24) erscheint ein Wiegenlied der Alkmäne,⁶⁰ mit dem sie ihre Zwillingssöhne Iphikles und Herakles in den Schlaf singt. Darin kommt der innige Wunsch der Mutter zum Ausdruck, ihre Kinder mögen einen Schlaf schlafen, aus dem sie wieder erwachten (ἐγέρσιμον ὕπνον, „the kind of sleep from which one wakes up“).⁶¹ Noch augenscheinlicher erscheinen die Todesassoziationen im Schlaflied der Danae für ihr Kind Perseus, bezeichnenderweise sind beide Gefangene in einer hölzernen Kiste, einem ungewissen Schicksal auf dem Meer überlassen.⁶² Und auch hier kein Zweifel: „Danaë’s lullaby to Baby Perseus evokes images of corpses, coffins, and death.“⁶³
Siehe Ebenbauer 1976, S. 162: „Die Art, wie der Friede, den Grotti hervorbringt, geschildert wird, ist nun freilich auffällig, denn den Mörder des Bruders nicht zu schlagen heißt doch, daß die vordringlichste Mannespflicht jener Zeit dadurch aufgehoben ist.“ „Schlaft, ihr Kleinen, den süßen und wieder / erwecklichen Schlummer, / Schlafet, o Seelen, die mein, ihr Brüder, gesegnete / Kinder! Lieget in seliger Ruh’ und selig gelanget zum Frühlicht!“ (Übers. Mörike und Notter 1855, S. 115). Pache 2004, S. 119. Simonides PGM 543, 1– 22: „Als um den wohlgefügten Kasten nun / Der Sturmwind braust und sich die Wellen thürmen, / Da faßt sie Angst, die Wangen netzen Thränen, / Sie schlingt um Perseus liebend ihren Arm / Und spricht: ‚O Kind, welch namenloses Weh! / Dein Athem weht so ruhig, und du schläfst / Im freudelosen, erzgefügten Hause, / In nachterfülltes Dunkel hingestreckt, / Und achtest nicht des Wellensturzes über / Dem wohlgeborgnen, weichgelockten Haupt / Und nicht des Sturmgeheuls / In deiner Purpurdecke, holdes Antlitz! // Ach! wär’ das Grauen auch für dich ein Grauen, / Du lauschtest meinem Laut mit scharfem Ohr! – / Nein! schlafe Kind, und du auch schlafe, See, / Und all mein unergründlich Leid!“ (Übers. Mähly 1880, S. 32 f.). Pache 2004, S. 110.
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Für den griechischen Heroen-Kontext kommt Pache zum Ergebnis, dass das Genre der Wiegenlieder, ob sie nun erzählt würden oder ob lediglich daraufhin angespielt werde, ein unmissverständlicher Krisenmarker sei. Die schiere Anwesenheit eines Schlaflieds in der altgriechischen Literatur genüge entsprechend als untrügliches Zeichen für Bedrohung und Todesnähe: Lullabies in Greek poetry – whether narrated or alluded to – often occur at moments of crisis when the child, with or without its mother, faces great dangers. The very presence of a lullaby in ancient literature is indeed in itself a sign of menace. The boundary between threatening and apotropaic elements sometimes gets blurred, and it becomes difficult to distinguish what is warded off from what is sought after. I argue that motifs belonging to lullabies can also function as danger markers, just as do the lullabies themselves. Activities linked with sleeping, such as flower-picking, thus are also closely associated with danger and death.⁶⁴
Und wenn man nun den Grottasǫngr unter dem Aspekt eines Wiegenlieds betrachtet, finden selbst die zunächst durchaus befremdlich anmutenden Elemente von Mord und Totschlag, Krieg und Untergang gerade sub specie dieses Genres eine Erklärung: Das schlimme Ende, der grausame Verbrennungstod des Königs – wir suchen vergeblich ein Happyend – passt zur Funktion eines Schlummerliedes! Die häufigsten Themen in Schlafliedern sind am wenigsten ,kindgerechtʻ, notorisch grausam, gar schockierend, etwas was allen Liedersammlern der Folkloristik über kurz oder lang klar wird: Schlaflieder sind „dense with images of death and disaster,“⁶⁵ „closely associated with danger and death“,⁶⁶ zweifelsohne „a cruel paradox“, wenn etwa im italienischen Wiegenlied Titel wie Il padre impiccato („the hanged father“) oder L’infanticida nicht einmal selten sind,⁶⁷ Hunger, Krankheit, Tod, Kriegs- und Kampfszenen als Thematik häufig erscheinen.⁶⁸ Ähnlich im deutschen Liedgut: Der Tod ist im deutschen Wiegenreim von grosser Bedeutung und hat verschiedene, nicht immer leicht zu interpretierende Aspekte. Das volkstümliche, an der Wiege gesungene Wiegenlied un-
Pache 2004, S. 110 f. del Giudice 1988, S. 273. Pache 2004, S. 110. Vgl. del Giudice 1988, S. 278. Oft wird dies im Sinne einer Didaxe interpretiert: „Negative imagery abounds in lullabies, as it does in much of children’s folklore, often serving as cruel intimidation of the child in order to subdue it“ (del Giudice 1988, S. 275). Vgl. del Giudice 1988, S. 272: „Rock-a-bye, my suckling / and of bread there’s not a morsel / neither dry, nor cooked / nor much [that is] ground. // The miller has not come / may he be eaten by a wolf / and the wolf and the wolf’s lair / may he be struck by the plague. // The plague is a terrible / thing and up above there is a bride / and down below there is another / one weaves and the other winds. // One makes a little hat of straw / to take to battle / the battle and the small battalion / set fire to Barberino. // Barberino, run, run! / did set fire to those towers, / a tower fell asunder / and the baby fell asleep.“ Siehe auch Gerstner-Hirzel 1984, S. 19 f.: „Are Kindke are / morge kåme dei Husare/ äwermorge Saldåte/ ward dat Kindke schlåpe“ oder „Bet Kinder bet / morge kommt der Schwed’/ morge kommt der Oxestern/ der wird die Kinder bete lern.“
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terscheidet sich vom Salonwiegenlied mit Klavierbegleitung nicht zuletzt dadurch, dass es seelische Regungen ans Licht treten lässt, die wenig salonfähig sind.⁶⁹
Daneben finden sich Anrufungen übernatürlicher, göttlicher, magischer Schutzmächte, im üblichen (christlichen) Kontext meist die Jungfrau Maria, die Heiligen, Christus.⁷⁰ Dann erscheint das Wiegenlied tatsächlich als das, was man üblicherweise erwarten will, „a peace charm, prayer, or wish“,⁷¹ „a prayer for safekeeping and success in his future, uttered over the child before surrendering him over to sleep.“⁷² Wiegenlieder sind also von einer hohen Ambivalenz geprägt, in der Tat scheint sie nicht nur ein beständiges Dilemma zu durchziehen, sondern ebenso eine verwirrende Vielfalt von unterschiedlichen Interpretations- und Bezugsebenen, Konnotationen und Anspielungen: Es sind die nämlichen, die sich auch im Grottasǫngr zeigen. Ein wichtiges Strukturmerkmal ist die negative Klimax von Ereignissen oder Motiven: The flow of images, however tenuously linked, guides us ever farther away from the initial state until soon, the baby is forgotten and the mother is contemplating disease, death, and battle scenes. It is the worrying over the lack of nourishment for the child, however, which motivates this projection in phases of disaster on a larger, all-encompassing scale. It is this serpentine presence of negative images which links beginning to end and gives this ninna nanna semantic unity. The confusion or simultaneity of chronologic and metaphysical planes, characteristic of the oneiric dimension, is also here reflected.⁷³
Mit einer „serpentine presence of negative images“ haben wir es auch im Mühlenlied zu tun. Die Mägde erzählen von ihren Erlebnissen, von ihrer Riesenverwandtschaft, brüsten sich immer mehr mit ihren blutigen Taten, Strophe um Strophe werden sie aneinandergereiht, ein kaum zusammenhängendes, bestenfalls frei assoziatives, historisches, pseudohistorisches, mythologisches Sammelsurium, dieses wird schließlich gleichgeschaltet mit der Schilderung ihres eigenen bedauernswerten Zustands und einer blutrünstigen, mörderischen Prophezeiung zum Schluss ‒ ganz wie es sich für ein richtiges Wiegenlied gehört: Frequently the language of the ninna nanna is far from pampering. The death-wish may be as frequent, if oblique, as the fear of death, […]: Rock-a-bye, may you croak / May the priests take you away / May they take you to the grave / Rock-a-bye, holy angel.⁷⁴
Nicht immer müssen diese Analogieketten so negativ sein, es geht eher um deren simple Stringenz, um deren Unabdingbarkeit, um das erkennbar zwangsläufige Ende,
Gerstner-Hirzel 1984, S. 18. Vgl. del Giudice 1988, S. 280 f. Harris 1990, S. 240, zit. n. Naumann 1999, S. 99. del Giudice 1988, S. 281. Vgl. del Giudice 1988, S. 273. del Giudice 1988, S. 274 f.
6.2 Von Schlafliedern und Wundermühlen
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kurz, um die (nicht nur kindliche) Lust an der Berechenbarkeit von Weltverarbeitungsmodellen. Legion sind jene Kinderreime, in denen mehr oder weniger magische Gegenstände in einer langen Kette von Hand zu Hand gehen bis zu ihrem Endpunkt, in einer Art Antiklimax der Abstieg vom Großen ins Kleine.⁷⁵ Im Grottasǫngr ist der magische Gegenstand eben die Mühle selbst, die von Hand zu Hand geht, ihre Besitzer wechselt, nirgends lang gelitten ist: von der Bergwelt der Riesinnen zum habgierigen König Fróði, dann zum ,Mäusekönigʻ Mýsingr, schließlich zum Grund des Meeres, um dort, nunmehr jeglichem individuellen Zugriff entzogen, ein letztes, fantastisches Schöpfungswerk in Gang zu setzen. Im Grottasǫngr steht zunächst, wenn auch nur zwei Strophen lang, der Wunsch nach Glück und Wohlleben im Vordergrund, die Ähnlichkeit zum Wiegenlied ist hier als Erstes aufgefallen. Die Riesenmädchen übernehmen an dieser Stelle die Funktion von positiven Schutzmächten, ganz im Gegensatz zu ihrer späteren Zerstörungswut. Als Schutzmächte produzieren diese zunächst positive Zustände oder sind mit diesen assoziiert: Das geschmückte, das verschwenderisch reich verzierte Bett des Kindes, aus Gold, Silber, Seide gefertigt, ist ein gut bekannter und häufiger Topos des Schlafliedes.⁷⁶ Es ist Symbol für den materiellen Überfluss, den Reichtum, in den das Kind hineingeboren wurde und der entsprechend einen tiefen, störungsfreien, weil sorgenfreien Schlaf gewährleisten kann. Man wird wohl auch den nicht abreißenden Strom an Gold der Reichtumsmühle unter diesem ,Versicherungsaspektʻ lesen müssen. Wie im Wiegenlied gilt, das Gold schafft nicht Wohlstand und Frieden für die Menschen, es ist Ausdruck wie Voraussetzung von Sorglosigkeit. Fróði scheint es ausschließlich für seinen friedvollen Schlaf zu benötigen. Aber auch die Antiklimax, die verhängnisvolle Abwärtsbewegung, Verschlechterung, Dramatisierung von Situationen zeigt sich hier. Im Wiegenlied stürzen Türme ein, die Wiege selbst mitsamt dem Kind fällt herab und zerbricht,⁷⁷ sogar die positiven Schutzmächte sind dieser Verschlechterung unterworfen: Wird Sant’ Insidoro noch in eine Wiege aus Gold gebettet, so liegt San Vincenzo in einer aus Silber, San Gervaso in einer seidenen, das Jesuskind gar in einer aus Stroh. Aber hier ist diese Aneinanderreihung von negativen Bildern, die plötzlich und unversehens enden, nicht moralisch religiös angelegt, ebenso wenig poetischer Selbstzweck, sie ist funktionell.⁷⁸
„A widely diffused child’s iterative rhyme, La mosca dal moscaio […] plays on this long chain of predation: the elephant captures the lion who captures the tiger who captures the wolf, dog, cat, mouse, grasshopper, spider, fly, blackberry“ (del Giudice 1988, S. 277). Vgl. del Giudice 1988, S. 281. „Rock-a-bye baby, on the tree top, /When the wind blows the cradle will rock; / When the bough breaks the cradle will fall, / Down will come baby, cradle, and all.“ „The gradual descent is reflected in the order of cradles, with reference to their quality, beginning with the most precious (gold), the less so (silver) and from a precious metal to textile (satin), and finally to the worthless and most common, straw basket or cradle. From riches and finery to humble poverty – the poverty which both the infant and Christ share. This final recall to reality is rather abrupt: the fantastic heights of elegance and wealth, where even the relatively perfect rhymes induce partial
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Selbst das Reimschema steuert auf einen abrupten Abbruch hin, verbunden mit allerlei ‚Fallassoziationenʻ, unmittelbar darauf folgt die Referenz auf den Schlaf des Kindes und das Ende des Liedes. Jener letzte Übergang, jene endgültige Bewusstseinsveränderung vom Wachzustand in den Schlaf, wird also, interessant genug, in Sprach- und Vorstellungskonzepten des Fallens ausgedrückt: The ideal conclusion to any lullaby, of course, is that the child falls asleep. It is this falling asleep which allows us to identify yet another pattern internal to many lullabies, reflected in a variety of stylistic and rhythmic devices. The Tuscan lullaby cited at the outset, for example, employs an explicit reference to falling. After the rapid build-up rhythmically and stylistically (through the many disturbing images), there is an abrupt chûte in the image of the falling tower, immediately followed by the reference to the baby’s sleep. […]. The falling of objects is likely a cross-cultural, widely used technique, to designate the end of the lullaby.⁷⁹
An fallenden, zusammenbrechenden, nach unten rollenden Objekten mangelt es im Grottasǫngr gewiss nicht (herabrollendes Geröll und Mühlsteine,⁸⁰ der einstürzende Mahlkasten,⁸¹ der zerspringende Mühlstein,⁸² das Niederbrennen des Könighofes⁸³), auch nicht an einem abrupten Ende („Wir haben gemahlen, Frodi, sofort hören wir auf, / die Frau hat lang genug gemahlen.“)⁸⁴ ‒ für manchen ein zu abruptes Ende.⁸⁵
‚hypnosisʻ, to the poverty of Madonna and child, where the rhyme scheme changes and the expected assonance is somewhat discordant (presto / zippo / Cristo)“ (del Giudice 1988, S. 283). del Giudice 1988, S. 283. Veltom grióti of garð risa, / svá at fold fyrir fór sciálfandi; / svá sløngðom vit snúðgasteini / hǫfgahalli, at halir tóco. („Wir wälzten Geröll durch das Reich der Riesen, / so daß die Erde davon bebte; / dann schleuderten wir den Drehstein, / den schweren Rundstein, daß die Menschen ihn fanden“ [Grt 12]). Zu einem formalen, assoziativen Verhältnis zwischen Mühle und Wiege mag auch die Semantik des an. lúðr beigetragen haben. Möglicherweise ausgehend von einer Grundbedeutung „ausgehöhlter Baumstamm“, kann es einerseits „Unterlage eines Mühlsteines“ bedeuten, im Sinne eines „Mahlkastens“ oder „Holzbehälters“, andererseits aber auch die „Kinder-Wiege“ (vgl. Beck 2007, S. 678 f.). Mólo meyiar, megins kostoðo, / óro ungar í iotunmóði; / sculfo scaptré, scauz lúðr ofan, / hraut inn hǫfgi hallr sundr í tvau. („Die Mädchen mahlten, verwandten ihre ganze Kraft, / die jungen waren in Riesenzorn; / die Schaftstangen wankten, der Mühlsteinkasten stürzte ein, / der mächtige Stein sprang entzwei“ [Grt 23]). [M]un herr koma hinig af bragði / oc brenna bo fyr buðlungi. („[E]in Heer zieht sofort hierher, / und brennen wird der Hof des Königs“ [Grt 19]). „Malit hǫfom, Fróði, sem munom hætta, / hafa fullstaðit flióð at meldri“ (Grt 24). Siehe Neckel 1906, S. 168: „Aber man kann gleichwol nicht sagen, dass der rahmen mit der überlieferten scene zu einem völlig befriedigenden ganzen verbunden sei: das von den riesinnen beschworene bild des nahenden rächers zerflattert im nebel, sobald die mühle zerbirst. der hörer wird entlassen mit dem gefühl der stille vor dem sturm, aber der schluss bleibt unbefriedigend, weil das märchenbild der glücksmühle in die brennascene, die sich gleich entwickeln soll, schlechterdings nicht hineinpasst. […]. das grosse ereignis, dem wir fühlbar in den letzten strophen entgegentreiben, kann nicht bloß das bersten der mühle sein. dies ist vielmehr nur das symbol dafür, dass die stunde des untergangs für Fródi geschlagen hat.“ „[D]ie matte[ ] schlussstrophe“ stehe schließlich ganz und gar in einem „zerstörenden widerspruch“ gegen alles, was zuvor thematisch aufgebaut worden sei (vgl. Neckel 1906, S. 168 f.). Ähnliche Bedenken hat Ebenbauer: „Sollte man tatsächlich annehmen, die
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Neckel mag entsprechend die Schlussstrophe kaum für ursprünglich halten, in der Struktur eines Wiegenliedes ist sie jedoch stimmig und strukturell notwendig. Die Befremdlichkeit bleibt. Zu welcher Gelegenheit wäre ein Wiegenlied für oder über einen erwachsenen Herrscher denkbar? Nun ist das Wiegenlied bzw. dessen formale und strukturelle Charakteristika keineswegs nur in den Kinderstuben dieser Welt zu Hause, tatsächlich ist es üblicher Ritualbestandteil eines Übergangsrituals, das am fernsten davon scheint: das Bestattungsritual. So trägt das römische Totenklagelied wohl aus gutem Grund den gleichen Namen wie das romanische Schlaflied, nenia (auch Ninna-Nanna). Beide Liedformen sind offenbar auf gewisse Art identisch empfunden worden. Auf germanischer Seite erscheinen die von der Kirche so heftig bekämpften dadsisas, heidnische Totenklagelieder oder Leichenlieder, die im Indiculus superstitionum et paganiarum als „sacrilegio super defunctos“ bezeichnet werden.⁸⁶ Ein germanisches sisu(a) oder sise-sang wird explizit mit funebria carmina, carmen lugubre und nenia glossiert, das lateinische nenia wiederum erscheint im Germanischen nicht nur als „selenleich, dottengesang“, sondern ebenso als „wigenlyet“.⁸⁷ Und tatsächlich tauchen beide Begriffe gemeinsam in einer Art tautologischen Zusammensetzung auf, susennyne, die wiederum ein Glossator im 15. Jh. mit dem erklärenden Zusatz „est cantus ut sußa libe ninnen“ versieht, ein Wiegenlied, das wir noch heute unter dem Namen „Suse liebe Suse“ kennen. Das nicht mehr motivierbare Erstglied des Lexems wurde also, wie so häufig, in einen Eigennamen umgewandelt.⁸⁸ Diese tief verankerte funktionelle Mehrfachbelegung setzt sich im nordgermanischen Kulturbereich fort. Es ist der gleiche Vorstellungskomplex, der auf der einen Seite die tödlichen Gefahren des Schlafs beschwört, auf der anderen Seite aber den Tod zum ,süßen Schlafʻ werden lässt, jener erstrebenswerte Effekt, der in Kinderstuben wie Bestattungen rituelles bzw. ritualisiertes Handeln vorgibt.
6.3 Ars moriendi: Das Stadienmodell der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross Die neniae, die römischen Leichenlieder, galten als Bestandteil einer explizit weiblichen Domäne der Trauer gegenüber dem gewissermaßen offiziellen, männlichen Trauerdiskurs in Gestalt der laudatio funebris, der Leichenrede. Sie war in einen wichtigen Übergangsritus eingebettet, in jenen Transformationsprozess, der den Verstorbenen zu einem Mitglied der di manes, den der Familie wohlgesonnenen Ah-
Mädchen wünschten Fródi alles Gute? Der Übergang zu Str. 8 wäre dann in der Tat abrupt und merkwürdig. An einen ironischen Wunsch der Mädchen wird man auch kaum denken dürfen“ (Ebenbauer 1976, S. 163). Meisen (Hg.) 1948, S. 10: I. 2: „De sacrilegio super defunctos, id est dadsisas.“ Diefenbach 1861, S. 310. Vgl. Diefenbach 1861, S. 310.
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nengeister verwandelte und im Gegenzug verhinderte, dass dieser zu einem missgünstigen, übelwollenden lemur würde⁸⁹: The funeral ritual thus involved the delicate task of driving the deceased away from the living without antagonizing him or her. It was a matter to be handled with extreme care, and all members of the community, both male and female, had their particular roles to play in this ritual.⁹⁰
Diese Aufgabe übernahmen professionelle Klagefrauen, die so genannten praeficae oder funereae, die, an der Spitze des Zuges mit Musik, Gesang und Ritualgesten, den Begräbniszug und damit recht eigentlich den Verstorbenen selbst in Richtung Begräbnisplatz leiteten. Ausdrücklich wird in den antiken Quellen betont, die Pflicht der praeficae sei nicht etwa, sich selbst traurig und bekümmert zu fühlen, als vielmehr der rituell notwendigen Trauer (princeps planctuum) einen adäquaten Ausdruck zu geben.⁹¹ Die Begriffe für Trauer im Lateinischen verweisen auf deren äußere, rituelle Manifestationen, Zeigegesten: luctus, planctus, squalor. Das Weinen also, die selbst zugefügten Schläge sowie die bewusst verwahrloste, schmutzige Erscheinung der Trauernden ‒ eine öffentliche Zurschaustellung der Solidarität, der ,Gleichmachereiʻ mit dem Toten, eben jene übliche „self-degradation in grief“, die die Anthropologie weltweit als Teil überkultureller Ritualmuster und damit überkultureller Bewältigungsstrategien von Trauer und Verlust beschreibt.⁹² Nun erscheint üblicherweise in diesem Zusammenhang der Trauerbewältigung der Verweis auf die Pionierarbeit der Schweizer Sterbeforscherin Elisabeth KüblerRoss. Ende der sechziger Jahre entwickelte sie ein so genanntes Stadienmodell der Trauer, das sie aus ihrer empirischen Forschung mit Sterbenden gewann. Kübler-Ross identifizierte fünf (aufeinanderfolgende, aber auch gegebenenfalls sich wiederholende oder rezidivierende) Trauerphasen, einerseits als einen gewissermaßen persönlichen Bewältigungsprozess des sterbenden Menschen selbst, andererseits als Prozess des Trauerns allgemein, aller Beteiligten, der Angehörigen und Hinterbliebenen. Ihr Stufenmodell beginnt mit einer ersten Phase des ,nicht Wahrhaben Wollensʻ der Situation, des Schocks und der Isolierung (denial and isolation), der eine zweite Phase der starken emotionalen Aufgewühltheit folgt, der intensiven heftigen Trauer, gerade aber auch, oft genug bis dato übersehen, starker negativer, aggressiver Gefühle, insbesondere Wut, Ärger, Feindseligkeit (anger). In der dritten Phase schließlich versuchen die Trauerbeteiligten zu verhandeln, zu kommunizieren, durch gewisse Aktionen, Wohlverhalten, den Prozess aufzuhalten oder abzuwenden (bargaining). Schließlich fehlt die Kraft, Kommunikation und Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Es kommt zur Erschöpfung und Depression (depression). Damit tritt der
Vgl. Dutsch 2008, S. 258. Dutsch 2008, S. 259. Vgl. Dutsch 2008, S. 260. Vgl. Corbeill 2004, S. 68.
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Trauernde in die letzte abschließende Phase, in eine Phase der Beruhigung, Zustimmung und Fügung in eine unabänderliche Situation (acceptance).⁹³ Die Arbeit von Kübler-Ross galt seinerzeit als bahnbrechendes Werk, sie schien auf Gesetzmäßigkeiten der psychischen Bewältigung von Trauer zu verweisen, die bisher offenbar unerkannt geblieben waren. Ihr Modell genießt bis heute hohe Popularität und Ansehen insbesondere in der praktischen Sterbebegleitung und hat dort wohl auch seine Berechtigung. Interessant genug indes, dass es in der psychologischen Fachwelt keineswegs in dem Maße Unterstützung fand, ja von Anfang nicht unerheblicher Kritik ausgesetzt war: Gerade diese vorgebliche Gesetzmäßigkeit, die streng lineare Abfolge dieser Stadien und insbesondere die teleologische Ausrichtung auf ein ,gutes Endeʻ wurde bezweifelt, im Klinikalltag schien sich dies keineswegs so zu bestätigen. In seiner Würdigung von Kübler-Ross Arbeit sammelt der Theologe Jesús Rodrigúez Sánchez eine Reihe kritischer Stimmen dazu, die die Validität des Kübler’schen Modells nicht nur eher gering einschätzen, sondern sogar als „a serious hazard, both to the patient and the care provider“⁹⁴ betrachten möchten: My own limited work has not led me to conclusions identical with those of Kübler-Ross. Indeed while I have seen in dying persons isolation, envy, bargaining, depression and acceptance, I do not believe that these are necessarily „stages“ of the dying process, and I am not convinced that they are lived through in that order, or, for that matter, in any universal order.⁹⁵
Ihr Verfahren sei keineswegs verlässlich wiederholbar, die Ergebnisse eher intuitiv und anekdotisch denn methodisch, in large part the product of the highly subjective manner in which observations were obtained and interpreted. […] [I]t appears that she depended more on intuition to define a particular stage than any systemic pattern of responses from the patient.⁹⁶
Insgesamt könnten Kübler-Ross’ Ergebnisse damit nicht wissenschaftlich verifiziert werden: [N]o researcher or systemic clinical observation has verified any preprogrammed set of stages in the dying process; that is, researchers and practitioners have not yet empirically identified any set of linear, unidirectional, and invariant stages. Certainly many patients who are dying exhibit denial, anger, depression, and occasionally acceptance, but it is inaccurate to suppose that all individuals, regardless of belief systems, age, race, culture, and historical period die in a uniform sequence. It is more likely that existing theoretical frameworks become self-fulfilling prophesies imposed by health care professionals who may coerce the dying person into conforming with a powerfully suggested typology.⁹⁷
Siehe Kübler-Ross 1969; Kübler-Ross 1972. Sánchez 2007, S. 6. Shneidman 1973, S. 6, zit. n. Sánchez 2007, S. 8. Schulz und Aderman 1974, S. 138, zit. n. Sánchez 2007, S. 8. Garfield 1978, S. 103, zit. n. Sánchez 2007, S. 9.
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In der Tat scheint Kübler-Ross ihre eigene „powerfully suggested typology“, ihre eigenen „theoretical frameworks“ zu bestätigen und diese sind, wir müssen es annehmen, eher mythisch religiöse denn wissenschaftliche, empirisch belegbare: Religiöse Denksysteme tragen diesen anthropologischen Grundbedingtheiten in ihrem rituellen Handeln seit Jahrtausenden Rechnung, tatsächlich wird jeder einzelne dieser Gefühlsaspekte auf eben diese Weise unterschieden und explizit ritualtechnisch bearbeitet. Unbewusst, intuitiv referiert Kübler-Ross also auf ein religiös gegründetes Modell der rites de passage im Sterbeprozess, dessen vorrangige Aufgabe die ,Linearisierungʻ, Strukturierung und Teleologisierung eines chaotischen, buchstäblich an seine Grenzen stoßenden Informationsverarbeitungssystems im Angesicht des Todes ist. Was uns Kübler-Ross liefert, ist somit eher eine ars moriendi, jene Art von ,Sterbekunstʻ, wie wir sie schon seit dem Mittelalter kennen, gerade deshalb mag ihr Modell so dankbar, ja enthusiastisch aufgegriffen worden sein: „In other words, the sequence of progressive stages culminating in acceptance has an aesthetical pleasing quality. The tranquil, accepting dying person causes no disturbances and is simple to manage.“⁹⁸ Tatsächlich ist es das Ziel der meisten Bestattungsriten dieser Welt – wenn auch in leichter Abwandlung oder Erweiterung dieses Prozederes: Gerade für den Toten hofft man am inniglichsten auf diesen Zustand. Im Unterschied zu Kübler-Ross (pseudowissenschaftlichem) Modell geht das religiöse Trauermodell (zumindest für sehr lange Zeit) nicht nur von den Sterbenden und Hinterbliebenen, sondern gerade auch von den Toten selbst als Ritualteilnehmer aus, ja sie sind genau genommen die Hauptbeteiligten, sie ,erlebenʻ diesen Trauer- und Ablösungsprozess auf eben diese Weise mit. Die Phase der aggressiven Feindseligkeit und Frustration des Toten ist dabei gewiss die gefährlichste, da er qua seines liminalen Status zu einer übernatürlich potenten, wirkmächtigen Wesenheit transformiert. Sie muss entsprechend im Ritual besonders sorgfältig behandelt werden. Der dänische Kontext des Frotho-Tods, wenn auch von Saxo Grammaticus in jeder Hinsicht verrätselt (was wir gegebenenfalls auch der tiefen christlichen Abneigung heidnischen Totenritualen gegenüber zuschreiben müssen), wird damit nun unmissverständlich: Obwohl Frotho diese Nacht (in tiefem ungestörten Schlaf!) überlebt und am nächsten Tag zum Gegenschlag gegen die Harald-Söhne ausholt, nimmt die Episode eine seltsame Wendung: Dermaßen von Frotho überrumpelt, gebärden sich die Söhne nun wie besessen, wie wahnsinnig (quam furoris simulatio fuit. […] perinde ac furiis acti lymphantium se more gerere coeperunt), sie scheinen sich mit dem eigenen Schwert verletzen zu wollen, so dass es dem König Frotho ein Unmögliches ist, wie es heißt, diese zu töten. In der nächsten Nacht aber überfallen sie ihn schließlich doch, begraben die Königin unter einem Berg von Steinen und zwingen den König in eine „finstere Grotte“ (die bereits vorbereitet war!), wo er an Hitze und Rauch er-
Churchill 1979, S. 26, zit. n. Sánchez 2007, S. 10.
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stickt.⁹⁹ In allen Einzelheiten sehen wie hier die Bestattung des Frotho (und seiner Frau) inszeniert. Das merkwürdige Gebaren der zukünftigen ‚Mörderʻ ist doch nichts anderes als die rituell eingeforderten Unterwerfungs- und Selbstverletzungsgesten, die schließlich, nur in der Logik der Erzählung ganz unverständlich, den bereits toten Frotho davon abzuhalten vermögen, den Hinterbliebenen Schaden zuzufügen. Im Bestattungsritual ist es einzig wirksames Mittel, dem berechtigten Zorn des Toten zuvorzukommen. Grottasǫngr ist also ein Wiegenlied der ganz besonderen Art: Es ist ein Leichenlied. Es ist ein Lied für einen Toten. Funktionell betrachtet sind Wiegenlieder Lieder des Übergangs, wenn man so will, Lieder der Transformation: So wie ein Arbeitslied die Transformation von Materie, etwa einen Pflanzenstoff, Korn, in ein Nahrungsmittel, Mehl, unterstützt und begleitet, so unterstützt das Wiegenlied die Transformation eines menschlichen Zustands, vom Wachzustand in den Schlaf, von der Beunruhigung zur Beruhigung, vom Bewusstsein in die Bewusstlosigkeit, vom Zorn in die Begütigung. Die Mittel, die dafür notwendig sind, sind überkulturell und überzeitlich die gleichen, denn die kognitive Ausrüstung ist diesbezüglich auf der ganzen Welt gleich beschaffen. Durch sprachliche, phonetische, handlungspraktische wie inhaltlich semantische Mittel wird gezielt auf allen Ebenen menschlicher, sinnlicher Erfahrung Repetition, Redundanz und Monotonie erzeugt.¹⁰⁰ Der instabile Zustand eines Säuglings gleicht in diesem Sinne der Unberechenbarkeit von Totengeistern, das kognitive Equipment des Menschen verarbeitet beide Situationen gleich, der Unterschied liegt nur in den Gültigkeitszuweisungen. Wiederholung und kumulatives Handeln erhöhen erfahrungsgemäß die Erfolgschancen auf ein geglücktes Ergebnis, Stereotypie und Symmetrie macht Aktionen überschaubar und berechenbar für den Säugling wie für die Toten. Verschwommenheit, Uneindeutigkeit, Unklarheit be-
Gest.Dan. 7.1: Nec aliud Haraldi filiis auxilio quam furoris simulatio fuit. Nam cum se ex improviso occupari conspicerent, perinde ac furiis acti lymphantium se more gerere coeperunt. Quos cum Frotho mente captos putaret, propositum remisit, deforme existimans ferro petere, qui ferrum in se convertere viderentur. A quibus proxima nocte incendio consumptus, dignas parricidii poenas pependit. Quippe regiam adorti reginam in primis lapideo obruere congestu; igne deinde penatibus applicato, Frothonem in excisi dudum specus angustias et opacos cuniculorum recessus obrepere coegerunt. Ubi dum clausus delitescit, vapore et fumo strangulatus interiit. („Den Söhnen des Harald konnte nichts weiter helfen, als dass sie sich wahnsinnig stellten: als sie sahen, dass sie unversehens überrumpelt wurden, begannen sie, wie von Furien gepeitscht, sich wie sinngestört zu benehmen. Da Frotho sie wirklich für besessen hielt, so gab er seine Absicht auf; denn er hielt es für ehrlos, auf die mit dem Schwerte loszugehen, die das Schwert gegen sich selbst zu wenden schienen. In der nächsten Nacht aber wurde er von ihnen durch Brand ums Leben gebracht und büsste so die gebührende Strafe für den Mord. Sie überfielen nämlich die Königsburg und begruben zunächst die Königin unter einem Berge von Steinen; darauf warfen sie den Brand in das Haus und nötigten den Frotho, sich in eine längst gehauene Grotte und in dunkle, versteckte und unterirdische Gänge zu verkriechen. Während er sich hier eingeschlossen verborgen hielt, kam er von Hitze und Rauch erstickt um“). Vgl. Warner 1998, S. 93: „The sound of the steady rhythm and simple repetitive melodies, accompanied by patting, walking, swaying, cuddling, or rocking of the cradle, can help soothe the child.“
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schwören Missverständnisse, womöglich Kommunikationskonflikte herauf, hier kann sie sich der Mensch auf keine Weise leisten. Darum also währt Fróðis friedvoller Zustand buchstäblich nicht ewig, nur für eine gewisse, offenbar von den Mahl-Mädchen genau bemessene Zeit. Dann folgt der abrupte Umschlag, die Katastrophe, der Feuertod: Fróði stirbt kampflos wie waffenlos, im strukturellen Aufbau des Wiegenlieds ist das der endgültige, dauerhafte, erstrebte Schlafzustand, in der Rituallogik die letzte Passage, es folgt der endgültige Todesschlaf. Tot (freilich ausschließlich in einem modernen Verständnis) war Fróði somit bereits zu Liedanfang. Aber das pagane Denken unterscheidet genauer. Er befindet sich auf einer ganz bestimmten Stufe seines tödlichen Übergangs, der gefährlichsten, der unberechenbarsten von allen: der liminalen.
6.4 Nerthus Mehr und mehr wird nun also klar, warum der viel beschworene Froðifrieden (ár ok friðr „gute Ernte und Friede“), der alle Eigenschaften eines rituellen Friedens hat, unter allen Umständen eingehalten werden muss. Die Unverletzlichkeit auf Zeit, das generelle und ausnahmslose Tötungsverbot, die „Enthaltung von Blutvergießen“, die Waffenruhe bezieht sich nicht auf reale Fehde-Ereignisse, auf reale kriegerische Konflikte, sie mögen im Lauf der Zeit damit verbunden worden sein, um Aktualität und Glaubwürdigkeit zu erhalten, aber letztendlich befinden wir uns in der Ausnahmesituation eines Bestattungsrituals. Damit ist Ort wie Zeit gemeint, wann und wo der Ritus, der Totenkult stattfindet, griðastaðr mikill, das ,Thingereignisʻ. Es geht um die Unverletzlichkeit des Kultes, was innerhalb seiner sorgfältig abgesteckten Grenzen stattfindet, bekommt andere Gültigkeiten zugewiesen. Loki bricht nicht etwa diese Regeln, im Gegenteil, er ist es, der dringend auf ihre „assurances of non-aggression“¹⁰¹ angewiesen ist!¹⁰² Neckel sieht eine ähnliche Vorstellung in der Friðþjófs saga gefasst, in der Unverletzlichkeit des Tempelfriedens im Baldershag, insbesondere aber denkt er an die Tacitusbeschreibung des Nerthusfestes und auch an das Opferfest in Upp-
Lindow 1997, S. 131. Lindow verweist auch auf die relative Seltenheit des Ausdrucks. Im norwegischen Landslag werde eine Reihe von Situationen (und Zeiten) aufgelistet, wo grið gewährt werden müsse, dazu gehörten Versammlungen, Gerichtsituationen, Hochzeiten und gewisse (christliche) Feiertage. Daneben erscheint der Begriff auch in der (späten) Fornaldarsaga Friðþjófs saga frækna, der man indes für den Baldermythos bis dato kaum Quellenwert zusprechen wollte. Lindow vermutet, dass Snorri wohl ein Konzept des mittelalterlichen Kirchenasyls vorschwebte, das dann aber keine vorhistorischen paganen Zustände widerspiegeln würde. Auf ihn macht Snorris Erklärung den Eindruck eines „rather feeble attempt to explain the lack of immediate vengeance when Baldr is stuck down“ (Lindow 1997, S. 133). Aber, wie er selbst erkennt, dafür hätte er nicht ein obskures Asylrecht bemühen müssen. Der soziale Code verlangte Blutrache, aber es waren die Regeln eben des nämlichen Codes, die dieses Handeln verhinderten. Jedem einzelnen Isländer wäre doch klar gewesen, mit oder ohne griðastaðr, dass sich enorme Probleme auftun würden, egal ob unmittelbar oder später nach dem Totschlag (vgl. Lindow 1997, S. 176).
6.4 Nerthus
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sala.¹⁰³ Aber welche Feste werden denn hier gefeiert? Den Ritualschilderungen der Friðþjófs saga mochte man ohnehin wenig Glauben schenken, wir werden uns diese später noch genauer betrachten müssen, aber es wird als Disenopfer bezeichnet. Opfer an die Disen werden wie das Nerthusfest und das Opferfest zu Uppsala traditionell unter der Rubrik Fruchtbarkeitsfest abgehandelt. Sie sind es wohl alle drei nicht. Nicht dass nicht etwa auch Glück, Fruchtbarkeit und Segen erhofft würden von einer übergeordneten, potenten, anderweltlichen Macht, aber hier muss die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Kultempfänger gestellt werden. Recht selbstverständlich wird das mit ,Fruchtbarkeitsgötterʻ, ,Mutter Erdeʻ, ,Wachstumsdämonenʻ oder Ähnliches beantwortet, Tacitus selbst spricht schließlich von Nerthus als id est Terram matrem (Germ., Kap. 40), die, wenn alle rituellen Voraussetzungen sorgfältig erfüllt waren, sich zeigte und sich mit einem Wagen durchs Land fahren ließ. Dabei ist schon vielfach die Vermutung geäußert worden, Tacitus (und seine Informanten) hätten wohl die Vorstellung römischer Fruchtbarkeitsumzüge, etwa das orgiastische Frühlingsfest der Mater Magna vor Augen gehabt (bzw. der Erdgöttin Tellus, später Terra mater). Es sei also bei seiner Beschreibung zunächst einmal von einer typischen interpretatio romana auszugehen, eben einer „Angleichung an röm[ische] Verhältnisse“¹⁰⁴ ‒ ein übliches Verfahren zweifelsohne, das Verständnis fremder religiöser Kulte und Symbole wird durch Wissensrahmen eigener religiöser Denkmodelle ermöglicht. Das Herumfahren auf einem Wagen war dabei offenbar als herausragendes Merkmal des Kultes der Anknüpfungspunkt, auch die abschließende Waschung der Göttin und ihres Kultgeräts in einem See, ähnlich der lavatio der Mater Magna im Fluss Almo. Schließlich die ausgelassene Freude am Festtag der Hilaria, vielleicht, zumindest später, als eine Art Auferstehung oder Rückkehr der getöteten Gottheit, Attis, interpretiert.¹⁰⁵ Nun ist die Mater Magna, die altanatolische Muttergöttin Kybele, als Religionsimport aus dem Osten nicht unbedingt identisch mit dem römischen Verständnis der Terra mater, der einheimischen sogenannten Erdgöttin, die uns Tacitus expressis verbis als Analogie nennt. Im römischen Verständnis trägt diese eine „Doppelnatur“, sie gilt als „Allgebärerin und als Bergerin alles Abgestorbenen“.¹⁰⁶ Ja, sie gilt sogar identisch mit der Genita Mana, ausdrücklich eine Totengöttin (Plut. quaest. Rom. 277 A), (Plin. nat. hist. 29, 58), die Hunde-Opfer erhielt und die man im Gebet anrief, „niemand von den Hausgenossen möge χρηστός werden“. Das entsprach im Lateinischen einem „neminem manum fieri“, dem euphemistischen Ausdruck für ,sterbenʻ.¹⁰⁷ Das so genannte Opfer der porca praecidanea (Schweineopfer), das sie fakultativ erhielt, gehört in einen Begräbniskontext, auch wenn es ebenso der Ceres
Vgl. Neckel 1920, S. 108 f. Zimmer und Hultgård 2002, S. 86. Vgl. Timpe 1992, S. 462. Wissowa 1916 – 1924, Sp. 331. Vgl. Eisenhut 1979a.
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dargebracht wurde.¹⁰⁸ Es galt zunächst einmal als Sühneopfer, das üblicherweise nur vollzogen werden musste, wenn ein Fehler in den Begräbnisriten unterlaufen war, der Totenkult nur unvollständig oder gar nicht ausgeführt werden konnte, und diente damit als Expiationsritus für die Familie. Daneben war es unumgänglich für die Legitimation des Erben, der sonst sein Erbe nicht antreten konnte. Barbette Spaeth möchte von einer Verwechslung ausgehen, dass Tellus ursprünglich überhaupt keinen Platz in diesem Ritus gehabt hätte.¹⁰⁹ Aber nicht Ceres, sondern Tellus war tief mit dem Totenkult verbunden: Der Anteil der beiden Göttinnen am Opfer der porca praecidanea ist offenbar so geregelt, daß das Ernteopfer der Ceres gilt, die Sühnleistung für die Vernachlässigung der Pflichten gegen die Verstorbenen aber der Tellus als der Gottheit der Grabstätte. In dieser Eigenschaft gehört sie in den Kreis der di inferi und steht in engster Beziehung zu den di manes […].¹¹⁰
Eine Handlung des Totenkultes scheint also vielmehr in einen agrarischen Kult implementiert worden zu sein bzw. diesem vorgeschaltet. Das aber heißt doch, dass auch die Römer (trotz der zweifelsohne engen Bezogenheit) sehr wohl zu unterscheiden wussten zwischen ihrer Fruchtbarkeitsgöttin Ceres und der chthonischen Tellus, der ausdrücklich auch andere Aufgaben zugewiesen werden. Und diese Unterscheidungsfähigkeit sollte man Tacitus denn auch für den germanischen Bereich zutrauen. Aber sehen wir weiter, was er über die germanische Göttin zu berichten weiß: Zu ihrem Kult gehörte die unbedingte Waffenruhe.¹¹¹ Wenn wir aufmerksam lesen, bemerken wir, die Waffenruhe, der Friede entsteht nicht etwa durch ihre Anwesenheit, sie ist Voraussetzung, die Festbesucher und Kultteilnehmer sind nicht Profiteure, sie haben vielmehr die Pflicht, diese zu gewährleisten, und auch das betont Tacitus ausdrücklich, pax et quies tunc tantum nota, tunc tantum amata, der angestrebte Zustand der Ruhe und Frieden existiert nur in diesem engen rituellen Rahmen, sonst offenbar ein eher ungeliebter, befremdlicher Zustand. Meist wird dabei der Begriff ferrum in der Sequenz clausum omne ferrum als synekdochische Variation zum allgemeinen Waffenverbot gesehen, was formal gewiss ohne weiteres möglich ist. Aber insbesondere wenn wir den besonderen Kontext der rigiden rituellen Vorgaben miteinbeziehen, spricht einiges dafür, dass der Begriff durchaus wörtlich, im Sinne einer spezifischen Meidungsvorschrift eines Materials, eben des Eisens gemeint sein könnte. Eisen hat nun eine besondere magische Eigenschaft, es ist als hochpotentes Apotropaion bekannt, als wirkmächtiges Instrument zur Bannung wie Abwehr an Vgl. Wissowa 1916 – 1924, Sp. 335. Vgl. Spaeth 2010, S. 54 f. Wissowa 1916 – 1924, Sp. 336. Non bella ineunt, non arma sumunt; clausum omne ferrum; pax et quies tunc tantum nota, tunc tantum amata, donec idem sacerdos satiatam conversatione mortalium deam templo reddat. („Nicht gehen sie Kriege ein, nicht greifen sie zu den Waffen; verschlossen ist jedes Eisen; Frieden und Ruhe sind dann nur bekannt, dann nur [kursiv d.Verf.] geliebt, bis derselbe Priester die des Umgangs mit den Sterblichen satte Göttin dem Heiligtum zurückgibt“ (Germ., Kap. 40).
6.4 Nerthus
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derweltlicher Wesenheiten. So erscheint es einige Male in dieser Funktion gegen Meerwesen, Meerjungfrauen gerichtet.¹¹² Aber der Einsatz dieses Metalls (wahlweise auch Stahl) ist keineswegs auf diese Gruppe von marinen Anderweltbewohnern beschränkt (wovon Dumézil offenbar ausgeht), es gilt für eine Reihe von nicht bis ins Letzte kategorisierbaren, jenseitigen Wesenheiten, ,Geisternʻ, „anthropomorphen Manifestationen der Naturmächte.“¹¹³ Das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens zählt jedenfalls eine Fülle apotropäischer Anwendungsmöglichkeiten des Eisens (oder Stahls) auf. Generell gilt es als „magisches Abwehr- und Schutzmittel gegen Dämonen und ihre bösen Einwirkungen.“¹¹⁴ Durch eine typische magische Wurfhandlung konnten Dämonen buchstäblich dingfest gemacht werden, gebannt werden. Vom Eisen berührt werden sie bewegungsunfähig und damit machtlos. Wir müssen annehmen, dass genau um dieses Effektes willen das Eisen in den „kosmogonische[n] Landnahmetraditionen“¹¹⁵ des Nordens erscheint, als magisch zauberkräftiges Remedium, um vormals unkultiviertes, unbewohntes Land (etwa eine Insel) für den Menschen verfügbar, bewohnbar und nutzbar zu machen. Denn mochte das Land auch menschenleer sein, bevölkert stellte man es sich doch vor von magischen, liminalen, primordialen Wesen, „von mehr oder minder dämonischen Naturmächten“,¹¹⁶ landvættir, die es zu vertreiben oder zu besänftigen galt. Den Anfang macht dabei meist ein „zivilisationstiftende[r] Akt“,¹¹⁷ etwa der Einsatz von Feuer oder eben dessen Produkt, das Eisen. So weiß die Gutasaga (13. Jh.) zu berichten, wie die zunächst noch ganz verzauberte Insel Gotland, die des Tags im Meer versank und nur des Nachts emporstieg, auf diese Weise gebannt und damit nutzbar gemacht werden konnte: Nachdem ein Feuer auf ihr entzündet wurde, versank sie nie mehr.¹¹⁸ Eine Färöersage aus dem 17. Jh. berichtet von einer anderen ,schwimmenden Inselʻ, Svinoy, die mithilfe von Stahl befestigt werden konnte.¹¹⁹ Durch die unmittelbare Berührung mit Eisen müssen die Inseln fest auf ihrem Platz bleiben und die Menschen können ihren Reichtum nutzen. Diesen negativen Einsatz zur Abwehr oder Bannung hält Dumézil insgesamt für christliche Provenienz – wohl kaum, wenn wir annehmen müssen, dass auch im rein paganen Kontext des Nerthus-Kultes die Anwesenheit der Göttin ebenso „incompatible avec le
Siehe Dumézil 1955. Entsprechend möchte er Nerthus und ihr männliches Pendant Njǫrðr letztendlich als Meerwesen interpretieren (vgl. Dumézil 1955, S. 216). Böldl 2005, S. 154. Olbrich und Hünnerkopf 1930, S. 718. Böldl 2005, S. 147. Böldl 2005, S. 147. Böldl 2005, S. 147. Siehe Gutasaga, Kap. 1: Gutland hitti fyrsti maþr þann, sum Þieluar hit. Þa var Gutland so eluist, et þet dagum sank ok natum var uppi. En þann maþr quam fyrsti eldi a land, ok siþan sank þet aldri. („Gotland was first discovered by a man named Þieluar. At that time the island was so bewitched that it sank by day and rose up at night. That man, however, was the first that brought fire to the island, and afterwards it never sank again“ [Übers. Peel 1999, S. 2 f.]). Vgl. Böldl 2005, S. 147 f. Vgl. Jiriczek 1891, S. 20f.
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présence de ce métal“¹²⁰ erscheint. Man ging möglicherweise von einer Gefährdung aus, von der Möglichkeit einer Gefährdung, aber nicht etwa der Menschen, sondern gerade der Gottheit. Aber wie könnte eine Fruchtbarkeitsgöttin, eine ,Frühlingsgöttinʻ von solchen Abwehrmaßnahmen betroffen sein? Dazu müssen wir uns jene bannungswürdigen Geschöpfe, (land)vættir, genii tutelares (von ihrer ursprünglichen Bedeutung her sehr unspezifisch „Geistwesen“¹²¹) noch genauer ansehen: Deren Zustand (einschließlich der ihres Aufenthaltsortes!) ist von Verschwommenheit, Uneindeutigkeit, nicht Festgemachtem, Schwankendem geprägt, liminale Zustände als Prototypik des Anfangs (im Gegensatz zur ‚Geradheitʻ, ‚Festigkeitʻ, ‚Eindeutigkeitʻ des Zentrums). Dieser Zustand der uneingeschränkten Bewegungsfreiheit, des unerwünschten Vagabundierens wird (nicht zuletzt mit Hilfe magischer Mittel) beendet. In der Logik magischen Denkens sollte dieser Zustand ganz offensichtlich auch für Nerthus geschaffen werden. Im rituellen Rahmen eines Kultumzugs, im Rahmen einer genau festgesetzten Zeit wird ihre Mobilität gewährleistet. ‚Rituelles Fahrenʻ kann als Kultpraxis die segensreiche, Fruchtbarkeit stiftende Berührung von Fruchtbarkeitsgöttern ausagieren, als buchstäbliche Übertragung von heilsamer Substanz (etwa auf den zu befruchtenden Acker). Allerdings ist es keineswegs auf Fruchtbarkeitskulte beschränkt. Es gibt eine Vielzahl weiterer Gründe, warum (symbolische wie konkrete) Mobilität im Kult eingesetzt wird. Gerade im Zusammenhang mit dem Nerthus-Umzug wird von keinerlei begleitenden, agrarischen Fruchtbarkeitsriten berichtet, Tacitus deutet auf keine Weise an, dass der Zweck dieser Umfahrt die Förderung von Fruchtbarkeit gwesen sei.¹²² So betont auch Timpe: Wenn dagegen fast einhellig (Ausnahme: W. Baetke, Kleine Schriften 1973, S. 33) dem Nerthuskult die ἱερός γάμος-Vorstellung unterlegt wird, so ist festzuhalten, daß bei nüchterner Betrachtung dafür nichts spricht: der Kontakt der Göttin scheint dem Beginn der Vegetation zu folgen, nicht ihn einzuleiten [kursiv d. Verf.].¹²³
Aber worum geht es dann im Nerthus-Fest? Die Göttin erscheint nach Laune, lässt sich durch die Lande fahren und wird nach einer gewissen Zeit der menschlichen Gesellschaft überdrüssig. Die Stimmung ist fröhlich, ja ausgelassen. Gut möglich, dass es gerade diese (vielleicht frenetische) Ausgelassenheit war, genauer, diese eigenartige Diskrepanz zwischen ausgelassener Freude, laeti tunc dies, und geheimnisvollem Grauen, arcanus hinc terror sanctaque ignorantia, die Tacitus an die orgiastischen Dumézil 1955, S. 225 f. Siehe Dillmann 2007, S. 326: „Awnord. vættr (mit den parallelen Formen véttr und -vítr), fem. Sing. […], got. waíhts ,Ding, Sacheʻ, ae. wiht ,Sache, Wesen, Dämonʻ […], vgl. ne. wight und whit, ,Wesen, Wichtʻ, as. wiht ,Wesen, Geistʻ, ahd. wiht, mhd. wicht ,Wesen, Geschöpf, Geisterwesenʻ, vgl. nhd. Wicht mit dem Kompositum Wichtelmännchen, adän. væt(tæ) ,Wesen, Geistʻ, aschwed. væter und schwed. mdal. vätter ,Kobold, Wesenʻ […].“ Vgl. Zimmer und Hultgård 2002, S. 86. Timpe 1992, S. 462, Anm. 57.
6.5 Landvættir
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Exzesse des Magna Mater-Festes erinnerte (bekanntlich verbunden mit den rituellen Selbstverstümmelungen der Galli-Priester, ein in römischen Augen eher unnatürlicher, „abstoßende[r] Trubel“¹²⁴). Was ist es, was die Göttin Nerthus den Menschen beschert, worüber hätten sie Grund, sich dermaßen zu ,freuenʻ? Aber macht dieser Kultumzug nicht gerade den Eindruck, dass nicht eher alles getan wird, um sie, die Göttin, bei Laune zu halten, dass alles getan wird, um ihr einen schönen, freudigen Aufenthalt zu bereiten, gibt es gar, bei allen ganz offensichtlich erwarteten Vorteilen etwas, wovon die Menschen versuchen, sie abzuhalten? Trotz aller Wohltat wird doch auch eine diffuse, geheimnisvolle Gefährdung empfunden wegen eines schwierigen, unberechenbaren, vielleicht sogar gefährlichen Gasts. Sie sucht wohl Austausch und Unterhaltung und es gilt, ihr eitel Freude zu bereiten, müde und ,sattʻ geworden kann sie in die ruhige Zurückgezogenheit des Tempels gebracht werden von einer Art väterlichen, „priesterlichen Autorität“, die in tiefer spiritueller wie emotionaler Verbundenheit die göttlichen Bedürfnisse der conversatio wie des Rückzugs erspüren kann: [D]onec idem sacerdos satiatam conversatione mortalium deam templo reddat. Als Abschiedsgeschenk erhält die Göttin zwei Menschenopfer, ein Ende mit Schrecken, von dem alle wissen, aber ein Ende.
6.5 Landvættir Auch bei den außernatürlichen Wesenheiten der landvættir scheint ein latentes, zumindest „potentielles Spannungsverhältnis“¹²⁵ zum Menschen bestanden zu haben. Einerseits geht es um Kontrolle und Abwendung von Schaden, die von diesen ausgehen könnte, andererseits, im Falle einer gütlichen Einigung, einer „freundschaftlichen Kooperation“¹²⁶ (d. h., sozialer Austausch, Kommunikation und vor allen Dingen Friedenszusicherung von Seiten der Menschen) konnten die Menschen mit Heil und Wohlstand, mit Fruchtbarkeit und Reichtum rechnen.¹²⁷ Zweifelsohne erwartet man dies auch von Nerthus, und doch ist da noch etwas in ihrem Wesen, vorläufig Diffuses, das, wie es scheint, auf gleiche Weise mit apotropäischen Maßnahmen bekämpft werden muss. Landgeister sind zumindest in dieser Hinsicht definiert, dass sie sich durch eine besondere Affinität zu dem Land, auf dem sie sich befinden, auszeichnen. Ihren Aufenthaltsort vermutet man in Hügeln, Grotten (hellar) und Steinhaufen (hreysar), sie werden im Kult mit Nahrung bedacht, zufrieden gestellt, begütigt, ihre Wohnstätten unter besondere Ruhe und Schutz gestellt. Mit dem Aufkommen des Christentums kehrt ihre ursprüngliche, gefürchtete Mobilität, das ruhelose Umherschweifen, ihre Heimatlosigkeit wieder zurück. Durch die dadurch entstandene Aufkündigung des Friedens- und Schutzangebotes, das ihnen im paganen Glauben
Timpe 1992, S. 463. Böldl 2005, S. 154. Böldl 2005, S. 155. Vgl. Böldl 2005, S. 154 f.
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garantiert war, verlassen sie in Scharen ihre unterirdischen Behausungen (siehe Epilog des Þiðranda þáttr ok Þórhalls),¹²⁸ ein gewiss verstörendes, ja apokalyptisches Bild. Ein unter allen Umständen zu vermeidender Zustand, davon weiß eine viel zitierte Anordnung aus dem Úlfljóts-Gesetz der Landnámabók (H 268) zu berichten: Es war ehedem geboten, die zur magischen Schadenabwehr angebrachten Drachenköpfe beim Einlaufen der Schiffe vor Island abzunehmen, um eben jene Wesen nicht in Aufruhr zu versetzen. Nun kann eine solche Provokation genau einmal erwünscht sein, als Fluch, um, wenn man so will, verlässlich Schaden und Unheil zu stiften: So richtet Egill nicht nur eine Neidstange gegen den verhassten König Eiríkr und Königin Gunnhildr, sondern ebenso gegen die landvættir selbst mit der Absicht, diese in Unruhe, Verwirrtheit und Zorn zu versetzen und damit gleichzeitig auch ihr Wohlwollen von Königspaar und Land abzuziehen¹²⁹: Die Episode illustriert mehrere Aspekte des alten Glaubens an landvættir: zunächst die Vorstellung, nach der diese Wesen nicht nur Ziel einer Fluchformel sein konnten, sondern auch durch den Anblick eines gegen ihr Land gerichteten Tierkopfes aufgescheucht würden; daneben die Beweglichkeit der landvættir, die ihren Aufenthaltsort verlassen und im Land umherschweifen konnten, und schließlich die Notwendigkeit für diese Wesen, ihren urspr[ünglichen] Siedlungsraum wiederzugewinnen. Andernfalls – würden sie dauerhaft umherirren müssen – hielt man die landvættir für imstande, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, etwa derart, daß sie die Herrschenden außer Landes trieben.¹³⁰
Man hat es bisher eher abgelehnt, die landvættir in die Nähe von Totengeistern, Ahnen u. ä. zu rücken, aber Einzelheiten des Kults ebenso die Nähe zu den landdísir (siehe landdísasteinar „Felsen der Land-Disen“) scheinen doch in diese Richtung zu deuten. Sie werden wohl ebenso manches Mal eher unspezifisch als Schutzgottheiten bezeichnet, aber die tabubehaftete Verehrung wie Scheu, mit der man ihnen begegnet, gleicht dem rituellen Umgang mit anderen schwierigen Sozialpartnern: den Toten. Disen erscheinen als weibliche Gottheiten, denen zu festen Zeiten (zur Winterzeit) Opfer dargebracht werden, das dísablót. Auch von einer speziellen Örtlichkeit, wo dies geschieht, ist meist die Rede, der dísasálr.¹³¹ Es scheint ein Fest mit ausgesprochen privatem Charakter gewesen zu sein, was auch die Kultempfänger(innen) als familiär, als zur Familie gehörig ausweist. Nun aber sprechen einige Quellen, etwa die Atlaqviða in gronlenzca, explizit von den Disen als „tote Frauen“: „Tote Frauen sah ich in der Nacht hierherkommen, / übel waren sie gekleidet, wollten dich auswählen, / bald
Ólafur Halldórsson (Hg.)1961. Siehe Egils saga Skalla-Grímssonar, Kap. 57 (Finnur Jónsson [Hg.] 1924). „Ich wende diese Neidstange gegen die landvættir, die dieses Land bewohnen, damit sie alle umherirren, so daß keine von ihnen weder Haus noch Heimstatt finde, bis sie König Eiríkr und Gunnhildr aus dem Lande vertrieben haben“ (Übers. Dillmann 2007, S. 328). Explizit zielt der Fluch also auf die Nichtsesshaftigkeit, die Unbefriedetheit der Geistwesen ab als der offenbar gefürchtetste Zustand. Dillmann 2007, S. 329. Vgl. Turville-Petre 1964, S. 221.
6.6 Von Wollknäueln und Goldketten
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luden sie dich auf ihre Bänke; / ich glaub, deine Disen sind kraftlos geworden.“¹³² Turville-Petre interpretiert die Stelle folgendermaßen: [T]he dísir are dead women, calling the hero to join them in the world of the dead; they are probably dead female ancestors. It is described in other texts how the dead call doomed men to join them, […]. As is shown in many other sources, fertility cults cannot always dissociated from the cult of the dead.¹³³
Tatsächlich ist das dísablót wohl zuallererst Totenkult und erst in einem zweiten Schritt Fruchtbarkeitskult, nur das korrekt ausgeführte Ritual an die Dísen bildet überhaupt erst die Grundlage, die Voraussetzung für die Gewährung einer wie auch immer gearteten Fruchtbarkeit: Es geht zunächst und zuallererst um das Wohlwollen, die Zufriedenstellung der toten Familienangehörigen. Auch wenn diese Ahnenwesen vorläufig noch namenlos sind, ebenso im Kollektiv erscheinen wie die landvættir, so sind sie doch bereits individualisierter, zumindest geschlechtsspezifisch, und sind explizit einer Familie bzw. einem einzelnen Vertreter zugeordnet.¹³⁴ Simek sieht in der Bezeichnung Totendämonen „eine unnötige Überinterpretation des Quellenmaterials“,¹³⁵ auch Dillmann möchte eher von „einer Verwechslung der verschiedenen übernatürlichen Wesen aus vorchr[istlicher] Zeit“ ausgehen,¹³⁶ wohl manches Mal zu Recht, aber unvermeidlich, eine grundsätzliche diffuse Uneindeutigkeit gehört wohl schon zu ihrem ursprünglichen heidnischen Charakter. Und schließlich ist es gerade diese schwierige Einschätzbarkeit, Unberechenbarkeit, die eine sorgfältige Behandlung gebot.
6.6 Von Wollknäueln und Goldketten Mit Definitions- und Abgrenzungsproblemen ganz ähnlicher Art hat auch der römische Larenkult zu kämpfen. Auf nämliche Weise sehen wir dessen ursprünglich privaten, familiären Kultstrukturen ins Öffentliche, Außerfamiliäre oder Überfamiliäre übertragen. Freilich wurde in der römischen religionsgeschichtlichen Forschungsgeschichte für lange Zeit die Vorstellung eines besonderen Stellenwerts des Toten- oder Ahnenkults überhaupt als „unrömisch“ zurückgewiesen.¹³⁷ So fordert noch Wissowa „die strenge Scheidung der göttlichen Begriffe“, eine akkurate Trennung von Toten-
Konor hugðac dauðar koma í nótt hingat, / værit vart búnar, vildi þic kiósa, / byði þér brálliga til beccia sinna; / ec qveð aflima orðnar þér dísir (Am 26). Turville-Petre 1964, S. 225. Vgl. Turville-Petre 1964, S. 221– 227. Turville-Petre verweist auf lokale Unterschiede, vielleicht auch eine gewisse Weiterentwicklung im Kult. Die Disen-Verehrung scheint mehr und mehr öffentlich zu werden, d. h., sie löst sich von einem speziellen Familienverband, von einem Privatkult. Lex.Simek 2006, „Landvættir“, S. 241. Dillmann 2007, S. 331. Siehe in kritischer Replik Balz 2014, S. 137.
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geistern wie „Penaten, Laren, Genius, di parentes“ und Ähnliches „in aller Schärfe“ wieder ein,¹³⁸ die mit einigem Recht mehr und mehr infrage gestellt wurden. Fraglich hingegen, ob die Römer selbst diese Akkuratesse zu leisten vermochten und nicht gar ihrerseits in jenem „alten Urbrei mythologischer Spekulation“¹³⁹ gefangen waren, vor dem Wissowa die moderne Forschung so eindringlich warnt.¹⁴⁰ Jedenfalls herrschte durchaus eine gewisse Unsicherheit darüber, wie diese letztendlich einzuordnen seien.¹⁴¹ Nach allgemeiner (antiker) Meinung galten aber wohl Lares und Manes als identisch, Lar als adäquate Übersetzung für das griechische ἥρως oder ἀρχηγέτης im Sinne des verstorbenen, verehrungswürdigen Vorfahren,¹⁴² dabei sei ursprünglich auch einer ,Mutter der Larenʻ, der Mania, geopfert worden. Das Fest der Larentalia, das etwa zur gleichen Zeit stattfand (um den 23. Dezember) am Grab der Acca Larentia, war explizit ein Totenfest.¹⁴³ Laren (vor der augustäischen Reform noch stets im Singular als der Lar familiaris) galten also als die vergöttlichten Ahnen, als die Gründer großer Familien, und doch mochte man dieser üblichen antiken Vorstellung in der modernen Forschung nicht unbedingt Gewicht beimessen. In der Tat war ihr Hauptfest, die compitalia, ein Fest der „Kreuzwege“ (compita), was man als unvereinbaren Gegensatz gerade zum doch häuslichen Charakter der Ahnenverehrung sehen wollte.¹⁴⁴ Die (außerhäuslichen) Orte der Verehrung mussten also entsprechend sekundär sein, übernommen von einem Fest, das eben seinem Wesen nach gar kein Kult für Toten- oder Ahnengeister gewesen sei, sondern ein ländliches Erntefest.¹⁴⁵
Vgl. Wissowa 1904, S. 56 f. Wissowa 1904, S. 57. Balz weist darauf hin, dass Wissowa selbst in einer Untersuchung zu den römischen Penaten bei Vergil (1877) einräumen musste, dass hier keine „einheitliche schlüssige Anschauung“ zu finden sei, die Aeneis zeige sich diesbezüglich vielmehr „verschwommen und widersprüchlich“. Nur ein einziger feststehender Fakt habe sich dabei herausgeschält, „die Penaten sind präsent als tragbare Objekte“, sie sind „handlich“, „wahrscheinlich kleine geschnitzte Statuen“ (Balz 2014, S. 158). Siehe Laing 1921, S. 127: „In fact, what Varro and the others offer us, is not the definite statement of a widely accepted traditional belief, but a complex of vague speculations which attest little else but the uncertainty in which the whole question was involved.“ Aber es wird wohl genau dieser „complex of vague speculations“ sein, der auch im römischen Geisterglauben ein grundsätzliches Element darstellte. Einen gut ausgearbeiteten, systematisierten ‚Geisterkanonʻ können wir hier so wenig wie im Altnordischen erwarten, trotz der Bemühungen der Mythenüberlieferer Varro oder Snorri. Vgl. Eisenhut 1979c, Sp. 496. Vgl. Samter 1901, S. 115 f.; Zintzen 1979, Sp. 502. Nicht minder schwierig damit zu vereinbaren war, dass das ,Flurfestʻ auch in der Stadt Rom selbst eine nicht unwichtige Rolle spielte und mehr und mehr politische Bedeutung gewann: Es galt als das Fest der plebs, der Freigelassenen und Sklaven, ganz ohne ländlichen Charakter, insofern hat man sogar den ländlichen Ursprung des Festes selbst bezweifelt und nahm entsprechend gerade umgekehrte Verbreitungsrichtung an (vgl. Stek 2008, S. 124). Vgl. dazu den Gelehrtenstreit zwischen Georg Wissowa und Erich Samter, der im Grunde genommen bis heute nicht restlos entschieden ist. Wissowa hält die Identifikation der Laren mit den Familienahnen für „irrig“, ein Ahnenkult sei nur den di parentes zugestanden worden, daneben passte der fröhlich heitere Grundton eines Volksfestes (die compitalia) in seinen Augen nicht zu einem Totenfest, entsprechend sieht er darin das ländliche Erntefest. Insbesondere letzteres Argument konnte
6.6 Von Wollknäueln und Goldketten
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Und Kultempfänger waren eben jene diffusen Lokalgeister und Wesenheiten, die man, mager genug, bestenfalls noch mit „δαίμονες in the broadest sense“¹⁴⁶ fassen wollte. Nun wollen wir zumindest Letzterem gerne zustimmen, aber ebenso sicher ist, dass ab einem bestimmten Punkt in der römischen Religionsgeschichte diese explizit oder auch nur spekulativ als Totengeister aufgefasst wurden, die Ritualkontexte mögen später sein, aber sie konstruieren exakt dafür Bedeutsamkeit und Plausibilität. Die fast paradoxe Diametrie der Verehrungsorte, der Kreuzweg wie der häusliche Herd, explizieren das paradoxe Wesen der Kultempfänger. Vor allen Dingen ist die Verweiskraft des Kreuzwegs tief verankert in primordialen, mythischen Raumvorstellungen, es ist die tiefsitzende menschliche Furcht vor dem ,Schrägenʻ, ,Verquerenʻ, ,von der Geraden Abweichendenʻ, vor einer grundsätzlichen kognitiven Uneindeutigkeit, die an diesem Ort nicht nur sichtbar, sondern buchstäblich körperlich erfahrbar wird, etwa in Gestalt jenes „unangenehme[n] Gefühls der Rathlosigkeit“, welches den nächtlichen Wanderer dort überfallen könne.¹⁴⁷ Der Kreuzweg wird dadurch zu einem Ort von durchweg negativer, magisch religiöser Potenz, eine unglückselige, todbringende Stätte und gewiss der denkbar ungeeignetste Ort für fröhlich heitere Feldkulte. Es waren wohl auch keine. Die Uneindeutigkeit des Ortes zieht entsprechende Wesenheiten an: Kreuzwege sind der Aufenthaltsort der ruhelosen Seelen, der Dämonen, der Totengeister, in jedem Fall ein gefährlicher Ort, wo man mit unversöhnlichen Jenseitswesen allenthalben rechnen muss.¹⁴⁸ Es ist der Ort der Verehrung der dreigestaltigen Hekate. Sie ist zunächst noch nicht die schadenstiftende Zauberin, als die sie später erscheint, sie ist vielmehr eine Art Schwellen-Göttin, Hüterin der Tore, der Kreuzwege.¹⁴⁹ Ähnlich wie ihr männliches Pendant Hermes, ist sie in der Funktion einer Seelengeleiterin unterwegs, um eben Übergänge jedweder Art, insbesondere natürlich die am meisten störanfälligen, die der Toten sicherzu-
gut mit dem Hinweis auf die griechischen Anthesterien entkräftet werden (vgl. Samter 1901, S. 114), ein ebenso fröhliches wie explizites Totenfest. Das macht die Fröhlichkeit des Nerthus-Festes, die laeti dies, freilich noch verdächtiger und auch den damit verbundenen arcanus terror. Samter (Samter 1901) geht ganz im Gegensatz gerade von einem Totenkult aus und möchte lediglich den lokalen Ursprung des Kultes ganz ins Häusliche verlegen, entsprechend ,das Draußenʻ der Kreuzwege als sekundär betrachten (vgl. auch Balz 2014, S. 131). Laing 1921, S. 136: „Their name was a generic term for a class of divinities the range of whose powers was not precisely defined in the minds of their worshipers.“ Vgl. Klein 1932/33, S. 517. Die antike Vorstellung des Kreuzwegs (bivium, trivium, compitalis) als Ort der (ruhelosen) Toten finden wir kaum verändert im mittelalterlichen Volkswissen fortgeführt. Entsprechend ist er Gegenstand christlicher Abweisung. Claude Lecouteux zählt eine Reihe von Beispielen auf. So verbietet Caesarius von Arles (um 542) ausdrücklich, „Eide zu schwören an diesen Orten“ oder Lichter zu entzünden (Sermo XIII: In parochiis necessaries), ebenso erscheint in den Capitula sub Carolo Magno (ca. 753) das Verbot, Beschwörungen und Eide zu sprechen über diverse Gegenstände, die an Bäumen an Kreuzwegen aufgehängt worden seien. Siehe auch die Erwähnungen bei Eligius von Noyon (gest. 659), Pirmin von Reichenau (gest. 753) und Burchard von Worms (gest. 1025) (vgl. Lecouteux 2009, S. 18 f.). Vgl. Seiffert 2006, S. 123 – 130.
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stellen.¹⁵⁰ Aus diesem Grund pflegte man am Kreuzwegen Opfergegenstände niederzulegen, die nun von zweierlei Natur sein konnten: Sie waren Totenopfer, Opfer für die Unterweltmächte, ebenso aber auch Gegenstände, die als Reinigungsopfer verwendet wurden,¹⁵¹ also per se gefährlich, kontaminös, weil nicht (mehr) von dieser Welt und nur an diesem Ort der Bannung sicher verwahrt. In jedem Fall galten diese Opfer in einem sakralen Sinn als unrein und damit unantastbar. Der auffällige Brauch an diesem ‚Fest der Kreuzwegeʻ an Schwellen und Kreuzwegen eine genau bemessene Anzahl von Puppen aus Wolle (effigies) für die freien Familienmitglieder und Wollknäuel (pilae) für jeden einzelnen Sklaven aufzuhängen, ist damit zunächst einmal schwierig einzuordnen für die Ahnenkultablehner: Mit eher Unbehagen wendet man sich gegen die „rather shadowy origins of that rite“¹⁵² und lieber mag man darin gar ein verwaltungstechnisch administratives Mittel zur Registrierung der Bewohner sehen.¹⁵³ Möglicherweise ging es tatsächlich um die genaue, peinlich genaue Auflistung von Quantität wie Qualität der Bewohner, aber wohl nicht für den weltlichen Zensus. Schon die antike Tradition weiß zu berichten, die Puppen und Wollknäuel würden für die Laren, die missgünstigen, neidischen Totengeister aufgehängt, gewissermaßen als Surrogat, damit sie die Lebenden schonten, „ut vivis parcerent et essent his pilis et simulacris contenti“ (Paul. ex Fest. p. 239 M.). Ein magisches Substitutionsverfahren, das wir gut kennen aus anderen, insbesondere apotropäischen Kultzusammenhängen. Ob die wollenen ,Aufhängselʻ tatsächliche, ursprüngliche Menschenopfer im römischen Kulturbereich fortsetzten, ist in der Tat kaum zu entscheiden, sie symbolisieren aber wohl eine Vorstellung davon¹⁵⁴ ‒ im
„Hekate ist eine chthonische Göttin, in der Unterwelt ist ihre Stelle. Aber sie findet leichter als andere Unterirdische den Weg zu den lebenden Menschen.Wo eine Seele sich mit dem Leibe verbindet, bei Geburt und Wochenbett ist sie nahe; wo eine Seele sich vom Leibe scheidet, bei Leichenbegängnissen, ist sie zur Stelle; unter den Wohnplätzen der Abgeschiedenen, inmitten der Grabsteine und dem Graus des Todtencultes, vor dem die Himmlischen zurückscheuen, ist ihr wohl. Sie ist die Herrin der noch an die Oberwelt gebundenen Seelen“ (Rohde 1894, S. 369 f.). Siehe Rohde 1894, S. 366 f.: „Aber dass auch die Reinigungsmittel, mit denen im Privatleben der Einzelne und sein Haus von den Ansprüchen unsichtbarer Mächte gelöst werden sollte, als Opfer für diese Mächte gedacht wurden, lässt deutlich genug die Sitte erkennen, diese Mittel, nachdem sie der ,Reinigungʻ gedient hatten, auf die Dreiwege zu tragen, und den unheimlichen Geistern, die dort ihr Wesen treiben, zu überlassen. So verwendete Reinigungsmittel sind geradezu identisch mit Seelenopfern, oder auch mit den ,Hekatemahlzeitenʻ.“ Stek 2008, S. 114. Siehe Stek 2008, S. 114: „Leaving aside questions on the rather shadowy origins of this rite, the significance of the rite as a possible means to register the number of inhabitants is clear.“ Auffallend ähnlich erscheint dazu der so genannte Schaukelritus Αἰώρα, der bezeichnenderweise im Rahmen der Anthesterien, am dritten Tag, den Chytren, dem Fest der Ahnen und Toten, aufgeführt wurde (vgl. Fauth 1979a, Sp. 188 f.). Kaum scheint er indes zu passen zur eher trüben, unheimlichen, ja latent bedrohlichen Stimmung dieses Tages, der durch schadenabwehrende Maßnahmen gegen die gefährlich umherschweifenden Totengeister gekennzeichnet war. Jene „eigentümliche Stimmung zwischen Lust und Grauen“ (Merkelbach 1996b, S. 191), die so bezeichnend war für die Anthesterien, fand hier noch einmal Höhepunkt und Abschluss. Auch hier wurden Masken und kleine Puppen an
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Altnordischen werden wir ihnen als ,richtigeʻ Hängeopfer begegnen, in ebenso genau bemessener Zahl, ebenso sorgfältig in ihrer Quantität und Qualität unterschieden, wie christliche Kommentatoren voller Abscheu beschreiben. Aber auch die merkwürdige Zusammensetzung der römischen Kultteilnehmer, das besondere Hervortreten von Sklaven im Ritual¹⁵⁵ ist für antikes Empfinden durchaus nicht selbstredend. Margret Waites bringt indes eine überzeugende, ritual-logische Erklärung für die offensichtliche Bedeutsamkeit dieser Kultgruppe: Es ist wohl gerade ihre untergeordnete soziale Position, die sie dafür prädestiniert. Sklaven sind typische Vertreter der Ränder der Gesellschaft, letztendlich ihrerseits asoziale, liminale Wesen, nicht nur die Wollknäuel sind ritueller Ersatz, sie sind es wohl selbst, die nolens volens die Rolle des lebenden Ersatzes spielen müssen¹⁵⁶: When one remembers that during this same festival effigies were offered at the crossroads, a chthonic centre, to divert the attention of the Lares and the Mania and cause them to spare the living, one is led to the conjecture that possibly slaves at this season were scapegoats for their masters and took for a brief hour their places and privileges, […] to give their lords a further chance to deceive the lurking spirits by satisfying them with humbler prey.¹⁵⁷
Bäume gehängt, die im Wind schaukelten, Mädchen und Kinder setzten sich selbst in Schaukeln und sollten lange und anhaltend schaukeln, ein flirrend unbeschwertes, heiteres Treiben, wie es wohl auch zur damaligen Zeit empfunden wurde, indes der Ritualkontext, insbesondere die Ritualpartner müssen anderes vermuten lassen. Der Mythos kennt eine ganz andere, grausame, mörderische Aitiologie. Auf der Suche nach ihrem heimtückisch ermordeten Vater Ikarios erhängt sich die verzweifelt umherirrende Erigone schließlich an einem Baum. Dionysos verflucht daraufhin die Bewohner Attikas, so dass sich deren Töchter in einer Art „Selbstmordepidemie“ (Merkelbach 1996b, S. 190) in Scharen an Bäumen erhängen. Um den Fluch zu beenden, bestimmt das Orakel des Apoll die Αἰώρα als Sühnemaßnahme. Was also im Kult, im rituellen Handeln bereits substituiert wird, wird im Mythos noch in einem konkreten, buchstäblichen Sinn narrativ gefasst: das Hängeopfer als Sühnemaßnahme im Bestattungsritual. Das gefürchtete ruhelose Umherirren (πλάνη) der unbefriedeten, weil ungerächten Toten (siehe auch das Epitheton der Erigone: ἀλῆτις „schweifende Seele, Bettlerin“ [Merkelbach 1996b, S. 191]) findet damit ein Ende. Baumkulte werden nun häufig mit Vegetationskulten in Verbindung gebracht, diese Charakteristik passt indes zur Aiora in keiner Weise. Die Auffassung als Expiationsritual erklärt indes gut, warum sie ausgerechnet in Verbindung mit dem Fest des neuen Weins ausgeführt wurde: „The Aiora is not concerned with the promotion of vegetation growth, neither is the swinging meant as a ,Fruchtbarkeitszauberʻ, but it symbolizes the purification and consecration of what must be the wine, by the time when that festival was connected with Dionysus and particularly with the Anthesteria“ (Dietrich 1961, S. 40). Der neue, noch ungeöffnete Wein war mit den größtmöglichen Tabus und Meidungsvorschriften umgeben, sein heikler, vorläufig noch ungewisser Zustand musste von jeglicher potentieller ,Unreinheitʻ freigehalten werden, es geht also um „protective measure[s] against defilement“ (Dietrich 1961, S. 44). Symbolische wie (wir könnten es zumindest für einen früheren Zeitpunkt vermuten) reale Hängeopfer als Sühnemaßnahmen aus dem Totenkult gehörten dazu. Wissowa hält entsprechend diese Hervorhebung von Sklaven ohnehin grundsätzlich unvereinbar mit einem Ahnenfest (vgl. Wissowa 1904, S. 50). Vgl. Waites 1920, S. 247 f. Waites 1920, S. 248 f.
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Diese Vorstellung passt gut zu den bekannten Inversionsstrategien in Übergangsriten, auch und gerade in Totenkulten. Stellvertreter, sei es in Form eines künstlich gemachten Abbilds oder in Form eines ,wertlosenʻ menschlichen Strohmanns können magisches Ablenkungsritual sein, das besondere Material, Wolle, Tierhaare, trägt das Seine dazu bei, Haare gelten ihrerseits als besonders wirkmächtig, häufig genug gehören sie zu chthonischen Opfern, zu Reinigungsopfern. Der Kreuzweg ist dafür jedenfalls Opferplatz par excellence. Es geht darum, „to attract the attention of the spirits“¹⁵⁸ oder eher umzulenken nach Art eines ,Blickableitersʻ, wie sie so gut bekannt sind aus magischen Alltagsritualen.¹⁵⁹ Auch außerweltliche Wesen scheinen offenbar die doch zutiefst menschliche Eigenart der Neugier zu besitzen, die bizarren, schwankenden Aufhängsel ein Trick, um ihre gefährliche Aufmerksamkeit abzulenken und damit gleichzeitig unschädlich zu machen. In diesem rituellen, funeralen Kontext bekommen nun auch die merkwürdigen Umstände, in denen ein nordischer Herrscher, Frotho III. (der eigentliche ‚Friedensfróðiʻ), sein Leben verliert, ihren Sinn. Saxo berichtet, dass Frotho öffentlich eine Goldkette habe aufhängen lassen, aber niemand gewagt habe, diese zu stehlen. Auch Snorri weiß von dieser merkwürdigen Anordnung, bei ihm ist es ein Goldring, der „lange“ auf der Jalangsheide liegen blieb, eben weil es keine Diebe oder Räuber gegeben habe (Skáldsk 42). Man könnte also annehmen, dass das wertvolle Schmuckstück aufgrund des allgemeinen Reichtums und Überflusses unberührt blieb, weil eben buchstäblich niemand seiner bedurfte, ein „Symbol der Rechtssicherheit“,¹⁶⁰ was nicht zuletzt auf Fróðis erfolgreiche Gesetzgebertätigkeit verweisen würde. Durchaus möglich, dass schon Snorri und auch Saxo dieses Motiv so verstanden haben, aber Saxo, der uns sehr ausführlich schildert, gibt uns den entscheidenden Hinweis. Er berichtet, die Kette sei in Iutia, tamquam in capite regni sui, also in Lejre, der ‚Hauptstadtʻ deponiert worden – und zwar an einem „Kreuzweg“ (triviis).¹⁶¹ Und
Waites 1920, S. 249. Rakoczy verweist auf einen Brauch der antiken Schmiede. Diese hätten an ihren Kaminen in ihren Werkstätten so genannte βαςκάνια aufgehängt, menschenähnliche, bizarre, kleine Objekte („lächerliche Gegenstände“) zur Abwehr von Missgunst und Neid (vgl. Rakoczy 1996, S. 153). Ebenbauer 1976, S. 147. Ebenbauer verweist mit Axel Olrik auf ähnliche Motive bei verschiedenen mittelalterlichen Herrschern wie Rollo, dem Begründer der Normandie, König Alfred, Theoderich, Wilhelm dem Eroberer oder dem irischen König Brian Borumha, „wo eine Frau mit einem Goldring durch ganz Irland gehen konnte, ohne belästigt zu werden“ (Ebenbauer 1976, S. 146 f.). Gest.Dan. 5.15: Denique in Iutia, tamquam in capite regni sui, magni ponderis auream armillam triviis affigi curavit, edictae a se innocentiae experimentum tam insignis praedae documento daturus. Cuius irritamentum quamquam improbas lacesseret mentes ac sinistra sollicitaret ingenia, superabat tamen indubitatus periculi metus. Tanta siquidem Frothonianae maiestatis auctoritas erat, ut eitam aurum rapinae expositum perinde ac firmioribus claustris obsitum tueretur. („Schliesslich liess er in Jütland, als dem Haupte seines Reiches, eine schwere goldene Kette auf einem Kreuzwege aushängen, um durch die Lehre an einer so schönen Beute ein Zeugnis der von ihm befohlenen Redlichkeit zu geben. Ihre Lockung stachelte zwar unredliche Köpfe und brachte böse Geister in Versuchung, aber die Furcht vor der zweifellosen Gefahr überwog. So gross war die Achtung vor der Hoheit des Frotho, dass
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das ist nicht nur der Ort der römischen compitalia-Opfer, der Totenopfer, auch im Norden gilt er als hochtabuisierter Ort, mit nämlicher starker negativer chthonischer Potenz. Und schließlich schwingt gerade auch bei Saxo von Anfang an noch etwas anderes mit ‒ „die Furcht vor der zweifellosen Gefahr“ (indubitatus periculi metus) vor diesem Gegenstand sei noch größer gewesen als der Wunsch, ihn zu besitzen. Eine verständliche Furcht, wenn man bedenkt, dass der rechtmäßige Besitzer kein anderer war als eben jener Fróði/Freyr, der in seiner Eigenschaft als Mensch schrecklicher Tyrann war, und in seiner Eigenschaft als Gott nur mit blutigen Opferexzessen zufriedenzustellen war. Und erinnert die goldene Kette, aufgehängt zur Schau gestellt, nicht allzu sehr an die goldene Kette, die, ausdrücklich schon von weitem und für alle sichtbar, vom Freyr-Tempel in Uppsala herabhängt (pendens supra domus fastigia)?¹⁶² Fróðis Schmuckstück gehörte nicht in diese Welt, es gehörte einem Toten. Dazu passt nun die zunächst merkwürdige Beschreibung Saxos vom verhängnisvollen Tabubruch, vom Gold-Diebstahl am Kreuzweg. Er wird von einer Zauberin und ihrem Sohn begangen. Diese habe ihm „Straflosigkeit“ verheißen mit der Begründung, „da ja Frotho an der Schwelle des Grabes stehe und mit seinem hinfälligen Körper nur mühselig den Rest seines Greisenlebens noch dahinschleppe.“¹⁶³ Ein eigenartiger, geschwächter Zustand, gewiss seinem hohen Alter geschuldet, wie man meinen möchte, dennoch, das Evokationspotenzial des Kreuzwegs als Jenseits-Platz, als Platz der Toten, weist in eine andere Richtung. Auch den starken Wunsch nach Schlaf haben wir kaum anders verstanden, er ist mit nämlichen Todeskonnotationen befrachtet. Die folgenden Ereignisse wirken nun durchaus unzusammenhängend und unmotiviert, Saxo hatte wohl Mühe, erzählerische Plausibilität zu konstruieren für Handlungselemente, die aus dem Ritus stammen. Tatsächlich hat man Verbindungen zu den dramatischen Ereignissen gesucht, die im Mühlen-Lied beschrieben werden, schließlich geht es in beiden Fällen explizit um die Todesart, den Untergang des Fróði. Sind Zauberin und Sohn ähnlich genug den Riesenmädchen Fenja und Menja?
sie sogar das Gold, das einem Raube preisgegeben war, wie unter festem Verschlusse liegend schützte“). Schmeidler 1917, S. 257 f. Gest.Dan. 5.16: Inter haec matrona quaedam magicae rei perita, plus spei in arte sua quam metus in regis saevitia reponens, filium petendae furtim praedae cupiditate sollicitat, impunitatem promittens, quod Frotho fato propemodum confinis exstaret, occiduo corpore aegras senilis animae reliquias trahens. Quo materno hortatui periculi magnitudinem opponente, melius eum sperare iubet, aut maritimam bovem fetum edituram aut alium quempiam casum ultioni repugnaturum affirmans. Qua voce solutum metu filium hortamento obsequi coegit. („Während dem trieb eine alte Frau, eine Zauberin, die mehr Vertrauen auf ihre Kunst hatte, als Furcht vor der Strenge des Königs, ihren Sohn zu der Lust an, die Beute verstohlen zu holen; sie verhiess ihm Straflosigkeit, da ja Frotho an der Schwelle des Grabes stehe und mit seinem hinfälligen Körper nur mühselig den Rest seines Greisenlebens noch dahinschleppe. Als er dem mütterlichen Geheisse die Gefahr entgegenhielt, hiess sie ihn gutes Mutes sein: entweder werde eine Seekuh Junge gebären, oder irgendein anderer Zufall werde der Rache entgegenarbeiten. Durch diese Verkündigung zerstreute sie das Bedenken des Sohnes und brachte ihn dazu, ihrer Mahnung zu gehorchen“).
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Strukturell gewiss, die Wegnahme, das Versagen des Goldes ist in beiden Fällen in letzter Konsequenz der Untergang des Königs, durchaus erbost, aber gerade auch merkwürdig schwach und hilflos zeigt er sich in beiden Fällen, ganz und gar machtlos gegen die offensichtliche Provokation, die Zuwiderhandlung gegen seinen ausdrücklichen Befehl. Eher weniger plausibel scheint ein Zusammenhang zwischen der ,mausgrauenʻ Seekuh, in die sich die Hexe verwandelt mitsamt ihren Söhnen, und Snorris Mýsingr. Lediglich eine mögliche Übereinstimmung in der Farbe¹⁶⁴ scheint für eine Anknüpfung zu wenig. Frotho wird noch zu Lebzeiten getragen, im Wagen herumgefahren aufgrund seiner körperlichen Schwäche, wie es heißt. Er erfährt vom Diebstahl seines Eigentums und will empört gegen die Räuber vorgehen. Als er die Zauberin einschließlich ihrer Kinder in Gestalt einer Seekuh und ihrer Kälber erblickt, lässt er sich, ebenso unvorsichtig wie neugierig geworden, anlocken. Er setzt sich vor Verwunderung auf den Boden und wird durchbohrt vom Horn des Tieres.¹⁶⁵ Aber die Merkwürdigkeiten in Saxos Erzählung sind damit ja keineswegs beendet, vielmehr berichtet er nun über die Behandlung, die jetzt dem Leichnam, dem toten König im Anschluss an seinen unwürdigen Tod zuteilwird. Ganz offenbar wird alles unternommen, um den König keineswegs als tot, sondern gerade als unverändert lebendig und vital vorzugeben, eine ebenso eigenartige Verdrehung der Tatsachen, wie es scheint, wie zuvor sein
Vgl. Olrik 1919, S. 459 f. Dennoch bedenkenswert bleibt sein Hinweis, dass das Suffix -ing überaus häufig in Zusammensetzungen mit Tiernamen erscheint (vgl. Ebenbauer 1976, S. 155 f.). Gest.Dan 5.16: Quo facto Frotho perinde ac contumelia lacessitus ad diripiendos matronae penates maximo impetu studioque contendit, praemissis, qui eam cum liberis comprehensam adducerent. Quod praesciens femina, ludificatis praestigio hostibus, femineam speciem equina permutandam curavit. Accedente vero Frothone, maritimae bovis figuram complexa pastum in litore vagabunda petere videbatur; filios quoque tamquam minores corpore vitulos adumbrabat. Cuius monstri rex admiratione captus circuiri ipsos reditumque iis ad undas negari iubet. Denique vehiculo, quo ob annosi corporis invaletudinem utebatur, excedens humi mirabundus consedit. At mater, quae maioris beluae speciem sumpserat, praetento cornu regem adorta alterum eius latus confodit. Quo vulnere exanimatus indebitum tantae maiestati exitum habuit. Cuius mortem milites ultione prosequi gestientes, petita iaculis portenta configunt. Quibus interemptis, animadvertunt humana cadavera ferinis capitibus praedita. Ea res maxime praestigium detexit. („Frotho aber betrachtete dies als einen ihm besonders angethanen Schimpf und eilte mit grossem Eifer und grosser Hast, um das Haus der Frau niederzureissen und schickte Leute voraus, die sie mit ihren Kindern festnehmen und vor ihn führen sollten. Die Frau wusste das zum voraus, blendete ihre Feinde durch einen Zauber und verwandelte sich in die Gestalt einer Stute. Als aber Frotho herankam, nahm sie die Gestalt einer Seekuh an und schien auf dem Strande umherlaufend ihr Futter zu suchen; auch ihre Söhne verzauberte sie in kleine Kälber. Der König staunte ob dieser sonderbaren Erscheinung und hiess sie umgehen und ihnen den Rückweg zu den Wogen abschneiden. Darauf verliess er den Wagen, dessen er sich wegen der Schwäche seines bejahrten Körpers bediente und setzte sich voller Verwunderung auf den Erdboden. Da fiel aber die Mutter, welche die Gestalt des grossen Tieres angenommen hatte, den König mit vorgestrecktem Horne an und durchbohrte ihm eine Seite. An dieser Wunde starb er und fand somit ein seiner Hoheit unwürdiges Ende. Seinen Tod eilten seine Mannen nicht ungerächt zu lassen, zielten mit ihren Speeren auf die sonderbaren Erscheinungen und durchbohrten sie. Nachdem sie totgestochen waren, sahen sie, dass es Menschenleiber mit Tierköpfen waren. Das verriet hauptsächlich die Zauberei“).
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gebrechlicher Alterszustand von der Zauberin schon dem Tode gleichgesetzt wurde. Nach Entfernung der Eingeweide wird der Leichnam des Königs eingesalzen, den Zweck der Konservierung gibt Saxo als politisches Kalkül an, um Unruhen zu vermeiden im Inneren wie Äußeren, aber wir müssen annehmen, es sind Unruhen anderer Art, die gefürchtet werden. Aus dem griechischen Heroenkult ist bekannt, dass ein außergewöhnlicher, bizarrer Tod umso sorgfältigere Kompensation verlangte, die gewissenhafteste Ausführung der Bestattungsriten. Und offenbar finden diese gerade in östlichen, skythischen Bestattungsriten der Körperbestattung und nicht in der einheimischen Brandbestattung ihre engste Parallele (siehe Kap. 6.1). Die Ritualsequenz der Wagenfahrt, die sich bei Fróði über eine Periode von drei Jahren erstreckt haben soll, ist dabei am auffallendsten.¹⁶⁶ Saxos Schilderung der Umstände dieses Todes macht wohl zunächst eher den Eindruck eines märchenhaften, wunderlichen, eben in typischer Saxomanier gehaltenen Szenarios, es ist aber die Denkgrundlage für die Dramaturgie eines nicht mehr verstandenen Ritus. Nicht für die beunruhigten Bürger (oder gar zum Erhalt ihrer Steuermoral) muss der Eindruck der Vitalität, der Mobilität, der Identität erhalten bleiben, es ist ja für den toten König selbst, seine Moral, seine Laune, muss gehoben werden hinsichtlich jener gravierenden Veränderungen, die ihn angesichts seines Todes erwarten. Nicht zuletzt um dem daraus resultierenden Unmut zu entgehen, ist ein wichtiger Bestandteil von Bestattungsriten, die Beherrschbarkeit dieses Prozesses zu demonstrieren, zur Beruhigung aller, der Lebenden und der Toten. Die Verwesung des Leichnams wird entsprechend gerade zu diesem Zwecke aufgehalten, um eine ungebrochene Handlungsfähigkeit zu suggerieren. Und wenn der Tote noch unverändert einen Körper besitzt, so kann er auch weiterhin Zahlungen, Gold empfangen, er wird im Stuhl, wohlgemerkt sitzend, herumgetragen, die Bewegungsunfähigkeit der Leiche also substituiert, handlungspraktisch euphemistisch als Gebrechlichkeit simuliert. Schließlich findet aber die rituelle Simulation von Vollständigkeit und Heil ihr Ende in der Unaufhaltsamkeit des Verwesungsprozesses, erst diese kaum hintergehbaren, biologischen Konsequenzen markieren den eigentlichen, den ,richtigenʻ Tod des Königs. Nicht zuletzt macht der Zerfall seiner körperlichen Einheit dies dem Toten selbst klar, erst jetzt kann er zur letzten Ruhe gebettet werden, Frotho findet sie an einer Brücke in Seeland.¹⁶⁷ Aber dieser dezidierte Abschluss muss Vgl. Schier 1968, S. 395. Gest.Dan 5.16: Hic Frothonis toto orbe clarissimi regis excessus fuit. Huius, egestis visceribus, salitum corpus triennio proceres asservandum curabant, provinciarum defectionem vulgato regis exitu formidantes mortemque eius ob hoc maxime clam exteris esse cupientes, ut vitae simulatione propagati iam pridem imperii terminos tuerentur pristinaque ducis auctoritate subnixi consuetam a subiectis pensionem elicerent. Deportabatur itaque ab iis exanimum corpus, ut iam non funebri lecto, sed regali vehiculo gestari videretur, tamquam invalido seni nec satis virium compoti id muneris a milite deberetur. Tantum magnificentiae etiam exstincto ab amicis tributum est. At ubi putidos artus extrema corripuit sanies nec tabes reprimi poterat, secus Weram Sialandiae pontem regio funere tumulavere corpus, affirmantes Frothonem eo loci mortis ac busti copiam exoptasse, ubi regni eius praestantissima haberetur provincia. („Dieses war das Ende des Frotho, des über den ganzen Erdkreis berühmten Königs. Seine
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auch im Mythos anschaulich gemacht werden. Häufig genug wird er als gezielter Bruch, ja als Übertretung inszeniert von einem Tabubrecher, auf irgendeine Weise liminal, randständig gekennzeichnet. In der Saxo-Erzählung (wie im Übrigen auch im Grottasǫngr) erscheint der Bruch als erzählerische Krisis und Höhepunkt: Die beruhigenden Maßnahmen, die Harmonisierungsbestrebungen werden abrupt beendet, keine weiteren Schlaflieder, keine weiteren Goldgaben, kein weiteres Herumtragen, und auch bei Balder findet das lustige Thingtreiben ein bestürzend jähes Ende: Die konkrete körperliche Entsprechung ist dabei der endgültige Zerfall des Leichnams und der wird durch eine Zauberin, im Falle Balders durch explizit randständige deviante und/oder zauberkundige, will heißen speziell präparierte Ritualhelfer bewerkstelligt. In der Verwandlung zunächst in eine Stute und anschließend mitsamt den Söhnen in Seekühe werden wir eine Motivdoppelung zur Spannungssteigerung erkennen. Das Ende, Frothos ,eigentlicherʻ Tod, der in der Rituallogik schließlich notwendig und damit erwünscht sein muss, erscheint in der Erzähllogik als entsetzlicher Affront. Der herumwandernde Frotho scheint vom Anblick der Seekühe dermaßen verblüfft, dass er sich in seiner Bewegung hemmen lässt, vor Ort und Stelle gebannt wird und durch das Durchbohren mit deren Stoßzahn, man muss wohl sagen draugr-gleich, endgültig ,fixiertʻ wird. Kaum anders ergeht es Balder, dem auf gleiche Weise nur mit einer ganz bestimmten Waffe Herr zu werden ist. In magischer Praxis sind das Bannungsmaßnahmen, Apotropaia, die ganz allgemein jenseitigen Wesen, Geisterwesen gegenüber angewendet werden, prophylaktisch, fakultativ, wenn Schaden befürchtet wird, um jedenfalls ihrem Treiben ein Ende zu setzen. Gegebenenfalls muss es auch vermieden werden, um Furcht und Beunruhigung zu verhindern, gerade wenn deren Anwesenheit, ihr ungestörter Aufenthalt gewünscht, gelitten ist. Aber hier ist die Zauberin ein ódæmi, ein unnatürliches, ungeheuerliches, ein staunenswertes Phänomen, der Verblüffungseffekt, der fascinus, der als Ablenkungsmanöver wie Bannungsmittel dient. Die Schadensdämonen der Schmiedewerkstätten sollen sich von den buckeligen, grotesken βαςκάνια ebenso angezogen fühlen wie der Totengeist des Frotho von den bizarren Mischwesen, die Ahnengeister der compitalia von den niedlichen, schaukelnden Wollpüppchen ebenso wie Balder vom lustigen Spiel.
Leiche legten die Vornehmen nach Entfernung der Eingeweide in Salz und bewahrten sie drei Jahre lang auf; sie befürchteten nämlich einen Abfall der abhängigen Länder, wenn das Abscheiden des Königs bekannt würde, und sie wünschten gerade deshalb seinen Tod dem Auslande zu verbergen, damit sie mit dem Scheine, dass er noch lebe, die Grenzen des einst so weit ausgedehnten Reiches deckten und auf das alte Ansehen des Fürsten gestützt die gewohnten Zahlungen von den Unterworfenen weiter erheben könnten. Es wurde also der entseelte Körper in einer Weise nach Hause gebracht, dass er noch nicht auf der Totenbahre, sondern auf dem königlichen Stuhle getragen zu werden schien, gleich als ob dem schwachen, seiner Kräfte nicht mehr recht mächtigen Greise dieser Dienst von seinen Vasallen gebühre. Soviel Pracht wurde ihm auch nach seinem Tode von seinen Freunden zu Teil. Jedoch als die verwesenden Glieder vollständige Fäulnis ergriff, und die Auflösung nicht mehr zurückgehalten werden konnte, da begruben sie mit königlichem Pompe die Leiche neben Wera, der Brücke von Seeland, indem sie sagten, dass Frotho sich da seinen Tod und ein Grab gewünscht habe, wo das vorzüglichste Land seines Reiches sei“).
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Der Kreuzweg, das Gold, das hier deponiert wird, das Getragen werden, das Absetzen auf dem Boden und schließlich die Möglichkeit zauberischen Einwirkens sind alles Elemente, die wir tatsächlich so als ausagierte Ritualelemente in Bestattungen beschrieben finden. So gilt etwa der Kreuzweg als geschützter, sakralisierter Rastplatz für die Toten auf ihrem Weg zur endgültigen Grablege, ja ursprünglich wurden sie wohl als Bestattungsorte selbst genutzt. Nur an diesen spezifisch ausgewiesenen Plätzen als „ausgegrenztes Niemandsland“¹⁶⁸ können die Verstorbenen an einer stets gefürchteten und offenbar durchaus für möglich gehaltenen Rückkehr gehindert werden,¹⁶⁹ es ist dieser bannende Charakter, den sie mit anderen liminalen Orten, etwa Meeresstränden (oder Brücken!) teilen.
6.7 Alben Auch die Landnámabók¹⁷⁰ weiß von solchen Furcht und Schrecken verbreitenden (Toten)dämonen in einem kaum zu trennenden Kollektiv von ,alt eingesessenenʻ und gleichsam ,neuʻ gewordenen Geistwesen zu berichten: Als ein Neusiedler, ein landnámsmaðr, und seine ganzen Familie ermordet werden, wagt zunächst niemand mehr aus Furcht vor den Geistern (fyrir landvættum) an diesem Ort zu siedeln. Die landvættir, die Ortsgeister, genii loci,¹⁷¹ aufgescheucht und „beleidigt“ durch die Bluttat,
Seiffert 2006, S. 132. Vgl. Hartmann 1952, S. 134 f., der diese Vorstellungen für Deutschland und Irland belegen kann. Wegkreuzungen hießen in Irland crossaire na marbh („Kreuzweg der Toten“), an denen man grundsätzlich ein Gebet für das Seelenheil der Verstorbenen sprach. In Killeshandra, Co. Cavan, sei es Brauch gewesen, den Sarg mit dem kürzlich Verstorbenen in rasender Geschwindigkeit an den nächsten Kreuzweg zu tragen, um ihn möglichst rasch aus dem Blickfeld der trauernden Hinterbliebenen zu entfernen, so die rationalistische Erklärung, die aber auch Hartmann für die nicht eigentliche hält. Ihm scheint der umgekehrte Fall wahrscheinlicher: Der Tote wird so schnell wie möglich an den Kreuzweg verbracht, weil er dort gebannt war und keinen Schaden mehr anrichten konnte. Und er berichtet weiter von einem Ritual, mutmaßlich von „großer Altertümlichkeit“ (Hartmann 1952, S. 135), ausgeführt an einem Kreuzweg in Cill an Aonaigh, Co. Clare. An dieser Stelle pflegte man den Sarg zu öffnen und untersuchte die Leiche, um festzustellen, ob der Betreffende auf natürliche Weise verstorben sei oder ob die Fairies auf irgendeine Weise ihre Hände im Spiel gehabt hätten. Ähnlich werde, wenn über die genauen Todesumstände Zweifel bestünden, der Sarg an der mutmaßlichen Todesstelle auf der Erde abgesetzt. Fühlte er sich beim Wiederanheben merklich leichter an, so sei dies der Beweis, dass übelwollende Fairies die Todesursache waren. Daneben sei bei einem Leichenbegängnis am Kreuzweg Geld gesammelt worden, wie es heißt für den Priester oder für die Verköstigung der Gesellschaft. Das Geld sei direkt auf den Sargdeckel gelegt worden und Hartmann vermutet, es sei wohl ehedem für den Toten selbst bestimmt gewesen (vgl. Hartmann 1952, S. 168). Jakob Benediktsson (Hg.) 1968. Sturlungabók, Kap. 330; Hauksbók, Kap. 290. Auch der römische genius erscheint als eher uneindeutiges, kollektives Konzept, das im Lauf der Zeit mehr und mehr „vermischt“ und „entstellt“ worden sei durch „mancherlei Vorstellungen“ (Eisenhut 1979b, Sp. 742). Im christlichen Verbot der Verehrung häuslicher Götter erscheinen indes die Totengötter und Schutzgötter der Familie, die Lares und Penates, in einem Atemzug mit den Genii (vgl. Eisenhut 1979b, Sp. 742).
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ziehen ihren Segen zurück.¹⁷² Kaum weniger sind es aber wohl gerade die erzürnten Seelen der ermordeten Siedler selbst, die durch diese Untat keine Ruhe finden. Sie sind nun Teil von ihnen, vielleicht auch nur bis auf Weiteres in jenem heimatlosen, liminalen Zustand gefangen. Eine starke Jenseits- und Unterweltsverbindung dieses Geisterkollektivs ist jedenfalls nicht zu übersehen, auch die Art des Austausches, der Annäherung scheint dafür zu sprechen. Die Hauksbók weiß von einer Speisenweihe von Frauen an die landvættir zu berichten,¹⁷³ die sie dann gemeinsam verzehrten in der Hoffnung, die Geister seien dann freundlich gestimmt. Aber dieses kultische Handeln wird nicht als „a debased [kurs. d. Verf.] form of communion“¹⁷⁴ verstanden werden dürfen. Es ist in jeder Hinsicht ein vollwertiger Akt der sozialen Kommunion wie Kommunikation, des Austausches, der Integration, allerdings nicht mit Fruchtbarkeitsdämonen – vielmehr mit den Toten. Die enge Verbindung der dísir wie landvættir mit einer weiteren, kaum weniger schwierigen, wenn auch wohl bedeutend prominenteren Kategorie der so genannten ,niederenʻ Mythologie scheint ebenso in diese Richtung zu weisen: die Alben.¹⁷⁵ Bekanntlich eine in gleicher Weise merkwürdig heterogene Gruppe, einerseits als kaum festzumachende, diffuse, nicht individualisierte Wesenheiten, eher geschlechtsunspezifisch, die man zunächst einmal ebenso als wie auch immer geartete Naturgeister, Zwerge, Elfen, Wichte, sehen möchte.¹⁷⁶ Man hat der Klassifizierung, die Snorri diesbezüglich unternimmt, eher misstraut, er versucht ihren Erscheinungsformen mit einer Einteilung in Lichtalben (liós-álfar) (Gylf 17) und Schwarzalben (svart-álfar) (Skálds 35) gerecht zu werden. Schon Grimm hat darin einen allzu christlich gefärbten Dualismus sehen wollen, nachgebildet einer christlichen Einteilung übernatürlicher Wesenheiten, den Engeln und Teufeln.¹⁷⁷ Aufgrund dieser Diskrepanzen, ihrer eigenartigen, dann doch eher unpassenden Nähe zu Zwergen, mag man in der Forschung Alben nur zögerlich einen „gewissen Kult“ zusprechen, und doch lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass es sich auch beim so genannten álfarblót ganz offenbar um einen privaten Totenerinnerungskult handelt, ein Opfer um Verstorbene zu ehren, ein Familienfest, an dem Außenstehende, Nichtfamilienmitglieder unerwünscht sind.¹⁷⁸ Vieles spricht dafür, dass gerade diese
Vgl. Dillmann 1994, S. 330. Vgl. Dillmann 2007, S. 332. Turville-Petre 1964, S. 233. Vgl. Lex.Simek 2006, „Alben“, S. 8 – 10: Altn. álfr, ahd. alb, altengl. ælf, ælfen, mhd. elbinne „die Albin, Elfe“, siehe auch noch nhd. alp „Nachtgeist“. Siehe Grimm 1844 I. „Wichte und Elbe“ erscheinen hier entsprechend zusammengefasst in einem Kapitel (Kap. XVII). Vgl. Grimm 1844 I, S. 413 f. Vgl. die Beschreibung des Skalden Sigvatr Þórðarson in Austrfararvísur (Fulk [Hg.] 2012b), wie er auf einer Reise nach Schweden von mehreren Höfen abgewiesen wurde, weil dort das álfarblót abgehalten wurde (Sigv. Austv. 4– 7). Interessant genug, dass dabei ganz offenbar die korrekte Ausführung des Rituals, wozu insbesondere die korrekte Kultgemeinschaft zu gehören schien, sogar über die elementaren Regeln der Gastfreundschaft gestellt wurde. Eine ähnliche rituelle Ausschlussvorschrift
6.7 Alben
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rituelle Behandlung Voraussetzung und Sicherung des Status des geehrten, wohlgesonnenen Schutzgeistes ist. Simek verweist in diesem Zusammenhang auf den griechischen Heroenkult,¹⁷⁹ ein wichtiger Hinweis, dem indes kaum einmal nachgegangen wurde. Er verdient aber gerade an dieser Stelle ganz besondere Aufmerksamkeit. Es muss ja allemal einen Grund geben, warum ausgerechnet „Elemente des Totenkults“¹⁸⁰ in den Albenkult eingeflossen sein sollen. Andererseits ‒ im tiefen Gegensatz dazu, personalisiert, als männlich oder (später) weiblich zu erkennen, keineswegs mehr die Rede von einem bestenfalls vagen Anthropomorphismus oder eher unansehnlicher Zwergenhaftigkeit ‒ tauchen Alben in Genealogien auf, etwa in der Ahnenreihe des norwegischen Königs Harald Schönhaar (siehe Álfr, Álfgeirr, Gandálfr, Álfhild), und hier werden sie ausgerechnet als die ,schönsten aller Menschenʻ (vgl. das altengl. ælfsciene „wunderschön“) bezeichnet (Sǫgubrot af fornkonungum, Kap. 10).¹⁸¹ Die Position, die sie hier ausfüllen, ist eindeutig, sie werden explizit als Verstorbene, personalisierte Ahnen benannt. Auch der König Óláfr Guðrøðarson wird nach seinem Tod zu einem álfr, zum Geirstaðaálfr, einem verehrten Toten, dem man Opfer darbrachte (Ynglinga saga 48, 49), mit dem man Kommunikation und Austausch aufrechterhielt, zum Wohle aller. Eine Nähe zu den Asen wird durch den Stabreim æsir ok alfar offenbar, ein stehender, erstarrter Ausdruck zweifelsohne, er zeigt aber auch, dass die Verbindung, zumindest zu einer gewissen Zeit, eng und selbstverständlich gewesen sein muss,¹⁸² verstanden als die beiden prototypischen Vertreter nordischer Göttlichkeit. bzw. ,in groupʻ-Vorschrift scheint auch im römischen Ahnengötterfest der compitalia, wenn schon nicht mehr religiös verbindlich, so doch in gewissen Konventionen wirksam. So weist Cicero (Cic. Att. 7, 7) auf den familiären, ja fast intimen Charakter dieser Feiertage hin, und es schien gerade die Höflichkeit zu gebieten, als Außenstehender diese ,Familienangelegenheitenʻ nicht zu stören: [E]go, quoniam IIII Non. Ian. Compitalicius dies est, nolo eo die in Albanum venire, ne molestus sim familiae („2 January being Crossways Day I don’t want to go to Alba that day in case my arrival might be troublesome for the staff“ [Übers. Shackleton Bailey 1968, S. 173]). Vgl. Stek 2008, S. 113, der indes diesen Umstand eher Ciceros allgemein höflichem, zurücknehmendem Wesen zuschreiben möchte). Und doch scheint der Skalde Sigvatr Þórðarson in eine vergleichbare Situation geraten zu sein, ungewollt, eben weil er mit den Konventionen des Landes nicht vertraut war. Vgl. Lex.Simek 2006, „Alben“, S. 10. Lex.Simek 2006, „Alben“, S. 10. Vgl. Lex.Simek 2006, „Alben“, S. 9. Auch wenn die Etymologie des Wortes zunächst wenig hilfreich erscheint, so spiegelt sie doch genau diese Ambivalenz wieder, man möchte die Wurzel entweder zu idg.*albh- „glänzen, weiß sein“ (lat. albus, „weiß“) stellen, was dann in etwa „weiße, lichte Nebelgestalt“ (siehe auch ahd. alba „Insektenlarve“, nnl. elften „Engerlinge“, nnorw. alma „Engerlinge“) (an. etym. Wb 1962, „alfr“) bedeuten könnte, andererseits scheint die altind. Wurzel *rbhu- „kunstvoll, Künstler“ gerade die Wesenheit und vorzüglich wahrgenommene Tätigkeit von Zwergen besonders gut zu fassen. Einzig die Gestalt Wielands des Schmieds vereint beide Aspekte, wenn auch in durch und durch negativer Form. Er wird mit Epitheta des Strahlens, der Weißheit belegt (siehe etwa Vkv 1), aber es ist eine bösartige, raubtierartige Ausstrahlung, seine Kunstfertigkeit nutzt er zu tödlicher List und Heimtücke. Eindeutig genug scheint indes das irische alcaille (entlehnt aus alfkarl „männl. Alp“) in der Bedeutung „Totengeist“. Vgl. Kuhn 1973a, S. 130.
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Eine weitere bemerkenswerte, viel zitierte Übereinstimmung gerade mit dem Vanengott Freyr scheint diese Einschätzung zu unterstützen. Mit den Lichtalben teilt er seine Wohnstatt, Álfheimr, „Albenheim“, davon wissen die Grm 5 zu berichten. Häufig wird dieser Umstand lediglich konstatiert, aber kaum nach dem konkreten Anknüpfungspunkt gefragt, die gemeinsame Vorstellung, die Alben und Freyr schließlich buchstäblich auf engstem Raum zusammenrücken lässt. Und noch ein weiteres Detail kennen die Grímnismál: Freyr habe die Götterwohnung als „Zahngeschenk“ bekommen (Álfheim Frey gáfo í árdaga tívar at tannfé, „Albenheim gaben Freyr in Urtagen die Götter als Zahngabe“, Grm 5), das einzige Mal, dass ein nordischer Gott als Kind, als Säugling vorgestellt wird.¹⁸³ Warum dieser einzige Hinweis auf Freyrs frühe Kindertage, auf ein frühkindliches Initiationsritual, an einem Aufenthaltsort, der ausgerechnet mit einer Gruppe von Wesenheiten in Verbindung steht, die Empfänger von Totenkulten sind?
6.8 Vanen Bezugspunkte zwischen Alben und Vanen sind einige Male konstatiert worden, freilich sind die Vanir ihrerseits als so genannte Götterfamilie ein schwer einzuschätzendes Konglomerat von mittelalterlichen, Snorri’schen Systematisierungsversuchen und darauf aufbauenden, teilweise vielleicht allzu unkritisch übernommenen Vorstellungen in der modernen Forschung. Vereinzelt, aber seit einigen Jahren vermehrt, hat sich dagegen Widerspruch erhoben. So spricht Simek in einem Aufsatz von 2010¹⁸⁴ den Vanen kurzerhand die Berechtigung zu einer eigenständigen Göttergruppierung ab, zumindest so, wie sie sie uns Snorri glauben machen will, als eben reines Konstrukt, eine intellektuelle Fiktion. Er verweist auf den auffallenden Mangel an Belegen außerhalb der Snorra Edda, zusätzliche, spezielle Informationen über die Vanen erhielten wir nur von Snorri und das, so Simek, wohl lediglich auf Grundlage seines Verständnis von ihnen als Göttergemeinschaft¹⁸⁵: The wide modern popularity of the Vanir as a family of gods stands in stark contrast to the paucity of the sources about them. […] [T]ere are only a total of three instances of the term in skaldic poetry, and two of those are from post-heathen times, […]. Why, then, have the Vanir achieved
Vgl. Tolley 2011, S. 26. Aber dadurch erscheint Freyr wohl nicht gleich als „guardian of birth and childhood“ wie Tolley vermuten möchte, auf keine Weise unterstützen die Quellen eine solche Funktion. Vgl. Simek 2010: The Vanir, an Obituary, ein ,Nachrufʻ also, ein Nekrolog auf kürzlich Verstorbene, auf eine mythologische Kategorie samt ihrer Vertreter, die Simek hier zu Grabe tragen möchte. In der Tat haben die Vanen auch nach Auffassung vorliegender Arbeit eine Leichenrede verdient, indes anders, als es der Autor wohl mit seinem Titel beabsichtigt hatte. Simek 2010, S. 13: „The vanir are mentioned so rarely in the skaldic poetry of heathen times and even in Eddic poetry […], that most of the information about them is actually found in the writings of Snorri Sturluson […].“
6.8 Vanen
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such spectacular fame in modern times, when the sources are so scant? It is certainly not because other poetic sources are much more full: vanir are mentioned only seven times in Eddic poetry, and these instances are limited to five poems […]. Moreover, in most of these cases the term turns up in an alliterative sequence of (æsir – alfar followed by) vísir vanir. Rather, the true reason for their popularity is that Snorri gives us, on the basis of these 10 earlier (or possibly earlier) sources, more detailed accounts of the role of the vanir, which have in the past mainly been taken at their face value and made into the family of gods commonly known today.¹⁸⁶
Genau genommen habe das Heidentum die Vorstellung einer Göttergemeinschaft mit dem Namen vanir gar nicht gekannt, ihre prominentesten Mitglieder Freyr, Freyja und Njǫrðr seien um einer plausiblen Systematisierung willen erst von Snorri als solche gekennzeichnet worden mit Eigenschaften und Funktionen (etwa Förderer bäuerlicher Fruchtbarkeit, abweichende, markierte Sexualität), die sie als solche zumindest nicht ausschließlich und schon gar nicht entgegen der Asen besessen hätten.¹⁸⁷ Nun sind das freilich unterschiedliche Kritikpunkte: Soll eine Kategorie als solches infrage gestellt werden oder lediglich deren (prototypischen) Zuschreibungen und Funktionen? Für Letzteres gibt es gewiss hinreichend viele Hinweise, aber auf irgendeine Weise scheint doch klar ‒ gerade den Asengöttern selbst ‒ die Vanen sind ‚andersʻ: Freyr, Freyja und Njǫrðr leben in inzestuösen Verhältnissen, sie besitzen eine unstillbare Gier nach Gold und Sex. Ihr Hauptfortbewegungsmittel ist der Wagen, und wenn sie reiten, dann niemals zu Pferd, sondern – auf einem Schwein. Sie erscheinen stets als eine von den Asen klar abgegrenzte, ja zunächst feindlich gesinnte Gruppierung. Eine ethnische Gruppierung, ein Volk vielleicht? Oder doch außernatürliche Wesenheiten, die sich immerhin den göttlichen Asen entgegenzustellen vermochten, aber, nachdem kriegerische Auseinandersetzungen unentschieden blieben, sich notgedrungen in einem Friedensvertrag einigen mussten? Snorri erzählt dazu zwei durchaus unterschiedliche Versionen, es macht den Eindruck, mit Motiven und Elementen, die er kaum narrativ plausibel zu verknüpfen vermochte, manches scheint ihm selbst unklar gewesen zu sein, er stützt sich auf die Vǫluspá, die eine kaum weniger obskure Version bietet. Die Vǫluspá weiß von einer tiefen Differenz, von einem ersten Krieg zwischen zwei Parteien, wobei der eigentliche Grund des Krieges offen bleibt, ungeklärt ist jedenfalls der Anteil jener Gullveig (vielleicht „Goldtrank“), die bei den Asen erscheint (Vsp 21, 22). Auf brutale Weise wird sie von diesen getötet, mit Speeren durchbohrt und anschließend dreimal verbrannt. Und doch scheint sie auf wunderbare Weise immer wieder ins Leben zurückzukehren, ja, ihre Macht und Potenz scheint sich dadurch zu mehren, bis sie schließlich als Heiðr (bisher als „Glanzvolle“, „Strahlende“ gedeutet),
Simek 2010, S. 12. Vgl. dazu die Untersuchung von Motz 1996, auf die Simek in diesem Zusammenhang verweist. Motz kann zeigen, dass fruchtbarkeitsfördernde Maßnahmen ebenso wie auffallende, markierte Sexualität keineswegs eine spezielle Eigenart der Vanengötter ist, in keinem geringeren Maße tut sich Odin darin hervor, Gefjon genauso wie Freyja, und nicht nur Freyr wird um gutes Wetter und Ernteglück gebeten, auch dem eher brachialen Riesentöter Thor wird darin Kompetenz zugesprochen.
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als überaus mächtiges, zauberkundiges Wesen durch die Gegend streift, von Haus zu Haus, ohne dass ihr jemand Einhalt gebieten könnte oder wollte, offenbar gleichzeitig geliebt und gehasst. Grausame Morde gibt es auch in Snorris Versionen, aber sie sind auch hier gerade nicht ein wie auch immer gearteter casus belli, die Morde sind eher Folge der Friedensvereinbarungen. Die Umstände der Einigung sind ein wichtiges Element des Mythos, ganz offenbar geht es um die narrative Fassung einer zwar Verschiedenheit, aber doch Unentschiedenheit, einer Kräftegleichheit, einer Pattsituation, die nun zäh und schwierig verhandelt werden muss. Bei der Medialisierung dieses Elements scheinen sich unterschiedliche kulturelle und zeitliche Wissensrahmen aufeinander gelagert zu haben, sehr alt zweifelsohne das Ringen um den Opferanteil, das wir so häufig als Motiv schon in altindischen und griechischen Götterstreitigkeiten finden.¹⁸⁸ Auch der gemeinschaftlich gebraute Friedenstrank einschließlich der Speichelmischung ist ein ebenso archaisches, zeremonielles Verfahren.¹⁸⁹ Nicht ganz klar ist indessen, warum diese rituelle, zeremonielle Vereinbarung sich dermaßen stark auf den exakten Entstehungsprozess dieses vorgeblichen Friedenstrunks fokussiert, warum der „weiseste aller Wanen“, Kvasir (Skáldsk 1), hier erst erschaffen werden muss aus Resten jenes Speichelgemischs, in einem merkwürdigen, magischen Kreationsprozess.¹⁹⁰ Er wandert über die Welt, verbreitet sein Wissen unter den Menschen und wird schließlich getötet. Aus dessen Blut wiederum, in Fortsetzung oder Motivdoppelung zu Gullveigs Tötung, wird der Dichtermet als Weisheitsessenz geschaffen. Die Ynglinga saga (Kap. 4) weiß aber gar nichts von diesen Geschehnissen, hier erscheint das wohl kulturgeschichtlich jüngere Motiv des Geiselaustauschs. Zunächst gelangen Njǫrðr, ,der Reicheʻ, und sein Sohn Freyr, später offenbar auch Freyja zu den Asen. Kvasir erscheint auch hier als „der Klügste ihrer Schar“ und wird aus diesem Grund zu den Asen gesandt. Im Gegenzug erhalten die Vanen zwei der vorzüglichsten Asen-Männer, Mímir und Hœnir, von denen allerdings nur einer von beiden, Mímir, den Erwartungen entspricht, Hœnir, wohl groß und schön von Statur, bleibt stumm und uninspiriert ohne Mímirs Unterstützung. Aus Zorn über den vermeintlichen Betrug töten die Vanen Mímir und schicken dessen abgeschlagenen Kopf an Odin zurück. Dadurch ist aber Mímirs Wissen nicht im Geringsten geschmälert, im Gegenteil, Odin nutzt nun seinerseits (indem er durch gewisse magische Maßnahmen die Verwesung des Leichenteils aufhält) dessen Fähigkeiten zur Weissagung und Prophetie. Eine merkwürdige, grausame Behandlung, die der Ase Mímir erfährt, getötet, geköpft, ein Körperteil auf Reisen geschickt, auf wunderbare, magische Weise wird dieser ins Leben zurückgebracht, klüger als zuvor, unsterblich. Nach einer Reihe komplizierter magischer, ritueller Behandlungen und (Körper)ma-
Vgl. Reichert 2000, S. 413. Vgl. Lex.Simek 2006, „Kvasir“, S. 239 f. Vgl. an. etym. Wb 1962, „kvasir“. Zwei unterschiedliche Etymologien werden für den Namen vorgeschlagen, einerseits zu altslav. kvasŭ „gegorener trank“, andererseits zu ndän. kvas(s)e, ne. quash, „quetschen um saft auszupressen“.
6.9 Óð gaf Hœnir
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nipulationen wie Transformationen wird er wie Gullveig und Kvasir zu einer übernatürlichen Wesenheit, zur Verkörperung, zum Container einer (Wissens)essenz. Lotte Motz möchte entsprechend von einer Art Braukunstmythos ausgehen, einem aitiologischen Mythos: I base myself on the fact that veig is a synonym for ,meadʻ. The word heiðr, in its turn, is brought into relation with the gleaming drink. The fermented liquid may be instrumental to attaining mantic wisdom and to the exercise of sorcery, both abilities possessed by Heiðr. A tale of how the meat was brought into existence through the killing of a living creature is recorded by Snorri Sturluson. This creature, also, bears a name which has the meaning ,fermented drinkʻ. I suggest the story of Gullveig ,Golden drinkʻ represents a parallel account of how the sacred mead became part of the world of the men.¹⁹¹
Aber darum geht es vermutlich gerade nicht. Es geht nicht darum, eine Erklärung zu liefern, auf welche Weise „the sacred mead“ in die Welt der Menschen gelangte, Alkohol gewissermaßen ein mythisches Gesicht, eine mythische Verkörperung zu geben. Es geht darum, mithilfe des Modells Alkohol eine Vorstellung ‚denkbarʻ zu machen, die eng und ursprünglich mit der Kategorie der Vanen verbunden ist, die aber bereits zu Snorris Zeiten ganz verloren gegangen scheint.
6.9 Óð gaf Hœnir Nun muss gerade die Asen-Geisel Hœnir unter dem Aspekt der physiopoiesis, der postmortalen wie pränatalen Körperschöpfung noch einmal genauer betrachtet werden: Durchaus häufig und mit Befremden ist registriert worden, dass es ausgerechnet Hœnir an jener Eigenschaft am meisten zu fehlen scheint, die er selbst in Urtagen dem ersten Menschenpaar doch so großzügig zu spenden vermochte: óð gaf Hœnir („Verstand gab Hönir“). Nach Vǫluspá (17, 18) schaffen Odin, Hœnir und Loðurr die ersten Menschen aus den ‚kraft- und schicksalslosen‘ Gestalten Askr und Embla, die sie am Strand (was deren Natur als Treibgut implizieren könnte) finden. In der Gylf 9 ist es das Göttertrio Odin, Víli und Vé, das hier expressis verbis aus „Baumstämme[n]“ (tré tvau), also aus dem Rohmaterial Holz, die Menschen erschafft. Sie werden von den Göttern ausgerüstet mit zunächst eher schwierig zu bestimmenden körperlichen, intellektuellen wie spirituellen Bestandteilen des Menschseins, „Seele und Leben“, „Verstand und Bewegungsfähigkeit“, „äußere Gestalt, Sprechvermögen, Gehör und die Fähigkeit zu sehen.“¹⁹² Es sind jene Eigenschaften, die den Menschen zum inter-
Vgl. Motz 1993, S. 82. Þá svarar Hár: ,Þá er þeir Bors synir gengu með sævar strǫndu, fundu þeir tré tvau, ok tóku upp tréin ok skǫpuðu af menn. Gaf hinn fyrsti ǫnd ok líf, annarr vit ok hrœring, þriði ásjónu, málit ok heyrn ok sjón; gáfu þeim klæði ok nǫfn. Hét karlmaðrinn Askr, en konan Embla, ok ólusk þaðan af mannkindin þeim er bygðin var gefin undir Miðgarði.‘ („Darauf antwortete der Hohe: ,Als die Söhne Borrs am Meeresstrand entlangliefen, fanden sie zwei Baumstämme. Die hoben sie auf und erschufen daraus die Menschen.
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aktiven, kommunizierenden, sozialen Wesen machen. Ebenso erhalten sie die kulturellen Komponenten des Menschseins: Kleidung und Namen. Und offenbar gerade in jenen Eigenschaften, die man wohl als primordiale menschliche Eigenschaften, ‚Menschsein schlechthinʻ identifizieren kann, Bewegungsfähigkeit und Kognition, erscheint nicht nur Hœnir, sondern gerade auch Mímir auf merkwürdige Weise defizitär. Von Anfang an scheint Mímir ausschließlich Verstand zu besitzen: Seine spätere Konstitution als gänzlich bewegungsunfähiger, weissagender Kopf scheint eine nachgereichte, narrative Begründung für seine grundsätzlich immobile, defizitäre Körperbeschaffenheit. Dagegen besitzt Hœnir nun zweifelsohne einen Körper, von seiner äußeren Erscheinung ist er lito góða, wie auch die Ynglinga saga zu berichten weiß, gut aussehend, groß (mikill maðr ok inn vænsti), indes mangelt es ihm an dem, was Mímir im Überfluss hat, an Verstand und, wie es scheint, auch an Sprechfähigkeit, wenn wir davon ausgehen müssen, dass er zu nicht mehr Sprache fähig war als seinem berühmten Zweiwortsatz: ráði aðrir („Mögen andere raten“). Und wenn nun also Mímir ein Konzept von geistiger Leistung und Kapazität verkörpert, dann muss in Hœnir möglicherweise (neben seiner vollendeten Gestalt) Beweglichkeit und Mobilität als hervorragende, aber einzige Eigenschaft vermutet werden. Diese tiefe Diskrepanz in Hœnirs Wesen drückt sich augenscheinlich schon in dessen Epitheta aus. Einige davon beziehen sich auf seine enge Freundschaft zu Odin und gegebenenfalls Loki. Loki ist vinr Hœnis (Haustl 3) „Freund des Hœnir“, Hœnir hrafnásar vinr (Haustl 4), Hœnir „Freund des Rabengottes“. Hœnir gilt als sessa eða sinna eða mála Óðins (Skáldsk 15) „Odins Kamerad oder Tischgefährte“. Das passt gut zu seiner egalitären, gleichberechtigten Rolle in einer urzeitlichen Götter-Triade. Aber in dieser Funktion ist er weder passiver, schweigsamer oder gar feiger¹⁹³ als seine Götterkollegen: Immerhin ist er Akteur in einer Kosmogonie, in einem primordialen Schöpfungsakt. Eine Gruppe von indes sehr rätselhaften Kenningar bezieht sich nun tatsächlich auf Hœnirs Beweglichkeit, auf eine möglicherweise besondere, vielleicht schnelle Art des Gehens. In den Skáldskaparmál (15) ist Hœnir hinn skjóti áss „der schnelle Ase“, hinn langi fótr „der Langfüßige“, in der Haustlǫng (4) erscheint er als fet-Meili, „Schritt-
Der erste gab ihnen Seele und Leben, der zweite Verstand und Bewegungsfähigkeit, der dritte äußere Gestalt, Sprechvermögen, Gehör und die Fähigkeit zu sehen. Sie gaben ihnen Kleider und Namen; der Mann hieß Ask, die Frau Embla, und aus ihnen ging das Menschengeschlecht hervor, dem Midgard zur Heimat gegeben wurde‘“ [Gylf 9]). Unz þrír qvómo ór því liði, / ǫflgir oc ástgir, æsir, at húsi; / fundo á landi, lítt megandi, / Asc oc Emblo, ørlǫglausa (Vsp 17). („Schließlich kamen drei aus dieser Schar, / mächtige und wohlgesonnene Asen zum Haus; / sie fanden am Strand, kaum Kraft habend, / Ask und Embla, schicksalslos“). [Ǫ]nd þau né átto, óð þau né hǫfðo, / lá né læti né lito góða; / ǫnd gaf Óðinn, óð gaf Hœnir, / lá gaf Lóðurr oc lito góða (Vsp 18). („Seele besaßen sie nicht,Vernunft hatten sie nicht, / weder Blut noch Bewegung noch gute Farbe; / Seele gab Odin, Vernunft gab Hönir, / Blut gab Lodurr und gute Farbe“). Nicht nur an Verstand, auch an Mut soll es ihm gemangelt haben: Der ängstlichste aller Asen soll er gewesen sein, hræddastr Ása, wie zumindest das Sǫgubrot af Fornkonungum, Kap. 3 (af Petersens und Olson [Hg.] 1919 – 1925) erwähnt.
6.9 Óð gaf Hœnir
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Meili“, wobei Meili ungeklärt ist, aber wohl eher nicht, wie de Vries vorschlägt, zu lit. mielas, asl. milū „lieb“ zu stellen ist. Und schließlich wird er der aurkonungr (Skáldsk 15) genannt, ein Ausdruck der bisher kaum adäquat zu übersetzen war, möglicherweise „Schlammkönig“ (zu aurr).¹⁹⁴ Die Ähnlichkeit zum aurgo baki des Heimdallr ist zu Recht gesehen worden, wenngleich, wie auch immer im Folgenden diese Zuschreibung interpretiert werden sollte, gewiss nicht von einer Identität ausgegangen werden darf, vielmehr dass sich Heimdallr und Hœnir, gegebenenfalls, in dieser Eigenschaft gleichen. Es ist zu vermuten, dass die Rolle der primordialen, óð verleihenden Schöpfergottheit die primäre ist. Sie ist in jedem Falle stringenter in ihrer Darstellung als die der tumben Geisel der Ynglinga saga in ihren logischen Brüchen. Sie scheint sekundär daran angeknüpft. Aber aus welchem Grund? Vielleicht ist Hœnir tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt, von Snorri, als „Schlammkönig“ verstanden worden, ähnlich wie der aurgo baki des Heimdallr als schmutziger, schlammiger Rücken verstanden wurde, was in der Tat für einen Flussgott eine passende Umschreibung ist. Aber schon Detter wollte die seiner Ansicht nach „gezwungene“ Schlamm/Sand-Semantik verwerfen zu Gunsten eines Konzepts der Perversion, der Verdrehtheit,¹⁹⁵ entsprechend den aurkonungr nicht als „Schlammkönig“, vielmehr als „Afterkönig“ verstehen, als ,falschen‘, ‚verkehrten‘ König. Es könnte dieses Missverständnis oder Neuverständnis des Epithetons aurkonungr in Kombination mit den Bewegungskenningar gewesen sein, die die formalen Anknüpfungspunkte an ein zunächst einmal nicht autochthones, religiös magisches Konzept von Belebtheit lieferte: die Gestalt des jüdischen Golem, des ‚Lehmmannsʻ. Im biblischen Kontext selbst erscheint das Wort Golem nur ein einziges Mal (Psalm 139, 16) in der Bedeutung „zusammengerollte, rohe, unförmige Masse“,¹⁹⁶ in den Talmud-Kommentaren wiederum als Name für den Embryo,¹⁹⁷ aber auch für die Frau, die noch nicht geboren hat, also ein bzgl. seines natürlichen Entwicklungsstadiums ,unfertiges menschliches Wesenʻ. Auch vom ersten Menschen, Adam, heißt es, er sei aus eben jener ,unförmigen Masseʻ geformt worden und habe in einem nächsten Schritt ,Seeleʻ erhalten.¹⁹⁸ Es sind die gleichen Produktionsschritte, die auch die Asen in ihrem Schöpfungsakt einhalten. Unterschiede ergeben sich zunächst nur hinsichtlich der Rohmasse, Holz bzw. Erde, Lehm. Die Gestalt des Golems gewinnt insbesondere im rabbinischen Judentum, in der mittelalterlichen jüdischen Mystik Bedeutung und wird zum Gegenstand zahlreicher kabbalistischer Spekulationen. So gibt etwa das Sepher Jeṣira („Buch der Schöpfung“) Anleitung, wie mithilfe von Zahlenund Buchstabenmagie, der ,richtigenʻ Buchstabenkombination, durchaus in bewusster Anlehnung an den – göttlichen – primordialen Schöpfungsakt Adams, ehedem Unbelebtes zum Leben erweckt werden kann. In den talmudischen Quellen des
Vgl. an. etym. Wb 1962, „aurr“: „feuchter, nasser schlamm“. Vgl. Detter 1898, S. 54. Lauer 1984, S. 583. Vgl. Wöll 2001, S. 235. Vgl. Lauer 1984, S. 583.
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3./4. Jhs. erscheint ein Golem von Menschenhand geschaffen: „Ravā […] erschuf einen Mann und schickte ihn zu Rabbi Zêrā. Dieser sprach zu ihm, aber er antwortete ihm nicht. Da sagte er zu ihm: Du kommst von den Kollegen (oder: von den Zauberern); kehr zu deinem Staub zurück!“¹⁹⁹ Ein Mängelwesen also, insbesondere der Sprache und wohl auch des Denkens unfähig, eine zauberische, magische Schöpfung, die auch zurückgewiesen werden kann: Ein Golem ist eine Menschengestalt aus (jungfräulicher Berg‐)Erde, dem sein menschlicher Schöpfer Leben (mit oder ohne Sprechfähigkeit) eingeflößt hat. Dies geschieht nach einem bestimmten, auf dem Sefer Jeṣira beruhenden Ritual oder Fixierung sei es des Tetragrammatons, sei es des „Siegels Gottes“, nämlich des Wortes ’emeṯ. Dieses Geschöpf, Ausdruck des ekstatischen Erlebnisses der Einweihung in die Geheimnisse der Schöpfung, wird sogleich durch Umkehrung des Rituals, bzw. Entfernung oder Zerstörung des Gottesnamens, in Erde zurückverwandelt.²⁰⁰
Entsprechend werde daraus geschlossen, „daß der ,Golemʻ wohl eine Bewegungsseele, nicht aber eine Weisheitsseele haben könne, weil die Sprechfähigkeit von dieser abhänge.“²⁰¹ Seit dem 12. Jh. meint es einen „stummen, minderwertigen Menschen“, der „ohne Zeugungskraft und Trieb zum Weibe“²⁰² sei. Und auch in jüdischer Tradition beeinflussen sich die beiden Belebungskonzepte, die zunächst klar voneinander getrennt sind: die Vorstellung eines göttlichen Schöpfungsaktes des Adam, des ersten Menschen, und die Golemschöpfung von Menschenhand. Aber Hœnir ist nicht die einzige Gestalt in der nordischen Mythologie, die jene Golemartigkeit zeigt. Die Herstellung von magischer Beseeltheit aus ehedem Unbeseeltem spielt eine wichtige, wenn auch kaum weniger skurrile Rolle im Kampf Thors gegen den Riesen Hrungnir (Skáldsk 17). Dessen Riesenkameraden erschaffen ihm einen Mitkämpfer zur Unterstützung, wie es heißt, Mǫkkurkálfi, ein gigantischer „Lehmmann“ (leirjǫtunn). Unübersehbar ist er eine Art „nordisches Pendant“²⁰³ zum jüdischen Golem – und gleichermaßen nicht gut gelungen. Er ist lächerlich feige, bezeichnenderweise eine Eigenschaft, die man Hœnir, dem aurkonungr, eher unmotiviert unterstellt. Seine Defizienz scheint zunächst einmal in seiner (mangelhaften) Materialität zu gründen: Der Mǫkkurkálfi besitzt nur das Herz einer Stute. Mǫkkurkálfi ist also nicht das „Nebelkalb“ oder Ähnliches, wie dessen Name manches Mal etymologisiert wird, er ist das ,Feuchtbeinʻ. Mag sein, dass das Erzählelement, der Riese habe sich aus Furcht vor Thor eingenässt, dafür eine Erklärung liefern soll. Gemeint ist aber das ,Schlammbeinʻ,²⁰⁴ das ,Lehmbeinʻ, und das in nahezu identischer semantischer Entsprechung zum ‚schlammigen Schnellfußʻ Hœnir.
Lauer 1984, S. 583. Lauer 1984, S. 585. Lauer 1984, S. 584. Wöll 2001, S. 235. Lex.Simek 2006, „Mökkurkálfi“. Siehe ähnlich Cole 2014, S. 239: „Mud-leg“.
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Richard Cole möchte die Gestalt des Mǫkkurkálfi als eine freie Erfindung Snorris, eine Anleihe aus eben jenen nachbiblischen, jüdischen Traditionen halten, wohingegen der Riese Hrungnir wohl nicht erfunden, aber von ihm in einem für seine Zeit typisch antijüdischen Habitus ausgestattet worden sei: „[H]e may well have recognised and accentuated the anti-Jewish typological connotations of his body,“²⁰⁵ etwa das ‚Herz aus Steinʻ, das schließlich auch den Juden in üblicher christlicher Polemik unterstellt worden sei. Somit sei Hrungnir und seine Riesenkameraden vermutlich gezielt von Snorri nach Art jüdischer Magier gestaltet worden.²⁰⁶ Wenn wir freilich der Idee einer nordischen Golem-Nachbildung in Gestalt des Mǫkkurkálfi durchaus zustimmen können, erscheint Letzteres eher unwahrscheinlich. Denn auch wenn der Ausdruck Hrungnis hjarta tatsächlich nur aus Snorris Zuschreibung bekannt ist,²⁰⁷ so ist das, was damit bezeichnet wird, in nordischen Vorstellungen nachhaltig etabliert. Die Beschreibung passt zu einem Symbol, das häufig genug in ikonographischen, runischen Kontexten erscheint (etwa auf gotländischen Bildsteinen) als „drei miteinander verflochtene[ ] Dreiecke[ ],“²⁰⁸ die wiederum in Norwegen als valknuter (valknútr), als „Knoten der Gefallenen“ bezeichnet werden.²⁰⁹ Die eigentliche Funktion des valknútr ist freilich keineswegs geklärt, in unterschiedlichsten Erscheinungsformen, in unterschiedlichsten Medialisierungen erscheint er in einem weiten kulturellen Spektrum, vom möglicherweise reinen Zierelement in der Alltagskultur hin zu einem stark befrachteten, wirkmächtigen, magisch religiösen Symbol. Allein die Tatsache, dass das Zeichen auf den Bildsteinen vorzugsweise mit Odin gemeinsam auftrete und sich auch in Grabbeigaben (allen voran des Osebergschiffes) finde, mache einen Bezug zum Bestattungswesen wahrscheinlich, so Simek.²¹⁰ Nun gehört weder Hrungnir noch Mǫkkurkálfi in den Grab- oder Totenkult. Was sie allerdings verbindet, ist die unnatürliche, unbiologische Zeugung, ihre Herstellung aus unorganischem, ‚totem‘ Material, Stein, Lehm. Im Kabbalismus ist die Erschaffung eines Golems lediglich (erlaubte) magische Übung, gleichzeitig aber auch ekstatisches In-
Cole 2014, S. 256 f. Vgl. Cole 2014, S. 256 f. Als mögliche Übertragungswege dieser jüdischen wie antijüdischen Traditionen in den Norden kann Cole die französische Abtei St. Victor wahrscheinlich machen, seinerzeit einer der bedeutsamsten Knotenpunkte abendländischer Gelehrsamkeit und gerade bevorzugtes Ziel für Vertreter der gelehrten nordischen Oberschicht. Auch jüdisches Schrifttum sei hier diskutiert worden, und wenn auch Snorri Inhalte daraus wohl nicht aus erster Hand erfahren habe, so seien diese doch wohl Teil des theologischen Diskurses gewesen. Vgl. Cole 2014, S. 252. Hrungnir átti hjarta þat er frægt er, af hǫrðum steini ok tindótt með þrim hornum svásem síðan er gert var ristubragð þat er Hrungnis hjarta heitir (Skáldsk 17). („Hrungnir hatte das Herz, das berühmt war, aus hartem Stein und mit drei Ecken versehen, so wie seitdem geritzte Figuren gemacht werden, die Hrungnirs Herzen heißen“). Lex.Simek 2006, „Hrungnirs Herz“, S. 207. Siehe dazu etwa eine neuere Arbeit von Tom Hellers (Hellers 2012) mit einem Überblick über die unterschiedlichen Interpretationsansätze. Vgl. Lex.Simek 2006, „Hrungnirs Herz“, S. 207.
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itiationserlebnis und „Einweihung in die Geheimnisse der Schöpfung“.²¹¹ Snorris Hinweis auf die gigantische Größe des Lehmmanns, „neun Meilen hoch und drei unter den Armen breit“,²¹² findet sich aber nicht in magischen Golemvorstellungen, vielmehr in rabbinischen Spekulationen über den kosmologischen, den urzeitlichen Adam. Hier sind die Verweise auf seine ungeheuerliche Größe besonders zahlreich: „Er reichte von der Erde bis zum Himmelsgewölbe, von einem Ende der Welt zum anderen […], als ‚Golemʻ lag er hingestreckt und erfüllte die ganze Welt“.²¹³ Man werde in diesen Traditionen wohl von „Reste[n] eines von den Rabbinen adaptierten und z.T. umgedeuteten Urmensch-Mythos“ ausgehen müssen,²¹⁴ ein Befund, der eine Entsprechung findet im ymirgleichen Ende Hrungnirs, der gleichermaßen zu Boden stürzt und in viele kleine Stücke zerschmettert wird. Auch Thors Kampf gegen den Steinriesen war wohl zunächst weit entfernt von jenen Drolerien, wie wir sie bei Snorri entworfen sehen,²¹⁵ die Schilderung der Haustlǫng erscheint ohnehin ganz im Gegensatz dazu als ein dramatisches, apokalyptisches Endzeit- oder Anfangs-Szenario.²¹⁶ Über die Authentizität bzw. Alter der einzelnen Elemente ist damit freilich noch Lauer 1984, S. 585. Þá gerðu jǫtnar mann á Grjótúnagǫrðum af leiri ok var hann níu rasta hár en þriggja breiðr undir hǫnd (Skáldsk 17). („Da schufen die Riesen in Grjotunagardar einen Mann aus Lehm, der war neun Meilen hoch und drei unter den Armen breit“). Schäfer 1977, S. 426. Schäfer 1977, S. 426. Siehe die Episode zwischen Thor und seinem Sohn Magni, die sich unmittelbar daran anschließt: Ein Bein des gestürzten, ausgestreckten Riesen kommt auf Thors Hals zu liegen. Selbst der versammelten Asenmannschaft gelingt es nicht, ihn davon zu befreien, und so muss der drei Tage alte Magni seinem Vater zu Hilfe eilen. Simek vermutet im Thorssohn eine Verkörperung Thors eigener Kräfte (vgl. Lex.Simek 2006, „Magni“), ähnlich dessen Tochter Þrúðr, deren Name gleichermaßen als „Kraft“ verstanden werden kann (vgl. Lex.Simek 2006, „Thrúðr“). Dann wäre Þrúðr („die Kraft“), die laut Ragnarsdrápa (1) ausgerechnet von Hrungnir entführt worden sein soll, in Gestalt des Magni („der Starke“) wieder zurückgekehrt. Dennoch bleibt der Zustand der Bewegungsunfähigkeit Thors auffallend, erzeugt durch einen mächtigen (magisch geritzten) Stein, der trotz aller Bemühungen nicht entfernt werden kann. Hier könnte ein (funerales) Bannungsmotiv durchscheinen, das schwankhaft neu plausibilisiert wurde. Der drei Tage alte Helfersohn Magni evoziert darüber hinaus ein Ähnlichkeitsempfinden zum nur eine Nacht alten Balderrächer Váli. Zu denken ist hier aber auch an eine polnische Version der Golem-Sage, in der der Rabbi Elija Ba’al Schem dem Lehmmonster durch eine List den Zauberbuchstaben Aleph von der Stirn entfernen kann (vgl. Wöll 2001, S. 235f.), dann aber begräbt der leblos zusammenstürzende Golem seinen Überwältiger ‒ auf gleiche Weise wie Hrungnir Thor ‒ unentrinnbar unter sich. Vgl. Lindow 1996, S. 4; de Vries 1956– 1957, II, S. 134. Eðr of sér, es jǫtna / ótti lét of sóttan / hellis baur á hyrjar, / haug Grjótúna, baugi; / ók at ísarnleiki / Jarðar sunr, en dunði, / móðr svall Meila blóða, / Mána vegr und hônum (Þjóð. Haustl. 14 [Ross (Hg.) 2017]). („Und man sieht auf dem Ring der Flamme des Baums der Klippenhöhle, / wie die Furcht der Riesen Grjotuns Höhe besuchte; / Jörds Sohn fuhr zum Eisenspiel, und der Weg des Mondes / dröhnte unter ihm, der Zorn schwoll Meilis Bruder“). Knôttu ǫll, en, Ullar / endilôg, fyr mági, / grund vas grápi hrundin, /ginnunga vé brinna, / þás hafregin hafrar / hógreiðar framm drógu / (seðr gekk Svǫlnis ekkja / sundr) at Hrungnis fundi (Þjóð. Haustl. 15) („Des Habichts ganzer heiliger Bezirk brannte vor Ulls Verwandtem, / und der Boden darunter wurde vom Hagelsturm durchpeitscht, / als die Böcke des Bewegers des bequemen Wagens vorwärts / zum Treffen
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nichts gesagt. So konnte Kurt Wais für den nordischen Thorskampf eine Reihe von Ähnlichkeiten zu einem hethitisch hurritischen²¹⁷ Urzeitmythos plausibel machen,²¹⁸ dem so genannten Ullikummi-Epos ²¹⁹ ‒ bezeichnenderweise sowohl in seiner ‚ernsten‘ wie ‚burlesken‘ Ausgestaltung. Entsprechend möchte Wais die Riesen-Doppelung im Norden nicht für ursprünglich halten, die „grotesken unkriegerischen Züge“ seien wohl später von der Gestalt Hrungnirs ‚abgezweigt‘ worden, zumal weder in der Haustlǫng noch im hurritischen Epos von einem Lehmriesen die Rede sei.²²⁰ Im altorientalischen Mythos wird der Gewittergott Tešub zum Bezwinger eines (einzigen) gigantischen, aus Doritstein erwachsenen Steinungeheuers Ullikummi. Es ist gemäß seiner Steinnatur ein rohes, gefühlloses Wesen, eine Steingeburt, der Gott Kumarbi hat es gezeugt, indem er seinen Samen auf einen Felsen hat fallen lassen.²²¹ Ullikummi wächst aus der Schulter der (atlasähnlichen) Gottheit Upelluri wie ein Pfahl, fest verankert, und kann auch nur auf diese Weise bezwungen werden, indem er von unten, an den Füßen, von ihm abgetrennt wird. Gerade an dieser Stelle freilich wird das Steinungeheuer der „schnelle Gott“ genannt,²²² was angesichts seiner recht eigentlich immobilen, stationären Verankerung kaum besser verständlich wird als beim „schnellen Asen“ Hœnir.²²³ Tatsächlich gelingt dem Gewittergott die Trennung mit der
mit Hrungnir zogen, Swölnirs Witwe zerbarst fast“). Þyrmðit Baldrs of barmi, / berg, solgnum þar dolgi, / hristusk bjǫrg ok brustu, / brann upphiminn, manna; (Þjóð. Haustl. 16). („Balders Bruder schonte dort nicht den gierigen Feind der Menschen, / Klippen bebten und Felsen barsten, der hohe Himmel brannte;“) (Skáldsk 17). Die (nicht indogermanischen) Hurriter übten vor allem im zweiten vorchristlichen Jahrtausend einen bedeutsamen Einfluss auf die umgebenden kleinasiatischen, hethitischen, hebräischen Kulturen aus, gleichermaßen weist ihr mythologisches Schrifttum zahlreiche Übereinstimmungen mit sumerisch babylonischen Traditionen auf (vgl. Wais 1952, S. 212 f.). Vgl. Wais 1952. Letztendlich möchte Wais von „mehr als ein[em] Dutzend“ Übereinstimmungen ausgehen, die trotz des zeitlichen wie räumlichen Abstandes kaum mehr für zufällig gehalten werden könnten (vgl. Wais 1952, S. 221). Vgl. Wais 1952, S. 223 f. Die Geburt aus Stein, sei es eines Gottes (Mithras), übernatürlicher Wesen (siehe den KybeleAttiskult), von Helden (vgl. Müller 1966, S. 499 – 502), ist reich bezeugt, meist, wenn auch nicht immer eindeutig entscheidbar, als typische Markierung einer Un- bzw. Außermenschlichkeit. Dem ossetischen Helden Sosryko wird sie auf identische Weise zugeschrieben, prima facie ohne negativen Einschlag, zumal alle Helden hier durch eine pervertierte Zeugung wie Geburt ausgezeichnet sind. Interessant genug aber wird schon der größte griechische Held, Achilles, in einer gleichsam enigmatischen Stelle der Ilias (Il. 16, 33 – 35) mit dieser Art der Entstehung in Zusammenhang gebracht, hier wiederum unverkennbar als Tadel, gerade als Erklärung für sein mitleidloses, ‚unmenschliches‘ Verhalten (vgl. Alepidou 2020, S. 10 f.). Vgl. Wais 1952, S. 219; Wais 1952, S. 224. Ganz in Entsprechung zu Hœnirs anderen Eigenschaften erscheint auch das hurritische Steinungeheuer offensichtlich „profoundly disabled“, es ist taub, blind, insbesondere erweist es sich gegenüber weiblichen Verführungsversuchen gänzlich unbeeindruckbar (vgl. Bachvarova 2017, S. 99). Allerdings scheint Ullikummi einen Entwicklungsprozess, einen buchstäblichen Härtungsprozess durchzumachen, an dessen Ende er erst der ,beinharte‘ (ḫaštališzi) Steinerne ist mit einem aus-
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‚himmlischen Sichel‘, mit der ehedem Himmel und Erde getrennt wurden, ohne dass Ullikummi dies freilich zunächst bemerkt bzw. dies wohl überhaupt für möglich gehalten hätte. In Snorris Schilderung erscheint erst dadurch eine gewisse rätselhafte Sequenz im Kampfgeschehen, wenn auch nicht unbedingt erklärlicher, so doch ganz offensichtlich ebenso ursprünglich zum Mythos gehörig: Þjalfi, der Helfer Thors, rät dem Riesen Hrungnir auf sein steinernes Schild zu steigen, da ein Angriff Thors von unten zu erwarten sei.²²⁴ Der gemeinsame Denkraum, der kosmologische Wissensrahmen, ist also auch bei Snorri vorhanden, wenn auch schon überlagert oder aktualisiert durch offenbar spätere, kabbalistische Elemente des mittelalterlichen Judentums. Kosmologische Schöpfungsprozesse interagieren mit magisch initiierten, allerdings ‒ und das in einem bedeutsamen Unterschied zur jüdischen wie ursprünglich hurritisch hethitischen Tradition ‒ auf gleiche Weise mit Belebungsvorstellungen im Rahmen des Totenkultes: Im Norden gehört die physiopoiesis, die Schaffung, die Belebung eines Körpers für den individuellen Toten dazu. Und genau an dieser Stelle kommt es offensichtlich zum Missverständnis. Snorri sieht (oder kennt) offenbar einen Zusammenhang zwischen der Buchstaben- und Zeichenmagie der jüdischen Mystiker und dem magischen Zeichen valknútr. Im Norden indes gehört dieses Symbol nicht in den Schöpfungsakt, sondern ist ein Apotropaion, eine Schutzmaßnahme gegen Tote, also nicht um Wiedergänger zu schaffen, vielmehr um sich vor ihnen zu schützen (gegebenenfalls im Rahmen einer schutzmächtigen Atmosphäre mit diesen zu kommunizieren). Der valknútr ist unter vielen Namen bekannt, tatsächlich keineswegs nur im Bestattungskontext,²²⁵ und Hrungnis hjarta mag als letzte, gelehrte Aktualisierung dazugehören, aber die Etymologisierung „Knoten der Gefallenen“ ist eine Sekundärmotivation, wenn auch zweifelsohne begünstigt gerade durch den häufigen Gebrauch im Umfeld der Gefallenen, der Toten. Das Zeichen mag in dieser Form nur im ger-
drücklich furchterregenden Haupt (vgl. Bachvarova 2017, S. 100). Damit wäre die Diskrepanz zwischen Lehm und Stein auch im hurritischen Mythos ursprünglich angelegt, wenn auch im Sinne einer Transformation. Die weiteren Unstimmigkeiten beim Kampf ergeben sich nun dadurch, dass erwartungsgemäß der Hammer Thors eine bedeutsame Rolle zu spielen hatte, gleichzeitig aber das Motiv der Abtrennung durch die Sichel übernommen werden musste. Der „Wetzstein“, der in Thors Haupt steckengeblieben sein soll, war wohl ursprünglich dem Riesen selbst zugedacht. Allerdings droht auch im ossetischen Nartenepos dieser Tod dem Helden Sosryko/Soslan beim Kampf mit dem schrecklichen Riesen Mukara, der wiederum seinerseits einzig mit seinem eigenen Rasiermesser getötet werden kann. Als Sosryko schließlich in den Besitz des Rasiermessers kommt, lässt er es über das Eis schlittern und dem im Wasser festgefrorenen Riesen wird der Kopf abgetrennt (vgl. Soslan und die Söhne des Tara [Übers. Sikojev 2005]). Aber auch der größte Held der Narten verzagt zunächst angesichts seiner Aufgabe und verschweigt aus Furcht seine eigentliche Identität. Und ebenso wie der hurritische Gewittergott schreckt Thor vor dem Monster-Kampf zurück (vgl. Wais 1952, S. 225). Das auffallende Element der Feigheit scheint also alt und fest verwurzelt in diesem Motivkomplex. Entsprechend scheint der neutrale Begriff „Nordisches Dreiecksymbol“, das Tom Hellers dafür vorschlägt, tatsächlich angebrachter (vgl. Hellers 2012, S. 7).
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manischen Kulturraum nachgewiesen sein,²²⁶ es gehört aber in den übergeordneten Symbolpool der Pentagramme, Hexagramme, Drudenfüße, ein Binde- wie AbwehrZauber, dessen genaue Funktionsweise im Konzept des magisch gezeichneten Knotens liegt. Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema Knotenmagie muss einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben, aber ähnlich wie im seiðr-Zauber beruht die übernatürliche Wirkweise des Knotens keineswegs ausschließlich auf der Vorstellung einer eben ins magisch erweiterten Alltagsfunktion, seiner Bindekraft. Die Triskelen, Triquetren, Endloszeichen, Spiralen, Verschlingungen, ‚Sonnenwirbel‘ u. ä. fungieren vielmehr ‒ vielleicht sogar hauptsächlich ‒ im Sinne eines trompe-l’œil: Die Täuschung, die Verwirrtheit, die Irritation des Auges, auch und gerade der außerirdischen missgünstigen Wesen, der Dämonen, der Toten, soll eine Verwirrtheit des Geistes bewirken und dadurch deren kognitive, geistige Bannung.²²⁷ Die entsprechende rituelle Praxis ist neben der magischen Handlung des Knotenknüpfens das ristu-bragð, das zauberische Aufzeichnen oder Einritzen des Knotensymbols.²²⁸ Der
Vgl. Hellers 2012, S. 8. Expressis verbis nennt Audrey L. Meaney das triquetra-Ornament eines goldenen Fingerrings aus Ostengland „a trompe-l’œil form“. Zweifelsohne musste gerade hier der Versuch, den Linien mit den Augen zu folgen, den Betrachter verwirrt zurückgelassen haben: „[O]ne angle is unfinished“ (Meaney 1981, S. 174). Die primäre Funktion des Ablenkungsmanövers wird man auch für die in Haithabu gefundenen wikingerzeitlichen Messerverzierungen (vgl. Hellers 2012, S. 36) in Anschlag bringen können, was dem Besitzer gegenüber einem (realen wie imaginären) Angreifer einen wertvollen Zeitvorsprung liefert. Eine nachgerade beeindruckende Redundanz an visuellen Irritationssymbolen zeigt sich etwa auf dem Bildstein von Stenkyrka Lillbjärs III, dessen Funktion wiederum eindeutig im Toten(bann)kult zu verorten ist. Auch wenn die Bezeichnung valknútr möglicherweise im Mittelalter als solche noch nicht bekannt ist (vgl. Hellers 2012, S. 46), so wird sie doch als Weiterführung oder synonymisch zu ristu-bragð aufzufassen sein. Das Erstglied val- muss zu an. vél (væl) gestellt werden, „an artifice, craft, device“, insbesondere „a wile, device, trick“ (vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „vél and væl“), das ‚kunstvoll wie trickreich Geflochtene (oder Geritzte)‘. Siehe ähnlich an. bragð, ae. brœgd „kunstgriff, betrug, list“ (an. etym.Wb 1962, „bragð“). Die Angleichung an val „die Toten auf dem Schlachtfeld“ ist ebenso sekundär wie dän. valle-, valkeknoten, oder gar nhd. Waldknoten. Es ist nicht der ‚welsche‘ Knoten, und nichts spricht für eine Verbindung zum mythischen Váli (siehe die Belege bei Hellers 2012, S. 46 f.). Auch der angelsächsische True Love Knot, eine Knotenform, die in allen Arten romantischer, zwischenmenschlicher Bindungen eine besondere, symbolische Rolle spielt und manches Mal mit dem valknútr austauschbar erscheint, ist eine Neumotivierung aus dem Altdänischen: „Trulofa, fidem do, I plight my troth, or faith“ (Brand und Ellis 1849, S. 109). Grundsätzlich können unterschiedliche Knotenformen mit dem gleichen Namen belegt sein, ebenso aber das eigentliche Denotat mit unterschiedlichen Namen: „Ofta torde man kallat en konstig knut i allmänhet för valknut“ (Öhrvall 1916, S. 111). Von dem Zeitpunkt an, wo die Knoten ihre wirkmächtige, zauberische Bedeutung verloren, mussten auch deren Bezeichnungen, die in einem magischen Wissensrahmen gegründet waren, neu motiviert werden. Eine handschriftliche Zusammenstellung von Synonymen im Handskriven ordbok 1755 (Sv. Akads. bibliotek) ist dabei in jeder Hinsicht aufschlussreich: „Quasi ut wald knut eller valkad knut, Hårdknut, nodus gordius, nodus adamantinus, inexplicabilis lagneus. Angl.Wale-knot, adamantine ties. Germ. Zweifels Knoten“ (zit. n. Öhrvall 1916, S. 222). Vermutlich war es der Hårdknut, der „harte Knoten“, der nodus adamantinus, der „steinharte Knoten“, der „Knoten hart wie Diamant“, der die semantische Brücke zu Hrungnis hjarta lieferte. Auch das deutsche Synonym Zweifelsknoten wird ursprünglich nicht der
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kabbalistische Golem wird ausdrücklich mithilfe des Tetragrammatons, der Buchstaben des Namen Gottes, des Siegels Gottes belebt, häufig genug erscheinen diese kombiniert mit dem Pentagramm, dem magischen Fünfeck oder dem Magen David, dem „Schild Davids“, dem Hexagramm des jüdischen Davidsterns. König David selbst soll sein Schild im Krieg zum Schutz mit bewährten magischen Zeichen versehen haben.²²⁹ So wäre es immerhin denkbar, dass Snorri dieses Motiv des magisch präparierten Schilds aus der jüdischen Tradition bekannt war, und, wenn auch nicht mehr ganz schlüssig, als zu diesem Kontext zugehörig empfand. Nun ist die Belebung des Lehmriesen mit dem Herzen einer Stute im Gegensatz dazu eine rein nordische Vorstellung. In beeindruckender Übereinstimmung erschafft auch Jarl Hákon zusammen mit den Götterschwestern Þorgerðr Hǫrðabrúðr (Hǫrgabrúðr) und Irpa einen trémann, einen hölzernen Homunculus aus einem Baumstamm. Die Göttinnen freilich sind ihrerseits nichts anderes als hölzerne Statuen, gleichzeitig aber quicklebendige, denkende und planende Wesenheiten. Und durch eine Reihe rituell magischer Handlungen wird nun ein weiterer ehedem lebloser Baumstrunk mit eben diesen Eigenschaften versehen. Er erhält das Herz eines zuvor getöteten Mannes, das Zaubertrio kleidet ihn, gibt ihm einen Namen, bis schließlich ein, wenngleich begrenzt handlungsfähiges, doch offenbar anthropomorphes, mobiles Wesen entsteht.²³⁰ Cole sieht auch in dieser Episode (neben den Ereignissen um Mǫkkurkálfi und Hrungnir) „[a] further possible footprint of the golem heading northwards“.²³¹ Er verweist auf die offensichtlichen Ähnlichkeiten im rituellen Handeln, den rituellen Ersatz, der hier wie da für das menschliche Herz, die Lebenskraft geleistet werden muss. Aber wenn auch sein Hinweis durchaus bedenkenswert ist, dass jener Holzmann, ungewöhnlich für seine hölzerne Materialität, nach getaner (bzw. misslungener) Arbeit – ganz nach Art des Golem ‒ einfach im Boden verschwindet,²³² so wird doch eher der umgekehrte Fall angenommen werden müssen. Der animierte Holzmann Þorgarð (der Name in enger Anlehnung an seine Mitschöpferin Þorgerðr Hǫr-
‚zweifelhafte‘ Knoten bedeutet haben, die Bezeichnung bezieht sich vielmehr zunächst auf seine Machart, „aus einem *zwîfalt-, *zweifaltknoten“. Allerdings erscheinen gerade dessen metaphorischen Verwendungen bedeutend häufiger und älter, etwa für eine „verwirrende, schwer entscheidbare frage“; „verbum perplexabile“, „zweifelknoten machen perplexari, ambigue loqui“ (DWb, „zweifel(s)knoten“). Ähnlich Zweifel(s)strick: „,doppeldeutigkeit‘: doch mainen etlich, dis antwurt möge wol ain zwifelstrick und amphibolus sein“ (DWb, „zweifel(s)strick“). Vgl. Oegema 1991, S. 16. Die „sprichwörtliche Weisheit“ des Königs Salomon wird in späterer, nachbiblischer Tradition mit seiner Macht über die Dämonenwelt verbunden. Durch einen Siegelring („das Siegel Gottes“), den er vom Erzengel Michael erhalten hat, vermag er alle Dämonen gefangen zu nehmen und zu überwältigen (vgl. Oegema 1991, S. 18). Auch der Koran (Sure 21) kennt Salomon und David als Hersteller zaubermächtiger Schutz- und Verteidigungswaffen, von „Panzer[n]“, ebenso als Dienstbarmacher von Dämonen (vgl. Oegema 1991, S. 21). Siehe Þorleifs þáttr jarlsskálds, Kap. 7 (Jónas Kristjánsson [Hg.]1956b). Cole 2014, S. 259. Vgl. Cole 2014, S. 259.
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ðabrúðr) ist ja im Norden keineswegs der einzige seiner Art.²³³ In der Ragnars saga loðbrókar erscheint eine ähnlich konzipierte Gestalt, allerdings mit einer leichten, aber bedeutsamen Abwandlung: Hier verkörpert der trémann explizit eine bereits gestorbene Gestalt, einen Toten, und ist damit in letzter Konsequenz ein draugr, ein Untoter. Fernando Guerrero möchte sogar davon ausgehen, dass die beiden Begriffe im Altnordischen synonym verwendet wurden.²³⁴ Zweifelsohne, die Eigenschaften und Fähigkeiten, die dem richtigen Menschen zukommen, lá, lito goða, óðr, ǫnd, fehlen auch dem draugr in dieser Vollständigkeit,²³⁵ der (Un)tote ist ein defizitäres Wesen, ein Mängelexemplar, dem einige (aber nicht einmal alle oder noch nicht alle) dieser primordialen Gaben verlustig gegangen sind ‒ eben durch seinen Tod. Damit wäre der Bogen gespannt vom Konzept der allerersten Menschwerdung über den magischen Adlatus hin zum Vorstellungskomplex des draugr. Und so wie Rabbi Zêrā den stummen, minderwertigen, künstlich belebten Lehmmenschen, den ihm wohlgemerkt seine Zauber-Kollegen gesandt haben, einfach zurückschickt und zu Staub zerfallen lässt, schicken doch auch die Vanen-Zauberer einen Toten, einen Untoten zurück, wenngleich das als angemessene Behandlung dem stummen, nutzlosen Hœnir hätte zukommen müssen. Aber hier scheint die ursprüngliche logische Verknüpfung nicht mehr verstanden worden zu sein. Soviel aber scheint sicher: Die Maßnahmen, die in der Ynglinga saga als Geiselaustausch beschrieben werden, gehören in den Bereich des Totenkults. Ehedem belebte Materie wird wiederbelebt (so etwa Mímir widerfahren), noch unbelebte Materie belebt: Kvasir entsteht aus den Resten eines alkoholischen Getränks, als alkoholisches Getränk. Es ist dieses Doppelverständnis, die Animierung von Totem wie Reanimierung von Toten, das Hœnir unversehens unter Snorris Hand zu einem (weiteren) nordischen Golem mutieren lässt. Mit Odin und Loki/Loðurr ist er ‚Mann der ersten Stundeʻ, im Kontext der Ynglinga saga ist er indes als Mann der ‚letzten Stundeʻ konzipiert: Hœnir ist ein Toter, genauer ein wiederbelebter Toter, ein restituiertes Mängelwesen.²³⁶ Aber auch als
Auch die Übereinstimmungen zum humanen (biologischen, kulturellen) Schöpfungsakt, den das Asen-Trio am Anfang aller Zeiten vollbringt, sind augenfällig. Vgl. Guerrero 2003, S. 33: „[A] case in which ,tremannʻ is used as a synonym of ,draugrʻ. This would imply that my theorie is right and there is an association between the wooden nature of mankind and the idea draugar being some sort of ,livingʻ pieces of wood preserving at least one of the gifts of the gods.“ Vgl. Guerrero 2003, S. 35. Nicht anders kennen die keltischen Quellen dieses Konzept: Auch hier gelingt (wiederum ganz ähnlich einem Hœnir und Golem) wohl die (Wieder)herstellung einer Beweglichkeit, allerdings bei bleibender Sprachlosigkeit. Birkhan verweist auf die walisische Erzählung Branwen verch Lŷr („Branwen, die Tochter des Llýr“), in der von einem (für Rekreationsmythen so typischen) Wunderkessel berichtet wird, peir dadeni („Kessel der Wiederbelebung“), der auch hier die über Nacht Erschlagenen wieder zum Leben zu erwecken vermag: Wohl werden die Toten wieder beweglich, müssen aber stumm bleiben: „Sie werden also nicht zu gewöhnlichen Menschen wiederbelebt, sondern zu einer Art ‚Untoterʻ, denen das Sprachvermögen als ein wesentliches Element der Menschen fehlt“ (Birkhan 2009, S. 95).
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‚Mann der ersten Stundeʻ ist Hœnir wie Odin wie Loðurr liminal, defizitär, unvollständig. In seinen Attributen, in denen Snorri die eines Golem zu erkennen glaubt,²³⁷ ist gerade die chaotische Unvollständigkeit, die Defizienz, die Abweichung der Anfangsgestalt, des Gründers gefasst. Und wie bei Odin und Loðurr ist dies durch eine Art Gehauffälligkeit oder Behinderung kodiert (auf die Ähnlichkeit der Konzeptualisierung des gleichermaßen nicht gut gelungenen ersten Menschenschlags, des Knechtstands der Rigsþula sei an dieser Stelle nur erinnert). Wir müssen weitere Überlegungen in diese Richtung für den Moment hintanstellen (siehe Kap. 12.1.4), denn zunächst gilt es, unter diesen neuen Vorzeichen die Götter-Kategorie der Vanen, ihren Kult nochmals zu betrachten.
6.10 Die Kunst der Totenerweckung In der Ynglinga saga geht es nicht um bizarre Braukunstmythen, um betrogene Geiselnehmer, ja nicht einmal um Austausch magischer Kenntnisse: Es geht um einen Transformationsprozess weit größeren Ausmaßes. In vielfacher Variation begegnen wir nicht nur den unterschiedlichsten, bizarrsten, ja nachgerade lächerlichsten Formen des Sterbens, dem Beginn dieses Transformationsprozesses, auf gleiche Weise treffen wir auf eine Variationsbreite an Darstellungsformen des Ergebnisses dieses Prozesses: den vergöttlichten Ahnen. Es geht um die Kunst der Totenerweckung. Das altindische Epos Mahābhārata kennt diese Kunst als Sanjivani, „re-vivification“.²³⁸ Bezeichnenderweise ist die Ausgangslage im altindischen Kontext in etwa die gleiche wie sie im Verlauf des Asen-Vanen-Krieges anzunehmen ist: eine militärische Pattsituation. Seit alter Zeit herrscht ein beständiger Kampf zwischen den Göttern und den so genannten ‚Dämonenʻ um die Vorherrschaft. Die Dämonen haben aber den überaus weisen Brahmanen Sukra in ihren Diensten und dieser vermag die im Kampf Gefallenen stets wieder zum Leben zu erwecken. Sie kehren zurück und kämpfen erneut gegen die Götter. Also wird der junge Kacha dazu auserkoren, Schüler des weisen Sukra zu werden, um in den Besitz des Geheimnisses zu gelangen. Kacha gelingt es, das Vertrauen des Brahmanen und dessen Tochter zu erlangen, bis schließlich die Dämonen den wahren Grund seiner Anwesenheit erfahren. Dreimal töten sie diesen, jedes Mal wird er durch die Kunst seines Meisters wieder ins Leben zurückgerufen. Er wird zerstückelt, verbrannt, in Flüssigkeiten gemischt (einschließlich Wein, den sein Meister versehentlich samt ihm verschluckt). Dustin Tranberg verweist auf die Ähnlichkeiten zum Raub des Dichtermets durch Odin, insbesondere aber zum nordischen Gullveig/Kvasir-Mythos: Meili kann zu altir. meilge, meile gestellt werden, „der Tunichtgut, der Narr, der Schwachkopf“ (eine Bedeutung, die „Golem“ im Übrigen im Neuhebräischen angenommen hat). Vgl. eDIL, „1 meile“: „a disparaging term applied to a person: a fool? a good-for-nothing?“, „a coward, a sluggard“, „the characteristic of an imbecile“. Mahābhārata 1, 76.
6.10 Die Kunst der Totenerweckung
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Kaha exhibits an almost bewildering display of similarities to characters in both mythos. He seduces and abandons the secret-holder’s daughter, like Odinn. He is dismembered like many Indic characters, notably Purusha, Mada, and Agni, as well as Ymir and Kvasir. He is pulverized and mixed with liquid, like Kvasir. He is killed three times, like Gullveig. He is burned to death, like Gullveig, and perhaps like Soma himself. His ashes are mixed with wine, and drunk, and it is this form, the alcoholic drink, which is successful in obtaining the secret.²³⁹
Tatsächlich vermutet auch Ursula Dronke in Vsp 24 ein Wiedergeburtsmotiv: Fleygði Óðinn oc í fólc um scaut, / þat var enn fólcvíg fyrst í heimi; / brotinn var borðveggr borgar ása, / knátto vanir vígspá vǫllo sporna; eine schwierige Stelle, die z. B. folgendermaßen übersetzt wird: „Odin schleuderte den Speer und schoss ihn ins Heer, / das war der erste Kampf in der Welt; / gebrochen war der Wall der Burg der Asen, / schlachterprobte Wanen durchstreiften das Feld.“ Dronke möchte indes knátto […] vǫllo sporna als Idiom für „zur Welt kommen, geboren werden“ verstehen.²⁴⁰ Trotz Odins Speerattacke seien die Vanen wieder ins Leben gekommen, neu geboren durch einen vígspá, einen Zauberspruch, eine „resurrecting magic“.²⁴¹ Vielleicht tatsächlich nicht unähnlich dem Sanjivani, dem Totenerweckungsspruch des weisen Sukra, der schließlich auch im Altindischen gezielt für militärische Zwecke eingesetzt wurde und zur Unbesiegbarkeit der Dämonen beitrug. Als Paradebeispiel freilich für die finstere Kunst, Leben ‒ und Kämpfe ‒ auf unnatürliche Weise bis ins Unendliche zu verlängern, wird im Norden das Hjaðningavíg gelten dürfen,²⁴² es ist die nämliche Magie der Totenerweckung, die Freyja (bzw. Hildr Hǫgnadóttir) anwendet: Die Kämpfer sind tot, gleichzeitig am Leben gehalten, ins Leben zurückgerufen, unsterblich gemacht durch seiðr, den berüchtigten Vanen-Zauber.²⁴³ Wenn auch auf ganz andere Art, ist auch die Gestalt des Óláfr Geirstaðaálfr mit einem Wiedergeburtskonzept verbunden: Materie, die sonst in einem komplizierten rituellen, zauberischen Prozedere hergestellt werden muss, entsteht gewissermaßen auf natürliche Weise, im Rahmen einer biologischen Generationenfolge. Er wird als Wiederverkörperung in Óláfr Haraldsson, dem späteren Óláfr inn helgi vermutet.²⁴⁴
Tranberg 1992. Mit Verweis auf Oddrúnargrátr 7, 8: ríct gól Oddrún, ramt gól Oddrún, / bitra galdra, at Borgnýio. („Oddrun sang kräftig, Oddrun sang mächtig / wirkende Zauberlieder der Borgny.“) Knátti mær oc mǫgr moldveg sporna, / born þau in blíðo við bana Hǫgna; („Eine Maid und ein Knabe konnten den Erdweg beschreiten, die lieblichen Kinder von Högnis Töter“). Dronke 1988; Dronke 1992, S. 230 f.; Dronke 1969 – 2011, S. 42 f. Siehe Skáldsk 49, Ragnarsdrápa, Sǫrla þáttr, Gest.Dan. 5. Siehe auch die ganz ähnliche Totenerweckungsaktion in der Hrólfs saga kraka (Kap. 51), wo Hrólfs Halbschwester Skuld, bezeichnenderweise Tochter einer álfskona, diese Kunst beherrscht, ebenso der (wenngleich durch einen Gegenzauber vereitelte) Versuch des Zauberers Grímr in der Gǫngu-Hrólfs saga (Kap. 33) (vgl. Ellis 1968, S. 78 f.). Vgl. Óláfs saga hins helga (Flateyjarbók II): Óláfs þáttr Geirstaðaálfs (Guðbrandur Vigfússon und Carl R. Unger [Hg.] 1860 – 1868, S. 6 – 9). Zunächst erscheint der Totengeist Óláfr Geirstaðaálfr einem Mann namens Hrani im Traum, eine übliche Art der Kontaktaufnahme der Toten mit den Lebenden, und damit leitet er seine Transformation, seine Neuschöpfung ein. Er trägt dem Mann auf, in seinen
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6 Freyr-Gestalten
Auch die Helgilieder wissen von der Idee der Wiedergeburt, so heißt es in der Helgakviða Hjǫrvarðssonar eher lakonisch, Helgi und Svava würden wiedergeboren (væri endrborin), so auch die Helgakviða Hundingsbana II (þat var trúa í forneskio at menn væri endrbornir). Diese Übertragungsvorstellungen scheinen fest im Allgemeinwissen, im traditionellen Volkswissen, í forneskio, verankert gewesen zu sein, auch wenn sie in gleichem Atemzug als antiquierte, überkommene Vorstellungen „alter Frauen“ (þat er nu kǫlluð kerlingavilla, HH II, 51)²⁴⁵ abgelehnt werden.²⁴⁶ Nicht wenig bezeichnend entsprechend die massive Abwehrhaltung, die der Christ Olaf (nicht zuletzt wohl gegen seine eigene ,natürlicheʻ Überzeugung) aufbringen muss.²⁴⁷ Und auch beim Gott Freyr scheint eine von offenbar mehreren möglichen Inkarnationen die des neugeborenen Säuglings. Der Hinweis auf ein ,Zahngeschenkʻ, das er als Säugling erhalten haben muss, weist in diese Richtung. Gerade im Rahmen von Begräbnisriten gibt der Zahnstatus des Toten wichtige Anhaltspunkte über die Art, ja überhaupt Notwendigkeit eines Ritus, der ihm zukommen muss. Üblicherweise seien „bestimmte Kategorien von Individuen vom normalen Begräbnisritual absichtlich ausgeschlossen“²⁴⁸ und dies gelte zuallererst für Kinder.²⁴⁹ Erst mit Durchbruch der Milchzähne gilt das Kind in vielen Kulturkreisen als richtiger Mensch, als eigentliches Gemeinschaftsmitglied, erst jetzt lohnt sich der hohe Begräbnisaufwand, Kompensationen wie therapeutische Maßnahmen am Leichnam. So berichtet auch Plinius, es sei bei keinem Volke gebräuchlich, einen Menschen zu verbrennen, bevor er die Zähne be-
Grabhügel einzubrechen und gewisse Gegenstände, die der Tote selbst direkt am Leibe trägt, daraus zu entnehmen, unter anderem einen Gürtel, der der Königin Asta in ihrer Geburtsstunde umgelegt werden solle. Durch dieses konkrete Kontagion findet nun eine Art übernatürliche Übertragung statt, nicht nur, dass die Geburt dadurch überhaupt erst gelingt, es ist der Geist des Toten Óláfr Geirstaðaálfr selbst, der sich nun in dem Neugeborenen materialisiert. Die Namengebung schließt diesen Translationsprozess ab. Wohl christlich motiviert, aber vielleicht nicht einmal ausschließlich: Auch pagane Glaubenskonzepte sind keineswegs statisch, sie entwickeln sich, müssen sich gegebenenfalls aktualisieren im Rahmen konkurrierender Deutungssysteme. Mag sein, dass der spätpagane Kriegerhimmel Walhall hier mehr Plausibilität für sich in Anspruch nehmen konnte, gegebenenfalls auch als Reaktion auf synkretistische Einflüsse von außen. Vgl. Hultgård 2007a, S. 677. Vgl. Óláfs þáttr Geirstaðaálfs, Flateyjarbók II, S. 135. Als ein Begleiter Olaf Haraldsson direkt die Frage stellt, ob er in diesem Grabhügel begraben worden sei, weist er das mit den Worten zurück, sein Körper könne keine zwei Seelen besitzen, und wenn er selbst, Olaf, etwas anderes behaupten würde, wäre das unvereinbar mit dem jetzigen (christlichen) Glauben.Weiter aber weiß die Saga zu berichten, dass gerade diese Frage ihn tief aufgewühlt habe. Man hat bekanntlich ganz im Gegensatz dazu in der Erzählung über Óláfr Geirstaðaálfr christliche Anklänge sehen wollen, eine Art Reflex auf einen christlichen Heiligenkult des 12. Jhs. Unabhängig davon, dass eine solche christliche Praxis auf keine Weise das Epithet álfr erklären würde (vgl. Hall 2004, S. 34), ist auch der christliche Heiligenkult keineswegs ex nihilo entstanden, er führt vielmehr in ungebrochener Kontinuität einen griechischen Heroenkult fort, und das ist ein Toten- und Ahnenkult par excellence (vgl. Pfister 1974; vgl. Pache 2004, S. 2 f.). Hertz 2007 [1907], S. 162. Vgl. Hertz 2007 [1907], S. 162 f., Anm. 327.
6.10 Die Kunst der Totenerweckung
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kommen habe (hominem prius quam genito dente cremari mos gentium non est).²⁵⁰ Aber als bezahntem Kind kommt Freyr nun eine angemessene Bleibe im Jenseits zu mit all den Versorgungsansprüchen und Vergünstigungen des Ahnenkults. Das also sind die vísir vanir, das ist ihre ureigenste Wesensform, deshalb können sie nicht ohne weiteres getötet werden, „at least not by normal means“,²⁵¹ nicht eine Gullveig, nicht ein Kvasir, selbst Njǫrðr wurde, oft übersehen, erschaffen (scópo hann vís regin). Er ist ein ,Produktʻ von den Göttern, den Vanen, hergestellt in einem zauberischen seiðr-Akt in Vanaheimr. So kann er in der Welt der Lebenden, der Asenwelt agieren, auch wenn wir von seiner konkreten Materialität nichts erfahren.²⁵² Am Ende aller Tage (í aldar rǫc), dem Untergang der Welt, stirbt er entsprechend nicht, er wird vielmehr „heimkehren“ (koma heim) zu den „weisen Wanen“, wie es in den Vm 39 so enigmatisch beschrieben steht.²⁵³ Ein mythisches, ein eschatologisches Ereignis, das Tolley wiederum im Nerthusritus wiederholbar, zyklisch, ausagiert sieht: The return home of Njǫrðr in Vafþrúðnismál at the eschaton may be a mythic representation of a rite closely related to that recounted by Tacitus concerning Nerthus, who came from her island sanctuary, spending time among her peoples, then returned at the end of the season, encapsulating the principle of the ebb and flow of the land’s productivity.²⁵⁴
Nerthus wird (turnusmäßig) mobil, beweglich und damit handlungsfähig gemacht im Rahmen eines notwendigen, gewünschten, aber rituell begrenzten Austausches. Dann kehrt sie zurück, müde, in die Abgeschiedenheit ihres ‚Tempelsʻ, einer Insel im Meer. Und so wie die Hedingskrieger endlich heimkehren, sterben können durch christliche Erlösungskraft, sprich durch den Gegenzauber eines neuen, mächtigeren religiösen Systems (in anderer Version an Ragnarǫk), so wird Njǫrðr heimkehren am Ende aller Tage. Die Andersheit der Vanen ist eine tödliche Andersheit, Alaric Hall sieht gewiss zu Recht álfar und vanir letztendlich als Synonyme, sie referierten auf einen (nahezu) gleichen Vorstellungsinhalt.²⁵⁵ Entsprechend gleicht die Qualität ihres Aufenthaltsortes nicht ohne Grund der von Hel, Jǫtunheimr und Muspell: Nat. hist. 7, 72 (König und Winkler 1996 [Hg.]). Tolley 2011, S. 24. Der Hinweis in Skáldskaparmál (1) auf die schönsten aller Füße, die ausgerechnet Njǫrðr besessen haben soll, mag in diesem Sinne als Tabuisierung gerade jenes Körperteils gelesen werden, an dem primär oder zuallererst Identität und Schönheit wie Verfall und Defizienz festzumachen sind, dem Gesicht. Dessen übliche Verhüllung im Bestattungskult trägt dem Rechnung. Í Vanaheimi scópo hann vís regin / oc seldo at gíslingo goðom; / í aldar rǫc hann mun aptr koma / heim með vísom vǫnom (Vm 39). („In Wanenheim erschufen ihn weise Ratende / und gaben ihn als Geisel den Göttern; / am Ende der Welt wird er wieder / heimkehren zu den weisen Wanen.“). Tolley 2011, S. 25. Siehe Hall 2007, S. 27: „However, it is worth emphasising that Gylfaginning and Ynglinga saga aside, vanr is a rare word in Norse and unattested elsewhere in the Germanic languages, whereas álfr is well attested, widespread and with a range of clear Indo-European cognates. Whereas in Gylfaginning the gods are divided into the æsir and vanir, our other evidence, including Skáldskaparmál, repeatedly
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6 Freyr-Gestalten
Yet the fact that the world of the Vanir is not affected by ragnarǫk – precisely like Hel, Jǫtunheimr and Muspell […] – tells us something about the Vanir, placing them and their home in the other world or in a sphere of similar significance, which can confirm the hypothesis about their rather chthonic, perhaps ‚elvishʻ, or even partly demonic character.²⁵⁶
Aber das sind wohl keine ,sicheren Rückzugsorteʻ, wie Leszek Słupecki zunächst vermuten möchte, dass auf diese Weise die Vanen (im Gegensatz zu den Asen) beim Weltuntergang eine sichere Bleibe gefunden hätten: „[O]ne may assume that the world of Vanir (which may quite naturally be called Vanaheimr) will be a safe shelter during the end of the world.“²⁵⁷ Das sind Orte des Todes, sie sind Teil des Systemaußens – auch und gerade für Hœnir, den Słupecki hier lediglich gut aufgehoben wissen will bis nach Ragnarǫk, damit er in einer erneuerten Welt den Loszweig, den hlautviðr ergreifen könne.²⁵⁸ Das semantische Spektrum von hlaut(r) ist durchaus schwierig zu fassen, aber auch in diesem Kontext einschlägig. Klaus Düwel geht davon aus, dass Snorri diesen Begriff falsch verstanden habe im Sinne eines Opferterminus. Dagegen habe hlaut(r) aber wohl relativ sicher nicht „Opferblut“ bedeutet und dann der hlautteinar wohl gewiss auch nicht „Opferzweig“.²⁵⁹ „Most likely hlaut originally referred to a ‚lotʻ used in divination rituals,“²⁶⁰ so Sundqvist, entsprechend kann hlaut(r) gut in seiner ursprünglichen Bedeutung belassen werden: „Los, Anteil“. Dieser ‚Anteilʻ meint indes nicht einen Opferanteil in einem wie auch immer gearteten sakrifiziellen Kontext, es geht um einen Rechtsakt (der freilich in vormodernen Vorstellungen nicht von einem rituell religiösen Akt zu trennen ist): Bei Gründungsakten, Landnahmen u. ä. entscheiden die Ahnen über Landverteilung und Zuweisungen wie Übergaben, ausdrücklich ist ihre Zustimmung notwendig (siehe got. hlauts „Erbschaft“, ahd. hlōz „Los, Eigentum“, griech. κλῆρος „Los, Erbe, Landlos, Landgut, Grundstück“).²⁶¹ In diesen Sinnbezirk gehört auch der hlutr der Vatnsdœla saga, jenes rätselhafte ‚Dingʻ, mithilfe dessen der Gott Freyr dem menschlichen Landnehmer Ingimundr seinen Willen kundtut und eine Neuansiedlung in Island anzeigt. Vom König Haraldr hárfagri selbst überreicht lässt dieser keinen Zweifel: „Freyr wird dort seinen Talisman (hlutr) ankommen lassen, wo er seinen Ehrensitz errichten will.“²⁶² Was also die ǫndvegissúlur, die Hochsitzpfeiler, im Großen, ist der hlutr, hlaut(viðr) im
prefers to speak of æsir and álfar. The possibility arises that vanr and álfr originally denoted essentially the same mythological construct, their dissimilation in Gylfaginning perhaps reflecting Snorri’s systematising mythography.“ Słupecki 2011, S. 12 f. Słupecki 2011, S. 12. Vgl. Słupecki 2011, S. 12: „Hœnir decided to remain there a bit longer, waiting until the battle was over. In this way, both these gods survive!“ Vgl. Düwel 1985, S. 32 f. Sundqvist 2015, S. 317 f. an. etym. Wb 1962, „hlautr“. Meulengracht Sørensen 1992, S. 722. ([O]k vili Freyr þar láta sinn hlut niðr koma, er hann vill sit sœmðarsaeti setja [Vatnsdœla saga, Kap. 12]).
6.10 Die Kunst der Totenerweckung
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Kleinen.²⁶³ Nirgends deutlicher zeigt sich hier die Funktion des vergöttlichten Ahnen, des Gründers, am wenigsten ist Freyr hier Fruchtbarkeitsgott: Meulengracht Sørensen weist auf einige einschlägige Parallelkonstruktionen der Gründungssage zum FreyrMythos hin: Obwohl tödlich verletzt, ,verheimlicheʻ Ingimundr seinen todgeweihten Zustand, dies wecke Assoziationen an Freyrs eigenen Tod, der ja ebenso drei Jahre lang geheim gehalten worden sei.²⁶⁴ Wir haben dies bereits als Übergangsritus, als Sekundärbestattung im Rahmen eines Begräbniskontextes beschrieben. Auch der Umstand, dass Ingimundr ausgerechnet in seinem Hochsitz tot aufgefunden wird, erinnert unbedingt an Freyrs eigenes Dahinsiechen, an seine tödliche Schwäche, die
Der hlutr sei in Gestalt eines silbernen Freyrfigürchens oder Bildchens gewesen, das man in die Tasche stecken konnte. Eine Verbindung zu figürlichen, ithyphallischen Amuletten aus Bronze, etwa der Freyrstatuette aus Rällinge, Södermanland, ist wahrscheinlich (vgl. Hultgård 2003, S. 137 f.). Insbesondere wird aber an die guldgubber („Goldmännchen“) der jüngeren Eisenzeit gedacht werden müssen, „kleine[ ] Platten aus Gold, mit eingeprägten Bildern entweder eines Mannes und einer Frau oder eines Mannes allein“ (Meulengracht Sørensen 1992, S. 725). (Der weitaus überwiegende Teil der Funde freilich, als dessen Zentrum Bornholm erscheint, stellt eine einzelne männliche Person dar, vgl. Ratke und Simek 2006, S. 259). Sowohl die archäologischen wie literarischen Quellen legen nahe, dass die Guldgubber in engster räumlicher wie symbolischer Beziehung zum Hochsitz(pfahl) stehen (vgl. Meulengracht Sørensen 1992, S. 725). Sie erscheinen aber nicht nur im Zusammenhang mit konkret wie symbolisch vollzogenen Gründungsakten,vielmehr in der Ahnen-Kommunikation schlechthin: Sharon Ratke und Rudolf Simek führen eine weitere Untergruppierung in die ikonographischen Darstellungsformen der Guldgubber ein, die im Kontext von Ahnenkult und Gründung in jeder Hinsicht einschlägig ist. Neben „male, female, doublegubber“ entwerfen sie die Gruppe der „wraiths“ (Ratke und Simek 2006, S. 259), „Schemen“ (Ratke 2009, S. 79 – 94). Wraiths würden nahezu kleiderlos, stark schematisiert, gesichtslos wie geschlechtslos dargestellt, ganz im Gegensatz zur Überbetonung der Hände und gewissen, damit verbundenen Handgesten (vgl. Ratke und Simek 2006, S. 259). Diese wiederum können gut in der mittelalterlichen Ikonographie identifiziert werden (siehe etwa Sachsenspiegel) zur Markierung körperlich stark eingeschränkter, toter Menschen: „It is a natural consequence that dead persons are shown with a gesture of refusal or incapability“ (Ratke und Simek 2006, S. 262). Dazu passt der Gestus der ausgestreckten Zehen, „as if on tiptoe or lying down“ (Ratke und Simek 2006, S. 260). Die Gruppe erscheint also in konventionalisierten Darstellungsformen von Geistwesen, toten Menschen. Nun machen die weiteren symbolischen Darstellungen (Hochzeitgestus, Eidesgestus, Vertragsbesiegelung u. ä.) eine Verbindung zu einem wie auch immer gearteten Rechtskontext sehr wahrscheinlich (vgl. Ratke und Simek 2006, S. 263). Ratke schlägt entsprechend als mögliche Interpretation Erbschaftsangelegenheiten vor (vgl. Ratke 2009, S. 211). Um ein rein juristisches, profanes Prozedere wird es sich dabei allerdings kaum gehandelt haben. Denn Ratkes weiterer Vorschlag, die Guldgubber als eine Art von Gedenken an die in der alten Heimat verstorbenen Verwandten zu sehen, schließlich seien diese bedeutend einfacher zu transportieren gewesen als die Toten selbst (vgl. Ratke 2009, S. 213), kommt der Idee der portablen Ahnen, dem ,Ahnen in der Tasche‘ schon recht nahe: als die äußerste, symbolische Abstraktion der Wirkmächtigkeit, der Legitimation der Leiche selbst. Zum funeralen Kontext passt auch das von ihr vermutete Provisorium im rituellen Handeln: „Die Guldgubber konnte man dann an wichtigen Plätzen aufstellen und mit Harz oder einem anderen Befestigungsstoff an die Pfosten der Hallen kleben. Dort fielen sie wahrscheinlich nach einer gewissen Zeit ab, aber das war eventuell sogar gewollt“ (Ratke 2009, S. 213). Auch Simek möchte keinesfalls von Götterdarstellungen, vielmehr von Fürsten- bzw. Ahnendarstellungen ausgehen (vgl. Lex.Simek 2006, „guldgubber“, S.157). Vgl. Meulengracht Sørensen 1992, S. 727.
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6 Freyr-Gestalten
ihn auf gleiche Weise in seinem Ahnenstuhl, seinem Hochsitz ereilt. Die Ergreifung des Loszweiges wie die Auffindung des Freyr-Talismans ist damit ein divinatorischer Akt, die Willensbezeugung des Erzahnen.
6.11 Wo die Vanen wohnen Tatsächlich wissen wir, wohin Njǫrðr am Ende aller Tage ‚zurückkehrenʻ, ‚heimkehrenʻ wird: nach Nóatún, gemeinhin die „Schiffsstadt“, was ihrem buchstäblichen Sinn nach, wohl bereits von Snorri, als Wohnort am Meer, dort wo eben Schiffe vor Anker liegen, interpretiert wird.²⁶⁵ Also wurde denn den Vanen, mal mehr, mal weniger, Affinität und entsprechend Funktionalität in Bezug auf Schiffe zugesprochen. Schon Snorri weiß, Njǫrðr ist für die Seefahrt, Fischfang sowie gute (aquatische) Wetterverhältnisse zuständig. Dieser Aspekt passt freilich nicht einmal besonders gut zum traditionellen Konzept eines Fruchtbarkeitsgottes. Der Weg ist weit von einer aquatischen Gottheit, einem Gott der Schifffahrt zu einer Erdgottheit, noch weiter, wenn man die Vanen vorrangig als Förderer eines ländlichen Ackerbaukultes interpretieren möchte. Diese Diskrepanz scheint sich allerdings auch im Ortsnamenbefund widerzuspiegeln. Zunächst einmal weist eine Fülle von kultischen Ortsnamen Njǫrðr als gut bekannte und kultisch rege verehrte Gottheit aus, auch die Vafþrúðnismál sprechen von einer „großen Zahl“ von Tempeln und Altären, die er besitze (hofom oc hǫrgom hann ræðr hunnmǫrgom, Vm 38). Auffallend spärlich ist im Gegensatz dazu das mythologische Quellenmaterial und ebenso erklärungsbedürftig die Tatsache, dass sich zwar die norwegischen Ortsnamen erwartbar in Küstennähe, dem präsumtiven Wirkungskreis eines Schifffahrtgottes befinden, die schwedischen Namen indes „durchwegs in mittelschwe[dischen] Agrargebieten des Innenlands zu finden [sind].“²⁶⁶ Aber schließlich scheint doch die Affinität zum Wasser und zur Schifffahrt auch in seinem Sohn Freyr verkörpert. Ist er nicht Eigentümer des „besten aller Schiffe“, beztr skipa, Skíðblaðnir (Gylf 43)? Das ist nun Balder auch (sein Schiff Hringhorni ist immerhin das „größte aller Schiffe“), aber gleich einen Schifffahrtsgott wollte man denn doch nicht aus ihm machen. Aus verständlichen Gründen, allzu offensichtlich ist die Verbindung zu einem Begräbniskontext, Hringhorni ist ein Bestattungsschiff, wie Naglfar ein Totenschiff, das Loki in die Welt der Lebenden steuert am Ende aller Tage. Genau dieser Kontext wird aber wohl für alle Vanen-Götter angenommen werden müssen. So wenig ländliche Wagenumfahrten aus Vanen-Göttern Bauerngötter machen, so wenig macht die Zuschreibung eines Schiffes aus ihnen Seeleute, genauer, Götter für die Belange von Seeleuten. Denn zunächst einmal ist Nóatún keine Einfriedung für Schiffe, sondern nach Art eines Schiffes, eine Einfriedung, die wie ein Schiff aussieht. Und davon gibt es wahrlich genügend im skandinavischen Kulturbereich. Es sind die
Vgl. an. etym. Wb 1962, „tún“: wörtlich „eingehegter grasplatz vor dem hause, hofplatz, stadt“. Lex.Simek 2006, „Njǫrðr“, S. 303.
6.11 Wo die Vanen wohnen
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hunderten von Begräbnisstätten mit echten Booten oder Steinsetzungen in Schiffsform, auf die auch Joseph S. Hopkins und Haukur Þorgeirsson in diesem Zusammenhang aufmerksam machen. Wohl vermissen sie bei Freyrs Schiff Skíðblaðnir explizite Aspekte von „death, burial or the afterlife“,²⁶⁷ dafür werden sie aber bei Freyjas ,Schiffʻ fündig: In Freyjas Jenseitshalle der Gefallenen, Sessrúmnir (etwa „Raum mit vielen oder geräumigen Sitzen“), vermuten sie das ursprüngliche Konzept eines Schiffes. Snorri scheint diese Vorstellung nicht mehr bekannt gewesen zu sein, aber in einer Strophe der Þulur („ships and nautical objects“) erscheint der Name Sessrúmnir in nämlicher Bedeutung. Vielleicht aber müsse hier nicht einmal ein Missverständnis angenommen werden: Perhaps each source has preserved a part of the same truth and Sessrúmnir was conceived of as both a ship and an afterlife location in Fólkvangr. ‚A ship in a fieldʻ is a somewhat unexpected idea, but it is strongly reminiscent of the stone ships in Scandinavian burial sites. ‚A ship in the fieldʻ in the mythical realm may have been conceived as a reflection of actual burial customs and vice versa. It is possible that the symbolic ship was thought of as providing some sort of beneficial property to the land, such as the good seasons and peace brought on by Freyr’s mound burial in Ynglinga saga. ²⁶⁸
Fólkvangr, der Aufenthaltsort der Toten, ist etymologisch durchsichtig das „Feld des Volkes“. Dabei ist vangr („Feld, Flur, Wiese“) ein üblicher Bestandteil profaner Toponyme, indes erscheint der Begriff auffallend häufig in sakral konnotierten Begriffsfeldern, gerade als Bezeichnung von Jenseitsorten. So stark scheint er mit diesem religiösen Evokationspotenzial aufgeladen, dass sogar das Simplex allein, etwa got. waggs „Wiese“ als Übersetzung für griech. παράδεισος „Paradies“ erscheinen konnte.²⁶⁹ Dabei muss in diesem Zusammenhang gerade der ae. Begriff neorxnawang, der,
Hopkins und Haukur Þorgeirsson 2011, S. 15. Allerdings lässt die Besonderheit seiner Konstruktion, auf die bereits sein Name hinweist (eigentlich „etwas aus dünnen Holzstücken Zusammengesetztes“) einerseits eine Art Plankenschiff vermuten, andererseits hat die Überlegung viel für sich, dass es sich um ein „Kultboot“ handeln könnte, das lediglich für spezifisch rituelle Zwecke errichtet wurde, ohne explizit seetüchtig zu sein. Seine magischen Eigenschaften könnten „volkstümliche“ Zuschreibungen sein (vgl. Lex.Simek 2006, „Skíðblaðnir“, S. 381): Skiðblaðnir vermag stets mit gutem Wind zu segeln, insbesondere kann es wie ein Tuch zusammengefaltet werden und in der Tasche mitgenommen werden. Aber wie auch immer wir diese Angaben im Weiteren noch interpretieren werden, es zeigt, dass Einzelheiten über dieses Zauberschiff bekannt waren, insbesondere aber, dass ,das Volkʻ Freyrs Schiff auf keine Weise mit Fruchtbarkeit und Landwirtschaft verbindet, nichts weiß es von Fischfang. Und so ist auch das Volkstümliche, das Snorri von einem anderen Schiff zu berichten hat, vom Totenschiff Naglfar, ausschließlich Apotropäisches, es geht gerade darum, dessen Erscheinen zu verhindern. Hopkins und Haukur Þorgeirsson 2011, S. 16 f. Vgl. Heizmann 2002c, S. 530; Hopkins und Haukur Þorgeirsson 2011, S. 15: „In Old Norse, the word vangr [‚fieldʻ] is mostly used in place names, poetry and compounds. Especially noteworthy is the compound himinvangar [‚the fields of heaven/the skyʻ], which occurs in Helgakviða Hundingsbana I 8.6, 15.6 […]. It has an exact parallel in hebanwang [‚Heavenʻ], which occurs in the Heliand 3925 […]. Also worth noting are the Old English neorxnawang and Gothic waggs, both meaning ‚paradiseʻ. From
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wie sich aus Glossen belegen lässt, ganz offenbar ebenso eine Bezeichnung für das christliche Paradies darstellt, besonderes Interesse erwecken. Es ist insbesondere das Erstglied, das bis heute ungeklärt ist. Innerhalb der zahllosen Etymologisierungsversuche²⁷⁰ ist nun schon früh eine Möglichkeit der Anbindung an Njǫrðr/Nerthus vorgeschlagen worden. Die Idee vermochte aufgrund vermeintlich mangelnder religionsgeschichtlicher Plausibilität nicht recht zu überzeugen, unter den neuen Vorzeichen scheint sie aber mehr denn je vielversprechend: Die Namensformen Njǫrðr wie Nerthus gehen wohl sicher auf ein gemeinsames germ. *Nerþuz zurück, als jeweils weibliche und männliche Form, wobei bis heute nicht restlos geklärt ist, wie diese offensichtliche Namensidentität bei den gleichzeitigen Geschlechtsunterschieden zu beurteilen sei, ja, ob eine wie auch immer geartete Kult- oder Wesenskontinuität der Gottheiten, wenn sie denn jemals existierte, über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrtausend überhaupt denkbar wäre. Hultgård verweist auf einige Prämissen (die dann unbewiesen vorausgesetzt werden müssten): die schwächste Annahme gewiss die, dass Tacitus seine Quellen falsch verstanden haben könnte, der Geschlechterunterschied entsprechend ein Missverständnis sei. Viel für sich hat indes die Überlegung, den Namen als ursprüngliches Appellativum (vorläufig noch unabhängig von seiner Bedeutung) zu sehen, „das zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Götter übertragen werden konnte;“²⁷¹ dass damit also das namengebende Merkmal, das spezifische Wesen, die Charakteristik einer Gottheit ausgedrückt sei und in diesem Sinne mögliche Abhängigkeiten gar nicht „hist[orisch]-genetisch“ sein müssen.²⁷² Eine solche Möglichkeit möchten auch die Indogermanisten Michael Janda und Andreas Kamp in ihrer Untersuchung zu den germanischen Götternamen Nerthus und Njǫrðr nicht ausschließen, dass also die Namen als Beinamen aufzufassen seien gegebenenfalls unterschiedlicher, schon indogermanischer Gottheiten.²⁷³ Entsprechend sei gerade hier die historisch vergleichende Sprachwissenschaft gefordert,²⁷⁴ und, der Kernkompetenz des Faches geschuldet, müsse es zuallererst um die Form, die lautgeschichtliche Passung einer Wurzel gehen, bevor in einem zweiten Schritt die Semantik in den Blickpunkt rücke und schließlich die Suche nach Möglichkeiten für sachliche, realweltliche, mythologische Anknüpfungspunkte. Tatsächlich gebe es nach Ansicht der Autoren für die Götternamen Nerthus/Njǫrðr „in den indogermanischen Sprachen genau ein [orig. gesperrt] Nomen, das sinnvoll mit dem Namen der
this comparative data, it seems plausible that the Norse word vangr had some sacral connotations or connection to the afterlife at an early stage, carried forward in the idea of Fólkvangr.“ Man hat darin etwa ein Glanz- und Lichtbezeichnung vermutet, ein Element, das in der Tat für viele Jenseitsorte charakteristisch ist (siehe Glæsisvellir, „die glänzenden Gefilde“). Eine Anbindung daran bleibt indes spekulativ, „ein erschlossenes ae. *eorxon, eorxen (,Glanzʻ) unbeweisbar“. Vgl. Heizmann 2002c, S. 530. Hultgård 2002a, S. 235. Vgl. Hultgård 2002a, S. 235. Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 50 f. Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 35.
6.11 Wo die Vanen wohnen
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Nerthus, germ. *nérþu- verbunden werden [könne]“, nämlich ved. nṛtú- „Tänzer“ bzw. fem. nṛtū- „Tänzerin“.²⁷⁵ Die Etymologie, die sich in der modernen Forschungsdiskussion am ehesten durchgesetzt habe (allerdings mit formalen Schwierigkeiten), die Verbindung zu altir. nert „Kraft, Stärke“, bleibe für einen Göttinnennamen „völlig farblos“. Der von einem Teil der Forschung präferierte Zusammenhang mit griech. νέρτεροι „die Unterirdischen“ (siehe auch das Wort für „Norden“) sei nicht „per se ausgeschlossen“, aber letztendlich biete auch dieser Vorschlag keine „spezifische[n] Anknüpfungsmöglichkeiten an Wesens- oder Kulteigenschaften der Göttin“.²⁷⁶ Nun muss Janda wohl einräumen, dass Nerthus bei Tacitus keineswegs als Tänzerin auftritt (und daher als Interpretationsansatz in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr spielt),²⁷⁷ aber aufgrund einer einzigen Belegstelle im Rigveda (1, 92, 4) glaubt er dennoch zeigen zu können, dass Nerthus die germanische, ‚tanzaffineʻ Entsprechung zur altindischen Göttin der Morgenröte, Uṣas, ist.²⁷⁸ Dass uns Nerthus im Norden nicht als Tänzerin begegne, habe wohl mit der „Breviloquenz“ (siehe Wilhelm Mannhardt) des taciteischen Berichts zu tun.²⁷⁹ Damit verschwiege uns also Tacitus ein Kultelement, das nach Jandas eigenen eingangs aufgestellten Prämissen immerhin so bedeutsam gewesen sein müsste, dass es namengebend geworden wäre. Eher en passant erwähnt er dabei die begräbnisrituellen Konnotationen, auf die Mannhardt bei der Behandlung der Göttin verweist (wobei Mannhardt seinerseits die Deutung des Nerthuskultes als Frühlingsbrauch favorisiert)²⁸⁰: Im mittelalterlichen Begräbnis sei es üblich gewesen (wiederum mit Referenz auf Mannhardt), die mit Tüchern bedeckte Leiche auf einem Karren, gezogen von Kühen, an ihren letzten Bestimmungsort, ans Grab, zu transportieren. Janda möchte dieses Ritualelement indes lediglich auf den „symbolischen Tod“ der Morgenröte beziehen. Als deren göttliche Verkörperungen würden Nerthus wie Persephone oder Uṣas sterben, ebenso aber werde ihre Rückkehr nach der Wintersonnenwende bejubelt. Aber auch bei dieser Interpretation muss er einräumen, dass sich bei Tacitus „nicht der geringste Hinweis darauf“ finde.²⁸¹ Seine Gesamtbilanz erschüttert dieses Manko indes nicht: „Damit finden alle wesentlichen Charakteristika des römischen Berichts ihre Entsprechungen in unabhängig bezeugten Kultformen bzw. Mythen der indogermanischen Göttin der Morgenröte.“²⁸²
Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 38. Janda und Kamp 2002/2003, S. 39. Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 39. Allerdings trägt diese hier genauso wenig den Namen (oder Beinamen) nṛtū- „Tänzerin“, sie wird lediglich in ihrem lasziven, verführerischen Wesen mit einer solchen verglichen. Daneben sieht er auch im Kuhgespann der Nerthus eine Entsprechung zur indogermanischen Göttin der Morgenröte, die ein nämliches besessen habe (vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 42). Vgl. Mannhardt 1875, S. 576. Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 45. Janda und Kamp 2002/2003, S. 45.
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Aber wenn die sachlichen Anknüpfungspunkte im germanischen Material schon für die Göttin dünn genug sind, dann löst sich die mythische Beweislage für ihr wie auch immer geartetes, zumindest grammatikalisches männliches Pendant ganz in Luft auf. Noch viel weniger gelingt es Kamp im Weiteren neben der ‚tanzenden Nerthusʻ einen ,tanzenden Njǫrðrʻ plausibel zu machen. Er vermutet einen Hinweis darauf im einzigen Mythos Njǫrðs: die Bräutigamwahl der Skaði. Die Wahl der Riesin unter den verhüllten Asen (ausführlich dazu weiter unten) fällt bekanntlich auf den ‚altenʻ Njǫrðr aufgrund eines einzigen Kriteriums, dessen Füße, die ihr (freilich in der Hoffnung, es wären Balders) am schönsten von allen erschienen. Kamp sieht darin „ein weiteres starkes Indiz für die Richtigkeit dieser Etymologie“,²⁸³ denn wenn es eine Figur gebe, „mit der man per se schöne oder feine Füße assoziiert, dann ist es der Tänzer.“²⁸⁴ Der weitere Hinweis auf Freyr und dessen ekstatischen (Tanz)kult ist wohl bedenkenswert (kaum indes, dass auch Dionysos und Indra als Tänzer gegolten haben),²⁸⁵ indes an keiner einzigen Stelle erscheint Freyr selbst als Tanzender, geschweige denn Njǫrðr. Aber auch für Kamp genügt die Beweislage: Im Mythos lasse sich „eine sinnvolle Beziehung zu der sprachwissenschaftlich festgestellten Namensbedeutung setzen.“²⁸⁶ Und hier liegt wohl die eigentliche crux, auf die schon einer der Begründer der so genannten Wörter- und Sachenbewegung in der Historischen Sprachwissenschaft, Rudolf Meringer, eindringlich hinweist: Es genügt eben gerade nicht, eine zweifelsfrei sprachwissenschaftlich, lautgesetzlich festgestellte Etymologie vorweisen zu können, vielmehr „[muß] die Geschichte der Sachen […] ebenso respektiert werden, wie die ‚Lautgesetzeʻ.“²⁸⁷ Bei diesem Interpretationsansatz scheint das (neben der einwandfreien formalen Passung) zu wenig berücksichtigt. Albert Leitzmann führt für neorxnawang insgesamt fünf Etymologisierungsversuche an,²⁸⁸ um sie freilich allesamt schon aufgrund formaler, sprachlicher, noch nicht einmal semasiologischer Probleme zu verwerfen.²⁸⁹ Er selbst geht von einem *neorscna (mit Metathese zu neorxna) aus, das aus *nerþ-(i)ska entstanden ist, *nerþ ist dann mit Nerþus (altnord. Njǫrðr) zu verbinden, also „wiese der zur Nerthus ge-
Janda und Kamp 2002/2003, S. 46. Janda und Kamp 2002/2003, S. 48. Unabhängig davon, dass realweltliche Tänzer(innen)füße häufig genug geschundene, buchstäblich blutig getanzte sind, scheinen auch ganz andere, offenbar ebenso ,selbstverständlicheʻ Assoziationen möglich (wenn auch in vorliegender Untersuchung genauso wenig unterstützt): So denkt Lois Bragg an ‚Schwimmerfüßeʻ, Füße, die täglich und lange mit Wasser in Berührung kommen (vgl. Bragg 2004, S. 84). Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 51 ff. Janda und Kamp 2002/2003, S. 48 f. Meringer 1904, S. 101. Vgl. Leitzmann 1907, S. 61– 64. „Alle diese fünf etymologien sind sprachlich unmöglich oder mindestens unwahrscheinlich. Wenn ich es im folgenden wage, eine neue aufzustellen, die von allen bisherigen unabhängig ihren eigenen weg geht, so ermutigt mich dabei vor allem der gedanke, dass sie formell die lautgeschichtlich vorhandenen möglichkeiten streng respectiert und auch inhaltlich eine gewisse religionsgeschichtliche wahrscheinlichkeit für sich in anspruch nehmen darf“ (Leitzmann 1907, S. 64).
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hörigen“. Nerthus wie Njǫrðr (ebenso Freyja wie Freyr) sind damit zu den νέρτεροι „die Unterirdischen, die Unteren“ zu stellen²⁹⁰ (zu eben jener Wurzel, die Janda/Kamp aus vermuteten mangelnden wesenhaften Anknüpfungsmöglichkeiten ablehnen).²⁹¹ Das heißt, neorxnawang ist „die wiese der unterirdischen, der toten“. Es geht um Totengeister, die zunächst einmal in der Tat geschlechtsunspezifisch sind, wie alle anderen so schwierig zu fassenden, diffusen Geisterwesen, die bereits aufgeführt wurden. Erst im Laufe ihrer Entwicklung gewinnen sie Kontur und Persönlichkeit und damit auch Geschlechtsspezifik. In diesem Sinne sind die Vanen als die Bewohner von waggs, von neorxnawang zu verstehen (das bezeichnenderweise in den ältesten altenglischen Belegen wohl für ,Paradiesʻ stehen kann, indes nie für heofon, „Himmel, coelum“²⁹²). Damit ist zunächst von einem Appellativum auszugehen, das im Lauf der Zeit zu einem nicht mehr motivierten Nomen proprium wurde. Vielleicht war diese diffuse Ungenauigkeit in der Namensgebung sogar beabsichtigt. Euphemismen und Tabuwörter sind besonders häufig in diesem Bereich anzutreffen, und es ist das übliche Schicksal von Hüllwörtern, dass sich ihr Gebrauchswert in der Alltagssprache sehr schnell verschleißt. Hüllwörter oder Tabuwörter werden bekanntlich für die Bezeichnung von Dingen oder Sachverhalten eingesetzt, „über die man nicht gerne redet“,²⁹³ aus den unterschiedlichsten Gründen. Ob in profanen oder religiös konnotierten Kontexten, es ist zunächst und immer die Furcht vor Kontamination, einer konkreten Berührung im Raum, von der eine wie auch immer geartete Gefährdung oder Verschmutzung ausgehen könnte, und dazu genügt, wie üblich in magischen Denkvorstellungen, auch das pars pro toto-Konzept der direkten Namensnennung. Die Namen Freyr, Freyja, Balder, prima facie auch Nanna, machen den Eindruck von Tabuwörtern, von Euphemismen (siehe Kap. 12.5.3), und es ist wohl der Name Vanir selbst, der dieses Schicksal mit ihnen teilt. Und wenn nun also davon ausgegangen werden muss, dass es sich um eine Tabubenennung für die Toten handelt, wird klar, warum sich die Etymologisierungsversuche des Namens bisher als dermaßen schwierig und unergiebig gezeigt haben: Es ist die einseitige Ausrichtung der Semantik auf Fruchtbarkeitskonzepte. Nicht unbedingt zu Unrecht, aber wohl zu einseitig hat man die vermutete idg. Wurzel *wen- (mit der Ablautstufe *won‐) zur lateinischen ,Liebesgöttinʻ Venus gestellt, zu wg. wunjō „Lust, Freude“, hat man doch damit das auffällige Sexualverhalten der Vanengötter, insbesondere Freyjas, ebenso abgedeckt wie eine wenn auch diffuse Vorstellung von Üppigkeit und Überfluss (siehe dazu auch an. vin „Wiese“ oder got. winja „Futter, Weide“).²⁹⁴ Einen ebenso mit dieser
Vgl. Frisk 1960 – 1972, „ἔνερθε(ν)“, auch „νέρθε(ν), ἔνερθα“: „(von) unten, unter(halb)“. Daneben ἔνεροι „die Untern, Unterirdischen“, von den Toten und unterirdischen Göttern. Ein genaues formales Gegenstück findet sich in umbr. nertru „sinistro“, osk. nertra-k „a sinistra“, „sehr verlockend ist die weitere Heranziehung des germanischen Wortes für ,Nordenʻ“. So schon Koegel 1894, S. 22. Vgl. Janda und Kamp 2002/2003, S. 39. Vgl. Jente 1921, S. 227. Kluge/Seebold 2002, S. XXXII. Siehe Kluge/Seebold 2002, „Wonne“.
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Wurzel verbundenen semantischen Bereich hat man dabei ganz ausgelassen, wenngleich er in an. vin; got. winja bereits angedeutet ist, denn das Verb „wohnen“ (mhd. wonen, as. wonon, wunon) gehört ebenso zu dieser Sippe.²⁹⁵ Die semantische Brücke wäre dann das ,behagliche, zufriedene, ungestörte Wohnenʻ, vgl. etwa an. una „zufrieden sein mit“, „sich an einer Stelle wohlbefinden“ (dazu got. un-wunands „bekümmert“). Dies lässt sich wiederum zum an. vangr „Feld, Flur, Wiese“ stellen, durchaus mit der Konnotation des paradiesischen Wohnens. In got. waggs, „Wiese, Paradies“ ist diese Bedeutung ohnehin explizit. Die Vanir wären damit einfach die „Bewohner“, eine typische Generalisierung und damit Verschleierung des eigentlich Gemeinten,²⁹⁶ ein semantischer Fokus liegt dabei auf einer Vorstellung der Ungestörtheit und Behaglichkeit, gleichzeitig wohl auch als buchstäbliche Beschwörung einer Immobilität, wo also der Wunsch wie so häufig als Vater des (magischen) Gedankens erscheint.²⁹⁷ Denn erfahren nicht auch die landvættir, die ursprünglichen Bewohner, die Geisterbewohner des Landes eine dermaßen Behandlung? Um deren Ruhigstellung die neuen Bewohner, die Menschen, zu ihrer aller Wohl bemüht sein mussten, wo nichts wichtiger war als Friedenszusicherung und Wohnrecht, und wo Fluchsprüche, Neidstangen und Drachenköpfe sehr schnell zum Verhängnis werden konnten?²⁹⁸ Und gut würde schließlich dazu eine andere, höchst merkwürdige Erwähnung der Vanen passen, ein Mythensplitter, den Snorri überliefert. In der Gylf 35 berichtet er von einer Göttin Gná, eine Art Botengängerin für Frigg, eine Grenzgängerin zwischen den Welten, die das magische Pferd Hófvarpnir („Hufschläger“) besitzt, mit dem sie durch
Siehe Kluge/Seebold 2002, „wohnen“. Die merkwürdige Abwesenheit der Vanengötter findet dann gerade in dieser sprachlichen Vermeidungshaltung eine Erklärung: Es ist damit weniger ein Kategorienproblem als ein Benennungsproblem, ein sogar intendiertes bzw. zwangsläufiges. Als νέρτεροι, die „Nerthus-Leute“, haben die Vanen ,überlebtʻ in der Form von Eigennamen, Njǫrðr, Nerthus, individualisiert als Gottheiten, von denen man wenig genug Individuelles berichten konnte als eben vom populären (Toten)kult, der ihnen zukam. Siehe ein gegebenenfalls typologisch ähnliches Benennungsprinzip im Hebräischen: Zur Vermeidung der Aussprache des tabubelegten Gottesnamens wird Jahwe neben zahlreichen anderen Namen und Wendungen (wie etwa „der Mächtige“, „der Heilige, gepriesen sei er“ usw.) einfach als „der Ort“, „das Wohnen“ bezeichnet (vgl. de Vos 2011). Auch in den Fluchstrophen der Busla (siehe Heizmann [Hg.] 2017), ein gewissermaßen „Potpourri“ (Lozzi Gallo 2004, S. 135) an gängigen und bewährten Flüchen seiner Zeit, fehlt die Beunruhigung der Landgeister nicht: Villist vættir, verði ódæmi („May spirit beings become lost, may the monstrous become reality“, Bós. 3, Heizmann [ Hg.] 2017, S. 30). Und in dieser zweifelsohne um Vollständigkeit bemühten Evozierung einer Gesellschaft höchst übelwollender Mächte erscheinen nun auch „Bewohner“, búar, ein merkwürdig neutral gehaltenes Nomen simplex, dem das eigentliche Determinans fehlt, das allerdings allein durch den Kontext nicht anders als negativ gemeint sein kann: Trǫll ok álfar / ok tǫfrnornir, / búar, bergrisar / brenni þínar hallir, / hati þik hrímþursar, / hestar troði þik. („May trolls and elves and sorcery-norns, / dwellers, mountain-giants burn your halls, / May hrímþursar hate you, horses violate you“, Bós. 8, Frog 2014, S. 44). Frog vermutet, dass diese Halbkenning hier einzigartig ist, eine Art „peculiar use“ (vgl. Frog 2014, S. 44), es ist aber wohl das Benennungskonzept der Vanir selbst.
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die Lüfte und übers Wasser reitet. Die etymologische Erklärung für den Namen der Göttin, die Snorri selbst gibt, wird wohl zu Recht bezweifelt, nach ihr würde „etwas Hochaufragendes“ (gnæfa) benannt. Gná wird nun bei einem ihrer Ritte von einigen Vanen (Vanir nokkvorir) bemerkt, wie es heißt, die sich über das merkwürdige Flugobjekt ganz offenbar beunruhigt zeigen und irritiert Fragen stellen: „Was fliegt dort? / Was bewegt sich dort / und gleitet durch die Luft?“ (‚Hvat þar flýgr? / Hvat þar ferr / eða at lopti líðr?ʻ). Kaum anzunehmen, dass die Vanen ‒ wenn sie denn Götter wie die Asen wären ‒ auf die üblichen Fähigkeiten ihresgleichen dermaßen reagieren sollten. Nicht wenig bezeichnend ist die Antwort Gnás: „Nicht fliege ich, doch ich bewege mich, / und durch die Luft gleite ich auf Hófvarpnir, / den Hamskerpir mit Gardrofa zeugte.“ (‚Ne ek flýg þó / ek fer / ok at lopti líðk / á Hófvarfni / þeim er Hamskerpir gat við Garðrofuʻ). Es ist eine in beruhigender Absicht gegebene Antwort, eine Beschwichtigung, eine genaue Erklärung der Umstände. Aus irgendeinem Grund müssen mögliche Affronts, die die Göttin durch ihre Art der Fortbewegung, insbesondere durch ihr wunderliches Reittier, verursacht, aus dem Weg geräumt werden. Ihre Erwiderung macht den Eindruck eines sorgfältig gesetzten rituellen Sprechakts. Es ist wohl ein magischer, apotropäischer Gegenspruch zu ihrem eigenen Schutz gegen die aufgescheuchten ,Bewohnerʻ, Vanen. Was die Neidstange, der schrecklich anzusehende Pferdekopf bei Egill, die Drachenköpfe der Wikingerschiffe vermögen, bewirkt auch das unbekannte Zaubertier, der „Hufschleuderer“ oder „,Klopfer“, der durch die Luft braust, mit jenem alarmierenden Geräusch, gnýr ok ótti, das vielleicht tatsächlich der Göttin den Namen gegeben hat.²⁹⁹ Es geht also um die Aufhebung eines Lärm- und Abwehrzaubers, genauer um eine Präventivmaßnahme für eine Aktion, die als solche missverstanden werden könnte, als ódæmi, als etwas Unnatürliches, Ungeheuerliches, ein staunenswertes Ereignis in jedem Fall, das Verwirrung stiftet wie in Buslas Fluch: Villist vættir, verði ódæmi („May spirit beings become lost, may the monstrous become reality“ [Bós. 3]). Selbst die enigmatische Vǫluspá-Stelle (24) könnte in dieser Neukonzeptionierung ihren Platz finden.³⁰⁰ Ursula Dronke vermutet darin ein Wiedergeburtsmotiv, wenngleich der Edda-Kommentar diese Interpretation als „abwegig“ bezeichnet, der Ausdruck sporna in der Oddrúnargrátr 7, 8 (wo zweifelsfrei eine Geburt bezeichnet wird) sei wohl lediglich eine verbale Ähnlichkeit und damit ganz fragwürdig.³⁰¹ Auch die Interpretation des Begriffs vígspá als ‚Kampfzauberʻ oder ‚Kriegs-Zauberspruchʻ wird
Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „Gnýja“: gnýr, (Prät.) gnúði, „to sound, of wind and sea; derived from gnúa, with the notion of a grating sound, as of a stream over pebbles, the tide against the beach, etc.“ „gnýr“: m. „a clash, din, as of wind, waves, weapons, etc. […] „esp. freq. in poët. compds. referring to the din of war“, Lex. Poët.: metaph., gnýr ok ótti, alarm and fright, Niðrst. 5.“ Fleygði Óðinn oc í fólc um scaut, / þat var enn fólcvíg fyrst í heimi; / brotinn var borðveg[g]r borgar ása, / knátto vanir vígspá vǫllo sporna. („Odin schleuderte den Speer und schoss ihn ins Heer, / das war der erste Kampf in der Welt; / gebrochen war der Wall der Burg der Asen, / schlachterprobte Wanen durchstreiften das Feld.“). Vgl. Komm.Edd. Vǫluspá [R], von See et al. 2019, S. 237.
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eher abgelehnt (wenn auch von Teilen der Forschung durchaus unterstützt). Die Verständnis-Problematik der Stelle liegt zunächst darin, dass durchaus nicht klar ist, was genau die Vanen zu welchem Zweck und vor allen Dingen in welche Richtung überwinden. Die Vanen durchbrechen eine Art „Plankenweg“ (borðvegr), (der EddaKommentar vermutet leicht fehlerhaft zu borðveggr „Plankenwand“ abgeändert), was als Teil der Verteidigungsanlage der Asenburg (borgar ása) verstanden wird. Es ist allerdings zunächst einmal ein Ausdruck, der „als Bezeichnung der ‚Bordwandʻ eines Schiffs oder eines Boots in drei Prosatexten belegt [ist]“.³⁰² Wenn man nun aber die durchgehende Schiffsaffinität der Vanen berücksichtigt, die am wenigsten etwas mit Nautik, sondern vielmehr mit einem Begräbniskontext zu tun hat, so ließe sich immerhin spekulieren, dass auch mit borgar ása weniger eine (profane) Befestigungsanlage gemeint ist als vielmehr ein Ort der Toten: borg gibt de Vries (in poetischer Bedeutung) mit „scheiterhaufen“ an zu ae. beorg (byrgen, byrgels) „grabhügel“. Er vermutet eine ursprünglich identische Bedeutung im Nordischen, wenn auch wohl mit dem Christentum dort verschwunden.³⁰³ Die Vanen durchbrechen also die Plankenwand ihrer Begräbnisschiffe, ihre Grabhügel und stürmen – wiedergeboren (oder ,aufgescheuchtʻ) – aufs freie Feld.
Komm.Edd. Vǫluspá [R], von See et al. 2019, S. 235 f. Siehe an. etym. Wb 1962, „borg“.
7 Ahnenkult 7.1 Non puros homines Man wird also den so genannten Asen-Vanen-Krieg zuvorderst als religiöses Plausibilisierungsmodell verstehen müssen, wenn auch nicht auszuschließen ist als Reflex oder Effekt äußerer, historischer Veränderungen.¹ Er hat seinen Platz im Weltschöpfungsmythos der Vǫluspá, aber auch im genealogischen Gründungsmythos der Ynglinga saga: Es geht um die religiöse Plausibilisierung einer grundlegenden Vorstellung von Ausdifferenzierung wie Abgrenzung, von Stabilisierung und schließlich Ordnung, kurz, der Entstehung eines Systems. Systemwerdung bedeutet Trennung, in den Kosmogonien dieser Welt ist die Trennung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits eine der ersten und wichtigsten. Und wenngleich viel Augenmerk auf die Entstehung von Welt gelegt wird, so ist doch in keiner Kosmologie die Etablierung ihres Gegenentwurfs vergessen, das Totenreich. Zu irgendeinem Zeitpunkt der Kosmoswerdung muss die Trennung zwischen Tod und Leben einsetzen. Bekanntlich bricht deshalb aber keineswegs die Möglichkeit zur Kommunikation und Austausch zwischen diesen Welten bzw. ihren Bewohnern ab, aber die Verhandlungen für diesen notwendigen Austausch bei gleichzeitiger Stabilisierung und Festlegung des eigenen Status quo können sich dabei schwierig gestalten, müssen immer wieder erneuert, zyklisch rückversichert werden. Die Götter tauschen ganz offenbar ihre Toten aus ‒ die Vanen sind ohnehin bereits als Vanen Totengeister, Ahnengeister. Und dies kennen wir als eine der wichtigsten Stationen in (friedlichen) Akkulturations-Prozessen: die Integration der Toten in ein neu geschaffenes bzw. in der Entstehung begriffenes Gemeinsystem. Es passt gut in den genealogischen Grundgedanken der Ynglinga saga, in unterschiedlichsten Variationen wird nicht nur der Tod als Konzept, als Wissensmodell durchgespielt, in seiner bizarren Vielfalt immer als primäre Eigenart des Werkes wahrgenommen, auch eine Bandbreite von Vorstellungen von Weiterleben, von Wiederaufleben wird hier denkbar gemacht. Auch das gehört zu jenem paradoxen Wissensmodell von Ahnentum: das Wissen um eine positive Wirksamkeit der Toten, die nur durch irgendeine Art von Weiterexistenz gewährleistet sein kann. Diese Existenz ist damit aber keineswegs klar definiert ‒ Totengeister, vergöttlichte Ahnen, in unterschiedlichen Materialien
Weite Teile der früheren Forschung neigen hier zu der Auffassung, dass in diesem Konflikt realhistorische Ereignisse reflektiert würden, eine Art ,clash of civilizationsʻ, ein Kampf der Kulturen, der Religionen, der Ideologien, dass etwa eine einwandernde, kriegerisch organisierte, patriarchale Gruppierung (die Asen), eine autochthone, womöglich mutterrechtlich organisierte Megalithkultur (die Vanen) versucht habe zu unterwerfen. Dabei betont Reichert (mit Verweis auf Georges Dumézil) zu Recht, dass Mythen von Götterkriegen weitaus älter seien (vgl. Reichert 2000, S. 415). Dennoch muss nicht unbedingt ausgeschlossen sein, dass sich darin auch ein (gegebenenfalls späterer) mythisch religiöser Reflex auf realhistorische, gesellschaftliche Umwälzungen zeigen könnte. https://doi.org/10.1515/9783110789140-008
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7 Ahnenkult
verkörpert, schließlich einige davon Götter, in der Tat nicht mehr zu unterscheiden von den vorgeblich ,richtigen Götternʻ, den Asen. Es ist ein Prozess der buchstäblichen Transzendierung, des Darüberhinausschreitens, der sich zunächst in einer Dislozierung vom ursprünglichen Verehrungsort wie Überregionalisierung des Verehrerkreises zeigt. Aber man kann wohl zu Recht für eine Aufrechterhaltung beider Götterkategorien eintreten, selbst wenn man sie nur oder gerade als unterschiedliche Stadien ein und derselben Entwicklung sehen möchten.² In der nordischen Ahnenverehrung und der im Einzelfall damit verbundenen oder daraus resultierenden Götterverehrung sind wohl einerseits divergierende, andererseits zum Teil parallel verlaufende Entwicklungen anzunehmen, ursprünglich gemeinsame Traditionen, die ab irgendeinem Zeitpunkt unvereinbar schienen, bis sie schließlich (im Extremfall) nicht mehr aufeinander bezogen werden konnten: If we read the main sources, Saxo and Snorri, literally, we surely get the impression that both Freyr and especially Fróði are humans.Whereas Fróði remains a human in all texts in which it is related to him, it is different with Freyr. Adam of Bremen as well as most of the Icelandic sources clearly depict him as a god, i. e. a figure being of the other world – to whom people may sacrifice in order to benefit – and thus, possessing the characteristics by which we define a god.³
Dies bedeutet nicht in jedem Fall, dass der ,Glaubeʻ an die Ahnen der ursprünglichere sein muss, der ,Glaubeʻ an die nordischen Götter dann später hinzugekommen wäre, wohl aber auch nicht, dass man von Anfang an gewissermaßen von „[z]wei Religionen“, von „zwei in sich vollständige[n] Kultsysteme[n]“ ausgehen müsste, die „nebeneinander und gleichzeitig am Werke“ wären.⁴ Nicht einmal im antiken Griechenland selbst, Zentrum einer ausgiebigen und florierenden Heroenverehrung, kann kanonische Gewissheit eingefordert werden, gerade hier herrschte immer wieder Unsicherheit, wie ein Heroenstatus eigentlich einzuschätzen sei. Jenes eigentümliche Changieren nordischer Freyr-Vorstellungen zwischen Diesseits und Jenseits, bei gleichzeitiger Ablösung von realen konkreten Verehrungsorten hin zu einer Ortlosig-
Vgl. Lex.Simek 2006, „Asen“, S. 26 f.: Auch bei den Asen könnte zumindest der etymologische Befund eine Anknüpfung an trémann u. ä. möglich machen: Die Götterbezeichnung áss „Ase“ (Pl. Æsir) kann mit germ. *ans zusammengebracht werden, was im eigentlichen Wortsinn „Balken, Pfahl“ bedeutet, bei Jordanes als ansis belegt, die er als halbgottartige Ahnherren der Goten erklärt, non puros homines, sed semideos, id est ansis (Get., Kap. 13), eine Definition indes, die in der früheren Forschung (teils bis heute) als christlich motiviert beurteilt wird. Die Möglichkeit einer Entwicklung, einer sukzessiven Abstrahierung, einer Art paganen Transzendierung einer ursprünglich ganz konkreten Ahnen-Vorstellung (ein Stück Holz) lehnt Hans Kuhn rundum ab. Hinweise, die noch etwas anderes als ,pureʻ Göttlichkeit im Asenkonzept vermuten lassen, so das ags. ēsa gescot „Asenschuss“ (,Hexenschussʻ), lässt er ebenso wenig gelten wie obige Notiz des Jordanes. Als Christ habe Jordanes gar nicht anders gekonnt, als diese Ahnherren nur ,halbe Götterʻ zu nennen (vgl. Kuhn 1973b, S. 458). Schjødt 2009, S. 577 f. Vgl. Balz 2014, S. 118. Balz bezieht sich hier auf die Thesen von Numa D. Fustel de Coulanges (Fustel de Coulanges 1981 [1864]), der in der römischen Religion zunächst ausschließlich eine Ahnenreligion sehen wollte.
7.1 Non puros homines
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keit, einer Utopia, ist in vielen Punkten auffallend ähnlich der Entwicklung im griechischen Heroenkult. Schon in der Gesetzgebung des Drakon 620 v.Chr. erscheinen die Heroen als eine Art „Landesschutzgeister“,⁵ heimische Wesenheiten, die wohl dezidiert getrennt vorgestellt werden von den ,Götternʻ, aber auf gleiche Weise, d. h. ebenso ehrfurchtsvoll zu verehren sind. Indes galt für die olympischen Götter stets das ϑύειν als adäquate Opferpraxis, für die Heroen das ἐναγίζειν,⁶ das Opfern für die Unterirdischen; Opferpraktiken, die streng getrennt gehalten wurden. Der griechische Heroenkult erweist sich allein schon dadurch als chthonischer, als Totenkult. Wettkämpfe werden den Heroen zuteil ähnlich den Wettkämpfen für den Fürsten beim Begräbnis. Die Spiele des Heroenkults werden allerdings nicht nur einmalig abgehalten, sondern jährlich bzw. zyklisch wiederholt, auch hier war den Kultteilnehmern sehr wohl bewusst, allein durch den aitiologisch fundierenden Mythos, „dass man in solchen Spielen die Leichenfeier eines Verstorbenen wiederholte.“⁷ Heroen seien damit klar „Geister Verstorbener, nicht etwa eine Art Untergötter oder ,Halbgötterʻ“,⁸ aber göttliche Abstammung wiederum ist keineswegs Voraussetzung für deren Heroisierung und letztendlich Vergöttlichung. Damit steht der Heroenglaube auch im Gegensatz zu homerischen Vorstellungen, wie Rohde ausdrücklich betont, nicht lediglich fiktive literarische Bilder stünden am Anfang dieser Entwicklung, ganz im Gegenteil, „[u]eberall knüpft sich die Verehrung eines Heros an die Stätte seines Grabes [orig. gesperrt]. Das ist die allgemeine Regel, die sich in ungezählten einzelnen Fällen bestätigt.“⁹ Diese bereits strukturell angelegte Unentschiedenheit zeigt sich symptomatisch gerade in der Ausgestaltung einer der größten griechischen Heroen: Herakles. Schon das Altertum sei sich über sein ,eigentlichesʻ Wesen wohl nicht im Klaren gewesen, so Schröder,¹⁰ sein Kult schwankte zwischen dem eines Heroen, dem die üblichen Totenopfer zukamen, und dem eines olympischen, unsterblichen Gottes.¹¹ So mache sich auch Herodot (II, 44) darüber Gedanken, „ob Herakles eigentlich Gott oder Heros sei“, mit dem Ergebnis eines „doppelten Herakles“, entsprechend könne er nach der unterschiedlichen Praxis der griechischen Städte sowohl als Gott wie als Heros verehrt werden.¹² Ein Dilemma, das die griechischen Städte elegant zu lösen wussten, aber offenbar mit dem Norden teilen, neben dem ,doppeltenʻ Herakles steht ein ,doppelterʻ Freyr, ein ,doppelterʻ Balder (nicht zuletzt eine ,doppelteʻ Þorgerðr Hǫlgabrúðr). Der
Rohde 1894, S. 137. Vgl. Rohde 1894, S. 139 f. Rohde 1894, S. 141. Rohde 1894, S. 142. Rohde 1894, S. 149. Vgl. Schröder 1956, S. 70. Vgl. Preller 1921, S. 632. Vgl. Schröder 1956, S. 70. Siehe auch Schjødt 2009, S. 573: „[W]e have in Greece an enormous amount of beings which cannot be classified neither as gods nor as human beings (the heroes, the daemons who are also connected to the ancestors etc.).“
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7 Ahnenkult
Begriff des Heros selbst hat im Bestattungskontext den üblichen Weg der Verallgemeinerung (und damit letztendlich ,Abnutzungʻ) genommen, bis er schließlich zur (Tabu)bezeichnung des Verstorbenen schlechthin wird.¹³ Unglück kam dann über die Gemeinde, wenn eben diese Totenkultvorschriften, aus was für Gründen auch immer, und sei es aus schierer Unwissenheit, dem Toten versagt wurden. Eine Vernachlässigung wurde explizit als Ursache für Unheile und Heimsuchungen aller Art gesehen, Unfruchtbarkeit, Missernten, Krankheiten, Krieg.¹⁴ Üblicherweise empfangen griechische Heroen (und Heroinnen) Verehrung entsprechend ihrer bedeutsamen Funktionen als Städtegründer, Gesetzgeber, Krieger, Propheten, Heiler, Erfinder und eben Ahnen,¹⁵ bezeichnenderweise aber nicht ausschließlich, denn nicht selten ist es auch die Todesart, ja in manchen Fällen ausschließlich die Todesart, die diese zu verehrten Heroen werden lässt. Durch einen gewaltsamen, beschämenden, unehrenhaften oder wunderlichen Tod werden sie zu grausamen Rächern, zu Rachegeistern, zu ruhelosen Wiedergängern, die die Bürger der Stadt oder des Gemeinwesens, die ihnen dieses Unrecht angetan haben, terrorisieren. Sie verursachen Hungersnöte, Seuchen, Kindersterben. Schließlich leisten die reuigen Bürger auf Anweisung des Orakels Kompensation, Wiedergutmachung. Der so schändlich Behandelte muss mit Opfern geehrt werden, Spiele für ihn abgehalten werden.¹⁶ Noch bizarrer erscheint das Phänomen der so genannten griechischen Kinderheroen, die ihren Heroenstatus nun ausschließlich ihrem grausamen, unnatürlichen und vor allem vorzeitigen Tod im frühen Kindesalter zu verdanken haben.¹⁷ Siehe Rohde 1894, S. 649: „Aber über alle, von Griechen bevölkerten Länder dehnt die Sitte sich aus; einzig Athen ist sparsamer in der Ausspendung des Heroennamens an Todte, die von der, dort vermuthlich der Vorstellung fester eingeprägten Art eines Heros im alten und ächten Sinne nichts an sich haben, als dass eben auch sie todt sind. Noch so freigiebig ausgetheilt, behält der Name ,Herosʻ dennoch etwas von einem Ehrenbeinamen. Eine Ehre freilich, die jedermann ohne Unterschied zugesprochen wird, steht in Gefahr, das Gegentheil einer Ehre zu werden.“ Viel später führt das Christentum die Bezeichnung ὁ ἥρως weiter, hier bedeutet sie „(ganz synonym mit ὁ μακαρίτης) ein kürzlich Verstorbener: ὁ ἥρως Εὐδόξιος, ὁ ἥρως Πατρίκιος, Ἰάμβλιχος in Schol. Basilic.“ (Rohde 1894, S. 649, Anm. 3). Rohde 1894, S. 166. Pache 2004, S. 1. Siehe Fontenrose 1968. Bezeichnenderweise sind diese Racheaktionen meist zweigeteilt, zunächst als Reaktion des Lebenden auf eine ungerechte Behandlung oder Demütigung. In maßloser Wut begeht etwa Kleomedes zerstörerische Akte in seiner unmittelbaren Umgebung, seine Mitbürger wollen ihn dafür steinigen, er aber verschwindet auf wundersame Weise in einer Kiste. Das Orakel rät zur Wiedergutmachung. In anderen Fällen, wo dies versäumt wurde, beginnt oder setzt der Tote nämlich unweigerlich sein Zerstörungswerk fort, das nun aber außermenschliche Dimensionen annimmt und die Existenz des ganzen Landes, Leib und Leben all seiner Bewohner bedroht (vgl. Fontenrose 1968, S. 73 f.). Auch beim nordischen Ahnengeist Geirstaðaálfr erscheint explizit diese Verbindung zwischen Opfertätigkeit und der Abwendung existenzieller Katastrophen, wenn auch durch den christlichen Schreiber entweder missverstanden oder bewusst verdunkelt: Der König stirbt zwar nicht durch eine Freveltat seiner Mitbürger, durch Opfer an ihn kann aber eine Seuche ebenso wie eine folgende Hungersnot bewältigt werden. Vgl. Pache 2004, S. 2.
7.1 Non puros homines
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Aber auch ihre Rache wird gefürchtet, und so wurden für diese Kinder- ja ,BabyʻHelden so bedeutsame sportliche Wettkämpfe wie die Olympischen, die Isthmischen und die Nemäischen Spiele abgehalten, die ihrem Ursprung nach nichts anderes als gigantische Toten- bzw. Sühnefeiern sind. Die Priester tragen Trauerkleidung und bekränzen die Sieger etwa an den Nemäischen Spielen mit σέλινον, Eppich, wildem Sellerie, eben jener Pflanze, die im antiken Wissen immer explizit mit Tod und Bestattung assoziiert war. Auch hier herrscht ein so genannter Festfriede (vgl. Pind. Nem. 3, 2, Pind. I. 2, 23), der allen Festteilnehmern gewährt werden musste bzw. den diese einzuhalten hatten. Es sind wohl nämliche Unglücke, die vermutlich auch im nordischen Wunsch nach ár ok friðr abgewendet werden sollten, jene Bitte, die an die ,Friedensgötterʻ Fróði und Freyr gerichtet wurde. Der so genannte ,göttlicheʻ Freyr ist lediglich eine Art Alter Ego, die Verkörperung der anderen, göttlichen Seite des verstorbenen Ahns, eine Entsprechung, um die man immer wusste, sein Opferkult hat diese Qualität nie verloren, auch als er vom lediglich lokal verehrten Familien- oder Stammesahnen zum überregionalen Schirmherrn von Schweden avancierte. So verweist auch Terry Gunnell auf die Andersheit, die „pecularities“ der Kultaktivitäten für die Vanen.¹⁸ Insbesondere die enge Verbundenheit zur Landschaft und zu Sakralbauwerken falle dabei auf: The Vanir, however, are not only shown to be more closely associated with religious buildings than other gods in the extent accounts. They are also depicted as being more directly bound up with particular holy sites in the landscape, and not least sites where they are supposed to „live on“ after their deaths […].¹⁹
Die Vanengötter schienen nachgerade „physically ,anchoredʻ to sites in the landscape,“ was von keinem einzigen Asengott behauptet werden könne.²⁰ Aber er möchte nicht nur einen grundsätzlichen Unterschied in der Kultausübung sehen, vielmehr in den Religionen als solchen, „the religions associated with the Vanir and the Æsir gods had a different nature and origin.“²¹ Natürlich, es ist die Unterschiedlichkeit der Kultempfänger: Die Vanen-‚Religionʻ war wohl nicht im eigentlichen Sinne „more ritualistic“,²² vielmehr auf die spezifische Bedürfnis- und Versorgungslage der Toten ausgerichtet. Im Bewusstsein der Menschen stand jedenfalls fest, niemand anderer als ein Toter, wenn auch von anderer Qualität, wurde dort verehrt. Auch Fróði und Freyr erfahren zunächst einmal eine rein lokal beschränkte Verehrung an ihrem Grabhügel, die Verbindung zum Grabhügel, zu ihrem Grabhügel wurde immer besonders intensiv empfunden, ähnlich dem griechischen Heroen am Heroen-Grab: „Sie sind local ge-
Vgl. Gunnell 2017, S. 113. Gunnell 2017, S. 122 f. Vgl. Gunnell 2017, S. 124. Gunnell 2017, S. 113. Gunnell 2017, S. 130.
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7 Ahnenkult
bunden, wie die olympischen Götter längst nicht mehr“, so Rohde, aber er betont auch, „ein Heros, der vom Localen losgelöst ist, strebt schon in’s Göttliche hinüber.“²³ Hier wie da geht die Entwicklung hin zum Kult überregionaler Gemeinschaften,²⁴ die gerade nicht mehr durch enge familiäre Strukturen, Abstammung, kinship, verbunden sind, sondern durch einen gewissermaßen „fictive kin status“,²⁵ den die Kultmitglieder durch die Verehrung eines oder mehrerer, (fiktiver) gemeinsamer göttlicher Ahnen erwerben. Wir sehen also eine Entwicklung vom Familienkult zu einer sukzessiven ,offenen Mitgliedschaftʻ,²⁶ wobei die ursprünglich familiären Kultstrukturen der Ahnenverehrung bzw. Verehrung einer Familiengottheit auf den nun allen gemeinsamen ,öffentlichenʻ Ahnen übertragen werden;²⁷ insbesondere die damit verbundenen Pflichten, in diesem Fall die wichtigste, die Begräbnisverantwortlichkeit²⁸ für das ,neueʻ, tote Familienmitglied: das Singen von Klageliedern, Leichenspiele, Opfer. Diesen ‚familiärenʻ Verpflichtungen konnte man sich nicht ohne weiteres entziehen, nicht einmal durch Religionswechsel: Auch die bereits zum Christentum übergetretenen Schweden, so berichtet Adam von Bremen, müssen ihren Anteil am UppsalaOpfer leisten. Das so dezidiert vorgetragene Statement im Streit um den Ursprung der römischen Larenverehrung: „One of the things that cannot be changed in this world is an ancestor“,²⁹ ist dementsprechend kaum zu halten, gerade im Konzept von Gründung und Ursprung hat der fiktive Ahne, der Heroe, einen festen Platz.³⁰ Nicht zuletzt hat der Mensch mit der Ahnenpflege ein unschätzbares Mittel zur Hand, sich existenzielle Bedrohungen nicht nur erklärlich, identifizierbar zu machen, etwa als Versäumnisse, als Missstände in der Fürsorgepflicht der Toten, sie werden gerade dadurch behandelbar.
Rohde 1894, S. 173. Diese Tendenz zur Überregionalisierung können wir auch im römischen Laren-Kult und nicht zuletzt in den Mysterienkulten überhaupt beobachten. Im nordischen Bereich scheint auch der Disenkult am Beginn einer solchen Entwicklung zu stehen. Luther 1997, S. 151. Luther 1997, S. 154. Vgl. Luther 1997, S. 152 f. Luther 1997, S. 158. Laing 1921, S. 131. Vgl. Rohde 1894, S. 636 f.: „Der Heros steht an der Spitze einer mit ihm anhebenden Reihe von Sterblichen, die er führt, als ihr ,Ahnʻ. Ahnen einer Familie, eines Geschlechts, wirkliche oder nur gedachte, sind die ächten Heroen; Archegeten der Gemeinden, der Stämme, ja ganzer Völker, wenn auch nur postulirte, verehren in den ,Heroenʻ, nach denen sie benannt sein wollen, die Angehörigen solcher Gemeinschaften. Immer sind es mächtig hervorragende, vor anderen ausgezeichnete Gestorbene, die nach dem Tode in heroisches Leben eingegangen gedacht werden.“ Aber auch der Ritus einer Stadtgründung sah die offizielle Einladung der Landesheroen vor: „Als Messene im vierten Jahrhundert neu gegründet wurde, wurden die Landesheroen feierlich herbeigerufen, dass sie wieder Mitbewohner der Stadt würden, vor allen anderen Aristomenes, der unvergessliche Vorkämpfer messenischer Freiheit“ (Rohde 1894, S. 637).
7.2 Trauer-Exzesse
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7.2 Trauer-Exzesse Wenn nun aber das Opferfest in Uppsala im eigentlichen, religionsgeschichtlichen Sinne kein Fruchtbarkeitsfest ist, wie mit jenen Ritualsequenzen umgehen, in denen doch gerade der hochsexualisierte Habitus der Verehrer wie des Verehrten eine solche Interpretation als die am naheliegendsten und selbstverständlichsten erscheinen ließ? Man wird hier an die viel zitierte Stelle einer Kultbeschreibung des Adam von Bremen denken müssen, damit verbunden die Schilderung des Tempels und den darin befindlichen Götteridolen. Drei Götteridole seien im Tempel von Uppsala verehrt worden: Thor, Wodan und Fricco, mit dem sicherlich Freyr gemeint ist. Dieser wird als Einziger mit einem gewaltigen Geschlechtsteil, cum ingenti priapo, dargestellt. Adam von Bremen berichtet in diesem Zusammenhang von schamlosen, obszönen Gesängen und Tänzen, die Freyr zu Ehren veranstaltet wurden, deren Inhalt aber nach gut christlicher Manier verschwiegen wird. Diese Kombination von Motiven genügte, um in der bisherigen Forschung Freyr als Fruchtbarkeitsgott zu klassifizieren. Aber auch in Uppsala lag Glanz und Grauen, himmlisches Wohlleben wie Tod, Verwesung und Verfall kaum weniger beunruhigend nahe wie in Lejre, in der Halle Heorot, auffallend nahe, räumlich wie narrativ wie rituell. Wir treffen auf blutige Opferexzesse, die sich doch kaum unterscheiden von den Opfern, die Grendel und seine Mutter Nacht für Nacht einfordern aus dem Kreis der Lebenden. Hier die laute, unbändige Ausgelassenheit beim Feiern, auf der anderen Seite der tödliche Tribut, den die Menschen dafür zahlen müssen ‒ beides in allernächster Nachbarschaft. Der Eindruck, den der grauenvolle Opferhain von Uppsala bei den Festlichkeiten zu Ehren des ,Fruchtbarkeitsgottesʻ Freyr bei den Festgästen hinterließ, dürfte also wohl kaum weniger nachhaltig erschütternd gewesen sein als die „bone-chilling evocation of horror“, den „Grendel’s mere“ bei Dänen wie Geaten hinterließ, „a joyless wood, water stood beneath, bloody and disturbed“,³¹ ein furchteinflößender, freudloser, schlangenverseuchter Wald, ein Pfuhl, trübe vom Blut der Getöteten. Und auch an Leichenteilen fehlt es in Heorot nicht: Der abgetrennte Kopf des Freundes Aeschere starrt den Kämpen von dortaus entgegen.³² Freyr verlangt also ebenso nach Menschenopfern (Ynglinga saga 6, 10) wie ihm der legendäre Friedenszustand zugeschrieben wird, aber es ist seine eigene Friedlichkeit, die nicht nur mit Gold und Schlafliedern, sondern auch mit blutigen Opfern sichergestellt werden muss. Die im Opferhain baumelnden Leichen, ersetzten jene Lebensenergie, die ihm abhandengekommen ist, und die er regelmäßig einfordert ‒ eine erbarmungslose Ritual-Wirklichkeit, die möglicherweise
Orchard 1995, S. 38. (wynleasne wudu; wæter under stod dreorig ond gedrefed [V. 1416 f.]). Vgl. dazu Adam von Bremen, Scholion 134: „Dort ist auch eine Quelle, wo die Heiden Opfer anzustellen und einen Menschen lebendig zu versenken pflegen. Wenn derselbe nicht wieder gefunden wird, so ist der Wunsch des Volks bestätigt.“ Diese Schilderung könnte eine Entsprechung in der Realgeographie Uppsalas besitzen: „It seems that during the first millenium the whole complex was surrounded by a water-system, which also included a small lake, nowdays Myrby träsk“ (Duczko 1998, S. 412).
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7 Ahnenkult
einst auch hinter den Wollpüppchen am ,Familienfestʻ der römischen compitalia stand. Dermaßen blutig ausgesöhnt wird auch Nerthus endlich des Umgangs mit den Menschen „satt“ und ebenso weiß Thietmar von Merseburg von Lejre, dem Stammsitz Balders, zu berichten, dass die Menschen „für gewiß glaubten, daß diese [die Opfer, d. Verf.] ihnen bei den Göttern der Unterwelt Dienste leisten und dieselben wegen ihrer begangenen Missethaten mit ihnen aussöhnen würden“ (I, 9).³³ Sühneopfer also verlangten diese Götter, Kompensationen, keine Fruchtbarkeitsopfer, blutigen Ausgleich für „begangene Missethaten“, und nichts anderes ist es als ihre Lebendigkeit, für die sich die Kultteilnehmer ,schämenʻ müssen vor den Toten. Diese Vorstellung der Notwendigkeit zur Wiedergutmachung entspricht überall auf der Welt der tiefen Logik eines Toten- oder Ahnenkults. Es ist rituelle Unterstützung wie Stabilisierung einer Transformation. Nur unter diesen Voraussetzungen wird der Mensch nach seinem Tod zum Alb, ein Mitglied der di manes, darauf sind die Ritualelemente ausgerichtet: Die rituell inszenierte Mobilität, sei es die kultische Umfahrt im Großen wie die Schaukelbewegung im Kleinen, transformiert unerwünschte, chaotische, zerstörerische Mobilität in beherrschbare, bringt sie in buchstäblich geordnete, rituell festgelegte Bahnen. Sie ist auf der anderen Seite auch und gerade ritueller Ersatz für eine Fähigkeit oder Möglichkeit, die nicht (mehr) besteht (oder nicht mehr ohne weiteres zugestanden werden darf), aber weiterhin suggeriert werden muss. Es sind also Beschwichtigungs- und Begütigungsversuche, man fürchtet den Zorn und Frustration, der aus diesem Mangelgefühl erwachsen könnte. Gleichwohl muss dieser Zustand der Befriedung und des Wohlwollens rituell immer wieder aufs Neue erarbeitet und gefestigt werden, eine im Grunde genommen permanente Bringschuld, die man kaum nur einmalig, sondern zyklisch, temporär oder im Bedarfsfall beglich. Und das bedeutete, dass genügend ritueller Ersatz geleistet werden musste an dem, was den Toten mutmaßlich fehlte, Nahrung, Wohlstand, fester Wohnsitz, Unterhaltung, Bewegung, kurz Lebenskraft, die keineswegs ausschließlich, aber gewiss pars pro toto als sexuelle Kraft, als Zeugungskraft verstanden wurde. Und so wie wir schon in der kultischen Wagenfahrt rituelle Substitution für Mobilität im Rahmen der Totenfürsorge und des Ahnenkults gesehen haben, müssen wir von ähnlichen Bedingtheiten in letzterem Fall ausgehen. Obszöne Sprechakte, rituelle Handlungen mit obszön sexuellem Charakter erscheinen zweifelsohne in Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsriten, es soll in magischer Analogie den nämlichen Effekt auf göttlicher Ebene bewirken ‒ aber eben nicht nur: Ein in hohem Maße sexualisiertes Verhalten, eine ungewöhnliche, ja befremdende sexuelle Freizügigkeit findet sich gerade dort, wo man sie offenbar bisher am wenigsten vermutet hat: in Begräbnisriten. Tatsächlich sind „[f]easting, mirth, and sexual exuberance“ weltweite, notorische Begleiter von Bestattungsritualen, aber wohl gerade nicht als „sequel to laments and a means of putting an end to the tears they induced“, wie manches Mal aufgefasst,³⁴
Laurent (Hg.) 1848, S. 17 f. Vgl. Holst-Warhaft 2000, S. 8.
7.2 Trauer-Exzesse
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vielmehr als konstitutionelle Bestandteile, als wichtige Markierungen eines ganz bestimmten, liminalen Status im Übergangsritus der Bestattung, jener so wichtigen Phase des Übergangs, wo sich alte Strukturen auflösen und neuen, transformierten Platz machen müssen. Ritualpraktisch gehört zu dieser Übergangszeit die Totenwache, eine Phase intensivster ritueller Aktivitäten und Austausch mit dem Toten in jenem Zeitraum nach Eintritt des Todes bis zur endgültigen Bestattung (die freilich in den unterschiedlichen Kulturen und Zeiten variieren kann und sich über mehrere Jahre hinstrecken kann, solange bis eben jener Zustand der Homöostase und damit Befriedung erreicht ist). „At the most basic level, the purpose of a wake is to watch the body during the period of time between death and burial.“³⁵ Sie wird in allen vormodernen Kulturen als die gefährlichste angesehen, zumal der Tote als nach wie vor handlungsfähig, gerade handlungsfähig, übernatürlich wirkmächtig betrachtet wird, gleichzeitig aber verwirrt, beleidigt, zornig ist, weil er aus seiner Gemeinschaft, seinem üblichen Leben herausgerissen wurde. Nun galt es, diese Potenz nicht nur zu annihilieren, sondern positiv, im Sinne der Gemeinschaft zu transformieren und zu inkorporieren. Bezeichnenderweise geht diese Umwandlungsphase häufig mit Spielen einher: berühmtberüchtigt etwa die so genannten irischen wake games oder wake amusements, Spiele mit explizit sexuellem, blasphemischen und nicht zuletzt gewalttätigem Charakter, Holst-Warhaft fasst es lakonisch als „horseplay, drunkenness, nudity.“³⁶ Diese Spiele wurden nächtens im Rahmen einer Totenwache gespielt, im Angesicht des Leichnams, dem zu Ehren sie letztendlich auch veranstaltet wurden: „From the surviving accounts of Irish wake games by English observers, we discover that they included elaborate ‚playsʻ that were performed in the presence of the corpse as well as the community of mourners.“³⁷ Bis ins letzte Jahrhundert erfreuten sich dermaßen gestaltete Leichenwachen, trotz heftiger Opposition der christlichen Kirche, größter Beliebtheit. Aber nicht nur in Irland, auch in den Balkanregionen, in Ungarn, Russland und Griechenland hören wir noch von Reminiszenzen,³⁸ und sei es auch nur noch in Form von „das Begräbnis nachahmenden, die Leichenfeier parodierenden Spiele“ zu anderen Gelegenheiten. Auch diese Spiele wurden bis ins 17. Jh. ausdrücklich bei einer richtigen Leichenfeier vorgeführt, sei es im Haus des Toten oder auf dem Friedhof mit ihrem ,Hauptakteurʻ, einem „sich tot stellenden Burschen“.³⁹ Zu noch früheren Zeiten war es stets der Tote
Harlow 2003, S. 85. Holst-Warhaft 2000, S. 56. Holst-Warhaft 2000, S. 8. Siehe ÓSúilleabháin 1969, S. 159: „The wake as an institution, is very ancient, and there is no lack of evidence to show that throughout a large part of Europe, feasting and drinking, dancing, singing and music were normal features of wakes as long ago as the start of the Middle Ages, about a thousand years ago.“ Ujváry 1966, S. 267: „In dem 1683 erschienenen ,Ungarischen oder Dacianischen Simplicissimusʻ wird der Brauch folgendermaßen beschrieben: ‚Sonsten habe ich auch in jeder ungarischen stadt bei
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7 Ahnenkult
selbst, so wie wir es noch in den irischen Spielen gut erkennen können, der diesen Part übernahm: Der Tote wurde jedenfalls durchaus noch wie ein Lebender behandelt. Er wird ans Feuer gesetzt, um ihn zu wärmen, die Witwe bläst ihm Rauch in den Mund, beim Kartenspielen werden ihm Karten in die Hand gedrückt, drastisch genug „legt man selbst Hand an den Toten“,⁴⁰ lässt ihn eine Runde durch die Küche ,spazierenʻ oder ,tanzenʻ,⁴¹ und hier wie da wird ausdrücklich der obszöne, drastische und schamlose Charakter eben jener Spiele und Belustigungen mit oder ohne des Toten direkte Beteiligung hervorgehoben. Ihre Übermittlung, dem Beispiel der frühen christlichen Autoren folgend, wurde entsprechend nahezu gänzlich unterdrückt, zumindest aber deren unverhüllt anstößige Ausrichtung stark verdunkelt. Noch in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts vermerkt der ungarische Folklorist Ujváry über eine dieser so genannten ,Spaß-Nekrologienʻ, die bei dieser Gelegenheit zum Vortrag kamen (einschließlich der dazugehörigen Umtriebe), dass „keine einzige Variante dieser Reden im vollen Umfange veröffentlicht werden kann.“ Der Text ebenso wie die äußere Form des Spieles sei „stark obszön“ und er bringt entsprechend aus den „publizierbaren Teilen“ lediglich einige Beispiele.⁴² Aber man kann doch eine Vorstellung gewinnen, was die Kirchenväter und späteren Synodal-Teilnehmer all die Jahrhunderte dermaßen schockiert haben muss, gerade wenn man bedenkt, dass die ungarischen (kaum anders als die irischen) Berichte bereits mit Rücksicht auf ihre Leserschaft ad usum Delphini sind: Ein sich tot stellender Bursche wurde auf eine Bank gelegt und mit einem Leinentuch verhüllt, dann schritten die ,Trauergästeʻ, die ,Familieʻ und der ,Pfarrerʻ dazu. Zunächst wurde ein obszönes Lied (dessen Inhalt offenbar gar nicht genannt werden kann) gesungen, dann hielt der ,Pfarrerʻ die Leichenrede. Neben üblen Beschimpfungen des ,Totenʻ selbst und der männlichen ,Hinterbliebenenʻ („Würmer und Krähen mögen beide Augen dieses unseren Bruders herausfressen“, „Du hast deinen Vater oft betrogen, deshalb mögen deinen runden Hinteren die Hunde zerbeißen“. „Die Grabrede für dich steht schon fertig geschrieben. Der Henker soll dich erhängen!“) fallen die ausschließlich stark sexuell getönten Beleidigungen der weiblichen Anwesenden auf: „Die erste Tochter bist du, Eszter. Wenn du dich balgst, fällst du immer untenhin. Die zweite Tochter bist du, Zsuzsánna, so oft ich dich bat, gabst du mir immer, legtest dich sofort auf den Rücken. Die dritte Tochter bist du, Piroska. Leg’ einer leich einen sonderbaren tanz gesehen, da legte sich einer mitten in die stuben, streckte händ und füss von einander, das angesicht war ihm mit einem schnupftuch verdeckt, er lag da und regte sich gar nit. da hiess man den spielmann den todten-tanz mit dem bockpfeiffer machen, sobald diser anhub, giengen etliche manns- und weibspersonen singend und halb weinend um diesen liegenden kerl, legten ihm die hände zusammen auf die brust, banden ihm die füss, legten ihn bald auf den bauch, bald auf den rucken, und trieben allerhand spiel mit ihme, richteten auch solchen nach und nach auf und tanzen mit ihm, welches gar abscheulich zuzusehen, weil sich dieser kerl im geringsten nit regte, sondern eben wie sie ihme die glieder richteten, also gleichsam erstarrt dastundʻ.“ Hartmann 1952, S. 112. Vgl. Hartmann 1952, S. 112 f. Vgl. Ujváry 1966, S. 268 f.
7.2 Trauer-Exzesse
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dich nieder mit dem Geistlichen des Toten.“⁴³ Wir kennen diese Beleidigungen gut, sie gehören auf gleiche Weise in das Repertoire des Loki in der Lokasenna gegenüber den weiblichen Gästen. Ob Iðunn, Skaði, Gefjon, Frigg oder Freyja, sie werden der nämlichen Schamlosigkeit und sexuellen Schrankenlosigkeit beschuldigt. Noch drastischer sind die dazu ausgeführten Handlungen: Während der Rede des Geistlichen werfen sich die Angehörigen auf den Toten und jammern. Seine Frau sucht den Penis des Toten. Der den Toten darstellende Bursche steckt durch die ins Leintuch oder den Kotzen geschnittene Öffnung einen Maiskolben oder eine Möhre heraus. Die Frau streichelt das Ding, und hin und wieder ertönt ihr Aufschrei während der Rede: „Oh, nur um das eine ist mir leid!“⁴⁴
Bemerkungen, die sich auf den Penis des Toten bezögen, seien dabei genauso unerlässlich wie „die Darstellung desselben durch irgendeinen Gegenstand“.⁴⁵ Bisweilen ging das Spiel auch so weit, dass Mitspielerinnen, insbesondere wenn sie das Spiel nicht kannten, nicht lediglich einen imitierter Phallos, sondern den richtigen Penis des ,Totenʻ zu sehen bekamen, was mit entsprechendem Gekreische und Gelächter quittiert wurde.⁴⁶ Von Spielen mit stark phallischen Konnotationen berichtet auch Hartmann im Umfeld der irischen Totenwachen, etwa von einem Spiel, das (wiederum stereotyp) als „sehr unmoralisch und obszön“ gelte, des Weiteren aber ganz vage bleibt, das so genannte „ship a-sailing“⁴⁷: Ein Mann wurde zu Boden geworfen und in „unanständiger Weise“ gefesselt, wobei sein Körper den Rumpf des Schiffes darstellte, dann sei er emporgehoben und „zum Gaudium der Zuschauer“⁴⁸ gezeigt worden. Man kann nur mutmaßen, was einmal einen Betroffenen dabei dermaßen in Wut versetzt haben könnte, dass er den Anstifter auf der Stelle mit einem Knüppel erschlagen haben soll.⁴⁹ Vermutlich sein exponiertes Geschlechtsteil als ,Mastʻ, wie es in ähnlichen Spielen (,Bau des Schiffesʻ, ,Das segelnde Schiffʻ) angedeutet scheint. Auch Hartmann möchte zurückhaltend einen „phallischen Einschlag“ vermuten, „da die Errichtung des Segels diesem Spiel die eigentliche Note zu geben scheint.“⁵⁰ ÓSúilleabháin gibt dazu weitere Details, indes, wie er selbst bedauert, als „rather garbled account“.⁵¹ Ein Gewährsmann John Prim berichte, wie zuerst der ,Kielʻ gelegt worden sei, gefolgt vom ,Bugʻ und ,Heckʻ des Schiffes, schließlich sei es die Aufgabe einer Frau
Ujváry 1966, S. 269. Ujváry 1966, S. 269. Ujváry 1966, S. 272. Vgl. Ujváry 1966, S. 270. Hartmann 1952, S. 117. Hartmann 1952, S. 117. Vgl. Hartmann 1952, S. 117. Hartmann 1952, S. 127. ÓSúilleabháin 1969, S. 76.
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7 Ahnenkult
gewesen, „to raise the mast with some gesture and speech that convinced Prim that the game had its origin in pagan times.“⁵² Die Transgressivität und Exorbitanz dieser Leichenspiele ist also oft bemerkt, aber selten verstanden worden: In jeder Hinsicht geht es um Grenzüberschreitung, gerade auch in Form von Alkoholexzessen bis hin zur Besinnungslosigkeit. Es sind Akte der Solidarisierung mit dem Toten. In den blutigen Verletzungen erkennen wir ferne Reminiszenzen an jene Blutopfer, nach denen die Toten gieren und die schon in paganen Bestattungsritualen ihren festen Platz hatten, und sei es nur noch in Form der blutig gekratzten Wangen der gemieteten Klageweiber. Leichenspiele führen also in diesem Sinne nicht nur Bestattungsriten fort, als eben weitere Simulations- oder Distanzierungsstufen von (ritueller) Wirklichkeit, sie haben vielmehr schon immer ihren festen Platz darin. Sie sind keinesfalls lediglich ,harmlosʻ oder ,lustigʻ oder ,geschmacklosʻ. Es sind keine Handlungen mit Ventilfunktion, um etwa die zwangsläufig entstandenen negativen Gefühle abbauen zu können, noch ein lustiges Gegenprogramm, das auf die vielen Tränen und den Kummer folgt. (Gegebenenfalls wird im Anschluss genauso untröstlich weiter getrauert). Sie gehören in einen Rahmen streng reglementierter Trauergesten. Es sind Behandlungsvorgaben für die liminale Phase, in der sich die Trauergemeinde mit dem Toten gleichschalten muss. Die Spiele markieren den instabilen, chaotischen Übergangszustand und produzieren ihn gleichzeitig. Sämtliche Leichenspielsequenzen finden sich auch im Baldermythos wieder, sei es als vorgebliches Spiel oder aber in einem tatsächlichen Begräbniszusammenhang. Im Begräbnisbrauch ist das Wurfspiel zwar tatsächlich nichts anderes als ein Spiel, aber man hat von schlimmen, ja mitunter tödlichen Verletzungen gehört. Hartmann berichtet von einer „Kanonade mit Torfstücken“,⁵³ mit denen sich die Teilnehmer der Totenwache gegenseitig ‒ wie den Toten ‒ bewürfen und sich dabei einen heftigen, nicht selten blutigen Schlagabtausch lieferten, ja mitunter der Leichnam selbst unter dem heftigen Beschuss von seiner Bahre stürzte.⁵⁴ Ähnlich ÓSúilleabháin: As at the wake which I myself attended in Mayo over forty years ago, where potatoes were the missiles, turf-sods or portions of them (cadhráin) were equally used in this way over most of Ireland. Even persons who were no longer young took a hand in the „croosting“. Besides turf, the shanks of clay pipes were also broken off by those who did not smoke and used as missiles; the targets were usually unpopular individuals or crusty old men, who were easily angered.Whatever was ready to hand would be used: potatoes, water or anything convenient. „We’ll have a night of
ÓSúilleabháin 1969, S. 76. Zu diesen Schiffspielen gehörte schließlich auch das so genannte „Drawing the Ship out of the Mud“ (ÓSúilleabháin 1969, S. 77), über dessen Inhalt gar nichts verlautet wird, aber man wird sich an eine wichtige Szene der mythischen Schiffsbestattung Balders erinnern müssen, bekanntermaßen eine Schiffsbestattung mit Hindernissen, die nur mit außernatürlicher Hilfe aus dem Weg geräumt werden konnten – und mit einem ähnlich folgenschweren Wutausbruch (siehe Kap. 13.1). Hartmann 1952, S. 113. Vgl. Hartmann 1952, S. 113.
7.2 Trauer-Exzesse
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croosting“, the young folk would cry with joy, whenever they heard that some old person had died in the parish.⁵⁵
Im Mythos ist Balder der Hauptakteur, der verhüllte Bursche, der keinen Ton von sich gibt, ganz und gar passiv, gleichermaßen entsetzlicher Beobachter wie Mitspieler. Und auch auf den Spaß-Nekrolog werden wir wieder treffen, auf prima facie geschmacklose, gleichermaßen unmotivierte Beschimpfungen und Anzüglichkeiten der Gäste, wir wollen jetzt annehmen, der Trauergäste, und auch im altnordischen Kontext wird das – wie stets – ein ,schlimmesʻ Ende nehmen. Es sind die exzessiven Gefühlsausbrüche, zu denen gerade in Trauerkontexten keineswegs nur das Weinen, die unstillbaren Tränen, sondern auch das Lachen, eine bis ins Frenetische gesteigerte Heiterkeit und Ausgelassenheit gehören, die aus christlicher Sicht (aber auch schon davor) wohl stets am meisten kritisiert wurden, als ‚pietätlosʻ und jedenfalls unpassend für den Trauerfall betrachtet wurden: Tears and laments are […] an almost universal response to death and grief. Laughter is a less common response, one that seems inappropriate in most parts of the modern world. Jokes may be told at memorial services, but the idea of engaging in bawdy games, singing sexually suggestive songs, or courting a future husband at a funeral is offensive.⁵⁶
Durch Lachen wird Wirklichkeit, kulturelle Normen, was bisher gültig und wahr war, ins Schwanken gebracht. Es ist nicht nur einfach eine Begleiterscheinung, ein körperlicher Effekt, der unvermeidlich scheint, es unterstützt und fördert gezielt den Umbruch, weil etwas Anderes, etwas Neues entstehen muss. Das berühmteste Beispiel dieser eigenartigen Kombination von Trauer und Lachen ist wohl Demeter, wie sie buchstäblich versteinert, selbst wie tot vor Kummer um ihre Tochter Persephone auf einem Felsen sitzt, dem ἀγέλαστος petra,⁵⁷ wohl ganz ähnlich wie man sich Gudrun vorstellen mag, wie sie dasitzt, tränenlos, vor ihrem toten, geliebten Sigurðr. Gewiss mit ungleichen Mitteln, aber in jedem Fall wird diese Versteinerung durch eine überaus heftige, bewusst provozierte Gefühlsreaktion gebrochen. Eine Provokation ist stets übergriffig und aggressiv, Gudrun wird mit Sprechakten der Trauergemeinde, einem Überschwang an ,grenzenlosʻ traurigen Ereignissen und dann mit Handeln gereizt, der Leichnam Sigurðs wird abrupt enthüllt als Epiphanie des Unerträglichen und provoziert damit die erwünschte, notwendige Reaktion. Auch im Handeln der alten Baubo (wohl die „personifizierte Vulva“⁵⁸) erscheint in kaum geringerem Maße eine dermaßen verstörende Epiphanie. Sie enthüllt ihre Geschlechtsteile und vollführt einen Tanz vor Demeter, was die Göttin bekanntlich zu einem Lachausbruch reizt (im
ÓSúilleabháin 1969, S. 66. Vgl. Joyce 1979, S. 242: „Croost; to throw stones or clods from the hand. […] Irish crústa [croostha], a missile, a clod.“ Holst-Warhaft 2000, S. 55. Vgl. Kerényi 1962, S. 52. Fauth 1979c, Sp. 845.
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7 Ahnenkult
Homerischen Hymnus entspricht sie Iambe, die dies mit ὀργαῖς bewerkstelligt, „with many a quip and jest“, wie Evelyn-White sehr zurückhaltend übersetzt).⁵⁹ Aber hier ist Sprechen wie Handeln als hochobszöner Akt gemeint,⁶⁰ mit dem erwünschten, wichtigen Effekt, dass die Göttin ihr Trauerfasten bricht und damit ‒ durch rituelles Lachen markiert ‒ der Totenkult, die Trauer (für alle) zu einem Ende kommt.⁶¹
Evelyn-White 1914, S. 303. Hier wie da geht es nicht einmal primär um individuelle Zuwendung und Solidarität mit der Trauernden, es geht vielmehr um ein notwendiges, korrekt ausgeführtes Ritualelement, im Fall der Demeter, um das Trauerritual zum Wohle aller zum Abschluss zu bringen: „A long time she sat upon the stool without speaking because of her sorrow, and greeted no one by word or by sign, but rested, [200] never smiling, and tasting neither food nor drink, because she pined with longing for her deep-bosomed daughter, until careful Iambe – who pleased her moods in aftertime also – moved the holy lady with many a quip and jest to smile and laugh and cheer her heart. [205] Then Metaneira filled a cup with sweet wine and offered it to her; but she refused it, for she said it was not lawful for her to drink red wine, but bade them mix meal and water with soft mint and give her to drink. [210] And Metaneira mixed the draught and gave it to the goddess as she bade“ (Evelyn-White 1914, S. 303). Im Fall der Gudrun (Gðr I) geschieht es, um dem Toten eine lückenlose Anteilnahme und Solidarität zu demonstrieren: „Einst war’s dass Gudrun zu sterben wünschte, / als sie kummervoll bei Sigurd saß. / Sie weinte nicht noch schlug sie die Hände, / noch klagte sie, wie andre Frauen“ (Gðr I, 1). Aus dem gleichen Grund müssen alle Gudrun zum Weinen bewegen, weil es eine rituelle Vorschrift ist, auf die der Tote Anspruch hat, und nicht, um sie gewissermaßen psychisch zu entlasten im Sinne einer modernen Krisenintervention oder Seelenhygiene. Sie gefährdet mit ihrem Verhalten die Gemeinschaft, so wie der Tod des Einzelnen immer auch Konsequenzen für die ganze Gemeinschaft hat. Die rituelle Aischrologie, ‚das schamlose, obszöne Sprechenʻ, wird als „eigentümliche, exzentrische Form der Kommunikation“ verstanden, die für die meiste Zeit des Jahres suspendiert gewesen sei (vgl. Rösler 1993, S. 76). Sie habe indes ihren Platz in eben jenen Festen, in denen übliche „Normen und Grenzen des Alltagslebens“ aufgehoben seien (Rösler 1993, S. 86). Aischrologie könne damit zwar als karnevaleskes Phänomen bezeichnet werden, allerdings möchte Wolfgang Rösler historische Abhängigkeiten zwischen antiken, religiös gegründeten Festen und dem neuzeitlichen Karnevalsbrauch explizit ausschließen. Eine Analogie sei aber in deren Funktion zu sehen (vgl. Rösler 1993, S. 88 f.). Fastnacht (Karneval) wie Aischrologie seien als „Ventilsitte“ zu bezeichnen (vgl. Rösler 1993, S. 89), letztendlich mit dem Ziel, gegenläufige Kräfte zu kanalisieren und damit bestehende Ordnungen zu stabilisieren. Inwiefern dies für (neuzeitliche) karnevaleske Phänomene zutrifft, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden, die analogen Ritualelemente in Bestattungskontexten haben diese Ventilfunktion nicht. Im japanischen Mythos treffen wir auf eine auffallend ähnliche Transgression im Zusammenhang mit der Gestalt der Sonnengöttin Amaterasu. Wegen der maßlosen Übergriffe und Beschämungen durch ihren Bruder Susanoo zieht sich die Göttin tief beleidigt in eine Felsenhöhle zurück und bringt durch ihr Verharren (ihre ,Versteinerungʻ) Unglück, Seuchen und Dunkelheit über die Welt. Auch hier wird die Göttin durch einen schamlosen Tanz der entblößten Schamanengöttin Ame-no-uzume-nomikoto („Ihre Hoheit himmlische beängstigende Frau“) bzw. durch die dadurch ausgelöste allgemeine Heiterkeit aus ihrem Versteck gelockt (vgl. Duerr 1994, S. 91 f.; vgl. auch Naumann 1996b, S. 114– 123). Durch eine andere Art von Infamie wird die griechische Göttin Hera aus ihrem Rückzugsort gelockt. Eine vorgebliche Neuverheiratung ihres Gatten Zeus schockiert sie ebenso, wie die neue ,Brautʻ ihre Neugier erweckt. Auch hier gelingt es, ihren Zorn in ein versöhnliches Lachen umzuwandeln. Die Sheila-na-gigs, die Genitalweiserinnen, schockieren die Dämonen und provozieren sie zu Lachausbrüchen. Beide Reaktionen führen zu deren Bannung und Unschädlichmachung (vgl. Duerr 1994, S. 93).
7.2 Trauer-Exzesse
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Die Enthüllung oder das Präsentieren von Geschlechtsteilen muss also nicht in allen Fällen oder primär etwas mit Sexualität zu tun haben, mit der Aufforderung zu sexuellen Handlungen, sondern zunächst einmal mit dem Bruch von Schamgrenzen, etwas zu exponieren, was üblicherweise verhüllt sein sollte, sei es die Nacktheit der alten Baubo oder der verhüllte und damit tabuisierte Leichnam des Sigurðr. Ein Schock-Effekt, der mit allen Mitteln erreicht werden muss, damit eine notwendige Transformation vorangetrieben wird.⁶² Mit beiden Effekten müssen wir im Bestattungsritus rechnen, neben dem Substitutionsbedürfnis, der Kennzeichnung eines Mangels und dessen hyperbolischer Behebung, ist es auf gleiche Weise Grenzüberschreitung und Bruch. Und gleichermaßen mitgemeint ist immer auch das Lachen der Toten, deren gefährliche Überlegenheit verbunden mit potentieller Missgunst mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ‒ und sei es auf Kosten tiefster „sozialer Inferiorität“⁶³ der Lebenden ‒ abgewendet werden muss. So wundert es bestenfalls den modernen Betrachter, dass nicht nur Totenwachen, sondern nahezu allen Totenfesten ein volksfestartiger, ja exzessiver Charakter gemeinsam ist mit einer schon dem Hl. Augustinus bekannten, notorischen Neigung zum buchstäblich ,aus dem Ruder Laufenʻ. Was in slavischen Begräbnisbräuchen etwa als „lustiges Picknick“⁶⁴ beginnt, so ein Folklorist des letzten Jahrhunderts (man begibt sich in Scharen auf den Friedhof mit Speisen und Getränken, man lässt sich auf den Grabstätten nieder, man singt), scheint stets mit einer gewissen, durchaus angestrebten Notwendigkeit ähnlich zu enden ‒ in „wahre[n] Orgien“.⁶⁵ Wohl nichts anderes zum Inhalt haben die gleichermaßen notorischen Fragen nach der Ausübung ungehöriger, unchristlicher Bestattungsrituale in den mittelalterlichen Bußpredigten. Wiederholt unter Bestrafung gestellt sind jene Praktiken jedenfalls von erstaunlicher
Siehe aber kritisch dagegen Isolde Stark, die gerade für das archaische Griechenland eine temporäre Aufhebung geltender Normen, eine Umkehrung von Hierarchien nicht erkennen kann. Stark sieht vielmehr ausschließlich deren Bestätigung: „Selbst die obszöne Selbstpräsentation der Baubo – ihr entspricht im homerischen Hymnos die Iambe –, die die trauernde Demeter zum Lachen bringt, zeigt deutlich, wer hier über wen lacht: die Göttin über die alte, häßliche und schamlose Magd. Diese stellt ihre soziale Inferiorität gezielt zur Schau, um die Göttin zu erheitern, sie macht sich selbst zum Gegenstand des Lachens. Die Welt des Mythos erfährt keine kurzfristige Umkehrung. Das Lachen der Demeter bestätigt sie. Das Prinzip der ,karnevaleskenʻ Umkehrung setzt Hierarchien voraus, die temporär auf den Kopf gestellt bzw. aufgehoben werden können“ (Stark 2004, S. 14). Nun findet hier in der Tat keine Umkehrung von Hierarchien statt, noch viel weniger haben wir es mit jener viel bemühten karnevalesken Ventilfunktion zu tun (vgl. Rösler 1993, S. 89), aber mit einer temporären Aufhebung geltender Normen zweifellos. Die alte Baubo verhält sich unziemlich, schockierend, sie macht sich im Rahmen kultischen Handelns gezielt zum Lachobjekt. Außerhalb davon würde sie damit gleichermaßen zum Rügeobjekt. Es geht aber nicht darum, unziemliches Handeln durch Lachen abzustrafen, sondern diese Reaktion sicher zu provozieren, den bedrohlichen, für die Gemeinschaft gefährlichen, todesähnlichen (Trauer)zustand des/der Überlegenen durch das Lachen in einen ungefährlichen Normalzustand zu transformieren. Stark 2004, S. 14. Murko 1910, S. 88. Murko 1910, S. 97.
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7 Ahnenkult
Konstanz, ungezählt sind die Beschwerden über carmina diabolica, saltationes, ioca, cachinni, bibere und manducare.⁶⁶ Bis zur Schwelle des letzten Jahrhunderts und darüber hinaus hört man von Missbrauch und Unfug, von Exzessen, die anlässlich der Bewachung der Leiche getrieben würden.⁶⁷ ‚Schmutzigesʻ, obszönes Sprechen gehört zur formelhaften Motivik in Leichenliedern selbst, die wiederum ihrerseits – bis heute – mit großem Ernst und tränenreich insbesondere von Frauen vorgetragen werden. Sie sind am wenigsten lustig oder zotig gemeint, wenngleich hier in besonderem Maße Schamgrenzen gebrochen werden, etwa wenn ausgerechnet die sexuelle Hemmungslosigkeit des Verstorbenen als Exzellenz in den Mittelpunkt gerückt wird. Holst-Warhaft verweist auf Klagelieder der Warao, ein indigener Stamm Venezuelas, „full of obscenities and metaphorical descriptions of sex“.⁶⁸ So singt die Mutter über ihren toten (Stief)sohn, indem sie gewiss jegliche Beschränkungen und Tabus der üblichen Frauensprache des Stammes bricht: My son, „because you are such a sex fiend, after you [are / gone] the vaginas will not be finished off.“ / I, your aunt, will keep on hearing this, my son. / My son, oh pitiful you, my son, / „This
Siehe etwa in einer Trierer Sendpredigt des 9. Jhs.: Saltatores et saltatrices, qui eorum saltationem circa corpora defunctorum et cantationes et iocum agunt, eos atque illas scire a vobis volumus, ut ad emendationem revocemus (Kyll [Hg.] 1961, S. 11). („Tänzer und Tänzerinnen, die ihre Tänze rund um die Leichname der Toten herum aufführen und Leute, die Gesänge und Scherze machen, solche Männer und Frauen wollen wir von euch erfahren, damit wir sie zur Besserung bekehren“ (Übers. Kyll 1972, S. 30). Oder im Visitationshandbuch des Regino von Prüm: Si carmina diabolica, quae super mortuos nocturnis horis ignobile vulgus cantare solet et cachinnos, quos exercent, sub contestatione Dei omnipotentis prohibeat? (Wasserschleben [Hg.] 1840, S. 24) („Ob er die teuflichen [sic] Gesänge, die das einfache Volk in nächtlichen Stunden über die Toten zu singen pflegt, und das rohschallende Gelächter, das sie ausüben, unter beschwörendem Hinweis auf den allmächtigen Gotte verbietet?“ [Übers. Kyll 1972, S. 30]) und ähnlich: Si aliquis super mortuum nocturnis horis carmina diabolica cantat, et bibit et manducat, et quasi de ejus morte gratulatur, et si alibi mortui in vigiliis nocturnis nisi in ecclesia custodiuntur? (Wasserschleben [Hg.] 1840, S. 213) („Ob jemand über einen Toten in nächtlichen Stunden teuflische Gesänge singt und trinkt und isst und sich gleichsam über dessen Tod freut, und ob die Toten bei diesen nächtlichen Wachen an einem anderen Platze als in der Kirche bewacht werden?“ [Übers. Kyll 1972, S. 30 f.]). So zitiert Holst-Warhaft aus einem Artikel der New York Times aus dem Jahr 1996 über sexuelle Ausschweifungen, „sexual pickups“ (Howard W. French, New York Times, 6. 11. 96, zit. n. Holst-Warhaft 2000, S. 56) im Rahmen von Begräbnissen an der afrikanischen Elfenbeinküste. Der moderne Reporter scheint jedenfalls kaum weniger indigniert als die englischen (oder ungarischen) Beobachter des 19. Jhs.: „A private funeral home in downtown Abidjan has, it seems, become the hottest place in town to pick up a sexual partner“ (New York Times). Auf gleiche Weise irritiert zeigt sich der Journalist über die „bursts of laughter more often than sobbing“, diese Art „game of seduction that is supposedly dedicated to the dead“ (New York Times) interpretiert er entsprechend als eine Art pervertierten Ritus, letztendlich als „decay in African moral values“ (New York Times). Auch er verkennt Lust und Lachen als empörenden Missbrauch, als Mangel an Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit bei der Ausübung der Bestattungsriten. Holst-Warhaft 2000, S. 43.
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nephew of ours does not respect [the wives of others]; / „when will you tire of always lying with your wife there? / soon your semen will be finished!“⁶⁹
Besonders auffallend sind die sexuellen Transgressionen im haitianischen Voodookult, den nach allgemeiner Übereinkunft die versklavten Vorfahren der heutigen Anhänger einst aus ihrer afrikanischen Heimat mitbrachten. Natürlich, er ist zunächst einmal Toten- bzw. Ahnenkult. Eine zentrale Rolle spielen darin die so genannten Gede (Guédé, Ghédé), ausdrücklich eine Familie von Geistwesen, wörtlich „Tote“, die aber auch als ursprüngliche Ethnie, als die Ureinwohner des Abomey Plateaus in Afrika (Benin) erklärt werden. Vom Stamm der Fon überwunden und versklavt sollen sie von diesen zu einer Art Totengräber-Kaste gemacht worden sein als Erklärung für ihre Verbindung zum Gräber- und Totenkult; eine Erklärung, die indes den Anschein einer lediglich im Nachhinein rationalisierenden Hinzufügung macht, denn gleichzeitig werden sie als so genannte Guede-vi in den Ahnenkult der Fon inkorporiert. Schließlich sollen sie an die Portugiesen als Sklaven verkauft worden sein, weil die Fon, wie es heißt, ihre Verbindung zu den Toten und insbesondere ihre magischen Kräfte als Nekromantiker fürchteten.⁷⁰ In der Voodooreligion von heute verkörpern sie „the powers of death and fertility“, sie erscheinen als „irreverent spirits who love ribaldry, obscenity, and sex“ und sie sind mit einem obszönen Tanz verbunden, dem banda, der den Geschlechtsakt imitiert.⁷¹ Sie können jederzeit von Menschen Besitz ergreifen, die man in der Regel dann an ihrem obszönen Sprechen und Bewegungen erkennt.⁷² Der Jenseitscharakter und die Transgressivität der Gede ist durch eine Fülle einschlägiger, liminaler Symbole gekennzeichnet: eine besondere Kopfbedeckung, Brillen bei denen ein Glas fehlt und damit den Träger ,einäugigʻ macht (!), um den Hals gehängte Säuglingsutensilien wie Schnuller und Rassel kombiniert in abstruser Diskrepanz mit Holzphalli ‒ „the Gedes are goofily erotic.“⁷³ Durchgehende Thematik ihres Gesangs wie Sprechens ist die obszöne Benennung männlicher wie weiblicher Geschlechtsteile sowie die derbe, unverblümte Aufforderung zum Geschlechtsverkehr.⁷⁴ Diese buchstäbliche Sexbesessenheit, die merkwürdige Uneindeutigkeit zwischen einheimischem, schließlich aber unterworfenem, dabei niemals gänzlich bezwungenem Volk, gleichzeitig gefürchtet wie verachtet wegen seiner Zaubertätigkeit und Verbindung zu den Toten, ein Oszillieren zwischen Primordialität und äußerster Fremdheit, Autochthonie und Chthonie, all das klingt merkwürdig vertraut ‒ kaum anders erscheinen im altnordischen Kontext die Vanen. Und wenn in irischen Totenklagen gerade Ehefrauen und Mütter den männlichen Verstorbenen als Objekt der Begehrlichkeit für andere Frauen bezeichnen, mag man
Holst-Warhaft 2000, S. 43. Vgl. Scheu 2015, S. 107. Vgl. Scheu 2015, S. 108. Vgl. Scheu 2015, S. 108. Cosentino 2003, S. 244. Vgl. Cosentino 2003, S. 244.
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7 Ahnenkult
darin gleichermaßen Reminiszenzen erkennen an jenen Fundus (mehr oder weniger) formalisierter Ansprachen an den Toten. Berühmt die Klage der Emer um den Helden Cú Chulainn, die wiederum auffällige Ähnlichkeiten zum Lob der Gudrun über ihren toten Gatten Sigurðr (Gðr I, 18; Gðr II, 2) zeigt ebenso zur Klage der Sigrún der Helgakviða Hundingsbana II. Emer sucht den zerstückelten Leib Cú Chulainns auf dem Schlachtfeld zusammen, dann nimmt sie dessen blutiges Haupt in ihren Schoß und klagt darüber, hebt seine unvergleichliche Exzellenz und Überlegenheit hervor. Schließlich lässt Emer ein Grab ausheben und legt sich eng umschlungen neben den toten Ehemann, küsst ihn⁷⁵ und spricht: „Love of my life, my friend, my sweetheart, my one choice of the men of the earth, many is the woman, wed or unwed, envied me till to-day.“⁷⁶ Danach stirbt sie.⁷⁷
Ein äußerster, grausiger Akt der Solidarisierung mit dem Toten ist dabei das Trinken seines Blutes, das aber als Standardelement in der Totenklage (ob nun tatsächlich ausagiert oder lediglich als literale Formel) erscheint. Es wird Emer zugeschrieben ebenso wie Déirdre in der Klage um die Söhne Uisneachs: „She washed clean the head and she joined it on to its body, and she pressed it to her heart and her bosom, and fell to lamenting and heavily sorrowing over it, and began to suck in its blood and to drink it […]“ (Hyde 1901, S. 352). „Déirdre does the same when her husband is slain, she laps his blood“ (Hyde 1901, S. 352, Anm. 1). Keine geringere als die Jungfrau Maria selbst soll in ihrer maßlosen Trauer so gehandelt haben, so bereits in einem altirischen Gedicht des Mönchs Blathmac Son of Cú Brettan (8. Jh.). Übereinstimmend wird von einer Art „standard practice of keening“ (Henigan 2012, S. 84) ausgegangen. „[I]t is evident that by the second half of the seventeenth century at the latest, certain regular stylistic features and a repertoire of stock metaphors had developed which could be, and were, used over and over again by keening women“ (Lysaght 1997, S. 72). Auch Lauri Honko verweist in seiner seminalen Untersuchung zur finnobaltischen Klagepoetik auf die Formelhaftigkeit von Totenklagen, sei es in Form, Inhalt oder Stimmung. Klagen mussten ja überall auf der Welt zunächst ad hoc produziert werden, die Vorträger (meist Vorträgerinnen) mussten sich aus einem Pool mehr oder weniger vorgefertigter Trauermodule bedienen. Die Lieder seien entsprechend weder improvisiert noch einfach erlernt, sie mussten vielmehr flexibel in die jeweilige Trauersituation eingepasst werden. Wahrscheinlich sei kein einziges Klagelied jemals auf die gleiche Weise zweimal aufgeführt worden, aber gerade deshalb sei die Freiheit des wörtlichen Ausdrucks begrenzt gewesen, es musste sehr engen stilistischen Normen folgen, nicht nur im Versmaß und den Melodien, sondern gerade auch in der bevorzugten Metaphernwahl. Honko sieht die jahrtausendealte Kultivierung dieses Liederschatzes entsprechend zunächst einmal weniger im Bereich der sentimentalen als vielmehr in der religiösen Poetik (vgl. Honko 1977, S. 10 f.), d. h. in einem religiös gegründeten Denkmodell, im Ritual. Gregory (Übers.) 1919, S. 112. Gerade im Motiv des Beilagers im Grab sind Abhängigkeiten zum Helgigedicht konstatiert worden: Sigrún begibt sich ins Grab: Út gacc þú, Sigrún frá Sefafiollom, / ef þic fólcs iaðar finna lystir; / up er haugr lokinn, kominn er Helgi; / dólgspor dreyra, dǫglingr bað þic, / at þú sárdropa svefia scyldir.ʻ („Geh hinaus, Sigrun von Sewafjöll, wenn du des Heeres Herrscher treffen willst. Der Hügel ist geöffnet, gekommen ist Helgi. Die Kampfspur blutet, der König bat dich, dass du die Wundentropfen stillen sollst.“ [HH II, 42]). Sie sucht den engen, körperlichen Kontakt mit dem expressis verbis blutüberströmten Toten: ‚Fyrr vil ec kyssa konung ólifðan, / enn þú blóðugri brynio kastir;ʻ („Zuerst will ich küssen den toten König, / bevor du die blutige Brünne abwirfst.“ [HH II, 44]) und schläft bei (respektive mit) diesem: Sigrún bió sæing í hauginom. („Sigrun richtete ein Bett im Hügel.“ [HH II, 46]) Eleanor Hull sieht hier eine gewisse Ähnlichkeit zum so genannten Lenoren-Motiv (vgl. Komm.Edd. Heldenlieder,
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Andere Frauen neideten ihr also diesen Mann, den Platz neben ihm im Grab, verheiratet wie unverheiratet, ohne explizit sexuelle oder gar obszöne Konnotationen, aber eine leise Assoziation scheint doch dabei mitzuschwingen. Tausend Jahre später finden wir den Hinweis auf Begehrlichkeiten verheirateter wie unverheirateter Frauen wieder, im neuzeitlichen Kontext der berühmtesten irischen Totenklage Caoineadh Airt Ui Laoghaire („The Keen for Art O’Leary“). Darin beklagt die junge Witwe Eibhlin den Tod ihres Ehemanns, aus einem Hinterhalt von englischen Soldaten erschossen, zunächst wohl mündlich, unmittelbar nach dem Tod (1773) direkt am Leichnam aufgeführt und erst später im 19. Jahrhundert verschriftlicht.⁷⁸ In diesem Zusammenhang ist auch ein Disput der jungen Witwe und ihrer Schwägerin überliefert, der tatsächlich in Form eines Wechselgesangs über dem Leichnam ausgefochten wurde. Sie macht der Ehefrau Vorwürfe, dass sie (wohl um ihre Kinder zu beruhigen) in der Nacht der Totenwache zu Bett gegangen sei. Ritualtechnisch gewiss ein Affront, und dieses ungebührliche Verhalten wird nun mit Hilfe von vorgefertigten Versatzstücken ,spontanʻ in die Totenklage eingearbeitet. Dabei sind die Anzüglichkeiten zwar unterschwellig, aber durchaus merklich. Auch sie kennt offenbar das ,Modulʻ der begehrlichen anderen Frauen, die ausnahmslos alles dafür geben würden, um eine Nacht (und sei es nur oder gerade) mit dem toten O’Leary zu verbringen: „My friend and my treasure! / There’s many the handsome woman / From Cork of the sails / To the bridge of the Toames / Who would give you a fine herd of cows / And a fistful of yellow gold, / Who would not go to bed / The night of your wake.“ ⁷⁹ Rituell ausagiert bzw. mythisch narrativisiert findet sich diese Thematik nicht nur im nordischen Bereich, sondern gerade beim ägyptischen Toten par excellence: Osiris. Im Rahmen seines Bestattungskults erfährt er gleichermaßen eine hochsexualisierte Behandlung, die die Substitution eines künstlichen Phallus miteinschließt.Was in den europäischen Leichenspielen als frivol-derber Spaß, ‚karnevaleskʻ ausagiert wird, in Leichenliedern in mehr oder weniger anzüglichen Andeutungen erscheint, wird hier zum wirkmächtigen Höhepunkt und Abschluss einer rituellen Restitution. Als Ehefrau und Klagefrau vollzieht Isis ein Heilverfahren an ihrem Brudergemahl Osiris zusammen mit ihrer Schwester Nephtys. Osiris ist bekanntlich vom missgünstigen Bruder Seth in einen Sarkophag eingeschlossen, ertränkt und anschließend in 14 Teile zerstückelt worden. Isis macht sich auf die Suche nach seinem Leichnam, sammelt seine
von See et al. 2004, S. 603), ein schon in der Antike gut bekanntes Motiv: In schaurig schönen Erzählungen kehren Tote aus dem Reich des Todes zurück, um ihre Geliebte wiederzutreffen, wobei der umgekehrte Fall, das Aufsuchen des Toten in seinem Grab, bedeutend seltener gewesen sei. Hull möchte darin den Einfluss des irischen Bestattungswesens sehen (vgl. Hull 1927, S. 271). Nun ist aber Witwennachfolge wie überhaupt Totennachfolge keineswegs nur den Kelten und Germanen bekannt, es sind weit verbreitete Ritualvorgaben. Was indes nicht die Möglichkeit ausschließt, dass gerade aufgrund dieser gemeinsamen, alten Vorstellungen gewisse kulturspezifische Motive und Sequenzen ausgetauscht wurden und sich dort neu etablieren konnten. Vgl. Lysaght 1997, S. 69. Lysaght 1997, S. 82, Appendix 5.
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verstreuten Körperglieder und setzt sie wieder zusammen,⁸⁰ aber ausgerechnet der Penis bleibt unauffindbar: Isis ersetzt ihn durch einen künstlichen, voll funktionsfähigen. Mithilfe dieses Surrogats empfängt sie den Götterknaben und diesseitigen Nachfolger Horus. Sie kann also Geschlechtsverkehr mit ihrem toten Gemahl ausüben: Der tote Osiris liegt auf der Totenbahre mit erigiertem Phallos, darüber schwebt Isis, die in Gestalt eines Falkenweibchens den Geschlechtsakt vollzieht; ein Akt, der zu den heiligsten Wiederbelebungsriten des Osiris gehört, und der in zahlreichen Darstellungen abgebildet wird.⁸¹ Kaum anders als in den obszön lustigen, phallischen Leichenspiele ist also der besondere Fokus auf jenes Körperteil gelegt, in dem männliche Zeugungskraft und Leben prototypisch konzentriert sind. Es sind Körperkonzepte, die kaum in historischer Abhängigkeit stehen, dennoch sind die Ähnlichkeiten nicht zufällig, sondern unvermeidlich. Für den Verlust an Lebenskraft muss typischer, ritueller Ersatz geschaffen werden. Im ägyptischen Kontext geschieht dies im tiefen, heiligen Ernst einer unverrückbaren, rituellen Wahrheit, der Sexualakt ist mythische Analogie zum erfolgreich abgeschlossenen Mumifizierungsprozess. Der Mythos erzählt, der Sprechakt begleitet unmittelbar den langwierigen, schwierigen Prozess der rituellen Umwandlung und damit Transformation des toten Osiris zum guten Ahnen. Sein ‚neuer Körperʻ, die Mumie, gewährleistet eine neue, vollständige, jenseitige Existenz, dazu gehört neben der Restituierung des Phallus die Errichtung des so genannten Djed-Pfeilers („Dauer, Beständigkeit“), ,das Rückgrat des Osirisʻ. Indem dieser baumähnliche Pfeiler (bzw. der Sarg, auf dessen Rückwand dieser abgebildet wurde) aufgerichtet wurde, konnte sich auch der Tote für die Ewigkeit aufrichten, ,auferstehenʻ. Oft genug wächst in den bildlichen Darstellungen die Gestalt des Osiris mit dem Pfeiler buchstäblich zusammen, Osiris ist der anthropomorphi-
Häufig genug wird in Bestattungsriten eine ,Todesheilungʻ, eine Art Rückgängigmachung des Todes mit Handlungsmustern wie ‚Suchenʻ und ‚Sammelnʻ, ‚Vereinigenʻ, ‚Verknüpfenʻ u. ä. mental wie handlungspraktisch gefasst. Es geht darum, einen „Zustand der Störung“ (dessen Ursache, „causes that produce changes“ (Lakoff 2008), gerade im ägyptischen Ritual stets übergangen wird) zu beheben (vgl. Hermann 1956, S. 85). Osiris, der zerrissene, wieder zusammengesetzte und schließlich mumifizierte Totengott steht dabei in der ägyptischen Mythologie an zentraler Stelle. Er gehört zum innersten Zentrum ägyptischer Todesvorstellungen, wie Jan Assmann es nennt (vgl. Assmann 2001, S. 29). Der prototypische Verursacher des Todes ist der Feind, der Widersacher, der diese Zerrissenheit intentional bewirkt. Insofern kennt auch die ägyptische Kultur, wie im Übrigen kaum eine andere vormoderne, den ,natürlichenʻ Tod, jeder Tod ist Mord, immer eine Gewalttat, ausgeführt von einem Mörder. Eine rituelle Rezitation dieser Vereinigung, Merkelbach nennt sie explizit „Totenhochzeit“, ist schon in den Pyramidentexten beschrieben (Spruch 366): „Oh, Osiris N. N., stehe auf, erhebe dich! … Die gewaltige Götterschaft begrüßt dich … Deine beiden Schwestern Isis und Nephtys kommen zu dir, damit sie dich heilen. Du bist vollständig, du bist groß … Deine Schwester Isis kommt zu dir, jauchzend aus Liebe zu dir. Du hast sie auf deinen Phallos gesetzt. Dein Same strömt hinaus in sie, die bereit ist als der bereite Stern (der Sirius). Horus ist bereit, und er geht hervor aus dir als der ,Horus, der im bereiten Stern (dem Sirius) istʻ“ (Merkelbach 2001, S. 13 f.). Die griechische Überlieferung behandle diesen Stoff wesentlich zurückhaltender, so Merkelbach, Plutarch (De Iside 17) deute die sexuelle Vereinigung lediglich an (vgl. Merkelbach 2001, S. 15).
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sierte Pfahl, er materialisiert sich also für die Ewigkeit in einer Dreiheit von Mumie, Pfahl und Phallus.⁸² In ägyptischen Vorstellungen ist der (gewaltsame) Tod des Königs Osiris unabdingbar mit dem Thema der Nachfolge verbunden, und gerade in diesem Punkt zeigten sich besonders eklatant die Unterschiede zum sterbenden und wiederauferstehenden Gott der Christen, das spezifisch ‚Afrikanischeʻ an Osiris, so Heinrich Balz in seiner Untersuchung zu Ahnenkonzepten in Afrika: Der Vergleich, und in diesem Falle die Kontrastierung mit der Christusgeschichte legt aber an diesem Punkt genau das Umgekehrte nahe: Jesus Christus braucht und kann keinen Sohn haben, weil die religiöse Gemeinschaft, die er stiftet, sich auf anderem als biologischem Weg bildet und fortpflanzt. Osiris dagegen muss wesensnotwendig im Diesseits einen Sohn zum Nachfolger haben, weil sonst sein eigenes Leben im Jenseits nicht intakt wäre. Er ist diesbezüglich nicht wie Christus, sondern wie ein afrikanischer Ahn, der ohne leibliche Nachkommenschaft sein Wesen verliert.⁸³
Aber diese Grundvoraussetzung des Ahns ist auch im Norden wirksam, auch hier wird zunächst stets die leibliche, biologische Nachfolge vom Spitzenahn beansprucht, auch wenn sie ab einem gewissen Zeitpunkt zu einer fiktiven, mythischen wird. Dennoch bleibt jener (erste) Zeugungsakt legitimierend, und er kann, ja muss, wie es scheint, wie beim ägyptischen Osiris aus dem Jenseits erfolgen. Das mythische Denken entwirft für die Wirksamkeit des nordischen Ahnen verschiedene Bilder, sei es der Geschlechtsakt im Grab, die kontaminöse Übertragung aus dem Grab oder aber (kaum anders als der mit dem Djedpfeiler gestärkte Osiris) der in jeder Hinsicht voll funktionsfähige trémann. Im nordischen Kontext erscheint dieses rituelle Ziel bereits schwankhaft, im Rahmen einer Bekehrungsgeschichte christlich polemisch überschrieben: Auch der tote, gestorbene Freyr wird so erfolgreich restituiert, substituiert, dass er zur Fortpflanzung fähig ist. Aber es ist ja nur ein Mensch, Gunnar, der, um seine eigene Haut zu retten, ein hölzernes Idol des Freyr (nach einem Ringkampf!) kurzerhand aus dem Kultfahrzeug wirft, dessen Platz einnimmt und sich als der Gott ausgibt. Er schwängert die begleitende Priesterin und vermag die leichtgläubigen, naiven Kultanhänger damit zu täuschen.⁸⁴ Kaum vorstellbar, so Helga Reuschel, wie diese lächerliche Betrugsaktion eine „Nähe zu lebendiger Religiosität“ haben könnte, ja, dass die Nordländer überhaupt so dumm gewesen sein könnten, „daß sie einem Holzklotz essen, trinken und Kinderzeugen zugetraut hätten?“⁸⁵ Entsprechend wird der Ursprung eher in der Literaturgeschichte denn in der Religionsgeschichte vermutet, es sei wohl kaum denkbar, diesen Bericht als verwertbares Zeugnis an die Seite von Tacitus Nerthus-
Vgl. Merkelbach 2001, S. 11 f. Balz 2014, S. 92 f. Siehe Ǫgmundar þáttr dytts ok Gunnars helmings (Jónas Kristjánsson [Hg.] 1956c). Reuschel 1934, S. 157.
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Bericht oder Adam von Bremens Freyrkult-Schilderung zu stellen.⁸⁶ Aber gerade die Ereignisse des Gunnars þáttr sind bezeichnend für diese fast grotesk konkret körperhaft gedachte Interaktion mit den Toten. Freyr erscheint ja nicht nur in hölzerner Form, auch mithilfe anderer Maßnahmen versucht man sich in einer permanenten Erhaltung seines Leibes, etwa als Salzkonservierung, gewiss mit weniger technischem Know-how und Erfolg als die Ägypter, gleichwohl in ähnlicher Absicht: die Unversehrtheit des Leibes so lange wie möglich zu erhalten als unhintergehbare Voraussetzung für eine Weiterexistenz in der Ewigkeit.
7.3 Die Hauptstadt der Toten Zunächst scheint sich die überirdische, äußere Pracht, der Tempelcharakter der Halle Heorot, kaum mit deren mutmaßlichen Standort, Lejre, zusammenbringen zu lassen. Lejre, Zentrum sakraler wie profaner Macht, der Legitimation und Königswürde, gar caput regni, soll nach etymologischem Befund nichts weiter als „Schuppen“ bedeutet haben (vgl. got. hleiþra, schwed. lider u. ä.),⁸⁷ so einige Male in der gotischen Bibelübersetzung belegt für griech. σκηνή, σκῆνος „Zelt, Hütte, Bude“, kleine, wie es scheint als Letztes prestigeträchtige Bauwerke, deren Haupteigenschaft das Vorläufige, Provisorische ist. So seien vielleicht „Buden an einem Versammlungsort“⁸⁸ gemeint, etwa am Thing, oder gar „einfache Gebäude der alten Agrarlandschaft, Scheunen o. ä.“,⁸⁹ wobei es durchaus unüblich sei, einen profanen Thingversammlungsort dermaßen zu benennen. Dafür gibt es im sakralen Bereich eine umso reichere Beleglage. Schon das griech. σκηνάω, σκηνόω gibt einen Hinweis auf die Tätigkeit bzw. den Hauptzweck, wofür solche baulichen Provisorien wohl üblicherweise errichtet wurden, „in einem Zelt sich aufhalten, sich lagern; […]; in einem Zelt, dann überh. schmausen, speisen“.⁹⁰ In Lejre wurden also so viele oder immer wieder ,provisorische Wohnungenʻ errichtet, dass sie als prototypisches Charakteristikum namengebend wurden. Man pflegte hier ‚vertrauten Umgangʻ ‒ mit wem, darüber lassen gerade die archäologischen Befunde kaum eine andere Schlussfolgerung zu: Spätestens seit dem Neolithikum ist Lejre ein bedeutsamer Begräbnisplatz. Zahlreiche Grabhügel stammen bereits aus dieser Zeit, von da an durchgehend bis in die Wi-
Vgl. Reuschel 1934, S. 157. Siehe Andersson und Christensen 2001, S. 248 f.: „Der Name Lejre ist durch alte geschichtl[iche] Darst[ellungen] in lat. Sprache gut bekannt. In der Chronik des Thietmar von Merseburg (4, I, 17), wo von L[ejre] als ‚caput … regniʻ und von kultischen Opfern in L[ejre] gesprochen wird, lautet der Name Lederun. Im Chronicon Lethrense (1, 47) aus der Zeit um 1170 (Lejre-Chronik) wird der Name Lethre geschrieben. Bei Saxo Grammaticus, Gesta Danorum (3, passim), kommt neben der Sing.form Lethra auch die Pl.form, Lethræ, vor.“ an. etym. Wb 1962, „hleiðr“. Andersson und Christensen 2001, S. 249. Gemoll 1979, „σκηνάω u. σκηνόω“.
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kingerzeit wird dieser Bestattungsort genutzt.⁹¹ Und die monumentalen eisenzeitlichen Hallenkomplexe inmitten dieser Begräbnislandschaft müssen mit dieser Funeralkultur in enger Verbindung gestanden haben: It would thus not be forcing a point to speak of the land near Lejre as one that for the past few thousand years has been haunted by the past. […] Once a cluster of dolmens and other monuments was built at Lejre, of course, this area would have been emphatically sacralized as a mound landscape. The land would then have been indelibly associated with ancestral figures whose physical remains may have formed nuclei for ongoing ritual activities.⁹²
Auch in der Dichtung wird immer wieder auf den besonderen Platz der Halle Heorot in der sie umgebenden Landschaft verwiesen, eine garstige, unwirtliche, menschenfeindliche Sumpflandschaft,⁹³ eine uralte, schauerliche Rituallandschaft des Todes, der Grabhügel, der Gräberfelder, der sepulkralen Schiffssetzungen. Nichts anderes ist Lejre doch zunächst, ein riesiger Friedhof, Ort der Toten von Jahrtausenden ‒ ein merkwürdig schroffer Gegensatz zum reinen, makellosen Glanz der Halle.⁹⁴ Aber wir sehen ja die nämlichen Verhältnisse geschildert ausgerechnet für die Urbs vitrea Glastonbury, die ‚Glasburgʻ des Jenseitsfürsten Melwas, inmitten einer unzugänglichen, abweisenden Sumpflandschaft. Aber der Beowulf-Dichter weiß noch Weiteres zu berichten: Alltäglich ertöne in ihr „ein Lied von der Schöpfung der Welt“ durch einen „Sänger“ oder „Priester“ (V. 90‒98). Man könne sich darunter vielleicht eine Schilderung der Weltschöpfung nach Art der Vǫluspá vorstellen, so Sarrazin, auch wenn der angelsächsische (christliche) Bearbeiter wohl eher einen biblischen Weltschöpfungsbericht vor Augen gehabt habe.⁹⁵ Diese Verbindung einer Prachthalle zu (paganem) kosmologischem Wissen findet sich aber auch noch an anderer Stelle. Die Überlieferung der Bestattungsszene des Baldermythos beruht bekanntlich nicht auf episch erzählenden Quellen, sie stützt sich auf die literarische Beschreibung jener ikonographischen Darstellungen, Holdschnitzereien, mit denen der Isländer Ólafr pái Vgl. Niles 2007, S. 181. Niles 2007, S. 181. Vgl. Niles 2007, S. 178 – 81. Auch für den Freyr-Kultort Gamla Uppsala vermag die Archäologie in den letzten Jahren mehr und mehr Evidenz zu liefern, dass dieser kaum anders als Lejre vorrangig als Begräbnisstätte, Ort der Toten konzipiert und entsprechend ins rituelle Geschehen eingebunden war. Dies Untermeyer die Validität der Berichterstattung von Adam von Bremen und Saxo Grammaticus. Auch Terry Gunnell betont: „The likelihood must be that the format and the nature of these festivals, situated in an area marked out by the grave mounds of forefathers and close to another royal burial area at Valsgärde, must have grown out of earlier Vanir rituals (considering the strong traditional connections between the Vanir and the area)“ (Gunnell 2017, S. 129). Gunnell verweist insbesondere auf die spektakuläre Prozessionsstraße, „a kilometer-long processional avenue marked with tall pillars off which dead animals seem to have been hung, […]. The grand processional route and the recently-discovered large hall found at Gamla Uppsala towards which the route leads, with its three-meter wide doors and hinges in the form of spears, demonstrate that, whatever was going on at the festivals in Gamla Uppsala c. 800 CE, it was meant to attract attention“ (Gunnell 2017, S. 130). Vgl. Sarrazin 1897a, S. 368 f.
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seine prächtige, neu errichtete Halle in Hjarðarholt ausstatten ließ. Die Laxdœla saga (Kap. 29) berichtet, wie der Skalde Úlfr Uggason diese zum Inhalt seines Gedichtes Húsdrápa macht, das er bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Ólafs Tochter Þuríðr vorträgt (um 980). Auch hier wird man sich diese spezifisch kultische Funktion einer Prachthalle vor Augen führen müssen, als Ort von sakraler Bedeutsamkeit war sie mit hochaufgeladener sakraler Symbolik versehen. Entsprechend wird für Ólafs Halle wohl von den gleichen Denkvoraussetzungen ausgegangen werden müssen wie für Heorot, die im Übrigen gleichermaßen als fraetwan (V. 76) beschrieben wird, was auf eine gewisse Art von Verzierung deuten könnte, Schnitzereien oder Malereien. Die Überlegung liegt nahe, dass diese Medialisierungsformen Korrespondenzen aufweisen könnten, und insofern Kosmogonien nicht nur ‚in Bildʻ, sondern auch ‚in Wortʻ zur üblichen Ausstattung sakraler Hallen zählten. Vielleicht müssen wir sogar von einer Art Wortmagie ausgehen: Das Tägliche, die Notwendigkeit, wenn nicht Zwang zur Wiederholung trägt Beschwörungscharakter. Sollte die Thematisierung von Weltschöpfung, Entstehung und Anfang Antidot und Abweisung des schieren Gegenteils sein, das hier allerorten droht? Eine grundsätzliche Todesbezogenheit also, die sich vielleicht auch bei weiteren, zunächst eher rätselhaften Attributen der Halle finden könnte: ban-fag (V. 780) sei sie gewesen, wörtlich „bone-adorned“, „knochenverziert“. In der Forschung wird vermutet, dass damit Hirschgeweihe als Zierde gemeint sein könnten, zumal ja auch der Name der Halle selbst, Heorot, gemeinhin als „Hirsch“ gedeutet wird. Allerdings erscheint dieser Begriff im Altenglischen niemals für „Geweih“: This adjective, which occurs only here in the corpus of Old English, has been thought to refer either to stags’ heads with their antlers, as would suit a house named Heorot or to to [sic] horn-like protections at the gable-ends of the roof […]. With greater likelihood, the word refers to ivory decoration that adorns the hall’s interior, for the OE word bān is used elsewhere to refer to skeletal bone or ivory but never antlers.⁹⁶
Niles 2007, S. 174. Die Motivierung des Namens Heorot als „Hirsch“ ist keineswegs selbstredend. Im Allgemeinen wird eine besondere Beziehung zu diesem Tier angenommen, die aber auf keine Weise im Text des Beowulf aufscheint und damit plausibel würde. Noch viel weniger erscheint ein Hirsch-Kult. Den Namen Heorot kennt die übrige skandinavische Literatur nicht, nur in England ist er bekannt. Harris verweist mit einigem Recht darauf (auch wenn er prinzipiell die Semantik des Namens nicht infrage stellen möchte), dass es keineswegs gewöhnlich sei, ein Gebäude nach einem Tier zu benennen ohne jeglichen weiteren Zusatz, „like ,stagʻ pure and simple“. Dazu gebe es keine Parallelen im nordischen Kontext, zögerlich übernimmt er das gar nicht überzeugende Argument von Moritz Heyne, es sei eben das ganze Gebäude gewesen, das aufgrund seiner gekreuzten Giebel wie ein riesiger Hirsch ausgesehen habe (vgl. Harris 2014a, S. 187 f.). Wenn sich dieser Eindruck dann als gewiss keineswegs gewöhnlicher Vergleich so augenscheinlich aufgedrängt hätte, müssten sich dann nicht gerade bei der Schilderung der Äußerlichkeiten der Halle irgendwelche Hinweise auf diese Besonderheit finden? Ein Benennungsmotiv aufgrund rein toponymischer Charakteristika wurde bis dato nicht erwogen, dass es also gar nicht eine religiös motivierte Hirschsymbolik sein muss (zweifelsohne „suggestive in one direction of aristocracy and royality, in the other of Christian reception of a classical image“ [Harris 2014a, S. 188] ), die Heorot zu ihrem Namen verhalf, sondern lediglich die geographische Eigenart des
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Also wollen wir bei dieser gesicherten Bedeutung bleiben, bān ist der „(menschliche) Skelettknochen“, die letzte materielle Hinterlassenschaft der Toten, ein Totenattribut. Müssen wir nicht gar eine, wenn auch entfernte Anspielung darauf sehen, wenn Beowulf den abgetrennten Arm des Wiedergängers Grendel ausgerechnet über der Tür befestigt als makabre Zierde und Abschreckung?⁹⁷ Und sehen wir uns den zweifellos bewusst gewählten Standort jener Lejre-Halle an, die circa 550 auf einem Hügel errichtet wurde ‒ ein Hügel, der bereits ,belegtʻ war: Die Halle wurde direkt auf oder zumindest unmittelbar neben einem bronzezeitlichen Grabhügel aufgebaut.⁹⁸ Die ganze Nachbarschaft bestand, wenn man so will, aus nichts anderem als JenseitsBewohnern: „What also needs to be emphasized is that these are houses of the dead. A barrow landscape is a funeral landscape. It is where the dead, while living, once walked and where (according to ancient folk belief) they still in some sense reside, so they can interact with the living whether for good, most of the time, or for ill.“⁹⁹
Die Halle der Lebenden reiht sich bewusst ein in diese Ansammlung von Totenwohnungen, ja bezieht recht eigentlich erst daraus ihre Legitimation,¹⁰⁰ , „[i]t is thus fair to
Ortes: Für bewaldetes, teilweise versumpftes, hügeliges Gelände erscheint in der germanischen Toponymie häufig die Bezeichnung Hart, gerade auch mit der Konnotation unwirtliches, unkultiviertes, ödes Stück Land, „darumb er (Nebucadnezar) uszgestoszen ward von menschen, triben in die hard, und da byn wilden thieren läbt, byn waldeszlen sin wonung ghegt. Daniel 1545 Kb“ (DWb, „hart“). Der Name des Harzes, der im Mittelalter noch Hart hieß, gehört hierher (vgl. DWb, „hart“). Das Wort Horst („Gebüsch, Gestrüpp“) steht diesem nahe in seinen Sonderbedeutungen „stehengebliebenes Waldstück“, „Erhöhung im Sumpfgebiet“ und Ähnliches (vgl. Kluge/Seebold 2002, „Horst“). Auch Winfried Rudolf sieht eine ,Metaphorik der Körperhaftigkeitʻ der Halle, das Bild eines lebenden ‚Zivilkörpersʻ: „Beowulf also nails Grendel’s arm to the gable (lines 833 – 836), thus physically completing the poet’s earlier subtle innuendo about the hall as a metaphorical body (scōp him heort naman (line 78b), sele hlīfade (81b), recedes mūþan (724a), reced hlynsode (770b), þæt hē on hrūsan ne feoll (772b), bānfāg [780a]). […]. Through this internal typology of the poem, the Danish centre of ‚civilizationʻ, a metonymical ‚body-buildingʻ, is indeed marked as being in a state of corruption equal to Grendel’s“ (Rudolf 2019, S. 124 f.). Vgl. Niles 2007, S. 216 f. Niles 2007, S. 217. Zu jenen sichtbaren, materiellen ,Legitimationsgebernʻ gehört wohl auch der im frühen 7. Jh. errichtete eisenzeitliche Grabhügel Grydehøj. Er ist einer der beeindruckendsten Grabbauwerke seiner Zeit in Südskandinavien und zählt damit zu jenen überaus prestigeträchtigen Begräbnissen, die einige Male im skandinavischen Raum für diese Zeit nachweisbar sind. Für Lejre bleibt er indes einzigartig: Nur einer einzigen Person wurde ganz offensichtlich die Ehre einer solchen außergewöhnlichen Art von Bestattung zuteil. Entsprechend folgert Niles daraus: „The fact that, as far as is now known, only a single person of the Iron Age was commemorated by a mound at Lejre, despite the continuous occupation of this place for four and a half centuries, suggests that he (or she) was regarded as standing above and apart from other people of distinction“ (Niles 2007, S. 192). Und da kaum eine Kontinuität zwischen der Beerdigungspraxis der Grabhügel des Bronzezeitalters zu denen der Eisenzeit anzunehmen sei, müsse man wohl von einer „invented tradition“ ausgehen. Er denkt an die Nomadenvölker am Schwarzen Meer, namentlich die Skythen, die für diese Art von Bestattungstradition bekannt seien.
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say that whoever built the sixth-century hall at Lejre chose a spot for it that was saturated with ancient associations.“¹⁰¹ Niles sieht entsprechend den Grundkonflikt in Beowulf weniger als Stammesrivalitäten denn als eine Art spirituelle, „eternal opposition“, als tatsächlich die tiefste und beunruhigendste aller menschlichen Oppositionen, den Gegensatz „death versus life“.¹⁰² Lejre ist eine Totenstadt, die Kommunikation mit deren Bewohnern gründet im magischen Konzept der unmittelbaren körperlichen Berührung. Das Zentrum dieser Kontaktzone finden wir mitten in der ‚goldglänzendenʻ (goldfáh, V. 311), ‚knochenschönenʻ (bānfāg,V. 780) Ahnen-Halle als Ort der Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten. Dazu passt das tief ambige Evokationspotenzial des Edelmetalls Gold in der angelsächsischen Kultur. So sei Gold wohl einerseits als Gewährer von Lebensenergie überhaupt, als „the immortal metal of divine power and youth“ verstanden worden, versehen mit einer außernatürlichen Vitalisierungsmacht, die auch auf Menschen übertragen werden könne, andererseits aber sei diese begehrte Potenz meist mit dem Blut, dem Tod vieler erkauft.¹⁰³ Aber dieser verhängnisvolle, finstere Aspekt des Goldes, seine spezifische Todesaffinität, zeigt sich vielleicht gerade darin, dass nicht nur die Lebenden, sondern in besonderem Maße die Toten danach gieren.
7.4 Von geladenen und ungeladenen Gästen Üblicherweise müssen die Lebenden bemüht sein, den Bruch in den sozialen Beziehungen, die der Tod eines Mitglieds der Gemeinschaft zwangsläufig, aber nicht unwiederbringlich mit sich bringt, wiederherzustellen. Der Verstorbene muss zu diesem Zweck eingeladen werden, nachdem er zuvor aufwändig verabschiedet oder gar verstoßen wurde, womöglich sogar bewusst aufgeweckt werden, nachdem er zuvor in den Schlaf gesungen wurde. In jedem Fall geht es um ein kontrolliertes und kontrollierbares Aufeinandertreffen, das auch einem wichtigen, gewissermaßen präventiven Zweck dient¹⁰⁴: The lost one is thereby temporarily afforded the status of a guest to this world. Thus, his/her relationship with this side of the grave is temporarily legalized, or at least an attempt is made to avoid his/her possible appearance as a non-guest ‒ the revenant, the undead.¹⁰⁵
Die anhaltenden Kontakte Skandinaviens zu eben diesen Steppenvölkern könnten eine Übernahme, zumindest aber eine Wiederbelebung dieser Art von Begräbnispraxis bewirkt haben (vgl. Niles 2007, S. 192). Siehe ähnlich Schier 1968, S. 403. Niles 2007, S. 189. Niles 2007, S. 215. Vgl. Rudolf 2019, S. 122. Vgl. Arukask 2011, S. 139. Arukask 2011, S. 139.
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Das Abgewiesene, stets Abzuweisende, Monströse des Todes, erscheint in Heorot in Gestalt Grendels (und seiner Mutter), wo die lebensnotwendige Totenkommunikation, der Kontakt mit der Anderswelt gerade nicht beherrschbar oder als gescheitert erscheint. Grendels Habitus ist dem paganen wie christlichen Menschen des Mittelalters durchaus bekannt: Es ist der des unbefriedeten, ruhelosen Toten. Er ist der draugr, der Wiedergänger, der zu Unzeiten erscheinende Tote, tatsächlich der ungeladene Gast, der sich gerade nicht an basale soziale Grundsätze der Kommunikation und des Umgangs hält, und bei dem entsprechend brachiale, gewaltsame Mittel zum Zuge kommen müssen. Eine der grundlegendsten sozialen Rahmungen für den Aufbau wie Stabilisierung von Beziehungen ist das Gastmahl, das gemeinsame Essen: Zu den wohl ältesten und zugleich gegenwärtigsten, den vielleicht unverwüstlichsten und weltweit verbreitetsten Institutionen, Gelegenheiten und Riten, die in diesem Sinne als sozialitätsstiftend angesehen werden müssen, gehören die Praktiken der alimentären Gabe und Gastfreundschaft.¹⁰⁶
Die Nahrung ist damit der „Inbegriff der Gabe und des Gebens schlechthin“.¹⁰⁷ Sie scheint die grundsätzlichste Voraussetzung zur Bildung und Stabilisierung von Bündnissen. So erklärt Iris Därmann mit Rückgriff auf Marcel Mauss¹⁰⁸: Die Gesetze der Gastfreundschaft können Fremde in Verbündete verwandeln. Nur in alimentärer Gabe und Bewirtung nimmt Gastfreundschaft Gestalt an. Der Parasit ist derjenige, der ungewollt und uneingeladen mit ißt, wenn das gastronomische Kollektiv zu Tisch sitzt.¹⁰⁹
Aber es sei gerade auch Kennzeichen dieser dann in diesem Sinne ausschließlich rechtlich geregelten und weniger absoluten Gastfreundschaft (wie etwa Jaques Derrida unterscheiden möchte), dass keineswegs intime oder ständige Beziehungen damit gestiftet würden. Man verbrüdere sich wohl für eine gewisse Zeit, bleibe sich aber doch fremd.¹¹⁰ Und gerade deshalb ist es auch unabdingbar notwendig, dass die Essgemeinschaft mit den Toten, den Fremden par excellence, als provisorisch, temporär markiert wird, als ein Arrangement auf Zeit, das entsprechend mit einem dezidierten Ende versehen sein muss. Lejre ist das temporäre Provisorium, ,Zelteʻ, ,Hüttenʻ, wo mit den Toten unmittelbar auf dem Grabmal, wie in so vielen Bestattungsriten rund um die Welt, gegessen und getrunken und Umgang gepflegt wurde,¹¹¹
Därmann 2008, S. 17. Därmann 2008, S. 18. Siehe Mauss 1984 [1925]. Därmann 2008, S. 18. Vgl. Därmann 2008, S. 19. Siehe auch die saalfränkische seloue, trotz aller Schwierigkeiten in der Bestimmung wohl eine Art ,Grabhütteʻ, „als private Einrichtung einer Familie für ein bestimmtes Grab“ (Kyll 1972, S. 192), ein Aufbau also, der sich direkt über dem Grab befand.
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ein περίδειπνον, ein Totenmahl, das buchstäblich „um die Verstorbenen herum“ am Grab eingenommen wurde, circa defuncta corpora apud sepulchra illorum (Lateinische Musterpredigt).¹¹² Es geht also nicht um jene Essensgaben, die dem Toten für seinen Aufenthalt im Grab überlassen werden bzw. mit auf seine Jenseitsreise gegeben werden. Das Grab wird zum gemeinsamen Tisch, eine Funktion, die offenbar so häufig im Zusammenhang mit Grabstätten erscheint, dass sie (etwa im Griechischen und davon abgeleitet im Slavischen) namengebend wurde: τράπεζα, der „Tisch“ wie das „Grab“.¹¹³ Bis heute hat sich dieser Brauch in Teilen des slavischen und baltofinnischen Kulturraums erhalten,¹¹⁴ wiewohl Nachrichten von Essen und Trinkgelage am Grabmal bereits aus antiken und mittelalterlichen Berichten gut bekannt sind.¹¹⁵ Der Indiculus superstitionum et paganiarum berichtet von einer Reihe aus christlicher Sicht scharf zu verurteilender, heidnischer Praktiken an den Gräbern: De sacrilegio ad sepulchra mortuorum. Von den dadsisas ist schon gesprochen worden, diese ‚diabolischenʻ Gesänge scheinen aber von anderer Qualität zu sein. Der Ort, wo diese Sakrilegien stattfinden ist präzise genannt: super defunctos, „über den Verstorbenen“. Der Ort der Toten ist ,untenʻ, der Ort der Hinterbliebenen, der Trauer(aktionen) in dieser Konsequenz ,obenʻ.¹¹⁶ Aber hier scheint es weniger um ein Einschläfern, Beruhigen
Scherer (Hg.) 1865, S. 439. Nehring 1917, S. 9. So wird bis heute in Teilen des bulgarischen Kulturgebiets der Leichenschmaus direkt auf (und neben) dem Grab abgehalten, und zwar unmittelbar nach der Bestattung sowie an gewissen persönlichen und allgemeinen Gedächtnistagen für die Toten; slagat trpeza heißt dieser Vorgang, wo ad hoc und nur zu diesem Zweck ein Tisch aufgeschlagen wird. Vielleicht müssen wir auch an die kleinen Holzhüttchen denken, die die Karelier für ihre Toten auf ihren Gräbern errichteten und durch deren Fenster diese die Lebenden beobachten konnten (vgl. Honko 1977, S. 37). Selbst der „christlich frommen Mutter“ (Balz 2014, S. 105) des Augustinus, Monnica, wird der Zugang zu den Gedächtnisstätten der Heiligen in Mailand verwehrt, weil sie nach altem heidnischem Brauch, „sicut in Africa solebat“ (siehe Confessiones 6, 2), Brot und Wein und Getreidebrei bei sich hat, um es gemeinsam mit den Toten am Grabe zu verzehren. Augustinus unterstreicht die Richtigkeit dieser Entscheidung, weil solcherart Totengedenken schließlich notorisch Anlass gebe zu wilden Ausschreitungen an den Begräbnisstätten und Feiern, und selbst wenn im christlichen Sinne abgehalten, gar zu ähnlich heidnischen Totenmählern sei (vgl. Balz 2014, S. 105). Der Ausdruck sitja yfir „trauern“ entstammt somit einem sehr alten Wissensrahmen einer rituellen Handlungspraxis. Der Ort der Handlung wird zum metonymischen Begriff für das gesamte Trauerszenario. Er vermag jedenfalls am wenigsten Ulrike Sprengers Theorie vom jungen, geistlichen Einfluss auf die eddische Elegie zu stützen (vgl. Sprenger 1992, S. 260 f., siehe in kritischer Replik Sävborg 2013, S. 91). Auch für eine trauernde Jungfrau Maria werden hocharchaische, pagane Trauergesten verwendet, so dass sie im keltischen Kulturkreis als typisch ,keltischʻ Trauernde erscheint. Auf diese Weise wird sie sogar Legitimationsgeberin eindeutig heidnischer Trauergesten: In hunderten von Liedern und Gedichten wird jenes transgressive, ,verrückteʻ Verhalten der trauernden Frau dokumentiert: Barfuß, die Brust blank, die Kleidung zerrissen, wandert sie weite Strecken durch die Wildnis, trinkt schließlich als äußerste Exorbitanz das Blut des geliebten Verstorbenen. Entsprechend lässt Blathmac Son of Cú Brettan die Jungfrau Maria ihren toten Sohn beweinen mit einer Kombination von Trauergesten und Trauerausrufen, wie sie 1000 Jahre später unverändert in der irischen Folklore wie im rituellen Handeln erscheinen (vgl. Lysaght 1997, S. 66).
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nach Kleinkindmanier zu gehen, sondern eher um das Gegenteil, das Wachmachen, das Aufwecken der Toten zum Zwecke ihrer Unterhaltung. Die Lejrehalle scheint diese Vorstellung direkt aufzugreifen, ein Ort, wo über, mit und um die Toten herum gefeiert wird, wohl nicht mehr privatissime, die Totenerinnerungsfeiern, die hier gefeiert werden, haben keinen individuellen familiären Charakter mehr, das Lejreopferfest war ein offizielles, gemeinschaftstragendes Fest. Und wenn also König Yngi (Hjálmðérs saga og Ǫlvérs, Kap. 2)¹¹⁷ seinen Thron auf dem Grabhügel seiner Frau platziert und dort Tag und Nacht verweilt,¹¹⁸ dann wohl nicht unbedingt aus unstillbarer Trauer (wie indes der christliche Sagaschreiber vermutet), genauso wenig wie bei König Gautrekr, der auf dem Grabhügel seiner toten Königin sportlichen Betätigungen nachgeht und seine Falken fliegen lässt. Jarl Þorgnýr (Gǫngu-Hrólfs saga)¹¹⁹ hält auf dem Grabhügel seiner Frau, bei schönem Wetter, wie es heißt, Konferenzen ab und unterhält sich mit Spielen.¹²⁰ Spiel und Spaß auf dem Grabhügel sind auch hier am wenigsten ,pietätlosʻ, es sind keine individuellen, mehr oder weniger geglückten Bewältigungsstrategien von Verlust und Trauer. Diese Aktionen stehen vielmehr in perfektem Einklang zum kulturspezifisch erwarteten Trauerverhalten. Trauer wird in vormodernen Kontexten niemals als lediglich persönlicher, emotionaler Ausdruck des Verlustes verstanden, sie ist vielmehr streng ritualisierte Handlungspraxis (sei es im Begräbnisritual wie in der nachfolgenden Totenpflege). Der Trauerritus verlangte öffentlich demonstrierte Nähe, gerade auch in exzessiven, ja exorbitanten Gesten der Empathie und Solidarisierung mit dem Toten, oft genug bis zur Herstellung einer totenähnlichen Besinnungslosigkeit etwa durch Alkohol, aber ebenso Kommunion und Unterhaltung, Gastmähler und Spiele. Der Ort dafür war der Aufenthaltsort der Toten, das Grab, wenn auch später oder parallel dazu Totenfeste und Gedächtnistage im Haus oder eigens dafür vorgesehenen Gebäuden
Harris (Hg.) 1970. Konungr lét setja stól á haug drottningar. Sat hann þar nætr ok daga, sorg ok harm berandi fyrir drottningar missi. (Siehe Ellis 1968, S. 106: „[W]e are told that Hjálmðér’s father Yngi ‚had his throne placed on the howe of the queen; there he sat night and day enduring sorrow and grief for her lossʻ“). Rafn (Hg.) 1829a–1830. Þognýr jarl hafði mikit unnt drottningu sinni, ok var haugr hennar nær borginni. Sat jarl þar oftliga í góðum veðrum eða þá hann hafði málstefnur eða lét leika fyrir sér. (Gǫngu-Hrólfs saga, Kap. 5). („Jarl Þorgnýr had loved his queen dearly, and her howe was near the palace. The jarl often sat there in fine weather, or when he held conferences or had games played before him“ [Ellis 1968, S. 106]). Saxo weiß zu berichten, dass Hotherus in seiner Eigenschaft als König seine Dekrete von einem Hügel aus zu geben pflegte, wohl einem Grabhügel, als übliche autoritative Untermauerung (Gest.Dan. 3.7). Selbst Þrymir, der König der Riesen, sitzt in Jotunheim auf einem „Hügel“ (Þrm 5). Rerir sitzt auf einem Hügel und bekommt den ,Zeugungsapfelʻ gereicht. Zum Zeichen der Entmachtung existierte eine entsprechende inverse rituelle Handlungspraxis, die die Separierung vom Ort dieser Macht, die Loslösung des persönlichen, körperlichen Kontaktes vorsah. So ,rollteʻ König Hrollaugr in einem gewissermaßen revertierten Bewegungsablauf vom Grabhügel herab, „on which the kings were wont to sit (er konungar váru vanir at sitja á) und verlor damit Kraft wie Legitimation für sein Amt (das er bekanntlich an Harald hárfagr abgeben musste) (Haralds saga ins hárfagra, Kap. 8), (vgl. Sundqvist 2001, S. 630 f.; vgl. Ellis 1968, S. 105 f.).
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oder Bauten abgehalten wurden.¹²¹ Dann dreht sich das Gastverhältnis lediglich um, nun kommen die Toten zu den Lebenden zu Besuch, die Prozession also nun vom Grab weg mit Nerthus, Freyr, Fróði, Balder im Wagen. In der Institution des Minnetrinkens findet diese Vorstellung von Austausch und Vertrag mit den Toten im Nordischen eine weitere ritualpraktische Ausgestaltung,¹²² „als sichtbares Zeichen der Konstituierung und Bestätigung einer Gemeinschaft,“¹²³ insbesondere was die Neuordnung, Übertragung und Stabilisierung der materiellen Hinterlassenschaften des Toten anbelangt. Das so genannte erfiǫl oder erfi war unabdingbare Voraussetzung für den Erbnehmer, um sein Erbe antreten zu können (vgl. Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 35, Ynglinga saga, Kap. 36), ein letztendlich existenzielles Tauschgeschäft. Der Tote erhält im Gegenzug Trank- und Speiseopfer (eigna full, „den Trank zueignen“), der Erbe nimmt seinen Platz im Hochsitz ein als sichtbares Zeichen seiner neuen Stellung in der Gemeinschaft ‒ vielleicht eine der heikelsten Situationen, ein Machtwechsel, der nur mit sehr viel Fingerspitzengefühl vonstattengehen konnte: Entsprechend gehört zum erfiǫl zwingend die erfidrápa, ein „preisendes Skaldenlied“, das anlässlich des Erbmahls für den Toten gedichtet wurde. Berühmt das erfikvæði Sonatorrek,¹²⁴ das Egill Skallagrímsson auf seine toten Söhne dichtete. Von seiner Tochter Þorgerðr soll er dazu überredet worden sein, wie es heißt, so „daß er dadurch seine lähmende Trauer überwand und danach das Erbmahl für seine Söhne nach alter Sitte halten [ließ].“¹²⁵ In der Forschung wurde immer wieder
Dafür kommen wohl auch die zahlreichen Schiffssetzungen in Betracht, die mitten in den Gräberfeldern, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Grabstätten lagen. Da sie selten selbst Begräbnisstätte sind, ist ihr Verwendungszweck diskutiert worden, der zweifelsohne in den Grabkult gehört. In einigen Fällen wurden in diesen Anlagen Herdstellen gefunden, offenbar zur Zubereitung von Nahrung. Torsten Capelle kann sich entsprechend vorstellen, dass sie als Ritualorte genutzt wurden, als eine Art „Sammlungsplätze bei Toten- und Gedenkfeiern“ (Capelle 2004, S. 81). Der archäologische Befund passt damit gut zum ritualpraktischen wie mythologischen, wenn Freyja in ihrer Funktion als Gastgeberin für die Toten ihre Gäste in Sessrúmnir, ihrer schönen, geräumigen Schiffshalle empfängt. Das nhd. Wort Minne (mhd. minne, ahd. minna, as. minnia, minnea) gehört zu idg. *mei-n- in der Grundbedeutung „wechseln, tauschen“, auch „Tauschgabe, Leistung“, hat also zunächst nichts zu tun mit anord. minni und got. gaminþi < ie. *men- „(ge)denken, im Sinn haben, Erinnerung, Gedächtnis“. Als spezifischer Rechtsterminus bezeichne dieses Wort „eine besondere Art des Friedenszustandes“, genauer „die Voraussetzungen zur Erreichung dieses Friedenszustandes“ (Zimmermann 2002, S. 49 f.). Und damit ist wohl zunächst die Befriedung, die Zufriedenstellung der Toten gemeint. Wahrscheinlich gehört auch das Motiv des ‚Sturzbechers‘, das neben dem ‚Stab‘ am häufigsten im Zusammenhang mit den anthropomorphen Gestalten auf den Guldgubber-Plättchen abgebildet ist, hierher. Auch Ratke denkt hier an einen Rechtsakt, wenn auch eher an einen profanen (die so genannte arrha, vgl. Ratke 2009, S. 211): „Wenn der Sturzbecher als Besiegelung von etwas gesehen wird, dann könnte der Mann mit Sturzbecher für den erfolgreichen Abschluß bei Verhandlungen oder Geschäften stehen“ (Ratke 2009, S. 204). Aber selbst der eindeutig bestimmbare Heiratsgestus der so genannten Doppelgubber (vgl. Ratke 2009, S. 208) ist wohl keine weltliche Heirat, auch hier ist eher an eine Totenhochzeit zu denken. Zimmermann 2002, S. 50. Finnur Jónsson (Hg.) 1912a–1915. Fidjestøl 1989, S. 482. Siehe Egils saga, Kap. 78: Síðan lét Egill erfa sonu sína eptir fornri siðvenju.
7.5 Die Sentimentalität der eddischen Elegien
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die Sonderstellung dieses Liedes, seine Außergewöhnlichkeit hervorgehoben, ohne Zweifel ist es das im Rahmen eines literarischen Symbolsystems, ein beeindruckendes, originelles Stück nordischer Literatur – originell, individuell oder gar spontan indes nicht im Sinne eines kulturell festgelegten Trauerverhaltens. Es ist die Literarisierung von hocharchaischen Sequenzen eines Bestattungsrituals, modernisiert, ,narrativisiertʻ, ‚psychologisiertʻ als die persönliche, erschütternde Trauererfahrung eines alten Mannes.
7.5 Die Sentimentalität der eddischen Elegien Gerade diese unterschiedliche Bezogenheit ist oft nicht verstanden worden, ja ist nachgerade zum Zankapfel geworden in der jüngeren Forschung, wenn es um die Beurteilung von Gefühlsregungen, ‚Sentimentalitätʻ, in der nordischen Dichtung geht. Eng verbunden damit ist schließlich die Frage nach der paganen Authentizität, die Frage des Alters. Im Besonderen knüpft sich daran der Streit um die Datierung der eddischen Elegien, deren ,elegischeʻ, weiche, gefühlvolle, klagende Grundstimmung seit Andreas Heusler als ,jungʻ eingeschätzt wurde. Sie könne keinen Platz haben im spezifisch nordischen Menschen- und insbesondere Männerbild, wo eine heroisch starre Haltung vorgeherrscht habe und Tränen, Klagen, Trauer auf keine Weise einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung entsprochen hätten.¹²⁶ So ist entsprechend fremde Einflussnahme angenommen worden, sei es aus der kontinentalen Balladendichtung¹²⁷ oder der geistlichen Literatur des Mittelalters (Ulrike Sprenger).¹²⁸ Besonders kritisch wendet sich Klaus von See gegen Daniel Sävborgs Ergebnisse, der wiederum sehr wohl jene klagenden Gefühlsmomente in der germanischen und nordischen Literatur ausmachen möchten und eine Altersschichtung der eddischen Heldenlieder auf Grundlage dieser Kriterien ablehnt.¹²⁹ Zunächst verweist v. See wohl zu Recht auf den springenden Punkt: Es geht nicht darum, ob die „alten Germanen schon Trauer und Klage gekannt hatten, sondern allein darum, ob und wie Trauer und Klage literarisch gestaltet wurden.“¹³⁰ Es ist also durchaus möglich, dass bei der literarischen Ausgestaltung, bei der Einführung dieser so genannten Gefühlsmomente der Trauer, des Kummers in die Literatur mit fremder kontinentaler Einflussnahme gerechnet werden muss. Die Entstehung eines neuen Symbolsystems im Norden, die literarische Fiktion, ist nur mit diesen Voraussetzungen denkbar. Aber die Motive der Trauer und Klage, der Rache entstammen dieser Tradition nicht. Sie sind originär, ursprünglich, alt ‒ indes nicht in einer nordischen literarischen Tradition, sie entstammen einer Ritualtradition, einem religiösen
Vgl. Sävborg 2013, S. 86 f. Vgl. Mohr 1938; Mohr 1939. Sprenger 1992. Siehe Sävborg 2000; siehe dazu auch Harris 1988; Clover 2002. von See 1998, S. 94.
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Denksystem, sie sind zunächst einmal Elemente religiös rituellen Sprechens und Handelns. In diesem Rahmen sind sie spezifisch arrangiert, funktionalisiert, geschlechtsspezifisch, rollenspezifisch und vieles mehr.¹³¹ Es geht also gerade nicht um übliches, herkömmliches, erwartbares Alltagsverhalten, schon gar nicht um eine volkseigene, ,germanische Mentalitätʻ oder Gefühlslage, sondern um erwartetes Ritualverhalten. So verweist Sävborg in diesem Zusammenhang auf die spezifischen Trauergesten ‚des Händeschlagensʻ, höndum slá, (as. handun slôg), die er keinesfalls für christlich hält, ebenso auf die bereits erwähnte Verbkonstruktion sitja yfir als Versprachlichungen indigener Trauerhandlungen.¹³² Und so ist auch die Unfähigkeit des Weinens der Gudrun eine kultische Unterlassung, die schwere Konsequenzen nach sich ziehen kann. Entsprechend muss es im Interesse aller liegen, diese Bringschuld auszugleichen. Die Verweigerung von Tränen (andererseits auch das Nichtzurückhalten oder ein Zuviel davon ‒ ungeachtet einer tiefen persönlichen, emotionalen Beteiligung) gilt in vielen Beerdigungsritualen als schwere Verfehlung, zumindest als Affront. Wir werden einen dieser Tränenverweigerer noch im Zusammenhang mit Balders Todesumständen kennenlernen ‒ mit durchaus eklatanten Folgen. Im rituellen Rahmen wird diese Gefühlsäußerung (wie alle anderen auch) kontrolliert und gegebenenfalls manipuliert.¹³³ Die so genannte trégrof, „die Kummerkette“, der elegische Rückblick, eine Technik, in der gewissermaßen ein „Katalog des Kummers“ erstellt wird, wie Sävborg beschreibt, indem sämtliche Sorgen und kummervollen Ereignisse der Trauernden aneinandergereiht werden und damit intensiviert werden, findet sich, kaum überraschend, in Egills Sonatorrek wie in der Gudrun-Klage¹³⁴: Es gehört zur üblichen rituell geforderten Selbsterniedrigung, letztendlich eine Beschwichtigungsgeste, um potentiellen Neid- oder Wutgefühlen des
Siehe Sävborg 2013, S. 97: „But viewed from a truly comparative perspective with literature of a known age and background, the case looks different. This perspective suggests that grief and lamentation over the dead are traditional native motifs in eddic heroic poetry, and are not alien to the indigenous mentality, poetic tradition, or heroic poetry, and thus there is no reason to regard the phenomen of ‚Eddic elegiesʻ as originating under foreign influence.“ Vgl. Sävborg 2013, S. 90 f. Auch ,fluchenʻ gehört in dieses Versprachlichungskonzept von Trauerbzw. Abwehrgesten im Rahmen ritueller Bestattungshandlungen. Vgl. mhd. vluochen, ahd. fluohhōn, aus g. *flōk-a (in gt. faiflokun Prät. „betrauerten“), anord. flókkin „verworren“, afr. urflōkin „verflucht“, wobei das ae. flocan mit seiner Grundbedeutung „die Hände zsm.schlagen“ noch am nächsten an der allgemeinen Ausgangsbedeutung „stoßen, schlagen“ steht. Im Gotischen zeigt sich schon die Bedeutungsfokussierung: diese Handlung ausführen „als Zeichen der Trauer und Verzweiflung“ (Kluge/ Seebold 2002, „fluchen“). Gudruns Fluch gegen die Mörder ihres Mannes ist also nicht späte Interpolation, wie manches Mal vermutet (vgl. Sävborg 2013, S. 96, mit Gegenbeispielen), sondern rituallogische Entsprechung eines Sprechaktes und dessen handlungspraktische Ausführung. Gail Holst-Warhaft beschreibt diese Kontrollfunktion des Ritus als eine Art „system of checks and balances“ (Holst-Warhaft 2000, S. 28). „The apparent inconsistency of allowing, even encouraging emotional relief in the form of tears at one point in the funeral and restricting it at another has something in common with the system of checks and balances built into the griefing rituals of many preindustrial societies“ (Holst-Warhaft 2000, S. 28). Vgl. Sävborg 2013, S. 93; Clover 2002, S. 27.
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Toten über seine missliche Lage zuvorzukommen.¹³⁵ In der Literarisierung dieses Unterfangens kommt es zu einer Neumotivierung. Die neue, moderne, innere Entwicklung und psychologische Motivation der Heldin, des Helden steht jetzt im Vordergrund. Auch der Wunsch nach Rache ist weder älter (weil weniger ,weichʻ und ,gemütvollʻ) noch spontane Eingebung, sondern wiederum rituelle Erfordernis.¹³⁶ Da der vormoderne Tod immer einen intentionalen Verursacher hat, sei es ein menschlich realer (gegebenenfalls mithilfe von Zauberei) oder ein übernatürlicher (ein Krankheitsdämon oder andere übelwollende Wesenheiten), muss er entsprechend den Regeln der Kompensation vergolten, gerächt werden, als tatsächlich real ausgeführte Fehde oder aber als ritualisierter Sprechakt, etwa als Fluch. Das Motiv der Rache ist deshalb in den Leichenliedern dieser Welt ein überaus geläufiges, das stets in einer Reihe steht mit den heftigen, tränenreich geäußerten Klagen, den Selbstverletzungen. Und wie ehedem Geschrei und Selbstverwundungen bei der Totenfeier die zürnende Seele einstweilen bis zum Vollzug der Blutrache beschwichtigen sollten, so hat vielleicht auf einer entwickelteren Stufe das dichterische Motiv der Rache im Leichenliede diese Aufgabe erfüllt.¹³⁷
Trauer und Aufreizung, grátr und hvǫt, gehören also untrennbar zusammen, auch wenn v. See und andere das kaum unterstützen wollen.¹³⁸ Die Ballade scheint wesentlich jünger zu sein als die eddische Dichtung (d. h. ihre Verschriftlichung), ob man mit Mohr¹³⁹ von einer Art ‚Schwester der eddischen Elegienʻ sprechen mag, sei entsprechend dahingestellt, aber sie schöpft ganz offensichtlich nicht wenige Motive, Vorstellungen bis hin zu Wortformeln aus dem gleichen Pool. Hier wie da werden ursprüngliche Trauerritualmotive, ursprüngliche Motive der Trauerpoetik und in diesem Sinne religiöse Poetik¹⁴⁰ aus ihrem Begräbniskontext herausgelöst, um mehr und mehr anderen, nichtreligiösen Zwecken zu dienen: Ob in der eddischen Elegie oder in der volkstümlichen Ballade, „[d]as Merkmal aller ursprünglichen Leichenklage, ihre Aufführung an der Leiche, fehlt […].“¹⁴¹ Und das ist wohl die wichtigste Voraussetzung, um eine Entwicklung der Literarisierung des Leichenliedes in Gang zu setzen. Es können etwa nun Unterhaltungszwecke im Vordergrund stehen, mit anderen Verbindlichkeiten und Plausibilisierungsleistungen, aber nicht nur, auch religiöse Um- oder Neumotivierungen sind denkbar. So findet sich häufig gerade der
Es ist diese „Neidabwehr durch den Hinweis auf zuvor erlittenes Unglück“ (Rakoczy 1996, S. 9), von der Rakoczy nicht nur, aber insbesondere im Umgang mit höheren Mächten, den Göttern spricht. Im Totenritual ist sie unumgänglich, gerade hier muss es um eine ausgeglichene „Gesamtbilanz“ (Rakoczy 1996, S. 9) gehen. Siehe Clover 2002, S. 23f. Jahnow 1923, S. 54 f. Vgl. von See 1998, S. 88. Mohr 1938. Vgl. Honko 1977, S. 10. Jahnow 1923, S. 133.
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Typus des Klagelieds in anderen Übergangsriten, etwa der Hochzeit.¹⁴² Gut denkbar, dass die Motivik der volkstümlichen Ballade eher von hier ihren Ausgang genommen hat. Auch für das altenglische Klagelied ist diese Entwicklung festgestellt worden, es könne kein Zweifel daran bestehen, so Ernst Sieper, „daß sich diese Dichtungsart bis zu einem gewissen Grade von dem altheidnischen Ritual gelöst hatte.“¹⁴³ Unabhängig von der Zeremonie der Bestattung seien schließlich viele Situationen vorstellbar, die beklagenswürdig seien, Unglück, Alter, Trennung, Verstoßung.¹⁴⁴ In der Art ihrer Medialisierung, ob profan weltlich oder religiös rituell, unterscheiden sie sich zunächst nicht. So sieht auch Klaus Böldl den Grund für die bis dato so schwierige Bestimmbarkeit von Abhängigkeiten, Parallelen und „Schnittpunkte[n]“ der beiden Gattungen Eddalieder und Balladen in der nahezu ausschließlichen Konzentration der Forschung auf mögliche „literarhistorische[ ] Zusammenhänge.“¹⁴⁵ Zahlreiche Motivkomplexe ließen sich indes gerade nicht als „direkte Rezeptionsphänomene“ erklären, vielmehr müsse von einer ursprünglichen „Motivgemeinschaft“ ausgegangen werden, von „verbreitete[n] formelhafte[n] Wendung[en]“, von einer grundsätzlichen „Ähnlichkeit der Sujets“.¹⁴⁶ Ein Sujet ist der Totenkult, und so erscheinen in der Folge Ritualelemente in den jeweiligen Gattungen gegebenenfalls unterschiedlich aktualisiert und funktionalisiert.¹⁴⁷ Auch das erfikvæði, das nordische Totenpreislied, ist inhaltlich wie formal relativ stereotyp, preisend, panegyrisch, und ebenso stellt bereits Heusler fest, dass „zwischen den Preisliedern auf Lebende und denen auf Tote, den ‚Erbliedern‘, […] in der Regel kein artbildender Unterschied“ bestehe.¹⁴⁸ Aus gutem Grund, die soziale Ausgangslage, die Hierarchien und Machtverhältnisse sind ja ähnlich genug: Die Abhängigkeitsverhältnisse vom lebenden zum toten Fürsten ändern sich ohnehin kaum, aber prinzipiell muss jedem Toten zumindest formal rituell diese Oberhoheit eingeräumt werden. Das
Vgl. Honko 1977. Sieper 1915, S. 7. Vgl. Sieper 1915, S. 8. Vgl. Böldl 2017, S. 48. Vgl. Böldl 2017, S. 48. Noch gut nachvollziehen lässt sich diese (literarische) Neusemantisierung etwa in der Verknüpfung der Bestattungssymbolik mit den populären, balladesken Motiven des so genannten Stiefmutterfluchs oder der Brautfahrt, wie sie etwa im eddischen (Doppel)lied Svipdagsmál erscheinen (vgl. Böldl 2017, S. 45). Dieser Typus der Stiefmutterballade werde üblicherweise zu den „Wiedergängerballaden“ gerechnet, denen das Motiv der „temporäre[n] Erweckung der Mutter vom Tode durch ihre Kinder“ gemeinsam sei (vgl. Böldl 2017, S. 45). Wenn auch später in den romantisierenden Versionen der Ballade zur Restitution eines bürgerlichen „Familienidyll[s]“ weitergesponnen (vgl. Böldl 2017, S. 46 f.), geht es schon in der paganen Ritualwirklichkeit um intensive Kommunikation und Austausch mit der Totenwelt. Literarisiert (ob im Eddalied oder in der Ballade) erscheint dieser rituelle Austausch mehr oder weniger funktionslos und kaum mehr als blindes Motiv. Auch Otto Höfler vermutet im Svipdags-Lied wohl zu Recht (auch wenn seiner Interpretation des Helden Svipdagr als eine Art suebischer Wintergraf/Maigraf [vgl. Höfler 1952, S. 40 f.] kaum zugestimmt werden kann) ein ursprünglicheres Kultlied. Heusler 1923, S. 130, zit. n. Fidjestøl 1989, S. 485.
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Preislied trägt dem Rechnung: Es besteht aus einer Aneinanderreihung von verbalen Unterwerfungs- und Beschwichtigungsgesten, eine Litanei an uniformen, redundanten Lobesbekundungen ‒ ein wichtiges rituelles Antidot, das der Unberechenbarkeit der Mächtigen, ihrer potentiellen wie grundsätzlichen Verdrossenheit entgegenwirken soll. Nicht „Zartgefühl“,¹⁴⁹ ja nicht einmal unbedingte Wertschätzung ist es somit, was zu diesen Bekundungen führt, sondern rituelle Notwendigkeit, eben jene Auffüllung eines Mangels, die Wiederherstellung eines Gleichgewichts. In wenig individuellen, konventionalisierten Bildern und Metaphern wird die „Unersetzlichkeit“ und „Unvergleichlichkeit“¹⁵⁰ des Verstorbenen beschworen, Formensammlungen, Tugendkataloge, die für gewöhnlich das „Ideal des jeweiligen Kulturkreises“ enthalten, sei es das „nüchterne Ideal“ des römischen Staatsbürgers oder die besonderen körperlichen Vorzüge des arabischen Beduinen.¹⁵¹ Und auch für das mittelalterliche provenzalische wie deutsche Loblied stellt Nickel nicht nur eine unübersehbare Ähnlichkeit zum Klagelied fest, sondern überhaupt eine gewisse Pragmatik in der Bearbeitung. Im konkreten Gebrauchsfall sei dann unter Umständen lediglich ein Tempuswechsel vonnöten gewesen¹⁵²: „Man konnte also, wenn der Gönner gestorben war, das frühere Loblied gleich als Klagelied benutzen, wenn man nur für das Präsens das Imperfektum einsetzte und eine Bitte an Maria hinzufügte.“¹⁵³ Gewiss aber erforderte es die ganze Könnerschaft des Dichters eines erfikvæði, den Tod des dermaßen buchstäblich ,in den Himmel Gelobtenʻ mit besonderer Sorgfalt und Diplomatie zu behandeln, als nur nicht anders als eine „ehrenvolle Beschreibung des Falls und der Niederlage“,¹⁵⁴ eine schwierige Gratwanderung und nicht ungefährlich: Aber es war der letzte Akt im Bestattungsritual wie Erbritual, dem Toten musste jetzt klargemacht werden, dass sein Weggang unumkehrbar war. Und so ist letztendlich auch die Charakterisierung Balders, wie sie uns Snorri ausführt, nichts anderes als ein Nekrolog, ein typisierter, formalisierter Lobpreis auf einen Toten, der sich nun anschicken muss, diese Welt zu verlassen.
7.6 Totenhochzeit 7.6.1 Von Holzbräuten und Baummännern Natürlich wurde die Anwesenheit des Toten als Zuhörer stets vorausgesetzt, tatsächlich unmittelbar verkörpert in seinen leiblichen Überresten war „the corpse […] a terrifying observer to be reckoned with.“¹⁵⁵ Aber auch der leere Stuhl an der Tafel der
Jahnow 1923, S. 54. Jahnow 1923, S. 97. Vgl. Jahnow 1923, S. 97. Vgl. Jahnow 1923, S. 97, Anm. 3. Nickel 1907, S. 50. Fidjestøl 1989, S. 485. Holst-Warhaft 2000, S. 65.
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Lebenden galt als buchstäblicher Platzhalter für den Toten und keineswegs nur im Sinne einer lediglich symbolischen, imaginären Teilnahme. Eine Zwischenstufe, wenn man so will, zwischen der schieren Materialität der Leiche und dem Leerzeichen des Stuhls, ist der rituelle Ersatz der Toten durch „Puppen oder Pflöcke“.¹⁵⁶ Die Ahnenpflöcke erhalten Pflege und Nahrung, sie werden gefüttert, gebadet, am häuslichen Tisch oder draußen am Grab.¹⁵⁷ Der Tote, auch der speziell zu diesem Zweck konservierte Tote, kann also leibhaftiger Empfänger von Nahrung, Pflege, Schmuck und Unterhaltung werden¹⁵⁸ ebenso wie dessen ,beseelteʻ Surrogate, Körperteile, Knochen, insbesondere der Schädel oder andere zauberisch wie rituell wiederbelebte Leichenteile.¹⁵⁹ In diesem Sinne wird die so ungläubig gestellte Frage, ob etwa die schwedischen Freyrkultteilnehmer so dumm gewesen sein sollten, dermaßen Interaktionen von einem Holzklotz zu erwarten,¹⁶⁰ uneingeschränkt mit Ja beantwortet werden können: Der Ahnenpfahl gilt als die letzte Transformationsstufe, als permanente Hinterlassenschaft und Verkörperung des Toten.¹⁶¹ Eine ähnliche (wenn auch immobile) Stellvertreterfunktion hat der Grabstein (oder das Kopfende des Grabes), dessen Behandlung mit Trank- und Ölspenden gehört zu den üblichsten Totenpfle Murko 1910, S. 107. Vgl. Murko 1910, S. 107. Siehe etwa den Behandlungskatalog des Lucan: „Waschen, Salben, Kränzen der Leiche; πρόϑεσις“, „Nährung des Todten durch χοαί und καϑαγίσματα“, „περίδειπνον nach dreitägigem Fasten“ (Rohde 1894, S. 627 f.). Die zahlreich überlieferten Beispiele an Sekundärbestattungen tragen dem Rechnung: Gerade hier erfahren die Knochen eine solche Behandlung, sorgfältig wird mit ihnen hantiert, neu arrangiert, sie werden geküsst, mit Wein gewaschen und gesalbt. Rituelle Exhumierungen finden sich bis heute in Teilen Europas, im so genannten „‚lament beltʻ“ (Arukask 2011, S. 140) vom Balkan bis zum Weißen Meer, im griechischen Begräbniskult. Dabei wird die Exhumierung des Leichnams in ähnlichen Ritualsequenzen wie die der Hochzeit vollzogen, so werde etwa der blanke Schädel begrüßt und geküsst wie eine Braut (vgl. Arukask 2011, S. 140 f.). Vgl. Reuschel 1934, S. 157. Die rituelle Handlungspraxis an jenem norwegischen ‚hölzernen Gudmundʻ ließe sich in dieses Konzept einer Ahnenverehrung jedenfalls gut einfügen, zweifelsohne eine pagane Praxis, gegen die sich die christliche Kirche Jahrhunderte lang gleichwohl vergeblich wendet. Eindämmen konnte die Kirche diese Art von Totenkommunikation zunächst nur insofern, als dass sie das Totenmahl weg von den Gräbern hinein in die häusliche Sphäre holte und darüber hinaus gezielt in den Rahmen allgemeiner (kanonischer) Heiligenverehrung einzubauen versuchte. Auch vom ,hölzernen Gudmundʻ heißt es ausdrücklich, es habe sich um ein altes „Familienerbstück“ (Egeler 2015a, S. 110) gehandelt. Das Holzidol hatte damit religiöse Bedeutung innerfamiliär und generationenübergreifend. In Teilen Bulgariens kennt man noch heute die so genannte stopanova gozba („Bewirtung des Hausherrn“): Der stopan ist der Spitzenahn des Hauses, ein realer oder imaginärer Vorfahr, der sich durch Exzellenz in jeder Hinsicht auszeichnet, durch „Heldenmut, Schönheit, Gesang und Flötenspiel“ (Murko 1910, S. 94, Anm. 7), von dessen Wohlwollen Heil und Gesundheit der Familie, der Sippe abhängt. Durch Zeichen (die für gewöhnlich nur das Familienoberhaupt deuten kann) gibt der stopan zu erkennen, dass er hungrig ist und für seine Wohltaten zu speisen verlangt (vgl. Murko 1910, S. 94, Anm. 7). Für die karelische Totenklage konstatiert Honko Ähnliches. Da die Ostkirche wesentlich nachsichtiger gewesen sei mit paganen Handlungspraxen im Totenkult, hätten sich diese im Lauf der Jahrhunderte mehr und mehr vermischt mit der Verehrung der Heiligen (vgl. Honko 1977, S. 56).
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gevorschriften.¹⁶² Im Bestattungskult wird also unbelebte Materie, der Grabstein, die Massebe (auch Besitztümer des Toten, man erinnere sich an den Gürtel des Óláfr Geirstaðaálfr), die anthropomorphe Stele zum Medium des Austausches, Geber und Empfänger zwischen Lebenden und Toten, gleichzeitig Sitz des Toten selbst, Essenz und Konzentrat, das sich darin verdichtet. Ein riesiger Holzgötze auf der Insel Sámsey (siehe Ragnars saga loðbrókar, Kap. 20) berichtet erstaunten Inselbesuchern selbst über sein Schicksal, die Umstände seiner Errichtung durch eine Gruppe durchaus rätselhafter Ritualteilnehmer, die der trémaðr als synir loðbrókar oder sverðmerðlingar bezeichnet. Hinter diesen Bezeichnungen scheinen komplexe Ritualvorstellungen zu stehen, wovon noch zu sprechen sein wird. Ganz offensichtlich sind aber hier wie auch immer geartete Kultspezialisten gemeint, die den trémaðr nicht nur errichten, erschaffen, sondern ihm auch therapeutische, kompensatorische Maßnahmen zukommen lassen und über deren Abwesenheit (bzw. Abbruch) sich der hölzerne Ahne nunmehr bitter beklagt: Schutzlos Wind und Wetter preisgegeben, von Dornen überwachsen, unbekleidet, ‚fleischlosʻ müsse er nun bis zum Ende aller Tage an ein und derselben Stelle ausharren, dabei stünden ihm doch Wärme und Nahrung, nicht zuletzt Mobilität, eben alle Arten sozialer Interaktionen, ‚Aufmerksamkeitenʻ von den Lebenden zu.¹⁶³ Auch die ,hölzernen Bräuteʻ Þorgerðr Hǫlgabrúðr und ihre Schwester Irpa sind kommunikativ, durch und durch handlungsfähig, entscheidungsfähig, und wenn auch in der typischen Form von nachpaganen Bekehrungsgeschichten gehalten, finden sich auch hier nahezu alle Elemente von Ahnenverehrung oder Totenkult wieder; ein Kult, den indes Snorri nicht mehr (oder noch nicht) als göttlich eingestuft hat, zumindest nicht ,asischʻ. Aber er berichtet von Hǫlgi, dem eponymen Stammvater von Halogaland und seiner Tochter Þorgerðr Hǫlgabrúðr als tote Kultempfänger an einem Grabhügel,¹⁶⁴ mit dem für diesen Kult bezeichnenden Detail des Opfergeldes, das direkt mit dem Grabhügel vermengt oder in ihn hineingeschüttet wird.¹⁶⁵ Siehe die
Vgl. Jahnow 1923, S. 27 f. Vgl. McTurk 1991, S. 29 f. Auch McTurk möchte in diesem Zusammenhang an die kultischen Umfahrten der Nerthus denken, allerdings sieht er die Göttin ausdrücklich als ‚Frühlingsgöttinʻ, der trémaðr gehöre zu einer ihr nächstverwandten Figur, der „fertility goddess“ Loþkona. Siehe die unterschiedlichen Varianten des Namenerstglieds: Hǫlda (Njáls saga), Hǫlga (vielleicht von Hálogaland oder von Hǫlgi) Hǫrda (Hǫrdaland), Hǫrga („vom Grabhügel“), Hǫrgatrǫll (vgl. McKinnell 2014d, S. 285). Auch ein Holzidol von Thor wird ausdrücklich in der Gesellschaft der Schwestern im Heiligtum erwähnt. Svá er sagt at konungr sá er Hǫlgi er kallaðr, er Hálogaland er við nefnt, var faðir Þorgerðar Hǫlgabrúðar. Þau váru bæði blótuð ok var haugr Hǫlga kastaðr, ǫnnur fló af gulli eða silfri (þat var blótféit) en ǫnnur fló af moldu ok grjóti (Skáldsk 45). („Dann sagt man, daß derjenige König, der Hölgi genannt wird und nach dem Halogaland benannt ist, der Vater der Thorgerd Hölgisbraut war. Ihnen beiden wurde geopfert, und Hölgis Grabhügel wurde so aufgeworfen: eine Schicht aus Gold und Silber, das war das Opfergeld, und eine Schicht aus Erde und Steinen“). Snorri erklärt damit die Goldkenning Hǫlga haugþak, „the thatch of Hǫlgi’s mound“ (McKinnell 2014d, S. 280). Man wird darin die ritualpraktische Entsprechung zu den literarischen Schilderungen gewisser Kultgebäude, der Tempel von
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Freyr/Frotho-Verehrung, ähnlich die des Geirstaðaálfr. Die vielen weiteren übernatürlichen, fantastischen Details erfahren wir indes aus anderen Quellen: Bekanntlich ist der große heidnische Gegenspieler des Königs Óláfr Tryggvason Jarl Hákon von Hlaðir, der wiederum schon in der Skaldentradition als großer Verehrer, ja ,Liebhaberʻ der Þorgerðr Hǫlgabrúðr erscheint. Hier besitzt sie auch machtvolle, übernatürliche Fähigkeiten, sie vermag (zusammen mit ihrer Schwester Irpa) schreckliche Hagelstürme zu erzeugen und Pfeile aus ihren Fingern zu schießen,¹⁶⁶ was schließlich ihrem in jeder Hinsicht ergebenen Anhänger Hákon den Sieg gegen die Jómsvíkingar in der Schlacht im Hjǫrungavágr bringt (nicht zuletzt durch die ultima ratio eines Menschenopfers: der Jarl opfert seinen eigenen Sohn Erlingr). Neben der Þorgerðr Hǫlgabrúðr und ihrem Vater (bzw. Ehemann) Hǫlgi erscheinen indes noch weitere Familienmitglieder, die Schwester Irpa, mit der sie zusammen im Heiligtum wohnt und auch agiert, von einem Bruder Sóti ist die Rede, der explizit (wie sie selbst) als Troll, als haugbúi beschrieben wird. In der Óláfs saga Tryggvasonar in der Flateyjarbók erfahren wir ausführlich über ihr wundersames Wirken, in Snorris Version der Saga in der Heimskringla hingegen gibt es keinerlei Hinweis darauf.¹⁶⁷ Wohl aber weiß er, auffallend ähnlich zum Freyrkomplex, viel von einem weltlichen, offenbar menschlichen Pendant der Þorgerðr zu berichten, der Ehefrau von Hákon, Þóra von Rímul, mit der er auch gemeinsame Kinder hat.¹⁶⁸ Chadwick vermutet entsprechend in der Flateyjarbók zwei unterschiedliche Traditionen der Þorgerðr- bzw. Þóra-Gestalt, „one sober and realistic, the other fantastic“,¹⁶⁹ letztere sieht sie in der Skaldendichtung gegründet, die Snorri ganz offensichtlich bewusst übergangen habe.¹⁷⁰ So wie Þorgerðr Hǫlgabrúðr bei Snorri also ganz Mensch sein muss, muss Freyr bei ihm ganz Gott sein. Für den Christen Snorri scheint die Ahnenverehrung eine Form der Religiosität, die in seine Vorstellung von Religion nicht passt, nicht in polemischer Absicht, sondern um einer Systematisierung eines heidnischen, nordischen Pantheons willen. Snorri geht es um die nordischen ,olympischenʻ Götter, wenn man so will, die ,pagane Hochreligionʻ, und da hatten chthonische Kulte, Ahnenverehrung, Gräberkult keinen Platz. Es ist jener Systematisierungswille, dem vermutlich auch die uralte Verbindung zwischen Vanen und Alben zum Opfer gefallen ist. Grundsätzlich muss aber immer auch mit einem üblichen christlichen Unbehagen gegenüber heidnischem rituellem Handeln gerechnet werden. Wenn überhaupt, erscheinen dann Ritualelemente, TotUppsala, Heorot, sehen müssen, wo ausdrücklich auf den Goldglanz der Dächer verwiesen wird. Auch das Kulthaus der Þorgerðr, das Jarl Hákon und Sigmundr im Wald aufsuchen, ist von außergewöhnlichem, ,schattenlosem‘ Gold-, Silber- und Glasglanz (siehe Færeyinga saga, Kap. 23). Auch Saxo kennt eine Thora, die Tochter des Cuso, König der Finnen und der Bjarmar. Hier ist sie nicht die Tochter, sondern die Frau eines Helgi. Damit scheint auch Saxo Þorgerðr in ein nördliches Milieu zu versetzen, ihre Fähigkeiten im Bogenschießen und Erzeugen von Schnee- und Hagelstürmen passen dazu (vgl. Chadwick 1950, S. 402). Vgl. Chadwick 1950, S. 404. Vgl. Chadwick 1950, S. 410 f. Chadwick 1950, S. 411. Vgl. Chadwick 1950, S. 410.
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enkultelemente im Mythos ähnlich gut ‚verstecktʻ, ,mythologisiertʻ wie in den literarischen Erzählquellen profanisiert. Gerade hier aber zeigt sich jene typische Ambivalenz, die notorisch mit der Ahnenverehrung einhergeht, zumal durchaus klar ist, dass das Objekt der Verehrung zu Beginn seiner Transformation (die durch den Tod eingeleitet wird) menschlich war, das ,Endproduktʻ aber übermenschlich mit entsprechend übermenschlichem Habitus und Fähigkeiten. Aber auch John McKinnell scheint Schwierigkeiten zu haben, diese beiden Traditionen, menschliche und göttliche (vergöttlichte), zusammen zu sehen: „Þorgerðr, on the other hand, is always portrayed as the idol of a deity, never as a figure in a grave-mound, and it would seem bizarre for such a supernatural being to be regarded as the daughter of a dead human ruler.“¹⁷¹ Aber man muss wohl durchaus von solchen Überlegungen ausgehen. Dies widerspräche jedenfalls nicht der Wesenheit und Funktion der Þorgerðr als Geliebte, als Sexualpartnerin (ja käufliche Prostituierte) des Jarls, jedes Jarls, so „that the separate name Hǫlgi could be applied to him or to any of his dead predecessors.“¹⁷² Ein Ehrentitel und Hüllnamen, der sich gut einreiht in das Benennungskonzept von Freyr, Fróði, Balder als Namen, die den verstorbenen Herrscher kennzeichnen. Und es passt ebenso gut zu McKinnells Beobachtung (und der vieler anderer), dass Þorgerðrs Kult in vieler Hinsicht an den VanenKult erinnert: das starke Verlangen nach Gold und Silber und Reichtum, im Besonderen die damit verbundene käufliche Liebesgunst der Vanin Freyja. Allerdings fehlt McKinnell das kultische Element der Wagenfahrt, was sich indes möglicherweise (in pervertierter Form) als Schleifen der Statue, festgebunden am Pferd des Königs, darstellen könnte. Die Gestalt der Irpa muss vorerst zurückgestellt werden, auch die Frage nach ihrem (Tabu)namen „the swarthy one“, „die Dunkelbraune“, als die andere, dunkle, chthonische Seite der beiden Schwestern. Und von besonderem Interesse wird dabei sein, dass ausgerechnet der Wagenfahrer par excellence, Thor, in der Gesellschaft der Schwestern erscheint.¹⁷³ Obgleich nun Snorri sich ganz offenbar für die ,nüchterneʻ, realistische Tradition entschieden hat,¹⁷⁴ weiß er doch nichtsdestotrotz Merkwürdiges zu berichten: Nachdem der Fürst Hákon vor Olaf fliehen muss, versteckt ihn seine Ehefrau in einem Loch unterhalb eines Schweinestalls (svínabœli), wo er schließlich von der Hand seines Dieners Þormóðr Karkr sein Leben verliert (Heimskringla, Óláfs saga Tryggvasonar Kap. 48). Nora Chadwick vermutet hier einen „skaldic figurative term“,¹⁷⁵ der von Snorri offenbar nicht mehr verstanden worden ist und auf narrativer Ebene neu
McKinnell 2014d, S. 270. McKinnell 2014d, S. 270. Vgl. McKinnell 2014d, S. 272. Vgl. Chadwick 1950, S. 410 f. Chadwick 1950, S. 407.
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plausibilisiert wurde.¹⁷⁶ Aber der svínabœli, der darüber hinaus an einem ,großen Steinʻ gelegen haben soll, ist wohl nichts anderes als der Grabhügel, und, wir müssen es annehmen, so wie die menschliche Þóra den Jarl in einer Erdhöhle versteckt, bereitet Þorgerðr Hǫlgabrúðr dem bereits toten Fürsten sein Grab. Der Diener Karkr begleitet den toten Fürsten in den Grabhügel. Chadwick verweist auf das gar nicht so seltene Motiv der ,männlichen Witwennachfolgeʻ („male suttee“)¹⁷⁷: Nicht nur die Witwe begleitet den toten Ehemann ins Grab, offenbar können sich auch Ziehbrüder oder Schwurbrüder schon zu Lebzeiten versprechen, gemeinsam ins Grab zu gehen. Das mag tatsächlich so geschehen sein oder aber als lediglich temporäre Handlung, als eine Art rituelle Version im Rahmen des Beerdigungskultes zur Ausführung gekommen sein.¹⁷⁸ Manchmal tritt an deren Stelle ein Diener, freilich mit einem interessanten Detail: Der Diener und Begleiter muss zur selben Stunde wie sein Herr geboren sein, so etwa Karkr, was der Sagaschreiber entsprechend betont, so geschehen bei König Herlaugr, der ebenfalls mit einem Diener identischen Alters eingehügelt wird.¹⁷⁹ Zu diesem auffallenden Arrangement wird sich auch eine mythische Entsprechung finden, es ist jedenfalls kein Zufall und muss entsprechend im Begräbniskontext bedeutsam gewesen sein. Der Grund ist immer die Befriedung des Toten. Ob Ehefrau, Schwurbruder oder Doppelgänger, sie scheinen am sichersten zu gewährleisten, dass der Tote an diesem Ort bleibt. Letzterer gewinnt offenbar durch die Identität der Geburtsstunde eine Art magische Wirkmacht über den Toten, sei es, weil ihm das Alter Ego (nach üblichem Substitutionsprinzip) noch eigene Handlungsfähigkeit und Lebendigkeit suggeriert und er dadurch beruhigt ist, sei es, weil dies als die ultimative Form der notwendigen Gleichschaltung zwischen Lebenden und Toten
Vgl. Chadwick 1950, S. 407 f., Anm. 5. Chadwick verweist auf eine andere, wohl genauso wenig verstandene Stelle der Hálfdanar saga svarta in der Heimskringla, wo ein Schweinestall vom Seher Þorleifr spaki für prophetische Träume genutzt wird. Chadwick 1946, S. 57. Siehe ähnlich Sigrún, die mit ihrem toten Liebhaber Helgi lediglich eine Nacht im Grabhügel verbringt, dann vom Toten selbst zurückgeschickt wird, damit er nach Walhall zurückkehren kann (vgl. Chadwick 1946, S. 57). Die Unsicherheit über den Aufenthaltsort des Toten wird hier narrativ gefasst als ,Pendelnʻ zwischen dem traditionellen Grabhügel der Vorväter und dem, wenn man so will, modernen, jedenfalls prestigeträchtigeren Kriegerhimmel Walhall (siehe auch Komm.Edd. Heldenlieder, von See et al. 2004, S. 603). „[T]he dialogue between the two men seems to make it clear that the Jarl lays weight on the fact that Karkr was born in the same hour as himself, and also that the Jarl himself had nothing to expect save death at his hands. Taking into consideration the other stories of living interment, and of the necessity for a companion in the barrow which is stressed in many such instances, it is reasonable to conjecture that the story refers to the same ritual as that of King Herlaugr, and that, on the victorious approach of King Oláfr Tryggvason, the great Jarl, who was no longer young, withdrew alive into the barrow which had been prepared for him, as his ancestor King Herlaugr had done before him, taking with him the servant of identical age in lieu of a sworn brother, to administer the coup de grâce after which the servant was free to leave the barrow, bearing the head of the Jarl with him, perhaps in proof of his act“ (Chadwick 1946, S. 53).
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erscheint. Zweifelsohne muss dabei das ,Paradigma des Monströsenʻ,¹⁸⁰ das Doppelgängertum immer anhaftet, mit berücksichtigt werden. Als „an extreme version of the other“¹⁸¹ vermag der Doppelgänger entsprechend Monströses, wozu gewiss die Gesellschaft und nicht zuletzt die Ausschaltung des seinerseits monströsen Untoten zählt. Falls alle Unterhaltungs- und Begütigungsversuche fehlschlagen, muss dieser den ruhelosen Toten mit einer Enthauptung außer Gefecht setzen. Karkr schlägt dem Fürsten den Kopf ab, weil er, wie es heißt, erschrocken war von seinem furchtbaren Gebaren im Schlaf, von seinen Schreien und Verrenkungen. Albträume scheinen ihn aufs heftigste zu plagen, vielleicht aber ist es auch schon das längst nicht mehr menschliche Verhalten eines draugr in seinem Grabhügel, worüber in diesem Zusammenhang so häufig berichtet wird. So oder so sind die angstvollen Albträume die literarischen Vorboten tödlicher Ereignisse, der Schlaf seinerseits aber bereits Todesmetapher, nicht anders als bei Balder nimmt er den tödlichen Zustand des Träumers vorweg und ist gleichzeitig konkrete Verkörperung. Neben ihrer tiefen Verbundenheit zum menschlichen Fürsten Hákon scheint Þóra/Þorgerðr indes eine nämliche zu besitzen zu Freyr, ihr zweiter Namensbestandteil -gerðr erinnert an die mythische Gefährtin des Gottes, Gerðr. Aber ihre Beziehung scheint konkreter zum (ehedem menschlichen) toten Freyr, zu jenem Fróði/ Freyr, der als anthropomorphes Stück Holz (oder eingesalzen) durch die Lande gefahren wird. Schließlich dienen gerade deren beiden Kultstatuen dem Amüsement des christlichen Königs Olaf und seiner Männer.¹⁸² Aber warum sollte er sich die Mühe machen, bei der Zerstörung des Freyr-Tempels von Frosta bei Trondheim dessen hölzernes Bildnis auszusparen und mitzunehmen, um dieses ausgerechnet mit der Statue der Þorgerðr zusammenzubringen? Der König raubt das prächtig gekleidete und geschmückte Idol aus seinem beeindruckenden, glänzend schönen Kultgebäude und schleift es auf seinem Pferd hinter sich her. Auf einer Waldlichtung schließlich inszeniert er mit beiden Holzidolen unter allgemeinem Hohn und Gelächter eine Brautversteigerung und Scheinhochzeit, bis sie schließlich, ihrer Kleider und ihres Schmucks beraubt, zerschlagen und verbrannt werden (Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 326, Flateyjarbók I).¹⁸³ Nun, übliche christliche Missionsgeschichte möchte man
Vgl. Teichert 2014, S. 147. Goetsch 2002, S. 5, zit. n. Teichert 2014, S. 147. Das Bildnis des Freyr war von Schweden in den Freyr-Tempel nach Trondheim gelangt, es stammt aus dem Grabhügel des Freyr und ist eine von zwei Holzstatuen, die dem Toten ,zur Gesellschaftʻ mitgegeben wurden, weil, wie es heißt, kein Lebender ihm in den Hügel folgen wollte (Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 323, Flateyjarbók I). Man wird darin die Rationalisierung für die Entstehung eines ‚beseeltenʻ Kultbilds, einer Freyr-Verkörperung sehen müssen, die nur kontagiös direkt am oder im Grabhügel stattfinden konnte. An anderer Stelle (Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 114, Flateyjarbók I bzw. Færeyinga saga, Kap. 23) wird ausführlich die Pracht und Schönheit des Tempels sowie deren ,Bewohnerʻ geschildert. Übereinstimmend in allen Quellen liegt dieser im Wald oder auf einer Waldlichtung. Dorthin geht Hákon mit seinem Freund Sigmundr, um die Hilfe der Göttin für ein Racheunternehmen zu erbitten. Das Gebäude wird gold- und silbergeschmückt beschrieben, mit Glasfenstern bestückt, was üblicherweise
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meinen, indes erscheint gerade die Verbrennung dieser hölzernen Götterstatuen, die Beraubung ihrer Kleider so häufig als Motiv in altnordischen Quellen, und, wichtig genug, gerade nicht von christlichen Protagonisten ausgeführt, dass allein diese Tatsache aufmerken lassen muss. So verweist McKinnell neben (den christlichen Akteuren) der Flateyjarbók auf die Njáls saga und die Harðar saga. Hier erfolgt ebenso ein Niederbrennen des Tempels und des hölzernen Idols der Göttin, aber trotz aller naheliegenden christlichen Reminiszenzen kann er sich vorstellen, dass dieses Handeln eine Fortführung „of something in genuine heathen practice“¹⁸⁴ sein könnte. Er denkt an die Verbrennung der Gullveig (Vsp 21, 22), vielleicht eine Art „ritual cremation“,¹⁸⁵ die bereits in paganen Kulten ihren Platz hatte. Auch Fróði verliert auf diese Weise seinen ,Stuhl von Lejreʻ. Man wird diese Überlegung jedenfalls gut im Auge behalten müssen, denn auch das einzige Balderritual, das Ritual im Baldershag der Friðϸjófs saga, nimmt jenes dramatische Ende.
7.6.2 Daidala Nun ist die Motivkombination (Schein)hochzeit mit einer verhüllten Holzstatue, die herumgefahren und präsentiert wird, das Zerreißen ihrer Kleidung bzw. des Brautschleiers und schließlich das Verbrennen der hölzernen Braut unter allgemeinem Amüsement und Gelächter nicht einmal einzigartig im nordischen Kulturraum bzw. ausschließlich dem eher rüden Humor von (christlichen) Kriegerverbänden zuzuschreiben. Von keinem geringeren als dem griechischen Götterpaar Zeus und Hera wird eine merkwürdig ähnliche Begebenheit berichtet. Sie dient als Aition des HeraFestes der Daidala, wörtlich „(Holz)bildnisse“, die in der Tat darin eine zentrale Rolle spielen.¹⁸⁶ Zunächst wurden nach einem besonderen Orakelverfahren Bäume ausgeals Anachronismus erklärt wird. Aber die Motivkombination ,goldglänzendʻ und ,gläsernʻ treffen wir ja nicht nur hier an, sie ist vielmehr die stereotype Beschreibung für Jenseitsorte (oder Kultrealität). Damit ist wohl nicht die technische Bezeichnung eines in diesem Sinne unzeitgemäßen Materials, Glas, gemeint, vielmehr das ursprüngliche Konzept des Glanzes, so wie es auch im Jenseitsort Glæsisvellir u. ä. erscheint. Þorgerðr erweist sich dabei als durchaus kapriziös, ja unberechenbar, sie vergibt goldene Ringe und damit ihre Gunst nach Lust und Laune, sie muss gewogen gemacht werden mit Silber, und erst nach einem massiven Akt der Selbsterniedrigung (Hákon streckt sich zweimal auf der Erde vor ihr aus und vergießt bittere Tränen) überlässt sie diesem bzw. Sigmundr einen Goldring. Tränenreiches ‚sich im Staub Wälzenʻ kann als Ritualelement gut einem Funeralkontext zugeordnet werden. In der Njáls saga (Kap. 88) erfahren wir noch ein zusätzliches wichtiges Detail ihrer Kleidung, sie trägt einen faldr, die Kopfbedeckung der verheirateten Frau oder der Braut. McKinnell 2014d, S. 279. McKinnell 2014d, S. 279. Das Fest, das auf dem Gipfel des Berges Kithairon in Plataiai gefeiert wurde, gilt indes seinerseits als rätselhaft, „a puzzling festival“ (Chaniotis 2002, S. 23), „das merkwürdigste Hera-Fest“ (Nilsson 1906, S. 50): Pausanias (9, 2– 3) und Plutarch (Fragment 157) berichten von zwei Festzyklen, den großen Daidala, die alle 60 Jahre stattgefunden haben sollen, und den kleinen, alle sieben Jahre, wobei schon in antiker Zeit klar war, dass diese Berechnungen nicht stimmen konnten. Entsprechend nimmt
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wählt, aus denen 14 Holzfiguren, ξόανα, verfertigt wurden. Zu diesem Zwecke wurde Fleisch ausgelegt in einem Eichenhain. Der Baum, auf dem ein Rabe sich niederließ, um dieses Stück zu verzehren, galt als auserwählt,¹⁸⁷ ein Losorakel also, das mithilfe von Aasfressern bestimmt wurde, die stereotypen Leichenfresser des Nordens. Von Anfang an erscheinen damit chthonische Assoziationen für ein Fest, das in antiken Berichten indes als Hochzeit bezeichnet wird mit Hera der ‚Brautʻ (Νυμφευομένη). Das Holzbildnis wird zum Fluss Asopos gefahren und erhält dort das Brautbad.¹⁸⁸ Es wird mit Schmuck und Brautschleier angetan auf einen Wagen gesetzt, der von Kühen gezogen wird, in einem fröhlich lauten Hochzeitszug geht es zum Gipfel des Kithairon. Hier ist bereits ein Holzaltar aufgeschichtet ,nach Art eines Hausesʻ, ein riesiges Feuer wird entzündet, alle beteiligten Städte werfen ihre Opfergaben hinein, jede wohl ihre eigene Holzbraut. Alles wird restlos verbrannt, ein Opfermahl findet nicht statt.¹⁸⁹ Der Mythos erklärt das Ritual: Durch einen ehelichen Streit mit Zeus erzürnt versteckt sich Hera oder zieht sich zurück nach Euböa. Auf klugen Rat hin lässt Zeus eine Holzpuppe verfertigen, die er nach Art einer Braut schmückt und verkleidet, im Wagen umherfahren lässt und als seine neue Ehefrau präsentiert. Als Hera dies bemerkt, eilt sie wutentbrannt herbei und reißt der falschen Braut den Brautschleier herab. Als sie den Trug erkennt, bricht sie in schallendes Gelächter aus. Sie versöhnt sich daraufhin mit Zeus, wenngleich ein letzter Rest an Eifersucht bleibt, wie es heißt, und sie die Holzbraut verbrennen lässt. Die Widersprüche sind freilich offensichtlich: Wohl kennt der Mythos die so genannte ,Heilige Hochzeitʻ, den ἱερὸς γάμος des Zeus und der Hera, aber offenbar ist Hera hier gerade nicht die Braut. Das Aition scheint verfehlt. Darüber hinaus liefert Plutarch für ,das Verbergenʻ der Hera eine ganz andere Erklärung, Zeus habe mit der jungfräulichen Hera bereits heimlich, ,im Verborgenenʻ, Umgang gepflegt am Kitheiron, deshalb auch ihr Beinamen Λητώ („die Verborgene“). Wie aber sollte dieses sexuell auffallend abweichende Verhalten (gewiss innerhalb der Konventionen des antiken Griechenland) ausgerechnet zum Verhalten einer Braut, ja zu einer EheGöttin par excellence passen?¹⁹⁰ Entsprechend wollte man davon ausgehen, dass Hera
Nilsson an, dass man wohl eher von einem Begehen dieses Festes in unterschiedlich großen Kultgemeinschaften ausgehen müsse, wobei ein jedenfalls mehrjähriger (gegebenenfalls auch unregelmäßiger) Zyklus anzunehmen sei (vgl. Nilsson 1906, S. 50 f.). Vgl. Nilsson 1906, S. 51. Vgl. Nilsson 1906, S. 51. Vgl. Nilsson 1906, S. 52. Im Mythos wie Ritual der Hera scheint aber offenbar gerade der voreheliche Geschlechtsverkehr mit Zeus zentral gewesen zu sein, er wird jedenfalls bedeutend häufiger thematisiert. Für die so genannte ,Heilige Hochzeitʻ, die den beiden prototypisch zugeschrieben wird, gebe es letztendlich nur zwei Belege: „Bei genauerem Zusehen gibt es aber nur zwei Beispiele, von Samos und Knossos; alle andern betreffen ihren vorehelichen Umgang mit Zeus; nicht die Ehe, sondern dieser ist der Kernpunkt“ (Nilsson 1967, S. 431). Man habe versucht, dieses Verhalten mit der Sitte des Kiltgangs zu erklären, ein durch das Brauchtum legitimierter, vorehelicher Geschlechtsverkehr, wie er bis in die letzte Zeit noch in den Alpenregionen geübt worden sei als „die nächtlichen Besuche der Freier bei den jungen Mädchen“ (Nilsson 1967, S. 431). Den Zeitgenossen aber sei er wohl nicht mehr bekannt ge-
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in den Daidala wohl nicht ursprünglich sein könne, wenn überhaupt, dann in einer früheren Natur als „Fruchtbarkeitsgöttin“.¹⁹¹ Aber Hera tritt als solche nie auf, keine Spuren lassen sich davon im Mythos finden, stets ist sie nur „Weiber- und Ehegöttin“.¹⁹² Auch das Feuer auf dem Berg wurde gemeinhin als „Fruchtbarkeitszauber“ oder „Sonnenzauber“ erklärt,¹⁹³ aber die Opferpraxis ‒ ausdrücklich werden die Tiere ganz verbrannt und nicht gemeinsam verzehrt ‒ ist chthonische Opferpraxis, das passt so wenig zu einem Frühlingsfest wie zu einer Heiligen Hochzeit. Es sind die hölzernen Bildnisse, die ‚Bräuteʻ, die die wichtigste Rolle im Kult spielen.¹⁹⁴ Auch in anderen Hera-Kulten wird von hölzernen Kultstatuen berichtet, Bäume werden für Hera gefällt, vermutlich um ein ξόανον zu verfertigen. Explizit wird die Hera Kithaironia als πρέμνον „Baumstrunk“ bezeichnet, kleine Tonstatuetten scheinen ihren Körper in der Form von Holzbrettern nachzuahmen.¹⁹⁵ Die Vorstellung der Hera als ,Holzfrauʻ scheint alt, wie auch das Sühne- oder Reinigungselement, das in ihren Kulten aufscheint.¹⁹⁶ Und ebenso ist klar, dass Hera nicht von Anfang die Gattin des Zeus gewesen ist, gewiss erhält ihre Entwicklung dadurch eine massive Richtungsänderung und wohl auch Einschränkung,¹⁹⁷ aber sie hatte ganz offensichtlich ein (Kult)leben davor und wohl in dieser früheren Konzeption der Göttin müssen diese sehr alten, kaum mehr verstandenen Kultelemente angesiedelt werden. Die Etymologisierung ihres Namens ist umstritten, Pötscher geht von der Wurzel *iēr- aus, als „der (zur Ehe) reifen Frau, also der Braut“,¹⁹⁸ was ihr wohl den Platz am Zeus Seite verschafft habe.¹⁹⁹ Aber sie muss schon zuvor mit einem Partner verbunden gewesen sein, und das, so vermutet Pötscher, könne kein anderer gewesen sein als ,der Herosʻ. Ihre Namen seien jedenfalls, trotz aller etymologischer Schwierigkeiten, kaum voneinander zu trennen.²⁰⁰
wesen. So oder so müsse er auf die Griechen dieser Zeit „unverständlich und pikant“ (Nilsson 1967, S. 431) gewirkt haben. Nilsson 1906, S. 55. Vgl. Nilsson 1906, S. 55. Vgl. Nilsson 1906, S. 54. „Many scholars have pointed out that the ritual described by Pausanias has several features of a wedding ceremony: the decoration of a wooden image as a bride, the nuptial bath, a nympheutria, the wedding procession, the singing of wedding songs. And yet, the wooden image which represents a bride does not end up on the nuptial bed, but on the pyre“ (Chaniotis 2002, S. 26). Vgl. Chaniotis 2002, S. 29. „[T]hat the sacrifice had a propitiating or expiatory character is suggested both by its form (holocaust) and its aetiological myth (appeasement of Hera)“ (Chaniotis 2002, S. 35). Vgl. Pötscher 1961, S. 303. Pötscher 1962, S. 328. Vgl. Pötscher 1961, S. 328. Vgl. Pötscher 1961, S. 329.
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So dürfte es nicht weit gefehlt sein, wenn man der älteren Form des Heros Züge zuschreibt, die sich zu Hera korrelativ verhalten, da sein Wesen […] einer isolierten Entwicklung unterlag, die den Namensgenossen der Hera zum bloßen Urahnen machte.²⁰¹
Ausdrücklich vermerkt Pötscher dabei, dass etwa in den homerischen Epen der Heros der adelige Mann, der Held schlechthin sei (keineswegs nur der jugendliche), aber auch Ehrenname (und damit im religionsgeschichtlichen Sinne Tabubezeichnung) für den Toten.²⁰² Und dahin gehören die frühen, befremdlichen Aspekte der Verehrung der Hera. Zuallererst ist Hera Ahnin bzw. der weibliche Teil eines gottähnlichen Ahnenpaars,²⁰³ die ,Holzbrautʻ ihre eigene (längst nicht mehr verstandene) Verkörperung; aber eine offenbar nur temporäre, ebenso wie es für den nordischen Bereich angenommen werden muss, für eine gewisse, kultische Spanne. Nicht der ἱερὸς γάμος wird gefeiert ‒ Hera ist keine ,Erdmutterʻ oder ,Fruchtbarkeitsgöttinʻ,²⁰⁴ ‒ sondern eine rituelle Totenhochzeit, ein Kultelement der Totenpflege für die Ahnen, derer man sich schließlich in einem gigantischen Potlatch, hier wie da, entledigen musste. Der ,zornigeʻ, ,missgünstigeʻ Zug in Heras Wesen passt dazu,²⁰⁵ freilich später dem Unmut über die außerehelichen Eskapaden ihres Ehemanns zugeschrieben, aber diese Kapriziertheit und Unberechenbarkeit findet sich nicht nur bei Hera ᾿Aργείη, der homerischen Stammesgöttin, Palastgöttin der Argiver,²⁰⁶ sondern gerade auch in Þorgerðr Hǫlgabrúðrs Wesen, der Totenbraut des Nordens, der Ahnfrau und Schutzherrin der Haloger-Fürsten. Und dazu gehört ebenso ein sexuell auffallend transgressives, ja exzessives Verhalten, das beiden Göttinnen (explizit indes nur der frühen Hera) zugeschrieben wird. Die Ehe mit dem Göttervater Zeus hat Hera aus ihrem chthonisch unterweltlichen Kontext herausgehoben und zur „Königin des Olymps“²⁰⁷ gemacht: „Sie [Hera, d. Verf.] entfernte sich immer mehr von ihrer Verbindung mit einem bestimmten Königspalast und trat somit immer mehr aus der rudimentär vorhandenen ,historischenʻ Dimension in die jenes olympischen Lebens […].“
Pötscher 1961, S. 354. Vgl. Pötscher 1961, S. 330 f. So verweist auch Kerényi auf eine Anspielung des Zeus in der Ilias (Il. 8, 477– 84), in der eine „freiwillige Wanderung Heras durch die Unterwelt“ angedeutet werde, mit der sich wiederum eine Zuschreibung Vergils bezüglich ihres römischen Pendants Juno vergleichen lasse (vgl. Kerényi 1972, S. 101): „Vergil wagt es, bei der Schilderung der Unterweltsfahrt Aeneas, durch die Bezeichnung Iuno inferna die Königin des Totenreiches, Proserpina, die griechische Persephone, neben die Götterkönigin zu stellen, wahrscheinlich, weil er um die Religion der Hera in Argos – seiner Iuno argiva – Bescheid weiss. Der Granatapfel, den die thronende Hera des Polykleitos hält, charakterisierte deutlich die Göttin als eine zweite Persephone: eine Göttin der Unterwelt wie diese“ (Kerényi 1972, S. 101). So aber Schröder 1956. Notorisch ist die Missgunst bekanntlich Herkules gegenüber, und doch wird ihm gerade durch Hera Unsterblichkeit zuteil, indem sie ihn nach seinem Tod wie einen Säugling an ihre Brust legt und stillt (siehe Kap. 7.7). Vgl. Pötscher 1961, S. 344. Pötscher 1961, S. 353.
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Wir stellen damit eine ähnliche Dislozierung und Überregionalisierung fest, wie wir sie schon bei einigen ihrer männlichen (auch nördlichen) Pendants gesehen haben. Aber das Arsenal an bizarren Hochzeiten ist damit ja keineswegs erschöpft, mindestens zwei weitere Verehelichungen dieser Art kennt der nordische Mythos in diesem Zusammenhang. Erzählt nicht auch Snorri von einer ebenso im letzten Moment gescheiterten Balder-Verheiratung? Manche Erzählelemente erscheinen auffallend ähnlich, allerdings ist hier kein anderer als Balder selbst ,der Verhüllteʻ, eine gleichermaßen wutentbrannt daherstürmende Riesin die Braut. Und auch hier kommt es zu überraschenden Enthüllungen, insgesamt eine brenzlige Situation, die sich nur durch einen gewitzten Einfall Lokis, buchstäblich unter der Gürtellinie, in allgemeine Heiterkeit auflösen lässt. Wir werden auf diese turbulente Szenerie noch genauer eingehen. Und auch hier ist Balder lediglich ein stummer, teilnahmsloser ,Mitspielerʻ ‒ wir ahnen den Grund ‒ und müssen wohl zunächst einen ähnlichen annehmen in einem anderen, denkbar merkwürdigen Aufeinandertreffen: Schließlich scheint doch auch der Gott Freyr bei seiner eigenen Verheiratung kaum mehr als Statist, man möchte fast sagen als Leidtragender, teilzunehmen.
7.6.3 Freyr und Gerðr Wohl scheint zunächst einmal Freyr durchaus aktiver als Balder, wie die anderen Götter tritt er schließlich zum Endkampf an, zu Ragnarǫk. Und auch er unterliegt und stirbt wie all die anderen, allerdings, auffallend genug, waffenlos ausgerechnet gegen Surtr ‒ den Feuerriesen. Er musste sein Schwert weggeben, und Snorri erklärt uns warum. Schuld daran war eine merkwürdige ,Liebeskrankheitʻ, wovon auch das Eddalied Skírnismál zu berichten weiß. Die Waffenabgabe, die im Übrigen einhergeht mit der Übergabe seines Pferdes an seinen Diener Skírnir (was Freyr damit nicht nur wehrlos, sondern auch bewegungsunfähig macht) war der Beginn einer in jeder Hinsicht besonderen Brautwerbung um die Riesentochter Gerðr. Freyr erblickt sie vom Hochsitz Odins und ist ihr seitdem verfallen. Von da an wünscht er sich nichts sehnlicher als die schöne Riesin in seinen Besitz zu bekommen. Nun ist dieser Mythos im Grunde genommen der einzige, in dem Freyr recht eigentlich eine Hauptrolle spielt, von gewissen Reminiszenzen auf wenige andere abgesehen: Aber was für einen schwachen, kraftlosen Bräutigam gibt er hier ab für ein sexuelles Stelldichein (vielleicht Hochzeit, wenn auch davon niemals explizit die Rede ist), das er ohne seinen Diener nicht einmal hätte bewerkstelligen können! Wir erleben ihn kaum minder stumm und teilnahmslos wie Balder, ja hilflos. Ausgerechnet bei der Brautwerbung, doch wohl die Königsdisziplin jedes Fruchtbarkeitsgottes, gibt er alles andere als ein überzeugendes Bild ab. Klingenberg charakterisiert ihn treffend: Die Liedgestalt ist nicht der machtvolle Fruchtbarkeitsgott der mythologischen Tradition, der über die Natur und auch den Sonnenschein gebietet (vgl. Skm. 4: „Die Sonne leuchtet alltäglich, doch nicht nach meinen Wünschen/meinem Willen“ [þeygi at mínom munom]), auch nicht der „beste
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aller kühnen Reiter“ unter den Göttern, „der weder Mädchen noch Ehefrau betrübt“ (so lobt ihn Týr, Lokasenna 27). Freyr ist nach Darstellung der Fǫr Skírnis ein handlungsunfähiger, schwermütiger Verliebter, der die Einsamkeit sucht (Skm. 3), apathisch in seinem Liebeskummer, resignativ und untätig schon angesichts eines ersten Hemmnisses, des Widerstandes in eigener Gruppenexistenz (Skm. 7: „Keiner von den Asen und Alben will, daß wir zwei zusammen seien“). Zeichenhaft überläßt dieser passiv verharrende Werber sein Pferd und sein selbsttätiges Schwert dem sich andienenden Werbungshelfer, der stellvertretend den aktiven Part des Liedgeschehens übernimmt. Als einen passiv Verharrenden, allein mit sich beschäftigt, entläßt ihn die Dichtung, nachdem ihm sein Werbungshelfer die Zustimmung der Geliebten zum Stelldichein überbracht hat […].²⁰⁸
Interessant genug, dass gerade Snorri dieses Unvermögen, das so augenscheinlich in den Skírnismál im Vordergrund steht, in seiner Prosanacherzählung eher versucht abzuschwächen, der Verlust des Pferdes und des Schwertes wird lediglich erwähnt ebenso der Werbungsauftrag an den Diener Skírnir.²⁰⁹ Der unerbittliche magische Zwang, der ,Liebes-Zauberʻ, den Skírnir anwenden muss, um Gerðr zum Geschlechtsverkehr mit dem Gott zu nötigen, fehlt. Auch den explizit eschatologischen Verweis stellt nur Snorri her, im Eddalied erscheint er so nicht. Auch Snorri scheint wohl dieser schwache, weinerliche, missmutige, sexsüchtige Freyr nicht ganz geheuer und seines Götterhimmels zumindest so nicht würdig, so hat er kurzerhand das Konzept des Liedes umgeschrieben und alles Kompromittierende in seiner Nacherzählung (Gylf 37) weggelassen. Unter Snorris Feder wird Freyr zum souveränen Gott, eine handlungsfähige, selbstbestimmte Persönlichkeit. Wohl wie ein richtiger Fruchtbarkeitsgott seiner Ansicht nach zu sein habe. Aber nicht nur er tat sich schwer mit der Freyr-Version des Eddalieds, auch in der modernen Forschung bleibt die Einordnung der Skírnismál umstritten. So lehnt bekanntlich Anne Heinrichs es dezidiert ab, die Skírnismál als ,echtesʻ Stück heidnischer Dichtung zu betrachten, zu groß sieht sie die Diskrepanz zum ,eigentlichenʻ, ,richtigenʻ Freyr der nordischen Mythologie, eine Persiflage also, die ironische Verzerrung eines christlichen Schreibers als übliche Degradierung der heidnischen Götterwelt; die hugsóttir („die Erkrankung der Sinne“, auch „Kummer“), die Freyr befallen, entsprechend nichts anderes als die in höfischen Kreisen des Mittelalters gut bekannte Liebeskrankheit, die ihren minnehaften Einschlag allerorten erkennen lässt. Also versucht sie das präsumtive ,Krankheitsbildʻ Freyrs in der antiken und mittelalterlichen, vorwissenschaftlichen Medizingeschichte zu verankern als „medizinische Beurteilung eines Falles von amor hereos“.²¹⁰ Nun verweist die Autorin bereits ihrerseits darauf, dass die mittelalterliche Beschreibung dieser so genannten Krankheit ganz offenbar bereits auf einer festgefügten Systematik beruhte, auf Standardmodellen, etwa was Ursache, Symptome, Behandlungsmöglichkeiten anbelangt, ein kulturell verhandelter Zeichenvorrat, der damit ideale Möglichkeiten als Erklärungsmodell bieten konnte. Mag sein, dass es auf
Klingenberg 1996, S. 44. Vgl. Klingenberg 1996, S. 44. Heinrichs 1997, S. 5.
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einer bestimmten, christlichen Rezeptionsebene als ironisches Traktat, als Polemik gegen einen einst mächtigen, heidnischen Gott gelesen werden konnte, aber Heinrichs schließt offenbar aus, dass ein Motivkomplex, weil er der Form nach an höfisch Mittelalterliches anklingt, nicht inhaltlich an Früheres, Paganes anknüpfen könnte. Sie aber bleibt dabei, als heidnischer Gott, ja überhaupt als Gott hätte Freyr diesen Motivkomplex nicht besitzen können: Eine Erzählung über Freyrs Liebeskrankheit kann es in heidnischer Zeit in paganen Mythen nicht gegeben haben; denn sein jämmerlicher Zustand widerspricht allen sonstigen Überlieferungen über Freyr als Fruchtbarkeitsgott, der mit seiner Schwester Freyja, der Liebesgöttin, in inniger Vereinigung lebt. Schon im Ansatz zeigt sich die ungeheure Ironie der Darstellung […].²¹¹
Jenen postulierten „sonstigen Überlieferungen“ werden wir später noch Aufmerksamkeit schenken müssen, aber gewiss ist zunächst das Motiv der Fernliebe, die schwierige Brautwerbung und noch weitere, auf den ersten Blick weniger gut erkennbare Details des Liedes eher ,höfischʻ denn ,heidnischʻ. Aber es muss doch Vorstellungen gegeben haben, die Anknüpfungspunkte zur mittelalterlichen Minnelyrik geboten haben. Ein Paradebeispiel dafür, wie etwa mythische Inhalte neu, mittelalterlich medialisiert und damit aktualisiert werden, gerade um ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten zu können, ist die Gestaltung der ,Blick-Szeneʻ, wie Freyr Gerðr auf dem Gehöft ihres Vaters unversehens erblickt und es von diesem Moment an um ihn geschehen ist. Gerðr befindet sich in der Nähe des Meeres, Luft und Meer werden erleuchtet von ihrem Anblick, wie es heißt, genauer, es sind ihre schönen, leuchtenden Arme, die durch ihr unvermitteltes Aufblitzen den Gott um den Verstand bringen (Skm 6), eine Szene, die jedenfalls für Snorri bedeutsam (oder schwierig) genug ist, um dafür eine relativ „umständliche Erklärung“²¹² zu liefern: Ihre Ärmel verrutschen beim Öffnen der Tür und werden dadurch entblößt. Es geht wohl keineswegs darum, über ein modisches Detail, die Eigenart einer mittelalterlichen Bekleidungssitte, Hängeärmel, zu informieren, dem mittelalterlichen Rezipienten (wenn vielleicht auch nur aus einer gewissen, belesenen Leserschicht) war durchaus klar, dass die blanken Arme, ja sogar die Ärmel selbst in der Minneliteratur eine Kodierung und Hüllwort für Nacktheit waren. Entsprechend hocherotisch aufgeladen war das zu Bekleidende wie das Bekleidende selbst, so sehr, dass schon der Ärmel der Angebeteten (den man praktischerweise gleich abknöpfen konnte) beim geneigten Kavalier einen nahezu fetischhaften Status hatte. Ruth Harvey spricht von einer Art „preoccupation of erotic fantasy with the arms“,²¹³ wohl ähnlich wie in sehr viel späteren Zeiten die weiblichen Fußknöchel. Genau genommen, ,eigentlichʻ hat sich Gerðr also nackt gezeigt. Freyr wird mit Nacktheit konfrontiert, die nach einer mittelalterlichen Minne-Symbolik
Heinrichs 1997, S. 25. Siehe Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1997, S. 77). Der Edda-Kommentar vermutet entsprechend, dass Snorri die Beschreibung seinerseits nicht als literarisches Motiv verstanden habe. Harvey 1964, S. 275.
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kodiert ist, aber sie hat hier nicht ihren Ursprung und auch nicht deren Funktion: Es geht nicht um die sexuelle Attraktion eines Liebhabers, vielmehr um die durchaus verhängnisvolle Wirkung einer plötzlichen, unvermittelten, schockierenden Nacktheit. Das Strahlen, die Weißheit scheint ein aggressiver, magischer Effekt zu sein, die Ähnlichkeit zur Begegnungsszene zwischen Balderus und Nanna offensichtlich, wo auf gleiche Weise der „Glanz [ihres] liebreizenden Körpers“²¹⁴ die Bannung des Voyeurs bewirkt.²¹⁵ Dieser Effekt kann unbewusst, ohne eigenes Zutun eintreten, häufig genug aber wird er bewusst evoziert, als apotropäische Maßnahme, im Schadensritual. Freilich hat schon Cäsar die entblößten Brüste der keltischen matres familiae beim Sturm auf das keltische Segovia missverstanden als sexuelle Unterwerfungsgeste. Man wird aber gerade hier von einer gezielten Diffamierung und Herabsetzung des Gegners ausgehen müssen, von einem aggressiven Akt, einem Angriff mit lediglich anderen Mitteln.²¹⁶ Hierher gehören die berühmten, zur Schau gestellten Vulven der so genannten Sheila-na-gigs (Sigla na gcíoch), auch und gerade an christlichen Gotteshäusern in ganz Europa. Mit dieser obszönen Präsentation sollten indes weniger menschliche Schädiger als vielmehr außerweltliche abgewehrt werden, und in besonderem Maße die Gefahr von oben, fliegende Dämonen, derer man an schwer zugänglichen Stellen sonst auf keine Weise Herr werden konnte.²¹⁷ Nicht zuletzt ist die irische Mythologie voll von ‚unbesiegbarenʻ Helden (siehe Cú Chulainn), die durch gezielt eingesetzte weibliche Nacktheit außer Gefecht gesetzt werden.²¹⁸ Terry Gunnell beschreibt einige Schadenszauber im nordischen Kontext, in der gerade das Genitalweisen („magical mooning“) eine bedeutsame Rolle spielt.²¹⁹ Auch die alte Ljót präsentiert bei ihrem Schadenszauber ihr nacktes Hinterteil (Vatnsdæla saga, Kap. 26), und zusätzlich vermag sie aus ihren Augen magische Blitze zu schießen (trollsliga skotit). Gerade in letzterem Beispiel wird der Kategorienkonflikt zwischen unserer (modernen) Prototypik von Schönheit und unterschiedlichen Kodierungen [V]enustissimi corporis nitor (Gest.Dan. 3.2). Jenes (unbeabsichtigte) Verzaubern durch Nacktheit meist im Zusammenhang mit einer Badeszene gehört auch zu einer über den gesamten eurasischen Raum verbreiteten Mythengruppe, den so genannten Schwanenjungfrauerzählungen. Gerðr hält sich in der Nähe von Wasser auf, was nicht weiter erklärt wird, ähnlich die verhängnisvolle Badeszene der Nanna, eine Wasserassoziation bzw. Wasserwesenassoziation scheint damit auf jeden Fall aufgerufen. Auch die Art des Tabubruchs, der Bruch eines Blicktabus und seine Folgen, der Wunsch nach einer Verehelichung, das heftige Sträuben auf weiblicher Seite sind Elemente, die eng und notorisch mit dem Schwanenjungfraukomplex verbunden sind (siehe Kap. 11.5). Vgl. Duerr 1994, S. 38 f. Vgl. Duerr 1994, S. 42. Auch Freyrs magische Weltschau ist in diesem Sinn ein Blick von oben, ein dämonischer Blick, und, beabsichtigt oder nicht, mit einem per se wirkmächtigen Mittel abgewehrt. Was wiederum letztendlich durchaus legitim, wie Lönnroth annehmen möchte, einen ebenso mächtigen Gegenzauber seitens Skírnirs notwendig macht: „Därför blir det legitimt at bruka den för övrigt olagliga kärleksmagin för at vinna henne. Hon besegras så att säga med sin egen medecin“ (Lönnroth 1977, S. 169, zit. n. Larrington 1992, S. 6). Vgl. Duerr 1994, S. 82. Vgl. Gunnell 2014.
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von Nacktheit wohl am deutlichsten. Das Genitalweisen, die entblößten Geschlechtsteile der Zauberin sind am wenigsten ,schönʻ, am wenigsten sexualisiert, es geht vielmehr um die buchstäblich bestürzende Wirkung von dem, was üblicherweise verborgen ist. Und die ist beträchtlich. Als magische Verstärkung erscheint ein augabragð, ein unstetes Flimmern, wörtlich „the twinkling of an eye“.²²⁰ Das meint nicht das Blitzen der Augen als Schönheitsideal, „unschön“ (ófagrligt) sei ihr Blick ausdrücklich gewesen und damit lediglich eine Bestätigung dessen, was der mittelalterlichen Zuhörerschaft ohnehin klar war: Ljót setzt ihre gefährlichste Waffe ein, einen Blickzauber. Trotzdem bleiben die katastrophalen Effekte Gerðrs auf Freyr befremdlich. Anne Heinrichs kann darin jedenfalls nichts Göttliches mehr erkennen: Dieser Freyr, der liebeskranke Held in Skírnismál, ist nicht der mythische Gott der Fruchtbarkeit, sondern ein Mensch, der sich Göttlichkeit anmaßt, in seiner Schwäche noch nicht einmal bedauernswert, sondern eher lächerlich, ein komischer vaningi, als den ihn Gerðr halb mitleidig bezeichnet.²²¹
Wie so viele geht Heinrichs selbstredend von einer christlichen Vorgabe für Göttlichkeit aus, und dazu gehört unabdingbar Omnipotenz. Schwäche und Unvermögen können im Gegenzug nur als Herabwürdigung und Diffamierung verstanden werden, als gegebenenfalls euhemeristische Rationalisierung oder ironische Brechung. Sie ist indes mit ihrer Einschätzung in guter Gesellschaft, auch Snorri erwähnt mit keinem Wort den schwächlichen Freyr oder die hässliche Fluchszene des Gedichts. Die vorgebliche Komik ergibt sich indes nur durch den clash heidnischer Konzepte mit christlichen Verstehensmodellen bzw. der Enttäuschung christlich geprägter Erwartungshaltung. Warum sollten wir nicht annehmen, dass Freyrs Verhalten im paganen Umfeld genauso verstanden wurde, wie es seine Eltern, seine nächste kin group taten? Sie nehmen die Situation (wiederum im christlichen Verständnis ,komischʻ genug) sehr ernst, sie halten sie für beunruhigend, gefährlich. Ein Zustand, der aus dem Lot geraten ist, muss wieder ausgeglichen werden. Aber endlich muss man sich doch fragen: An welcher Stelle der nordischen Mythologie erscheint denn Freyr als der potente, vor Kraft strotzende Gott, eben jener ,eigentlicheʻ Freyr, von dem die Forschung stets ausgehen will? Zunächst mit einigem Recht, wenn wir an das wohl durchaus beeindruckende Zeugnis seiner Manneskraft, das ithyphallische Standbild im Tempel zu Uppsala denken. Auch seine Epitheta, Gerðr nennt ihn þroskr (wohl zu þroski „Reife, Mannesalter, männliche Kraft und Tüchtigkeit“) ebenso fróði, nicht zuletzt sein ,Ehrennameʻ Yngvi sind ja schon früh in diese Richtung interpretiert worden.²²² Es sind Attribute, die auch und gerade explizit sexuelle Assoziationen wecken.
Cleasby/Vigf. 1874, „auga-bragð“. Heinrichs 1997, S. 27. Vgl. Güntert 1923, S. 92.
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Aber an welcher Stelle tritt Freyr so in Aktion? Als Liebhaber? Als Kämpfer? Als „Anführer der Heerscharen der Götter“ (fólkvaldi goða, Skm 3), gar als „Weltengott“, veraldargoð (Ynglinga saga 10)? Der Edda-Kommentar möchte letztere Auszeichnungen ohnehin lediglich als ,Schmeicheleienʻ betrachten, was damit aber auch die anderen zumindest verdächtig macht: Daß dies eine ursprüngliche Vormachtstellung des Freyr über die anderen Götter bezeichne […], läßt sich anhand des Liedes nicht entscheiden: Hier ist fólkvaldi goða eine äußerst ehrerbietige Anrede, deren Funktion es ist, Freyr zu schmeicheln und ihn dadurch zu besänftigen […].²²³
Liberman möchte sich dieser Auslegung indes nicht unbedingt anschließen: Seeing that Freyr usurps so many of Óðinn’s functions in Skírnismál (cf. p. 47, c), the dismissal of fólkvaldi goða as a meaningless compliment does not carry conviction, and the phrase cited as another expression of fulsome flattery (‚beztr allra ballriða ása görðom íʻ) is not ‚parallelʻ: to call a person the best, the wisest, the bravest, or the most beautiful (all these forms being elatives rather than superlatives) is not the same as to address him as Generalissimus.²²⁴
Zwei richtige Beobachtungen, aber wie lässt sich ihre Diskrepanz zusammenbringen? Der Habitus im Eddalied ist exakt der nämliche, wie wir ihn von Freyrs weltlichen, sterblichen und explizit gestorbenen Pendants kennen. Die sehr vorsichtigen Zuwendungen, die ehrerbietigsten Ansprachen (min dróttinn) sind, wie Liberman bemerkt, keineswegs „a meaningless compliment“ oder „fulsome flattery“,²²⁵ es sind Besänftigungen für einen, wie wir des Weiteren hören, „überaus zornigen“ (ofreiði) Freyr. Einem zornigen Gott wird also geschmeichelt, wohl aus aktuellem Anlass, aber ist nicht auch König Fróði ein unglaublich launischer und hochfahrender Herrscher, der ohne Unterlass zufrieden gestellt werden muss? Und lobt nicht auch Týr in der Lokasenna Freyr gewissermaßen vorauseilend in Superlativen als den ,Bestenʻ, noch bevor Loki ihn überhaupt persönlich beleidigt hat? Er nennt ihn „den besten aller kühnen Reiter“ (Freyr er beztr allra ballriða ása gǫrðom í), „brave rider“,²²⁶ ein keineswegs eindeutiger Ausdruck, als Respektsbezeugung aufgefasst, die sich allerdings beim näheren Hinsehen als ein recht zweifelhaftes Kompliment entpuppt: Ursula Dronke verweist in diesem Zusammenhang auf einen Interpretationsvorschlag Söderbergs, „that there might be in ballriða some verbal play on bal, ,vaginaʻ, or bǫllr ,testicleʻ“,²²⁷ allerdings hält sie dermaßen obszöne Anspielungen, wenn überhaupt, nur bei Loki als Sprechendem überlegenswert, „but would be dramatically out of place for Týr“. Auch wenn sie es immerhin für möglich hält, dass Týr sich seiner ei-
Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1997, S. 52. Liberman 1996b, S. 115. Liberman 1996b, S. 115. Dronke 1969 – 2011, S. 365. Söderberg 1984, S. 81, zit. n. Dronke 1969 – 2011, S. 365.
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genen Doppeldeutigkeit gar nicht bewusst gewesen sei und gerade dadurch für einen Heiterkeitseffekt beim Publikum gesorgt haben würde.²²⁸ Auch wenn solche Reaktionen natürlich beim Publikum der Lokasenna nicht auszuschließen sind, weist der weitere Kontext, der zweite Teil seiner Ansprache, in eine ganz andere Richtung: [M]ey hann né grotir né mannz kono, oc leysir ór hǫptom hvern (Ls 37) („Kein Mädchen betrübt er, noch eines Mannes Frau, und jeden befreit er aus Fesseln“). Es mag einiges dafür sprechen, so wie es etwa Neckel lesen möchte und mit ihm viele andere, dass Freyr damit als ein in jeder Hinsicht moralisch hochstehender, positiver, kühner Anführer charakterisiert wird, Freyr der Friedensbringer und Frauenbeschützer, Freyr der Gefangenenbefreier. Aber ist das nicht in der Tat, wie Neckel selbst zugeben muss, „zu viel Ehre für einen Heidengott“?²²⁹ Freyr ist kein Friedensbringer, er ist es selbst, der kultischen, rituellen Frieden für sich einfordern muss. Wo tritt er als Gefangenenbefreier auf? Und als Letztes ist wohl Freyr ein Frauenbeschützer. Sein Diener Skírnir droht Gerðr (in seinem Auftrag!) vollkommen ungehemmt jede ihm zu Gebote stehende Möglichkeit von Gewalt an, physische wie psychische wie magische. Sind dann die Fesseln, die er löst, nicht bestenfalls zwischenmenschliche Bande, Ehen, soziale Verbindlichkeiten, vor denen er nicht Halt macht, wenn auch nur in Form einer zeitlich begrenzten Anarchie und sexuellen Freizügigkeit, wie wir sie von seinem Opferfest in Uppsala kennen? Die Aussage von Týr wird anders verstanden werden müssen. Aber als möglicher Hinweis auf ein hemmungsloses, ehebrecherisches Sexualverhalten kann sie dann weder als bedeutungslose Schmeichelei noch als ehrenhafte Respektsbezeugung aufgefasst werden. Nur in einem Bestattungsritual machen seine zweideutigen Komplimente Sinn: So wie die trauernde Warao-Mutter den toten Sohn als „sex fiend“,²³⁰ als ,Sexmonsterʻ bezeichnen darf, vor dem keine Vagina sicher ist, so darf auch Týr den Freyr ‚lobenʻ: Auch er vermag jede Frau zu beglücken, ob alt oder jung, verheiratet oder nicht. In diesem Verständnis erhält der „kühne Reiter“ tatsächlich jene hochanzügliche, obszöne Konnotation (ähnlich wie es bereits Söderberg vermutet), eine Assoziation, die man im altnordischen Kontext auch im Zusammenhang mit den gleichermaßen stark sexualisierten, homophoben ergi-Vorwürfen antrifft.²³¹ Wir werden also annehmen müssen: Týrs merkwürdige ,Lobesbekundungenʻ
Vgl. Dronke 1969 – 2011, S. 365. Neckel 1920, S. 109. Holst-Warhaft 2000, S. 43. Siehe etwa den mythisch legendären mannjafnaðr der Vǫlsunga saga zwischen Sinfjǫtli und dem Bruder eines Königs bei der Landung ihrer Schiffe. In diesem „ship-to-shore insult match“ (vgl. Turco 2015, S. 197) bezeichnet Sinfjǫtli diesen als „Stute“, die er „geritten“ habe: Hvárt mantu þat er þú vart merrin með hestinum Grana, ok reið ek þér á skeið á Brávelli? (Vǫlsunga saga, Kap. 9). („Do you remember when you were a mare with the stallion Grani and I rode you full speed on Bravoll?“ [Übers. Byock 1990, S. 49]). Auch in der Hávamál 90 wird zur Umschreibung einer (in diesem Fall trügerischen) Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau das Bild des Pferdes (die Frau) und seines Reiters (der Mann) verwendet: Svá er friðr qvenna, þeira er flátt hyggia, / sem aki ió óbryddom á ísi hálom, / teitom, tvévetrom, oc sé tamr illa. („So ist die Liebe der Frauen, die Falsches im Sinn haben, / als wenn man ein unbeschlagnes Pferd über glattes Eis führt, / ein unruhiges, zweijähriges, und kaum gezähmt“).
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sind tatsächlich feststehende, formelhafte Ausdrücke, rituelle Epitheta mit denen man den Gott üblicherweise ansprach. Denn Loki verhöhnt Freyr ja tatsächlich in seiner senna, indes mit Anzüglichkeiten denkbar anderer Art, nicht die Exorbitanz seiner sexuellen Eskapaden steht im Mittelpunkt, vielmehr sein Versagen darin, seine mangelnde sexuelle Attraktivität wie seine Waffenlosigkeit, gerade in diesem Kontext mit einer bewusst einkalkulierten Doppeldeutigkeit: „Mit Gold ließest du Gymirs Tochter erkaufen / und vergabst dann dein Schwert; / aber wenn Muspells Söhne durch den Myrkwid reiten, / dann weißt du nicht, Erbärmlicher, wie du kämpfen sollst.“²³² Der Verlust des Schwertes ist auffallend und auf keine Weise mit herrschenden kulturellen Normen von Männerbild und insbesondere Mannhaftigkeit in Einklang zu bringen. Das zeigt allein das erstaunte Nachfragen Gangleris beim Hohen, ein peinlicher Umstand, den auch Snorri Mühe hat wegzuerklären. Auch Dronke sieht diesen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einerseits der Stilisierung Freyrs zum Liebhaber und Frauenheld, andererseits seine Ablehnung bzw. Abneigung gegen den Kampf. So habe der menschliche Protagonist der Sturlunga Saga Sturla Sighvatsson den Spitznamen Dala-Freyr („Freyr of the Dales“) bekommen, weil er mit seinem göttlichen Namensvorbild offenbar exakt diese Eigenschaften teilte, „as a very handsome ladies’ man, keener on women than on war.“²³³ Nicht nur galt Sturla Sighvatsson als von so ausnehmender Schönheit, dass die Frauen bei seinem Anblick in Tränen ausgebrochen seien (!), auch seine „reluctance to fight“ wird von seinen Gegnern ausdrücklich mit Freyrs Namen in Zusammenhang gebracht.²³⁴ Und schließlich bleibt die Schwertlosigkeit des Gottes doch ein merkwürdiger Dauerzustand. Durch die vordergründig schwierigen Umstände der Brautwerbung ist ja nichts erklärt, es sei denn, wir sehen die Schwierigkeit der Brautwerbung selbst als Chiffre für etwas Anderes, Verhängnisvolleres, das dahinter zu liegen scheint: Loki rückt Freyrs tête-à-tête nicht nur in die Nähe der Prostitution (Freyr muss sich seine Frauen kaufen), er macht dabei auch eine erbärmliche Figur. Fakt ist: Er kann gerade durch diese Liaison nicht mehr seinen ‚Mann stehenʻ, bis zum jüngsten Tag wird er nicht mehr kämpfen können. Das scheint infam, aber offenbar nicht gelogen. Alle hässlichen Vorwürfe Lokis in der Lokasenna (soweit wir in der Lage sind, diese nachzuprüfen) sind wahr und es ist das schiere Gegenteil von dem, was Týr behauptet. Nun erhält er aber Ersatz, ein Hirschgeweih, von dem Snorri so kryptisch zu berichten weiß. Es scheint, dass damit Ersatz in jeder Hinsicht gemeint ist, zunächst wiederum durchaus buchstäblich verstanden als Waffe, die ihm auch gute Dienste zu leisten vermag (með hiartar horni) im Kampf gegen einen ansonsten unbekannten Riesen Beli, auch wenn er den apokalyptischen Endkampf verliert wegen dieses dann doch letztendlich unzulänglichen Surrogats, wie es heißt (allerdings wie alle anderen Gulli keypta léztu Gymis dóttur / oc seldir þitt svá sverð; / enn er Muspellz synir ríða Myrcvið yfir, / veizta þú þá, vesall, hvé þú vegr (Lk 42). Vgl. Dronke 1969 – 2011, S. 365. Vgl. Dronke 1969 – 2011, S. 365.
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Götter auch). Warum erhält er keine richtige Waffe? Darf Freyr womöglich auf keine Weise mehr ‒ wie die Göttin Nerthus ‒ mit Eisen in Berührung kommen? Und sollte es auch kein Zufall sein, dass Loki ihn gerade in diesem Zusammenhang als vesall „arm, elend“ bezeichnet? Ein Begriff, der zu mhd. wesel gehört, hier mit der Bedeutungsnuance „schwach, matt“, letztendlich ein Partizip, das zu ae. toweosan, ahd. firwēsan, mhd. verwesen und ahd. wesanēn gestellt wird, alle in der Grundbedeutung „faul werden“, „verwesen“ (kymr. gwyw, air. feugud „Verwesung“)²³⁵ ‒ ein Attribut mit auffallend morbidem Evokationspotenzial. Im mythisch magischen Verständnis ist das Horn oder Geweih stets in tiefer Assoziation zur männlichen Sexualität und Potenz verstanden worden.²³⁶ Allerdings ist auch die Vorstellung des betrogenen Ehemanns mit einem Hirschgeweih verbunden. So ließe sich immerhin überlegen, ob Freyr sein Geweih genauso wenig trägt als Zeichen seiner Potenz, vielmehr als Zeichen eines Mankos, als einem dem Hörner aufgesetzt werden müssen (oder wurden), aufgrund eines Zustands, der der Substitution bedarf. In jedem Fall bedeutet die Beraubung der sexuellen Potenz für den Mann Liminalisierung und wird damit zur grundlegenden Vorstellung, zur Metapher schlechthin für die existenziellste Liminalisierung, den existenziellsten Ausschluss des Menschen: der Tod. Freyr ist tot von dem Augenblick an, wo er den Hochsitz Odins besteigt.²³⁷ Von diesem ,Gerüstʻ aus blickt er bereits in die andere Welt. Das befremdende Verhalten des Gottes Freyr, „Kummer, Zorn und Abkapslung“,²³⁸ Apathie, heftigste Gefühlsreaktionen im Zusammenhang mit dem Erblicken einer schönen Frau, konnte in nachpaganen Traditionen womöglich tatsächlich kaum anders als mithilfe des literarischen Motivs des höfischen Liebeskummers verstanden werden. Aber Freyrs Trauer ist eine andere. Er verhält sich nach Art eines Trauernden im Rahmen eines Begräbnisses, aber als Trauernder ist er der traurige Tote selbst. Wir können in Freyrs Verhalten sämtliche Entwicklungsstufen der Trauer wiederfinden, wie sie Elisabeth Kübler-Ross (als letztendlich religiöses Wissensmodell) entworfen hat: Nach einer Phase des Schocks folgt unmittelbar die Isolierung, Freyr zieht sich zurück, seine Umgebung, bereits alarmiert, stellt besorgte Fragen, hví þú einn sitr ennlanga sali, minn dróttinn, um daga? („Warum sitzt du allein in weiten Hallen, mein Herr, über
an. etym. Wb 1962, „vesall“; vgl. auch an. etym. Wb 1962, „visinn“: „welk, dürr“. Ob in der Mythologie, in der Volkskunde wie in der Ritualpraxis ist der Hirsch durchgehend auf diese Weise konnotiert. Die Vorstellung des Geweihs als Sitz von kosmischer Lebenskraft findet sich beim nordischen Urzeithirsch Eikþyrnir. Sein Geweih ist ebenso Flüssigkeits- wie Fruchtbarkeitsspender für die Urquelle Hvergelmir und damit Ursprung allen Wachstums und Gedeihens (Grm 25 – 26; Gylf 39). Hirschhorn war bevorzugtes Material für Amulette, siehe die zahlreichen Funde von Hornamuletten, die mit Phallusdarstellungen versehen sind (vgl. Heizmann 1999b, S. 598). In diesen Zusammenhang gehören wohl auch die phallischen Hirschdarstellungen in Felszeichnungen der südskandinavischen Bronzezeit (vgl. Heizmann 1999b, S. 599). Lediglich in Snorris Lesung (und nicht in der Gedichteinleitung) wird dies als „widerrechtliche Inbesitznahme des Odinsitzes“ interpretiert, entsprechend erscheint die unglückliche Liebe Freyrs als Strafe für diese Anmaßung (vgl. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1997, S. 64). Heinrichs 1997, S. 10.
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Tage?“, Skm 3). Freyr ist tief aufgewühlt, in heftigen Emotionen, er hat „ große[n] Kummer“ (mikinn móðtrega, Skm 4), die Gemeinschaft befürchtet intensive negative, aggressive Reaktionen, [i]llra orða („üble Worte“, Skm 2) und nur Skírnir, kultisch präpariert, darf es überhaupt wagen nachzufragen, hveim inn fróði sé ofreiði afi („wem der kluge Mann erzürnt ist“, Skm 1). In der dritten Phase schließlich versuchen die Beteiligten zu verhandeln, Aktionen werden unternommen, um das trauerauslösende Ereignis ungeschehen zu machen, aufzuhalten oder abzuwenden. Es sind diese Aktionen, die Skírnir (und die nächsten Verwandten Freyrs, dessen Eltern) sämtlich übernehmen. Schließlich kommt es zur Erschöpfung und Depression und der Trauernde tritt in die letzte Phase der Beruhigung, Zustimmung und Fügung in eine unabänderliche Situation. Freyr fügt sich in einer merkwürdig erschöpften Art, in keineswegs hoffnungsfroher Zustimmung. Sein nunmehr eigentliches Ziel vor Augen, wirkt er matter denn je (ausgedrückt in der enigmatischen Schlussstrophe, Skm 42, vesall „elend, schwach“, wie auch Loki weiß).²³⁹ Und diese Stufen scheint auch Gerðr durchzumachen, bis schließlich ihr Widerstand restlos gebrochen ist durch das heftige Zusetzen Skírnirs. Hierher gehört also dieses typische ,überzogeneʻ Verhalten, es ist das kulturell verhandelte Modell der Trauer, es sind die Behandlungsmaßnahmen und kultisch rituellen Normalisierungsbestrebungen einer Gemeinschaft, Reaktionen auf einen Verlust, den Tod eines Mitglieds. Freyrs Ohnmacht ist die eines Verstorbenen in seinem Übergang zum ‚eigentlichenʻ Tod. Der Diener Skírnir ist sein Psychopompos, er weiß um die Gefährlichkeit seiner Mission und ist mit allen ihm zu Gebote stehenden Abwehrmitteln ausgerüstet. Es ist eine Fahrt, deren Ziel das Jenseits, die ,andere Weltʻ ist, unmissverständlich medialisiert durch eine Vielzahl bekannter, auch christlicher Stereotypen,²⁴⁰ wie wir sie auch in der Helfahrt Hermóðrs antreffen werden: Der Hirte, der auf einem Hügel sitzt, ist wohl kein gewöhnlicher, er ist eine Verkörperung des Liminalen (wie es so häufig in dieser ,Berufsgruppeʻ erscheint), so wenig wie es der ,Hügelʻ selbst ist, das Konzept sitja á haugi ist schon erwähnt worden, es gehört in die Totenfürsorge. Auch der Hirte macht keinen Hehl daraus, wo er sich befindet: Wesen, die sich hier aufhalten oder
Lǫng er nótt, langar ro tvær, / hvé um þreyiac þriár? / opt mér mánaðr minni þótti / enn siá hálf hýnótt. („Lang ist eine Nacht, lang sind zwei, / wie kann ich drei ersehnen? / Oft schien mir ein Monat kürzer / als diese halbe Ehenacht.“ [Skm 42]). Allerdings betont der Edda-Kommentar, dass die „Ausgestaltung einer Weltgrenze mit unheimlichem Charakter“ (Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 59) etwa als „Flammenmauer“ (myrkvan vísan vafrloga, die „dunkle, berüchtigte Waberlohe“, Skm 8) keineswegs ein ausschließlich eschatologisches, christliches Motiv sei (vgl. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 58). Schon in antiken, alttestamentarischen Anderweltkonzepten von Totenreichen erscheint die murus igneus, bei Vergil ist die Wohnstatt des Radamanthys von einem flammenden Höllenfluss umgeben (vgl. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 57). „Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, daß der Flammenwall als ,Körpergrenzeʻ verstanden wird; nur die unkörperlichen Seelen können von der anderen Seite Kenntnis haben“ (Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 57). Der Dichter habe also wohl bekannte geistlich-gelehrte Motive übernommen, „freilich ohne dabei zugleich auch alle Implikationen des Motivs in seine Dichtung einzubauen“ (Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S. 59).
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hierher kommen, sind entweder tot oder todgeweiht (Hvárt ertu feigr, eða ertu framgenginn? Skm 12). Der Hügel ist ein Grabhügel, Gerðr „die Eingezäunte“²⁴¹ lebt dort, sie ist ein haugbúi, ein Anderweltwesen.²⁴² Skírnir hat ohne Zweifel eine merkwürdig ambivalente Position in der Liedhandlung, sie schwankt zwischen einerseits skósveinn, dem Leibdiener und Stiefelknecht seines Herrn, andererseits dem souveränen Handlungsträger, dem „Strahlenden“, der sämtliche Attribute Freyrs trägt oder übernimmt (einschließlich des gleichen Namensattributs), kurz zu seinem Alter Ego, ja Doppelgänger wird. Diese Beinahe-Identität hat manches Mal Schwierigkeiten bereitet, aber bis jetzt kaum bessere Lösungen erbracht, als diese Konzeptionierung als Ironisierung zu sehen: „In seinem Namen liegt nicht etwa mythisch-heroische Überhöhung, sondern verborgene Ironie. Es sind nämlich nicht gerade saubere Mittel, mit denen Skírnir sein Ziel erreicht: Bestechung, Drohung und schwarze Magie.“²⁴³ Aber es ist gerade diese Gleichheit, expressis verbis Altersgleichheit des Dieners mit seinem Herrn, die eine bedeutsame kultische Funktion hat. „Freyr und Skírnir [sollen] wohl als gleichaltrig gelten“²⁴⁴: „[D]enn jung waren wir zusammen in Urtagen, / wohl können wir zwei uns trauen“ (þvíat ungir saman várom í árdaga, / vel mættim tveir trúazc [Skm 5]), so betont es Skírnir nicht nur einmal, was offenbar zu einem besonderen Vertrauensverhältnis geführt hat. Wie Ziehbrüder oder Blutsbrüder wirken sie da, jetzt darf der Diener den Herrn mit seggr (zu lat. socius) ansprechen, eine Anrede auf Augenhöhe gewissermaßen, eine Erinnerung an die gemeinsam verbrachte Jugend. Die Übereinstimmungen zu den dramatischen Todesumständen des Fürsten Hákon sind offenbar ‒ insbesondere die Rolle, die sein Diener Karkr dabei spielt: Thus it seems clear that in some stories the living man who enters the tomb is a sworn brother, or foster-brother of the dead man, a kind of companion in arms or adventure of his life-time; and failing such, a slave may take his place, provided that he is born in the same hour as the draugr. ²⁴⁵
Skírnirs Position ist dieselbe. Auch Skírnir macht explizit Anspielungen auf sein eigenes Lebensende: [E]ino dogri mér var aldr um scapaðr / oc alt líf um lagið. („[B]is auf
Grjótgarðr, „stone enclosure“, ist der Name von Hákons Urgroßvater, der wiederum der Sohn von Herlaugr und Hrollaugr ist, von denen Snorri berichtet, dass sie einen Grabhügel errichtet hätten aus grjót und Erde. Darin habe sich schließlich Herlaugr ,zurückgezogenʻ, ausgerüstet mit Männern und Vorräten, als König Harald Schönhaar heranrückte (Haralds saga hins hárfagra, Kap. 8), vgl. Chadwick 1950, S. 416. Dass Gerðr sich dabei gleichzeitig an einem Ort am oder im Wasser zu befinden scheint, muss kein Widerspruch sein. Schon im Altindischen erscheint der Aufenthaltsort der (unerlösten) Toten an der Mündung des Ganges (der Ganga) ins Meer bzw. in die Unterwelt. Der keltische Wassergott Nechtan residiert in einem Feenhügel, wo er die Quelle Segais hütet. Und auch Saxo berichtet von einer riesigen Wasserflut, die Grabräubern aus dem Balder-Grabhügel entgegenströmt. Heinrichs 1997, S. 14. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1997, S. 73. Chadwick 1946, S. 55 f.
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einen halben Tag wurde mir das Alter bestimmt / und das ganze Leben festgelegt.“ [Skm 13]).²⁴⁶ Der Zeitpunkt seines Todes muss etwas mit seiner Mission zu tun haben. Offenbar weiß er schon sein ganzes Leben, dass er diese nicht (lange) überleben wird ‒ es ist der Zeitpunkt des Todes seines Herrn.²⁴⁷ Das erklärt Skírnirs Wirkmächtigkeit, die stets eigenartig unpassend erschien im Zusammenhang mit seiner niederen sozialen Stellung. Im Ritualkontext ist sie angemessen, ja gewinnt unschätzbare Bedeutsamkeit: Skírnir wird zum kultischen Hauptarrangeur und Gewährsmann einer sicheren Überführung und vor allen Dingen eines sicheren Verbleibs des Toten in der Anderswelt. Chadwick möchte entsprechend auch die eigenartige Häufung von jeweils zwei Königen (und nur zwei Königen), die gemeinsam sterben und gemeinsam begraben werden, in diesem Zusammenhang sehen, auch wenn der eigentliche, sprich kultische Hintergrund längst nicht mehr erkannt worden sei: The custom is probably an old one, and may help to explain certain curious features in the genealogy of the early Swedish kings, preserved in the Ynglinga Saga, according to which a high proportion of the Swedish kings are said to have had two sons ‒ and apparently two only ‒ who died and were buried together ‒ a possible reminiscence, somewhat obscured in literary tradition, of the ritual which we have been discussing.²⁴⁸
Dem Toten wird also ein ,Bruderʻ mitgegeben (manchmal, vielleicht auch später, lediglich temporär), um für dessen sicheren Verbleib im Grab zu sorgen. Saxo berichtet über Aswitus (Asvítr) und seinen Ziehbruder Asmundus (Ásmundr), der aufgrund eines ,Versprechensʻ lebendig mit ihm begraben wurde, aber dem immerhin, offenbar bereits in Erwartung einer Rückkehr (die tatsächlich unter dramatischen Umständen gelingt), Speise mitgegeben wurde (vgl. Gest.Dan. 5.11).²⁴⁹ Und diese Geschichte wurde in vielen Varianten erzählt, an ganz unterschiedliche Protagonisten geknüpft.²⁵⁰ Vielleicht erhellt diese Konstellation auch die merkwürdige Geschichte des königlichen Brüderpaars Alf und Yngvi (Ynglinga saga, Kap. 21). Sie töten sich gegenseitig in einem Schwertkampf, den Alf aus Eifersucht gegen seinen Bruder begonnen hat. Er wird als unkommunikativer, eigenbrötlerischer Stubenhocker beschrieben: „Er war ein mürrischer Mann, hochfahrend und von barschem Wesen.“²⁵¹ Seine ebenso
Der Edda-Kommentar übersetzt, „auf einen (Halb‐)tag genau / wurde mir die Lebenszeit bestimmt / und das ganze Leben festgelegt“ (Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1997, S. 90). Siehe den Dialog Jarl Hákons mit seinem Diener Karkr, verborgen unterhalb des ‚Schweinestallsʻ: Jarl mælti: Hví ertu svá bleikr, en stundum svartr sem jǫrð? Er eigi þat, at þú vilir svíkja mik? Eigi, segir Karkr. Vit várum fœddir á einni nótt, segir jarl, skammt mun ok verða milli dauða okkars. („Der Jarl fragte: ‚Was wirst du so bleich und dann wieder so schwarz wie die Erde. Willst du mich etwa verraten?ʻ ‚Nimmermehrʻ, erwiderte Kark. ‚Wir wurden in einer Nacht geborenʻ, sagte der Jarl, ‚so werden auch unsere Todestage nahe beieinander seinʻ.“ Heimskringla, Óláfs saga Tryggvasonar Kap. 49). Chadwick 1946, S. 56. Siehe Ásmunda saga kappabana. Vgl. Chadwick 1946, S. 56. [H]ann var maðr þǫgull, ríklundaðr ok úþýðr (Ynglinga saga, Kap. 24).
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schöne wie lebenslustige Frau Bera fühlt sich eher zu seinem Bruder hingezogen, der immer heiteren Gemütes gewesen sei, stark, forsch, abenteuerlustig, beliebt. Offenbar nichts wichtiger war dem König Alf als seine ungestörte Nachtruhe, er ging früh schlafen, wollte keinesfalls wach liegen und forderte kompromisslos das gleiche Verhalten von seiner Frau ein. Schließlich kommt es wegen dieser absonderlichen Befindlichkeit ‒ bezeichnenderweise am Abend ‒ zum tödlichen Eklat. Die Priorität einer ungestörten Nachtruhe, das augenscheinlich hohe Schlafbedürfnis des Königs ist in jedem Falle ungewöhnlich. Wir kennen es von Fróði, dessen Wesen kaum weniger tyrannisch und buchstäblich hochfahrend war und der ebenso den Tod fand, gerade weil diese oberste Forderung nach Schlaf verweigert wurde. Aber es ist ja die Missgunst des Toten, der Neid auf alles Lebendige, Wache, Agile. Die Erzählung der Ynglinga saga narrativisiert dieses Modell: Der lebenslustige, lebendige Bruder wird zum Erfüllungsgehilfen des Toten, des ,schwachenʻ, ,schläfrigenʻ Bruders, nicht zuletzt übernimmt er dessen ehelichen Pflichten, die heikelste Aufgabe, weil gerade diese Unterstützung tödlichen Neid wecken kann. Beide, der (rituelle) Bruder wie die Ehefrau müssen also für die Ungestörtheit und den Verbleib des Toten an seiner letzten Ruhestatt sorgen. Diesem wichtigsten Anliegen muss alles untergeordnet bleiben, es rechtfertigt jedes erdenkliche Mittel.
7.6.4 Das Schiffsbegräbnis des Ibn Faḍlān Man hat sich manche Gedanken gemacht um Skírnirs bösen Fluch, den er gegen Gerðr ausstößt, um sie gefügig zu machen, seine Einordnung in die Genderproblematik, das Frauenbild, das er transportiert, ob und auf welche Weise er ausgerechnet in einer Brautwerbung Platz finden könnte. Aber nach Ausweis der Dinge kann hier von keiner gewöhnlichen Hochzeit ausgegangen werden. Der Fluch ist alt, er hat schon (wenn auch wenig beachtete) altindische Parallelen. So macht immerhin Lommel auf die auffallende Ähnlichkeit zum 14. Gedicht des Ersten Buchs des Atharvaveda aufmerksam.²⁵² Tatsächlich sei auch dieses noch von den älteren Übersetzern für eine Art Hochzeitsgedicht gehalten worden, wobei inzwischen wohl zweifelsfrei sei, dass es ein „Verfluchen, ein Unheil bringender Zauber“ sei, eine „unheimliche Zauberzeremonie“.²⁵³ Es seien (wie schon Friedrich Rückert korrekt übersetzt) „Verwünschungen zu
Vgl. Lommel 1978a, S. 144: „1. Liebeslust und Glanz hab ich ihr weggenommen, wie vom Baume einen Kranz; / Wie ein Berg mit breitem Grund / soll sie lange im Vaterhause sitzen. // 2. Dies Mädchen soll von dir, o König Yama (König des Totenreiches) / als Liebchen niedergerammelt werden; / an’s Haus der Mutter soll sie gefesselt sein, / und an das des Bruders und das des Vaters. // 3. Sie soll Hüterin deiner Behausung (Sippschaft) sein, / o König (Yama), / und dir übergeben wir sie; / lange soll sie bei den (verstorbenen) Vätern sitzen, / bis zum Bestreuen ihres Kopfes (?). // 4. Mit dem Zauberspruch des Asita, / des Kaśyapa und des Gaya / verschließ ich dir ‒ wie (deine) Schwägerinnen / eine Büchse zumachen, die Liebeslust (die Scheide).“ Lommel 1978a, S. 144.
7.6 Totenhochzeit
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ewiger Jungfrauschaft“,²⁵⁴ die wohl von einem verschmähten Liebhaber an das Mädchen seiner Gunst gerichtet würden: „die Verfluchung zu schändlicher Liebesknechtschaft im Totenreich“²⁵⁵ bei gleichzeitiger Versagung jeglicher Liebesfreuden. Das widerspenstige Mädchen soll dem Totengott Yama ausgeliefert werden, kein anderer mehr, nur er soll zu ihrem „incubus“ werden, in drastisch obszöner Sprache, sie „niederrammeln“.²⁵⁶ Das muss an das Schicksal Gerðrs erinnern, die, sollte sie Freyrs Werbung abweisen, mit einem dreiköpfigen Riesen ihr Dasein fristen muss. Hier wie da soll Liebeslust verwehrt werden trotz maßlosen Verlangens. Einzigen Unterschied sieht Lommel letztendlich nur im Kontext, schließlich betreffe im Altindischen der Ritus ein „richtiges Menschenleben“, wo wir im Nordischen von einem mythischen Zusammenhang ausgehen müssten.²⁵⁷ Aber magische Wirksamkeit ist ja keinesfalls auf die menschliche Sphäre begrenzt, es wäre nicht der einzige Zauberspruch, der auch bei den Göttern wirksam würde (siehe etwa den Zweiten Merseburger Zauberspruch). Tatsächlich wirkt die strikte Weigerung Gerðrs wie die Weigerung einer (noch) menschlichen Frau, den Weg ins Jenseits, zur Totennachfolge anzutreten, und dass solche Weigerungen vorkamen, auch davon berichtet die nordische Tradition.²⁵⁸ Noch besser sind wir über eine gegenteilige Kultrealität informiert.Von unschätzbarem Wert ist diesbezüglich der Reisebericht des arabischen Gesandten des Kalifen al-Muqtadir, Ibn Faḍlān, zu den Wolgabulgaren (10. Jh). Hier wird er Augenzeuge eines Schiffsbegräbnisses eines Warägerfürsten,²⁵⁹ das er ausführlich beschreibt und kommentiert.²⁶⁰ Es ist eine Sekundärbestattung: Der Tote ruht 10 Tage in einem provisorischen Grab in der Erde, währenddessen die Vorbereitungen für die eigentliche Bestattung getätigt werden. Dazu gehört insbesondere, ein Schiff an Land zu bringen und auf einem Scheiterhaufen zu positionieren, das Verfertigen der Totenkleidung, das Brauen eines alkoholischen Getränks, das Bereitstellen von Grabbeigaben einschließlich Tier-
Lommel 1978a, S. 145. Lommel 1978a, S. 148. Lommel 1978a, S. 148. Vgl. Lommel 1978a, S. 147. Vgl. Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 323, Flateyjarbók I: Niemand habe dem toten Freyr in den Grabhügel folgen wollen, und so sei dafür ritueller Ersatz geschaffen worden in Form von zwei Holzidolen. Es sind immer wieder Bedenken geäußert worden bezüglich der ethnischen Identität der Waräger bzw. der Rus. Man wird sie nicht eins zu eins mit ,den Skandinaviernʻ gleichsetzen können, eher wird man von einer ,Mischformʻ ausgehen müssen, entstanden aus den unterschiedlichsten kulturellen wie ethnischen Einflüssen, wie sie so oft beobachten werden bei der Formierung einer Nation. In nicht geringem Maße sind bei diesen Zuschreibungen allerdings auch ideologische Interessen im Vordergrund, zumal es auch um das Selbstverständnis eines modernen Staatsgebildes geht. Ein besonderes Augenmerk wurde entsprechend (zumindest bis in jüngste Zeit) auf möglichst autochthonen, slavischen Ursprung gelegt. Dennoch scheint Roslagen, die Schärenlandschaft bei Uppsala (trotz lauthistorischer Schwierigkeiten), als Namengeber nicht unwahrscheinlich und dürfte der bisher favorisierten (indes noch problematischeren) Ableitung von ruotsi („Rudermänner“) vorzuziehen sein (vgl. Scheel 2015, S. 77– 79). Siehe Togan (Hg.) 1939; Fraehn (Hg.) 1823.
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und Menschenopfern. Ausführlich beschreibt er Art und Prozedere einer Totennachfolge.²⁶¹ Hier aber können sich Angehörige und Gesinde freiwillig entscheiden, ob sie dem Toten ins Grab nachfolgen wollen, um sich damit einen Platz im ,Paradiesʻ zu sichern. Ein Sklavenmädchen willigt ein, fortan wird sie von zwei Mädchen begleitet und bewacht, diverse kultische Maßnahmen folgen, dazu gehört etwa ausdrücklich eine Fußwaschung, das unablässige Trinken von Alkohol, das Singen von Liedern und gerade auch der wiederholte Geschlechtsverkehr mit den Gefolgsmännern des Toten. Während des Begräbnisses wird dieser noch einmal von seinen engsten Freunden auf dem Schiff vollzogen, das Mädchen ausdrücklich mit einer beschwichtigenden Botschaft für den Toten versehen: Dies sei nur aus Liebe zu ihm geschehen²⁶²: An important part of the marriage rite was the copulation of the kinsmen of the dead chief with the girl. The intercourse was, as they expressed it, their duty, and they were anxious that she would tell it to her master. The custom of making love to the wife-to-be of a dead man, who could not perform his marital duty, also apparently consisted of giving explanation of the situation to the deceased.²⁶³
Noch im Diesseits vermag die ,Brautʻ durch einen gerüstartigen Aufbau ins Jenseits, in die andere Welt (einschließlich seiner toten Bewohner) zu blicken. Schließlich wird sie gemeinschaftlich vom Gefolge unter Führung einer Kultmeisterin, einer alten Frau, dem so genannten „Engel des Todes“ (in Anlehnung an den arabischen Begriff Malak al-Maut, ein ,Engelʻ, der zu gegebener Zeit die Seelen der Verstorbenen vom Leib trennt) in einer rituellen Mehrfachhinrichtung ums Leben gebracht. Dann wird der Scheiterhaufen entzündet, über den Brandresten ein Grabhügel errichtet. Auch Ibn Faḍlān beschreibt einen Übergangsritus, eine Bestattung, die gleichzeitig mit Symbolen eines anderen Übergangsritus befrachtet und kombiniert ist, einer Hochzeit: Die Bestattung wird nach Art einer Hochzeit gefeiert, es ist eine Totenhochzeit.²⁶⁴ Nun neigen Übergangsriten ohnehin dazu, wie vielfach beobachtet, ihre Symbole auszutauschen, sie bedienen sich desselben Symbolpools, wie im umgekehrten Fall Hochzeitsrituale ebenso durchsetzt sind mit Trauersymbolen, ja mit ganzen Ritualsequenzen, die wir auf nämliche Weise in Begräbnissen antreffen. So kann Honko in seiner Untersuchung zur finnischen lament poetry zeigen, dass deren Motivik vollkommen austauschbar bei Bestattungen wie Hochzeiten aufscheint: Klagelieder würden übergreifend an „wichtigen Drehpunkten“ des menschlichen Lebens
Vgl. Fraehn (Hg.) 1823, S. 11– 21. „Das Mädchen, das sich dem Tode geweiht hatte, ging indess ab und zu, und trat in eins der Zelte, die sie dort hatten. Da legte sich der Inwohner desselben zu ihr und sprach: sag deinem Herrn, nur aus Liebe zu Dir that ich dieß“ (Übers. Fraehn 1823, S. 15). Duczko 2004, S. 146. Die gefürchteten Konsequenzen zeigen sich beim Brüderpaar Alf und Yngvi: Obwohl der lebende Bruder die ehelichen Pflichten des matten, schläfrigen, toten Bruders erfüllt, kostet ihn das das Leben. Vgl. Schrader 1904; Pollex 2003.
7.6 Totenhochzeit
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installiert werden („Laments are poetry of final parting“).²⁶⁵ Die Braut stelle sich also einerseits wie eine Trauernde, ja Todgeweihte dar, der Tod, das Sterben werde wiederum vice versa als Anverlobung und Heirat gefasst, der Tote, die Tote als Braut und Bräutigam. Die Fußwaschung ist dabei wohl einerseits die Markierung eines eklatanten sozialen Unterschieds, „something done only by servants of noble persons as we read in Helgakviða Hundingsbana II, 39.“²⁶⁶ Die Sklavin mache ‒ wie ihr Herr ‒ eine rituelle Transformation durch, „in other words, she has ritually been changed into the wife of the chieftain.“²⁶⁷ Aber nicht nur wird sie dadurch auf dieselbe Hierarchieebene gestellt, das Fußwaschungselement steht seinerseits synekdochisch für das Brautbad, zentrales Symbol der Hochzeit in vielen Kulturen, ja, das symbolische Bad (die Fußwaschung) ist bereits in seiner ursprünglichen Funktion hochaufgeladen, es ist Verweis und Vorwegnahme des Beischlafs. Die nachträgliche post mortem-Verheiratung Verstorbener ist ein weltweites Phänomen in Bestattungsritualen, es gründet tief in der Vorstellung der Kompensation, des Ausgleichs, um dem unweigerlichen Zorn des Toten, der Toten über einen vermeintlichen Mangel vorzukommen. Hinter jeder Grabbeigabe steht wohl letztendlich die Furcht vor dem unzufriedenen Toten, dem auf keine nur erdenkliche Weise Anlass gegeben werden soll, zurückzukehren. Freilich konnte diese Wiedergutmachung in den unterschiedlichsten Abstufungen der Distanzierung und Symbolisierung erfolgen, von der realen Totennachfolge vieler hunderter ja tausender lebender Menschen über das Substitut des Holzgötzen hin zum (rein bildhaften) Symbol. Aus diesem Grund durfte auf den Gräbern griechischer Junggesellen und Junggesellinnen der Lutrophoros, ein Wassergefäß, nicht fehlen, ein Symbol, das auf das vollzogene Brautbad und damit die vollzogene Hochzeit verwies.²⁶⁸
Honko 1977, S. 9. Die heftige Abneigung, untröstliches Weinen und Klagen scheint hier das erwartbare, normale, gesellschaftlich sanktionierte Verhalten der Braut zu sein, auf gleiche Weise wie massive Gewaltandrohung offenbar manches Mal zum Verhaltenskodex der Brautführer gehört: Gerade im slavischen Hochzeitsbrauchtum finden sich eine Reihe ritualisierter, gespielter Gewaltakte verbunden mit einer (vorgeblich) heftigen Gegenwehr und Sträuben der Braut (vgl. Schrader 1904, S. 29 f.). Die tiefe Abneigung einer Gerðr gegenüber ihrem Brautwerber (und ihrem zukünftigen Bräutigam) könnte auch unter diesem Aspekt betrachtet werden, gerade als Kennzeichnung ihres Status als richtige Braut. Schjødt 2007, S. 138. Schjødt 2007, S. 138. Vgl. Schrader 1904, S. 5 f. Schrader hält den Lutrophoros für das „bezeichnendste Symbol der attischen Ehe“. Im Gegensatz dazu sei im slavischen Kulturkreis an den Gräbern der unverheiratet Verstorbenen kein materielles Zeichen oder Symbol der Ehe aufgestellt worden, sondern als ritualpraktisches Handeln ausagiert worden, „eine ganze Scheinhochzeit“ vollzogen worden (Schrader 1904, S. 13). In manchen Teilen Deutschlands sei noch bis in die jüngste Zeit an die Spitze des Leichenzugs eines Junggesellen ein als Braut gekleidetes Mädchen gestellt worden, die Bestattung eines jungen Mannes expressis verbis „Hochzeit“ (siehe russ. veselie) genannt worden. In Weißrussland seien junge Verstorbene wie Braut und Bräutigam geschmückt worden (vgl. Schrader 1904, S. 14 f.). Bereits Marco Polo berichte über die bei den Tartaren und Mongolen ausgeprägte Sitte der Totenhochzeit, dass Familien ihre längst verstorbenen Töchter und Söhne miteinander verheirateten und diese fortan als
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Freyr muss sein ‚Wunderschwertʻ weggegeben, das ganz offensichtlich ein Eigenleben führt, „klug“ eingesetzt, kämpft es, wie es heißt, „von selbst“ (oc þat sverð, er siálft mun vegaz, / ef sá er horscr, er hefir [Skm 9]). Phallische Assoziationen sind hier nicht unwahrscheinlich, in jedem Fall markiert dessen Verlust oder Abwesenheit die Impotenz seines ursprünglichen Besitzers ebenso wie die Potenz seines neuen: Auch Skírnir kämpft damit nicht, er demonstriert damit seine Legitimation, eine sexuelle Verfügungsgewalt, die er im Auftrag, ja letztendlich aus Liebe zu seinem Herrn einsetzen wird. Es ist schon vielfach bemerkt worden, dass die Positionen von Diener und Herr an dieser Stelle miteinander verschwimmen, ja, nicht einmal mehr sprachlich genau auseinandergehalten werden, längst sind at mínom munom (Skm 26) nicht mehr Freyrs Wünsche, sondern ganz offenbar Skírnirs. Damit macht er sich zum sexuellen Erfüllungsgehilfen seines Herrn. Er vollzieht stellvertretend, rituell, einen Akt, zu dem sein Herr nicht (mehr) in der Lage ist.
7.6.5 Der Traum des Bräutigams In einer nahezu zeitgleichen slavischen, literarischen Quelle findet sich nun eine weitere Referenz auf ein Begräbnis, das nach Art einer Hochzeit begangen wird. So wird ein Eintrag in der Povest’ vremennych let (die sogenannte „russische Nestorchronik“) unter den Jahren 945/46 in der slavistischen Forschung inzwischen in diese Richtung gedeutet. Vordergründig geht es in dieser Erzählung um einen grausamen Racheakt, den die russische Fürstin Olga an den tributpflichtigen Derevljanen verübt als Vergeltung für die Erschlagung ihres Mannes, Fürst Igor. Nach dessen Ermordung senden die Derevljanen Gesandte an die Fürstin als Brautwerber, um sie für eine Verbindung mit ihrem Fürsten Knjaz Mal („Fürst Mal“) zu gewinnen. Olga gibt sich zum Schein verbindlich und gastfreundlich und lässt die ahnungslosen Gesandten als vorgebliche Auszeichnung und Würdigung in einem Boot prunkvoll durch die Stadt tragen. Dann aber lässt sie die gesamte Abordnung mitsamt dem Boot in eine eigens dafür ausgehobene Grube in ihrem Palasthof stürzen, glühende Kohlen auf sie herabschütten und dann lebendig begraben. Eine weitere Gesandtschaft verbrennt sie im Badehaus. Bei der eigentlichen Beerdigungsfeier lässt sie 5000 Gäste töten, und schließlich folgt die totale Zerstörung der Hauptstadt Iskorosten’, indem sie bei der Belagerung brennende Vögel über die Mauern schickt.²⁶⁹ Letztere Aktion ist dabei wohl eher eine spätere Hinzufügung, ein Wandermotiv einer seit der Antike bekannten Kriegslist, aber doch Endpunkt einer Klimax des Zerstörungs- und Rachewillens der
verschwägert gegolten hätten (vgl. Schrader 1904, S. 32 f.). In der Schilderung des Ibn Faḍlān (gerade in der Ritualsequenz der Fußwaschung) erkennt er ausdrücklich den Hochzeitsritus. Auch das Hochheben des Mädchens über ein ,Türgerüstʻ möchte er zum Verbot des Betretens der Türschwelle stellen (vgl. Schrader 1904, S. 27). Vgl. Müller (Übers.) 2001, S. 67– 70.
7.6 Totenhochzeit
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Fürstin.²⁷⁰ In diesem Zusammenhang muss das Motiv der Verbrennung eines Schiffes mitsamt den lebendigen Insassen allerdings besonders interessieren, gerade die prunkvolle Schiffsprozession, über deren eigentlichen Zweck, die tödliche Destination, alle informiert sind – mit Ausnahme der arglosen, ja gezielt betrogenen ‚Passagiereʻ. Es ist die erzählte Wirklichkeit des skandinavischen, nordischen Begräbnisbrauchs der Schiffsbestattung. In welchem Maße auch andere, slavische Einflüsse diesbezüglich angenommen werden müssen, wird in der Forschung diskutiert, gewiss aber haben weder in nordischen noch in slavischen Hochzeitsbräuchen Schiffe eine irgendwie geartete Funktion. Inwiefern der christliche Schreiber bewusst die Ereignisse um den Tod des Fürsten Igor dermaßen literarisch fiktiv gestaltete, bleibt ungewiss. Gut möglich aber, dass sich der (christliche) Redakteur auf die merkwürdigen Ereignisse auf andere Weise keinen Reim machen konnte. Das von Ibn Faḍlān geschilderte Schiffsbegräbnis ist nicht nur nahezu zeitgleich, es ist auch im gleichen kulturellen Kontext angesiedelt, was es zumindest nicht unwahrscheinlich macht, dass beide diskursiven Ereignisse (wenn auch sub specie ,eigenerʻ muslimischer oder christlicher Glaubensvorstellungen konstruiert) auf ein gemeinsames paganes Konzept referieren. In seiner Untersuchung zu der literarischen Ausgestaltung der Ereignisse um den Tod des Fürsten Igor und der Rache der Fürstin Olga nimmt auch Aleksandr Koptev die Beschreibung des Ibn Faḍlān als Ausgangspunkt, auch er sieht in Olgas Handeln auf jeden Fall mehr als eine banale Racheaktion: „My hypothesis is that in this annalistic story we have a series of rituals connected with the death of the Kievan prince.“²⁷¹ Und auch er verweist zunächst einmal auf die enge Bezogenheit von Begräbnis- und Hochzeitskontexten.²⁷² Es sei auffallend, dass unmittelbar nach der Ermordung des Fürsten die Derevljanen mit dem Anliegen einer Verheiratung erschienen, zumal in der Gestalt eines enigmatischen derevljanischen ‚Prinzen Malʻ: Die Derevljánen sagten: Das Derevljánen-Land hat uns gesandt und läßt also sagen: Deinen Mann haben wir erschlagen; denn dein Mann war wie ein Wolf: raubend und plündernd; unsere Fürsten aber sind gut, die das Derevljánen-Land geweidet haben. Und nun heirate unseren Fürsten, den Mal! Denn so hieß er, der Fürst der Derevljánen: Mal.²⁷³
Siehe das übergeordnete Erzählmotiv „Brandstiftung durch Tiere“ (Ranke 1979). Vögel seien durch ihre Flugfähigkeit „Pyrotransporter katexochen“, so Ranke (Ranke 1979, Sp. 662), aber neben dem strategischen Kunstgriff scheint gerade das Rachemotiv im Vordergrund, so sehr, dass mitunter die Vögel aus eigenem Antrieb zu Brandstiftern werden, weil ihnen Unrecht angetan worden ist (vgl. Ranke 1979, Sp. 662). Koptev 2010, S. 88. Siehe Koptev 2010, S. 89: „The historical connection between Slavic marriage and funeral rites has recently been examined by Valeria Eremina, whose book is devoted to the symbolism of rites of transition. Eremina shows how widespread in Slavic folklore and ritual tradition is the idea of the joint death of husband and wife, or two lovers“ (vgl. Eremina 1987). Übers. Müller 2001, S. 68.
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Koptev hält es für fraglich, dass dieser eine historische, real existierende Persönlichkeit gewesen sei, lediglich in der Interpretation des Schreibers werde die Bezeichnung zum Eigennamen eines Prinzen. Wahrscheinlich habe der christliche Schreiber diesen Ausdruck missverstanden (deshalb auch der erklärende Zusatz) und aus dem Nomen appellativum sei ein Nomen proprium geworden.²⁷⁴ „Thus the prince Mal is probably an annalistic fiction.“²⁷⁵ Dagegen sei der Ausdruck bekannt als Euphemismus, knjaz mal, „prince small“, bezeichne den Bräutigam.²⁷⁶ Ja, man wird darüber hinaus annehmen müssen, er ist Hüllwort für den Phallos selbst.²⁷⁷ Und wenn nun also dieser Prinz als solches nie existiert hat, so hält er es für sehr wahrscheinlich, dass der eigentliche ,Bräutigamʻ niemand anderes ist als Olgas toter Ehemann Igor, der, wenngleich nicht mehr unter den Lebenden, den Derevljanen nach wie vor als gefürchteter Feind und Widersacher gilt. Sie können gar nicht anders, als ihm ein rechtmäßiges Begräbnis zukommen zu lassen, ihm darf es an nichts fehlen, und dazu gehört unbedingt die Witwennachfolge: „After the death of Prince Igor, the messengers offer his wife, according to the local custom, the chance to join her deceased husband on the funeral pyre, rather than to marry their living prince.“²⁷⁸ Nun wird in einem weiteren Chronik-Fragment von einem Traum eben jenes Prinzen Mal berichtet: „The prince Mal, preparing for the marriage, dreamt that when Princess Olga arrived she gave him many rich and decorated clothes and other va-
Vgl. Koptev 2010, S. 90. Koptev 2010, S. 90. Vgl. Koptev 2010, S. 90. Siehe eine Untergruppe nordindischer Hochzeitslieder (śādī ke gīt), die so genannten bāna („songs of the bridegroom prince“), die von den weiblichen Verwandten im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten für die Braut gesungen werden (vgl. Raheja und Gold 1994, S. 45). Sie werden aber auch für die kleinen Söhne in gewissen „life-cycle rites“ gesungen, z. B. dem rituellen ersten Haarschnitt. Vordergründig in romantischer Stimmung gehalten, sind ebenso anzügliche, sexuelle Assoziationen fassbar, „sexual innuendos in songs that anticipate the development of a male child into a bridegroom“ (Raheja und Gold 1994, S. 55). Im umgekehrten Fall wiederum verspotten die Begleiterinnen der Braut den zukünftigen Ehemann als „small prince“. Das Attribut der geringen Größe beziehe sich dabei in vielsagender Zweideutigkeit (aber durchaus auch obszön eindeutig) auf die Größe seines Geschlechtsteils, „singers of insult songs make a husband’s size into a sexual joke“ (Raheja und Gold 1994, S. 57). Ein beliebtes Thema dieser Schmählieder (gālis) sei etwa „the ,miracleʻ of phallic growth, the ,male wonder‘ that could allow even a smallish husband to produce a son, and his bride to enjoy it“ (Raheja und Gold 1994, S. 58). Siehe dazu in bemerkenswerter Übereinstimmung im altnordischen Kontext die merkwürdig unmotivierten sexuellen Diffamierungen einer Magd dem unbekleideten (schlafenden!) Grettir gegenüber (Grettis saga, Kap. 75). Auch sie stellt auf unverblümt direkte Weise einen Bezug zwischen Körpergröße und Penisgröße her und macht sich über dessen vermeintlich allzu geringe Größe lustig. Der Hinweis auf Grettirs sexuelle Devianz (Impotenz) erfolgt bezeichnenderweise nach seinem kräftezehrenden Schwimmabenteuer, einer massiven körperlichen wie räumlichen Grenzüberschreitung. Die Schmähung scheint also (wie in den Hochzeitsliedern) Markierung wie Auslöser einer Transgression. Sie gehört zur Konzipierung Grettirs als liminales Wesen, als outlaw par excellence. Siehe zu möglichen Übertragungswegen: Glendinning 1970, S. 55. Koptev 2010, S. 90.
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luable things, and the boats that would carry him during the wedding ceremony.“²⁷⁹ Dabei ist die Ähnlichkeit zum so genannten „Traum des Svjatoslav“ im wohl berühmtesten altrussischen Epos Slovo o plŭku Igorevě („Das Lied von der Heerfahrt Igors“),²⁸⁰ 12. Jh., schon früh aufgefallen: Vor der drohenden Niederlage des Fürsten Igor’ Svjatoslavič gegen die Polovzer wird der unheilvolle Traum des Fürsten Svjatoslav von Kiew eingefügt: And Sviatoslav dreamed a troubled dream / In Kiev, on the hills. / „Early last night / They wrapped me,“ he said, / „In a black shroud / Upon a bed of yew. / They ladled me deep-blue wine / Mixed with sorrow. / From the empty quivers of the pagan interpreters / They spilled great pearls upon my breast / And treated me tenderly. / The main beam is now missing / In my gold-domed bower (V. 315 – 27).“²⁸¹
Robert Mann verweist auf zahlreiche Übereinstimmungen (poetische Formeln, Motive, Metaphern) zur russischen Folklore, insbesondere Motive aus Hochzeitsliedern, Klageliedern und deren Ritualpraxis. Auch wenn seine These einer durchgehend mündlichen Konzeption des Liedes eher skeptisch betrachtet wird, will die Forschung orale, folkloristische Einflüsse durchaus nicht von der Hand weisen.²⁸² Im Traum des Svjatoslav sind die Ritualelemente einer Hochzeit sehr naheliegend²⁸³: The dream of Kiev Prince Sviatoslav is fashioned after wedding song motifs describing what the bride sees in a dream on the eve of the groom’s arrival to take her away from her maiden home. She dreams of the matchmaking ritual, when gifts are brought by the emissaries of the groom. The gifts include wine, cloths and pearls. She dreams that parts of her maiden home, such as the corner beams and main roofbeam have fallen away.²⁸⁴
Koptev 2010, S. 90. Jakobson (Hg.) 1966; Übers. Müller 1989. Mann 2010, S. 32. Insgesamt wird heute davon ausgegangen, dass das Slovo wenige Jahre nach dem Ereignis von einem einzelnen Autor, der gegebenenfalls am missglückten Heerzug teilgenommen habe, niedergeschrieben worden sei, wobei wohl eine mündliche Fassung als Vorlage gedient habe. Die Spekulationen über die Authentizität der einzigen (beim Brand von Moskau 1812 zerstörten) Handschrift sind heute in der Forschung kaum mehr Thema, überwiegend wird inzwischen von deren Echtheit ausgegangen (vgl. Jakobson 2007, S. 415 f.). Robert Mann sieht indes die Vorstellung eines einzelnen „ingenious writer“ eher als „axiom“ der altrussischen Forschung, die durch nichts begründet sei (vgl. Mann 2016, S. 56). Entsprechend möchte er den Anteil mündlichen Einflusses, den der führende Dmitrij S. Lichačëv eher vage als „dovol’no mnogo“ („rather large amount“) angebe, bei nahezu 100 Prozent sehen (vgl. Mann 2016, S. 61). Die zweifelsfreien Elemente einer folkloristischen Hochzeitmotivik, die für vorliegende Diskussion von Interesse sind, betrifft indes dieses Ringen um Prozentanteile eher weniger. So sei auch in der so genannten Klage der Jaroslavna, die in die Erzählung eingefügt ist, der „folkloristisch-stilistische[ ] Duktus“ augenfällig, sie hebe sich allein schon durch die poetische Komposition von der Textumgebung deutlich ab (vgl. Jakobson 2007, S. 416). Mann 2010, S. 32, Anm. 36; vgl. auch Mann 2016, S. 67.
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Mann argumentiert, dass diese Motive dem Publikum bekannt gewesen sein müssen, sie erschienen ohne weitere Erklärung. Alle bösen Omen, die Svjatoslav in seinem Traum sieht, finden Parallelen in russischen Hochzeitsliedern, es sind konventionalisierte Komponenten, aber auch hier ‒ kaum anders ‒ schreckliche Vorboten, die der Braut drastisch zu verstehen geben, dass eine Trennung, die Trennung von ihrem Elternhaus, ihrer Familie unmittelbar bevorsteht. Die Perlen sind die Tränen, die die Braut vergießt. Das Traummotiv passt sich nicht ganz logisch in den Erzählfluss ein, entsprechend müsse wohl davon ausgegangen werden, dass es schon vorher bestanden habe, dass es gewissermaßen als vorgefertigtes Versatzstück hier eingefügt worden sei.²⁸⁵ Auch Mann verweist auf den Nestorchronik-Eintrag der Rache Olgas und den Traum ihres ,Bräutigams Malʻ, der in bemerkenswerter Übereinstimmung allerdings bereits zwei Jahrhunderte früher erscheint: However, there is evidence that this adapting of wedding songs was not the original handiwork of an individual author. For example, it is somewhat odd that Sviatoslav envisions himself wrapped in a shroud when it is Igor’s army who die, not the Kiev Prince. Moreover, one would expect the main beam in Sviatoslav’s bower to represent the Grand Prince himself, not Prince Igor. Ordinary logic would require that both these omens portend the death of the Kiev Prince. Their logical incongruity suggests that Sviatoslav’s dream is a traditional epic motif that originally pertained to the death or defeat of the prince who has the dream, but with the passage of time the motif came to be applied to other contexts. This is to say that the poet of the Igor Tale was not the sole creator of the dream motif. It was originated by singers who came before him.²⁸⁶
Hier wie da ist die Verknüpfung zwischen Tod, Begräbnis, Untergang und Hochzeit evident: Thus, the technique of blending wedding motifs into a context of battle and death was deeply embedded in Russian epic tradition long before the poet of the Igor Tale set to work two or three centuries later. Mal’s dream was doubtless a variation on the bride’s dream in wedding songs.²⁸⁷
Auch der Tod eines anderen Kämpen, Izjaslav Vasil’kovič, wird ganz in das Bild einer Hochzeitszeremonie gefasst: On the bloody grass / Was himself caressed by Lithuanian swords. / And with his beloved on a bed […] / […] and said: „Your retinue, Prince, / Birds have covered with their wings, /And beasts have licked their blood.“ / His brother Briachislav was not there, / Nor the other, Vsevolod. / Alone he spilled his pearly soul / From his valiant body / Through his golden necklace (V. 476 – 94).²⁸⁸
Vgl. Mann 2016, S. 67. Vgl. ähnlich Honko 1977, S. 44 ff., über Art und Inventar wie (austauschbare) Funktion der finno-baltischen Hochzeits- und Klagelieder. Mann 2016, S. 68. Mann 2016, S. 68. Mann 2016, S. 81.
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,Liebkostʻ von den Schwertern der Feinde, vergießt er seine ,Perlenseeleʻ durch ein goldenes Halsgeschmeide. Auch in diesen enigmatischen Zeilen erkennt Mann eine ursprüngliche Hochzeitsliedformel: Es ist die untröstliche Braut, die üblicherweise Tränen über dem Gold und den Perlen der Brautwerber vergießt, ja ihre Tränen selbst werden zu Perlen.²⁸⁹ Unweigerlich fühlen wir uns an das Mythologem des ,erweintenʻ Brísingamen der Freyja auf der Suche nach ihrem Ehemann/Bräutigam/Liebhaber erinnert, aber auch das altenglische ‚Tränengeschmeide‘ (wopes ring) der rechtschaffenen christlichen Heiligen evoziert noch das nämliche Bild (siehe Kap. 3.7). Es ist natürlich nichts anderes als sein eigenes Begräbnis, von dem der Fürst träumt, und auch hier muss man hinzufügen, der bereits tote Fürst: „[T]he ,sleepingʻ prince is the dead Prince Igor, who is waiting for his funeral.“²⁹⁰ In der Kultpraxis findet dieser ,Traumʻ seine Entsprechung in der zehntägigen, vorläufigen Bestattung und Wartezeit des Waräger-Fürsten, er ruht, er ,schläftʻ und er ,träumtʻ von exakt jenen Vorbereitungen, die für seine Beerdigung gemacht werden. Ein Schiff wird vorbereitet, ausdrücklich werden wertvolle Kleidungsstücke für ihn geschneidert, kostbare Grabbeigaben vorbereitet. Der Fürst träumt – nicht in gewissermaßen hellsichtiger Vorwegnahme, sondern zur Kennzeichnung seines ad hoc-Zustandes. Die Parallelen zum Mythos sind beachtlich: Freyr verfällt zusehends, und nach einer für ihn ausdrücklich konstatierten, schier unerträglich langen Wartezeit von ausgerechnet neun Nächten²⁹¹ soll es zum erotischen Treffen kommen, an jenem Ort, den Gerðr Barri nennt, mit einem vieldeutigen Hinweis, „einen Ort, den wir beide kennen“, der lundr lognfara; vielleicht eine Insel, ein locus amoenus allemal, ein überirdisch schöner, angenehmer Ort, aber, wie wir wohl zunächst annehmen müssen, es ist ein Euphe-
Vgl. Mann 2016, S. 81. Koptev 2010, S. 90. Die Neun-Zahl ist dabei genauso wenig zufällig oder willkürlich gewählt wie andere Zeitabschnitte im Begräbniskontext. Sie richten sich zunächst nach realen, biologischen Bedingtheiten, dem status mutationis, dem Zustand des Zerfalls der Leiche. Bis zum dritten Tag behält das Gesicht des Leichnams seine Physiognomie unverändert, also muss auf die eine oder andere Weise die ,Seeleʻ, der ,Geistʻ des Toten noch am Leib haften. In diesen Zeitraum fällt die Totenwache. In der Zeit vom circa 7. bis 10. Tag bis hin zum 30. oder 40. Tag beginnt und schreitet die Verwesung fort, so dass sich das Fleisch von den Knochen zu lösen beginnt. Am Jahrestag schließlich sind nur noch die Knochen als letzter bleibender Bestandteil des Toten übrig (vgl. Kyll 1972, S. 128 f.). Üblicherweise finden damit die unmittelbaren Bestattungsriten ihr Ende. Der Ritualfortgang korrespondiert damit etwa in Form einer konkreten Überprüfung (z. B. als oft genug zwingend notwendig erachtete Sekundärbestattung) oder als lediglich gedankliche Konzeption. Begräbnisriten sind immer zunächst das Handeln an und mit der Leiche. Auch das Christentum hält sich an diese physiologischen Bedingtheiten, eine in diesem Fall recht eigentlich anachronistische Fürsorgepflicht am Toten, zumal auch hier explizit zwischen dem Toten als mortuus, d. h. der unmittelbar Verstorbene, und defunctus, der Tote nach Abschluss der Begräbnisriten, unterschieden wird (vgl. Kyll 1972, S. 127). Die christlich formierten Totengedenktage entsprechen relativ genau der Struktur paganer antiker oder östlicher Totenkulte. Siehe etwa den römischen novendialis („Nine-Day Period after Burial“): „After the burial or entombment ‒ that is, after in the normal order of things, nine days have passed since death ‒ the corpse is thought to have been successfully ‚unbornʻ out of the society of living“ (Corbeill 2004, S. 98 f.).
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mismus: Der Hain Barri (oder die Insel Barrey) meint nichts anderes als den Grabhügel. Und dem siecht Freyr buchstäblich entgegen, besinnungslos, handlungsunfähig, ohne Schwert, ohne Pferd, in einem seltsam paralysierten, somnambulen, traumähnlichen Zustand, der wohl als Todesschlaf bezeichnet werden muss, als jener liminale Übergangsstatus zwischen Tod und Begräbnis, dem endgültigen Aufenthaltsort im Grabhügel.²⁹² Nicht zuletzt könnte auf formaler Seite die eigenartige Position des Mythos im Rahmen des Gesamtkonzepts der Snorra Edda diese Konzeptionierung untermauern. So stellt Klingenberg die berechtigte Frage, warum Snorri seine Walhallbeschreibung (Kap. 36, dann Kap. 38 – 41) ausgerechnet mit einem Freyr-Kapitel unterbreche, einer Zusammenfassung des einzigen Freyr-Lieds der Edda, das er „leicht“ (zumindest thematisch eher passend) in Kap. 24 bei der Vorstellung Freyrs hätte unterbringen können.²⁹³ Er fragt nach dem „Rezeptionsinteresse“ und dem „Stellenwert“,²⁹⁴ den Snorri seiner Freyrdarstellung zugedacht habe. Vielleicht müssen wir uns aber gerade fragen, in welchem Verstehensrahmen Snorri das Freyr-Mythologem bereits vorgefunden hat. Und gibt es nicht eine auffallende Parallele dazu im Heldenlied der Helgakviða Hundingsbana II? So wie Snorri auf formalstruktureller Ebene Freyrs vorgebliches Liebensabenteuer inmitten der Beschreibung des nordischen Jenseitskonzepts von Walhall positioniert, indes zwischen dem Weiterleben der Kriegerkaste nach dem Tod und Freyrs Liebesnöten gar kein inhaltlicher Zusammenhang erscheint, so wird dieser exakt im Heldenlied geboten: Der tote Held Helgi pendelt buchstäblich zwischen zwei (offenbar noch nicht ganz entschiedenen) Jenseitskonzepten: dem ewigen, fröhlich martialischen Kriegerleben des comitatus und dem immer währenden Liebesgenuss einer Frau im Grabhügel. Und Balder? Auch Balder schläft ‒ und er träumt. Und derweil werden in Hel die Bänke bestreut, Bier gebraut, alles für seine Ankunft vorbereitet, so weiß es die tote Vǫlva und längst schon Odin und all die anderen Asen. Es sind die Bestattungsvorbereitungen für den toten Balder – das sind die ballir draumar, die „bösen Träume“ Balders (Bdr 1). Die isländischen Quellen scheinen nichts vom eigentlichen Inhalt der Träume zu wissen, umso besser weiß Saxo Bescheid: Der dänische Balderus träumt, bereits tödlich verletzt, wie es heißt, von einer Zusammenkunft, einer ‚Hochzeitʻ mit Proserpina, der leibhaftigen Totengöttin. Aber auch seine Träume von der Wunsch Der lundr lognfara (verstanden als „windstiller Hain“) wird auch mit einer Paradiesrhetorik zusammengebracht, ein überirdischer Ort, der sich durch die Abwesenheit der Unbill von Wind und Wetter und Kälte auszeichnet. Diese Vorstellung von Verhältnissen gewissermaßen außerhalb von normalen, üblichen, menschlichen Lebensbedingungen findet sich auch in der Beschreibung eines Zustandes, der nicht außerhalb unserer natürlichen Welt liegt, sondern davor, der Zustand der Welt, bevor sie überhaupt eine war. Dazu gehört nicht nur die Abwesenheit der Elemente, sondern ebenso die Abwesenheit der Zeit, der Jahreszeiten, ein in jeder Hinsicht bewegungsloser Urzustand. Der griechische Aether hat diese Eigenschaft und ebenso der Ginnungagap, der germanische kosmische Urraum vor der Erschaffung der Welt (siehe Gylf 4). Vgl. Klingenberg 1996, S. 40. Klingenberg 1996, S. 40.
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kandidatin Nanna sind kaum anders ausgestaltet, ja sind im Grunde genommen wohl als Motivdoppelungen zu verstehen: Nacht für Nacht plagt Nanna ihn, mahrengleich, nach Art einer larva, setzt ihm zu, schon hier erscheint das Motiv der Wagenfahrt, und schon hier ist es eindeutig genug konnotiert: Es ist die ‚Karrenfahrtʻ der Leiche.²⁹⁵ Baldrs draumar schien das einzige Lied, das Balders Tod in der Zukunft festlegte, nun zeigt sich aber auf gleiche Weise, dass seine emotionalen Unruhezustände, die schwere Aufgewühltheit einen ad-hoc-Zustand kennzeichnen ähnlich dem Freyrs. Wie Freyr, wie die Waräger-Fürsten liegt er bereits im Todesschlaf, in einem Traum ohne Erwachen und harrt seines endgültigen Aufenthaltsorts im Grabhügel, seines ureigensten locus amoenus: Breiðablik.
7.7 „Blood, milk, and tears“ 7.7.1 Von Balders Traumhochzeit und Iðunns Äpfeln Aber es gibt noch weitere mythische Hochzeitspläne. In den Skáldskaparmál (1) steht auch der isländische Balder im Mittelpunkt von Hochzeitsvorbereitungen, und auch hier, zumindest prima facie, denkbar missglückten: Auch Snorri weiß von einer ‚Beinahehochzeitʻ, und nicht Nanna (oder Proserpina) ist dabei die potentielle Braut, sondern ausgerechnet die „Kriegsmaid“ und Riesentochter Skaði. Indes ist auch Skaði hier weniger die Umworbene, sondern ebenso die aktiv, ja aggressiv Fordernde in einer für alle unguten, hoch aufgeladenen, gefährlichen Situation. Die Riesin stürmt wutentbrannt, bis an die Zähne bewaffnet ins Lager der Asen, empört über deren gemeinschaftlichen Totschlag an ihrem Vater Þjazi.²⁹⁶ Dieser ist bekanntlich der
Gest.Dan. 3.3: Quo fervente, lectica se in aciem deferri iussit, ne intra tabernaculum obscura morte defungi videretur. Postera nocte eidem Proserpina per quietem astare perspecta post triduum se eius complexu usuram denuntiat. Nec inane somnii praesagium fuit; nam Balderum elapso triduo nimius vulneris cruciatus absumpsit. Cuius corpus exercitus regio funere elatum facto colle condendum curavit. („[B]eim wildesten Toben des Kampfes lässt er sich auf einer Sänfte in die Schlacht tragen, um nicht im Zelte eines unrühmlichen Todes zu sterben. In der folgenden Nacht erschien ihm Proserpina (Hel) im Traume und verkündete ihm, dass sie des nächsten Tages in seinen Armen ruhen werde; die Weissagung des Traumbildes war nicht eitel; denn als drei Tage vergangen waren, da liess ihn die grosse Qual der Wunde sterben. Seine Leiche bestattete das Heer mit königlichem Begängnis und setzte sie in einem aufgeschütteten Hügel bei“). Gest.Dan. 3.2: Idem larvarum Nannae speciem simulantium continua noctibus irritamenta perpessus adeo in adversam corporis valetudinem incidit, ut ne pedibus quidem incedere posset. Quamobrem biga redave emetiendorum itinerum consuetudinem habere coepit. Tanta amoris vi suffusum pectus ad extremam paene eum tabem redegerat. („Balder erlitt durch Larven, welche die Gestalt der Nanna annahmen, fortwährend in der Nacht störende Belästigungen und wurde davon so schwach, dass er sich nicht auf den Füssen halten konnte. Deshalb gewöhnte er sich daran, seine Wege auf einem Zweigespanne oder Wagen zu machen; die grosse Liebe, die sein Herz ergriffen, hatte ihm mit ihrer Qual alle Kraft genommen“). Auch Thor allein wird die Tat zugeschrieben (Hrbl 19), selbst Loki rühmt sich ihrer (Ls 50).
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Hauptakteur im vorangegangenen Mythos um den Raub der Iðunn (einschließlich ihrer berühmten Äpfel). Mit seiner Tötung findet diese Episode freilich nur ein vorläufiges Ende, denn seine Tochter schwört grimmige Rache. Die Götter aber bieten ihr Kompensation, sætt ok yfirbœtr („Frieden und Buße“): Sie mag sich einen Ehemann aus dem Kreis der Asen wählen, aber nur „nach den Füßen ohne mehr zu sehen“ (at fótum ok sjá ekki fleira af). Die Riesin stimmt zu, wenn auch unter einer weiteren Bedingung: Sie fordert, zum Lachen gebracht zu werden. Und als sie nun, wie es heißt, unter den verhüllten Kandidaten die sehr schönen Füße eines Mannes erblickt, ist für sie die Sache klar: „Den wähle ich, so wenig Häßliches kann nur Balder haben“ (þenna kýs ek, fátt mun ljótt á Baldri). Aber sie hat sich geirrt, bis heute zur Überraschung aller scheinen ausgerechnet Njǫrðr von Nóatún die schönsten aller Füße zu gehören.²⁹⁷ Und es gelingt sogar, die, man möchte meinen, nun wirklich nicht mehr zum Lachen aufgelegte Riesin zu erheitern. Wieder ist es Loki, der sich buchstäblich für nichts zu schade ist. Durch ein grotesk obszönes Arrangement, in dem der Bart einer Ziege und sein Hoden schmerzhaft miteinander verzurrt werden, schafft er es, die Riesin vom Dreinschlagen abzuhalten, sie lacht und scheint im Lachen besänftigt. Dann wirft er sich in Skaðis Schoß, was man, dem derb sexualisierten Kontext geschuldet, gleichermaßen als Anzüglichkeit interpretieren wollte. Und auch Odin trägt das Seine zur Wiedergutmachung bei, er wirft die Augen Þjazis an den Himmel, so dass daraus zwei Sterne werden, unvermittelt wird auf diese Weise aus der Brautwerbung noch ein astronomisches Aition. Nun scheint aber gerade jener Teil des Þjazi-Mythos, der Raub der Iðunn (der bis dato als wenn auch verhängnisvoll, aber eben nur als Vorgeschichte dieser Episode betrachtet wurde) wohl bedeutend enger auf die darauffolgenden Ereignisse bezogen zu sein, ja man muss wohl von einer tiefen, strukturellen Kongruenz ausgehen. Das heißt, der Raub der Iðunn und Skaðis ‚Bräutigamschauʻ gehören auf einer gewissen, strukturellen Ebene zusammen bzw. referieren auf eine einzige mythische Vorstellung. Selbst die ‚Augen des Þjaziʻ, im Norden kaum mehr Mythensplitter zur Entstehung eines Sternbilds, finden darin ihren Platz. In der Etymologie seines Namens wird (unter anderem) ein Lallwort vermutet, „Väterchen“,²⁹⁸ was hier im Weiteren zwar nicht unterstützt wird, zumindest aber zur mythischen Situation passen würde, in der nie von einer Mutter der Skaði die Rede ist. Sie lebt bis zum Totschlag des Vaters mit ihm allein in Þrymheimr – wenn wir freilich vom (zeitweiligen) Aufenthalt der Iðunn absehen: Snorri berichtet ausführlich vom Raub Iðunns samt ihrer ‚Unsterblichkeitsäpfelʻ und über die unselige Rolle, die Loki darin spielt: In jenen Urtagen, zu
Eher unwahrscheinlich mutet hier die Erklärung Lois Braggs an: Njǫrðr (den sie für einen Seegott halten möchte) sei aus Unwissenheit Skaðis über dessen reale Lebensumstände zur ersten Wahl geworden. Skaði sei als „mountain girl“ (Bragg 2004, S. 84) die See fremd. Entsprechend habe sie auch keine Erfahrung mit Schwimmen oder Schwimmern und wisse auch nicht, dass Menschen, die viel Zeit im Wasser verbrächten und entsprechend keine Schuhe (oder, offenbar orthopädisch noch ungünstiger, Schier oder Schneeschuhe) trügen, keine Fußverunstaltungen aufwiesen (vgl. Bragg 2004, S. 84). *teteso, siehe etwa ai. tatas „Vater“ (an. etym. Wb 1962, „Þjazi“).
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Beginn der Zeit, als Loki mit seinen Wandergefährten Odin und Hœnir durch die Lande zieht, gerät er mit dem Riesen Þjazi (in Gestalt eines Adlers) aneinander, um sein nacktes Leben zu retten, verspricht er, Iðunn in dessen Gewalt zu bringen. Ohne ihre lebensspendenden Äpfel altern die Götter indes unausweichlich und drohen zu sterben.²⁹⁹ Schließlich gelingt es, Iðunn zurückzubringen, bei ihrer Verfolgung wird der Riese von den Asen erschlagen (Skáldsk 1). Nun ist Iðunn ihrerseits eine sehr selten erwähnte Göttin, immerhin aber erscheint sie bereits in der Haustlǫng des Þjóðólfr ór Hvini (um 900), auf die sich Snorri in weiten Teilen stützt, aber er scheint noch weitere, uns unbekannte Quellen benutzt zu haben. Möglicherweise, so die Vermutung, ließ er sich von Erzählmotiven des klassischen Altertums beeinflussen, z. B. vom Mythos der Hesperidenäpfel, wenngleich dermaßen Beeinflussungen auch schon wesentlich früher, in der vorliterarischen Zeit geschehen sein könnten.³⁰⁰ Es sei schließlich nicht einmal ganz klar, so Bernhard Meier, „ob die von Snorri erwähnten Äpfel der I[ðunn] einen integralen Bestandteil dieser Gesch[ichte] bildeten,“ gelte doch Iðunn in der Haustlǫng lediglich als „,die, welche das Altersheilmittel der Götter kannteʻ (þá er ellilyf ása… kunni)“, und von Äpfeln sei dabei nicht die Rede.³⁰¹ Iðunns Name wird üblicherweise zu an. ið- „erneut“ gestellt (siehe lat. et; iterum; griech. ἔτι), was als „die Erneuernde, die Verjüngende“ gelesen wird.³⁰² Hierher gehört aber auch an. iða „Gegenströmung“, ne. eddy „Stromwirbel“, „Strudel“³⁰³: „The water that by some interruption in its course, runs contrary to the direction of the tide or current […]; a circular motion in water, a small whirlpool,“³⁰⁴ also eine Semantik des ‚wieder und wieder oder unablässig Strömens oder Wirbelnsʻ. Hans Jänichen verweist auf die germanischen Runeninschriften ida, idun, idorih, die er als „runische Beschwörungen“ lesen möchte etwa in der Bedeutung „voll Unsterblichkeit, reich an ewigem Leben, an Lebenskraft“, die „die Träger der Runendenkmäler mit Lebenskraft zu füllen [hätten]“.³⁰⁵ Auffallend sei dabei die ungewöhnlich häufige Kombination mit Begriffen wie leob, leub („lieb, angenehm“; carus, dilectus). Er vermutet darin einen Die Äpfel würden in der Forschung meist eher pauschal als „fertility symbols“ abgehandelt, so Bragg, und so sehe auch Clunies Ross diese als Symbol der Zeugungsfähigkeit und Fortpflanzungsfähigkeit der Asengötter. Aber gerade diesen Aspekt sieht Bragg hier skeptisch: „Idun’s apples cannot ‚symbolize … procreative powerʻ: „eternal youth is the alternative to, and thus obviates, sexual procreation“ (Bragg 2004, S. 84). Die Gewährung ewiger Jugend sei also grundsätzlich ein ganz anderes Konzept und könne damit keineswegs einfach gleichgesetzt werden. Dem wollen wir unbedingt zustimmen, am wenigsten aber ihrer weiteren Idee, dass die Asen gerade deshalb die Äpfel zurückhaben wollten, um ihre Frauen nicht der sexuellen Reproduktion aussetzen zu müssen. So hätten sie also Skaði dieses Heiratsangebot gemacht, um der Riesin die Aufgabe der Fortpflanzung überlassen zu können. Ihre eigenen Frauen aber wollten sie steril halten, „so that the desired stasis of perpetual youth will not be disturbed and the established pantheon not disrupted“ (Bragg 2004, S. 84). Vgl. Lex.Simek 2006, „Idun“, S. 218. Vgl. Maier 2000, S. 332. Vgl. Maier 2000, S. 322. an. etym. Wb 1962, „iða“. OED online, „eddy“. Jänichen 1951, S. 229.
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Effekt christlichen Synkretismus, da schließlich gerade hier ‚Liebeʻ und ‚Unsterblichkeitʻ zentrale Begriffe seien.³⁰⁶ Wir können die Wahrscheinlichkeit einer solchen christlichen Einflussnahme an dieser Stelle kaum abschätzen, sie wird gering genug sein, tatsächlich aber könnte Jänichens Vermutung einer engen Bezogenheit dieser Formelwörter in einem paganen Denkmodell um einiges plausibler gemacht werden. Dazu müssen allerdings die buntgewürfelten Elemente von Balders ‚Fast-Hochzeitʻ einschließlich deren Vorgeschichte in einem neuen Licht betrachtet werden, insbesondere wenn wir mittlerweile davon ausgehen müssen, dass sowohl der BeinaheEhemann wie auch der letztendliche Ehemann Skaðis Tote sind. Njǫrðr ist nur in der Erzähllogik buchstäblich zweite Wahl, in seiner ursprünglichen Konzeptionierung entspricht er in jeder Hinsicht der Balders: Sie sind beide (tote) Ahnengottheiten, und mit Skaði erfolgt jene (ob historische oder ideologische) Akkulturation zweier Systeme, wie wir sie auf andere Weise bereits im so genannten Asen-Vanen-Krieg kennen gelernt haben: Die Integration der Toten als wichtige Etappe in der Fundierung eines Systems. Das wütende Heranstürmen der Skaði aus ihrer Bergwelt, der járnviðja („‚die im Eisenwald wohntʻ, d. h. im dunklen Urwald“³⁰⁷), erinnert an die empörte Hera, die sich, nachdem sie von Zeus schwer beleidigt worden war, in den Bergen verborgen hält und durch den noch größeren Affront einer vorgeblich erneuten Hochzeit ihres Ehemanns herauslocken lässt. Auch in diesem Kontext erweist sich der Hochzeitspartner respektive -partnerin als falsch, als Substitut. Und wenn Reminiszenzen an den antiken Hesperiden-Mythos in der Vorgeschichte mehr als wahrscheinlich sind, so könnte auch mit einigem Recht an den Heramythos als weiteres narratives Vorbild gedacht werden. Natürlich ist die Erzähllogik im griechischen Mythos eine andere, aber gerade hier geht es um die schwierige Umwandlung ritueller Plausibilität in narrative. Hera wie Skaði sehen sich unvermittelt mit verhüllten Gestalten, deren wahre Identität sie nicht erkennen können, konfrontiert. Im griechischen Mythos ist es expressis verbis eine Holzfigur, eine in Holz materialisierte Ahnenfigur, in der ursprünglich die tote Ahnin Hera selbst vermutet werden muss, die Erzahnin der Argiver. Die so genannte Scheinhochzeit ist eine rituelle Hochzeit, eine Totenhochzeit. Noch beim mittelalterlichen Rezipienten mussten die stillen, passiven, verhüllten, barfüßigen Gestalten eine ganz ähnliche Vorstellung evozieren. Kaum anders erscheinen die ,nachgeahmten Leichenʻ in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Leichenspielen: Mit einem Schnupftüchlein übers Gesicht gezogen, heißt es dort, „welches gar abscheulich zuzusehen, weil sich dieser kerl im geringsten nit regte, sondern eben wie sie ihme die glieder richteten, also gleichsam erstarrt dastund.“³⁰⁸ Und diese Präparierungen sind erst der Beginn einer langen Reihe von ‚Obszönitätenʻ und ‚Geschmacklosigkeitenʻ, allesamt mit dem Ziel Normativität zu erschüttern und
Vgl. Jänichen 1951, S. 229. Dillmann 2005, S. 546. Ujváry 1966, S. 267.
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zu brechen. Lokis Handeln fügt sich hier nahtlos ein: Das Lachen der Erbitterten ist hier wie da zwingend notwendig. Nun aber macht Lokis Verhalten nicht den Eindruck eines Kopulationsgestus. Gerade der Abschluss wirkt eher wie eine Unterwerfungsgeste, ein typisches ,sich Kleinmachenʻ, das auf die körperliche Bezugsebene zwischen Kleinkind und Mutter referiert. Und tatsächlich erscheint Lokis Gebärde als Zeigegestus, hochformalisiert und ritualisiert, in frühen mittelalterlichen Rechtskontexten. Hier kennt man den so genannten ,Schoßwurfʻ (auch ‚Schoßfallʻ oder ‚Schoßsetzungʻ bzw. die bedeutungsähnliche Geste der ‚Affatomieʻ). Damit wird ein förmliches Adoptionsverfahren ausgewiesen, das Verfahren der „Ankindung“ oder „Annahme an Sohnes statt“.³⁰⁹ Loki erheischt von Skaði also eine Art Ansippung und damit gleichzeitig eine formale Aufnahme in ihren Familienverband. Die Szene erscheint damit recht eigentlich als Motivdoppelung zu der vorausgegangenen Hochzeitswerbung. Adoption wie Einheirat zielen auf eine rechtswirksame Versippung der ‚Kontrahentenʻ ab, beides gängige mittelalterliche Mittel zur Abweisung einer Gewalteskalation. Die simulierte Entmannung mag dabei Klimax in einer Reihe von Unterwerfungs- oder Demutsgesten sein, insbesondere aber verweist sie auf die besondere Eigenart der neuen Verwandtschaft: Durch den (gespielten) Kastrationsakt macht sich Loki einem Toten gleich. Tatsächlich ist im volkstümlichen Wissen Lokis Arrangement gut bekannt als aberwitziges Setting, als eine Art Schildbürgerstreich, der nicht nur grotesk komisch, sondern tödlich für alle Beteiligten endet. So dichtet Halli, ein Skalde am Hofe des Königs Harald, gleichwohl selbst aus kleinsten, bäuerlichen Verhältnissen, seinem Skalden-Konkurrenten Þjóðólfr ein populäres Märchen- oder Folkloremotiv an, um ihn zu diffamieren: Þjóðólfs Vater, Þorljótr, soll ein merkwürdiges Schicksal ereilt haben: Þorljótr soll ein Kalb mit einer Schlinge um den Hals heimgeführt haben, indem er gleichzeitig, töricht genug, die Schlinge auch um seinen eigenen Hals gelegt haben soll. Bei dem Versuch, das Kalb über die Scheunenwand zu heben, erhängen sich beide, Tier wie Mensch, diesseits und jenseits der Wand.³¹⁰ Die grenzenlose Dummheit des Bauern wird also zu seinem verdienten, tödlichen Verhängnis und wird entsprechend von der Gemeinschaft mit Schadenfreude, mit Lachen quittiert: Es ist in diesem Sinne gewiss die dümmste, lachhafteste Art zu sterben, der mittelalterliche Zuhörer weiß indes auch, eine sichere. Loki scheint vor Balders ,todernstemʻ Zustand
Siehe Schmidt-Wiegand 2010 ff.: „Die „Ankindung“ oder „Annahme an Sohnes statt“ ist ein förmliches, adoptionsähnliches Verfahren […] des frk. Rechts […]. Die mlat. Bezeichnungen adfathimire v., affatomia f., affatimus sind auf germ. *atfaþmian „umarmen“ zu an. faðmr „Umfassung, […] Umarmung, Busen, Schoß, Faden“, as. fædm, as. faðmos etc. zurückzuführen und spiegeln die rechtsrituelle Gestik (Umarmung, Schoßsetzung […] Schoßfall, […] Schoßwurf […]) wider.“ Siehe Sneglu-Halla þáttr, Kap. 6 (Jónas Kristjánsson [Hg.] 1956a).Vgl. Turco 2015, S. 199: „Thorljot’s bizarre, equilibristic hanging death conjures the image of a balance or scale, with the father on one side and the calf on the other, imputing on him the same dump, animal nature as the beast whose fate he shares.“
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am wenigsten Respekt zu zeigen, er äfft ihn nach, aber er macht sich ihm damit auch (wie sich noch zeigen wird auf verhängnisvolle Weise) gleich.³¹¹ Wer sind nun aber diese weiblichen mythischen Wesen am Hofe Þjazis, die eine solche Macht über Asen wie Vanen, die lebenden wie toten Götter besitzen? Der Verlust bzw. Unverfügbarkeit der fürsorglichen, nährenden Iðunn wäre sie schließlich kaum weniger teuer zu stehen gekommen wie der Zorn des Mannweibs Skaði. Snorri scheint den Hinweis des Þjóðólfr ór Hvini, mey þás er ellilyf ása kunni („die Jungfrau, die das Altersheilmittel der Asen kannte“) als ‚Äpfelʻ verstanden zu haben, in die man ausdrücklich ‚hineinbeißenʻ kann. Aber schon in der frühesten Nennung wirkt die Göttin eher flüssigkeitsaffin, sie wird als diejenige verstanden, die eine (sprudelnde) Flüssigkeit zur Verfügung stellen kann, ‚Herrinʻ darüber ist: Sér bað sagna hrœri / sorgœran mey fœra, / þáer ellilyf ása, / áttrunnr Hymis, kunni; / Brunnakrs of kom bekkjar / Brísings goða dísi / girðiþjófr í garða / grjót-Níðaðar síðan (Þjóð Haustl. 9). („Hymirs Verwandter bat den schmerzgepeinigten Führer der Schar, / ihm die Jungfrau zu bringen, die das Altersheilmittel der Asen kannte; / der Götter Brisings Gürteldieb brachte dann die Dise der / Bänke des Quellenackers zum Hof des Stein-Niduds.“ [Skáldsk 22]).
North et al. verstehen Iðunn entsprechend als „lady of the brook / Of the well-spring’s cornfield“, (wobei mit „well-spring’s cornfield“ die ‚Welleʻ (unnr) gemeint sei, dessen „brook“ eben jener ‚Strudelʻ („eddy“, „iða“), woraus sich ihr Name ableite.³¹² Dazu passt, dass Loki gerade hier mit der Kenning Brísings girðiþjófr belegt wird, der „Gürteldieb des Brisings“, worin wir bereits die Mythenabbreviatur des Diebstahls des Heimdallr-Horns vermutet haben, ein Flüssigkeitsbehälter, aus dem unendlicher, unversieglicher Reichtum hervorsprudelt. Nun ist immerhin auffallend, dass ausgerechnet einer der Brüder Þjazis mit dem gleichen Namen belegt wird wie dessen (weibliche) Raubbeute: Iði. Das wird kaum der „Fleißige“ sein (wie etwa vorgeschlagen), vielmehr im gleichen Wortsinn der „Sprudelnde“, der „Wirbelnde“. Schließlich gehört auch der dritte Bruder, Gangr, „der sich bewegt“, in diesen Sinnbezirk. Siehe etwa das mhd. Kompositum itwæge („Flut“, „Strudel“),³¹³ wo in einem Begriff zusammengefasst ist, was im Norden auf zwei mythische Wesenheiten aufgeteilt erscheint. Aber auch in Þjazis Namen selbst wird
Auch Turco verweist auf die engen Verbindungen zwischen Lokis bizarrer Darbietung und dem unglücklichen Tod des Bäuerleins (vgl. Turco 2015, S. 206), wobei aber seine Einschätzung, dass Lokis Abenteuer immerhin lustig sei, weil niemand zu Schaden komme, Þjóðólfs Vater indessen mit dem Leben bezahlen müsse, vielleicht nicht ganz den Punkt trifft. Der mittelalterliche Rezipient empfand wohl auch die tödliche Dummheit Þorljóts (als literarisches Motiv) nicht bedauernswert, sondern wahrscheinlich auf gleiche Weise amüsant und komisch. Weniger überzeugend ist auch seine Einschätzung der Rolle Lokis als eine Art Mediator zwischen Tier und Mensch, in der Þjóðólfs Vater versagt habe („a failed ,mediationʻ“ [Turco 2015, S. 206]). Im Mittelpunkt steht wohl eher das populäre Evokationspotenzial dieses Motivs: der lachhafte Tod. Vgl. North et al. 2011, S. 551. Zu mhd. bewegen (< idg. *wegh). Siehe mhd. wâc, ahd. wēg, „Woge“ (vgl. Kluge/Seebold 2002, „Woge“).
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schon lange die Entsprechung zu einem Wassergott vermutet, zum samischen Tjaetsi(ålmai) < finn. tjatse „Wasser“.³¹⁴ Die Brüder-Dreiheit (wenn nicht ursprünglich ohnehin als Einheit) bezeichnet also einen Wasserkomplex. Der enigmatische Mythensplitter, dass die drei Riesen-Brüder sich ihr Vatererbe durch jeweils einen Mundvoll Gold aufteilten (was in der Skaldik als eine offenbar noch gut bekannte Mythenabbreviatur für Gold erscheint, siehe Skáldsk 1; Skáldsk 32), findet dann eine zwanglose Erklärung: Wie Heimdallr trägt der Urfluss (bzw. seine Dreiheit), den man sich hoch im Norden, im Land der Samen vorstellte, das ‚Geröll der Erde‘ als Gold im Mund.³¹⁵ Es mochte also der schon früh finnisierte Vater gewesen sein, der Skaðis Entwicklung zu einer Ǫndurdís („Dise der Schneeschuhe“), zu einer ‚Göttin der Jagd‘ zumindest unterstützte, aber ursprünglich ist auch bei ihr weder diese Funktion noch Wesenheit.³¹⁶ Auf diese Weise wurde ihre Verbindung zum ‚Seegottʻ Njǫrðr sub specie ihrer allzu finnischen Natur zur Mesalliance ausgebaut und anschlussfähig gemacht an typische, überkulturelle Elemente eines Gründungsmythos, an den Denkrahmen einer Inkompatibilität, einer Verbindung, die aus den unterschiedlichsten Gründen einen Affront darstellt für die normale, natürliche Ordnung. Dieses Erzählmodul lässt sich bis ins ferne Japan verfolgen und ist keineswegs spezifisch für die samische (oder nordische) Ethnie.³¹⁷ Andererseits ist es kein Zufall, dass ihr Name eine auffallende Ähnlichkeit zum Namen ,Skandinavien‘ selbst zeigt. ,Skaði‘ ist dessen eponyme Gründermutter. Siehe die früheste Nennung bei Plinius als Scadinavia bzw. Scatinavia (nat. hist. 4, 96), womit ursprünglich wohl nur die äußerste südwestliche Halbinsel Schonen (mit Skanör) bezeichnet worden sein dürfte.³¹⁸ Eine u. a. vorgeschlagene
Vgl. Kusmenko 2011, S. 362. Der Zusammenhang mit dem finnischen Wasserwort sei seit dem 19. Jh. diskutiert worden und könne inzwischen auch formal gut begründet werden (ganz im Gegensatz zu den vorgeschlagenen idg. Anschlüssen) (vgl. Kusmenko 2011, S. 361). Tjaetsi-ålmai (‚Wasser-mann‘) sei häufig in Gestalt einer Steinformation am Wasser verehrt worden, so Kusmenko, was die Skandinavier möglicherweise als die Verehrung eines Bergriesen interpretiert hätten (vgl. Kusmenko 2011, S. 368 f.). Siehe deren Vater Alvaldi, der „Allgewaltige“ (Hrbl 19), von Snorri wohl nicht mehr richtig verstanden als Ǫlvaldi, der „Bierverwalter“, allerdings mit dem an das Heimdallr-Epitethon erinnernde mjǫk gullauðigr, „sehr reich an Gold“ (Skáldsk 1), umschrieben. Allein ihr Beiname scír brúðr goða („die strahlende Braut der Götter“, Grm 11) wirkt merkwürdig unpassend für eine vorgebliche Jägerin und ,Schneeschuhdise‘. Siehe den japanischen Gründungsmythos von Prinz Bergglück und Prinz Meerglück, dem ungleichen Brüderpaar. Der ältere Bruder, Hoderi no mikoto, ist ein Fischer, der jüngere, Howori no mikoto, „geht mit Pfeil und Bogen auf die Jagd“. Als sie eines Tages beschließen, ihre Positionen zu tauschen, ist dies am wenigsten von Erfolg gekrönt (vgl. Naumann 1996b, S. 233). Auf heimtückische Weise (aber ebenso mit göttlicher Hilfe) wird der ältere Bruder vom jüngeren übervorteilt, der Jüngere nimmt sich dessen Rechte als Erstgeborener und etabliert den von da an ‚natürlichen‘ Status quo (vgl. Naumann 1996b, S. 233 – 41). Auf ganz ähnliche Weise ist der Tausch zweier unverrückbarer, existenzieller Lebensweisen im Norden zum Scheitern verurteilt, Skaði zieht sich zurück in ihre eisige Bergwelt, wenn sie auch damit ihre Gründermutterfunktion keineswegs aufgibt. Vielmehr zeugt sie zusammen mit Odin noch zahlreiche weitere Söhne, wie es heißt (Ynglinga saga, Kap. 9). Vgl. Nyman 2005, S. 583.
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Etymologie zu lat. scadus „Schatten“³¹⁹ findet entsprechend keine natürliche Begründung in den klimatischen, geographischen Gegebenheiten.³²⁰ Kaum plausibler scheint die Erklärung als ‚gefährliche oder schädliche Insel‘, ausgehend von der präsumtiven Bedeutung des Göttinnennamens Skaði als „Schädiger“ (ein formales Maskulinum), wenn auch für einen Teil der Forschung offenbar durchaus denkbar.³²¹ Aber Skaði, das wütend heranstürmende Mannweib aus den Bergen, aus Þrymsheimr („Donnerheim“), trägt den Beinamen mǫrn ³²² und ausgerechnet zusammen mit Heimdallr bildet sie eine Loki-Kenning: þrætudólgr Heimdalar ok Skaða (Skáldsk 16) („Zwistfeind Heimdalls und Skadis“). In Anbetracht dieser stark aquatischen Bezüge wird man nun wohl eine Anschlussmöglichkeit in Erwägung ziehen müssen, die bisher kaum einmal diskutiert wurde: lat. scatō „quelle hervor“, scaturriō „sprudle hervor“, dazu scatebra, poet. scatebrae, der „Sprudel“, „die hervorsprudelnde Wassermasse“.³²³ Es ist exakt die Bedeutung, wie wir sie bereits für die Eigennamen Iðunn und Iði beschrieben haben. Darüber hinaus wird nun verständlich, warum in der antiken Toponymie neben den unterschiedlichen Versionen für die Bezeichnung Skandinaviens der Name Gangavia (andere Lesart gangalia, gangraina)³²⁴ erscheint in identischer (formaler) Bildungsweise.³²⁵ Die mythische Referenz, offenbar synonym verstanden, ist der männliche Fluss(riese) Gangr. Iðunn, die gütige Nährende, und Skaði, die wütende Hochzeiterin, sind Urflüsse in ihrer jeweils spezifischen mythischen Ausprägung wie rituellen Funktion der Jenseitsgeleiterinnen. Tatsächlich werden in deren Mythen älteste Vorstellungen der indogermanischen Kosmogonie, Astralmythen verarbeitet, die wiederum einen wichtigen Referenzrahmen für rituelles Handeln liefern, im Norden überlagert durch zahlreiche (auch nichtindogermanische) Neusemantisierungen, Aktualisierungen. Die Grundidee freilich, die mythische Verbindung eines Sternbilds ‒ der Milchstraße ‒ mit der Vorstellung eines strudelnden Flusses, der gleichzeitig in der Funktion des Erneuerers, der Erneuerin auch und gerade der Toten erscheint, ist noch bewahrt. Die (noch ungestörte) mythische Vorlage findet sich im Altindischen. Tatsächlich erscheint hier die Milchstraße als ein Fluss, es ist kein geringerer als der Ganges selbst, der ,heilige Fluss‘. Wenn auch hier nicht immer eindeutig entschieden, so ist der Ganges doch zunächst weiblich: Gaṅgā Mātā „Mutter Gaṅgā“ (< sanskr. *gam „to go,
an. etym. Wb 1962, „skaði“. Vgl. Nyman 2005, S. 583. „Wenn man die Namen Scadinavia, Skåne und Skanör gemeinsam betrachtet, scheint die Erklärung von *Skaðīnaujō als ,die gefährliche Insel/Halbinsel‘ und *Skaðīnauriō als ,die gefährliche Sandbank‘ sprachlich annehmbar und sachlich sehr ansprechend“ (Nyman 2005, S. 583). In der Haustlǫng ist Þjazi faðir morna (6) und faðir mornar (12). Walde/Hofm. 1965 – 1972, „scatō“. Dazu Scantia: „silva in Campania, ubi Scantiae aquae, ignem vomentes“ (Plin., nat. hist. 1, 2, Kap. 107). Vgl. Grünzweig 2014, S. 293. „Dem lat. Scadinavia liegt eine germ. Wortbildung zugrunde, und zwar eine Zusammensetzung, deren Zweitglied -avia germ. *awī/*aujō fem. wiedergibt, das in dt. Aue, awnord. ey, aschwed. und adän. ø ,Land am Wasser; Halbinsel; Insel‘ vorliegt“ (Nyman 2005, S. 583).
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move“).³²⁶ Im genauen Wortsinn bedeutet dies „swift-goer“,³²⁷ der/die ‚rasch Dahinfließende, Stürmende‘ ‒ formal wie inhaltlich entspricht das dem nordischen Gangr. Und auch die Abstammung der Gaṅgā ist mit eisiger Kälte verbunden. Sie ist die Tochter des Himavat („having frost or snow, snowy, frosty, icy, snow-clad“),³²⁸ die göttliche Personifikation des Himalajagebirges. Gaṅgā gilt als „the child of the mountain“.³²⁹ Zunächst aber gehört sie noch nicht in diese Welt, sie zieht ihre Kreise am Himmel, sie ist die himmlische Gaṅgā, genannt Mandākinī, die „Milchstraße“. Nun weiß der altindische Mythos allerdings davon zu berichten, wie einst der Fluss für einen ganz besonderen Zweck zur Erde geholt werden musste, eine Episode, die unter dem Namen „Herabkunft der Gaṅgā“ (Gaṅgādhara mūrti) bekannt ist und wohl am tiefsten mit dem Verständnis ihres mythischen Wesens wie ihrer rituellen Funktion verbunden ist³³⁰: Nach Jahren der Kinderlosigkeit begibt sich der König Sagara („Ozean“) zum Berg Kailasa im Himalaja, um dort mit seinen beiden Frauen um einen Sohn zu beten. Der Wunsch wird erfüllt, wenn auch zunächst in ungewöhnlicher Form: Eine der Frauen gebiert ihm den ersehnten Sohn, die andere indes einen Kürbis, gefüllt mit 60.000 Samen. Diese werden nun gleichermaßen sorgfältig aufgezogen und daraus entstehen weitere 60.000 Söhne. Als der König eines Tages das Pferdeopfer (aśvamedha) vollziehen will, stehlen ihm die Götter das wertvolle Opferobjekt (um einen gefährlichen Machtzuwachs zu verhindern) und verbergen es beim ṛṣi („Asket“, „Weiser“) Kapila. Als die 60.000 Söhne schließlich nach langer Suche bei Kapila fündig werden und diesen (ungerechtfertigt) des Diebstahls beschuldigen, verbrennt er sie durch einen einzigen tödlichen Strahl aus seinen Augen zu Asche. Aber nicht genug damit, da nun die gebührenden Totenriten nicht vollzogen werden können, ist den Söhnen der Eintritt in die Ahnenwelt verwehrt, fortan sind sie verdammt zum ruhelosen Umherschweifen auf der Erde. Nur durch die heiligen Wasser der Gaṅgā könnte Abhilfe geschaffen werden, aber dafür muss sie vom Himmel auf die Erde geholt werden. Ein durchaus nicht einfaches Unterfangen, da die ungebremste, maßlose Wucht ihrer Fluten, die Erde zerstört hätte. Als schließlich durch strengste Askeseübungen dem ṛṣi Bhagīratha der Wunsch von den Göttern gewährt wird, stellt sich der Gott Śiva zur Verfügung, den Aufprall der Wasserfluten auf seinem Kopf abzufangen und dermaßen abgemildert über die Strähnen seiner Haarflechten auf die Erde zu leiten. Zunächst macht freilich bereits seine Aufforderung zur Herabkunft Ganga maßlos wütend: Himálaya’s child, adored of all, / The haughty mandate heard, / And her proud bosom, at the call, / With furious wrath was stirred. / Down from her channel in the skies / With awful might she sped / With a giant’s rush, in a giant’s size. / On Śiva’s holy head. / „He calls me,“ in her wrath she
Monier-Williams et al. 1899, „gam“, S. 346. Stutley und Stutley 1977, „Gaṅgā“, S. 93. Monier-Williams et al. 1899, „himá-vat“, S. 1299. Darian 2001, S. 13. Vgl. Darian 2001, S. 17.
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cried, / „And all my flood shall sweep / And whirl him in its whelming tide / To hell’s profoundest deep.“³³¹
Aber tatsächlich gelingt der Plan: No way to earth she found, ashamed, / Though long and sore she strove, / Condemned, until her pride were tamed, / Amid his locks to rove.³³²
Auf diese Weise letztendlich gezähmt entlässt Śiva die Flussgöttin in ihren Lauf, und unter der Leitung des Weisen Bhagīratha folgt sie ihm durch die Berge, durch die Ebenen, bis zum Meer, zu Kapila, wo schließlich die Asche der toten Brüder rituell gereinigt und deren Seelen erlöst zum Himmel fahren können: Over his kinsmen’s dust the lord / His funeral libation poured. / Soon as the flood their dust bedewed, / Their spirits gained beatitude, / And all in heavenly bodies dressed / Rose to the skies’ eternal rest.³³³
Bis heute gehöre entsprechend „die Reinigung der Totenasche zu den wichtigsten Funktionen der Gaṅgā,“ so Angelika Malinar, die Gaṅgā sei ein „Totenfluss, der die Toten in die Himmelswelten der Ahnen führt, indem sie die Asche der Toten reinigt und sie so für die Jenseitswelt präpariert.“³³⁴ Die Übereinstimmungen zur nordischen Skaði sind augenfällig, nicht nur was die rein äußerlichen Bedingtheiten anbelangt, deren durchgehende Assoziation (gerade auch ihres Vaters) mit Schnee und Eis. Dies schien prima facie die Vorstellung einer ǫnduráss, „Schigöttin“, zu stützen, aber nicht einmal in dieser gewiss sekundären Interpretation ist sie funktionelle ‚Göttin der Jagd‘, vielmehr ihrerseits Teil eines Astralmythos. Die Milchstraße kennt man im Norden (unter anderem) unter dem Namen vetrar-braut „Winterstraße“.³³⁵ Die sibirischen Volksstämme, darunter die Finnen und Samen, erklären das Sternbild des Orion als Bogenjäger, der im Winter auf Schneeschuhen oder Skiern jage. Dessen Spuren im Schnee erschienen am Himmel als Milchstraße.³³⁶ Zunächst aber ist auch Skaði die wüst tobende Flussriesin, die mǫrn, die mit allen Mitteln zur Räson gebracht werden muss, gezähmt werden muss, geneigt gemacht werden muss, um sie für eine der wichtigsten kultischen Aufgaben, die die Indogermania kennt, nutzbar zu machen: die Totenfürsorge. Man mag auch im
Griffith [Übers.] 1870–1874, S. 54: The Descent of Gangà (Kap. 44). Griffith [Übers.] 1870–1874, S. 55: The Descent of Gangà (Kap. 44). Griffith [Übers.] 1870–1874, S. 56: The Descent of Gangà (Kap. 44). Malinar 2004. „[V]etrar-braut, n. a winter-road, in winter time, […] Gest. Dan. saying, ‚vise en vinter-vejen,ʻ to shew one the winter-way, i. e. leave one in the cold. 2. astron. the milky way, in Icel. called vetrar-braut, undoubtedly from old heathen times, although the word happens not to occur in old writers“ (Cleasby/ Vigf. 1874, „vetr“). Vgl. Nordberg 2006, S. 407 f.
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‚Haartrick‘ Śivas (neben der naturalistischen Vorstellung der Bergwelt des Himalajas, durch die sich die Quellbäche des Ganges schlängeln müssen) einen Knotenzauber vermuten, der Sturm wie Wassermassen magisch zu binden vermag. Im Norden sind diese Bändigungsmechanismen durch folkloristische, ‚märchenhafte‘ Motive abgelöst worden, etwa durch den Motivkomplex der schwierigen Brautwerbung. Das Lachmotiv erscheint so häufig im Zusammenhang mit ausdrücklich Meermännern, dass das ‚Lachen des Meermanns‘ nachgerade sprichwörtlich geworden ist in der isländischen Märchenliteratur.³³⁷ Skaðis merkwürdiger Geschlechterwechsel (oder Unentschiedenheit) findet darin seine Entsprechung.³³⁸ Und in Motivdoppelung zur Aufspaltung der Brüder des Þjazi, die freilich kaum mehr in den Namen (Iði und Gangr) eines ansonsten vergessenen Mythos aufscheinen,³³⁹ zeigt sich der Mythos auch in der weiblichen Version der Skaði/Iðunn-Erzählung als zweigeteilt. Im Altindischen hingegen wird die (kultische) Nutzbarmachung des Flusses als Transformation dargestellt von den unbeherrschbaren Wasserfluten der Himmelstochter hin zur nähernden, expressis verbis milchgebenden Gaṅgā Mātā: „Die Ganga ist die Amme für die gesamte Welt“.³⁴⁰ Das Wasser des Ganges sei so nahrhaft wie Muttermilch, heißt es im Mahābhārata (13, 27, 48 – 52), wie hungrige Kinder würden die Menschen nach dieser Milch verlangen.³⁴¹ Im Norden wird diese Funktion auf Iðunn übertragen, sie ist nun diejenige, die das nordische amṛta, das ellilyf ása, das Lebenswasser für die Asen, zur Verfügung stellen kann, keine Äpfel also, sondern eine Flüssigkeit – Milch. Eine ferne (pervertierte) Reminiszenz der Funktion der Totennahrung scheint auch im Norden noch auf, wieder einmal ist es Loki, der in seiner unerträglichen Schmähsucht trotz aller Impertinenz die Wahrheit spricht. Über Njǫrðr spottet er: Hymis meyiar hǫfðo þic at hlandtrogi oc þér í munn migo („Hymirs Töchter hatten dich als Urintopf und pissten dir in den Mund“ [Ls 34]). Die Vorstellung des Flusswassers Siehe Cleasby/Vigf. 1874, „mar-mennill“: „a ,sea-mannikin‘, a kind of sea goblin or sea dwarf […]. Inseparable from these tales is the merman’s ,laughter‘, he generally laughs thrice, e. g. the king kisses the queen, beats his dog, and stumbles over and curses the mound, at each of which the merman laughs; and being asked why, he says that he laughs at the king’s foolishness, for the queen is false, but the dog is true and will save his life, and in the mound there is a hidden treasure; hence, þá hló marbendill, then the merman laughed, has in Icel. become proverbial of a sudden, unreasonable, and spiteful fit of laughter“ (Cleasby/Vigf. 1874, „mar-mennill“). Insbesondere aber wirft es ein ganz neues Licht auf Lokis Ziegenbart-Hoden-Spiel. In diesem neuen Wissensrahmen ließe es sich als Mythenkondensat der Ereignisse der Þrymskviða lesen, als gehässige Anspielung wie magische Wiederholung eben jenes Zähmungsakts, dem sich Thor wie Heimdallr ganz unfreiwillig unterwerfen mussten: Thors ureigenstem ‚Wappentier‘, der Ziege, wird der Bart gestutzt, was mit einer gleichermaßen schmerzhaften Manipulation, ja Kastration der Geschlechtsteile verbunden ist. Thor, der Windmacher, wie Heimdallr, das brausende Meer, müssen sich dadurch geschlagen geben (siehe Kap. 3.7). Immerhin aber scheint Gangr als mutmaßlicher Flussgott einst so wichtig gewesen zu sein, dass er als eponymer Namengeber (Gangavia) gleichberechtigt neben Skaði (Scandinavia) stehen konnte. Malinar 2004. Vgl. Eck 1996, S. 149.
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als ‚Urin von Riesinnen‘ ist gut bekannt, in Thors Geirrøðr-Reise wird dieses Bild in unmissverständlicher Direktheit evoziert. Dahinter mag wiederum zunächst die Vorstellung der Realgeographie eines Flusses stehen, der sich an der Mündung ins Meer ergießt. Aber schon im Altindischen wird aus diesem realen Raum ein mythischer.Von der Mündung zieht die Flussgöttin Gaṅgā weiter in die Unterwelt, und hier stellt sie tatsächlich ihre ureigenste, erlösende Körperflüssigkeit, ihre Milch, den Toten zur Verfügung, „the saving funereal waters for the sons of Sagara.“³⁴² In der Tat ist auf besondere Weise auch der nordische Njǫrðr, der Vane von Nóatún, der ‚Schiffsstadt‘, der Totenstadt am Meer, auf diese Nahrung angewiesen. Dann muss die Flussgöttin als Milchstraße wieder zurückströmen in den Himmel,³⁴³ ein ewiger Kreislauf, der später als ruheloser Wechsel der Unzufriedenen interpretiert worden sein mag. Aber aus Balders Grabhügel selbst strömt ja eine ebenso zerstörerische wie schützende Wasserflut, die Grabräuber in die Flucht schlägt (Gest.Dan 3.3). Und nicht zuletzt findet sich gerade im Adoptiv-Gestus der nunmehr besänftigten Wasserriesin Skaði, im Schoßwurf des Loki, eine der einschlägigsten Verbindungen zum altindischen aquatilen Funeralkult: „There is no theme more pervasive in Gaṅgā hymnody than the yearning for the lap [kurs. d. Verf.] of the Gaṅgā at the time of death.“³⁴⁴ Es sind zwischenmenschliche, therapeutische Handlungen, die überkulturell, keineswegs auf die Indogermania beschränkt, buchstäblich in den Dienst des ,Stillmachensʻ, der kindlichen Beruhigung gestellt sind, die eine elterliche Fürsorgepflicht ebenso gewähren wie einfordern wie anzeigen. Als ritualpraktische Elemente, als Medien wie Agenten des Übergangs erscheinen sie in nahezu allen sozialen wie asozialen Statuswechseln, etwa im römischen, griechischen, nordischen Rechtswesen, insbesondere aber im Bestattungskult. Wie im altindischen Mythos sind auch im griechischen Mythos die furiose Hochzeit und die Stillaktion ein und derselben Gestalt, Hera, zugedacht. So erhält Herkules seine Göttlichkeit und damit Eintritt in den Olymp, indem er ausgerechnet von Hera gestillt wird, seiner dezidierten Erzfeindin: Zeus legt den Säugling Herkules (bekanntlich der Spross einer außerehelichen Verbindung) seiner schlafenden Ehefrau Hera an die Brust, um auf diese Weise ein juristisches fait accompli der besonderen Art zu schaffen, ein wenn auch heimtückisch erschlichenes, so doch immerhin rechtswirksames: die förmliche Annahme als Sohn. Hera erwacht, entrüstet bemerkt sie den Betrug – und verspritzt dabei ihre Milch so heftig übers Firmament, dass daraus die Milchstraße (Galaxis) entsteht. Hier wird also das gleiche Bild aufgerufen: Heras sprudelnde Körperflüssigkeit wird gleichgesetzt mit dem spiralförmigen Ster-
Eck 1996, S. 145. Siehe Malinar 2004: „Nach der klassischen Kosmographie des Hinduismus bewegt sich die Ganga in einem Kreis, der sie vom Himmel auf die Erde, in den Ozean und in den Himmel führt. Diese sehr alte Vorstellung wird in den Texten des klassischen Hinduismus durch eine weitere Lokalität ergänzt: das Totenreich. Dieses befindet sich, nach Angabe einiger der ältesten Texte, im Mond. Im klassischen Hinduismus werden jedoch mehrere Himmels- und Höllenwelten unterschieden.“ Eck 1996, S. 145.
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nenwirbel der Milchstraße.³⁴⁵ Aber auch der altgriechische Mythos kennt dazu eine abweichende Tradition, so wird einerseits durch Heras Milchgabe Herkules bereits als Säugling Göttlichkeit gewährt, andererseits (in etruskischer Überlieferung) erst nach dessen Tod als erwachsener Mann.³⁴⁶ Und auch hier scheint die Idee eines ,Hineinfütternsʻ des Toten in die Anderswelt zu stehen: „In each case, female nurture is thought to offer immortality.“³⁴⁷ Diese mythische Konzeption des ‚ins Jenseits gefüttertenʻ, gestillten Herkules, die Vorstellung der Milch als Totennahrung findet nun zahlreiche Fortsetzungen im profanen wie rituellen Bereich. Auch im römischen Beerdigungskult sind es die Frauen, die die konkreten materiellen wie emotionalen Bedürfnisse des Verstorbenen befriedigen durch Aktionen, die häufig genug an ihre wie auch immer gearteten sozialverträglichen Grenzen stießen und damit in „nimiam lamentationem“, in exzessives, kaum mehr beherrschbares Trauerverhalten umzuschlagen drohten.³⁴⁸ Das Blutigkratzen von Wangen, das Schlagen auf die nackten Brüste bei gleichzeitig lautstarkem, tränenreichem Gesang schien die Grenzen des guten Geschmacks zu übersteigen und wurde entsprechend immer wieder, keineswegs nur hier, unter Verbot gestellt.³⁴⁹ In Übergangsriten³⁵⁰ ist diese einleitende Phase der Separation dazu da, Grenzen aufzuzeigen und zu überschreiten. Sie werden durch liminales, buchstäblich grenzwertiges Verhalten markiert und damit gebrochen. Schon in antiker Zeit herrschte indes ebenso die Überzeugung, dass Selbstverletzungen ein bewusstes Produzieren von Blut sei als Nahrung für eben jene Totenschatten, die man sich blutgierig vorstellte, gierig nach Lebenskraft, die sie am wenigsten selbst besaßen, in diesem Sinne symbolischer Ersatz für Menschenopfer.³⁵¹ Die entblößten Frauenbrüste der römischen praeficae haben aber neben der hohen Verweiskraft von Nacktheit als Zeichen der Abweichung und Transgression noch weiteres Evokationspotential. In seiner Untersuchung über römische Zeigegesten bringt Corbeill diesen Gestus mit der Fürsorge für den Toten in Zusammenhang, mit einer Art Ammentätigkeit. Die Brüste (die dabei stets als uberae bezeichnet wür Vgl. Miller und Ossenkopf-Okada 2010. Eine weitere Galaxie (M 51) im Sternbild ‚Jagdhundeʻ wird in der Astronomie expressis verbis mit dem landläufigen Namen „Whirlpool-Galaxie“ („Strudel-Galaxie“) bezeichnet (vgl. Bissinger 2005). Vgl. Corbeill 2004, S. 100 – 103. Corbeill 2004, S. 104. Vgl. Corbeill 2004, S. 86. Oft genug wurde gerade diese extreme Darstellung von Emotionalität von herrschenden Clans und Familien als „destructive potential“ (Holst-Warhaft 2000, S. 7) für ihre politischen Ziele genutzt. Rivalitäten wurden dadurch weiter angeheizt, die schließlich in blutigen Rachefehden – auch im Norden nichts Unbekanntes – ausgetragen wurden (vgl. Holst-Warhaft 2000, S. 7). Siehe van Gennep 1909; van Gennep 2005. Einritzungen und Selbstverletzungen zu diesem Zweck kommen bei unzähligen Völkern vor, vgl. z. B. die Schilderung Jordanes bei Attilas Leichenbegängnis: Neben den ebenso üblichen Haaropfern (als magische Lebenskraftspende) erhält der Verstorbene auch Blut, die männlichen Trauernden zerfleischen sich das Gesicht, wobei ausdrücklich betont wird (vgl. Get. Kap. 49), dass dieser „nicht mit weibischen Klagen und Thränen, sondern mit Männerblut betrauert werde“ (vgl. Leicher 1927, S. 12). Die Blutgabe kann also männlich wie weiblich konnotiert sein.
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den als die ausschließlich ,mit Milch gefüllten Brüsteʻ)³⁵² suggerierten hier Nahrung, Milch. Es geht also um eine Stärkung der Toten mit Körperflüssigkeiten aller Art: „Blut, Milch und Tränen“.³⁵³ Als Legende von Pero und ihrem greisen Vater Micon (Cimon) hält diese Vorstellung Einzug in das literarische Symbolsystem. Mit ihrer eigenen Muttermilch soll die Tochter den im Gefängnis darbenden Vater vor dem Hungertod bewahrt haben.³⁵⁴ Als so genannte Caritas romana wird das Motiv zur ungemein populären Allegorie oder exemplum der pietas, der äußersten, tugendhaften Pflichterfüllung des Kindes den Eltern gegenüber. Seine Bekanntheit verdankt es auch und gerade seinem voyeuristischen Setting, dem „shock value“³⁵⁵ eines lediglich schwach verhüllten Inzestmotivs.³⁵⁶ Die unerhörte, empörende Transgression zeigt sich indes auch in prima facie befremdlichen nordischen Milchfütterungsaktionen. Der greise König Aun, der nach der Beschreibung der Ynglinga saga (Kap. 25) wohl sein Leben zu verlängern vermag, indem er der Reihe nach seine Söhne opfern lässt, verfällt zusehends, er muss ob seiner immer größer werdenden Schwäche herumgetragen werden, schließlich wird er bettlägerig und muss mit einem Milchhorn wie ein Baby ernährt werden: Vor Schwäche vermag er nur an der Spitze des Horns zu saugen. Aber es geht hier nicht um die Verlängerung seines Lebens, nicht zuletzt das Herumtragen in einem ausdrücklich Tragesessel weist in eine ganz andere Richtung. Hier handelt es sich um die rituelle Versorgung eines Toten, es sind Elemente eines Bestattungsritus, der sich über Jahre und Jahrzehnte erstrecken konnte und, wichtig genug, nahtlos in einen Ahnenkult übergehen konnte. Ob auch die Menschenopfer zur Versorgung des toten Königs vollzogen wurden, ist nicht eindeutig zu sagen, zumal vieles dafür spricht, dass die Erzählung von König Aun mit dem Gründungsmythos einer vorgeschichtlichen Landeinteilung (Tiundaland) verbunden wurde.³⁵⁷ Die Menschenopfer könnten hier ein Gründungsgeschehen symbolisieren und wären dann in diesem Sinne kaum historisch. Im Bestattungskult wird aber auch den Hinterbliebenen, den Trauernden diese Art von Bedürfnisbefriedigung angeboten. In seiner maßlosen Trauer um die toten
Vgl. Corbeill 2004, S, 87. Corbeill 2004, S. 106. Vgl. Corbeill 2004, S. 87 f. mit Verweis auf Servius (Serv. ad Aen. 5, 78): [U]mbrae autem sanguine et lacte satiantur: unde feminae quae mortuos prosequuntur ubera tundunt, ut lac exprimant. („The shadows satisfy their appetite on blood and milk, this is why the women who accompany the dead beat their breasts in order to press out milk“). Vgl. Corbeill 2004, S. 102 f. Sperling 2016, S. 37. Die ‚stillende Tochterʻ erscheint in der römischen Literatur zuerst bei Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilium libri IX. Auf einem pompejanisches Wandgemälde findet sich eine der ältesten ikonographischen Darstellungen (vgl. Braun 1952). Es existiert im Übrigen auch (wenn auch bedeutend seltener) als Mutter-Tochter-Version: „The two versions compete with each other for greater shock value, the former because of its incestuous implications and the latter because of the two women’s potentially dangerous bodily intimacy“ (Sperling 2016, S. 37). Vgl. Böldl 2005, S. 208, Anm. 74.
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Söhne scheint der Skalde Egill zum hilflosen Säugling zu retardieren, tagelang liegt er passiv im Bett und verweigert jegliche Nahrungsaufnahme. Indes wird sein Wunsch, den Hungertod zu sterben, durch seine Tochter Þorgerðr trickreich umgangen. Unverzüglich begibt sie sich ins Trauerhaus, nachdem die Mutter Ásgerðr nach ihr schicken ließ, als ,letzte Hoffnungʻ, wie es heißt, das selbstzerstörerische Verhalten ihres Vaters zu beenden. Sie reicht ihm ein Horn mit Milch (indem sie behauptet, es sei mit Wasser gefüllt), um seinen Durst zu stillen. Dieser wiederum wurde durch den Verzehr von salzigem Seetang (sǫl „Lappentang“), den sie mitgebracht hatte, ausgelöst.³⁵⁸ Diese Szene, die manches Mal Befremden erweckt hat, beinhaltet alle Elemente typischer ritueller Speisegebote bzw. Meidungsvorschriften im Bestattungsritual.³⁵⁹ Die Hinterbliebenen solidarisieren sich mit den Toten und ihrer Bedürftigkeit, auch die Tochter von Egill gibt vor, wie ihr Vater sterben zu wollen und damit eigentlich den toten Brüdern nachsterben zu wollen. Nahrungsverweigerung ist entsprechend der Zeigegestus der Angleichung, der wiederum nur durch einen rituellen Akt der Nötigung, des Zwangs oder des Betrugs von außen gebrochen werden kann. In einem rituallogischen Sinne aber gleicht sie der stillenden Pero, die ihren Vater durch eine Milchgabe vor dem Hungertod retten muss.³⁶⁰ Die Stillgebärde, die Milchgabe hat gleichermaßen ihren festen Platz in den Adoptionsriten dieser Welt. Beim Säugling, aber gerade auch bei Erwachsenen, wenn auch gegebenenfalls hochformalisiert und ritualisiert, erscheint sie als wohl unmittelbarster, körperhaftester Zeigegestus in der Rechtshandlung der Adoption, der Annahme an Kindes statt.³⁶¹ Sie ist wie der Schoßwurf auf der gleichen Ebene des inti-
Siehe Egils saga, Kap. 78. Üblicherweise gilt Lappentang (Palmaria palmata, eine Rotalge) keineswegs als Giftpflanze im Altnordischen (als was ihn indes Þorgerðr ausgibt), vgl. Kraus 2013, S. 73 f.: „Dass hier der Eindruck entsteht, Lappentang sei nicht allgemein als essbar bekannt gewesen, ist einer der zahlreichen merkwürdigen und unklaren Aspekte dieser Szene.“ Wir können aber annehmen, die Alge ist wegen ihres hohen Salzgehalts ausgewählt worden, vielleicht sogar wegen ihrer äußeren, blutroten (!) Färbung, womit sie Teil der (keineswegs ausschließlich römischen) funeralen Dreiheit von ‚Blutʻ, ‚Milchʻ und (salzigen) ,Tränenʻ als Totengabe (bzw. Trauerspeise) wird. Andererseits gehört es zu den üblichen Meidungsvorschriften im Trauerritual, sich kein Essen aus der Umgebung eines Toten zuzuführen, ja nicht einmal zu berühren, da es durch den Tod gefährlich kontaminiert ist. Erst sekundäre, spätere Interpretationen sehen in diesen Berührungstabus psychologische Reaktionen, das Fasten wird „zum Ausdruck der Trostlosigkeit der Hinterbliebenen“ (Jahnow 1923, S. 32), das Zubereiten und Versorgen durch Angehörige und Nachbarn von außen (d. h. außerhalb der kontaminierten Gefahrenzone) zur emotionalen Unterstützung, zum ,Akt der Nächstenliebeʻ (siehe Jahnow 1923, S. 29 – 33). „Für die Umdeutung des Brauches finden sich zahlreiche Parallelen bei anderen Völkern. Auch Lucian stellt in seiner schon erwähnten Satire das Begräbnisbankett der Griechen als Abschluß des Trauerfastens dar und erzählt, daß es bei diesem Leichenschmaus zur Kondolation der Verwandten gehörte, die Eltern des Verstorbenen zum Essen zu nötigen, mit den bekannten homerischen Versen: ‚Denn auch die schöne Niobe selbst vergaß nicht der Speise, / waren ihr gleich zwölf Kinder auf einmal im Hause gestorbenʻ“ (Jahnow 1923, S. 32). Vgl. Corbeill 2004, S. 100 – 103.
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men frühkindlichen Gestus oder Habitus angesiedelt.³⁶² Als profaner, juristischer Ritus umfasst er ein umfangreiches Spektrum von Festlegungen und Stabilisierungen von Abhängigkeitsverhältnissen. Peter Parkes verweist auf das Konzept der so genannten „milk kinship“ im westlichen Eurasien (ebenso auf die bekannten Parallelen im antiken und mittelalterlichen Europa), das auch hier ein analoges Verwandtschaftsverhältnis zur Blutsverwandtschaft, der Verwandtschaft von Geburt herstelle, ja diese unter gewissen Umständen sogar übertreffen könne.³⁶³ Und auch hier kannte man das lediglich „token suckling“,³⁶⁴ den symbolischen Zeigegestus: Abkhazian milk kinship could be extended by symbolic suckling at the breast, incorporating adults as well as infants, with identical moral obligations and impediments on marriage to those created through infant fosterage.³⁶⁵
Der Terminus für diese rituelle Gebärde muss in diesem Zusammenhang freilich aufmerken lassen: ak’ukatshara „breast-biting“.³⁶⁶ Denn müssen nicht auch die Asen ausdrücklich in Iðunns Äpfel „beißen“? „[S]ie verwahrt in ihrer Truhe die Äpfel, in die die Götter beißen sollen, wenn sie altern. Dann bleiben sie alle jung, und so wird es bis zu Ragnarök sein.“³⁶⁷ Sie essen sie nicht etwa auf, sie verleiben sich die ‚Unsterblichkeitsfruchtʻ offenbar nicht ein, Iðunn holt sie vielmehr aus einer ‚Truheʻ (und gibt sie dann dort wieder hinein).Vielleicht ist gerade dieser spezifisch rituelle Zeigegestus (bzw. seine Literarisierung) im Norden missverstanden worden, ohnehin war ja von Iðunns ursprünglicher Flussnatur nichts mehr bekannt, so wenig wie von Skaðis oder ihren männlichen Pendants Heimdallr, Þjazi, Gangr, Iði. Eine letzte Reminiszenz des uralten Astral- wie Flussmythos scheint sich immerhin noch in der Heldensage gehalten zu haben, wenn auch noch mehr verdunkelt bzw. für dessen neuen, heroischen Wissensrahmen aktualisiert. Saxo berichtet ausführlich, aber in weiten Teilen nicht recht plausibel über den Helden Hadingus, seine Wikingerabenteuer und seine beiden Ehefrauen Harthgrepa und Regnilda. Mag sein, dass schon in der mythischen, eddischen Vorlage wichtige Plausibilitäten für den narrativen Fortgang verloren gegangen sind, andererseits nutzt Saxo ohnehin seine
Vgl. Schott 2009, S. 14– 21. Vgl. Parkes 2004, S. 587. Atalyk nennt sich diese rituell hergestellte Verwandtschaft etwa in Abchasien am Schwarzen Meer: „Abkhazians considered kinship created by delegated suckling fully equivalent to consanguinity“ (Parkes 2004, S. 590). Parkes 2004, S. 591. Parkes 2004, S. 591. „It was also used to create reciprocal bond-partnerships, with a mutual ‚biting of the breastʻ of one or both of the adoptive brothers’ mothers, and occasionally of their own male nipples, as also occurred in the Hindu Kush […]. Collective vassalage by ‚breast-bitingʻ adoption would be undertaken by whole village communities with regional bailiffs, allied by real or symbolic milk kinship to feudatory overlords, who were allied in turn as fosterers and milk kin to ruling princes […]“ (Parkes 2004, S. 591). Hon varðveitir í eski sínu epli þau er goðin skulu á bíta þá er þau eldask, ok verða þá allir ungir, ok svá mun vera allt til ragnarøkrs (Gylf 26).
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Vorlagen kaum anders als eine Art Motiv-Steinbruch, um seine eigene, neue narrative Agenda damit zu verfolgen. Dennoch sind schon früh die Ähnlichkeiten gewisser Elemente des Njǫrðr/Skaði-Mythologems zur Hadingussage aufgefallen.³⁶⁸ So erscheint in der Hadingus-Erzählung das Motiv der Unvereinbarkeit der Lebensweisen in einer Berg- bzw. Meerwelt. Im heroischen Kontext wird es Hadingus und seiner (zweiten) Ehefrau Regnilda zugeschrieben, allerdings hier am wenigsten motiviert und mit empfindlichen Brüchen. Zu Recht nennt es Dumézil eine „somewhat clumsy literary adaption“ der mythischen Vorlage.³⁶⁹ Auch die Erkennungsszene der nackten Füße als Heiratsbedingung lässt sich (wenn auch mit einigen Abwandlungen) zweifelsfrei identifizieren. Wir können im Einzelnen auf diese unbedingt einschlägigen Übereinstimmungen kaum näher eingehen, für den konkreten Zusammenhang, die Adaption eines indogermanischen Fluss/Astral-Mythos (einschließlich dessen ritueller Funktionalisierung), seien aber noch einige weitere hinzugefügt: Ausgerechnet Hadingus Ziehmutter und Amme, die Riesin Harthgrepa, bedrängt den Helden, sie zu heiraten: Seinen strengen Sinn versuchte Harthgrepa, die Tochter des Vagnhofth, durch die Lockungen ihrer Liebe zu erweichen und lag ihn ohn Unterlass an, dass er das erste Geschenk des Ehebetts ihr gewähren müsse, die seiner Kindheit sorgliche Pflege gewidmet und die erste Klapper gereicht habe.³⁷⁰
Um dann in Versen fortzufahren und ihr Anliegen, freilich kaum überzeugender, zu untermauern: „Ruhelos fliesst Dir das Leben dahin“ (Quid tibi sic vaga vita fluit?), „Kampfeslust treibt Dich in massloser Wut“ (eximia raperis rabie). „Nimmer kommt Ruhe Dir grimmem ins Herz, / Spiel ist Dir fremd, nur die Wildheit vertraut“ (Otia nulla fero subeunt, / lusus abest, feritas colitur). Weiche der Sinn nun, der kalte, Dir schnell, / Lass Du die Brust Dir erglühen in Dank, / Flicht mir der Liebe erfreuenden Bund, / Die ich als Kind Dir zuerst ja die Brust / Reichte mit Milch und in sorglichem Sinn / Pflegte Dich liebend, das hülflose Kind.³⁷¹
Gut erkennbar das rituelle wie mythische Element der Milchgabe wie Hochzeit mit der weiblichen Flussriesin, ähnlich transgressiv, das Inzestmotiv auch hier nur schwach verhüllt³⁷² und in der Forschung gleichermaßen mit Befremden registriert. Wenn auch
Siehe Dumézil 1973a, S. 9, mit älterer Literatur. Vgl. Dumézil 1973a, S. 36. Cuius fortem animum Harthgrepa Wagnhofthi filia amoris sui illecebris emollire conata sedula affirmatione certabat oportere eum primum genialis tori munus suis erogare connubiis, quae infantiae eius exactioris curae fomenta porrexerit primaque subministrarit crepundia (Gest.Dan. 1.6). Cedat odibilis iste rigor, / adveniat pius ille calor / et Veneris mihi necte fidem, / quae puero tibi prima dedi / ubera lactis opemque tuli, / officium genetricis agens, / usibus officiosa tuis (Gest.Dan. 1.6). Hadingus sei wohl nicht der erste Held, der eine Verbindung mit einer Riesin eingegangen sei, dennoch sei er der einzige, „in whom such a liaison involves a hint of incest“ (Dumézil 1973a, S. 77).
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Dumézil darin mit einigen guten Gründen das Inzest-Motiv der Vanen in historischer Form wiederholt sehen möchte,³⁷³ so ist Harthgrepa gerade keine Vanin, es geht vielmehr um eine rituelle Praxis, die den Vanen, den Toten, zugedacht werden muss. Der innige Wunsch der Riesen-Mutter, Hadingus möge doch vom blutigen Kriegshandwerk ablassen, passt genauso wenig hierher: Es ist die Charakterisierung der wilden, ungestümen Skaði selbst, vor ihrer Beruhigung und kultischen Nutzbarmachung als göttliche Braut und Amme. Selbst der Hinweis Hadingus auf ihre unhandliche Größe wird zurückgewiesen in einer Reihe von Versen, die in zahlreichen Variationen nichts anderes als die unterschiedlichen Formen des Wassers in immer neuen Gestalten, seine Bedrohlichkeit wie Nützlichkeit für die Menschen zum Thema hat, und mit den Worten schließt: Schwellen lass ich die Glieder im Nu, die gedehnten zusammen / Lass ich dann schrumpfen, in Doppeltgestalt stets wechselnd erscheinend, / Herrin zwiefacher Form: in der grösseren schreck’ ich die Kühnen, / Doch in der kleineren such ich der Menschenkinder Umarmung.³⁷⁴
Ihre ursprünglich himmlische Herkunft, „bis zu den Sternen der Nacken“, wird dabei genauso erwähnt wie ihre ureigenste Fähigkeit (für die schon die indische Flussgöttin Gaṅgā herbeizitiert wurde), Verstorbene zu beleben, rite in ein neues, jenseitiges Leben zu bringen. Von Saxo wird dies zeitgemäß (und entsprechend pejorativ) als nekromantischer Akt in einer Waldhütte eingeführt, was zu guter Letzt gar Harthgrepas eigenen Tod bedeutet habe. Die ursprüngliche mythische Plausibilität ist freilich eine andere, und sie ist trotz aller Verformungen gerade bei Saxo noch erstaunlich gut erhalten: So wie Gaṅgā dem indischen Weisen folgt bis zum Meer, in die Unterwelt, zu ihrer eigentlichen Bestimmung, folgt Harthgrepa dem Jüngling Hadingus (in Männerkleidung ähnlich dem Mannweib Skaði) überallhin, bis schließlich aus dem Himmelsfluss ein Unterweltfluss, ein Totenfluss geworden ist, der die Sühnung, „die Reinigung der Totenasche“³⁷⁵ übernimmt: Aber das Weib wird, gebeugt unter der Schuld Last, / Sühnen, Asche sie selbst, dann meine Asche, / Sie, die Schatten zu Leid hierher zurückzwang. / Wer zurück mich zog vom Orkus, müsse sterben selbst verflucht, / Und er büss’ im Reich des Dunkels, dass den Geist herauf er rief.³⁷⁶
In diesem Sinne ist der Held Hadingus, zumindest so wie ihn Saxo kennt (oder seine Vorlagen), auch nicht die ausschließliche Verkörperung oder Aktualisierung des
Vgl. Dumézil 1973a, S. 60 f. Exsero contractos artus tensosque subinde / corrugo, vultum formis partita gemellis / et sortes complexa duas: maiore feroces / territo, concubitus hominum breviore capesso (Gest.Dan. 1.6). Malinar 2004. Femina sed nostros crimine pressa suo / placabit cineres, ipsa futura cinis, / quae miseris umbris huc remeare dedit. / Inferis me qui retraxit, exsecrandus oppetat / Tartaroque devocati spiritus poenas luat (Gest.Dan. 1.6).
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Njǫrðs, eine Art „heroische Kopie“,³⁷⁷ in ihm scheinen sich vielmehr unterschiedlichste Elemente der altindischen Ursprungssage vermischt zu haben, was zu diesem widersprüchlichen, brüchigen Bild geführt haben mag. Auch auf Hadingus „magical sailing powers“³⁷⁸ ist vielfach verwiesen worden, Dumézil möchte sie dem ‚Schifffahrtsgott‘ Njǫrðr geschuldet sehen, doch auch er differenziert genauer: „Hadingus manifests a particular relationship with the winds and the sea“.³⁷⁹ Und diese ‚Beziehung‘ nimmt ihren Anfang nachgerade als Fluch, den eine unbekannte Frau auf ihn legt, nachdem er ein Seemonster (!) getötet hat. Wo immer er hingeht, zu Wasser oder zu Land, muss er von nun an schreckliche Stürme hervorrufen, die erst dadurch ein Ende finden, dass er das Frøblot, ein jährliches Sühneopfer an Frø, einführt.³⁸⁰ Genau genommen freilich bleibt diese Verbindung auch danach noch erhalten, allerdings auf merkwürdige Weise gezähmt, seine „power over the winds, his familiarity with the sea are not eliminated but disciplined.“³⁸¹ Auch hier erkennen wir das ursprüngliche Motiv des gezähmten Wassers wieder, freilich in der Logik Saxos durch das Sühneopfer an Freyr bewirkt. Ursprünglich indes bedarf es der Kultivierung, der Zähmung, gerade um ein Sühneopfer (in unserem Sinne die Totenopfer) vollziehen zu können.³⁸² Balder erscheint also (zusammen mit anderen Toten und Todgeweihten) in einem uralten Adoptions- wie Heiratsritus, der letztendlich in den übergeordneten Rahmen eines Bestattungsritus gehört. Die göttlichen Flussfrauen und Gründermütter Skaði und Iðunn machen die Toten durch Milchgabe und Schoßwurf zu ihren rechtmäßigen Verwandten und nehmen sie auf in ihre neue kinship. Aber im nordischen Mythos wird
Hultgård 2002a, S.237. Dumézil 1973a, S. 37. Dumézil 1973a, S. 45. Gest.Dan. 1.8. (Vgl. Dumézil 1973a, S. 45 f.). Dumézil 1973a, S. 46. Hadingus ist derjenige, der die Gewässer befriedet und lenkt und in seinem Sinne zu nutzen vermag, und diese Rolle kommt im Altindischen Śiva zu. Er fängt die Wucht der himmlischen Gaṅgā mit seinem Haupt auf, hält sie in seinem hoch aufgetürmten Asketenhaar, bis er sie daraus entlässt und sie nunmehr willig dem weisen Bhagīratha folgt. Die bändigende Kraft der Haare Śivas über die Gaṅgā ist ein zentrales Motiv, häufig dargestellt in der bildlichen Kunst, wenn auch nach einer anderen Ursprungssage Gaṅgās Sitz zunächst im Fuß (!) des Gottes Viṣṇu beschrieben wird, ein andermal muss sie vor der Eifersucht der Ehefrau Krishnas, Rādhā, wiederum ausgerechnet in Krishnas Fuß Zuflucht nehmen (vgl. Eck 1996, S. 146), allerdings, so Eck, „if she flows from the foot of Viṣṇu, so she meanders in Śiva’s hair“ (Eck 1996, S. 146). Śiva gelte als Gaṅgādhara „Bearer of the Gaṅgā“, und Gaṅgā werde entsprechend dargestellt als Nixe, die sich in seinem Haarknoten verberge, oder als Fontäne, die daraus sprudle „like a geyser“ (Eck 1996, S. 147). So mag immerhin darüber spekuliert werden, ob dies nicht im Namen des Hadingus einen letzten Widerhall gefunden haben könnte. Dieser wird nach allgemeiner Übereinkunft zu germ. *hazd-, aisl. haddr (ausdrücklich) „langes Haar“ gestellt (vgl. Reichert 1999, S. 264). Man hat versucht die Semantik plausibel zu machen in einem Konzept des Weihekriegertums oder als „Heiligkeit des langen K[önig]shaars“ (reges criniti) (vgl. Lex.Simek 2006, „Haddingus“, S. 165), in Saxos Erzählung finden sich dafür allerdings keinerlei Anhaltspunkte (vgl. Reichert 1999, S. 265). Aber auch wenn wir nicht mehr einen altindischen Gott bemühen wollen, so muss immerhin an die Windmacherfunktion von Thors Bart (respektive Haartracht) gedacht werden.
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auch das Scheitern dieses Übergangs mitgedacht und es ist ausgerechnet Loki, der hier seine letzte, verhängnisvollste Rolle spielt.
7.7.2 Neue Familienbande oder die ,Bestrafungʻ Lokis Schließlich kommt es trotz des vermeintlich versöhnlichen Endes bei Skaðis Bräutigamwahl, ihrer heiteren Geneigtheit gerade Loki gegenüber zu einem weiteren, nun aber verhängnisvollen Aufeinandertreffen zwischen beiden. Loki erfährt eine grausame, ja sadistische Behandlung von ihr, eine Strafaktion, von der lange Zeit nicht einmal klar schien, wofür Loki diese letztendlich verdient habe. Die Beziehung Skaðis zu Loki vermerkt Simek entsprechend als „eigenartig“, schließlich erwähne Loki ausdrücklich ein Liebesverhältnis zu ihr (Ls 52).³⁸³ Aber die Art von Liebesverhältnissen, die hier gemeint sind, überlebt offenbar niemand (bzw. ist niemals für Lebende gedacht) – mit Ausnahme eines Zeus oder Odin. Die so genannte ,Bestrafungʻ Lokis könnte vom zeitlichen Ablauf her auf die Geschehnisse am Thing, die Ermordung Balders gefolgt sein (wie die Ereignisfolge der Vǫluspá suggeriert). Ebenso aber erscheint sie als Eklat und in jeder Hinsicht Endpunkt eines Götterfests, der Ægisdrekka („Ægirs Trinkgelage“), das bekanntlich die Rahmenhandlung für die Schmährede Lokis (Lokasenna) abgibt.³⁸⁴ Danach, und da sind sich die Quellen einig, folgt der kosmische Untergang, Ragnarǫk. Die schiere Linearität, das Vorher ist die logische Ursache für das Nachher, macht offenbar die Ereignisfolge plausibel als ,Bestrafungʻ, als ,Racheʻ der Asen an Loki³⁸⁵ – allerdings für prima facie gänzlich unterschiedliche Vergehen. Im einen Fall würde Loki die Bestrafung immerhin als Verursacher von Balders Tod widerfahren, im anderen lediglich für seine Unverschämtheiten am Götterfest. Die Frage nach einem Rachemotiv im Balderkomplex ist in der Tat schwierig genug zu beantworten. Schon Eugen Mogk weist auf Probleme im zeitlichen Ablauf hin: Wenn Loki bereits nach dem Thing verhaftet worden wäre und entsprechend gefesselt und verbannt im „Wald der Quellen“ (hvera lundi) läge, wäre sein anschließendes Auftreten als Verleumder der Asen kaum erklärbar. Auch wüssten die Asen zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht, ob ihre Verhandlungen mit Hel Erfolg haben würden oder dass auch Nanna zu den Opfern zählen würde. Beachtenswert auch sein Hinweis auf Vsp 33, wo die BalderEpisode abgeschlossen erscheint, markiert durch die auch an anderen entsprechen-
Vgl. Lex.Simek 2006, „Skaði“, S. 376. Vgl. Lex.Simek 2006, „Ägir“, S. 3. Neckel weist auf einen ähnlichen narrativen Begründungsautomatismus bei der Erzählabfolge der Thors-Mythen hin. So sieht er in der gezielten Positionierung von Thors glorreichem HymirAbenteuer unmittelbar nach seiner „wenig ruhmvolle[n] Reise“ zu Útgarðaloki die Antwort auf Gylfis Frage, ob und wie sich Thor für diese Schmach gerächt habe (vgl. Neckel 1920, S. 23 f.). Auf diese Weise würden zwei unabhängig voneinander konstruierte Erzählungen durch simple narrative Linearität verbunden.
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den Stellen des Gedichts erscheinende Frage: Vituð ér enn eða hvat? („Wisst ihr nun noch etwas?“). Hier wird ein Rezipientenhinweis gesetzt, dass jetzt eine neue Episode, ein neues Bild folgt, und Lokis so genannte Fesselung ist Teil davon.³⁸⁶ Gustav Neckel ebenso Otto Höfler und andere sehen für die Rache in der Baldersage „gar keinen Raum“.³⁸⁷ Neckel hält sie für einen künstlichen Zusatz, er verweist auf ein sehr ähnliches narratives Konzept, auf ähnliche Plausibilisierungsmuster in der Siegfriedsage, auch hier erscheint die Rache keineswegs organisch verbunden mit dem Erzählkomplex, sondern gleichermaßen als späterer Zusatz.³⁸⁸ Otto Höfler sieht die mythische Baldererzählung in enger Abhängigkeit zu den Helgi-Liedern, und auch er warnt gerade hier davor, jeweils die „epischesten“, d. h. die am besten episch gerundeten Partien und Kompositionsteile für die ältesten Glieder der Tradition zu halten. So zählen in den Trümmerhaufen der eddischen Helgitexte die Geschichten von „Verwandtenrache“ wenn schon nicht zu den durchwegs poetisch bedeutendsten, so doch durch ihren einfach-geschlossenen Sinnaufbau zu den logisch [orig. gesperrt] befriedigendsten Stücken. Das bringt uns in Versuchung, sie auch als die besten und ursprünglichsten Teile dieses so vielfältigen Konglomerates anzusehen. Ich glaube, daß ein solcher Schluß täuscht. War denn nicht in Wahrheit der Typus „Verwandtenrache“ in der altgermanischen, auch in der altnordischen Literatur das sozusagen „nächstliegende“ aller Motive, das heißt: dasjenige, das sich am allerleichtesten als fertiges Schema einstellte, wenn einem Dichter oder einem Redaktor sonst gar nichts, besonders nichts Charakteristisches, einfiel?³⁸⁹
Man kann also wohl feststellen: Für den Baldermythos hat das Konzept der Blutrache einen hohen Stellenwert im 13. Jh. – aber nicht unbedingt davor. Der Grund dafür liegt aber wohl weniger in der Einfallslosigkeit der Bearbeiter, wie Höfler eher ungnädig Vgl. Mogk 1923, S. 12 f. Hapt sá hon liggia undir hvera lundi, / lægiarn líki Loca áþeccian; / þar sitr Sigyn þeygi um sínom / ver velglýiuð – vitoð ér enn, eða hvat? („Einen Gefangenen sah sie liegen im Wald der Quellen, / eine Unheilsgestalt, Loki ähnlich; / dort sitzt Sigyn, nicht froh / um ihren Mann. – Wisst ihr nun noch etwas?“ [Vsp 35]). „Bei näherer Betrachtung der Baldrsage wird klar, daß die Rache in ihr gar keinen Raum hat. Zunächst nicht in dem dreigeteilten Zusammenhang Snorris. Das Eigenartige ist hier ja gerade, daß die Götter ihren Verlust auf eine völlig ungewöhnliche Art wieder gut zu machen suchen, nämlich durch den Versuch, Baldr von der Hel zurückzugewinnen. Dieser Versuch vertritt [orig. gesperrt] die Rache“ (Neckel 1920, S. 24). „Hierin aber gleicht der Baldrgeschichte eine andere Heldensage, die ihr auch sonst nahe verwandt ist: Sigfrids Tod. Auch Sigfrid ist der geliebte und schuldlose Held. Auch er kann nur durch Hinterlist getötet werden (im Schlafe oder hinterrücks). Und in den Nibelungen erreicht die Ähnlichkeit mit Baldr einen überraschenden Grad: Sigfrid ist gefeit gegen Wunden, bis auf eine Ausnahme (die Stelle zwischen den Schulterblättern). Diese Ausnahme erkundet der Feind bei der liebenden Frau, und diese verrät arglos das Geheimnis, so daß jener ans Ziel gelangt. Die Rache erfolgt erst viel später, aufgrund einer relativ jungen Umdichtung der Burgundenfabel. Es hat ganz den Anschein, als wäre Sigfrids Fall durch Hagen in der ursprünglichen Dichtung ungerächt geblieben.Vermutlich bildete von Anfang an des Helden Abschied und die Klage seiner Witwe den Abschluß“ (Neckel 1920, S. 26). Höfler 1952, S. 28. Selbst in der Vǫlsunga saga, prima facie eine Rachefabel par excellence, schlage der Erzählfortgang, so Höfler in eigenen Worten, dieser Idee geradezu ins Gesicht (vgl. Höfler 1934, S. 191).
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annehmen möchte, als vielmehr in der Notwendigkeit, einen Motivkomplex plausibel zu halten. Ohne Zweifel werden im Baldermythos systemische Dilemmas des mittelalterlichen Rechtssystems thematisiert, das Dilemma der Eidunfähigkeit, das Dilemma des Verwandtenmords bis hin zur daraus resultierenden Racheunfähigkeit.³⁹⁰ Diese fatalen, systemauflösenden Wirkungen besaßen gesellschaftliche Aktualität mit enormer Sprengkraft, aber es ist nicht der Zweck des Mythos dafür ein Aition zu bieten, vielmehr nutzt der Mythos das Evokationspotenzial dieser sozialen Dilemmas im aktuellen, kulturellen Wissensbestand, um ein mythisches Dilemma, ein Paradoxon mythischer Dimension begreiflich zu machen, mit Sinn zu versehen. Und doch ist der Zusammenhang zwischen Lokasenna und der Balder-Tötung augenscheinlich, auch wenn Snorri dazu nichts Weiteres zu berichten weiß: Lokasenna asserts some relationship between Ægir’s feast and the Baldr-Cycle in contrast to Snorri, in spite of Edda’s influence on the documented text […]. The uses of griðastaðr in Lokasenna and Edda imply some form of association between Ægir’s hall and the location of Baldr’s death as relevant to the binding of Loki.³⁹¹
Ganz offenbar hatte Snorri nur eine ungefähre Vorstellung vom Begriff griðastaðr, der gleichwohl auf geheimnisvolle Weise mit all diesen Ereignissen verbunden zu sein scheint: Nicht die verwandtschaftlichen Bindungen, griðastaðr verhindert doch zunächst die Vergeltung, ausdrücklich auch im Rahmen der Lokasenna (14 und Einleitung).Wohl konnte Snorri das Konzept noch mit einer Art Straffreiheit verbinden, aber aus welchem Grund war ihm nicht mehr klar. Grið ist das „Aufenthaltsrecht“, pl. „Friede, Waffenstillstand, Versöhnung“ (vgl. ne. dial. schott. gritt „Friede“, gyrth „Heiligtum, Schutz“). Die Etymologie ist unsicher, de Vries verweist auf eine mögliche Verbindung zu griech. χαρίς „Gunst, Wohlwollen“ (als weniger plausibel zu got. griϸ „Schritt“ als „Gang, freier Zutritt“) und ai. grha- „Haus, Wohnort“.³⁹² Aber das semantische Konzept entspricht sehr genau der Vorstellung des ár ok fríðr, jenen rituellen Vorgaben der Ahnenpflege, wie sie bereits im Zusammenhang mit dem NerthusKult und dem Freyr-Kult dargelegt wurden. Beides, ár ok fríðr wie grið, sind lokale wie temporale, rituelle Rahmenbedingungen wie Voraussetzungen, dazu gehört eine unter allen Umständen einzuhaltende, bedingungslose Waffenruhe, eine Fehde-Ruhe, die ausdrücklich, für eine genau festgelegte Zeit, jegliche Rachegedanken und Tötungsabsichten ausschließt. Wie also, wenn auch der (räumliche und zeitliche) Kontext der Lokasenna einschließlich des dort zu gewährenden grið zu einem Gesamtkomplex umfangreicher paganer Ritualvorschriften gehörte, zu einer Bestattung gehörte, der Bestattung Balders? Neben der zerstörerischen wie unfehlbaren Emissionskraft des Auges gibt es noch eine weitere, kaum weniger effiziente Zerstörungskraft, die in der magisch mythischen
Siehe Lindow 1997; Kaplan 2012. Frog 2010, S. 324. Siehe an. etym. Wb 1962, „grið“.
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Vorstellungswelt mit ersterer eng zusammenhängt bzw. auf einen ähnlichen Vorstellungskomplex, die Idee des ,gefüllten Containersʻ, referiert: Auf gleiche Weise vermag der Missgünstige mit Worten eine verhängnisvolle Fernwirkung zu erzeugen. Stereotyp geht etwa im Griechischen die Furcht vor der Wirkmacht des Auges einher mit seinem gewissermaßen mündlichen Pendant, „dem Tadel“ (ψόγος) und „der Nachrede“ (φήμη).³⁹³ Der Verleumder, der Ankläger, der nordische Sykophant par excellence ist Loki. Er ist der rógbera Ásanna („Verleumder der Asen“) und üble Schmähreden scheinen seine Spezialität. Ihren Höhepunkt erreicht diese Schmähsucht in der Lokasenna, der „Schmährede Lokis“. Allzu schnell hat man indes die Vorwürfe, die er hier gegen die Götter vorbringt, als „Werk antiheidnischer Polemik“³⁹⁴ sehen wollen bar jeglichen Realitätsbezugs, wenigstens lächerlich übertrieben, als „rhetorisches Spiel“,³⁹⁵ eine Komödie, die bestenfalls aus der Spätzeit des Heidentums stammen könne.³⁹⁶ Es gehe auch schließlich nicht an, dass die höchsten Götter eines Religionssystems in einem dermaßen schlechten Licht dargestellt würden, so eine nicht selten vertretene Forschungsmeinung.³⁹⁷ Ivonne Bonnetain ist davon überzeugt, dass im vorchristlichen religiösen Denken „eine Anschuldigung der Götter auf Grundlage ihrer moralischen Verfehlungen ins Leere gegriffen [hätte]“, Loki also möglicherweise „als Agent dieser christlichen Umdeutung“ eingesetzt worden sei,³⁹⁸ entsprechend „die Lokasenna in der uns vorliegenden Form […] erst in christlicher Zeit denkbar“ sei.³⁹⁹ Selbstredend ist diese Einschätzung wiederum nur von einer christlich geprägten Deutungsposition aus: Im Rahmen eines christlichen, monotheistischen Deutungssystems mit einem omnipotenten, einzigen Gott, dessen Unfehlbarkeit kanonischer und damit unhinterfragbarer Glaubensgrundsatz ist, ist tatsächlich ein solches zumindest zeitweise buchstäblich frag-würdiges Götterkonzept nicht denkbar. Indes sind die Religionsgeschichten der Welt voll von Fehlungen und Verfehlungen ihrer Götter, und deren Abweisung bzw. negative Kennzeichnung kann sehr wohl im Rahmen des eigenen Deutungssystems funktionalisiert werden. Das heißt, abgewiesene Alternativen gehören bei Leibe nicht immer zur Polemik anderer, konkurrierender Religionssysteme (in unserem Falle des vermuteten Christentums), vielmehr nutzen die Systeme diese selbst, intern, für ihre eigenen Grenzziehungen. Scham-, Ekel- und Peinlichkeitsgrenzen, moralische Restriktionen, sexuelle Ge- und Verbote hat ja nicht nur das Christentum, jede Gemeinschaft, jedes System hat diese und damit das Problem der Grenzerhaltung, umso mehr, wenn das System in eine Krisis, in eine Instabilität geraten ist. Gerade dann muss es bestrebt sein, verstärkt operative Schließungen vorzunehmen, gegebenenfalls entstandene (oder bereits vorhandene)
Rakoczy 1996, S. 9. Dumézil 1959, S. 112, in kritischer Replik. Dumézil 1959, S. 114. Vgl. Dumézil 1959, S. 112. Siehe zu Recht kritisch dagegen Dumézil 1959, S. 112– 115. Bonnetain 2013, S. 303. Bonnetain 2013, S. 301.
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„Löcher und Risse“⁴⁰⁰ im Grenzverlauf zu stopfen. „Unschärfe“ und „Ununterscheidbarkeiten“⁴⁰¹ müssen durch Abweisung vielleicht unbemerkter, jedenfalls unerwünscht eingedrungener Elemente angegangen werden.⁴⁰² Von dieser Brüchigkeit weiß das mythische Denken längst, auch dass abzuweisende, ‚undenkbareʻ Elemente zunächst gedacht, erkannt und benannt werden müssen, um sie in einem weiteren Schritt behandelbar machen zu können. Mythos wie Systemtheorie halten dafür die Denkfigur des ,Parasitenʻ bereit als eine Vorstellung der „Rückkehr des Ausgeschlossenen ins Innere.“⁴⁰³ Ein Bild, das nicht nur hilft, jene abstrakten systemtheoretischen Überlegungen der Grenzziehung zu veranschaulichen, das Konzept des ‚ungebetenen Gastesʻ findet sich – wie das ‚Spielʻ oder das ‚Lachenʻ – als narrativer, mythischer wie literarischer Marker für den Kipp-Moment, den Umsturz, die Subversion. Loki ist nichts anderes als dieser Parasit, der abgewiesene Gast, „Sitz und Platz weisen dir beim Gelage / die Asen niemals, / denn die Asen wissen, wem von den Wesen sie / ein mächtiges Gelage gewähren sollen,“⁴⁰⁴ aber damit erschöpft sich seine Rolle nicht. Es geht keineswegs lediglich um die beleidigte Störaktion eines Abgewiesenen, die Prosaeinleitung weist uns die Richtung: Ausgerechnet das ,übermäßige Lobʻ, das die Asen den Dienern des Gastgebers Ægir zukommen lassen, versetzt Loki dermaßen in Rage, dass er einen von ihnen, Fimafengr (etwa „der gewandte Herbeischaffer“), erschlägt. Ein kaum nachvollziehbarer Willkürakt, der, wie meist vermutet, auf der rein narrativen Ebene eingefügt werden musste, um die anschließende feindliche Gesinnung der Asen zu erklären. So oder so wirkt die Begründung merkwürdig genug. Warum sollten die Asen sich in Lobesbekundungen über die Tätigkeit von niederen Arbeitskräften ergehen, ja, sie überhaupt zur Kenntnis nehmen? Sind die Asen Loki tatsächlich nur deshalb so spinnefeind? Dem aus dem Wald zurückgekehrten Loki wird nun plötzlich überhaupt das Recht auf einen Platz ,drinnenʻ verweigert. Der Ursprung dieser Feindschaft scheint viel tiefer zu sitzen, wie eine Art Erzfeindschaft zu Ægir, dem Wassergott, wirkt sie. Allzu erbarmungslos und ebenso aus der Situation eines gewöhnlichen Festmahls heraus nicht ganz verständlich erscheint der Fluch, den Loki über Ægir und seine Halle legt: „Bier brautest du Ägir, aber du wirst niemals / mehr ein Gelage geben; / dein ganzes Eigentum, das hier drinnen ist, / die Flamme züngle darüber / und verbrenne dir den Rücken!“⁴⁰⁵ Eine Götter Leanza 2014, S. 34. Leanza 2014, S. 30. Vgl. Leanza 2014, S. 30. Leanza 2014, S. 35. Siehe Schröder 1952. Die Ähnlichkeiten zum antiken Symposion, die Schröder konstatiert (etwa im ‚ungebetenenʻ oder ‚spätenʻ Gast), müssen entsprechend nicht in historischer Abhängigkeit entstanden sein, sondern sind kulturübergreifendes Bild für ‚das Systemʻ und seine Bedrohungen. Sessa oc staði velia þér sumbli at / æsir aldregi, / þvíat æsir vito, hveim þeir / alda scolo / gambansumbl um geta (Ls 8). Ǫl gorðir þú, Ægir, enn þú aldri munt / síðan sumbl um gora; / eiga þín ǫll, er hér inni er, / leiki yfir logi, / oc brenni þér á baki! (Ls 65).
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gemeinschaft in dieser Art wird es niemals wieder geben. Viele deuten das als eine Vorausschau auf Ragnarǫk, und wenn wir Ægir (< aquarius)⁴⁰⁶ als mythisches Pendant zu Heimdallr verstehen wollen, dann mag ihn (seinen Rücken!) das gleiche Schicksal treffen.⁴⁰⁷ Man wird an das Unheil der Ovidʼschen Flussgötter denken müssen, wie sie verbrennen, verdampfen im Weltenbrand (siehe Met. II, V. 238–259). Die merkwürdige Beklommenheit, die sich beim Auftritt Lokis einstellt, die ungute Atmosphäre wird aber ganz und gar verständlich, wenn wir den Totschlag des Dieners als wie auch immer geartete Reminiszenz oder Analogie zum Baldermord selbst sehen. Es ist nicht der Tod eines Dieners, es ist Balders gerade vorausgegangener Tod, der alle in diese unbehagliche Ausnahmestimmung versetzt. Bereits Golther möchte in der Gestalt des Fimafengr keineswegs einen gewöhnlichen Diener sehen, mit Verweis auf den eindeutig vorausgegangenen Mord an Balder konstatiert er: „Unter Fimafeng, der nirgendwo sonst vorkommt, verbirgt sich Baldr.“⁴⁰⁸ Ähnlich Frog: „This supports a relationship between Lokasenna, the feast in Ægir’s hall and the Baldr-slaying.“⁴⁰⁹ Es ist eine narrative Anspielung, für die die Kunstgestalt des Fimafengr extra konstruiert wurde. Nicht der Diener wird ‚gelobtʻ, wir wissen gut, es ist Balder, bei dem sich alle überschlagen in Lobpreisungen. Und in der Logik mythisch magischen Denkens sind die Götter für den Tod des Dieners wie für Balders Tod verantwortlich: Wie der Diener musste Balder sein Leben lassen, weil alle ihn lobten, Lokis Neid wurde geweckt und die Götter haben Anteil daran. Das ungute, diffuse Schuldgefühl, das über allem liegt, gehört zu einem rituellen Arrangement, das nun
Sicher steht Ægir mit dem Jenseitsreich in Verbindung, die Meeres- und Unterweltgöttin Rán wird ihm (meist) als Ehefrau zur Seite gestellt. Sie sind also das Herrscherpaar über eine Art „unterseeisches Totenreich“ (vgl. Lex.Simek 2006, „Ägir“, S. 3). Die neun Töchter des Meeresriesen, die Ægisdœtra, sind die weiblichen Verkörperungen der Wellen, die unter zahlreichen, wohl auch relativ spät gebildeten Namen gefasst sind (vgl. Lex.Simek 2006, „Ägirstöchter“, S. 4). Sie erscheinen im letzten Rätsel Odins an die tote Vǫlva (Baldrs draumar), und auch wenn der Verdacht naheliegt, dass diese letzte, ,unlösbareʻ Rätselfrage weniger inhaltlich bedeutsam ist als vielmehr funktionell, so sind doch alle dort gestellten Rätsel in irgendeinem Zusammenhang mit Balders Todesumständen zu sehen. Die Töchter des Meergottes gehören wohl in einen ähnlichen rituellen Kontext wie ihre antiken Pendants, die Nereiden: Beim Tod des Achill erscheinen die klagenden Meeresnymphen und nehmen an den Leichenspielen teil, die die Nereide Thetis, die Mutter des Achill, ausrichtet. Als „goddesses of mourning and transition“ zeigen sie sich hier als positive Helfergottheiten (vgl. Barringer 1995, S. 54). Sie treten häufig in antiken Begräbnisszenen wie überhaupt rituellen Übergängen aller Art auf (vgl. Pache 2004, S. 138 f.). Weibliche Wasserwesen gehören auch zum „bunt zusammengewürfelte[n] Trauergefolge“ (Jahnow 1923, S. 243) in der syrischen Baruchapokalypse (10), die zur Wehklage auf das zerstörte Jerusalem anheben sollen: „Herbeirufen will ich die Sirenen aus dem Meer, / und ihr, ihr Nachtfrauen, kommt aus der Wüste herbei, / und ihr Dämonen und Schakale aus den Wäldern. / Ermuntert euch und gürtet eure Lenden zur Wehklage / und stimmt mit mir die Trauergesänge an und wehklagt mit mir“ (Jahnow 1923, S. 244). Hier sind die Wasserfrauen allein schon durch die Eigenart der anderen Trauerteilnehmer (monströse Wüstenund Waldbewohner) eindeutig als negative Gestalten gekennzeichnet. Golther 1895, S. 423. Frog 2010, S. 325.
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gut gefasst werden kann: Es gehört zum Übergangsritus im Bestattungskult. Deshalb jene merkwürdig „passiv duldende[ ] Rolle“, die „sehr verhaltene Aggression“ der Götter, auf die Bonnetain zu Recht verweist.⁴¹⁰ Die ,Zurückhaltungʻ der Asen gehört wie die ,Infamieʻ eines Loki zu einer rituellen Rolle. Loki muss in der Rolle eines Störenfrieds und Schmähers ein Ritual vollziehen, aber er verkörpert ihn auch in einem buchstäblichen Sinn. Die Asen sprechen von einem Spiel, ,Lokis Spielʻ. Er wird im Verlauf der senna mehrmals mit leikr in Beziehung gesetzt: „Létt er þér, Loki, munattu lengi svá / leica lausom hala;“ („Heiter ist’s dir, Loki, du wirst nicht lang so / spielen mit bloßem Schwanz;“ Ls 49). Bonnetain stellt einige weitere aufschlussreiche Beispiele zusammen.⁴¹¹ Aber auch hier wird man sich von den üblichen Konnotationen der Bedeutungslosigkeit und Harmlosigkeit des Spielbegriffs nicht täuschen lassen dürfen. Loki wird als leikinn bezeichnet (Ls 19), was wohl „verspielt“ bedeuten kann, der Begriff erscheint aber auch in magischen Kontexten (Vsp 22), und dann bedeutet er „besessen“. So kann leikr gar synonymisch verwendet werden für seiðr (siehe Laxdæla saga, Kap. 37) – den Totenzauber.⁴¹² In einer rituellen wie mythischen Wirklichkeit ist dies die Leichenfeier Balders. Und in diesem Kontext ist sexualisiertes, anzügliches, skatologisches, peinliches Sprechen nicht lediglich ironische Überhebung mit Ventilfunktion, „Götter-Komik“,⁴¹³ literarischer Selbstzweck,⁴¹⁴ nicht my-
Vgl. Bonnetain 2013, S. 198. Ihrer Begründung dafür können wir indes nicht folgen: „Odin weiß um die ragnarǫk und darum, dass seine Generation ihnen nicht entrinnen kann. Alles was ihm noch zu tun bleibt, ist, seinen Sohn in die Welt nach den ragnarǫk zu entsenden, um den Fortbestand seiner Art zu sichern“ (Bonnetain 2013, S. 201). Balders Tod sieht Bonnetain damit als „Entsendung“, eine Art ,Verschickungʻ in die Unterwelt. Dort wird er, wenn man so will, ,zwischengelagertʻ, Hel „anvertraut“, bis er nach der Apokalypse wieder sicher in Empfang genommen werden kann. Loki ist dann nicht der Betrüger, er wird vielmehr selbst zum Opfer eines Betrugs durch Odin, zum Sündenbock, wo alle anderen Asen ohnehin ahnungslos sind. Vgl. Bonnetain 2013, S. 198 ff. Das nordische leikr entspricht einem nhd. leich, wofür Grimm als Grundbegriff eine „rhythmische[ ] bewegung“ voraussetzt, etwa „goth. laiks χορός, altnord. leikr, spiel, gesellschaftsspiel, tanz, ags. lâc, tanz“. Es ist aber auch „das feierliche schreiten zum opfer und das opfer selbst“, „wettstreit, „kampf“. Siehe auch mundartlich engl. noch laik „spiel, getändel“, schwed. lek, dän. leg „spiel“. Ähnlich got. laikan „springen, hüpfen“, mnh. lēken, „springen, betrügen“, mhd. leichen „hüpfen, betrügen“ (DWb, „leich“). Siehe Höfler 1971. Vgl. Abram 2011, S. 229. Abram möchte die Lokasenna als rein literarisches Konstrukt und damit relativ spät sehen, nicht unbedingt was die pagane Authentizität des Inhalts betrifft (hier sind die mythischen Motive in der Tat noch in einer Reihe anderer paganen Quellen belegbar), er hält vielmehr die Rahmensituation für eine künstlich geschaffene, ähnlich wie Snorri habe der Lokasenna-Autor ein Meta-Narrativ schaffen wollen, in dem er alle bekannten (negativen) Mythologeme der Götter auflisten konnte: „Although many of Loki’s accusations against the gods reflect their appearance in other sources, the sheer variety of material on display here suggests a conscious effort to collect all their negative attributes in one place. It is not the impulse towards insulting the gods, but the impulse towards bringing together such a wide range of different elements and attempting to get them to cohere by creating a frame narrative in which they can be presented, that seems to me to be the mark of a rather late, self-conscious and quite possibly literate poet“ (Abram 2011, S. 229). Das ist zweifelsohne
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thosimmanente (in diesem Sinne ohnehin anachronistische) „Kritik an der regulären Vermenschlichung des Göttlichen“.⁴¹⁵ Als rituell religiöses Handeln ist es genau so gedacht: peinlich, lustig, infam. Deshalb kann Loki so unversehens seine Rollen wechseln, vom Mörder zum Verleumder und Ankläger, zum unflätigen Spaßmacher und schließlich zum Gebundenen, Ausgewiesenen selbst, deshalb die merkwürdige Unentschiedenheit zwischen Klage und Anklage, zwischen Beschuldigungen und Unschuldsbeteuerungen. Vollkommen unbehelligt kann er Scham- und Ekelgrenze überschreiten, Balders Unglück reiht er ein in eine Aufeinanderfolge von Geschmacklosigkeiten, zwischen Ehebruch, Homosexualität, Perversion, Feigheit und Fäkalinjurien, in jeder Hinsicht muss man sich an die grotesken Spaß-Nekrologe der Leichenspiele erinnert fühlen. Schließlich kann Loki sogar unverhohlen auf seinen Anteil an Balders Tod verweisen, „ec því ræð“ („ich bewirkte es letztendlich“)⁴¹⁶ – wohlgemerkt ohne die ganze Verantwortung dafür zu übernehmen. Aber ihm wird auch nicht einmal die Tat als solches zum Vorwurf gemacht. Freyja, die darauf antwortet, scheint ihm eher übel zu nehmen, dass er sie überhaupt erwähnt.⁴¹⁷ Eben eine weitere Geschmacklosigkeit, als (wie häufig vermutet) mögliches Schuldeingeständnis bleibt es jedenfalls ohne Resonanz.⁴¹⁸ Dazu passt, dass die Zeitform des Verbs, mit der Loki seinen Anteil umschreibt, ræð, wohl nicht nur in einem streng grammatikalischen Sinn präsentisch ist. Üblicherweise änderten Kommentatoren dies stillschweigend in eine Vergangenheitsform, so Lindow (etwa „ich bewirkte es“), aber zu Recht fühlt er sich mit solchen Lösungen nicht recht wohl, die Textvorlage biete dafür zu wenig Anhaltspunkte. Er möchte das Präsens beibehalten im Sinne einer präsentischen Verlaufsform: „I am arranging“,⁴¹⁹ „ich bewirke es gerade, in diesem Moment“, vielleicht auch als Zukunft, „ich werde es bewirken“. Aber damit ist das gegenwärtige rituelle Handeln und Sprechen gemeint, der Ritus im Vollzug, der bewirkt, dass Balder, jetzt und in der Zukunft, nicht zurückkehren kann. In dieser Eigenschaft gut beobachtet, aber die Künstlichkeit, die gezielte, selektive Aneinanderreihung von Tabubrüchen ist hier nicht Ausweis einer literarischen, sondern vielmehr einer rituellen Konstruiertheit. Krümpel 2013, S. 60, Anm. 38. Loki qvað: „Enn vill þú, Frigg, at ec fleiri telia / mína meinstafi: / ec því ræð, er þú ríða sérat / síðan Baldr at sǫlom“ (Ls 28). („Immer noch willst du, Frigg, dass ich mehr erzähl / von meinen Unheilstaten: Ich bewirkte’s, dass du nie mehr / Balder zu den Sälen reiten siehst“). Freyia qvað: „Œrr ertu, Loki, er þú yðra telr / lióta leiðstafi; ørlǫg Frigg hugg ec at ǫll viti, / þótt hon siálfgi segi“ (Ls 29). („Freyja: ‚Verrückt bist du, Loki, wenn du erzählst / eure schlimmen Schandtaten; Frigg weiß, mein ich, alle Schicksale, / auch wenn sie selbst nichts sagtʻ). Vgl. Dumézil 1959, S. 105. Dumézil verweist auf das „Halbgeheimnisvolle“ dieser Strophe, die lediglich „schmerzvolle Andeutung“ Friggs, das merkwürdige Eingreifen Freyjas. Das, womit sich Loki so offensichtlich brüstet, scheint so schambesetzt, ähnlich wie der Vorwurf homosexueller Praktiken Odins in Ls 24/25 (vgl. Dumézil 1959, S. 105, Anm. 96), dass sich die Frauen – wieder einmal – abwenden und kein weiteres Wort darüber verlieren. Dumézil nennt es „Vorsichtsmaßregeln“ (Dumézil 1959, S. 105), die offenbar nur an dieser neuralgischen Stelle, der direkten Ansprache von Balders Tod notwendig werden. Offen bleibt dabei, wessen „Schandtaten“ damit eigentlich gemeint sind, die der Männer oder gar die von Loki und Frigg? Lindow 1997, S. 129.
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ist Loki zunächst der rógbera Ásanna, er wird zum ,Staatsanwaltʻ, zum Widersacher, zum Gegner vor Gericht, zu šātan. Aber für wen führt er die Anklage? Wen vertritt er? Er vertritt die Sache des Toten. Er vertritt die Sache Balders, er schmäht stellvertretend für Balder die Asen. Und der Ort, wo dies stattfindet, die Halle des Götterfreunds Ægir, muss eine „Friedensstädte“ sein („Þar var griðastaðr mikill“) ebenso wie bei Balders ritueller Steinigung, das vorgebliche ,Thingereignisʻ. Es geht um die Unverletzlichkeit des Kultes, und wieder ist Loki auf diese Regeln angewiesen – bis dem ein jähes Ende gesetzt wird. Hier und noch ein weiteres Mal hat Thor die kultische Rolle des ‚Spielverderbersʻ, der auf durchaus brachiale Art die Spielregeln bricht, an die sich bis dahin alle bereit waren zu halten. Die Drohgebärde Loki gegenüber beim Göttermahl ist auf einer rein narrativen Ebene der Schluss einer Erzählung über ungebetene Gäste. Auf ritueller Ebene werden diese Handlungen zur letzten und endgültigen Separierung, auch und gerade, wenngleich kein einziges Mal angesprochen, ja auffallend vermieden, dem ungebetenen Gast par excellence gegenüber – dem Toten. Loki wird wie ein Toter, wie ein Jenseitsbewohner behandelt, an Ragnarǫk macht er ohnehin gemeinsame Sache mit ihnen, er wird zu deren Anführer. Im allgemeinen Untergangsszenario, im Zusammenbruch jeglicher Ordnung zieht er mit allir Heljar sinnar, den „Helkerlen“, gegen die Asen (Gylf 51), es sind die Bewohner von Hel, die Toten. Loki wird zum gefesselten, stinkenden Útgarðaloki, zum potentiellen draugr, der an sicherer Stelle gehalten werden muss. Und in diesem Sinne solidarisiert er sich in letzter paradoxer Weise mit dem toten Balder. Denn was alle wissen und was auch die merkwürdige Beklommenheit der Göttergesellschaft begründen mag – der tote Balder ist mindestens genauso gefährlich. Er ist genauso erbost wie Loki, sein Anwalt, der vor den Göttern für ihn eintritt. Loki verflucht – stellvertretend für Balder – die Göttergemeinschaft, er verlangt – stellvertretend für Balder – Einlass. Er beschimpft die Trauergesellschaft, er spielt ein Spiel, a wake game, mit nämlich obszönem, transgressivem, nicht zuletzt gewalttätigem Charakter, wie es aus so vielen Leichenwachen dieser Welt bekannt ist. Seinen Provokationen macht erst der Wutausbruch eines Thor ein Ende. Vielleicht müssen wir in der Festhalle des Ægir sogar das üblichste Arrangement dieses Szenarios annehmen: All das geschieht angesichts des Toten, er ist leibhaftiger Teil davon, der stumme Beobachter: Und so vermag Balder ausdrücklich nicht mehr „zu den Sälen zu reiten“ (Ls 28) – man wird ihn getragen haben müssen. Dann wird Loki von den Asen verfolgt, durch Gestaltenwandel versucht er, sich ihnen zu entziehen, es folgen eine Reihe denkwürdiger Einzelaktionen, bis die Asen schließlich seiner habhaft werden (Gylf 50). Er wird gefesselt mit den Därmen seines Sohnes Narfi und buchstäblich dingfest gemacht bis zu Ragnarǫk, das heißt in der Logik des Mythos ab jetzt für immer. Das tropfende Gift einer über ihn befestigten Schlange scheint dabei die Grausamkeit seiner Strafe bis ins Unerträgliche zu steigern,⁴²⁰ Anklänge an die Qual des Prometheus sind oft vermutet worden, aber bisher
Siehe Gylf 50 (und Prosaschluss der Lokasenna): Þá tók Skaði eitrorm ok festi upp yfir hann svá at eitrit skyldi drjúpa ór orminum í andlit honum. En Sigyn kona hans stendr þá honum ok heldr mundlaugu
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hatte eben weniger die Art von Lokis Bestrafung Bedenken geweckt, sondern der Grund, wenn denn das Rachemotiv zumindest in dieser Form weggefallen war. Ausgerechnet Skaði, „die wilde Jägerin und Kriegsmaid“,⁴²¹ die rasende Flussgöttin ist die eigentliche Urheberin, die Produzentin dieser Qual und wir wissen, Loki hat sich bereits zuvor, rituell, zu ihrem Adoptivsohn,Verwandten, gar Ehemann gemacht. Aber da ist ja noch Sigyn, seine andere ,Verwandteʻ, seine so sanfte, so loyale, so untypische Frau (indes schon früh in der Skaldendichtung des 9. Jhs. belegt), sie versucht das Leid zu lindern, so gut sie kann, indem sie eine Schale über Loki hält und diese von Zeit zu Zeit ausleert. Es ist der einzige Mythos, der von ihr überliefert ist, und es scheint wohl exakt diese Funktion, die ihr die Position in Lokis Mythos verschafft hat. Die Gestalt der Sigune kennt bekanntlich auch die mittelalterliche Minne-Dichtung (siehe etwa Wolfram von Eschenbach). Hier erscheint sie als Paradebeispiel weiblicher Loyalität über den Tod hinaus. Also vermutet Liberman: „There must have been a story of a woman called Sigyn who remained loyal to her husband or lover even after death, as evidenced by Wolfram’s Parzival, in which Schianatulandr […] is survived by Sigune.“⁴²² Und so stelle in diesem „patchwork“-Narrativ Sigyn eben „the figure of a ,faithful wifeʻ“⁴²³ dar. Das mag wohl stimmen, aber ist es nicht verwunderlich, dass man diese ausgerechnet an Lokis Seite stellt, zumal er sonst eher sexuell unverbindliche, jedenfalls gänzlich unsentimentale Beziehungen zu bevorzugen scheint? Ja, rückt Sigyn mit dieser Charakterisierung nicht merklich nahe an die fürsorgliche Iðunn? Sigunes Funktion im christlich mittelalterlichen Text lässt sich gut aufzeigen: Parzival begegnet ihr an bedeutsamen, existenziellen Wendepunkten seines Lebens,⁴²⁴ Sigune selbst scheint nicht nur ihrerseits in einer Grenzsituation, sie markiert auch die Grenzen, Kipppunkte im Leben des Helden. Parzival trifft sie zum ersten Mal an in einem typischen Klageszenario, unter einer Eiche sitzend, wie versteinert, haareraufend, beweint sie ihren toten Geliebten, den Ritter Schionatulandr, dessen abgeschlagenen Kopf sie im Schoß hält. Wir kennen das nämliche Arrangement aus der berühmten Klage der Emer um ihren toten Gatten Cú Chulainn, und auch Sigrún will dem toten, blutüberströmten Helgi auf ähnliche Weise nahe sein (HH II). Noch drei weitere Male trifft Parzival auf sie, immer in innigstem Kontakt mit dem Leichnam, gar auf einem Baum mit dem einbalsamierten Leichnam, in nimmer enden wollenden Beteuerungen der Schuld der Lebenden dem Toten gegenüber, zu guter undir eitrdropa. En þá er full er mundlaugin þá gengr hon ok slær út eitrinu, en meðan drýpr eitrit í andlit honum. Þá kippisk hann svá hart við at jǫrð ǫll skelfr. Þat kallið þér landskjálpta. Þar liggr hann í bǫndum til ragnarøkrs. („Dann nahm Skadi eine Giftschlange und befestigte sie so über ihm, daß das Gift aus der Schlange ihm ins Gesicht tropft. Aber Sigyn, seine Frau, steht bei ihm und hält ein Waschbecken unter die Gifttropfen. Ist dieses Gefäß voll, geht sie weg und schüttet das Gift aus. Derweil tropft es jedoch auf sein Gesicht. Dabei fährt er so stark zusammen, daß die ganze Erde bebt; das nennt ihr Erdbeben. Dort liegt er in Fesseln bis zum Ragnarök“). Neckel 1920, S. 23. Liberman 1992, S. 116. Liberman 1992, S. 116. Vgl. Zmaila 2002, S. 11.
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Letzt schließlich als Tote über den Sarg ihres Gatten gebeugt. Es sind Variationen oder Stationen im Begräbniskult, wir erkennen den typischen, rituell unterstützten Transformationsprozess der Leiche: vom Zustand der Zerstückelung hin zur Mumifizierung und schließlich zur Heilung und Grablege. Sigune begleitet diesen Übergangsprozess über die Grenzen des Diesseits hinaus, sie stirbt. Sie mag wohl als bizarres Geschöpf im dramaturgischen Verlauf des Parzivalromans erscheinen, aber letztendlich sind alle ihre Handlungen Elemente der Totenpflege. Und wenn wir die spezifische Verkörperung Skaðis als nordischen Urfluss bereits hinreichend klar gemacht haben einschließlich ihrer besonderen Funktion in der Totenfürsorge, so ist diese nun auch für Sigyn mehr als wahrscheinlich: Auch in Sigyns Namen erscheint ihre sehr alte und ursprüngliche Wassernatur.⁴²⁵ Und ähnlich wie Iðunn ist ihr der unterstützende, erlösende Part zugedacht – im Loki-Mythos allerdings mit Hindernissen: Im rituellen Handeln wird Loki zum Besessenen, mehr und mehr identifiziert er sich mit dem toten Balder, wird zu dessen gehässigem Ankläger. Und scheint er sich zunächst noch in seinem albernen Ziegen-Hoden-Spiel über diesen lustig zu machen, so wird das Spiel nun auch für ihn unversehens bitterer Ernst. Die Tortur des Prometheus, der unentfliehbar festgekettet ist in der Bergwelt des Kaukasus, erfolgt bekanntlich durch einen Adler, der ihm Nacht für Nacht die Leber herausreißt, also beginnt, ihn zu zerstückeln (Hesiod. theog. 524 f.). Wir erkennen darin den (parsischen) Expositionsritus, eine Sekundärbestattung, die notwendige Transformation der Leiche als „kultische Seligkeitshilfe“⁴²⁶ durch ausschließlich Aas-Vögel,⁴²⁷ aber
So verwirft Ricardo Ginerva zu Recht die früheren Etymologisierungsversuche des Namens Sigyn („both from a formal and a semantic point of view“ [Ginerva 2018, S. 65]): „ON Sigyn as ,victory-friendʻ [*Sig-vin, d. Verf.] would in no way match the character of the goddess, who exclusively appears in narratives on her husband’s defeat and imprisonment“ (Ginerva 2018, S. 66). Nachdem Sigyns Hauptrolle im Mythos das Sammeln und Wegschütten einer (giftigen) Flüssigkeit sei, mache es bedeutend mehr Sinn, Sigyn als *sig-unjō- aufzulösen, „,she of the trickling (liquid)ʻ, a derivative of *siga- ,trickling (liquid)ʻ (ON sig ,sinking, falling, weightʻ, ModNorw. sig ,trickling waterʻ […])“ (Ginerva 2018, S. 68), die nämliche Wurzel, die wir bereits im Toponym Singasteinn des Heimdallr-Mythos vermutet haben. Ginervas weitere Interpretation, „the possible association of Sigyn’s myth with preChristian Scandinavian fire-rituals involving the pouring of liquids“ (Ginerva 2018, S. 73) und Loki dabei als ,Feuergottʻ anzusehen wäre, können wir indes kaum unterstützen. Hermann 1956, S. 85. Egeler verweist in anderem Zusammenhang auf ein Aussetzungsritual der vorrömischen Keltiberer (vgl. Egeler 2011, S. 197– 220.). So berichte Silius Italicus (Punica III, S. 340 – 343) über zwei unterschiedliche Arten der Bestattung, die wenig ehrenvolle Verbrennung und „das Verfüttern des Leichnams an die Geier“ (Egeler 2011, S. 201). Letzteres sei als besondere Auszeichnung für den gefallenen Krieger verstanden worden, dass er auf direktem Weg zu den Göttern gelange, „wenn der hungrige Geier die darniederliegenden Glieder packt“ (Egeler 2011, S. 200 f.). Dieser Übergang glückt weder bei Prometheus noch bei Loki. Der Einschätzung Egelers, dass sich das keltiberische Aussetzungsritual aufgrund des „selektiven Charakter[s]“ gänzlich von parsischen (auch tibetischen und afrikanischen) Aussetzungsritualen unterscheide, werden wir indes kaum zustimmen können: Hier sind es besonders privilegierte Kultempfänger, die diese Behandlung verdient haben, woanders besonders gefährliche oder schändliche, die dieser Behandlung ebenso zwingend bedürfen. Der Wis-
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gerade nicht zu Ende gebracht, immer und immer wieder aufs Neue begonnen, den Toten wieder zurückgebracht ins Leben, eine Perversion, eine Inversion des Ritus wie sie der Norden ebenso kennt zuvorderst in Gestalt der wiederbelebten Krieger des Hjaðningavíg. Erst im Unsterblichkeitskonzept des spätpaganen Kriegerhimmels Walhall scheint es seinen Schrecken verloren zu haben und wird gar zum angestrebten Post-mortem-Kriegerprivileg. Aber hängt nicht auch Loki unentrinnbar fest ausgerechnet am Flussgott Þjazi (in Gestalt eines Adlers), halb zerfetzt, geschleppt über Stock und Stein am Anfang aller Tage? Iðunn, ihre spezifischen Transformationskräfte vermögen hier buchstäblich Erlösung zu bringen. Freilich, am Ende aller Tage führt Skaði das grausame Handwerk ihres Vaters fort. Aber auch in nachchristlichen, jüdischen Quellen zeigen sich dazu auffallende Ähnlichkeiten. Im Mischnatraktat Avodah sara (20b) wird der so genannten ,Engel des Todesʻ beschrieben: It is said regarding the Angel of death that he is full of eyes.When a sick person is about to die, he stands above his head with his sword drawn and a drop of poison hanging from the tip.When the sick person sees him, he trembles and opens his mouth [in terror]. He than drops the poison into his [victim’s] mouth.⁴²⁸
Natürlich sind die Einzelmotive anders begründet, aber sie sind als solche vorhanden: Quälende Gifttropfen, die auf das Haupt (in den Mund) des Sterbenden getropft werden durch einen Engel des Todes, ausdrücklich erbebt dadurch der Körper im Todeskampf, und Skaði selbst, die tödliche Transformatorin par excellence, übernimmt im Norden diese Aufgabe. Bezeichnenderweise begegnen wir diesem Motiv des Träufelns von Schlangengift in die Speise (und damit in letzter Konsequenz in den Mund) auch in Saxos Balderus-Erzählung. Auf die Ähnlichkeit zwischen beiden Szenarien ist in der Forschung bereits verwiesen worden.⁴²⁹ Saxo berichtet von der besonderen Kraftspeise des Balderus: Ceterum in expedito victoriae gratiam fore, si inusitatae cuiusdam suavitatis edulium augendis Balderi viribus excogitatum praeripere potuisset (Gest.Dan. 3.3),⁴³⁰ ausdrücklich eine „Süßigkeit“, eine Beschreibung, die ganz unpassend für die Gefährlichkeit und Bitterkeit des Schlangengifts erscheint. Es stimmt: „There is no corresponding use of serpent venom as a positive or delicious substance or ingredient in the medieval Norse corpus, nor is ‚venomʻ ever a powergiving substance“⁴³¹ – nicht für die Lebenden. Es ist eine machtvolle Totenspeise,
sensrahmen, der dahintersteht, ist identisch. Es geht um die sichere, vollständige, unumkehrbare Transformation. Friedman und Lipman 1998, S. 32. Vgl. Frog 2010, S. 293 f. In der deutschen Übersetzung von Herrmann wird diese Semantik ganz übergangen („Die Gunst der Siegesgöttin werde ihm aber nicht fehlen, wenn er eine Speise von ganz ungemeiner Zauberkraft, die zur Hebung der Kräfte des Balder ausgedacht sei, vorwegnehmen könne;“). Siehe aber Frog 2010, S. 293: „[E]dible things of a rare variety of sweetness [kursiv d. Verf.].“ Frog 2010, S. 293.
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Transformationsspeise, und die Wesenheit der Spenderin zeigt deren andere verhüllte Natur: Im Fütterungsakt nach Art eines Kleinkinds, in der vorgeblichen Süßigkeit der Speise wird man Iðunns unsterblich machende (wenn auch in jeder Hinsicht pervertierte) Milchgabe vermuten müssen.
7.7.3 Tränen Die Schärfe und Bitterkeit des Schlangengifts ebenso wie die Süßigkeit der (Mutter)milch ruft nun starke Assoziationen zu einer anderen Art von (menschlicher) Körperflüssigkeit hervor, die die Lebenden den Toten tatsächlich ebenso zukommen lassen müssen.⁴³² In Gestalt der römischen praeficae sind diese Körpersekrete ohnehin rituell verbunden: Es ist die Gabe der Tränen der Lebenden, die wiederum die Macht der Toten auf gleiche Weise über die Gebühr steigern und unerwünscht verlängern können. Entsprechend hineinverwoben und mitaufgerufen in Lokis Tortur ist das ungemein populäre, folkloristische Motiv des übervollen Tränen-Krügleins (hier Sigyn zugeschrieben), das eng und durchgehend verbunden ist mit dem Vorstellungskomplex von Tod, Trauer und Sterben. Es ist zahlreich vertreten in Märchen- und Folkloreindices (vgl. etwa Kinder- und Hausmärchen 109: Das Totenhemdchen): Die bitteren Tränen einer untröstlich trauernden Frau um ihr totes Kind oder ihren Geliebten lassen diese gerade nicht zur Ruhe kommen, im Totenreich müssen damit Gefäße gefüllt werden, die wegen des Übermaßes an Tränen überlaufen, dem toten Kind die Kleidung nässen und damit Unbequemlichkeit bereiten. Eine durchaus nicht erwünschte, ja nachgerade gefürchtete Konsequenz ist die Rückkehr des Toten. Aber wir haben es hier nicht mit (ausschließlich) späten, volkstümlichen Elementen zu tun. Die Vorstellung, dass es gerade die Tränen der Hinterbliebenen sind, die die Totenruhe stören, finden wir schon wesentlich früher, auch und gerade in altnordischen Kontexten, und hier zeigt sich auch die auffallende Gleichsetzung der Tränen mit einer scharfen, brennenden Flüssigkeit, die dem Toten schwer zu schaffen macht, auch die Vorstellung von unangenehmer Feuchtigkeit, die Tränen werden zu Blut, füllen den Sarg des Verstorbenen und machen ihm eine ungestörte Ruhe unmöglich. In der schauerlichen Zusammenkunft der Sigrún mit ihrem verstorbenen Geliebten Helgi im Grabhügel finden wir bereits alle diese Vorstellungen miteinander verknüpft. Der Tote wendet sich zuallererst mit diesem, wenn auch stillschweigenden Vorwurf an die Lebende: „Du nur bewirktest, Sigrún von Sewafjöll, / dass Helgi mit Kummertau bedeckt ist. / Weine, Goldgeschmückte, bittre Tränen, / Sonnenglänzende aus dem Sü-
Man wird an die gleiche extreme Diametrie der kultischen Nahrungsmittel im Bestattungskontext des Egill denken müssen (Egils saga, Kap. 78): ‚süßeʻ Milch und ‚bittererʻ, salziger Seetang, bezeichnenderweise beides verabreicht von seiner Tochter.
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den, eh du schlafen gehst. / Jede fällt blutig dem Fürsten auf die Brust, / nasskalt, innen brennend, von Kummer beschwert.“⁴³³ Auch die Sagas kennen diese Art von Störung der Totenruhe. Die Laxdœla saga (Kap. 76) weiß von dem merkwürdigen Auftritt einer toten, heidnischen Seherin zu berichten, die, obgleich begraben unter den hölzernen Planken des Kirchenbodens, ausgerechnet durch die anhaltenden Tränen der bekehrten Gudrun aus ihrem Todesschlaf geweckt wird.⁴³⁴ Sie erscheint Herdís, der Enkelin Gudruns, im Traum und beklagt sich kaum weniger bitter wie unser Helgi: Es wird erzählt, daß das Mädchen Herdis eines Nachts träumte, eine Frau käme zu ihr. Sie trug einen Wollmantel und hatte den Kopf mit einem Tuch umhüllt. Ihr Aussehen schien Herdis nicht von gefälliger Art zu sein. Die Frau sprach: „Sag deiner Großmutter, daß ich es ihr verüble, wenn sie sich jede Nacht auf mir wälzt und heiße Tropfen auf mich fallen läßt, daß ich über und über davon brenne. Dies sage ich dir deshalb, weil ich dich etwas mehr schätzte, wenn auch an dir etwas Seltsames ist. Und doch würde ich mit dir zurechtkommen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, daß Gudrun Schwierigkeiten bereitete.“⁴³⁵
Dabei gelten diese Tränen nicht einmal der Toten, es sind christliche Tränen der Reue, die Gudrun vergießt, aber gerade im Kontakt mit einer toten Heidin, noch dazu einer (mutmaßlich) zauberischen, die wohl auch noch oder gerade im Tod Übles bewirken könnte, entwickeln ihre rechtschaffenen, christlichen Tränen offenbar eine giftige, zumindest aber hochpotenzierte, magische Qualität. Interessant genug stoßen wir auch hier auf jene Personenkonstellation, die bezeichnend scheint für den rituellen Bestattungskontext: Es sind zwei verwandte Frauen, von denen die eine ältere, wenn
Ein veldr þú, Sigrún frá Sefafiollom, / er Helgi er harmdǫgg sleginn; / grætr þú, gullvarið, grimmom tárom, / sólbiort, suðron, áðr þú sofa gangir; / hvert fellr blóðuct á brióst grami, / úrsvalt, innfiálgt, ecca þrungit (HH II, 45). Siehe auch die dänische Ballade Fæstemanden i Graven (17. Jh.), auch hier bereitet das Weinen der hinterbliebenen Frau ihrem toten Ehemann eben jene Unannehmlichkeiten: „Jedes Mal, wenn du für mich weinst, deinen Sinn betrübst: da steht mein Sarg innen voll mit geronnenem Blut.“ (For huer en gang du greder for mig, din hu giøris mod: da staar min kiste for inden fuld med leffret blod [Grundtvig (Hg.) 1856, S. 495, Str. 17]). Ein Motiv, das sich in Balladen und Volksliedern großer Beliebtheit erfreute und entsprechend weit verbreitet war im gesamten nordischen Bereich, nahezu in ganz Europa (mit Ausnahme der romanischen Länder) und in Russland (vgl. Komm.Edd. Heldenlieder, von See et al. 2004, S. 608). Durchaus umstritten ist dabei die Frage, ob wir es mit lediglich Motivparallelen zu tun haben ohne genetische Verbindung oder ob die skandinavischen Balladen etwa aus dem Helgi-Stoff oder anderen, eddischen Quellen schöpfen (vgl. Komm.Edd. Heldenlieder, von See et al. 2004, S. 614). Aber es existieren auch außereuropäische Parallelen, so verweist Hedwig Jahnow in ihrer Arbeit über das hebräische Leichenlied auf eine syrische Fassung, die in zahlreichen Variationen in ganz Vorderasien verbreitet gewesen sei (vgl. Jahnow 1923, S. 48). Beck (Hg.) 1997. Þat er sagt einhverja nótt, at meyna Herdísi dreymdi, at kona kœmi at henni; sú var i vefjarskikkju ok faldin höfuðdúki; ekki sýndist henni konan svipleg, Hon tók til orða: „Seg þú þat ömmu þinni, at mér hugnar illa við hana, þvi at hon bröltir allar nætr á mér ok fellir á mik dropa svá heita, at ek brenn af öll. En því segi ek þér til þessa, at mér likar til þin nökkuru betr, en þó svífr enn nökkut kynlegt yfir þik; en þo munda ek við þik semja, ef mér þœtti eigi meiri bóta vant, þar sem Guðrún er.“ (Lax. Kap. 76).
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auch unbeabsichtigt, die ,Emissionärinʻ einer schädlichen Substanz ist, die jüngere hingegen dazu auserkoren wird, diesen qualvollen Zustand um ihrer aller Wohlergehen, der Lebenden und der Toten, zu beenden. Und alle wissen um die weitere, übliche ,draugr-Therapieʻ, die ruhelose bzw. ruhelos gemachte Untote muss erneut ausgegraben werden und an einen entlegenen, störungsfreien Ort verbracht werden. Und diese Behandlung halten die Asen auch für Loki notwendig. Zwei weibliche ,Verwandteʻ werden zu seiner weiteren Versorgung abgestellt, das ätzende Gift der Schlange ist gleichermaßen zynische Pervertierung der Tränen der trauernden Hinterbliebenen, indes die Wirkung, und auf die zielt dieses Bild ab, ist dieselbe. Sigyn wie Skaði sind Lokis „wailing-women“, in einer speziellen, abwehrrituellen Situation. Selbst die besondere Art der Fesselung Lokis scheint mit Bedacht gewählt, um eine wirkungsvolle Bannung zu gewährleisten. Es sind die Därme seines Sohnes Narfi, (vom eigenen Bruder aus dem Leib gerissen) mit denen er auf einer Steinplatte fixiert wird. Bestenfalls als kurioses Detail registriert fand es in der Forschung ansonsten eher wenig Beachtung. Als Tötungsart selbst haben wir die Entdärmung schon kennengelernt, im Zusammenhang mit einem Baumfrevelvorwurf. Wie es scheint, sollten die schädlichen Wirkmächte, die negativen Potenzen des Baumes, die durch die Entrindung freigesetzt wurden, mithilfe der eigenen Gedärme des Delinquenten festgehalten und gebannt werden.⁴³⁶ Auch als Motiv der antijüdischen und antimuslimischen (antisarazenischen) Polemik des Mittelalters erscheint es: Es sind die Heiden, die Andersgläubigen, die ‚Unmenschen‘, die solche Taten „contra naturam“ verüben.⁴³⁷ Aber nicht zuletzt deren perfide skatologische Natur macht nicht nur die Täter, sondern auf besondere Weise die Opfer abstoßend ,ent-menschlicht‘. In der irischen wie in der nordischen Literatur wird die liminale Gestalt des Hofnarren mit dieser buchstäblich an den Grenzen des Leidensmöglichen angesiedelten Todesart in Verbindung gebracht. So berichtet die Erzählung Fingal Rónáin („How Rónán Killed His Son“), wie der gute Königssohn Mael durch eine Intrige falsch beschuldigt wird und sein Vater ihn daraufhin töten lässt.⁴³⁸ Dessen treu ergebener Hofnarr Mc Glass findet ebenfalls den Tod, indem der Mörder ihm den Bauch aufschlitzt, seine Eingeweide an einem Speer aufwickelt und den Raben zum Fraß vorwirft. Sein Todeskampf bewirkt bei den Umstehenden allgemeine Heiterkeit, so dass der sterbende Königssohn sich schämt für das ‚unziemlicheʻ Verhalten seines Narren, wie es heißt, und ihn auf grotesk makabre Weise zur Ordnung ruft.⁴³⁹ Hierher gehört auch die Außenseitergestalt Halli, eben jener Emporkömmling aus kleinsten Verhältnissen, der sich in der Mitte der Adelsgesellschaft gerade durch grenzenlose Respektlosigkeit und Spaßmacherei (also in der Rolle des Hofnarren) einen Platz, zumindest auf Zeit, sichern kann. Zu Recht hat Turco schon im ,Hoden-Ziegen-Arrangementʻ Lokis Ver Vgl. Mannhardt 1875, S. 26. Vgl. Uebel 1996, S. 267. Übers. Thurneysen 1901: „Ronans Sohnesmord“. „Mac Glass, / hüte deine Eingeweide! / Kennst du schon kein Schamgefühl, / mach den Leuten nicht noch Freude“ (Übers. Thurneysen 1901, S. 116).
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bindungen zu jenem Anti-Helden vermutet, in dessen eigenem makabren Tod sehen wir eine weitere: Mit derben Skatologien und Sexismen hat Halli den König Harald erheitert, schließlich ereilt ihn der Tod ausgerechnet beim Grützeessen. Dies kommentiert nun der König hämisch, er müsse wohl an der Grütze geplatzt sein (Á grauti myndi greyit sprungit hafa).⁴⁴⁰ Hier mag die monströse Transgressivität dieser Todesart, die alle natürlichen Grenzen des Körperlichen überschreitet, bestenfalls noch als ferne Reminiszenz anklingen, dem verachteten, marginalen Status eines bäuerlichen Nobodys geschuldet, aber hinter all diesen barbarischen Episoden steht letztendlich die Vorstellung eines wirkmächtig abstoßenden Apotropaions. Denn selbst die Liminalität eines Narren war potentiell gefährlich und bedurfte (unter Umständen) drastischer Mittel zur Beherrschung. Für Loki, den ,entsetzlichʻ lustigen, monströsen Grenzgänger, waren sie auf jeden Fall notwendig. Hierher gehört auch das Scheinopfer der Gautreks saga (Kap. 7), wenn König Víkarr nicht nur der Rohrstängel, sondern ausgerechnet Kalbsdärme (kálfsþarmar) zum tödlichen Verhängnis werden.⁴⁴¹ In der Forschung wird gerade dieses Szenario bevorzugt zum Baldermythos gestellt,⁴⁴² wenn es hier auch eher die Übereinstimmungen zu Balders Misteltod waren, die das Interesse geweckt haben. Beide Motive, der Rohrstängel als Waffe wie die Fesselung mit Kalbsdärmen sind bei der Víkarr-Opferung in einen Kontext von vorgeblicher Harmlosigkeit und Wirkungslosigkeit gestellt, aber gerade hier, in einem expliziten Opferkontext, wird man eine ganz andere Bezugsebene annehmen müssen. Die wichtige apotropäische Funktion von Gedärmen, menschlichen wie tierischen, machen es kaum wahrscheinlich, dass es sich um einen ‚falschenʻ, lediglich ‚gespieltenʻ Tötungsakt handelt. Es ist vielmehr der rituell besonders abgesicherte, tabuisierte und damit hochgefährliche Tötungsakt: Der gefährlichen, zauberischen Potenz der Todgeweihten, der Toten, liminaler Wesen überhaupt muss mit diesen spezifischen Vorkehrungen entgegengetreten werden. Dazu gehört (wie in Lokis Arrangement) die Dreiheit der absichernden Maßnahmen. Frog sieht die spezifische Wirkmacht erst als Ergebnis einer gewissen magischen Transformation:
Über den gleichzeitig gemeldeten Tod eines seiner Gefolgsmänner indes mutmaßt er, er müsse tapfer durch Waffen (also standesgemäß) zu Tode gekommen sein (Fyrir dǫrrum mun drengrinn hnigit hafa [Sneglu-Halla þáttr, Kap. 10]). (Jónas Kristjánsson [Hg.] 1956a). Síðan steig hann upp á stofninn, ok lagði Starkaðr virgulinn um háls honum ok steig síðan ofan af stofninum. Þá stakk Starkaðr sprotanum á konungi ok mælti: „Nú gef ek þik Óðni.“ Þá lét Starkaðr lausan furukvistinn. Reyrsprotinn varð at geir, ok stóð í gegnum konunginn. Stofninn fell undan fótum honum, en kálfsþarmarnir urðu at viðju sterkri, en kvistrinn reis upp ok hóf upp konunginn við limar, ok dó hann þar. Nú heita þar síðan Víkarshólmar (Gautreks saga, Kap. 7 [Ranisch [Hg.] 1900]). („Danach stieg er hoch auf den Klotz und legte ihm den Strick um den Hals und stieg dann herunter vom Klotz. Dann stieß Starkaðr den Zweig in Richtung des Königs und sprach: ,Nun gebe ich dich Óðinn.ʻ Dann ließ Starkaðr den Zweig los. Der Zweig wurde zu einem Speer und durchbohrte den König. Der Klotz fiel unter seinen Füßen um und die Kalbsdärme wurden stärker. Der Zweig flog nach oben und riss den König mit. Dort starb er dann. Seitdem heißt dieser Ort Víkarshólmar“ [Übers. Bonnetain 2006, S. 101]). So schon Neckel 1920, S. 242, der in der Víkarsage „eine Nachbildung von Balders Tod“ sehen möchte.
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The plant-weapon’s transformation appears in conjunction with the transformations of intestine to withy or withy to iron in the noose. This transformation participates in the pattern of harmlesslooking bonds which become unbreakable through magical transformation. The use of intestines is connected indexically to the binding of Loki through the magical transformation of the intestines of his son […].⁴⁴³
Man wird aber wohl davon ausgehen müssen, dass die gewählten Materialien von Anfang an diese Potenz besitzen. Noch in mittelalterlichen Hinrichtungen spielt das Einwickeln oder buchstäblich Einnähen in Ochsenhaut die nämliche Rolle. Nur so ist die Gemeinschaft vor der bösartigen, liminalen Wirkmacht des Todgeweihten geschützt.⁴⁴⁴ In der altenglischen Deor-Fassung scheint Wieland der Schmied, wenn auch eher kryptisch, auf diese Weise außer Gefecht gesetzt worden zu sein⁴⁴⁵: siþþan hine Níðhád on néde legde swoncre seonobende on syllan monn („after Nithhad upon him laid a compulsion, supple bounds on sinew on a better man“).⁴⁴⁶ Hier scheint eine Verbindung zum altenglischen Rätsel 12 (ebenfalls Exeterbuch) zu bestehen, in dem eine Fessel aus Ochsenleder umschrieben wird: „If life leaves me I then bind fast the swarthy Welsh, and sometimes better men“ (gif me feorh losað fæste binde swearte wealas, hwilum sellan men, V. 3 f.). Entsprechend sei wohl eine weit verbreitete (magisch gegründete) Tradition in der Art wie Zielgruppe dieser Fesselung zu vermuten.⁴⁴⁷ Unversehens erscheint Loki also im rituellen Kontext von Wiedergängertum, gefährlichen Toten, einschließlich deren Behandelbarkeit, und ebenso unversehens gerät die besondere, magische Wirkmacht der Tränen auf die Toten in einen neuen Blickwinkel. Nicht nur das überreiche Spenden dieser Körperflüssigkeit gehört zu einer der wichtigsten rituellen Maßnahmen im Bestattungskontext, es ist gerade auch deren Kontrolle bis hin zum Ziel, diese komplett fernzuhalten. Ja, ab einem gewissen Punkt scheinen Tränen kaum mehr gewünscht, nicht einmal bei den zärtlich geliebten, schmerzlich vermissten Toten, den Kindern. Etwas Widernatürliches, Unnatürliches haftet dann an deren Effekten, jetzt bewirken sie chaotische, erschütternde, destabilisierende Zustände, sie bringen die Dinge wieder in Bewegung, wieder zueinander, die längst nicht mehr zusammengehören: die Toten und die Lebenden. Beim toten Balder spielen gewiss die Tränen, die geweinten wie die ungeweinten, eine kaum zu überschätzende, zentrale Rolle. Und Loki wird hier noch einmal eine letzte rituelle Aufgabe zu erfüllen haben. Bekanntlich bringt Hermóðr von seiner Reise ins Totenreich eine Bedingung mit von Hel: ‚Lösegeldʻ verlangt sie, um Balder aus der Unterwelt zu entlassen. Das sind die berühmten Tränen um Balder, die wohl, neben der Mordwaffe, der Mistel, am meisten im Mythos im Vordergrund standen, plakativ, aber
Frog 2010, S. 289 f. Anders von Amira 1922, S. 226 f. Vgl. Frog 2010, S. 290, Anm. 404. Deor, V. 5 f. (Slade [Hg.] 2002). Vgl. Cavell 2016, S. 198 f.
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vermeintlich solitär. Denn Befremden erweckten sie allemal,⁴⁴⁸ schließlich galt ausgesprochen oder unausgesprochen die Prämisse: „[I]n old Germanic literature men never cry“.⁴⁴⁹ Consequently, the reaction of those who witnessed Baldr’s death and Hel’s demand are unusual. Even if Neckel’s idea on the importation of the Baldr myth from the East were sustainable, the ethos of medieval Scandinavia could have been expected to suppress such a demeaning detail as men in tears. Yet Snorri allowed the gods to weep.⁴⁵⁰
Hatten also die Tränen der Götter tatsächlich ursprünglich diesen zentralen Platz im Mythos oder erschienen sie erst unter der Feder Snorris als solche? Gerade das Tränenmotiv scheint doch den Mythos in eine befremdliche, ,ungermanischeʻ Erlösungsgeschichte zu wandeln. Die tränenreich inszenierten Wiedererweckungsbemühungen schienen damit den meisten jedenfalls fremder Herkunft, Tränen, die man um östliche Götter weinte, die man wiederum gemeinhin, zumindest für lange Zeit, sehr pauschal unter der Rubrik ,Fruchtbarkeitsgötterʻ abgehandelt hatte. Aber auch wenn die Vorstellung von Tränen als wie auch immer geartete, fruchtbarkeitsfördernde Maßnahme häufig genug ist, im Balder-Mythos finden sie keinen Rückhalt.⁴⁵¹ Nun lässt sich die viel beschworene Tränenlosigkeit des germanischen Mannes, seine unbeugsame, harte Sinnesart auch und gerade im Angesicht des Todes in dieser Form kaum aufrechterhalten. Tacitus mag das Seine dazu beigetragen haben, wenn er im ersten nachchristlichen Jahrhundert von der Einfachheit und Glanzlosigkeit der germanischen Bestattungsriten berichtet, natürlich in bewusster Gegenüberstellung und Abgrenzung zum seiner Ansicht nach allzu großen Prunk und Verschwendungssucht (und wohl gleichermaßen exzessiven Zurschaustellung vom Körperreaktionen) römischer Beerdigungen: Die Germanen hingegen legten Wehklagen und Tränen rasch wieder ab, wie diese Art der Trauer ohnehin nur für Frauen angebracht schien, Männer blieben im stummen (und wohl tränenlosen) Gedenken.⁴⁵² Schon Leicher hält indes die darauf gegründete Vorstellung, dass sich der Schmerz der Germanen also keinesfalls in einer irgendwie laut geäußerten Klage oder sichtbaren Zeichen der Trauer zeigte, für nicht haltbar. Gerade die Schilderung einer berühmten Beerdigung vermittle schließlich das schiere Gegenteil: Die Bestattung des
Siehe Mills 2013, S. 69: „Scholars have long been fascinated by the weeping in this text, and a number of theories have been advanced to explain what many consider to be puzzling and uncharacteristic behavior for Norse gods.“ Liberman 2004, S. 38. Liberman 2004, S. 38 f. „It would make the case easier if Baldr emerged in art and poetry wearing a wreath of leaves or if details of his cult were known. But then there would have been no problem. Admittedly, the evidence of Baldr’s ties with vegetation is slight“ (Liberman 2004, S. 39). [L]amenta ac lacrimas cito, dolorem et tristitiam tarde ponunt. feminis lugere honestum est, viris meminisse. („Wehklagen und Tränen legen sie rasch wieder ab, Schmerz und Betrübnis nur langsam. Für Frauen gilt das Trauern als angebracht, für Männer das Gedenken.“ Germ., Kap. 27).
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Königs Theoderich bei Jordanes (De origine actibusque Getarum, 551 n.Chr.). Ausdrücklich erwähne Jordanes, dass selbst tapfere Männer weinen würden, irgendwie geartete, laute Schmerzäußerungen, „verworrenes Geschrei“ (dissonae voces) von sich geben.⁴⁵³ Aber diese männlichen Schmerzäußerungen seien keineswegs mit „weibischem Heulen“ zu vergleichen, was den Frauen die Tränen, sei den Männern das Blut als Gabe an den Toten.⁴⁵⁴ So oder so steht hier die sehr archaische, konkret körperhafte Vorstellung der Substitution von Vitalkraft durch Körperflüssigkeiten im Vordergrund. Wie aber kommt es zu diesen großen Unterschieden, müssen wir wirklich (wovon offenbar Leicher ausgehen möchte) in diesen 400 Jahren eine dermaßen eklatante Änderung im Trauerverhalten annehmen?⁴⁵⁵ Nun wird aber neuerdings das Axiom des ,nicht weinenden Mannesʻ wieder auf den Prüfstand gestellt. So verlangt etwa Kristen Mills in ihrer Untersuchung über nordische literarische Trauermotive auch für die Trauermotivik im Baldermythos eine Neuevaluierung: „The emphasis Snorri places on the weeping for Baldr calls for a careful reexamination of the relationship between masculinity and weeping in medieval Icelandic and Scandinavian literature.“⁴⁵⁶ Und sie kommt zu einem jedenfalls modifizierteren Ergebnis: Männliche Tränen stellten in der mittelalterlichen realistischen, isländischen Sagaliteratur wohl die Ausnahme dar, aber der Baldermythos zeige insgesamt wenig isländische Provenienz. Im Grunde genommen habe Snorri diesen im geistigen oder ideellen Milieu des mittelalterlichen Königshofes angesiedelt, die Götter agierten entsprechend nicht wie typische isländische Bauern eines ländlichen, einfachen Lebensbereichs, sondern vielmehr wie dänische oder norwegische Könige (ähnlich Saxo Grammaticus, der damit freilich nicht nur den fürstlichen
Siehe Get. Kap. 41: Verum inter has obsidionum moras Vesegothae regem, fili patrem requirunt, admirantes eius absentiam, dum felicitas fuerit subsecuta, cumque diutius exploratum, ut viris fortibus mos est, inter densissima cadavera repperissent, cantibus honoratum inimicis spectantibus abstulerunt, videres Gothorum globos dissonis vocibus confragosos adhuc inter bella furentia funeri reddidisse culturam. fundebantur lacrimae, sed quae viris fortibus inpendi solent (Mommsen [Hg.] 1882). („Während dieses Aufenthalts mit der Belagerung vermißten die Besegothen ihren König, die Söhne den Vater, und wunderten sich über seine Abwesenheit, da sie doch von glücklichem Erfolg begleitet gewesen waren. Und da sie ihn nach längerem Suchen mitten in den dichtesten Haufen der Leichen, wie es tapfern Männern geziemt, gefunden hatten, ehrten sie sein Andenken mit Liedern und trugen ihn angesichts der Feinde fort. Da sah man die Scharen der Gothen, wie sie noch während der Wuth des Kampfes mit ihren unharmonischen Stimmen der Leiche die letzte Ehre erwiesen. Thränen wurden vergossen, aber solche, die tapfern Männer nachgeweint zu werden pflegen“ (Martens [Übers.] 1884). Vgl. Leicher 1927, S. 9 f. Siehe Get. Kap. 49: [T]unc, ut gentis illius mos est, crinium parte truncata informes facies cavis turpavere vulneribus, ut proeliator eximius non femineis lamentationibus et lacrimis, sed sanguine lugeretur virile. („Da schnitten sie sich, wie es bei jenem Volke Sitte ist, einen Theil des Haupthaars ab und entstellten ihr abscheuliches Gesicht durch klaffende Wunden, damit der große Kriegsheld nicht mit weibischen Klagen und Thränen, sondern mit Männerblut betrauert werde“ (Martens [Übers.] 1884). Vgl. Leicher 1927, S. 20. Mills 2013, S. 72. Siehe auch Mills 2014.
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Habitus auf seine Götter überträgt, sondern die ganze nordische Götterwelt zu euhemerisierten (pseudo)historischen Gestalten macht): The Baldr myth is never set in Iceland, and even when it is partially removed from the realms of the gods, as it is in Saxo Grammaticus’s Gesta Danorum, it plays out in the courts of Danish kings. Its subject matter is more closely aligned with the royal courts featured in the heroic poetry of the Edda than with the homesteads of farmers depicted in the family sagas, and among its intended audience was a Norwegian king whose patronage Snorri was seeking. Perhaps some overlap between these two spheres, farm and court, should be expected as described in literature composed by Icelanders in the thirteenth century, and that the Icelanders would at times superimpose their own values. However, it does these authors a discredit to assume that they were incapable of depicting the different mores of these communities, or that an Icelander who spent time in the Norwegian court, as Snorri did, would not have observed that customs varied.⁴⁵⁷
In diesem Sinne möchte Mills grundsätzlich unterscheiden zwischen isländischen und norwegischen literarischen Produkten, auch wenn wohl letztendlich nicht genau abgegrenzt werden könne, wie viel ,Isländischesʻ tatsächlich im Baldermythos stecke, noch weniger wie Snorris persönliche Einstellung zu Gefühlsäußerungen der Trauer gewesen sei. Dennoch sei es überwiegend höfischer Habitus, dem wir im Baldermythos begegneten, die Ideologie der Edda damit grundsätzlich höfische Ideologie und somit wohl auch die ,männlichenʻ Tränen grundsätzlich ,höfischeʻ Tränen: There is the perspective of Snorri, which one might attempt to determine from his writings; besides the worldview of his native Iceland in the thirteenth century, there is also that of the Norwegian court in which he found patronage; there is the system of values of the society being depicted in the narrative, in this case that of the Æsir. In attempting to discern the views on masculine weeping in the latter case, the society of the Æsir as depicted in Snorra Edda and in the mythological poems of the Codex Regius offers scant material for comparison, as there is little weeping in these texts, and no male weeping, outside of the Baldr myth-complex. One could argue that this validates Lindow’s and Liberman’s assumptions that male weeping was viewed negatively, for if weeping were not taboo, it would occur more frequently in these texts. However, the death of Baldr is arguably the greatest disaster to affect the Æsir before their destruction at the end of the world, and as such it ought to evoke a greater emotional response than any other event in the mythology. Attempting to determine Snorri’s personal views on male weeping in order to understand his presentation of weeping in his texts requires an impossibly circular mode of reasoning, as he never explicitly expressed a view on this topic.⁴⁵⁸
Nun werden wir Mills wohl zustimmen müssen, wenn sie an dieser Stelle den Vergleich mit zeitgenössischem isländischem Sagamaterial für kaum geeignet hält, um eine umfassende, allgemeingültige Perspektive auf die mittelalterliche, skandinavische Gesellschaft erhalten zu können:
Mills 2013, S. 75 f. Mills 2013, S. 76 f.
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As discussed above, using contemporary saga literature, including Njáls saga, to determine an Icelandic societal perspective is fraught with pitfalls. This leaves the literature of the Scandinavian courts as a potential window onto the ideologies at play in Snorra Edda. This also is problematic, as it is often difficult to determine whether a text from this period was composed in Iceland or in Norway. Nonetheless, there are texts which suit this purpose.⁴⁵⁹
Aber diese „pitfalls“ birgt kaum weniger die von ihr als Vergleichsgrundlage präferierte höfische Literatur. Es stimmt wohl, dass wir es darin mit einer nicht unerheblichen Zahl ,männlicherʻ Tränenmotive zu tun haben, und diese Tränen, die von Männern (ob coram publico oder privatissime) vergossen werden, scheinen keineswegs ehrenrührig oder unmännlich, gar als tabu gegolten zu haben. Aber schon das allererste Beispiel, das sie anführt aus der Ynglinga saga (für die sie starke norwegische Verbindungen annehmen möchte), die Tränen des Knaben Ingjaldr, passt nicht in ihre Argumentation. Diese Tränen sind beschämend, sie sind ein Zeichen von Schwäche und werden (wenngleich durch ein ungewöhnliches Mittel, den Verzehr eines Wolfsherzes) der Norm entsprechend reguliert, ja überreguliert: Ingjaldr wird bekanntlich zu einem bitterbösen, gefühllosen Tyrannen. Es sind Tränen, die Ingjaldr von Anfang an als charakterlich defizitär kennzeichnen sollen, und der Verlauf der Geschichte zeigt, dass es auch nicht gelingen kann, seinen tiefgreifenden charakterlichen Mangel in positive Bahnen zu lenken. Aber diesen Fall möchte Mills ohnehin zunächst für zu wenig eindeutig halten, wohl mache es gewiss auf den ersten Blick den Eindruck, „that for a male individual to shed tears, even as a child, is a serious failing“,⁴⁶⁰ aber man müsse auch das junge Alter in Betracht ziehen, für Kindertränen könnten andere Maßstäbe gegolten haben.⁴⁶¹ Wahrscheinlich nicht, Kindheitsepisoden in der Sagaliteratur stehen ja nicht als lediglich ausschmückendes Detail, sie sind vielmehr funktionalisiert, gerade um auf eine grundsätzliche, unverrückbare, ja schicksalhafte Ausrichtung des Protagonisten zu verweisen: Sagahelden machen in diesem Sinne keine innere, psychologische Entwicklung durch. Man wird wohl zunächst Liberman und Lindow zustimmen müssen, Tränen gelten in der Sagaliteratur als verächtlich, als „demeaning detail“,⁴⁶² das ist ihr abrufbares Evokationspotenzial – und damit auch und gerade im Baldermythos. Die Götter verhalten sich „like unmanly men“,⁴⁶³ in aller Öffentlichkeit nach Frauenart, gegebenenfalls – kaum besser – als schwächliche, kleine Jungen. Befremdliche Diskrepanzen, die Mills versucht aufzulösen, indem sie nach passenderen Anschlussmöglichkeiten Ausschau hält. Nicht in der isländischen Literatur wird sie fündig, vielmehr in der Literatur der skandinavischen Königshöfe: Die Widersprüchlichkeit der Darstellungen sieht sie in diesen unterschiedlichen sozialen Milieus gegründet. Das Postulat des nicht weinenden
Mills 2013, S. 77. Mills 2013, S. 68. Vgl. Mills 2013, S. 68. Liberman 2004, S. 39. Lindow 2002, S. 169.
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Mannes möchte sie damit für die unteren, die bäuerlichen (isländischen) Schichten nach wie vor gelten lassen, indes nicht für eine höfisch ausgerichtete, mittelalterliche skandinavische Adelsgesellschaft. Aber auch mit dieser Unterscheidung trifft sie nicht den eigentlichen Punkt: Die Wertigkeit des ,nordischenʻ Weinens hat nichts mit sozialen Milieus zu tun, sondern nur und ausschließlich in welchem Denkrahmen, in welchem Symbolsystem das Weinen, ausdrücklich niemals anders verstanden als embodiment der körperlichen Schwäche und (Selbst)erniedrigung, funktionalisiert wird. Von Mills offenbar nicht bemerkt, zumindest ganz unberücksichtigt, ist der Kontext der ,positivenʻ, zumindest möglichen, männlichen Tränen ausschließlich der einer Bestattung. Und zweifelsohne sind Bestattungen in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, den politischen Eliten, wie in vielen anderen Gesellschaften zuvor und danach immer auch Ort der öffentlichen Selbstdarstellung, der Selbstinszenierung von Identität, Legitimation, Abstammung. Entsprechend häufig werden diese auch literarisch thematisiert. Aber das ist der Grund, warum im Mythos (außerhalb des Baldermythos) und den Eddaliedern, männliche Tränen kaum in Erscheinung treten, „there is little weeping in these texts“,⁴⁶⁴ natürlich, die Gelegenheit fehlt dazu – das Bestattungsritual. Im Ritual werden die Tränen wichtiger, ja überlebenswichtiger Zeigegestus der Selbstminderung, der Schwäche und Unterwerfung der Hinterbliebenen, und die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit dieser Geste steigt mit der Bedeutsamkeit und Wichtigkeit und damit Mächtigkeit des Toten. Man kann auch hier nicht eindringlich genug darauf hinweisen, die tränenreichen Selbstinszenierungen der Ritualteilnehmer, ihre Untröstlichkeit, ja überhaupt das Ausmaß dieser emotionalen, öffentlich zur Schau gestellten Ausbrüche können kein Gradmesser für einen persönlichen, individuellen Schmerz sein. Wie sehr dieser im Einzelnen tatsächlich vorhanden gewesen sein mag, ist unerheblich, es zählen nur die rituellen Vorgaben, wie adäquat zu trauern sei (wie wir gesehen haben, kann der Ritus auf ebenso rigorose Weise ein Zuviel an Tränen, und selbst wenn diese tiefstem persönlichem Schmerz entsprängen, zurückweisen). Die öffentliche Darstellung einer Trauerreaktion dient nicht dem Ausdruck liebevoller Verbundenheit. Diese wird in der nordischen Kultur anders medialisiert. Es wundert entsprechend nicht, wenn Mills auch in der skandinavischen Adelsgesellschaft kein einziges Beispiel anführen kann (in vollkommener Übereinstimmung zu isländischen Kontexten), wo ,profaneʻ Tränen, ,Alltagstränenʻ zum üblichen, zumindest tolerierten Habitus eines Mannes gehörten. Wir können also ohne Weiteres die Sagas als Referenzrahmen behalten, ihre Normvorgaben unterscheiden sich diesbezüglich kaum von dänischen oder norwegischen. Und in diesem Sinne wollen wir uns die einzelnen Beispiele, die Mills anführt, noch einmal ansehen.
Mills 2013, S. 76.
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Die hochemotionale Darstellung der Beerdigung zweier Könige, Magnús und Hákon,⁴⁶⁵ möchte sie als Beweis deuten, wie hoch die Liebe und Wertschätzung für diese beiden Könige im Volk gewesen sei: „On both occasions, the dead man is a king who was held in high esteem by his people, and the text makes this clear: Magnús was generous to his followers, and Hákon was loved by his people.“⁴⁶⁶ Aber persönliche emotionale Zugewandtheit, gar ‚Liebeʻ werden wir aus dieser Quelle wohl am wenigsten herauslesen können, gewiss aber: die Potenz eines noch oder gerade im Tod überaus mächtigen und gefährlichen Königs, dem mit entsprechenden rituellen Gegenmaßnahmen, mit ausreichender Kompensation begegnet werden muss.⁴⁶⁷ Die Heimskringla bringe über ein Dutzend von Belegen für Weinen, etwa für den hier euhemerisierten Njǫrðr,⁴⁶⁸ dessen Untertanen „wept much over his grave“ (grétu allmjǫk yfir leiði hans).⁴⁶⁹ Beim Tode des Königs Hákon des Guten sei die Trauer sogar so groß gewesen, dass nicht nur Freunde, sondern auch Feinde über seinen Tod geweint hätten (bædi vinir ok óvinir grétu dauda hans).⁴⁷⁰ Die explizite Verbindung zum Baldermythos zieht sie hier zu Recht, tatsächlich weinen um Balder nicht nur die ,lebenden und toten Dingeʻ, sondern gerade die Riesen, die designierten Feinde der Asen.⁴⁷¹ Aber der Grund für deren Trauer ist wahrscheinlich nicht einmal respektvolle Zugetanheit, sondern kluge Vorsichtsmaßnahme. Gerade Feinde tun gut daran, sich
In der Beschreibung der Bestattung des Königs Magnús heißt es: Yfir hans grǫf grét margr dýrligr drengr (Fagrskinna, Kap. 54, Bjarni Einarsson [Hg.] 1984). („[O]ver his grave wept many a worthy man“ (Übers. Finlay 2004). Daneben die Rückführung des Leichnams des Königs Hákon: [O]k kvǫmu á hálfs mánaðar fresti aftr tíðindin til Kaupangs. Ok menn skyldu ganga í móti líki hans, ok gekk allr lýðr, á móti ok flestr allr grátandi, þvíat allir menn unnu hónum hugǫstum. („Word reached Kaupangr a fortnight later. It was requested that the people should go to meet his body and all the townspeople went, nearly all of them crying, for all men had heartfelt love for him“ [Ágrip: Fagrskinna, Kap. 57; Driscoll [Übers.] 2008, S. 64 f.]). Mills 2013, S. 77. Diese vermeintlich übergroße Zuneigung sieht sie fast noch zu wenig („not strong enough“) ausgedrückt in der Übersetzung „‚everyone was very fond of himʻ […]. „,[E]very one loved him ferventlyʻ or ‚every one loved him with his heartʻ would all also be possible translations, and would likely better convey the intensity of his people’s affection for him“ (Mills 2013, S. 78). Zur Semantik von grátr („Weinen“) gehören erfahrbare akustische wie visuelle Elemente. Deren Prototypik, Wertigkeit und damit Gültigkeit wird kulturell verhandelt. Ob dabei jeweils eher die physisch materielle Erscheinungsform der Flüssigkeitsabsonderung im Vordergrund steht, eine spezifische Physiognomie oder aber die Lautäußerung, kann im Einzelfall festgelegt sein, manches Mal auch kaum entschieden sein. Aber selbst wenn in der höfischen Literatur im Beerdigungsritus Tränen tatsächlich eher im Vordergrund stünden als etwa das Klagen, so sind sie funktionell nicht unterschieden. Wenn indes die Flüssigkeitsabsonderung gerade zum korrekten, eigentlichen Kategorienkonzept von ,Weinenʻ gehört, kann das Fehlen eine Falschheit, Unechtheit usw. indizieren. Dies scheint im Mythos in der Tat relevant, insbesondere beim Tränenverweigerer Þǫkk/Loki. Wir können aber wohl keine Entwicklung konstatieren, vom rohen, amorphen Geschrei hin zu den ,disziplinierterenʻ, ,stillenʻ Tränen. Vgl. Mills 2013, S. 79. Ynglinga saga (9). Hákonar saga góða (32). Vgl. Mills 2013, S. 79.
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auch und gerade post mortem der Nichtaggression, eines Nichtangriffspaktes eines wohl toten, aber nach wie vor übermächtigen Gegners zu versichern.⁴⁷² Auch in der Art und den Umständen des Todes des Thronprätendenten Kanutus, wie er bei Saxo geschildert wird, zeigt Mills interessante Parallelen zum Balder-Tod auf, „a man in the line of succession is treacherously murdered by a kinsman, and he is universally mourned.“⁴⁷³ Magnús, der Cousin und Rivale um den Thron, lockt den Prinzen in einen Hinterhalt im Wald und spaltet ihm den Schädel, seine Mitverschwörer durchbohren den Sterbenden mehrfach mit ihren Waffen (Gest.Dan. 13.6), ein exzessives Trauerverhalten, die untröstliche Reaktion des Volkes folgt darauf: Report of the outrage produced wholesale mourning throughout the country, and every home was filled with lamentation. When the people heard the devastating news of his slaughter, they straightway abandoned the joyful celebrations being held at that time of year and exchanged the seasonal customs for grief; as they bewailed his passing, both sexes joined their groans in unison, like those of a single companion. That his burial was conducted amidst public affliction was a demonstration of the huge love he had instilled in everyone’s heart. His countrymen had honoured him during his life with affectionate services, and now the weeping they lavished over his death gave witness to their grateful memories; as their sobs accompanied Cnut, so their vehement curses pursued the individual who had robbed him of his life.⁴⁷⁴
Es ist ja der nämliche Beweis, den in fast wörtlicher Übereinstimmung Hel fordert von den Hinterbliebenen. Aber darin erschöpfen sich nicht einmal die Gemeinsamkeiten:
Ähnlich die Derevljanen, die, nachdem sie ihren verhassten Feind Fürst Igor erschlagen hatten, seiner Witwe, der Fürstin Olga, die Durchführung eines korrekten Bestattungsrituals, einschließlich Witwennachfolge, anbieten (siehe Müller [Hg.] 2001, S. 67f.). Mills 2013, S. 85. Facinoris fama promiscuum patrie lamentum exciuit omniumquea penates plangore compleuit. Populus enim, cum calamitosum de nece eius nuntium accepisset, protinus conuiuiorum, que ea tempestate gerebantur, hilaritate deposita morem tempori impensum moerore mutauit, inque eo lamentando uterque sexus unius gemebundi amici uocem habuit. Cuius funus publico luctu elatum, quantus eius amor omnium animis insitus esset, indicio fuit. Itaque, cuius uitam patria charitatis officiis excoluerat, morti quoque testes grati animi lachrymas erogabat, ut Kanutum eiulatibus, ita raptorem spiritus eius ualidissimis execrationibus insecuta (Gest.Dan. 13.7). Aber auch in der Bestattungszeremonie von Königin Thyra, König Haralds Frau, die Mills als rares Beispiel für eine Totenklage für eine Frau anführt, finden wir die gleichen Elemente der Trauer, der Untröstlichkeit, ja Verzweiflung, eine universelle, allumfassende, lückenlose Klage: Post hec Thyra, Danice maiestatis caput, absumpta est. Cuius corpus Haraldus amplissimo funere elatum magno cum omnium plangore non longe a patris tumulo sepulture mandauit. Neque enim tam acri iactura cuiusquam penates moeroris expertes esse poterant, priuato funere publicam patrie fortunam exspirasse credentes (Gest.Dan. 10.10). („After this died Thyra, the chief glory of the Danes. After a most splendid funeral, Haraldus ordered her body to be buried amid universal lamentation not far from the mound of his father. No family was unmoved by grief at so bitter a loss, for they believed that the public fortunes of the country would expire in these private obsequies“). Denn auch die tote Thyra ist immer noch eine mächtige Frau, umso nachhaltiger muss ihr die desolate Situation ihrer Untertanen klargemacht werden, der Verlust ist ja kein einfacher, sondern, ähnlich wie bei Balder, nur in kosmischen Dimensionen zu messen.
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In der Heimtücke gleichen sich die Morde in Saxos Beschreibung. Die gemeinschaftliche Ausführung, das Bewerfen oder Stechen aller, erkennen wir in Snorris Version wieder. Bei Kanutus Beerdigung lässt der christliche Gott am Ort der Niederlegung eine Quelle entspringen (gleichwohl ein hagiographischer Gemeinplatz), wofür der pagane Gott Balderus indes zweimal selbst zu sorgen vermag: Saxo weiß von einer Quelle, die er (noch zu Lebzeiten) für seine durstigen Soldaten entspringen lässt und von einer zerstörerischen Wasserflut, die aus dem Grabhügel des Toten strömt und Grabräuber in die Flucht schlägt. Knuts Mörder Magnús freilich gibt sich nicht nur durchaus unbeeindruckt, ja er scheint von einer mehr als befremdlichen Heiterkeit und Ausgelassenheit, „wildly elated by the occurence of this wicked assassination“ (ob impiae caedis eventum profuso in gaudium animo): „Over and above the pleasure he had taken in the act, he was hardened enough to scoff insolently at Cnut’s sacred wounds, for which by rights he should have shed tears filled with remorse.“⁴⁷⁵ Diese Vergnügtheit über ein rohes, gewalttätiges Handeln muss an die Ausgelassenheit und Exaltiertheit der Asen erinnern, ein vorgebliches Spiel, das sie mit Balder treiben, über dessen tödlichen Ausgang sie immerhin im Anschluss die geforderten reuevollen Tränen (plenas paenitentiae lacrimas) vergießen. Wir erkennen hier wie da jene „Anästhesie des Herzens“ (Henri Bergson),⁴⁷⁶ die sich nur der Lacher, der unbeteiligte Zuschauer, leisten kann – oder aber im Ritus gefordert ist. Und dem toten Kanutus wird wie Balderus sogleich ein Nachfolger geboren, gleichfalls post mortem, nur acht Tage später: Even so, not wishing to allow him to perish without producing offspring from stock of such outstanding merit in earth and heaven, God supplied the deceased man with an heir. At the eighth sunrise following Cnut’s death, his wife, Ingeborg, went into labour, gave birth to the son she had conceived by him, and named the boy after his maternal grandfather.⁴⁷⁷
Auch hier geht es ausschließlich um die Weiterführung der Geschlechterfolge, keine Rede ist von Rache, von der Pflicht zur Ausführung der Rache, die diesem leiblichen Sohn übertragen würde,⁴⁷⁸ die wird indes von anderen besorgt. Die Freunde und
Quinetiam sanctissimis Kanuti uulneribus, quibus plenas poenitentie lachrymas debuerat, uoluptate ex facinore concepta, per ludibrium insultare sustinuit (Gest.Dan. 13.7). Bergson 2011 [1900], S. 15. Ne autem sanguis caelo terraque egregie meriti propagine uacuus interiret, heredem deus extincto subiecit. Nam octaua post hec luce Ingiburga Kanuti conceptum ex eo marem enixa proditur, cui et materni aui nomen inditur (Gest.Dan. 13.7). Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass Ingeborg ihrerseits eine russische Prinzessin war, eine Fürstin der Kiewer Rus, die Tochter des Großfürsten Mstislaw I. von Kiew. Den Knaben, den späteren König Waldemar I., brachte sie am Hof ihres Vaters in Kiew zur Welt (vgl. Lind 1990, S. 15 f.). Dies wirft ein merkwürdig realistisches Licht auf die Zeugungsumstände des dynastischen Nachfolgers Balders, Bous, dessen Mutter Rinda (Rindr) laut Saxo ebenso eine russische Prinzessin war und von Odin am Hof ihres Vaters überwältigt wurde.
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Brüder des Ermordeten bringen vor jeder Volksversammlung, wie es heißt, ihre Klage vor, stacheln die Menschen auf und fordern Rache für die Untat. Und um ihrem Wunsch (und der Notwendigkeit) nach Vergeltung Nachdruck zu verleihen, präsentieren sie den zerfetzten Mantel Knuts: As well as this, at the meetings they brought to everyone’s view Cnut’s cloak, which had been torn with numerous gashes. This mangled garment stirred up the populace in a way which proved of no small benefit to their doleful case.⁴⁷⁹
Und dieses typische textile Blutzeichen als Erinnerung und Mahnung zur Rache scheint auch im Baldermythos eine, wenn auch in seiner ursprünglichen Funktion kaum mehr erkennbare Rolle zu spielen. Zunächst aber wollen wir noch einen Blick auf den trauernden Skalden Sigvatr Þórðarson werfen, der nach der Rückkehr von einer Pilgerfahrt aus Rom vom Tod seines Mäzens König Olaf (des späteren Heiligen Olaf) erfahren muss. Obwohl Mills ihn ausdrücklich als Unterstützung für ihre These anführt, scheint doch auch sein Trauerverhalten ihrer Argumentation eher zu widersprechen. Sigvatr soll durch die Totenklage eines Dorfbewohners zu seinem Trauergedicht für den verstorbenen König angeregt worden sein: „One day Sigvatr was walking through a certain village and heard that some husband was lamenting bitterly, that he had lost his wife, beating the breast and tearing his clothes off, weeping a lot, saying he would willingly die.“⁴⁸⁰ Er dichtet daraufhin in augenscheinlicher Gleichschaltung seines eigenen Verlusts mit dem Verlust des Witwers: „A man claims, if he misses / a maid’s embrace, he’s ready / to die; love’s bought dear if even / the dignified must weep for her. / But fierce tears the fearless, / flight-shy man sheds, bereft of / his lord; worse looks our grievous / loss to the king’s servants.“⁴⁸¹
Wir erkennen im Verhalten des Bauern unschwer alle typischen, ritualisierten Gesten der Klage. Aber worin sollten sie sich im Trauerverhalten der Adelsklasse unterscheiden? Und doch will Mills diesen Unterschied ausmachen: „That he weeps alone, and for his wife, sets him even further apart from the other weeping men in this text.“⁴⁸² Um seine Frau zu trauern, mag nicht der häufigste literarische Fall sein, und doch gibt es zahlreiche Beispiele, allen voran König Harald selbst, oder denken wir an König Yngi (Hjálmðérs saga og Ǫlvérs), der Tag und Nacht in tiefer Trauer, wie der Sagascheiber zu berichten weiß, auf dem Grabhügel seiner verstorbenen Frau ver-
Quinetiam tunicam eius crebris foraminibus absumptam omnium oculis in concione subiiciebant. Nec parum luctuosam eorum actionem lacerae uestis irritamentum adiuuit. Quippe compluribus ingentem ultionis cupiditatem tam foede lacerationis spectaculum ingenerauit (Gest.Dan. 13.7). Heimskringla III, Magnúss saga góða Kap. 7 (Übers. Finlay und Faulkes 2015). Heimskringla III, Magnúss saga góða Kap. 7 (Übers. Finlay und Faulkes 2015). Mills 2013, S. 82.
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weilte. Männer müssen oder dürfen keineswegs ihre Tränen nur in der Gruppe vergießen, „as a group in the ritual setting of collective mourning“⁴⁸³: Das tränenreiche Trauerverhalten hat nichts mit der Kollektivität als solches zu tun, vielmehr mit der Öffentlichkeit, die notwendig ist, um die korrekte Durchführung zu belegen. Wir können so fortfahren: Wenn Saxo berichtet, wie Amlethus die Umstehenden durch seine Rede zu Tränen rühren konnte, nachdem er eigenhändig den Tod des verhassten, verbrecherischen Stiefvaters herbeigeführt hatte, geschah dies in der Tat am wenigsten aus einem persönlichen Empfinden des Verlustes und des Schmerzes: This example does not depict people weeping for the deceased man, but Amleth’s rhetoric presents such behavior as one that would be acceptable, and perhaps even expected, under other circumstances, but is not in this instance because of the character of the dead king. Amleth does in fact elicit tears from the people, albeit not arising from grief.⁴⁸⁴
Aber es ist exakt das Trauerverhalten, das Amlethus gerade „because of the character of the dead king“, der Niedertracht und Bösartigkeit des nunmehr Toten einfordern muss, nirgendwo besser als an diesem Fall wird deutlich: Am wenigsten ist das persönliche Gefühlsempfinden für adäquates Trauerverhalten von Bedeutung. Bischof Absalons Tränen fließen bei der Bestattung seines Patrons und Gönners Waldemarus so üppig, dass sie den Altar und das darauf befindliche Räucherwerk durchnässen, eine typische, ins Exorbitante übersteigerte Körperreaktion, die Mills offenbar als authentische Trauerbekundung auffasst: „However, it is the intimate portrayal of Absalon’s weeping, the text lingering over his falling tears, that shows a personal bond. One senses that Absalon mourns Waldemarus the man, not the king.“⁴⁸⁵ Aber wir kennen dieses Bild der hypertrophen Tränenaufgelöstheit aus so vielen weiteren, rituellen Bestattungskontexten.⁴⁸⁶ Selbstverständlich wäre dieses Verhalten – und sei es nur als fiktives, literarisches Motiv – außerhalb des Ritus als unerhört betrachtet worden, zumindest incredibile, worauf Saxo selbst aufmerksam macht.⁴⁸⁷
Mills 2013, S. 81. Mills 2013, S. 82. Mills 2013, S. 87. Siehe etwa in den alttestamentarischen Threni, den literarischen Fortsetzungen ritueller Totenklage, vgl. Thr. 18: „Schrei laut zum Herrn, / stöhne, Tochter Zion! / Wie einen Bach lass fließen die Tränen / Tag und Nacht! / Niemals gewähre dir Ruhe, / nie lass dein Auge rasten!“ Thr. 19: „Schütte aus wie Wasser dein Herz / vor dem Angesicht des Herrn.“ Die beiden ersten kanonisierten Heiligen Russlands, Boris und Gleb (gest. 1015) beweinen ihr eigenes tödliches Schicksal ebenso untröstlich wie tränenreich wie befremdlich als gewissermaßen Vorwegnahme der Totenklage der Hinterbliebenen. Die beiden Brüder gehören zu den sogenannten Märtyrer-Prinzen, eine Heiligenkategorie, die der byzantinischen Welt fremd ist (vgl. Price 1993, S. 107), gerade aber enge Verbindungen zu Nordeuropa, insbesondere Skandinavien und dem angelsächsischen Raum zeigt. Gest.Dan. 15.6: Incredibile uideretur, tantum uirum tam insigni luctus horrore confectum, si non eius erga Waldemarum affectus fuisset notissimus. („It would seem incredible for so great a man to be numbed and disabled by such risible grief, if his affection for Waldemarus were not so widely known“).
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Und wenn König Regnerus (Ragnarr loðbrók) (siehe Gest.Dan. 9.4) sich in tiefer Trauer um seinen hingerichteten Sohn ins Bett legt, um dort ,egillgleichʻ in Apathie zu verharren, so bekommen diese Tränen ihre Qualität nur durch den Ritualverlauf.Wenn Regnerus Frau ihm ob dieses Gebarens – in typischer hvǫt-Manier – heftige Vorwürfe macht und ihn dazu aufruft, doch lieber (Rache)taten sprechen zu lassen als ehrlose, weibergleiche Tränen, so ist ihr Verhalten genauso wenig spontan oder individuell wie die trickreichen Bemühungen von Egills Tochter Þorgerðr (Egils saga, Kap. 78), auch wenn der Sagaautor oder Saxo Grammaticus ein typisches Trauerritualprozedere (vielleicht bereits in christlicher Verkennung) dermaßen narrativ neumotivieren. Ehefrau wie Tochter bringen den Übergang, die Transformation des Toten voran, die der Hinterbliebene soeben stellvertretend oder solidarisch mit dem Toten durchlebt. Die Tränen werden also nur deshalb abgebrochen, weil sie ihre Funktion im Ritual erfüllt haben und nun einer neuen Transformationsstufe Platz machen müssen.⁴⁸⁸
7.7.4 Tränenverweigerer Die Irritation über die Tränen der Götter ist also unnötig, sie sind notwendiges, sichtbares Zeichen der Solidargemeinschaft mit den Toten. Das Ritual kann damit ebenso übliche, konventionalisierte, insbesondere geschlechtsspezifische Zuschreibungen aufheben, weder ist dann die Rache, Rachebedürfnisse als aggressiver, zerstörerischer Impetus explizit ,männlichʻ, noch sind die empfindsamen, passiven Tränen eher ,weiblichʻ. Umfang, Beginn und Ende, Quantität wie Qualität der Trauergesten bestimmt die Logik des Übergangs. Und in dieser Konsequenz ist auch das Motiv des Tränenverweigerns zu sehen. Es ist Signal des Abbruchs, des Ausschlusses der Solidaritätsbekundungen: Verweigert Gudrun ihre Tränen noch an falscher Stelle, muss doch in jeden Übergangsritus exakt dieser Bruch eingebaut werden, der Kipp-Moment, die Trennung. Freilich bewirkt das unermüdliche, pausenlose, lückenlose Trauern und Weinen, das Verharren der Lebenden in dieser tödlichen Liminalität in so vielen Fällen letztendlich selbst deren Tod, manches Mal erwünscht, die mythische Nanna erleidet (in Snorris Version) dieses Schicksal, Sigyn, die Flussfrau, muss ihren toten Ehemann Loki bis zum Ende aller Tage auf diese Weise rituell unterstützen, Egill wiederum wird mit rituellen Maßnahmen davor bewahrt. Dabei droht ein ungleich verhängnisvollerer Effekt von der anderen Seite: Das Wehklagen bewirkt womöglich tatsächlich die Rückkehr des Toten in die Welt der Lebenden, was hier wie überall auf der Welt, trotz inbrünstiger Beteuerung des Gegenteils, mit allen Mitteln verhindert werden muss. Eine scharfe Flüssigkeit, Schlangengift, lässt Loki nicht zur Ruhe kommen, eine Schlangengiftspeise hält Balderus am Leben, ähnlich wie die Tränen der nordischen Gudrun in der Totenwelt so missliebig sind, dass sie gar eine Zauberin zurückzurufen. Nicht Balder,
Anders Mills (vgl. Mills 2013, S. 83 f.).
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nicht einmal die so genannten gestorbenen Götter des Ostens sollten damit (wenn überhaupt, dann erst sehr spät) ins Leben zurückgeholt, ,zurückgeweintʻ werden – nie ist es etwas anderes als ein ,Hinüberweinenʻ. Den rituell geforderten Tränenabbruch übernimmt die Riesin Þǫkk, (nach allgemeiner Übereinkunft) der verkleidete Loki.⁴⁸⁹ Dann ist er aber gerade nicht der Spielverderber, der Saboteur – bestenfalls für den Toten. Ob Wurfhandlung, Gerichtsverfahren und schließlich Tränenabbruch, dem toten Balder muss klargemacht werden, wo sein Platz ist, nicht mehr bei den Lebenden. Natürlich bedeutet der Name der Riesin Þǫkk nicht etwa „Dank“, „Lohn“, „Freude“ – wofür auch? So wird Ironie als Erklärungsmodell bemüht, dass wer auch immer der Riesin ihren Namen gegeben habe, dies aus Sarkasmus getan haben müsse, vielleicht sogar Snorri selbst.⁴⁹⁰ Ja, die ganze Gestalt sei wohl letztendlich fingiert, „inauthentic“ wie im Übrigen auch die unmittelbar damit verbundene Episode von Hermóðrs Jenseitsritt: It seems unlikely that Þökk’s speech – if it is part of an older poem – would never have been repeated or mentioned in any other medieval source: the whole story of Hermóðr’s ride to Hel is conspicuously absent from all surviving eddic poetry.⁴⁹¹
So soll also Snorri ausgerechnet hier die schiere Lust am eigenen Fantasieren überkommen haben? Davon möchte Abram offenbar ausgehen, freilich weniger im Sinne einer reinen creatio ex nihilo, vielmehr einer Art christlichen Agenda, einer gezielten Rezeptionslenkung, die eng mit dem Konzept der gleichermaßen christlich geformten Rahmenhandlung der Edda korrespondiere: Since we are not able to identify a definite source for Snorri’s Baldr myth, and since many of its features are entirely absent from poetry of earlier periods, we might be inclined to see Snorri’s story as being new rather than old, innovative rather than traditional, original rather than derivative. Snorri might have partly made it up, in other words. It has proved controversial over the years to suggest that Snorri’s version of Norse mythology is inauthentic and that it does not represent with any accuracy genuine pagan traditions. Yet we have already seen that Snorri’s agenda as a Christian cultural historian and a mythographer has shaped the frame-narrative of Gylfaginning in important ways. Some scholars have been inclined to believe that Snorri’s inter-
Þá er sendimenn fóru heim ok hǫfðu vel rekit sín eyrindi, finna þeir í helli nokkvorum hvar gýgr sat. Hon nefndisk Þǫkk. Þeir biðja hana gráta Baldr ór Helju. Hon segir: ‚Þǫkk mun gráta / þurrum tárum / Baldrs bálfarar. / Kyks né dauðs / nautka ek karls sonar: / haldi Hel því er hefir.ʻ En þess geta menn at þar hafi verit Loki Laufeyjarson er flest hefir illt gert með Ásum (Gylf 49). („Als die Boten heimkehrten und ihre Botschaften gut erfüllt hatten, entdeckten sie eine Höhle, in der eine Riesin saß. Sie nannte sich Thökk. Die baten sie, Balder von Hel zu weinen. Sie sagte: Thökk wird beweinen mit trockenen Tränen / Balders Einäscherung; weder vom lebenden noch vom toten / Sohn des Alten hatte ich Nutzen – behalte Hel, was sie hat. Aber man vermutet, daß dort Loki, Laufeys Sohn gewesen ist, der unter den Asen am übelsten gehandelt hat“). Vgl. Abram 2011, S. 216 f. Abram 2011, S. 217.
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ventions in the myths themselves work together with his frame-narrative to give these pagan stories a Christian colouring; in the case of Baldr’s death, I find this suggestion very persuasive.⁴⁹²
Aber Abram geht noch einen Schritt weiter: Die Art und Ausgestaltung der ÞǫkkEpisode lege es im Weiteren nahe, dass Snorri hier Elemente eines Wissensrahmens verwende, die als antijüdisch bezeichnet werden müssten.Wenn das ganze Universum um Balder weine, aber sich gerade die Riesin Þǫkk explizit weigere, so erscheine diese Abweisung stark angelehnt an die Weigerung der Juden, beim Tod Christi Tränen zu vergießen. Einzig die Juden hätten damit die Zeichen seiner Göttlichkeit verleugnet, so etwa beschrieben in einer bekannten Homilie Gregors des Großen: Unter allen Elementen der Schöpfung (auch Felsen, Meer und Sonne) hätten nur die Juden, die dezidierten Feinde und Widersacher Christi, die Tränen verweigert. Und da in Island die Predigten Gregors bekannt gewesen seien, hätte Snorri dies so oder so ähnlich jeden Sonntag in der Kirche hören können.⁴⁹³ Unhintergehbare Konsequenz daraus freilich wäre, dass wir die Einfügung (oder Ausgestaltung) der Þǫkk-Episode, ihr „Christian colouring“,⁴⁹⁴ dann als gewiss mehr als lediglich fantasievolle Erfindung Snorris betrachten müssten. Die Implikation scheint klar: Wenn Snorri die mythische Þǫkk nicht nur erfunden, sondern darüber hinaus mit ,jüdischenʻ Eigenschaften bestückt hat, wenn er damit gängige Antijudaismen seiner Zeit aufruft und nutzt, dann hat er sich wie ein Antisemit verhalten. Auch Richard Cole denkt bekanntlich in diese Richtung, an mehreren Stellen sieht er Snorri in seinem literarischen Wirken nicht nur inspiriert von jüdischem Schrifttum, sondern ebenso von zeitgenössischen, antijüdischen Ideen.⁴⁹⁵ Er möchte entsprechend nicht nur den verkleideten Loki in seiner spezifischen Funktion als Þǫkk, sondern insgesamt die Ausgestaltung Lokis und darüber hinaus den eigentlichen Mörder Balders, Hǫðr, in diesen mittelalterlichen christlichen und damit judenfeindlichen Wissensrahmen eingepasst sehen.⁴⁹⁶ Und damit würde der Baldermythos als solcher zu einem ein Abram 2011, S. 218 f. Siehe Abram 2011, S. 219 f.: „In his eighth homily on the Gospels, another pope, Gregory the Great (590 – 604), specifies that not quite everything acknowledged Christ’s divinity by their sorrow at his death. Gregory enumerates the ways in which the different elements of creation – including the rocks, sea and sun – perceived Christ as Lord: the earth trembled when he died, the sky turned black and buildings tumbled to the ground. But, continues Gregory, the Jews who turned away from Christ were harder-hearted even than rocks, refusing ‚to acknowledge him whom … the elements proclaimed to be God either by their signs or by being brokenʻ. Clearly the two stories are not identical, but the idea that all things – both animate and inanimate – grieved for the god, apart from one alone who refuses to take part, seems suggestively similar. When combined with the relatively well-known idea that all creation wept at Christ’s death, Gregory’s homily may lead us to suspect that at some point in the transmission of the Baldr myth it has been susceptible to Christian influence. Gregory’s homilies were known in Iceland and translated into Old Norse, and they provided an important source for the types of sermon that Snorri might have heard preached each Sunday in church.“ Abram 2011, S. 219. Vgl. Cole 2013, S. 3. Vgl. Cole 2017, S. 248 – 252.
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schlägigen Beispiel der Funktionalisierung antijüdischer Typologie in der Gylfaginning: Snorri himself […] tends to borrow from the more dramatic, hostile perception of Jews. The example of Snorri’s putative anti-Judiasm [sic] that has probably received the most attention concerns the role of Christian typology in Snorri’s account of Baldr’s death and abortive resurrection.⁴⁹⁷
Ein Haltung, die er wenigstens als „unpalatable“⁴⁹⁸ bezeichnen möchte, auch Snorri habe sich ganz offensichtlich dem Zeitgeist, dem aktuellen Kontext nicht entziehen können, das sei eben auch unhintergehbarer Teil von „Snorri’s Christian present“⁴⁹⁹: Snorra Edda obviously does not feature any Jewish characters proper, but, to employ a distinction coined by Jeffrey Jerome Cohen, there are several figures who are „Jew-ish“. That is to say, they are not intended to be comments upon the Jews or their religion, but they do freely make use of the potent typological armoury of anti-Judaism. Indeed, we might well note as an aside, that when Snorri was constructing the fictional universe of his Edda, he was not averse to borrowing from the contemporary xenophobias of his age and projecting them into the past.⁵⁰⁰
Nun ist seit Beginn der Balderforschung die Intention Snorris als Mythenschreiber oder -sammler immer wieder auf den Prüfstand gehoben und auf unterschiedlichste Weise beurteilt worden. Die präsumtive Nutzung antijüdischer Typologie, eine gegebenenfalls ideologisierende, theologisierende (antisemitische) Intention würde die Authentizität seines Mythenmaterials immerhin erschüttern. Sie hängt eng mit seiner Glaubwürdigkeit, seiner (paganen) Überlieferungstreue überhaupt zusammen. Mit ihren Thesen reihen sich Cole und Abram in die stark christozentrische Tradition von Sophus Bugge ein, der den Baldermythos (freilich nur in seiner isländischen Version) christlich modelliert und verankert sieht. Lange Zeit hochfavorisiert ist dieser Ansatz ebenso lange aus der Mode gekommen, nun erscheint er im neuen Gewand der altnordischen Judaismus-Forschung. Aber dadurch wird er nicht überzeugender. Problematisch dabei von Anfang an, dass selbstredend eine Art Entlehnungsgefälle von religiösen Symbolen angenommen wird vom christlichen und damit ,überlegenenʻ Symbolsystem hin zum ,unterlegenenʻ paganen, vom prestigeträchtigeren zum weniger prestigeträchtigen. Das mag in vielen Fällen stimmen – Symbole gehen mit der Macht, allerdings, das zeigt die moderne Synkretismusforschung ebenso, keineswegs in dieser Ausschließlichkeit.⁵⁰¹ Zweifelsohne aber waren unsere mittelalterlichen Textproduzenten, unsere Hauptgewährsmänner Snorri wie Saxo Grammaticus auf einen zum größten Teil christlichen diskursiven Möglichkeitsraum
Cole 2017, S. 248. Cole 2017, S. 264. Cole 2017, S. 264. Cole 2013, S. 2. Siehe etwa Luther und Leopold 2004.
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des Verstehens wie Produzierens von Deutungsmustern angewiesen, so lag es nahe genug, dass Snorri bei der Bearbeitung seines religiösen (wenngleich exkludierten) Zeichenmaterials sich die Gebrauchskonventionen des aktuellen religiösen Zeichensatzes, sprich des christlichen, zu Nutze machte. Wesen und Eigenart von Religion konnte man sich eben nur nach Vorgabe eines prototypisch gewordenen, monotheistischen, christlichen Religionsmodells ,denkenʻ, ein methodischer Mangel, der sich gleichwohl durch viele Jahrhunderte der Religionsgeschichte zieht. Gut möglich also, dass Snorri sich (in welchem Umfang auch immer) gewisser „Redegewohnheitsnotwendigkeiten“⁵⁰² des christlichen Diskurses bediente, aber ist damit auf gleiche Weise gesagt, dass er religiöse und/oder ideologische Aussagen treffen wollte? Lange Zeit schien eben dies selbstredend, dass der nordische Mythos als Teil eines ehedem religiösen, paganen Denksystems weiterhin innerhalb eines nun eben mittelalterlichen christlichen, gleichwohl aber nach wie vor religiösen Frames verstanden werden müsse (bzw. von Snorri und seinen Zeitgenossen so verstanden worden sei). Uneinigkeit bestand dabei eher über die Art dieser religiösen Verortung, etwa als negative Abweisung heidnischer Konzepte oder aber gezielte positive Aktualisierung und Neusemantisierung im Sinne einer christlichen Glaubenslehre. Kurz, in der Forschung schien es kaum anders denkbar, als von einer Darstellungsintention auszugehen, die, wie Edith Marold es nennt, auf irgendeine Weise Stellung beziehen müsse zu der dargestellten Religion – und wie anders als theologisch gelenkt sollte man sich die vorstellen?⁵⁰³ Eine seiner Ansicht nach vernachlässigte „theologische Dimension von Snorris Werk“ möchte neuerdings auch Jan van Nahl wieder hervorheben.⁵⁰⁴ Auch er geht (nach wie vor oder wieder) davon aus, dass Snorri seine Gylfaginning explizit als „religiöse Wahrheit“⁵⁰⁵ konzipiert habe, als eine Art „Offenbarungsanalogie“,⁵⁰⁶ bewusst „orientiert am neutestamentlichen Offenbarungsgeschehen.“⁵⁰⁷ In diesem Sinne müsste dann wohl der ‚jüdischeʻ Loki/Þǫkk in einer gleichermaßen religiös konzipierten Gegenfunktion verstanden werden als der teuflische Verhinderer einer Auferstehung, der Antichrist. In den „fast schon plakativen Ähnlichkeiten zum Christentum“⁵⁰⁸ sieht van Nahl entsprechend ein religiöses Analogiekonzept wirksam, das „einen Bezug zum Neuen Testament anstrebte“ und entsprechend vor einem „negativen Zugriff“ habe bewahrt werden müssen.⁵⁰⁹ Die dialogische Rahmenhandlung der Edda werde so zu einer explizit religiösen Erfahrung, zu einer göttlichen Offenbarungssituation, in der die Asenreligion schließlich eins werde mit christlichen Glaubensvorstellungen. Damit
Ein Begriff aus der Diskursforschung (siehe Fleischer 1996, S. 27). Vgl. Marold 1998, S. 132. van Nahl 2013b, S. 53. van Nahl 2013b, S. 79. van Nahl 2013b, S. 70. van Nahl 2013b, S. 89. van Nahl 2013b, S. 61. Vgl. van Nahl 2013b, S. 67.
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„partizipiere die pagane Überlieferung in Snorris Darstellung an einer letzten, christlichen Wahrheit.“⁵¹⁰ Auch Snorri strebte die Darstellung einer Religionsentwicklung an, der christliches Gedankengut als Maßstab diente – in dem Sinne, dass bestimmte Vorgänge innerhalb der betrachteten Religionen in eine verweisfähige Beziehung zueinander gesetzt wurden, Inhalte des nordischen Asenglaubens als analoge Vorausdeutungen auf das kommende Christentum verstanden werden sollten.⁵¹¹
Und wenn also die (fiktive) Götterdreiheit der Rahmenerzählung ihre Mythenerzählungen als sjónhverfingar („Illusionen“) ausgestalte, sei dies gerade nicht als negativ konnotierte Sinnestäuschung oder Betrug zu verstehen, sondern im Sinne einer christlichen, göttlichen Offenbarung.⁵¹² Schließlich müsse sich die Forschung ohnehin von der Vorstellung trennen, „gelehrte Beschäftigung mit paganen Mythen sei im hoch- und spätmittelalterlichen Skandinavien noch Anlass für scharfe Kritik gewesen, habe regelmäßiger Rechtfertigung bedurft“.⁵¹³ Jene sjónhverfingar zur „Vorsichtsmaßnahme zu degradieren“,⁵¹⁴ greife entsprechend gleichermaßen zu kurz: Warum hätte er sein umfangreiches Werk so konzipieren sollen, dass es das Fundament seiner Beschäftigung als Betrug darstellt? Die Überzeugung, Snorri habe sich vom Inhalt seines Werks distanzieren wollen, scheint in der Forschung dennoch gleichsam kanonisiert.⁵¹⁵
Nun, aus gutem Grund. Es ist die fundamentale Bedingtheit von Erzählen, jene methodologische wie kognitive Grundvoraussetzung von Medialität. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher auf literaturtheoretische wie verfasserintentionale Aspekte der Snorra Edda einzugehen, dennoch gilt es, Grundsätzliches zu klären. In der Tat ist es Snorris einzigartiger „sprachlicher Gewandtheit“⁵¹⁶ zu verdanken, die, gegebenenfalls zum ersten Mal im Norden, jenes Rezeptionsverhalten ermöglicht, das das Symbolsystem Literatur voraussetzt: eine freiwillige Distanzierung vom Wahrheitsabbildungsanspruch von Symbolen.⁵¹⁷ Er greift dazu auf neu verhandelte, unter Umständen
van Nahl 2013b, S. 57. van Nahl 2013b, S. 69. Vgl.van Nahl 2013b, S. 73; van Nahl 2013b, S. 70. Die Wesenheiten Hár, Jafnhár und Þriði werden in seiner Interpretation zu „Boten Gottes“, zu Vermittlern einer „Botschaft“, wie sie vor allen Dingen in der Bibel zum Tragen komme (vgl. van Nahl 2013b, S. 83). van Nahl 2013b, S. 75. van Nahl 2013b, S. 75. van Nahl 2013b, S. 74. van Nahl 2013b, S. 75. Siehe Glauser 2009, S. 170: „Die distanzierende Ironisierung, die in der Aufhebung des illusionsschaffenden Rahmens am Schluss der Gylfaginning liegt, referiert dabei auf eine weitere fundamentale Bedingung von Erzählen, indem sie zeigt: Dichtung (mündliche wie schriftliche) beruht im Innersten auf Betrug, wer an sie glaubt, erliegt einer Täuschung. Wiederholt macht der Text nämlich deutlich, dass es sich bei den Erzählungen von Hár, Jafnhár und Þriði bzw. Bragi um Mythen handelt, die unter dem Vorzeichen der Sinnestäuschung, sjónhverfingar, betrachtet werden müssen (wobei der
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gerade im Entstehen begriffene Werkzeuge, Techniken der Fiktionalisierung zurück. Van Nahl mag den pejorativen Aspekt in der Semantik von sjónhverfingar als Betrug monieren, aber es ist in diesem Sinne die korrekte Übertragung für den Ausdruck fictio „erdichtete Annahme“, eine von Grund auf schillernde Ambiguität, die auch der lateinische Terminus wie überhaupt sämtliche Elemente dieses Sinnbezirks niemals verlieren.⁵¹⁸ Und wenn in tiefem Gegensatz dazu Eugen Mogk in den eddischen Mythen kaum mehr als fantasievolle Neuschöpfungen sehen möchte, bestenfalls Snorris begnadetem „Erzähltalent“ geschuldet, verkennt er wohl die intellektuelle Sorgfalt und aufrichtige Absicht des Mythographen, aber er löst sich durchaus richtungsweisend von jenen ausschließlich theologisierenden, ideologisierenden Interpretationsansätzen. Sein Verdienst ist es – zum ersten Mal, dazu Alternativen aufzuzeigen. Er sieht durchaus die mündlichen und schriftlichen Überlieferungen als Grundlage für Snorris Stoffsammlung, die eigentliche Gestaltung und Ausrichtung sei hingegen zu einem weit größeren Anteil Snorris „Dichterphantasie und Kombinationsgabe“⁵¹⁹ geschuldet. Durch seine Kombination seien Verbindungslinien erst geschaffen worden, „kausale Zusammenhänge erfunden und Neues zum Alten hinzugedichtet, mag dieses dem Kopfe Snorris oder eines seiner Mitarbeiter entsprungen oder in Anlehnung an fremde Stoffe entstanden sein.“⁵²⁰ Das setzt freilich voraus, dass Snorri schon so etwas kannte wie Dichterphantasie als probates Mittel zur Textgestaltung – selbstverständlich genug für uns heute, aber kaum im Mittelalter. Es setzt Reflexion voraus über das Zustandekommen von Texten, über deren strukturelle Bedingtheiten, nicht zuletzt über die Legitimität des dermaßen Konstruierten: Wahrheit und Lüge liegen im Mittelalter gerade hier gefährlich eng beieinander. Im Rahmen religiös theologisch motivierter Plausibilisierungsstrategien haben religiöse Symbolsysteme unverrückbaren Letztgültigkeitsanspruch, ihre Wissens- und Typisierungsvorräte gelten als eigentliche und adäquate Wirklichkeitsre-
deutsche Begriff gegenüber dem isländischen neben dem Sehen auch die anderen Sinne, etwa das Hören, umfasst).“ Vgl. fingo „forme, gestalte (bes. weiche Massen wie Ton, Wachs u. dgl.)“; „bilde nach einer Idee“, „stelle mir vor, erdenke, erdichte, erheuchle“; „trügerisch verstellen“ (Walde/Hofm. 1965 – 1972, „fingo“). Dazu passt, dass das wohl synonymische ginning (< ginna „täuschen, betören, zaubern“) gleichermaßen die Vorstellung einer zauberischen Handlung impliziert, eine daraus resultierende „Täuschung“ werden wir aber nicht als „sekundäre Ausweitung der Semantik“ verstehen dürfen (so etwa van Nahl 2013b, S. 76 f.), vielmehr als ursprüngliches, ausnahmslos schadenbringendes Ziel. Wir stoßen auf diese grundsätzliche Diskrepanz zwischen einerseits ,(künstlerisch) abbildenʻ, ,ein Abbild, eine Fiktion erschaffenʻ und andererseits ‚betrügerisch, heimtückisch, ja zauberisch handelnʻ noch viele weitere Male: Ein entsprechendes Konzept aus der darstellenden Kunst, das Bedeutungsspektrum des ‚Mimenʻ, haben wir bereits vorgestellt. Es trägt nämliche, ambige Konnotationen bis in die jüngste Zeit in sich: Der Schauspieler fingiert, täuscht Wirklichkeit vor und stellt sie damit – trügerisch – in Frage, was ihm eine tiefe, erbitterte Gegnerschaft der christlichen Kirche im Mittelalter einbrachte. Mogk 1923, S. 10. Mogk 1923, S. 10 f.
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präsentationen. Aber bereits die christliche Dogmatik kennt Verfahren, um nicht zuletzt kanonische Texte, die aus was für Gründen auch immer für problematisch erachtet wurden, anschlussfähig zu machen oder zu halten im christlich religiösen Diskurs, gemeint ist die Typologie, die Allegorese, jenes, wenn man so will, Universalmittel der christlichen Hermeneutik.⁵²¹ So werden zunächst Texte des Alten Testaments nach christlichen Vorgaben neu semiotisiert, ab dem 12. Jh. auch Mythen der Antike christlich hermeneutisch erschlossen. Bald stand damit ein kohärenter Metatext zur Verfügung, der sich in einer relativ geschlossenen Systematik präsentierte: Das 12. Jahrhundert ist der Punkt in der historischen Entwicklung, an dem die Allegorese als hermeneutisches Verfahren einen hohen Grad von Perfektion erreicht hat, einen Vorrat in großer Dichte von Signifikant-Signifikat-Konnexionen zur Verfügung stellt; Dekodierungen müssen so nicht mehr variant von Fall zu Fall gesucht werden, da sie keinen ad-hoc-Status mehr haben, sondern in ihrer Gesamtheit etwa die Verläßlichkeit eines Bedeutungslexikons aufweisen […].⁵²²
Die Strategien christlich theologischer Deutungsmonopolansprüche sind also in gewisser Weise aufgegangen: Es gibt nun eine Art von „stabilized interpretation“, die ihrerseits zur Formung von so genannten „textual communities“ führt, „in which interpretation is controlled from above, in a hierarchical fashion, […] from another point of view the entire body of Christian readers might be seen as such a textual community, united in its directed interpretations of historical and literary, as well as religious, texts.“⁵²³ Gott garantiert sozusagen die Bedeutung menschlicher Sprache, reguliert das Zirkulieren von Zeichen und stellt die natürliche Beziehung zu ihren Objekten sicher.⁵²⁴ Aber das christliche Mittelalter ist auch die Zeit in der dieser allumfassende religiös fundierte Wahrheitsanspruch mehr und mehr einer neuen Art von Wirklichkeitsperspektive weicht, ja letztendlich ist es die Allegorese selbst, die eine neue Art von Medialisierung ermöglicht, eine absichtsvolle und dennoch erlaubte, legitime Fiktion. Es ist die Zeit der Entstehung einer neuen symbolischen Ordnung, ein Perspektivenwechsel von gewaltigem Ausmaß – die Entstehung des ästhetischen, des literarischen Symbolsystems. Denn nun war der Weg bereitet für eine flexiblere Handhabung von Bedeutungszuschreibungen, auch wenn das ganze Mittelalter hindurch (vom 12– 15. Jh.) keineswegs entschieden war, welches Denkmodell sich letztendlich durchsetzen würde, „less a question of a massive epistemic break than of a continued competition among determinate and indeterminate modes of thought
Schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert finden sich in Griechenland, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, dermaßen Ansätze, um wertvolle Wissensbestände, ,den Mythosʻ, nicht einfach aufgeben zu müssen, sondern um ihn anschließbar und weiter verwertbar machen zu können. Auf diese Weise hält das Verfahren der Allegorese durch die ganze Antike hindurch „den Zugang zum Mythos offen“ (Landfester 2005, S. 346). Meier 1998, S. 69. Sturges 1991, S. 10. Vgl. Sturges 1991, S. 6.
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[…].“⁵²⁵ Durant W. Robertson liest deshalb konsequent jeden mittelalterlichen Text als Allegorie,⁵²⁶ andere gute Kenner/innen der mittelalterlichen Allegorese sehen indes sehr wohl Modifizierungen bzw. Skalierungen. Christel Meier spricht von verschiedenen Zugängen, von „vollen Zugriffen“ bis lediglich „Reminiszenzen“,⁵²⁷ Plausibilitätsmuster scheinen unterschiedlich verbindlich aufgerufen worden zu sein, Rosemund Tuve sieht beim mittelalterlichen Interpreten eher eine „loose juxtaposition“ von Sinnmustern, die, interessant genug, lediglich in moderner Interpretation zu universellen Verbindlichkeiten würden.⁵²⁸ Sturges formuliert den Kern der Problematik: „The difference between a sensitivity to the presence of allegory and the unwarranted imposition of allegoresis is a persistent problem for interpreters of medieval literature.“⁵²⁹ Dennoch, zur Behandlung religiöser Inhalte (bzw. ehedem religiöser Inhalte), Mythen, taten sich Alternativen auf. Deren offenkundige Fiktionalität, ‚Lügeʻ, (erst einmal entlassen aus theologischen Bedeutungskonnexen) konnte nun problemloser, ja im eigentlichen Sinne überhaupt erst verhandelt werden. Ihr prekärer Wahrheitswert war nun kein theologisches Problem mehr und durfte sogar absichtsvoll einer mittelalterlichen Zuhörerschaft zugemutet werden. Aber damit stellt sich im gleichen Atemzug die Frage: Wie müssen Symbolsysteme, Texte dann beschaffen sein, damit Rezipienten, Interpreten, ,wirʻ, das mittelalterliche Publikum erkennen können, dass es sich dabei gerade nicht um Religion handelt?⁵³⁰ Tatsächlich rückt hier in den mittelalterlichen Texten mehr und mehr ein besonderer Aspekt, eine besondere Perspektive in den Vordergrund: Es ist nachgerade die gezielte Zurschaustellung ihrer Medialität, ihrer ,Gemachtheitʻ. Und die Snorra Edda macht davon keine Ausnahme. Gerade in den verschieden gestaffelten Rahmen- und Binnenhandlungen der Gylfaginning (und der Skáldskaparmál) ist diese Exponierung, dieser Verweischarakter gut erkennbar: Zur gelehrten Schriftkultur tritt in der Prosa-Edda die textuell imaginierte Kultur einer auf oraler Tradition basierenden Kommunikation hinzu. Die verschiedenen Rahmen- und Binnenhandlungen sowohl in der Gylfaginning wie in den Skáldskaparmál bilden diese quasi-vorschriftliche Kommunikationsform auf der thematischen Ebene ab, wenn sich Gylfi/Gangleri mit Hár, Jafnhár und Þriði, Ægir/Hlér mit Bragi unterhalten. Das dialogische Grundprinzip der als Wissensgespräche angelegten Abschnitte, zu denen auch das Háttatal zu zählen ist, wird in den ausführlichen narrativen Rahmungen in Gylfaginning und Skáldskaparmál in zahllosen Erzählsituatio-
Sturges 1991, S. 11. Siehe etwa Robertson 1980. Meier 1998, S. 73. Vgl. Tuve 1966, S. 408. Sturges 1991, S. 35. Ins Umgekehrte gewendet stellt Niklas Luhmann diese Überlegung an den Anfang seiner systemtheoretischen Untersuchung zur „Sinnform Religion“: „Woran erkennen wir, diese Frage muß zuerst gestellt und beantwortet werden, daß es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um Religion handelt?“ (Luhmann 2000, S. 7).
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nen ausdrücklich hervorgehoben und trägt maßgeblich zur poetologischen und medialen Selbstreflexion des Textes bei.⁵³¹
Mit anderen Worten, wir erhalten „genaue Einblicke in das Zustandekommen und das Funktionieren von Erzählungen in ihrer Eigenschaft als schriftliche Texte.“⁵³² Es ist eine Art der Textgestaltung, die als Folge einer mittelalterlichen medientheoretischen Entwicklung zu sehen ist, die sich in Europa seit dem 12. Jh. zu formieren beginnt: die Literatur als Schaffung einer fiktionalen Wirklichkeit, als gezielte Darstellung von Kunstfertigkeit wie Künstlichkeit beginnt ihren Siegeszug. Nie gekannte symbolische Sinnhorizonte tun sich damit auf und insbesondere Zeichenmaterial mit prekärem Wirklichkeitsstatus (und dazu zählte zweifelsohne paganes religiöses Gedankengut) konnte jetzt erzählbar gemacht werden. Denn dies bedeutet nun gerade, dass es zum ersten Mal überhaupt möglich wird, „über Religion [zu] kommunizieren […], ohne sich im gleichen Kontext auf […] [den] eigenen Glauben festlegen zu müssen“,⁵³³ ja sich überhaupt auf die Plausibilisierungsvorgaben eines religiösen Bezugssystems festlegen zu müssen. Die Snorra Edda ist damit Teil eines „kreativen Prozess[es] des Mythen-rewriting“,⁵³⁴ in diesem Sinne eine Art „Entheiligung“⁵³⁵: Die ,Prosa-Edda‘ zeigt als hochgradig literarisierter Text die Ontogenese mythischen Erzählens, also die Herstellung von Welt im Sprechen, und führt zugleich vor, wie dieses mythische Erzählen dort implodieren kann, wo die mythische Realitätsebene aufgebrochen wird. An solchen prekären Rändern und Löchern entsteht die Möglichkeit, dass aus der Verbindlichkeit des Mythos die Potentialität der Fiktion wird. Diese Absetzungsbewegung weg vom „Glauben“ und die Annäherung an die „Literatur“ lässt sich in der skandinavischen mittelalterlichen Dichtung an keinem Text besser beobachten als in der ,Prosa-Edda‘.⁵³⁶
Die Möglichkeit zur Wirksamkeit religiöser Sinngebungsmuster in der Snorra Edda werden wir in dieser medialen Umbruchphase nicht gänzlich ausschließen können, sie ist hier wie überall abhängig von der Rezeptionskompetenz ihrer Zuhörerschaft, aber die Edda letztendlich als religiös motivierte Darstellung sehen zu wollen, gar als „neutestamentliche[s] Offenbarungsgeschehen“,⁵³⁷ hieße doch auch, die literaturtheoretischen, medienwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte zu übergehen. Am wenigsten ist Glauser ein Vertreter einer „christlich-theologischen Deutungsdominanz der Nachkriegszeit“,⁵³⁸ wenn er die sjónhverfingar als dramatur-
Glauser 2009, S. 169. Glauser 2009, S. 167. Luhmann 2000, S. 7. Glauser 2013, S. 120. Glauser 2013, S. 121. Glauser 2013, S. 120. van Nahl 2013b, S. 89. van Nahl 2013b, S. 73.
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gischen, medialen Kunstgriff interpretieren möchte, als „Phantasmagorien“,⁵³⁹ ,Trugbilderʻ theatraler, medialer Inszenierungen. Er argumentiert nicht als Theologe, sondern als Literaturwissenschaftler und darin liegt der bedeutsame Unterschied: Die Exponierung eigener Grenzen, eigener Bedingtheiten kann niemals Teil religiösen Sprechens sein, es ist aber Grundvoraussetzung des Symbolsystems Literatur, seines ‚Fiktionalitätsvertragsʻ, tatsächlich eine „Vorsichtsmaßnahme“,⁵⁴⁰ die bis heute in unserem literarischen Betrieb wirksam ist, oft genug sublim, allzu selbstverständlich für den modernen Rezipienten, die moderne Rezipientin, wo eine mittelalterliche Leserschaft gerade am Anfang steht.⁵⁴¹ Für Snorri galt es zweifelsohne, diesen schwierigen Spagat zu schaffen, dieses notwendige Ausbalancieren zwischen einerseits „external awareness“ und „internal involvement“⁵⁴² als adäquate Rezeption fiktionaler Texte.⁵⁴³ Wir fassen zusammen: Von Glaubensaussagen kann in der Snorra Edda nicht die Rede sein, weder im Sinne positiver, affirmativer Vorbilder noch als abzuweisende Dämonologie. Es bleibt aber die Frage nach common-sense-Vorstellungen, nach Glauser 2009, S. 172. van Nahl 2013b, S. 75. Mittelalterliche Dichtungstheorie verstand sich stets nur im Sinne eines didaktischen Auftrags und kaum als Reflexion über sich selbst, es gab keine mittelalterliche Erzähltheorie, keinen theoretischen Bezugsrahmen, siehe Philipowski 2007, S. 222: „Mittelalterliche Erzählliteratur vermag an keiner der etablierten literarischen Traditionen und an kein durch Autoritäten abgesichertes Legitimationsmuster anzuknüpfen, kann sich nicht über Terminologien definieren, die zur Beschreibung des lateinischen oder heidnischen Schrifttums konzipiert sind. Sie setzt sich durch ihre Sprache, ihren Wahrheitsanspruch […], ihre Form und ihren Erzählgegenstand zwischen alle etablierten Klassifikationsschemata und Systematisierungen und entzieht sich so allen bestehenden Konzepten und Terminologien: Für sie stehen – um die von PETER STROHSCHNEIDER geprägte Terminologie zu verwenden – ‚keine institutionell gesicherten Sonderräume bereitʻ [Strohschneider 2001, S. 11], so dass sie instabil und ‚okkasionellʻ ist. Was sie ist und will, wen sie anspricht, wovon sie erzählt und woraus sie ihren Geltungsanspruch ableitet, muss sie in sich und durch sich selbst artikulieren, sie muss sich gleichsam selbst definieren, stabilisieren und institutionalisieren, muss die Sonderform des Sprechens, die sie darstellt, über ‚unsystematisch poetologische Aussageformen im Medium der Dichtung selbstʻ [Kiening 2003, S. 113] verhandeln.“ Lamarque und Olsen 1994, S. 157. Siehe Zipfel 2001, S. 259. Zuallererst ist es der Autor, der jeweils „eine bestimmte Realisierung des Fiktionsvertrages vorlegt und hofft bzw. davon ausgeht, dass der Rezipient den entsprechenden Vertrag akzeptiert“ (Zipfel 2001, S. 284), dieser konnte für die einzelnen Textsorten durchaus unterschiedlich ausfallen und musste unter Umständen jeweils neu verhandelt werden. Gleichermaßen ist die mittelalterliche Zuhörerschaft am wenigsten homogen in ihrer Fähigkeit zur Einnahme dieser actas-if-Haltung. Gewisse Rezeptionsroutinen bestanden wohl bereits, aber den Unwissenden und Naiven, den Halbgebildeten ebenso wie den allzu Dogmatischen ist sogar eher der Spott der ‚besserʻ Informierten gewiss, weil sie jene Fiktionssignale nicht richtig zu deuten wissen und damit ein empfindliches Manko in ihren Weltverarbeitungsmustern offenbaren. So würden schon von ihren mittelalterlichen Zeitgenossen diejenigen für „einfältig“ gehalten, „die glauben, was ihnen im Erec, im Iwein, im Tristan oder im Parzival erzählt wird: ‚Alsô sint bekant durch tiutschiu lant / Êrec, Îwan und Tristant, / Künic Ruother und her Parcifâl, / Wigalois, der grôzen schal / Hât bejaget und hôhen prîs: / Swer des geloubt, der ist unwîsʻ (Der Renner, V. 1221– 1226)“ (Philipowski 2007, S. 216, Anm. 58).
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ideologisch religiösen Wissensmodellen, die ihren Weg aus ontologischen Konzepten in das Allerweltswissen eines isländischen Alltags gefunden haben könnten und von dort in die Ausgestaltung zeitnaher ‚Heidenbilderʻ. Die tiefe Feindschaft, die die jüdische Bevölkerung von ihrer christlichen Umwelt erfahren musste, die Diskriminierung, die immer wiederkehrenden Verfolgungen sind zweifelsohne traurige, nahezu alltägliche Realität im Mittelalter. Cole verweist hier zu Recht auf die unselige Rolle des Vierten Lateran-Konzils (1215),⁵⁴⁴ ein Konzil, das bestimmt kein Zeichen der Toleranz gegenüber Andersgläubigkeit setzte, sondern kaum deutlicher die wachsende phobische Intoleranz gegenüber ,Andersheitʻ zeigte, allen voran der Beschluss zur Kennzeichnungspflicht der Juden in der Öffentlichkeit. Nur wenige Jahre später sollte Snorri seine Edda verfassen, tatsächlich fraglich, ob jene Vorgaben christlicher Deutungsmonopolisten unbemerkt an ihm hätten vorübergehen können.⁵⁴⁵ Aber dennoch hat Snorri wohl den (wenn auch nur vage implizierten) Antisemitismusverdacht nicht verdient. Die Tatsache, dass der blinde Hǫðr mit dem gleichen körperlichen Defizit bei Snorri erscheint (und nur bei Snorri) wie er stereotyp einem ganzen Volk, den Juden, zugeschrieben wird, mag wohl die berechtigte Frage nach Übereinstimmungen aufwerfen, dass er also tatsächlich inspiriert gewesen sein könnte „by contemporary ideas about Jews and Judaism, which he then deployed, liberated from their original frame of reference, in the fantasy world of the Edda.“⁵⁴⁶ Wir können ein Ähnlichkeitsempfinden nicht ausschließen, aber der tiefste, nachhaltigste Irrtum ist dabei, diesen originalen Referenzrahmen als ausschließlich christlichen Referenzrahmen zu betrachten. Diese Zuschreibungen, Eigenschaften, Charakteristika haben ihren Ursprung nicht in mittelalterlichen christlichen Judenvorstellungen. Die Möglichkeit, dass der blinde Hǫðr, die tränenlose Þǫkk nach älteren, vorchristlichen, außerchristlichen Vorstellungen konzipiert sein könnten, wird von vorne herein nicht erwogen, die Möglichkeit, dass die Konzeptualisierung des mittelalterlichen Judenbilds seinerseits in eben nämlichen, wesentlich älteren Traditionen seinen Ursprung haben könnte, auch nicht, dass es sich also um einen gemeinsamen Vorstellungsraum, Symbolpool handeln könnte, aus dem sich auch christliche, aber bei Leibe nicht nur christliche Vorstellungen speisen. Es wird die Frage nach der Herkunft, der Diachronie des Körperkonzepts von Blindheit nicht gestellt ebenso nicht Vgl. Cole 2017, S. 244. Auch van Nahl möchte Snorris „ideellen und methodischen Hintergrund“ (van Nahl 2013b, S. 202) in den Weisungen des Vierten Laterankonzils gegründet sehen, allerdings scheint er ganz im Gegensatz davon auszugehen, dass hier eine Art Grundstein zur religiösen Völkerverständigung gelegt worden wäre. In Snorris Mythenbearbeitung sei es nicht zuletzt dadurch zu einer „systematische[n] Aufwertung der vorchristlichen Religionen“ (van Nahl 2013b, S. 202) gekommen. Am einflussreichsten habe sich der dort festgelegte Lehrsatz der Dogmatik, die sogenannte „Analogiethese“, gezeigt, die die göttliche Trinität als wesenhafte Einheit (entgegen Irrlehren) verteidigt. Dadurch sei Snorri angeregt worden, ein eigenes Analogiekonzept in seinem Werk zu verfolgen mit dem Ziel, den „nordischen Polytheismus und Christentum in Relation zueinander [zu setzen]“ (van Nahl 2013b, S. 202). Cole 2013, S. 3.
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die Frage nach dem zeitgenössischen, synchronen, mittelalterlichen epistemischen Wissen über Blindheit, nach deren konkretem Evokationspotenzial, dann hätte Cole vielleicht bemerkt, dass die Stereotypen, die er als antijüdisch bezeichnet, keineswegs für diese Bevölkerungsgruppe exklusiv reserviert sind, keineswegs hier ihren Ursprung haben. Sie gleichen vielmehr bis aufs Haar den Zuschreibungen und Konnotationen unzähliger anderer mittelalterlicher Randgruppen, allen voran der Blinden selbst. Hier finden wir die nämliche Diskriminierungsmetaphorik, es sind die gleichen Ausschluss- und Anklagestrategien, ausgehend von der konkreten körperlichen Defizienz hin zur abstrakten, geistigen Aberration: Die Blindheit wird den Juden in einem Akt der Neumotivierung als typische Verstocktheit und Unwissenheit der Glaubensabweichler zugeschrieben. Hǫðr, Loki, Þǫkk, ,die Judenʻ, ,die Blindenʻ teilen sich Konzepte von Liminalität, Grenzwertigkeit, Abweichung, sie sind damit im gleichen Denkraum angesiedelt, allem übergeordnet der umfassende Symbolpool von Marginalität. Das so genannte blind shooter-Motiv ist von einer dermaßen überkulturellen Omnipräsenz, dass so viel mehr dafür spricht, dass das Christentum seinerseits dieses Motiv für sich entdeckt, weitergeführt und gegebenenfalls aktualisiert hat.⁵⁴⁷ Der langen Reihe der mythischen Blinden, mit denen wir uns später noch genauer auseinandersetzen werden, soll hier kaum vorgegriffen werden (dazu gehört etwa die Blindheit – und Lahmheit! – des Cocles in der legendenhaften Frühzeit der römischen Republik, der blinde – hinkende! – Hannibal als existenzielle Bedrohung Roms, der blinde Christustöter Longinus, der blinde Väinämöinentöter Joukahäinen, der blinde finnische Krankheitsschütze Perisokia, der blinde keltische Meisterschütze Lugaid, der blinde Kainmörder Lamech, natürlich nicht zuletzt der blinde Odin). Sie alle verbindet die Fähigkeit zur Erschütterung bis hin zur Auflösung einer bestehenden Ordnung. Dem modernen Forscher liegt offenbar das Antisemitismuskonzept (das zweifelsohne mit Elementen aus dieser Kategorie gespeist wird) am nächsten, deshalb ,erkenntʻ er Ähnlichkeiten hier als Erstes, und macht dabei doch im Grunde genommen nichts anderes, als was er beim mittelalterlichen Snorri zu entdecken glaubt:
Gerade hier zeigt sich, dass die Priorisierung lokaler wie temporaler Kontiguität bei der Einschätzung der Validität potentieller Vergleichsobjekte am wenigsten selbstredend ist, wenn auch häufig genug, gewissermaßen im Rahmen einer methodologischen Grundsatzentscheidung, als solches aufgefasst: „Assumptions of continuities should be kept at an absolute minimum. If intercultural parallels indicating historical connections can be explained in several different ways, then precedence should generally be given to the interpretation which presupposes the shortest continuities. For instance, if the recurrence of a motif combination in two medieval literatures can be explained both by common heritage from proto-Indo-European times and by a medieval process of cultural exchange, then the primary way to explain this recurrence should in the first instance always be the interpretation as the result of a medieval process of exchange“ (Egeler 2017, S. 15 f.). Aber konkret körperhafte Kontiguität findet sich nur in außerwissenschaftlichen Denkmodellen als unabdingbare und plausibelste Voraussetzung für Ähnlichkeit. In der Fragestellung des Komparatisten, der Komparatistin ist sie kein Wert an sich, sondern in jedem einzelnen Fall neu zu beurteilen. Bei der Bewertung des Motivkomplexes ‚Blindheitʻ führt diese scheinbar methodisch abgesicherte Beschränkung zu einem gravierenden Fehlurteil.
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„[H]e was not averse to borrowing from the contemporary xenophobias of his age and projecting them into the past.“⁵⁴⁸ Dennoch ist die skaldische Spurlosigkeit der Þǫkk-Episode auffallend. Warum erscheint sie in keiner einzigen weiteren mittelalterlichen Quelle, wie Abram behauptet? Warum kennt sie die eddische Dichtung nicht?⁵⁴⁹ Nur die Spruchdichtung der Málsháttakvæði scheint als Einziges in der ganzen altnordischen Literatur, neben Snorri, diese spezifische Folge von Ereignissen zu kennen.⁵⁵⁰ Aber, so Abrams, es sei nicht einmal klar, welcher Text der ältere sei, nahezu zeitgleich allemal, die Málsháttakvæði könnten also genauso Snorris Gylfaginning als Grundlage haben, immerhin fänden sich auffallende wörtliche Übereinstimmungen im Namenmaterial, etwa Éljúðnir (vielleicht „die Regenfeuchte“) als Name für die Halle der Unterweltgöttin Hel, der nirgendwo sonst auftauche. Nun, vielleicht suchen wir lediglich am falschen Ort. Das Gedicht spielt ganz offenbar in einer Reihe von nicht ganz ernstgemeinten Bildern, als eine Art „soap-opera version“⁵⁵¹ (weit entfernt jedenfalls von den tatsächlichen Konsequenzen, die Balders Tod im mythisch religiösen Kontext ausgelöst hat) auf heroische wie mythische Ereignisse an. Frog bemerkt zu Recht, dass diese wiederum, gerade um so dargestellt werden zu können, bei der Zuhörerschaft gut bekannt sein müssen: „The tongue-incheek presentation of the stanza demands familiarity with the referent to be appreciated: the audience is anticipated to be familiar with the underlying narrative because without that familiarity the narrative would not be a relevant subject for the lampoon.“⁵⁵² Roberta Frank verweist auf das auffällige Reimpaar saga / jaga. Letzteres paraphrasiert sie mit „to jabber on about something“ und übersetzt: „The story about him is very well known. / No need for me to harp on it.“⁵⁵³ Auch Dronke notiert: „The long intrigue of Baldr’s killing in Snorra Edda seems like a loose-limbed dramatic sequence of comic and tragic scenes, with more than a hint of burlesque. Loki’s trickster role of
Cole 2013, S. 2. Vgl. Abram 2011, S. 217. Friggjar þótti svipr at syni, / sá var taldr ór miklu kyni, / Hermóðr vildi auka aldr, / Éljúðnir vann sólginn Baldr, / öll grétu þau eptir hann, / aukit var þeim hlátrar bann, / heyrinkunn er frá hánum saga, / hvat þarf ek of slíkt at jaga (Mhkv 9). („Um Balder wars schade, / er galt von hehrer abkunft, / Hermod wollte sein leben verlängern, / doch Eljudner hatte den Baldr verschlungen; / sie alle weinten ihm nach, / trauer war ihnen bereitet; / seine geschichte ist ja männiglich bekant, / was brauch ich darüber viel worte zu machen?“ [Übers. Möbius 1873, S. 29]). Sophus Bugge übersetzt: „Es wurde als grosser Schaden angesehen, dass Friggs Sohn starb; er galt für hochgeboren. Hermóðr wollte verlängern sein Leben, aber Eljúðnir (Hels Behausung) hatte Baldr verschlungen. Alle weinten sie über ihn, gross war ihr Kummer. Allbekannt ist die Geschichte von ihm […]; wozu soll ich viele Worte davon machen?“ (Bugge 2012 [1889], S. 281). Frank 2004, S. 11. Frog 2010, S. 218 f. Frank 2004, S. 11 f. Siehe „to move to and fro, e. g. as a door on its hinges“, metaph. to harp on one string“ (Cleasby/Vigf. 1874, „jaga“).
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disguise and deceit has been a witty one in Snorri’s sources,“⁵⁵⁴ ganz anders aber in der eddischen Dichtung: [I]n Vǫluspá his deeds are not found funny. When the vǫlva recognizes his chained figure beneath Cauldron’s Grove (34), she sees it as malignant; but the scene of Þǫkk’s refusal to weep […] can never have been anything but impudently comic.⁵⁵⁵
Auch in der Hrafns saga Sveinbjarnarsonar⁵⁵⁶ werde auf Balders Tod merkwürdig despektierlich referiert: „Everything wept – so I have heard: a weard thing it was – [? to get] Baldr out of Hel. Yet more loudly, when he proffered his head, did Þórmóðr howl. That is not telling a lie.“⁵⁵⁷ In der Tat, man kommt wohl nicht umhin, sich Dronkes Vermutung anzuschließen: „Would this allusion have made much impact in the district if there had not been noisy popular reenactments of ,Baldr’s storyʻ for general entertainment?“⁵⁵⁸ Die besondere Volkstümlichkeit von gewissen Jenseitskonzepten haben wir bereits an anderer Stelle beschrieben, ganz offensichtlich unterscheiden sie sich von den religiös ideologischen Vorstellungen der herrschenden Eliten Skandinaviens. Auch von der Anderwelt der Glæsisvellir, der „Glanzgefilde“, scheint die Skaldendichtung und die eddische Dichtung wenig zu wissen, wir haben sie ebenso als ,volkstümlichʻ bezeichnet, aber sie sind damit eben keineswegs ,erfundenʻ, auch nicht marginal, sondern offensichtlich sehr präsent im (religiösen) Denken. Und wirklich macht die ganze Art der Hel-Beschreibung, der darin vermuteten Gegenstände, eher den Eindruck eines naiv volkstümlichen Szenarios, Hungr „Hunger“ heißt die Schüssel, Sultr „Verschmachtung“ das Messer, der Knecht und die Magd Ganglati und Ganglǫt, „a ‚lazy goer,ʻ an idler“, „blinkendes Unheil“ Blíkjandi Bǫl die Bettvorhänge, Kǫr „Krankenlager“ (oder „Sarg“) das Bett, die Türschwelle Fallanda Forrað „Fallgefahr“.⁵⁵⁹ Es fällt schwer, sich Snorri, Vertreter der herrschenden Eliten, gelehrter Literat wie Literaturtheoretiker, als Erfinder eines solch häuslichen Panoptikums vorzustellen. Es passt besser zu jenen „noisy popular reenactments“⁵⁶⁰ wie sie Dronke als Teil von Snorris Quellenmaterial ohnehin annehmen möchte. Tatsächlich vermutet sie hinter den Andeutungen der Málsháttakvæði eine Art „local ditty“.⁵⁶¹ Dann wäre also Balders Tod zu einem ‚Geschichtchenʻ, einem ‚Liedchenʻ geworden, zu einer Art mittelalterlichen Gassenhauer, den man an jeder Ecke hören konnte? Man wird davon ausgehen müssen. Wir haben es hier mit einer der zahlreichen volkstümlichen, balladesken Versionen von ehedem Totenliedern, Totenklagen zu tun, die
Dronke 1969 – 2011, S. 96. Dronke 1969 – 2011, S. 96. Örnólfur Thorsson und Bergljót Kristjánsdóttir [Hg.] 1988. Hvatvetna grét, / (hefk þat fregit), / býsn þótti þat, / Baldr ór helju; / þó hefr hæra, / þás hǫfuð fœrði, / Þórmóðr þotit; / þat’s ólogit (Hrafns saga, Kap. 2). Dronke 1969 – 2011, S. 96, Anm. 21. Vgl. Beck 1999c, S. 258 f. Dronke 1969 – 2011, S. 96, Anm. 21. Dronke 1969 – 2011, S. 96, Anm. 21.
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ihren ursprünglichen, rituellen Zusammenhang verloren haben, tragisch komische Possen, die jedenfalls längst ihren religiösen Denkrahmen verlassen haben. Solche Symbolshifts oder Symbolwanderungen ehedem religiöser Symbole hinein in den common sense-Diskurs des ,Volkesʻ, ohne Deutungshoheiten und Restriktionen, sind schließlich gut bekannt. Schon das Klagelied der Braut im folkloristischen Hochzeitsbrauchtum steht am Anfang dieses Weges. Dazu passt auch das ausdrückliche Versichern der Glaubwürdigkeit der Quellen, ein literarischer wie diskursiver Marker, ein rhetorischer Kniff, gerade um die Fiktionalität, die Unverbindlichkeit des Gesagten als Möglichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist ein Rezeptionshinweis an die Zuhörer, eine Erlaubnis, jene Haltung des willing suspension of disbelief einzunehmen, jenes zeitlich begrenzte, freiwillige Aufgeben von (verbindlichen) Wahrheitsvorstellungen – die Naiven unter ihnen mögen es weiterhin unbesehen glauben. Einiges scheint also dafür zu sprechen, dass wir es hier mit einem typischen Beispiel volkstümlichen Erzählens zu tun haben, mit balladesken, oralen Erzählelemente, die Snorri bereits vorgefunden hat und (wenn auch gegebenenfalls mit Modifizierungen) übernommen hat. Aber auch das Motiv des ,kosmischen Weinensʻ in den Homilien Gregors, auf das Abram verweist, ist genauso wenig christliche Erfindung. Es gehört zu den Kulten der sterbenden Götter des Ostens, zur Göttertotenklage, aber noch allgemeiner zur Bestattungsrhetorik.⁵⁶² Und, wichtig genug, bereits hier gehört das Motiv der Schadenfreude der Feinde am Tod des geliebten Menschen, ganzer Städte, Reiche, Völker zum festen Repertoire.⁵⁶³ Schon die Klagelieder des Alten Testaments, die Threni,⁵⁶⁴ wissen von den „schadenfrohen Zuschauern“.⁵⁶⁵ Siehe ähnlich ein arabisches Leichenlied,
Vgl. Jahnow 1923, S. 109. Die Göttertotenklage wie die Totenklage für den ,privatenʻ, für den individuellen Toten sind grundsätzlich gleich. Hier wie da findet sich das Motiv der Klage lebloser, jedenfalls nicht menschlicher Dinge, etwa im Adonislied des Bion: „Weh, rufen die Berge, Kypris, weh“; / „weh“, rufen die Bäume, „Adonis“; / Die Bäche beweinen der Kypris Leid, / Adonis die Bronnen des Waldes. / Es bräunt vor Schmerz sich das Laub im Hain, / und über Kytheres Insel / Aus jedem Anger, aus jedem Busch / der Ruf des Jammers erschallet: / „Ich klag um Adonis, Adonis ist tot, / Adonis, der holde Knabe“ (Jahnow 1923, S. 114). Auch in der privaten Totenklage würden „Sonne, Mond und Sterne, Berge, Bäume und Gewässer“ (Jahnow 1923, S. 103) zur Klage aufgefordert „im Stile eines Imperativ“ (Jahnow 1923, S. 102). Den Bauern beklagten seine Ochsen, den Beduinen sein Pferd, ja, den eigenen Augen werde befohlen, um den Toten zu weinen (vgl. Jahnow 1923, S. 103). Vgl. Jahnow 1923, S. 141. Die anonym verfassten Lieder sind im 6. vorchristlichen Jahrhundert nach der Zerstörung des Tempels und dem Fall Jerusalems entstanden. Sie sind in der Form einer Totenklage (qînôt) gehalten (vgl. deren Name in jüdischer Tradition: êkhāh „Ach!“). Die Wurzel qjn bezeichnet grundsätzlich die rituelle Totenklage, indes werden Threni (Lamentationes) schon in einem allgemeineren Sinn verwendet als „die Klage über ein wie auch immer geartetes Leid“, ähnlich im vermutlich literarischen Vorbild der babylonischen Städteklage (vgl. Koenen 2015). Der „wirkliche[ ] Todesfall“ wird also übertragen „als Bild“ auf ein anderes Unglück (vgl. Jahnow 1923, S. 172). So beklagt auch die Stammmutter Rachel das Leid ihrer Kinder, das Schicksal Jerusalems (vgl. Jahnow 1923, S. 175), vielleicht ähnlich wie Frigg das Leid ihres Kindes Balder wie das „Leid Walhalls“ beweint (Vsp 33). Jahnow 1923, S. 186.
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das schildert, wie einer „schadenfroh“ gewesen sei, „als das Todeslos den Malik traf und er als Augenzeuge es ansah […]“, und schließlich den Sterbenden „schadenfroh“ verlassen habe.⁵⁶⁶ In den Threni wird diese Schadenfreude und Spott mit gewissen Gesten verbunden⁵⁶⁷: Über dich klatschen in die Hände / alle, die des Weges ziehen. Sie zischeln und schütteln den Kopf / über die Tochter Jerusalem: „Ist das die Stadt, die man nannte: / Entzücken der ganzen Welt, Krone der Schönheit?“ Über dich reißen ihr Maul auf / all deine Feinde. Sie zischeln und fletschen die Zähne.⁵⁶⁸
Jahnow möchte diese Gesten, „das Händeklatschen, Pfeifen, Kopfschütteln, Mundaufreißen und Zähneknirschen“, keineswegs lediglich als Ausdruck dieser Schadenfreude betrachten, vielmehr auch und gerade apotropäisch motiviert hinsichtlich des „unheimlichen Unglück[s]“, das Jerusalem ereilt habe.⁵⁶⁹ Das Händeklatschen als Zeichen der Trauer wie apotropäische Maßnahme zum Verjagen der Totengeister ist auch aus nordischen Kontexten gut bekannt, das Zähnefletschen und Mundaufreißen ist Berserkermanier wie ikonographisches Apotropaion zur Dämonenabwehr. Hier wird den missgünstigen Feinden jenes ritualisierte Verhalten zugeschrieben (das indes ursprünglich Teil jedes Bestattungsritus sein musste). Hinzu kommt der Spottvers des schadenfrohen Zuschauers: „Ist das die ,Allerschönsteʻ, / die ,Wonne der ganzen Erdeʻ?“ ⁵⁷⁰ So wird der Tote (in diesem Fall übertragen auf die Stadt Jerusalem) herabgewürdigt, wertlos gemacht und damit letztendlich entmachtet. Wir beobachten das gleiche Gedankenmodell im Baldermythos: Þǫkk (< urn. *Þankō) gehört zum Verb þakka, þekkja, in der Bedeutung „wahrnehmen, erkennen, wissen“, was einem ae. ðencan, as. thenkian, ahd. denchan, nhd. denken ⁵⁷¹ entspricht. Es hat also nur insofern etwas mit dem Verb ‚dankenʻ zu tun, als dass es sich als Rückbildung zu ,denkenʻ (etwa im Sinne „in Gedanken halten“ = „danken“) darstellt.⁵⁷² Dazu gehört das lat. tongere „kennen, wissen“, und damit kann der Name zum irischen Nemthenga („Giftzunge“) gestellt werden, ein Beinamen, den der berüchtigte irische Poet Bricriu⁵⁷³ trägt – aus gutem Grund: Immer wieder wird auf die Fähigkeit Jahnow 1923, S. 186 f. Vgl. Jahnow 1923, S. 187. Klagelieder 2, 15 – 16. Vgl. Jahnow 1923, S. 187. Jahnow 1923, S. 187. Kluge/Seebold 2002, „denken“. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Dank“. Gegebenenfalls kann man auch an die veraltete transitive Form von ,abdankenʻ denken, jemanden abdanken, „mit Dank verabschieden“ (Kluge/Seebold 2002, „abdanken“). „Perhaps the figure most easily identified as a genuine celtic trickster figure is the Ulster figure Bricriu, who earns the honor through his talent for causing annoyance and problems. Bricriu is, after all, perhaps the most ‚officialʻ trickster, although he is more usually characterized as a ‚troublemakerʻ or ‚mischief-makerʻ (Simmons 2005, S. 83). Auch Dumézil sieht Loki in engster Ähnlichkeit zum irischen „Bricriu (mit der) Giftzunge“ (Dumézil 1959, S. 210 f.), ohne freilich die Þǫkk-Episode damit in
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irischer Poeten verwiesen, Menschen mithilfe eines sog. áer,⁵⁷⁴ eines zauberspruchartigen Spottverses, buchstäblich ‚zu Tode reimenʻ zu können. Der Grat zwischen lediglich verbaler Satire, einem Spottvers, einschließlich dessen demütigender, lächerlich machender Wirkung und tatsächlicher incantatio mit tödlicher Wirkung war für den vormodernen Menschen schmal genug.⁵⁷⁵ Þǫkk/Loki stößt einen Fluch aus, eine Schmähung, eine Abweisung als Sprechakt, ähnlich dem alttestamentarischen hämischen, schadenfrohen Widersacher. Dies entspricht in der funeralen Handlungspraxis dem mhd. vluochen (ahd. fluohhōn) in seiner Ausgangsbedeutung „stoßen, schlagen“, also dem dezidierten Trauerzeigegestus des ,Händezusammenschlagensʻ, höndum slá oder handun slôg. Die Art der Konkretisierung dieses Symbols des Verstoßes reicht vom onomatopoetischen Ausruf, etwa das slavische akyš, akyš! als Ruf zum Vertreiben von Vögeln, in Anlehnung an die häufigste Vorstellung der toten Seelen als vogelartig,⁵⁷⁶ über den Spottvers bis hin zur incantatio, dem Bann- und Zauberspruch. Siehe auch das ,lustigeʻ Ende einer Totenfeier, wie es in einem Südseemärchen geschildert wird.⁵⁷⁷ Es ist die Totenfeier der „überaus gefürchteten und verhaßten Frau des Häuptlings Longa-Poa in Tonga.“⁵⁷⁸ Der Häuptling spricht: „Also ist Fekai verschieden! Sie war wirklich eine eigenartige Frau. Wir wollen heute ihr Totenfest feiern. Leute, es soll ein großes Fest werden, denn sie war eine vornehme Frau und die Tochter
Verbindung zu bringen. Insgesamt hält er es jedenfalls für „unwahrscheinlich, daß nur durch Zufall die keltische Welt der germanischen und der skythischen auch in diesem Punkt nahe kommt“ (Dumézil 1959, S. 211). Maier definiert áer als „Schmähgedicht“ oder „rituelle Verwünschung“ (Maier 1994a, „áer“). Zahlreiche Quellen bezeugten, dass dermaßen Schmähgedichte oder Schmähworte körperliche Entstellungen bis hin zum Tod verursachen könnten. Im irischen Recht galt das Schmähgedicht als legitimes juristisches (!) Mittel, Ansprüche gegen gegebenenfalls Höherstehende durchzusetzen (vgl. Maier 1994a, „áer“). Siehe Tristram 2014, S. 137: „Unfortunately, the native Irish term of áer, meaning ‚shaming songʻ, is commonly translated as satire into English, thus blurring the major differences between a ‚satireʻ proper which criticizes the social grievances of the respective times by means of a hyperbolic prose narrative. The shaming songs, however, were metrical compositions and stood in a completely different discourse tradition. As personal invectives, they professed the belief in and the practice of voodoo-like magic. They targeted the downfall or ruin of an individual, usually ending in his death. He was virtually shamed to death.“ Vgl. Murko 1910, S. 101: Um das jährliche Ahnenfest, die gemeinsame Mahlzeit der Lebenden und der Toten am Familientisch zu beenden, spricht der Familienvater schließlich folgende Worte: „Heilige Ahnen! Ihr seid hergeflogen, / Habet getrunken und gegessen, / Flieget jetzt zu euch zurück! / Saget, was ihr noch braucht? / Aber besser, fliegt zum Himmel. / Akyš, akyš!“ Siehe auch eine ähnliche Vorstellung über die Keren, die Totengeister der griechischen Anthesterien, die ikonographisch ebenfalls mit Flügeln und Krallen dargestellt werden und zur Beendigung der Totenkommunion gleichermaßen verscheucht werden mit dem (sprichwörtlich gewordenen) Ruf: ϑύραζε Κῆρες, οὐκ ἔτ̕ ᾿Aνϑεστήρια („Hinaus ihr Keren, die Anthesterien sind vorüber!“). Vgl. Rohde 1894, S. 219 f. Vgl. Jahnow 1923, S. 10 f. Jahnow 1923, S. 10.
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eines Königs.“ Da bereiteten die Leute das Totenfest und betrauerten Fekai, daß sie tot war. Viele Stimmen wehklagten, aber kein Auge wurde naß; und als der alte Afu, nachdem das Fest vorüber war, laut sagte: „Im Leben tat sie nie Gutes, doch im Tode hat sie es getan; ich habe auf ihre Rechnung gegessen und bin mehr als satt“, da brüllten sie alle vor Lachen […].⁵⁷⁹
Alle rituellen Elemente finden sich so auch im Baldermythos wieder, man mag einräumen, in durchaus anderer Reihenfolge, so kommt das Lachen erst zum Schluss, wo die Asen zu Anfang lachen. Aber selbst die ,trockenen Tränenʻ fehlen nicht (die hier für die verabscheute Tote sämtliche Trauergäste ,weinenʻ), auch nicht der Verweis auf die Nutzlosigkeit, ja den noch nie da gewesenen Nutzen der Verstorbenen. Es passt zu Þǫkks zynischer Unberührtheit: „Kyks né dauðs / nautka ek karls sonar: / haldi Hel því er hefir“ (Gylf 49). „[W]eder vom lebenden noch vom toten Sohn des Alten hatte ich Nutzen – behalte Hel, was sie hat.“ Im menschlichen Trauerdiskurs ist es freilich, nach all den vorangegangenen Kämpfen des ,nicht Wahrhabenwollensʻ, des Hasses, der Hoffnung, die gerade auch rituell angestrebte Ergebung in eine gleichmütige (wenn nicht erschöpfte) Akzeptanz. Ähnlich resigniert zeigen sich die griechischen Grabinschriften: „Aber die Klage, sagen uns Andere, ist nutzlos, für den Todten wie für die Lebenden; Niemand kehrt wieder; der Tod zwingt zu endgiltigem Abschied.“⁵⁸⁰ In diesen funktionellen Rahmen, auf die gleiche strukturelle Ebene der Verstoßung, der magischen Abweisung gehört auch Odins Sprechakt der ,Ohrflüsterungʻ⁵⁸¹ (vgl. das hebräische ‚Zischelnʻ). Bereits das ausdrückliche Sprechen ins Ohr des Toten ist ein Abwehr- wie Beschwichtigungsgestus: Wir haben Anhaltspunkte dafür, daß die Leichenklage mit ihrem Geschrei und Trauergetöse, mit ihren Liedern und Musikinstrumenten ursprünglich auch wirklich dazu bestimmt ist, von dem Toten selbst gehört zu werden. So wird ihm z. B. bei den Rumänen das Leichenlied geradezu in die Ohren gesungen; in der Bukowina und bei den Irokesen hat der Sarg oft zu beiden Seiten an den Ohren der Leiche Öffnungen, damit der Tote die Klagen gut vernehmen könne. […]. Die Versuche, die Totengeister zu verscheuchen, werden sich nicht immer auf unartikuliertes Geschrei und Getöse beschränkt haben; in entwickelteren Stadien hat man vielleicht durch Beschwörungsformeln auf sie einzuwirken gesucht.⁵⁸²
Und jenes Flüstern als besondere Art des rituellen Sprechens wendet Odin nicht nur auf seinen Sohn Balder an, sondern auch auf einen anderen Sohn, seinen Ziehsohn Geirrøðr, so wie uns die Prosaeinleitung der Grímnismál berichtet. Er verhilft ihm damit allerdings zu einem Übergang ganz anderer Art, zu diesseitiger Herrschaft und Königtum, gleichzeitig wird dessen Bruder Agnarr aber in eine jenseitige Welt ver-
Jahnow 1923, S. 11. Rohde 1894, S. 682. Siehe Vafþrúðnismál: „hvat mælti Óðinn, áðr á bál stigi, / siálfr í eyra syni?“ (Vm 54). („was sagt’ Odin, eh er den Scheiterhaufen bestieg, / selbst dem Sohn ins Ohr?“); „Ey manni þat veit, hvat þú í árdaga / sagðir í eyra syni;“ (Vm 55). („Kein Mensch weiß, was du in Urtagen / dem Sohn ins Ohr sagtest;“); ähnlich in der Hervarar saga, Kap. 10, zwischen Gestumblindi/Odin und König Heiðrekr. Jahnow 1923, S. 44 f.
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bannt: Die beiden Brüder erleiden als Kinder mit ihrem Ruderboot an einer Insel Schiffbruch. Dort werden sie von Odin und Frigg (in Gestalt armer Hüttenbauern) bei sich aufgenommen: Die Alte zog Agnarr auf, der Greis aber Geirrod. Im Frühjahr gab ihnen der Alte ein Schiff. Als er und die Frau sie an den Strand begleiteten, da sprach der Alte mit Geirrod allein. Sie hatten Fahrwind und kamen zum Schiffsplatz ihres Vaters. Geirrod war vorn im Schiff. Er sprang an Land, stieß das Schiff hinaus und sprach: „Fahr dahin, wo dich die Unholde haben!“ Das Schiff trieb hinaus. Geirrod aber ging hinauf zum Hof. Mit Freude begrüßte man ihn. Sein Vater war schon gestorben. Da wurde Geirrod zum König genommen und er wurde ein berühmter Mann (Grm 6 – 14).⁵⁸³
Die konkrete Handlung des Wegstoßens wird auch hier ergänzt und eigentlich erst wirksam gemacht durch den rituellen Sprechakt, den Fluch, und so reißt Geirrøðr, wie es scheint unrechtmäßig, das Herrschaftsrecht des älteren Bruders an sich. Er verweist ihn ins Systemaußen, ,übers Meerʻ, in eine Höhle zu einer Riesin, mit der er Kinder zeugt. Geirrøðr wird damit Herrscher im Diesseits, sein Bruder zum Jenseitsbewohner, aber ebenso zum Gründer einer Genealogie, wenn auch einer jenseitigen. Frog verweist auf die unmissverständlichen Assoziationen zu Balders Begräbnis, insbesondere auf den Sprechakt Odins als direkte Referenz zu Þǫkks Fluch: Óðinn’s act of saying something in secret to his „son“ before departure on a boat presents a system of indexically associated motifs in conjunction with Óðinn as a cultural figure capable of activating the image power and narrative power of Baldr’s funeral, and stimulates the activation of additional propositions for the generation of meanings. The referent of the Geirrøðr’s „curse“ may be Þökk’s verse or some otherwise unrecorded speech-act from Baldr’s funeral. Agnarr’s departure from the land of his father in the magically launched ship activates the departure of Baldr on his funeral ship. Agnarr is not physically „dead“, but he is transferred irrecoverably to an otherworld location where he becomes the consort of a female supernatural being, apparently reflecting Baldr as the consort of Hel.⁵⁸⁴
Wie auch immer wir Agnars Anderwelt-Aufenthalt beurteilen wollen, der Umstand, dass er nicht zurückkehrt, nicht zurückkehren kann, verweist auf eine tödliche Endgültigkeit. Es geht aber auch und gerade um Gründung und Festsetzung, das Ringen um den Status quo. Dafür müssen buchstäblich wie ideell Grenzen überschritten werden. Auch hier erscheinen diese Transgressionen im Rahmen grenzwertigen, moralisch bedenklichen Verhaltens, aber auch im sehr alten Modell der Götterwette als Spiel zwischen Odin und Frigg. Dieses Duell mag oder mag nicht später als Göt-
Kerling fóstraði Agnar, enn karl Geirroð. At vári fecc karl þeim scip. Enn er þau kerling leiddo þá til strandar, þá mælti karl einmæli við Geirroð. Þeir fengo byr oc qvómo til stǫðva fǫðurs síns. Geirroðr var fram í scipi; hann hlióp up á land, enn hratt út scipino oc mælti: „Farðu, þar er smyl hafi þic!“ Scipit rac út. Enn Geirroðr gecc up til boiar. Hánom var vel fagnat. Þá var faðir hans andaðr. Var þá Geirroðr til konungs tekinn oc varð maðr ágætr (Grm 6 – 14). Frog 2010, S. 283.
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terkomik rezipiert worden sein, am wenigsten aber ist es ausschließlich lustige Rahmung ohne eigentlichen Bezug zur „erhabene[n]“ Binnenhandlung.⁵⁸⁵ Es bereitet vielmehr den Übergang vor, leitet ein in jene existenzielle Liminalität, in der Odin unter Qualen, gleichermaßen an die Grenzen seiner Leidensfähigkeit gebracht (ähnlich der Findung des Runenwissens am ,windschiefen Baumʻ) kosmisches, kosmogonisches Wissen kundtut. Das Wissen um die Dinge, die Benennbarkeit des Chaotischen, Oszillierenden, Enigmatischen, das gerade dem fluxus quo der Dinge Einhalt gebietet, gehört untrennbar zur Gestaltung von Ordnung, zur Schaffung von Welt.⁵⁸⁶ Rahmen- wie Binnenhandlung entsprechen sich also, ergänzen sich, hier wie da geht es um das Gründungsereignis, den Anfang, die Benennung, Benennbarkeit göttlicher wie menschlicher Welt.⁵⁸⁷ Odins Aufgabe im Bestattungsritus ist also eine analoge zu der von Loki, zu keiner Zeit ist er der passive, hilflos trauernde Vater, immer der aktive, vorantreibende, handelnde wie verhandelnde, was auch immer Odin Balder ins Ohr flüsterte, es wird ein endgültiger Trennungsspruch gewesen sein, ähnlich dem ultimativen Abweisungsgestus der toten Vǫlva, ähnlich Þǫkks Fluch, ähnlich der unwiderruflichen Scheidungsformel, die der japanische Schöpfergott Izanagi gegen seine tote Ehefrau Izanami an der Unterweltschwelle ausspricht, zum Wohle aller aussprechen muss.⁵⁸⁸
So aber Sabine Walther: „Dabei steht der erhabene Inhalt des Óðinmonologes zu dem Rahmen, in dem eine irdische Handlung, die aus einer Vielzahl von Erzählmotiven zusammengesetzt und mit einer burlesken Götterhandlung vermischt ist, in einem merkwürdigen Gegensatz. Denkt man jedoch an die klassische Poetik, so passen Form und Inhalt durchaus zusammen: schmucklose Prosa für den niedrigeren, Poesie für den höheren Stoff […]. Möglicherweise wollte der Autor das hohe Thema durch einen weniger hohen Rahmen auflockern und in eine unernste Ebene verlegen gerade wegen der heidnischen Inhalte, die der christlichen Schöpfungslehre widersprechen“ (Walther 2015, S. 227 f.). Auch Jiří Starý sieht in den Grímnismál auf besondere Weise „the problem of borders and its crossing“ thematisiert: Zahlreiche Grenzen würden im Gedicht benannt, aber ebenso die Möglichkeiten, wie diese überquert werden könnten (vgl. Starý 2012, S. 19). „[T]he cosmic geography of Grímnismál is in fact a ,social geographyʻ“ (Starý 2012, S. 18). Und auch er verweist auf die enge Bezogenheit von Rahmen- und Binnenhandlung: „If this analysis of the enumerative body of Grímnismál is correct, its main themes are those mentioned above: death, recognition of the hidden and the demarcation between the divine and the human. They are exactly those motifs which form the plot of the frame story both in opening and closing stanzas and the accompanying prose“ (Starý 2012, S. 24). In der japanischen Kosmogonie erscheint in dieser Funktion das bereits erwähnte Brüderpaar Howori no mikoto („Bergglückprinz“) und Hoderi no mikoto („Meerglückprinz“). Auch hier endet der Mythos mit der (unrechtmäßigen) Unterwerfung des älteren Bruders, der jüngere wird zum Ahnherrn der kaiserlichen Dynastie. In einigen Varianten erscheint zusätzlich (nach dem Bruch eines weiteren Tabus) das primordiale Motiv der Trennung von Meer und Land (vgl. Naumann 1996b, S. 247 f.). Vgl. Naumann 1996b, S. 80.
8 Der Tod als semantische Leerstelle 8.1 „Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie“ 8.1.1 Autopoiesis Der Tod gilt zunächst einmal – entgegen seiner banalen biologischen Gleichförmigkeit – als „opake[s], undurchdringliche[s] Phänomen schlechthin“,¹ als Grenze der Erkenntnis, als das Paradoxon autopoetischer Sinnsysteme²: „[E]igenes ‚Totseinʻ schließt eben die Möglichkeit aus, darüber zu sprechen“, so fasst der Soziologe Alois Hahn das Paradoxon des Endes jeglicher menschlichen Existenz, jenen unhintergehbaren „Widerspruch zwischen der in der Beschreibung behaupteten Selbstauslegung und der Bedingung der Möglichkeit ebendieser Beschreibung“.³ Nur durch die Ablösung des Endes vom Ende können Sinnsysteme Anschlussmöglichkeiten gewährleisten und somit ihre systemerhaltenden Operationen am Laufen halten.⁴ Jene gleichwohl einzigartige „prekäre[ ] Verbindung von Wissen und Sterben“,⁵ das sichere Wissen um den Tod und das gleichzeitige ,nichts Wissen‘ vom Tod, wird entsprechend früh und immer wieder im Mythos thematisiert. Es sei das Wissen um die eigene Sterblichkeit, die dem Menschen „ein Zuviel an Wissen und ein Zuwenig an Leben“⁶ beschere, wie es Jan Assmann beschreibt. Und so ist ausgerechnet der sterbliche Adapa ein Sohn des Gottes Ea, des babylonischen Gottes der Weisheit. Dennoch sollte sich gerade diese zunächst durchaus erschütternde Fähigkeit zum „Hinausdenken über den Horizont der eigenen Lebenszeit“⁷ als „Kultur-Generator ersten Ranges“ erweisen.⁸ Es ist dieses unablässige ,sich Abarbeitenʻ an der Aufrechterhaltung einer Kommunikabilität des Todes. Ihre Funktionsfähigkeit kann letztendlich über die Macho 2000, S. 91. Nach Niklas Luhmanns klassischer Systemtheorie sind alle Systeme (psychische wie soziale) operativ geschlossene Systeme. Alle Wahrnehmung ist somit keine unmittelbare Widerspiegelung der Außenwelt, sondern Ergebnis systemeigener Operationen (vgl. Luhmann 2000, S. 16 f.). Hahn 1996, S. 155. Vgl. Hahn 1996, S. 159. Siehe auch Luhmann 2000, S. 31: „Auch Unbeobachtbares – wie anders könnten wir hier davon handeln ‒ kann als Sinn in Operationen eingebaut werden, denn Sinn hat keine Exklusionsmöglichkeiten. Man mag dem, was unzugänglich bleibt, die Form der Negation geben oder, bei logisch höheren Ansprüchen, die Form des Paradoxes. Man mag es bezeichnen, wohl wissend, daß die Bezeichnung das Gemeinte nicht trifft, und daraus mag sich ein Verständnis für Symbole entwickeln, die genau diese Unangemessenheit gezielt reflektieren.“ Diese „strukturelle Sperre des Beobachtens“ nehme der Mensch als „Irritationsfaktor“ wahr, als „Sinngebungsaufforderung par excellence“ (Luhmann 2000, S. 31). Entsprechend müssten sich gerade religiöse Denksysteme mit diesem „Einschluß des Ausgeschlossenen“ (Luhmann 2000, S. 31) auseinandersetzen. Assmann 2009, S. 102. Assmann 2009, S. 101. Assmann 2000, S. 14. Assmann 2000, S. 14. https://doi.org/10.1515/9783110789140-009
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Konkurrenzfähigkeit von Sinnverarbeitungssystemen entscheiden, insbesondere der religiösen, inwiefern sie genügend Weltwissen bereitzustellen vermögen⁹ für eine Rede, die doch immer nur nichts anderes sein kann als die „Rede vom Abwesenden“¹⁰: Zunächst einmal geht es nicht um den biologischen Tod als solchen, sondern um das Wissen vom Tod. Das Wissen ist kommunizierbares Wissen. Es wird im Medium von Sinn artikuliert, und sei es nur mit Hilfe der Unterscheidung von Leben und Tod. Sehr typisch nehmen Lösungen dieses Problems die Form der Wiederaufnahme des Todes in das Leben an; sei es, daß man von einem Leben nach dem Tode ausgeht, sei es, daß man das ewige Leben Gottes vom zeitlichen Leben der Menschen unterscheidet. Da es weder für Bewußtsein noch für Kommunikation sinnfreie Operationen gibt, ist also auch der Tod nur im Medium Sinn präsentierbar, oder genauer: nur als eine der Formen des Mediums Sinn. Und genau hier, also nicht in der angeblichen „Sinnlosigkeit“ des Todes, scheint das Problem zu liegen. Sinn ist ein Medium autopoietischer Systeme. Darin liegt, daß auf der Ebene der (bewußten bzw. kommunikativen) Operationen kein Ende vorgesehen ist. Jedes Element, das produziert wird, wird durch den und für den Reproduktionszusammenhang der Elemente produziert. Es kann demnach kein „letztes Element“ geben, denn ein „letztes“ Element wäre keines. […]. Jede Form von Sinn bildet sich mit Hilfe von Verweisungen auf andere Möglichkeiten. Zeitlich gesehen gibt es daher weder einen absoluten Anfang noch ein absolutes Ende, bei dem nicht die Frage nach dem Vorher bzw. Nachher sich stellen würde.¹¹
Da also nun die Grenze des Systems auch die Grenze des Mediums Sinn bedeutet, verweist das Medium Sinn damit gleichzeitig auf seine eigenen Grenzen, die Streichung der einen Seite dieser Unterscheidung (das unbeobachtbare Außen) bedeutet zwangsläufig aber auch den Sinnverlust der anderen¹²: Auf der Ebene der autopoietischen Operationen ebenso wie auf der Ebene der Semantik, die ihrer Beobachtung dient, kann es deshalb kein Ende ohne „danach“, keinen Tod ohne „danach“ geben. Das Bewußtsein kann keinen letzten Gedanken denken und sich deshalb auch nicht vorstellen, wie ein letzter Gedanke sich gleichsam anfühlen würde […]. Im Begreifen des Todes tritt das Medium Sinn in Widerspruch zu sich selbst. Es geht um eine Grenzerfahrung, die der Form von Grenze widerspricht, die ja voraussetzen muß, daß es eine andere Seite gibt. Jede hier angebaute Deutung kann daher nicht leugnen, daß sie nur eine Deutung ist.¹³
„Die ‚Negationʻ des Todes ist verschieden von der ‚Negationʻ, die jeder Bestimmung anhängt“, so auch der Thanatologe Thomas Macho, der Tod sei im Grunde genommen die „Negation der Negation“, d. h., er ist „nicht Element der Bestimmung, sondern Aufhebung aller Bestimmung.“¹⁴ Alles Reden über den Tod sei somit geprägt von einer
Vgl. Luhmann 2000, S. 52. Grieser 2008, S. 117. Luhmann 2000, S. 50 f. Siehe Luhmann 2000, S. 17: „Man kann nur die Grenze auf ihrer Innenseite berühren und sich durch den Sinn der Form einer Grenze anzeigen lassen, daß es etwas außerhalb geben müsse.“ Luhmann 2000, S. 51. Macho 1987, S. 97.
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Art „Grammatik der Zeichenlosigkeit“.¹⁵ Trotz einer nahezu endlosen Kette von Beispielen möglicher kultureller Praktiken,¹⁶ die zweifellos eine tödliche Universalität bezeugen und allesamt dazu abgestellt sind, jene „lähmende, traumatisierende Wirkung des Todes“¹⁷ zu behandeln, zeige dies doch ein „merkwürdige[s] Dilemma“¹⁸: Letztendlich könnten wir gar nicht über den Tod sprechen, weil wir nichts über ihn wüssten¹⁹: Wir können verstehen, was jemand meint, der vom Tod spricht; wir können den „Tod“ sogar übersetzen. Aber was ist es, das in unserer Sprache als „Tod“ erscheint? Und ist es uns überhaupt vergönnt, einen Zugang zu dem Bezeichneten ausfindig zu machen, der nicht von vornherein durch Zeichen verstellt ist? Vielleicht darf die Frage ‒ worüber wir sprechen, wenn wir vom Tod sprechen ‒ gar nicht gestellt werden; vielleicht führt sie als Frage schon in die Irre. Vielleicht sollten wir nicht mehr fragen, worüber, sondern: wie sprechen wir, wenn wir vom Tod sprechen.²⁰
In der Tat hält nun gerade die Sprache selbst für jene Orte höchster „logischer Not“²¹ Bewältigungsmechanismen bereit, sie vermag selbst den Tod als „sinnentleertes Zeichen“ schlechthin ohne augenscheinliche Referenzierbarkeit²² verfügbar zu machen ‒ als Metapher: Der Tod ist die Grenze des Sinns und der Bedeutung; er ist eine Metapher, und er wird mit Metaphern aufgefüllt. Aber noch als Metapher erinnert er an die vergessene Erfahrung; darüber hinaus an manch andere Erfahrungen, die sich der Logifizierung widersetzen: als Chiffre für Grenzerfahrungen. ²³
Die Leistungen funktionierender Metaphernkonzepte sind beachtlich, sei es als so genannte Alltagsmetaphern, die im Rahmen kognitiver Subroutinen effizient und ökonomisch unser Allerweltswissen strukturieren, bis hin zu den gigantischen mythisch-magisch motivierten Übertragungsprozeduren, die komplexe religiöse Deutungssysteme zu fundieren vermögen. Das ist eben die Reflexion des Systems über seine unerreichbare Umwelt. Metaphern sind dabei nichts anderes als systeminterne Repräsentationen, Vergleichbarmachungen, Ankoppelungen im Rahmen eigener, autopoietischer Operationen. Und selbst für den schwierigsten Fall dieses Systemaußens, für das systemeigene Ende, den Tod, schaffen Metaphern durch komplexe Übertragungsprozeduren Repräsentationen. Oft genug gelingt es dadurch, eine paradoxe Blockade des Systems zu verhindern oder zumindest temporär zu begrenzen,
Macho 1987, S. 11. Vgl. Macho 2000, S. 96. Assmann 2000, S. 19. Macho 1987, S. 172. Vgl. Macho 1987, S. 7. Macho 1987, S. 138. Macho 1987, S. 186. Vgl. Macho 1987, S. 172. Macho 1987, S. 196.
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routinemäßig schließen Metaphern semantische Leerstellen, vage oder aus was für Gründen auch immer kaum zugängliche Erscheinungen der Wirklichkeit werden dadurch komplettiert. Der Tod freilich als semantische Leerstelle schlechthin, als gänzlich undenkbares, unsagbares Phänomen erfordert eine Komplettrepräsentation, einen absoluten Ersatz. Wissensvorräte, die hier zum Einsatz kommen, müssen deshalb möglichst viel an unzweifelhaftem und selbstredendem Weltwissen mobilisieren, „so daß der Tod als Fall, an dem Sinn selbst als paradox erfahrbar wird, zurücktritt und aufgenommen wird in eine Welt, die als bekannt und vertraut behandelt werden kann.“²⁴ Es geht um Phänomene, die ganz allgemein unser Weltwissen infrage stellen, ob unsere Vorstellungen über Gott und die Welt noch brauchbar, unsere Maßstäbe dafür noch gültig seien.²⁵ Und damit seien keineswegs nur plötzlich eintretende, außerordentliche Ereignisse gemeint, die den Menschen dermaßen in Beunruhigung zu versetzen vermögen, so Geertz, bei weitem häufiger liege der Grund für die chronische Beunruhigung in einer hartnäckigen, immer aufs neue erfahrenen Schwierigkeit, bestimmte Aspekte der Natur, des Selbst und der Gesellschaft zu verstehen, bestimmte schwer faßbare Phänomene den kulturell formulierbaren Fakten zuzuordnen, weshalb die Menschen ständig einen Strom diagnostischer Symbole auf sie richten. Es ist das, was jenseits einer relativ festgelegten Linie sicheren Wissens liegt und hinter dem täglichen praktischen Lebensablauf immer spürbar bleibt, was die gewöhnliche menschliche Erfahrung fortwährend in den Kontext metaphysischer Fragen stellt und den dunklen, undeutlich bewußten Verdacht hervorruft, man könnte einer absurden Welt ausgeliefert sein.²⁶
Nun ist gerade der Tod Anlass für jene chronische als auch akute Beunruhigung durch eben jenes Wissen, durch jene Dauerverfügbarkeit und somit persistierende Möglichkeit des Endes. Kaum ein Ereignis bedroht mehr jene „relativ festgelegte[ ] Linie sicheren Wissens“. Aus religiöser Sicht stelle sich dabei weniger die Frage, wie etwa das Problem des Leidens, des Verlustes, des Todes zu vermeiden sei, sondern vielmehr, „wie zu leiden sei, wie man körperlichen Schmerz, persönliche Verluste, irdische Niederlagen oder die Hilflosigkeit gegenüber der Pein anderer erträglich, ertragbar, sozusagen zu etwas Leidlichem machen kann.“²⁷ Den höchsten Medialisierungsaufwand hat dabei zweifelsohne der Tod. Aber obwohl das sprachliche Zeichen ,Todʻ rigoroser als jedes andere Zeichen das Bezeichnete verberge,²⁸ können wir selbst hier von gewissen „sinnlichen Qualitäten“²⁹ ausgehen, auch und gerade hier fordern wir, trotz unserer intellektuellen Agonie, das „Recht zur Folgerung“³⁰ ein, wie es LéviStrauss nennt,
Luhmann 2000, S. 52. Vgl. Geertz 1987c, S. 63. Geertz 1987c, S. 63 f. Geertz 1987c, S. 66. Vgl. Macho 1987, S. 196. Lévi-Strauss 1973, S. 28. Lévi-Strauss 1973, S. 28.
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das Recht nämlich, zu postulieren, daß diese sichtbaren Merkmale auf besondere, doch verborgene Eigenschaften hinweisen. Zuzugeben, daß die Beziehung zwischen beiden selbst sinnlich wahrnehmbar ist […], ist vorläufig besser, als jedem Zusammenhang gegenüber gleichgültig zu sein; denn die Klassifizierung wahrt, selbst wenn sie ungleichmäßig und willkürlich ist, den Reichtum und die Verschiedenartigkeit dessen, was sie erfaßt.³¹
Es ist die paradoxe Materialität des Toten, dessen unleugbare körperliche Anwesenheit, die nicht nur den Ausgangspunkt bildet, sondern im Grunde genommen die einzige Möglichkeit darstellt für kulturelle Überformungen, für die symbolische Inszenierung des Todes: Der Tod ist unserer Erfahrung entzogen; wir erfahren weder den eigenen Tod noch den Tod der anderen (und selbst der geliebten) Menschen. Gleichwohl erfahren wir die Verwandlung von Mitmenschen in Leichen.Wir können diese Verwandlung nicht erklären, auch nicht auf uns selbst applizieren; wir können sie nicht verstehen. Dennoch erfahren wir ihre unbedingte Faktizität. Alles, was sich vom Tod in Erfahrung bringen läßt, erfahren wir gleichsam in der Konfrontation mit den Leichen. Wir erfahren keinen Tod, wohl aber erfahren wir die Toten. […]. Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie.³²
Als einziges Faktum des Todes können die Überlebenden materielle, körperliche Veränderungsprozesse des Toten registrieren, Lebewesen verschwinden ja nicht einfach, wenn sie sterben, so Macho,³³ nicht nur der Status des Todes, sondern auch der Status des Toten selbst sei damit paradox: „Er verkörpert die Anwesenheit eines Abwesenden.“³⁴ Die Geschichte der Totenkulte nimmt insofern ihren Ausgang von einer rein „‚materialistischenʻ Perspektive“.³⁵ Biologische Veränderungsprozesse könnten dabei lediglich „passiv registriert“, aber auch „aktiv gestaltet“³⁶ werden, das macht nicht nur die Toten, sondern in seiner Konsequenz den Tod selbst kulturell überformbar und vor allem behandelbar. Daraus entstehen schließlich jene prototypischen Metaphernkomplexe, die ihrerseits zu rituell wirkmächtigen Symbolen des Übergangs werden.³⁷ Sämtliche Bestattungsrituale referieren somit im Grunde genommen auf die zwei einzigen, konträren Strategien zur Leichentransformation, nämlich die Verzögerung oder Aufhaltung des Verwesungsprozesses bzw. dessen Beschleunigung.³⁸ Daraus entwickeln sich sämtliche „sinnstiftende Projektionen“³⁹ mit dem Ziel, jene zunächst rein biologischen Transformationsprozesse in ein „ko-
Lévi-Strauss 1973, S. 28. Macho 1987, S. 195. Vgl. Macho 2000, S. 98. Macho 2000, S. 99. Macho 2000, S. 98. Macho 2000, S. 98. Vgl. Macho 2000, S. 98 f. Vgl. Macho 2000, S. 106. Macho 2000, S. 113.
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härentes Symbolsystem“,⁴⁰ in eine „coherent organization of experience“⁴¹ zu übertragen. Als Todesmetaphern sind sie Spezialfall, aber nicht Ausnahme. Sie geben dem Tod Form, wenngleich wir wohl kaum jemals wirklich verstehen können, was diese Symbole eigentlich ersetzen.⁴² Die rituelle Nachahmung der Leiche, der Zerfall wird damit zum Ausgangspunkt für ein grundsätzliches Verständnis, zum prototypischen Szenario des Todes in seiner konkreten sinnlichen Wirksamkeit. Der unvollständige Körper, sein Verlust an Einheit und sein letztendliches Verschwinden wird zum ersten und überzeugendsten aller Todesbilder. Darauf referieren alle weiteren mentalen Repräsentationen, erweitert, kombiniert mit immer komplexer werdenden metaphorischen blends.⁴³ Gerade hier kann es nur um eine „spekulative[ ] Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren“⁴⁴ gehen. Und dabei zeigt sich ein ganz bestimmter, unverwechselbarer, konstitutiver, „lebensweltliche[r] Motivationshorizont“ der Todesmetaphern: Der Tod werde stets nur mit ganz spezifischen Erfahrungen verglichen, die eben nicht beliebig ausgetauscht werden können. Die Metaphern sind niemals zufällig gewählt, auch wenn sie von Sprachspiel zu Sprachspiel variieren mögen. Sie sind konstitutiv für den unanschaulich-anschaulichen Begriff des Todes.⁴⁵
Der Tod wird also als Grenzgang betrachtet, in vielen, gerade primitiven Kulturen freilich eher als (wenn auch bedeutsamer) Zwischenfall, die Grenze bestenfalls als
Macho 2000, S. 113. Kövecses 2002, S. 4. Vgl. Macho 1987, S. 182. Es ist hier nicht der Ort, auf die Fülle und Variationsmöglichkeiten von Postmortalitäts- und/oder Jenseitsvorstellungen einzugehen, nach der oben angesprochenen strukturellen Zwangsläufigkeit einer Denkfigur der Grenze ist weniger erstaunlich ihre allgemeine Verbreitung als vielmehr ihr offensichtlich doch auch punktuelles Nichtvorhandensein (vgl. Ahn 2001, S. 16). Die jeweilige Vorstellung einer Behandelbarkeit einer dermaßen einschneidenden Diskontinuität im Gemeinschaftsleben der Menschen ‒ und nur als solche wurde sie zunächst einmal betrachtet ‒ war jedenfalls abhängig von einem „bestimmte[n] kulturelle[n] Reflexionsniveau“ (Gladigow 2002a, S. 94), wie Gladigow darlegt, ob etwa „von einem gewissen Stadium kultureller Entwicklung an die Totenwelt als Komplementär- und Korrekturbereich zum Diesseits verstanden wurde“ (Gladigow 2002a, S. 97), ja ob sie überhaupt als ,Gegenweltʻ verstanden wurde, zunächst musste sie ja nicht einmal zwingend von einem natürlichen, empirisch erfahrbaren Diesseits getrennt sein. Auch Assmann beschreibt Diesseits und Jenseits als eine Art „Lebenszeit übergreifenden Sinnhorizont“ (Assmann 2001, S. 11). Stelle sich eine Kultur diesen Sinnhorizont in der diesseitigen Welt vor, so existiere eine jenseitige Welt in der Vorstellung bestenfalls als „Schattenreich“, das durch die Abwesenheit all dessen gekennzeichnet sei, das in der jeweiligen Kultur unter Leben verstanden werde, sei aber der „Sinn- und Erfüllungshorizont“ ins Jenseits erweitert, so sei die jenseitige Welt im eigentlichen Sinne kein Totenreich, sondern vielmehr ein ersehnter Ort, an den man gelangen wolle, gerade um dem Tod zu entfliehen (vgl. Assmann 2001, S. 11 f.). Lévi-Strauss 1973, S. 29. Macho 1987, S. 188 f.
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Hindernis im Leben, nicht aber als Ende des Lebens selbst empfunden.⁴⁶ Die Verwesung des Körpers werde als „Lösungs- und Übergangszeit“ begriffen und selbst in diesem Prozess sei die Leiche ohne jeglichen „Dingcharakter“, sie werde nach wie vor als lebendes Wesen betrachtet, das „in modifizierter Weise Möglichkeiten [habe], in die Welt der Lebenden einzugreifen.“⁴⁷ Der Tod werde nicht als unwiderrufliche Zerstörung des Individuums, überhaupt noch nicht als „Trennung von Leib und Seele“⁴⁸ interpretiert, denn die basale Metapher der Veränderung als Reise, als Bewegung im Raum muss schließlich mit einer gewissen logischen Zwangsläufigkeit eine wichtige Konsequenz vorgegeben: „In jenem Maße, in dem sich der tote Körper auflöst, wird damit gerechnet, daß die verschwindende Person an einem anderen Ort wieder auftauchen könnte.“⁴⁹
8.1.2 Todesheilung So oder so initiiert die Zersetzung, die Zergliederung des Körpers eine Transformation, die auf ein konkretes Weiterbestehen oder Wiederentstehen des Körpers ausgerichtet ist an einem anderen, möglicherweise unbekannten Ort. Jene hochkomplexen Einbalsamierungs- und Mumifizierungsrituale, allen voran im altägyptischen Kontext, sind in einem anthropologischen Sinn davon nicht zu trennen: Durch Skelettierung, Zergliederung, Mazeration, Mumifizierung,Verbrennung, Exposition usw. manipuliert bzw. greift der Mensch aktiv ein in einen natürlichen, biologischen Zerfallsprozess, die ethnographischen Berichte sind voll von Leichenmanipulationen aller Art, wohl prima facie befremdliche, grausige „Freakshow[s]“,⁵⁰ allerdings mit einem dezidierten, bedeutungsgebenden Ziel: die ,Todesheilungʻ, wenn auch nicht im Sinne einer Rückgängigmachung des Todes. Die schrittweise Auflösung des Körpers wird zum Transformationsprozess schlechthin. Der „Zustand der Störung“ muss dabei zunächst rituell mitinszeniert werden, als eine Art extreme, gleichwohl notwendige Vorbereitung (eine „Gegenhandlung“), damit sie im Rahmen einer „kultischen Seligkeitshilfe“ behoben werden kann.⁵¹ Nicht nur ägyptische Todesbilder erscheinen seit frühester Zeit nur in dieser Zweiteilung plausibel. Sie gründen tief in einer omnipräsenten Vorstellung von Zerrissenheit,⁵² der die Kultur gleichwohl eine Fülle von therapeutischen (rituellen wie mythologisch konzeptionellen) Maßnahmen entgegensetzt. Die körperliche Einheit ist damit grundsätzlichste Voraussetzung und Interpretationsmodell für Selbst und Identität, Annihilation, die komplette Auflösung dieser
Vgl. Macho 1987, S. 164 f. Vgl. Fuchs-Heinritz 1969, S. 41. Macho 1987, S. 165. Macho 1987, S. 166. Macho 2000, S. 97. Vgl. Hermann 1956, S. 85. Vgl. Hermann 1956, S. 84, Anm. 19.
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Einheit bedeutete im ,mytho-logischenʻ Umkehrschluss Heillosigkeit, Verlust des Selbst, Tod. Dem trägt der Mythos wie der Kult Rechnung, wobei gerade hier oft genug der Fokus auf repräsentative Einzelkomponenten des Körpers gelegt wurde, die entweder einer Spezialbehandlung bedurften oder aber ab einem gewissen Zeitpunkt als Pars-pro-toto-Konzept alleine stehen konnten.⁵³ Mehr und mehr konnten einzelne Körperteile stellvertretend für die komplette Körpererfahrung stehen, das komplette Funktionsarrangement des Körpers wurde gleichgeschaltet mit der ganz spezifischen Funktion dieses Körperteils, in gewisser Weise austauschbar gemacht und damit natürlich auch Vorstellungen von Funktionstüchtigkeit oder Störung. Kaum anders geschieht das noch heute in unserer Alltagsmetaphernwelt. Auch hier werden bestimmte Körperteile gezielt nach (zumindest vermuteter) Funktionsform oder Referenzialität ausgewählt.⁵⁴ Im rituell religiösen Denken bildet nun dieses Konzept von Metonymie die Grundlage für die Vorstellung unterschiedlicher „Körperseelen“⁵⁵, die ,Seeleʻ, das ,Zentrumʻ, das ,Selbstʻ wird an zentrale Funktionen des Körpers, an ganz bestimmte Organe oder Körperteile angeschlossen, als Zwischenstufe zu einer gewissermaßen „Singularisierung der ‚Seelenʻvorstellung“.⁵⁶ Schließlich wird ‚die Seeleʻ zum einzigen vereinheitlichten wie vereinheitlichenden Wesenskern.⁵⁷ In den einzelnen Religionsgeschichten kann man nun gut nachweisen, wie Vorstellungen von metonymischer Repräsentation aufeinander aufbauen, sie können als Variationen lange Zeit problemlos nebeneinander bestehen, ebenso aber in den Fokus gezielter Legitimations- und Abgrenzungskämpfe konkurrierender Deutungssysteme geraten: In ihrer Untersuchung über indische Todesvorstellungen etwa sieht Angelika Malinar mehrere Modelle gleichwertig nebeneinander. Im Kontext der vedischen Ritualtradition gilt „die Wiederverkörperung in einer Himmelswelt als ein erstrebenswertes Ziel“, daneben existieren aber auch so genannte „asketisch orientierte Erlösungslehren, die das Konzept einer unsterblichen Wesenheit beinhalten, das sog. ‚Selbstʻ (ātman).“⁵⁸ Dies war an keinerlei Art von Körperlichkeit geknüpft. Danach richtete sich die rituelle Praxis: Eine Wiederverkörperung im Jenseits konnte expressis verbis an die Vorstellung des Körpers als „Opfergabe“⁵⁹ geknüpft sein, das Totenritual
Vgl. Malinar 2002, S. 770. Auch Lakoff und Johnson weisen darauf hin, dass es immer gewisse Eigenschaften seien, die jeweils mit dem betreffenden Körperteil assoziiert würden und die entsprechend die Auswahl bestimmten. Der ‚kluge Kopfʻ meint eben den (ganzen) intelligenten Menschen, ,die starke Handʻ wird mit der (ganzen) Physis des Menschen assoziiert (vgl. Lakoff und Johnson 2003 [1980], S. 36 f.). Gladigow 2002a, S. 93. Gladigow 2002a, S. 94. Gerade in diesem Wandel sieht Gladigow die „entscheidende ,psychologischeʻ Wende in der europäischen Religionsgeschichte“ (Gladigow 2002a, S. 91). Vgl. Gladigow 2002a, S. 94 f. Erst dadurch kann sich die Idee eines Leib-Seele-Dualismus bilden, die Vorstellung, der sich vom Leib ablösenden Seele wird jedenfalls erst spät, in einem letzten Schritt, dann aber am repräsentativsten empfunden für ein Konzept der Desintegration und des tödlichen Zerfalls. Malinar 2002, S. 764. Malinar 2002, S. 765.
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wird dann als eine erfolgreich vollzogene Opferhandlung an den Totengott Yama aufgefasst, der dafür im Gegenzug den Erwerb eines neuen jenseitigen Körpers gewährt. Dann aber waren [d]ie Unversehrtheit des zu opfernden Körpers und das korrekte Arrangement der Knochen […] Vorbedingungen für den erfolgreichen Erwerb des Körpers, der die Jenseitsreise antritt. Dieses wird auch während der Totenrituale erkennbar: So z. B. in der Praxis, den auf dem Scheiterhaufen platzierten Leichnam mit seinen Opferutensilien und den Körperteilen eines zuvor geopferten Tieres zu bedecken oder in den Anweisungen zur Bestattung der Knochen. […]. Dabei wird folgender Opferspruch rezitiert: „Du hast auf diese Streu dich, opferrein, gesetzt, die Väter sollen dich, den hingeschiedenen, anerkennen; Nimm dir zusammen deinen Körper, Glied um Glied, durch brahma [das Opferwissen bzw. Wahrheitswort AM] stell ich diese Glieder wieder her.“ Dem entspricht die auch ansonsten gängige Praxis, den Körper des Geopferten so zu zerteilen, daß er dabei wieder zusammengesetzt wird bzw. werden kann.⁶⁰
Nicht zufällig treffen wir im Rahmen eines Sprechakts eines Bestattungsrituals auf die Kernformel des Zweiten Merseburger Zauberspruches. Aber auch im Altindischen gab es bereits Entwicklungen, Individualität und Identität nicht mehr zwangsläufig körpergebunden zu verstehen. So konnte der Tod mehr und mehr als Chance begriffen werden, sich von dieser Körpergebundenheit zu befreien.⁶¹ Das Selbst war dann gerade nichts ,Zusammengefügtesʻ mehr, war nicht mehr abhängig bzw. „das Resultat eines rituellen Geschicks“.⁶² Als einen der Gründe für diese Entwicklung kann sich Malinar eine mehr und mehr kritische Haltung gegen eine als grausam und gewalttätig empfundene Opferpraxis vorstellen,⁶³ aber wahrscheinlicher ist eher die umgekehrte Richtung: Zerstückelungsakte waren ja nur insofern bedeutsam, als dass sie ein kostbares Gut (bzw. ein gefährdendes Kontagion) in eine Anderwelt zu transferieren vermochten. Veränderte Ich-Vorstellungen machten diese rituellen Handlungsanweisungen obsolet und damit unverständlich. Im Christentum ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Auch hier verlagerten sich Modelle von Selbst ins ,Innereʻ und doch wurde versucht, jene divergierenden Vorstellungen einheitlich zu halten, jedenfalls wurden, interessant genug, konkret körperhafte, postmortale Konzepte beibehalten⁶⁴: What happens to the body after death was an important concern for many early Christians. The answers that different Christian groups gave to this question at different times, however, varied considerably […]. Yet in the long run, one particular view became influential and dominated Western culture almost exclusively throughout history. […]. According to this view, people in the
Malinar 2002, S. 768 f. Vgl. Malinar 2002, S. 764. Malinar 2002, S. 771. Vgl. Malinar 2002, S. 772. So hat sich bekanntlich Paulus in seinem ersten Korintherbrief (1 Kor. 15, 35 – 49) intensiv mit dem Problem postmortaler Körperlichkeit auseinandergesetzt (vgl. Czachesz 2009, S. 391 f.).
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afterlife have bodies that are identical with, or at least very closely resembling, their bodies in this world.⁶⁵
„[R]eligionshistorisch gesehen“, so Gladigow, habe damit das Christentum mit einem gewissermaßen „,transponierten Anachronismusʻ zu kämpfen.“⁶⁶ Andererseits scheinen Religionen häufig genug mit Anachronismen dieser Art gut zurechtzukommen, im Licht neuerer Kognitionsforschung präsentieren sie sich sogar erstaunlich ,modernʻ und scheinen ‒ wie auch sonst ‒ keineswegs ausschließlich für explizit religiöses Denken reserviert: Eine Vorstellung von Körperlichkeit muss in unserer Konzeptionierung von Identität immer mitlaufen, um uns über Bedürfnisse und Beweggründe anderer, gerade auch abwesender Menschen im Klaren zu werden, aber auch nur möglicherweise imaginierte Bedürfnislagen setzen zwingend einen Körper voraus. Körperkonzepte als mentale Repräsentationen von Wesenheit und Selbst sind also bis heute ungebrochen wirksam in unserem Denken. Unser Wissen vom Menschen ist an erster Stelle und zunächst unausweichlich an diese embodiments geknüpft. Es ist der Zustand des Körpers oder aber (immer wichtiger) gewisser Teile davon, die uns die wichtigsten Basisinformationen über die Person selbst geben. Aber selbst konkrete, körperbasierte Repräsentationen können sich ändern, ja ganz aus dem Fokus des Interesses verschwinden, nicht etwa, weil sich ihr rein biologischer Funktionsapparat geändert hätte, es sind vielmehr die jeweils herrschenden kulturellen Vorstellungen, das gesellschaftlich formierte Wissen darüber. Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen, wie aus eben jenen prälogischen, vorwissenschaftlichen, magischen Vorstellungen vom Körper und seiner Funktion, von Gesundheit und Krankheit, von Behinderung und Normalität allmählich wissenschaftliche Konzepte entstehen, keineswegs geradlinig oder ohne Rückschritte, und wie die Wissenssoziologie zeigt, können diese durchaus parallel laufen. Jene spezielle Behandlung der Knochen etwa, bekannt aus so vielen Totenritualen und wahrscheinlich schon praktiziert in altsteinzeitlichen Jägerritualen, gründet auf einer der frühesten metonymischen Konzeptualisierungen von Körperseele. Die Überbleibsel des Körpers, die sich offensichtlich am dauerhaftesten den natürlichen biologischen Zerfallsprozessen zu widersetzen vermochten, mussten der Grundstock, die unabdingbare Voraussetzung für ein Wiedererstehen bzw. -entstehen auf der ,anderen Seiteʻ sein. Es waren somit die vergänglichen fleischlichen Überreste, die in einem rituellen Kontext die wertlosen waren, wie auch die zahlreichen Entfleischungsund Expositionsrituale im Rahmen von Sekundärbestattungen zeigen. Zu irgendeinem Zeitpunkt freilich wurden die Götter eher als privilegierte Teilnehmer einer menschlichen Essensgemeinschaft verstanden denn als ,Restauratorenʻ auf der anderen Seite und so musste es zwangsläufig zu Missverständnissen kommen. Beson-
Czachesz 2009, S. 391. Vgl. Gladigow 2002a, S. 93, Anm. 14.
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ders deutlich kommt dies in der als ,Opferbetrugʻ bekannt gewordenen Überlistungsaktion des Prometheus anlässlich eines gemeinsamen Gastmahls der Götter und der Menschen zum Ausdruck (vgl. Hes. Theog. V. 528‒50). Prometheus teilt dabei das Fleisch des Opferstiers in zwei denkbar ungleiche Portionen, die eine bestehend aus Fleisch, eben den essbaren, verwertbaren Körperteilen, die andere bestehend aus Knochen und Haut. Zeus wählt als Götterteil den ,schlechtenʻ Anteil, was bekanntlich der Praxis des olympischen Opfers entsprach, in diesem neuen kulturellen Kontext erscheint es gleichwohl als empörend unsoziales Verhalten, das bestraft werden muss. Jene ‒ nicht zuletzt nach Hesiods eigener Ansicht ‒ paradoxe Kultpraxis wird aber beibehalten.⁶⁷ Der Spezialbehandlung der Knochen kommt also ein zentraler Stellenwert zu im Rahmen postmortaler Vorstellungen, jener uralte Erneuerungs- und Restituierungsgedanke ist auch altnordischen Vorstellungen keineswegs fremd. Narrativ ausgearbeitet ist er in der bekannten Erzählung über Thors Böcke (Gylf 44): Als Thor auf einer seiner Reisen bei einem Bauern einkehrt, lässt er seine Zugtiere schlachten und als Mahlzeit zubereiten. Die Knochen allerdings, so weist er an, sollen nach dem Essen auf deren Fellen gesammelt werden. Am nächsten Tag ‚weihtʻ Thor die Bocksfelle mit seinem Hammer und bringt die Tiere damit zurück ins Leben. Eingearbeitet in diese Episode ist die Konsequenz einer Nichteinhaltung seiner Vorgaben: Ein einwandfreier Vollzug, eine vollständige Wiederbelebung gelingt gerade deshalb nicht ganz, weil die kultisch relevanten Träger, die Knochen, (aus Unverstand des Sohnes des Hauses) nicht unangetastet bleiben. Das Motiv der sich erneuernden Böcke als unversiegliche, paradieshafte, eben unsterbliche Nahrungsquelle erscheint am häufigsten ins märchenhaft Volkstümliche weitergedacht, es mag auch der ursprünglichste, ‚pragmatischsteʻ Gedanke der steinzeitlichen Restitutionsbemühungen gewesen sein: die Nachhaltigkeit einer Nahrungsquelle, die (für lange Zeit) ausschließlich rituell gewährleistet werden konnte. Andererseits ist es gerade die Beinverletzung als prototypische Kennzeichnung der Unvollständigkeit, die dem Jenseitswesen, dem toten oder todgeweihten Wesen notorisch anhängt.
8.1.3 Verletzte Pferde: Blóðughófi – Balderes uolon Man hat im Namen des Freyr-Pferds Blóðughófi, „der mit den blutigen Hufen“, eine Mythenabbreviatur vermutet, einen Freyr-Mythos, ein Abenteuer, das er zu bestehen hat, von dem sich indes in den Quellen keine Spur finden lässt. Vielleicht würden wir aber bei ihm ohnehin nicht fündig werden. Freyr steht sein Pferd genauso wenig zur Verfügung wie sein Schwert. Es ist Skírnir, der als Einziger Freyrs Pferd reitet, und er benötigt Schwert wie Pferd für eine einzige Aktion: seine Jenseitsfahrt ‒ nicht unwahrscheinlich, dass das Pferd von diesem buchstäblichen Höllenritt seine Blessuren
Vgl. Gladigow 2002b. Siehe grundlegend Meuli 1975b.
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davongetragen hat und so seinen sprechenden Namen erhalten hat. Beinverletzungen oder -auffälligkeiten sind immer bewusste Markierungen des Liminalen, Grenzwertigen. Grenzgänger, ob menschlich oder göttlich oder tierisch, werden damit in ihrer Transgressivität markiert.⁶⁸ In diesem Sinne muss man wohl auch Skírnirs Antwort auf die Frage des Hirten verstehen, der bezeichnenderweise auf einem (Grab)hügel Wache hält (Skm 13): Kostir ro betri, heldr enn at kløcqva sé, hveim er fúss er fara; eino dogri mér var aldr um scapaðr oc alt líf um lagið. („Entschlossenheit ist dem besser, der bereit ist zu fahren, als es zu jammern wäre; bis auf einen halben Tag wurde mir das Alter bestimmt und das ganze Leben festgelegt“). Der Edda Kommentar möchte der Interpretation fara als „sterben“ nicht folgen, da dies nicht zum unmittelbaren Kontext passe,⁶⁹ auch Krause belässt es in seiner Übersetzung beim neutralen „fahren“. Aber Skírnir ist todgeweiht, es ist ja ebenso seine eigene Fahrt in den Grabhügel. Liberman schlägt vor, den Ausspruch formelhaft zu verstehen ähnlich wie im Beowulf: The authors [des Edda-Kommentars, d.Verf.] suggest that Skírnir quotes a proverb, though no such proverb has been found. More likely, we have here a variant of the poetic formula: „It is better for an [epithet] man to act than to mourn,“ cf. Beowulf 1384b–85: „Sēlra bið ǣghwǣm, þæt hē his frēond wrece, þonne hē fela murne“ [It is better to avenge a friend than to lament long].⁷⁰
Es geht offenbar um die akkurate, notwendige Ausübung von Pflichten, auch wenn dies letztendlich das Leben kostet. In diesem Falle sind es die Begräbnispflichten. Das mythische Wissensmodell, das Reiten von Freyrs Pferd als gleichzeitig unverzeihlicher, tödlicher Tabubruch und notwendige Pflichterfüllung findet seine literarisierte Entsprechung in der Hrafnkels saga Freysgoða. ⁷¹ Der Isländer Hrafnkell besitzt einen Hengst Freyfaxi, den er dem Gott Freyr geweiht hat. Bei Todesstrafe hat er festgelegt, dass dieses Pferd nicht geritten werden darf. Wenngleich die ,Amtszu-
Bis in jüngste Zeit soll etwa in Belgien im Leichenzug höherer Offiziere das mitgeführte Leibpferd „hinkend“ gemacht worden sein (vgl. Geiger 1931, Sp. 1085). Auch von einem anderen berühmten FreyrTier wird von einer Beinverletzung berichtet, dem Eber Beigaðr, „der Furchterregende“, indes macht dieser seinem Namen kaum Ehre, wenn man nicht ohnehin davon ausgehen will, dass dieser ein *Geigaðr fortführt und damit zum Odins- wie Berserkernamen Geiguðr zu stellen wäre, „der im Gehen Auffällige, der Abweichende, Schwankende“. Wohl ist es seiner Zeugungspotenz zu verdanken, dass sich die Schweineherde des Landnehmers Ingimundr beträchtlich erweitert, im Besonderen aber weiß die Saga von seiner Flucht übers Wasser zu berichten, wo er schließlich den Tod findet, dermaßen ermüdet, dass ihm die Klauen abfallen (vgl. Vatnsdœla saga, Kap. 15; Landnámabók, Kap. 57). Damit erwiese sich zunächst eher das Schwein Freyrs als das Reittier ‚mit den blutigen Hufenʻ. Meulengracht Sørensen sieht in dieser Episode eine Art „Freyr-Ideologie“ subkutan im Sagatext mitlaufen, dazu gehört Fruchtbarkeit, Wohlleben, Prosperität. Mindestens ebenso wichtig aber ist die Rolle, die Freyr bei der „Etablierung des Landnahme-Mannes Ingimundr“ zugewiesen wird (Meulengracht Sørensen 1992, S. 722). Auch Böldl sieht das Bedeutungszentrum der Landnahmesagas zunächst im Gründungsgeschehen selbst, in der Legitimierung von Anfang und Gründung (vgl. Böldl 2005, S. 78 f.). Vgl. Komm.Edd. Skírnismál, von See et al. 1993, S.63. Liberman 1996a, S. 115. Cawley (Hg.)1932.
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schreibungʻ Hrafnkells als Freyr-Priester (Freysgoði) durchaus zweifelhaft ist, so werden wohl zu Recht in seinem Verhalten alte, pagane Traditionen vermutet.⁷² Es ist offenbar ein kultisches, religiöses Tabu, das das Pferd umgibt und das gerade im Zusammenhang mit seinem ,eigentlichenʻ Besitzer, dem Gott Freyr, zu stehen scheint. Die tief emotionale, fast schmeichlerische Unterwürfigkeit, mit der Hrafnkell „seinem Zögling“ (fóstri sinn) gegenübertritt, ist in der Tat nur in einem modernen MenschTierverhältnis gegebenenfalls denkbar,⁷³ kaum in einem mittelalterlichen, in jedem Fall ist es auffallend. Aber dieses Verhalten erscheint nicht unbekannt, es gleicht dem rituell geforderten in der Totenfürsorge, es ist die übliche, Gunst heischende Annäherung an ein rasch zu erzürnendes, unberechenbares und damit gefährliches Anderweltwesen. Freyfaxi ist wohl nicht nur Eigentum, sondern Verkörperung des Gottes, des vergöttlichten Toten. Dazu passt, wie das Tier zu Tode gebracht wird: mithilfe üblicher ritueller Maßnahmen gegen gefährliche Tote. Das Pferd erhält wie der bösartige Þórólfr bægifótr der Eyrbyggja saga (Kap. 33) Leichenhilfe, nábjargir, (seinen Beinamen „Hinkefuß“ hat er bezeichnenderweise ebenso wegen einer Fußverletzung bekommen). Dem toten Þórólfr wie dem todgeweihten Pferd wird ein Sack über den Kopf gezogen, um sich vor deren Bösem Blick, dem Blick des Todes, zu schützen. Freyfaxi wird wie ein potentieller Wiedergänger in einen Teich gestoßen, so wie der Stier Glæsir, die unheilvolle Wiederverkörperung des toten Þórólfr bægifótr, schließlich endgültig im Moor verschwindet. Zunächst aber wird Einar, der Knecht Hrafnkells zum Tabubrecher, schon durch seine niedere, eines erwachsenen Mannes unwürdige Tätigkeit eines Schafhirten als randständig und liminal gekennzeichnet. Er reitet Freyfaxi, indes nicht mutwillig, sondern in einem tiefen Dilemma, in Ausübung seiner Pflicht, um verlorengegangene Schafe zu finden. Das kostet ihn, erwartungsgemäß, das Leben, er wird von seinem Herrn mit einer Axt erschlagen. Der Ritt auf dem Hengst wird dabei als lang andauernd beschrieben, überaus anstrengend für Reiter wie Pferd, erschöpft, schweißtriefend und über und über mit Schmutz beschmiert (ja das Pferd selbst scheint diesen erbärmlichen Eindruck noch verstärken zu wollen, indem es sich – schweinegleich – zusätzlich im Schlamm suhlt), mjǫk ókræsiligan; mjǫk óþokkuligr, in jeder Hinsicht „unansehnlich“, erscheint der Hengst schließlich selbst vor der Tür seines Herrn, um seinen Missbrauch anzuzeigen.⁷⁴ Dieser besondere Fokus auf einen desolaten Zustand (wie beim zu Tode erschöpften Eber Beigaðr) nimmt seinen späteren Schlamm- oder Wassertod vorweg. Schließlich müssen auch die Pferde, die dem toten Varäger-Fürsten nach der Beschreibung des Ibn Faḍlān mit ins Grab gegeben werden, auf diese Weise präpariert, kultisch vorbereitet werden. Sie werden bis zur Erschöpfung gejagt,
Vgl. Turville-Petre 1964, S. 167. Siehe Miller 2017, S. 68: „And how recognizable: the recognition of the horse’s distinctive voice, the attribution of deep intentionality to him, the term of endearment, the immediate mutual understanding – like us with our pets and they with us.“ Hon gengr fram í dyrnar ok sér Freyfaxa mjǫk ókræsiligan. Hon sagði Hrafnkeli, at Freyfaxi var fyrir dyrum úti, mjǫk óþokkuligr (Kap. 5).
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bis eben jener erbärmliche, schweißtriefende Zustand eintritt, bereits dem Tode nah werden sie getötet. Einar trifft unterwegs viele Menschen, bei denen er sich erkundigt, niemand weiß von seinen Schafen, aber jeder wird wohl den tabuisierten Hengst Freyfaxi erkennen und jeder wird sich wohl, wenn auch nur insgeheim, die nämliche Frage stellen, die der unterweltliche Hirte Skírnir stellt: „Bist du todgeweiht, oder bist du dahin gegangen?“ (Skm 12). Aber auch Balder besitzt ein verletztes Pferd, in denkwürdiger Übereinstimmung mit der Fußverletzung Blóðughófis.⁷⁵ Es erscheint in einem der berühmtesten und ältesten deutschen Sprachdenkmäler, dem Zweiten Merseburger Zauberspruch,⁷⁶ bekanntlich ein Heilspruch, in dem ähnlich hocharchaische, altindische Wurzeln vermutet werden wie im Fluch des Skírnir gegen Gerðr. Der Spruch galt lange Zeit als Kronzeuge für die Kenntnis des Baldermythos auch im südgermanischen Raum, aber kaum mehr ein Forscher scheint die Zuversicht eines Jacob Grimm zu teilen, dass wohl „künftige forschung […] entscheidendere aufschlüsse“⁷⁷ über dessen Ursprung und Verwendung bringen werde. Im Gegenteil, seit seiner Entdeckung im 19. Jh. und Gegenstand zahlloser Forschungsbemühungen unterschiedlichster Disziplinen muss die Forschung mehr oder weniger resignierend feststellen, dass man von einem sicheren Kenntnisstand weit entfernt ist.⁷⁸ Entsprechend zurückhaltend ist Wolfgang Beck in seinem Urteil über den religionsgeschichtlichen Wert bzw. Verwertbarkeit.⁷⁹ Eine Reihe von Forschern ist ihm darin gefolgt – oder vorausgegangen – und möchte in letzter Konsequenz den Zauberspruch gar nicht mehr als irgendwie gearteten Beweis für den Baldermythos in der Kontinentalgermania werten. Dabei scheinen Übereinstimmungen zunächst einmal augenscheinlich: In einer Reihe von Götternamen erscheint auch der Name Balders, es geht um eine Pferdeheilung, an der verschiedene Götter und/oder Göttinnen (von denen allerdings kaum mehr als der Name bekannt ist) und vor allen Dingen Wotan/Wodan als heilkundiger Zaubergott irgendwie Anteil
Der Name zeige, „daß Freyrs Pferd im Norden denselben Unfall erlitten haben muß wie in Deutschland Fol-Balders: eine Fußverrenkung mit Bluterguß (bluotrenki)“ (Genzmer 1948, S. 65). Phol ende uuodan uuorun zi holza / du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit / thu biguol en sinthgunt sunna era suister / thu biguol en friia uolla era suister / thu biguol en uuodan so he uuola conda / sose benrenki sose bluotrenki sose lidirenki / ben zi bena / bluot zi bluoda / lid zi geliden sose gelimida sin (von Steinmeyer [Hg.] 1916, S. 365 f.). („1 Phol und Wodan begaben sich ins Gehölz. / 2 Da wurde dem Fohlen (*) Balders sein Bein von Verrenkung betroffen. /3 Da besang es Sindgund mit ihrer Schwester Sunne; /4 da besang es Fria mit ihrer Schwester Volle; / 5 da besang es Wodan, wie er [es] gut kannte (konnte). / 6 So wie (die) Knochenrenkung, so wie (die) Blutrenkung, / 7 so wie (die) Gliedrenkung [zusammengeklebt wurde], / 8 – Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, / 9 Glied zu Gliedern –, so seien sie (scil. die Glieder) zusammengeklebt!“ (Übers. Eichner und Nedoma 2014). Siehe insbesondere Meineke 2016. Grimm 1865, S. 15. Vgl. Beck 2003, S. XV. Siehe Beck 2003, S. 344: „Dennoch ist letztendlich der Ertrag für die germanische Religionsgeschichte geringer als erwartet. Für Kult und Brauch der Germanen ist das Ergebnis mager.“
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haben. Aber mehr als diese vage Skizze scheint tatsächlich nicht aus diesem Spruch herauszulesen sein. Nun entdeckte schon Mitte des 19. Jhs. Adalbert Kuhn eine auffallend ähnliche Spruchsequenz im altindischen Atharvaveda als Teil eines umfangreichen Hymnus zur Heilung eines Knochenbruches.⁸⁰ Allerdings gehen schon die Meinungen über die Zielgruppe des indischen Zauberspruches auseinander, im konkreten Kontext scheint es aber ein Pferd zu sein, das behandlungsbedürftig ist, unter den unterschiedlichen Teilen, die zusammenwachsen sollen, wird neben Knochen, Mark u. ä. auch das Fell angesprochen. Kenneth Zysk will die Möglichkeit einer Heilprozedur eines gebrochenen Gelenkes eines Pferdes nicht ganz in Abrede stellen, in einer Version erscheine auch die „Sehne“ (snāvan), die auch in allen anderen vergleichbaren Sprüchen, die Kuhn anführe,⁸¹ besprochen werde, dennoch betont er: „These few pieces of evidence in no way prove that this charm was originally intended for a horse, nor do they confirm any connection with the German spells. In fact the tradition employs it for an injury suffered by a man.“⁸² Tatsächlich kommt uns aber diese bereits altindische Unentschiedenheit eher entgegen, schon der damalige Verwendungszweck scheint also keineswegs gebunden an irgendwelche profanen heilkundlichen oder religiösen Kontexte, nicht einmal an eine gewisse Zielgruppe, sondern konnte bedarfsmäßig, funktionell eingesetzt werden. Gewiss zu Recht gab man den immensen Überlieferungsabstand von nahezu 2000 Jahren zu bedenken (wie den Überlieferungsraum), was in den Augen vieler eine genetische Verwandtschaft nicht recht wahrscheinlich macht. So wollte man sich am ehesten mit einer typologischen Verwandtschaft behelfen, es seien strukturelle Ähnlichkeiten, die auf die Ähnlichkeit der Anwendungssituation zurückzuführen seien, die zwangsläufig ähnliche Ergebnisse in der Ausgestaltung nach sich zögen. Entsprechend müsse man in diesem Fall wohl von „anthropologische[n] Konstanten und metahistorische[n] Parametern“⁸³ ausgehen. Nun mag die Heilung eines Pferde Siehe Kuhn 1864. „1. Eine Wachsenlassende (rohaṇī) bist Du als Rohiṇi (*Rote) / die (Zusammen‐) Wachsenlassende des gespaltenen Knochens, (so) laß (auch) dies hier (zusammen‐)wachsen, o Arundhatî! / 2.Was dir versehrter, was dir versengter / Knochen oder Fleisch ist an Deinem Selbst, / das soll (der Gott) Dhātṛ (der [Zusammen‐]Setzer) heilbringend wieder / zusammensetzen, mit dem Gelenk das Gelenk. / 3. Zusammen werde dir (das) Mark mit (dem) Mark / und zusammen dir mit (dem) Gelenk (das) Gelenk, / zusammen wachse dir das Auseinandergefallene (‐klaffende) des Fleisches, / zusammen wachse der Knochen zu! / 4. Mark werde mit Mark zusammengefügt, / mit Fell wachse Fell (zusammen), / †Blut und Knochen wachse dir†, / Fleisch wachse mit Fleisch (zusammen)! / 5. Haar füge (oder: füge er) zusammen mit Haar, / mit Haut füge (oder: füge er) zusammen Haut, / †Blut, Knochen wachse dir†, / das Zerspaltene mache zusammen, o Pflanze! (†…† markiert korrupte Stellen) / 6. So steh auf, geh los, lauf fort (wie) ein Streitwagen mit guten Rädern, mit guten Radschienen, mit guten Naben, nimm aufrecht festen Stand ein! / 7. Ob er (es) sich durch den Sturz in eine Grube gebrochen hat, / oder ob ein geschleuderter Stein (es ihm) zerschmettert hat, / wie Ṛbhu die Teile des Streitwagens, / so soll er (Dhātṛ?) zusammensetzen mit dem Glied das Glied“ (Eichner 2000, S. 214 f.). Vgl. Kuhn 1864, S. 57, der jedenfalls davon überzeugt ist, dass trotz der Unterschiede im Einzelnen alle Sprüche auf einer gleichen Grundlage beruhten. Zysk 1998, S. 73. Beck 2003, S. 264.
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fußes in gewisser Weise zu „ähnlichen Ergebnissen der Ausgestaltung“⁸⁴ führen, dennoch bleibt die Wort-für-Wort-Diktion auffallend, sie ist wohl zunächst der Eigenart der Quelle zuzuschreiben: Die incantatio eines Zauberspruches unterliegt einem magischen Formzwang, der Erfordernis einer absoluten, sympathetischen Übereinstimmung und Ungestörtheit zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. Sie ist der ,eigentlicheʻ, wirkmächtige Teil, das Kernstück der Beschwörungsformel, für die historiola, den einleitenden Erzählteil muss dies hingegen so nicht unbedingt gelten, sie übernimmt aber gleichwohl die kaum weniger wichtige Funktion der Passung, das framing im kulturellen Kontext.⁸⁵ Kuhn führt eine Vielzahl ähnlicher Varianten nicht nur im germanischen Sprachraum an, es gibt altirische ebenso (jüngere) slavische und finnische Abkömmlinge. Das alliterierende Paar „uolon – uuuoz“ (der „Fohlenfuß“) ist dabei eine häufige Übereinstimmung in der historiola. ⁸⁶ So wenig wie der uralte Fluchspruch des Skírnir ist der Zweite Merseburger Zauberspruch ein versehentliches „Überbleibsel“, ein zufälliges „Relikt“,⁸⁷ das womöglich aus rein antiquarischem Interesse erhalten geblieben ist. Es sind aber wohl auch nicht ausschließlich typologische, ,zwangsläufigeʻ Bedingtheiten,⁸⁸ die ihn erhalten haben, vielmehr scheinen beide Sprüche als notwendig erachtete Elemente gezielt in einen Traditionszusammenhang gesetzt worden zu sein. Dieser Traditionszusammenhang ist das Bestattungsritual. Snorri erwähnt ausdrücklich, dass Balder ein Pferd besitzt – freilich nur (oder bezeichnend) im Zusammenhang mit seinem Begräbnis. In keiner weiteren Episode wird von ihm berichtet und eigenartig genug – es trägt keinen Namen. Zwölf Pferde erscheinen in der Edda, elf davon sind benannt. Liberman scheint das verdächtig: „Something is wrong with Balder’s horse […].“⁸⁹ Und auch Turville-Petre bemerkt: „We are left to wonder what the god Baldr had to do with sprains and injured horses.“⁹⁰ (Bein)verletzte Pferde sind liminale Pferde, todgeweihte Pferde, sie gehören in den Wissensrahmen von Tod, tödlichem, existenziellem Übergang. Die so genannte Balder-Fohlen-Heilung mochte im expliziten Zusammenhang des Zweiten Merseburger Zauberspruches durchaus als medizinische Maßnahme für ein Pferd gedacht sein, seine Prominenz und Wirksamkeit zieht er aber aus einem weitaus bedeutenderen, rituellen Zusammenhang. Tatsächlich geht es um die wichtigste aller Heilungen, die ,Todesheilungʻ. Noch in einem christlichen Kontext ist dies so verstanden worden, denn auch hier werden nicht etwa nur Pferde mithilfe dieses Spruches einer gewissermaßen magisch veterinärärztlichen Behandlung unterzogen, es ist Christus selbst, der von seinem Tod ‚geheiltʻ werden soll. Der Spruch soll nichts weniger als dessen
Beck 2003, S. 264. Vgl. Ebermann 1903, S. 1 f. Vgl. Schaffner 1999, S. 161. Zur Vorstellung des religiösen Anachronismus siehe Gladigow 2004a, S. 3. Vgl. Gladigow 2004a, S. 4. Liberman 2004, S. 16. Turville-Petre 1964, S. 124.
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Auferstehung, die Rückkehr ins Leben bewirken: „[A]n dem dritten tag gepot got dem lichnam, der in der erden lag, fleisch zu fleisch, pluet zu pluet, adern zu adern, pain zu pain, gelider zu gelidern, yslichs an sein stat. pei demselbigen gepeut ich dir fleisch zu fleisch […].“⁹¹ Kaum anzunehmen, dass der Heiland selbst hier lediglich einer populären Rosskur unterzogen wurde. Und wenn wir eine solche Ausgangslage plausibel machen können, dann ist auch die Einschätzung der im Zauberspruch genannten Götter als „Gelegenheits- oder Situationsgötter“,⁹² denen immer wieder lediglich eine unbedeutende und damit austauschbare Statistenrolle zugewiesen wurde, eher unwahrscheinlich. Der Unfall, der „demo balderes uolon sin uuoz“ zugestoßen ist, war gewiss nicht so harmlos, wie zunächst das Wort birenkict („verrenkt“) suggeriert. Da müssen Adern, Sehnen, Knochen wieder zusammengefügt werden, für jedes ,profaneʻ Pferd wäre dies bis heute sein Todesurteil. Aber unabhängig davon, in welcher konkreten Alltagssituation der Zauberspruch tatsächlich verwendet worden ist, im Zentrum des mythischen Ereignisses, des strukturgebenden Ausgangsszenarios stand der Tod: Die Verletzung des Balderpferdes wie des Freyrpferdes Blóðughófi nimmt ihren zukünftigen Zustand bereits vorweg, ja, es ist Korrelat zum tödlichen Zustand ihrer Herrn.
8.1.4 Der gescheiterte Schamane Für die Heilmaßnahmen am Balder-Fohlen sind eine Vielzahl an Vergleichsmöglichkeiten vorgeschlagen worden, der Hymnus des altindischen Atharvaveda, eine Reihe christlicher Benediktionen,⁹³ sie vermögen einige wenige Einzelheiten zu erklären. Bei all den Kontextualisierungsversuchen blieb ein Quellenmaterial indes für lange Zeit nahezu ausgeklammert, obwohl es zeitlich, geographisch und wohl auch kulturell in jeder Hinsicht näher liegt. Gemeint ist das finnische Nationalepos Kalevala. Schon 1953 hat Franz Rolf Schröder in einem Aufsatz die besondere Nähe des Baldermythos zu dieser finnugrischen Quelle herausgestellt, und schon damals bemerkt er, dass man diesen mythologischen Erzählstoff, der immerhin (in unterschiedlichen Schichten) in vormittelalterlichen, vorchristlichen mündlichen Traditionen gründet,⁹⁴
Kuhn 1864, S. 57. Kuhn zitiert diese Stelle nach Grimm (cod. vatic. 4395 bl. 83a). Schröder 1953, S. 163. Für die methodische Einordnung sind Unterscheidungen zwischen heidnischem ,Zauberspruchʻ oder christlicher ,Benediktionʻ, ,Segensspruchʻ u. ä. hinfällig. Hinsichtlich ihrer Funktion als Wortzauber, als Sprachmagie, als ritueller Sprechakt sind sie identisch, auch wenn sie sich zweifelsohne im Adressaten und kultureller Verortung unterscheiden. Die ältesten Lieder scheinen kaum später als in der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends entstanden zu sein, möglicherweise sind manche Lieder in Einzelmotiven noch älter. Sie unterschieden sich jedenfalls in „Stil und Auffassung“ (Fromm und Fromm 1985, S. 346), und sie besaßen verschiedene Funktionen: „Überraschend viele“ ließen noch „ihre Herkunft aus dem Rituallied“ erkennen, also einem Sprechakt, „der integrierender Bestandteil einer kultischen Handlung war“ (Fromm und Fromm 1985, S. 347).
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in seiner Bedeutung gerade auch für die Balderüberlieferung bislang nicht richtig eingeschätzt und gewürdigt habe.⁹⁵ 1963 ist von Hans Fromm noch einmal ein Vergleich zwischen dem Eposhelden Lemminkäinen und dem Gott Balder angestellt worden,⁹⁶ auch in seiner Kalevala-Übersetzung und Kommentar von 1967 verweist er auf einige wichtige und vielversprechende Verbindungen zum Baldermythos. Diese blieben aber in der Forschung (zumindest auf germanistischer Seite) letztendlich konsequenzenlos. Inzwischen steht aber eine neuere Arbeit von Frog zur Verfügung,⁹⁷ der sich explizit mit finnisch germanischen Kulturkontakten auseinandersetzt. Hier werden Beziehungen zwischen dem Lemminkäinen-Komplex und dem Balder-Komplex als gesichert angesehen, wobei auch Frog zu bedenken gibt: LV [Lemminkäisen virsi] is not a „variant“ of the Baldr-Cycle per se ‒ the narrative as a system of motif-complexes appears to have provided a model applied for the generation of a „new“ narrative. The application of the model maintained indexical relationships within the new narrative framework but reorganized them according to the priorities of the application.⁹⁸
Die Ereignisse um den jugendlichen Helden Lemminkäinen (der gleichwohl seinerseits als ein ,synkretistischesʻ Produkt aus verschiedenen Heldengestalten erscheint) weisen in nicht wenigen Punkten eine Motivnähe zum Baldermythos auf, insbesondere ist er Empfänger bzw. ,Patientʻ in einer Zauberhandlung, in der die Mutter die Zusammenfügung seines zerstückelten Leichnams bezwecken will. Die Worte, die sie dabei spricht, sind vom germanischen Zauberspruch nicht zu trennen. Die epische Breite, mit der diese Zauberhandlung beschrieben wird,⁹⁹ gibt aber eine Vielzahl von Informationen, die dem germanischen Pendant zum Verständnis fehlen (und damit zu jener Vielzahl von Deutungsversuchen geführt hat). Doch im finnischen Kontext ist eindeutig: Es geht um nichts weniger als die Restaurierung, die Heilung vom Tod. Ein vorangegangener Zerstückelungsakt macht dies unmissverständlich. Die Mutter hat die verstreuten Teile des Sohnes aus dem Jenseitsfluss gefischt, am Ufer versammelt und bespricht sie nun: Sie verband das Fleisch dem Fleische, fügt’ die Knochen in die Knochen, / Setzt’ die Glieder an die Glieder, Adern an den Bruch der Adern. Fügt’ die Adern fest zusammen, knüpfte dann die Aderenden, / Sie beschwor den Sehnenfaden, sagte so, sprach solche Worte: / ,Schöngewachsnes Weib der Adern, Suonetar, du Wohl-
Vgl. Schröder 1953, S. 174. Fromm 1963. Frog 2010. Frog 2010, S. 356. Fromm betont, dass die finnischen Zauberlieder und Beschwörungen durch die Aufnahme erzählender Elemente zwar an Substanz zugenommen hätten, dass aber die Texttreue der unmittelbar magischen Sprechakte erhalten geblieben sei. Der Zauberspruch habe als eine Art von „Geheimwissen“ in besonderem Maße „die Formgesetze des Stabreims und des Parallelismus“ einhalten müssen: „Von der genauen Kenntnis der Formel hing der Erfolg ab, getreuer Parallelismus der Verse unterstützte die Wirkung“ (Fromm und Fromm 1985, S. 382).
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gewachsne, / Schöne Spinnerin der Sehnen mit der feingeformten Spindel, / Mit der Kunkel ganz aus Kupfer, mit dem erznen Spindelwirtel, / Komm, weil deiner wir bedürfen, komm hierher, weil ich dich rufe, / Bring im Arm ein Bündel Adern, unterm Arm ein Bündel Häutchen, / Um die Adern zu verbinden, ihre Enden zu verknüpfen / In den aufgeschlagnen Wunden, in den aufgerißnen Löchern! Sollte das noch nicht genügen, ist im Himmel eine Jungfrau / In dem Kahn mit Kupferzierrat, in dem Boot mit rotem Steven; / Jungfrau, komm aus hohem Himmel, Mädchen von des Himmels Nabel, / Lenk den Nachen durch die Adern, gib Bewegung allen Gliedern, / Rudre durch die Knochenfugen, rudre durch die Gliederritzen! Bring an ihren Ort die Adern, schaffe sie an ihre Stelle, / End an End die großen Adern, leg die Pulse aneinander, / Knüpf die kleinen Adern doppelt, heft sie End an End zusammen! / Nimm dann eine feine Nadel, in dem Öhr den Seidenfaden; / Nähe mit der feinen Nadel, stich mit der aus Zinn geformten, / Knüpf die Enden aller Adern, bind sie fest mit Seidenfäden! Sollte das noch nicht genügen, spanne selber, Herr des Himmels, / Deine Renner in die Riemen, rüst zur Reise deine Fohlen, / Fahr im buntbemalten Schlitten durch die Knochen, durch die Glieder, / Durch das Fleisch, das losgerissen, durch die abgerißnen Adern, / Fleisch und Knochen füg zusammen, Ader an das Aderende, / Silber senk in Knochenritzen, gieße Gold in Aderbrüche! Wo die feine Haut zerfetzte, laß ein neues Häutchen wachsen, / Wo geborsten eine Ader, da verknüpf die Adernenden. / Wo das Blut davon geflossen, dahin flöße neuen Blutstrom, / Wo ein Knochen ward zersplittert, dahin schiebe neuen Knochen! / Wo das Fleisch ward abgerissen, dahin füg ein neues Fleischstück, / Banne es an seine Stelle, füg es ein an seinem Orte, / Bein zum Beine, Fleisch zum Fleische, und die Glieder zu den Gliedern!ʻ So schuf Lemminkäinens Mutter neu den Mann und half dem Helden / In das frühre volle Leben, in das altgewohnte Aussehn.¹⁰⁰
Tatsächlich entsprechen sich die entscheidenden Stellen des finnischen wie des germanischen Zauberspruches nahezu wortwörtlich, hier bleibt also der magische Formzwang des eigentlichen Spruches ungebrochen. Aber auch die angerufenen Götter, die die Heilung des Pferdes ebenso wie die Wiederherstellung des zerstückelten Lemminkäinen bewirken sollen, sind in Zahl, Funktion und Abfolge ihres Auftretens identisch. Hier könnte auch die enigmatische Sinhtgunt, für deren Name bisher in der Germania keine überzeugende Etymologie gefunden wurde, eine Erklärung finden. Sie tritt dabei als Erste von dreien auf, ihre finnische Entsprechung ist Suonetar die ,Adergöttinʻ. Sehr ausführlich wird im finnischen Kalevala ihr Zuständigkeitsbereich erklärt: Die Mutter braucht sie, um die zerrissenen Sehnenfäden wieder zu verbinden. Damit aber stellte sich das schwierige Erstglied Sinht- mit einer gewissen strukturellen Logik zum altnordischen sin(a) „Sehne“, germ. *siniwō(n‐), finn. suoni „Sehne, Ader“, samisch (lappisch) suodná-n, sūnn, suonn,¹⁰¹ wobei im Neuhochdeutschen zu dieser Wurzel auch das Wort „Saite“ gehört, eine t-Suffix-Ableitung.¹⁰² Auch die Funktion des zweiten Namensbestandteils -tar, ein feminines Derivationssuffix im Finnischen, das hier zur Anthropomorphisierung („Sehnen-
Fromm und Fromm 1985, S. 91 f., 15, 299 – 373. an. etym. Wb 1962, „sin(a)“. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Saite“.
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Frau“) verwendet wird, findet seine Entsprechung im germanischen Namensbestandteil -gunt. Dieser gehört zwar in seiner Grundbedeutung zunächst zu ahd. gund „Kampf“, ist aber als Kompositionglied auch typisch für nordische Walkürenamen. Es ist also immerhin denkbar, dass der Bestandteil -gunt, auch bedingt durch seine Häufigkeit und Gewöhnlichkeit in ahd. Frauennamen, bereits eine Entwicklung hin zum Suffixoid gemacht hat und somit eine dem finnischen ähnliche, lediglich feminisierende Funktion übernommen hat. Dann müsste aber auch die Interpretation der Sunna als Sonnengöttin, die in der Forschung ohnehin immer wieder angezweifelt wurde, endgültig zurückgewiesen werden, sie stellte sich dann als die Personifikation der zu heilenden Sehne dar, der die Ader-Göttin schwesterlich hilfreich zugetan ist.¹⁰³ Die nordische Überlieferung scheint von der finnischen Ereignisfolge kaum zu trennen zu sein. Zu Beginn stehen auf beiden Seiten böse Vorahnungen bezüglich des eigenen Todes, die in der finnischen Sage durch die Bedenken der Mutter ausgedrückt werden (in der Gylfaginning durch die schlimmen Träume des Gottes und die Vorhersage einer toten Seherin). Um die drohende Todesgefahr abzuwenden, werden Vorkehrungen getroffen: Lemminkäinen, selbst zauberkundig, besingt, beschwört alle potentiellen Gegner, ,vergisstʻ aber einen alten blinden Hirten mit Schlapphut, wie es heißt. Überzeugt von seiner Unverwundbarkeit bricht Lemminkäinen unbekümmert, gleichwohl als ‚ungebetener Gastʻ zu einem Gastmahl nach Päivölä auf. Der Ausdruck wird üblicherweise mit „Lichtheim“, „Sonnenheim“ wiedergegeben,¹⁰⁴ darin lässt sich ja bereits ein übliches nordisches Benennungskonzept jenseitiger Welten erkennen. Auch der finnische Kontext macht es wahrscheinlich, dass es um eine euphemistische Bezeichnung des Totenreiches geht, siehe die Varianten dazu: Hiitola als „Reich des Hiisi“ = Unterwelt, ein in der finnischen Überlieferung „böser Waldgeist“, aber auch ein „furchteinflößende[r] waldige[r] Ort“. Das Wort ist uralischen Ursprungs und bedeutet zunächst „Gebüsch, Hain“, in dem Tote beigesetzt werden und Totenopfer dargebracht werden.¹⁰⁵ Die große Festhalle Heorot wird mit nämlichen Epitheta belegt, sie ist die ,Strahlendeʻ, die ,Leuchtendeʻ, und doch scheint ihr Name selbst auf die Besonderheit der Umgebung zu deuten: buschiges, unwegsames Gelände, das seit Jahrtausenden als Begräbnisstätte genutzt wird. Aber ist es dort das furchtbare Totenmonster Grendel, das als ungebetener Gast eindringt und sich mit Beowulf einen blutigen Zweikampf liefert, kämpft in der finnischen Erzählung der junge Lemminkäinen mit Ukko (eigentlich „der Alte“, aber auch Nomen proprium des altfinnischen Donner- oder Himmelsgottes). Und auch in der Lokasenna liefern sich gerade der Donnergott Thor und der ungeladene Gast Loki einen heftigen (wenn auch zunächst offenbar noch gar nicht tödlichen, endgültigen) Schlagabtausch. Der Ausgang des Kampfes im angelsächsischen Epos ist bekannt, eines Körperteils verlustig, zerstü Im Finnischen zeigt sich klar die Vorstellung einer qualitativen Steigerung der Heilkunst, keineswegs sind die erstgenannten Göttinnen an ihrer Aufgabe gescheitert, wie manches Mal für den germanischen Spruch erwogen, vielmehr sind sie für den Heilvorgang notwendig und relevant. Fromm und Fromm 1985, S. 435. Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 418.
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ckelt, halbtot zieht sich das Monster in seine Unterwasserwelt zu seiner Mutter zurück, um dort (endgültig) zu sterben. Es sind die Toten, die Einlass verlangen, im Fall des Lemminkäinen längst umgedeutet zu einer Art Initiationserlebnis des jugendlichen Schamanen, ein zweifelhaftes indes, weil es keineswegs von Erfolg gekrönt ist. Im Finnischen ist die Episode in unterschiedlichen Varianten überliefert, Lemminkäinen kann bereits in der Halle den Tod finden oder erst bei seiner Heimkehr. Dann wird er von jenem blinden Hirten (der wohl identisch ist mit dem Gastgeber des Gastmahls) mit einer giftigen Wasserpflanze (Wasserschierling) durchbohrt und zerstückelt in den Fluss geworfen. Vermutlich waren beide Motivkomplexe, die Lönnrot hintereinander setzt, lediglich Motivvariationen und ursprünglich identisch. Die Mutter sucht ihren Sohn, fischt ihn mit einem eigens dafür hergestellten Rechen aus dem Wasser und unternimmt den Versuch, ihn ins Leben zurückzuholen. Die offensichtliche Ähnlichkeit zum Osiris-Tod sieht auch Fromm, wenn er auch einen „einfache[n] Vergleich“ mit Osiris hier nicht für möglich hält. Er sieht den ägyptischem Gott in Zusammenhang mit einem Befruchtungsritual (durch oder im Nil), was bei Lemminkäinen so nicht gegeben sei. (Inzwischen aber ist auch bei Osiris, dem ägyptischem Toten par excellence, eine primäre oder ausschließliche Fruchtbarkeitsfunktion weniger selbstverständlich denn je, siehe Kap 10.1.1). Nun hatte es sich der finnische Mythenkompilator Elias Lönnrot zur Aufgabe gemacht, aus zahlreichen unterschiedlichsten Überlieferungssträngen ein Gesamtwerk zusammenzustellen. Die Kohärenz, die er dabei versuchte zu erzeugen, mag ,künstlichʻ sein, „biedermeierlich klischiert“ und vieles mehr,¹⁰⁶ was man ihm dabei aber nicht vorwerfen kann, ist Selektivität. Die zahlreichen Varianten, denen er in seiner reichen Sammlertätigkeit begegnet ist, hat er zwar versucht auf einen für ihn logischen Erzählfortgang hin zu ordnen, dennoch hat er, oftmals auch auf Kosten des Erzählflusses, offensichtliche Motivvariationen oder Parallelen nebeneinander bestehen lassen.¹⁰⁷ Und so ist etwa ein Motivkomplex eines anderen großen mythischen Helden des Kalevala, obwohl eigenständig, manches Mal mit dem des Lemminkäinen verschränkt. Gemeint ist Väinämöinen, der primordiale Handwerker und Magier. Für vorliegenden Zusammenhang nicht unwichtig, erscheint hier nun tatsächlich ein Pferd, das eine tödliche Verletzung erhält: Auch Väinämöinen wird aufgelauert, von einem Konkurrenten und Neider Joukahäinen, der auf gleiche Weise als blind, als „schiefäugiger“ bzw. „blinder Lappe“ beschrieben wird. In einigen Varianten schießt er auf den Helden selbst, in einigen auf sein Pferd, was stets zum (wiederum nur in einigen Varianten tödlichen) Sturz ins Wasser führt.¹⁰⁸ Dabei ist das Reittier nicht immer explizit als Pferd definiert, wahlweise ist es ein nicht näher bestimmtes ,gött-
Fromm und Fromm 1985, S. 351. „Lönnrot machte es also nicht anders als die Liedsänger selbst: Er assoziierte und überführte Versmaterial in einen von Haus aus fremden Bereich.“ […] „Ausdrücklich nahm er für sich das Recht der Sänger zu freier Bindung der Lieder in Anspruch. Das im Epos verarbeitete Liedgut war gleichsam sein Repertoire“ (Fromm und Fromm 1985, S. 353). Siehe 6. Gesang (Fromm und Fromm 1985, S. 35 – 38).
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lichesʻ Tier, ein Fohlen, ein blauer Elen, offenbar ein Fabelwesen. In einigen Varianten des Kalevala ist nun eben diese Episode die Einleitung zur Weltentstehung, eine Kosmogonie, die beginnt oder ausgelöst wird durch den tot, hilflos oder zumindest schwer verletzt im Wasser treibenden Väinämöinen. In diesem chaotischen, ungelenkten Anfangszustand wird er zum Demiurgen, zum Weltschöpfer. Und so wie Loki halb zerfetzt von Þjazi über Stock und Stein geschleift wird über eine primordiale, chaotische Landschaft, formt Väinämöinen sie explizit dadurch. Fromm möchte diese Motivkette im Finnischen nicht unbedingt für ursprünglich ansehen,¹⁰⁹ und auch Frog verweist auf die zahlreichen Germanismen, die schon früh gerade in dieser Weltschöpfungsepisode aufgefallen seien: The introduction of an anthropomorphic being into the Finnic World-Creation and the identification of the first land with his body constitute an accumulation of information indicating a radical development or revision of the creation myth on a basic conceptual level. The first land is created out of Väinämöinen’s body: this stands in contrast to all other Finnic and Finno-Ugric material to which the Finno-Karelian creation is compared. The creation of the world from a murdered (and dismembered) anthropomorphic being is generally considered the oldest layer of the Indo-European creation traditions […]. It is reasonable to assume that this motif entered the FinnishKarelian creation tradition through Indo-European contact.¹¹⁰
Die finnischen Figuren seien wohl zunächst einmal als (möglicherweise auch konkurrierende) Modelle eines „ritual specialist“ und „otherworld intermediary“¹¹¹ entwickelt worden. Dazu gehöre die schamanistische Schöpferkraft eines stets als sehr ,altʻ und ,weiseʻ beschriebenen Väinämöinen wie die unbekümmerte Initiations-Reise in die Welt der Toten des ,jungenʻ, ,leichtherzigenʻ Lemminkäinen.¹¹² Grundsätzlich sieht Frog gerade hier eine nachhaltige Durchwirkung und Einflussnahme, die wohl von germanischer Seite ausgegangen sei: „[T]he Finno-Karelian World-Creation appears to have been integrated into a narrative framework which exhibits motif-constellations corresponding to the Baldr-slaying as an instigating event for the re-creation of the world.“¹¹³ Die Schwerpunkte sind dabei unterschiedlich gesetzt worden:
„Wahrscheinlich hat der Dichter, der den heimtückischen Schuß und Väinämöinens Schöpfungswerk miteinander verband, zwei verschiedene Sagen- oder Liedinhalte miteinander kontaminiert, die nichts miteinander zu tun hatten, die sich aber in einem einzigen Motiv begegneten: dem, daß der Held auf den Wogen dahin treibt. In einer Überlieferung ging dem schwimmenden ,Urwesenʻ die Geburt voraus, und es folgte das Schöpfungswerk, eine zweite Tradition erzählte von dem Helden, der hilflos im Wasser trieb, weil er aus dem Hinterhalt von einem Schuß getroffen war, und der sich an der Nordlandküste an den Strand rettete […]“ (Fromm und Fromm 1985, S. 410). Frog 2010, S. 120. Frog 2010, S. 357. Vgl. dazu die Aufstellung von Frog 2010, S. 193: Väinämöinens Attribute sind: „old, vaka, ‚sturdy, stableʻ, dispenser of wisdom, represents in-group, maintains cultural order, producer of cultural artefacts,“ demgegenüber steht Lemminkäinen: „Young, lieto, ,soft earth[minded?]ʻ, […], [o]utsider, [s]ocially disruptive, [d]estructive (murderer)“. „Lemminkäinen was not only the uninvited guest [kursiv d. Verf.] – he was a mythic ‚otherʻ who stood outside the community of mythic figures more generally.“ Frog 2010, S. 358.
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The association of Baldr with the complex of motifs in the Väinämöinen-World-Creation introduces an index through which the Second Merseburg Charm historiola could become connected to this cycle, particularly if the horse’s injury were more directly associated with Baldr’s death […]. The complex relationship between epic, incantation and the tietäjä-institution, which drew so heavily on Germanic models, presents the possibility that the Shooting of Väinämöinen developed from the narrative of this historiola, which would explain why the blind shooter injures the animal rather than the man. The central difference is that the Baldr-Cycle places emphasis on the interlude between the death and resurrection (in the destruction and rebirth of the world), whereas the Väinämöinen-World-Creation collapses this process into a powerful creative event.¹¹⁴
Möglicherweise hält also gerade der Merseburger Zauberspruch jenen freilich nur noch in Andeutungen vorhandenen, gleichwohl wertvollen Hinweis auf diesen Aspekt im Balderkomplex bereit, es scheint dann zumindest möglich, dass dessen historiola auf eben jenes, offenbar auf literarischer Seite verloren gegangene Mythologem referiert, das wohl nichts weniger als eine ganze Weltschöpfung durch einen ersten, mythischen Zerstückelungsakt zur Grundlage hat: die Zerstückelung eines göttlichen Tieres, die der Zerstückelung des göttlichen Besitzer vorausgeht, folgt oder sie ersetzt. Der individuelle Ahnentod (und eine daraus folgende Geschlechterfolge) wie das kosmische Pendant einer ganzen Weltentstehung als Effekt und Ergebnis einer Zerteilung eines Urwesens sind ja lediglich zwei Seiten derselben Medaille, es sind die Güntert’schen ‚Grundanschauungenʻ, die die indoeuropäischen Gründergestalten ausweisen. Im Finnischen scheint der individuelle (unumkehrbare) Tod mehr und mehr mit dem Wissensrahmen einer schamanistischen Jenseitsreise zu kollidieren, die, ähnlich der Logik christlicher Denkmuster, zwingend eine Rückkehr aus dem Reich der Toten, eine ,Auferstehungʻ einforderte. Sie muss bei dieser Art von Grenzgang zum Erfolgskonzept gehören, umso interessanter, dass Lemminkäinen dann doch wohl in nicht wenigen Liedversionen als gescheiterter Schamane erscheint, weder die Warnungen und Instruktionen seiner kaum weniger zauberkundigen Mutter noch ihre Restaurationsbemühungen an seiner zerstückelten Leiche scheinen dann von Erfolg gekrönt. Er wird zurück ins Wasser geworfen mit seltsam ungewissem Ausgang, als Fisch soll er gar zum „Leckerbissen“ für schwedische Herren und Pfaffen werden.¹¹⁵ Gerade letztere Sequenz möchte Fromm für sehr jung halten, aber möglicherweise hat
Frog 2010, S. 359. Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 450 f. So berichteten es gerade „die qualitativ besten weißmeerkarelischen und finnisch-karelischen Lieder“ (Fromm und Fromm 1985, S. 450). Die Wiederbelebung wirke nicht zuletzt aus stilistischen Gründen als spätere Hinzufügung (vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 451). Bekanntlich hat noch die frühe Forschung unter Sophus Bugge und Kaarle Krohn die offensichtlichen Parallelen zwischen der Lemminkäinensage und dem Baldermythos für gemeinsame Anklänge an biblische Vorlagen gehalten. Davon sei man mehr und mehr abgekommen, so Fromm, dennoch geht auch er davon aus, dass die jahrhundertelangen Beeinflussungen den Liedern gerade um Lemminkäinens Tod eine christliche Prägung verliehen haben könnten. Offenbar habe gerade dazu die Wiederbelebung des Helden gehört, aber wohl erst im christlichen Mittelalter sei diese zur vorherrschenden Idee geworden (vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 450).
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gerade diese aus seiner Sicht „makabre Pointe“¹¹⁶ trotz offenbar später Umformung etwas sehr Altes bewahrt: Die unumkehrbare ,Teleologikʻ eines Schöpfungsprozesses muss eine Restauration im Sinne einer Wiederkehr in den alten Zustand ausschließen. Im Lemminkäinen-Mythos zeigen sich also keineswegs ausschließlich christliche (Fehl)einschätzungen postmortaler Restitutionskonzepte. Der schwierige Begriff ,Todesheilungʻ ist hier wie da Dreh- und Angelpunkt im Verständnis wie Missverständnis paganer Plausibilisierungsmodelle vom Tod. In der finnischen ,gescheitertenʻ Schamaneninitiation, im germanischen Zauberspruch wie im griechischen ,Opferbetrugʻ mag diese Um- oder Neuinterpretation von gegebenenfalls lokaler religionsgeschichtlicher Bedeutsamkeit sein. Wesentlich umfassendere, nachhaltigere Konsequenzen hat dies, wenn das konkrete Ausagieren dieses Gedankenmodells im Kult als nachgerade ‚Gewaltneuroseʻ, als ‚natürliche Mordsuchtʻ des (archaischen) Menschen und damit in letzter Konsequenz als Grundvoraussetzung des homo religiosus, des religiös handelnden Menschen schlechthin verstanden wird.
8.1.5 „Unschuldskomödien“ Walter Burkert, ein profunder Kenner antiker Opferrituale, konstatiert in seinem zum locus classicus gewordenen Werk Homo necans eine seltsame Verquickung von vordergründig so unterschiedlichen Aktivitäten wie Opfer, Jagd und Begräbnis, ja, „Opferriten, Totenriten und Initiationsriten [seien] so eng verwandt, daß sie durch die gleichen Mythen gedeutet werden können, ja teilweise zusammenfallen mögen.“¹¹⁷ Und es sei gerade die offenkundige oder auch lediglich mühsam verhüllte Brutalität und Gewalt, die bei all diesen Handlungen im Vordergrund stehe, kurz, das Blutvergießen, der gewaltsame Tod sei grundlegende Struktur und Denkvorlage. Burkert interpretiert diese omnipräsente Gewalt bekanntlich als den primordialen Akt der Frömmigkeit, die (Opfer)tötung sei das Grunderlebnis des Heiligen, die ihrerseits frappierend übereinstimme mit Tötungsakten im Rahmen von Jagdbräuchen. Damit erkläre sich auch gleichzeitig die Nähe zur Initiation: der Initiand selbst werde zum Jagdobjekt, zum Opfer, auf den sich die Aggression der Gruppe konzentriere. Durch „höchst reales Blutvergießen und ausgesuchte Arten von Quälereien“ werde der „Ernstcharakter“ der Kulthandlung garantiert.¹¹⁸ Der Mensch werde sich seiner Ei-
Fromm und Fromm 1985, S. 451. Burkert 1972, S. 68. Vgl. Burkert 1972, S. 57. Vgl. dazu Whitehouse 1996. Whitehouse prägte für die oft genug überaus grausamen, ,blutrünstigenʻ Initiationsriten den Begriff „rites of terror“. Gerade Initiationsriten seien dazu angelegt, einen profunden und anhaltenden Schrecken im Initianden zu erregen. Als Effekt dieser sowohl kognitiven wie auch emotionalen traumatischen Erfahrungen entstünden so genannte „flashbulb memories“: „Flashbulb memories are vivid recollections of inspirational, calamitous, or otherwise emotionally arousing events. […]. What we are dealing with here is a stock of very vivid,
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genschaft als homo religiosus ursprünglich und primär stets als homo necans, eben als der tötende, gewalttätige Mensch bewusst, Töten sei religiöses Handeln („operari“, „ῥέζειν“) in seinem ureigensten Sinn.¹¹⁹ Ebenso programmatisch wie verstörend folgt daraus seine Erkenntnis: „Gerade in der Mitte der Religion droht faszinierend blutige Gewalt.“ ¹²⁰ Nun finden wir zweifelsohne Gewaltausübung im Zentrum religiösen Denkens und Handelns, auch entgegen der Selbstwahrnehmung und Selbstauslegung von Religionen: Metaphernhoheit, Diskursmitte, Deutungsmonopol wird hier wie anderswo mit Gewalt angestrebt und verteidigt. Burkerts Argumentationslinie, und damit geht er in weiten Teilen, keineswegs in allen, mit der Opfertheorie von René Girard (siehe weiter unten) konform, verläuft indessen in eine beunruhigend andere Richtung: Es geht ihm offenbar weniger um Gewalt als machtvolles Mittel zur Durchsetzung von Zielen, sondern eher um ein diffuses, unwiderstehliches Faszinationspotenzial. Für Burkert wie Girard ist es dieser Nimbus, der Gewalt in letzter Konsequenz zur Keimzelle religiösen Denkens mache: Der religiöse Mensch ist mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer auch der gewalttätige, mordende Mensch. Sich dieses skandalons selbst bewusst werdend verdrängt er es, freilich spät und bestenfalls unbeholfen. Auch Burkert verweist auf die grundlegende Ambivalenz und Zweiteilung in diesen Gewaltaktionen, den Gegensatz von äußerster Gewalt, Zerstörungswillen und darauf folgenden Wiedergutmachungsbestrebungen. Es ist für ihn der zentrale, erklärungsbedürftige Widerspruch. Er sieht indes den Grund in so genannten Fehlanpassungen, Depravationen, Abweichungen des Menschen von seinen normalen evolutionsbiologischen Mustern, eine Art notgedrungene ,Neurotisierungʻ des Jägers. Ausgehend von der schieren Notwendigkeit zum Überleben und also der Jagd würde der Mensch systematisch seiner natürlichen Instinkt- und Abwehrmuster beraubt. Infolgedessen komme es zu nahezu neurotischen Verschiebungen, in allem Sterbenden entdecke der Mensch nun Menschenähnlichkeit aufgrund eines biologisch nicht festgelegten Raubtier-Beute-Schemas. Er entwickle so etwas wie eine „brüderliche[ ] Verbundenheit“¹²¹ zum sterbenden Beutetier, durch diverse ödipale Übertragungsund Verdrängungsprozeduren könne es sogar als der eigene Vater imaginiert werden.¹²² Das Konzept der Jagd wird entsprechend immer mehr mit sakraler Bedeutung aufgeladen und schließlich auf jeden Toten, gerade auch den menschlichen – vom ,natürlichʻ Verstorbenen bis hin zum Menschenopfer – übertragen. In der Vorstellung des frühen Menschen seien sie letztendlich alle austauschbar zu vermenschlichten Jagdtieren geworden. Das „reale festliche Schmausen der Lebenden, ,zu Ehrenʻ des
disturbing and perhaps enlightening memories which are consciously turned over in the minds of initiates for years to come, and indeed may accompany them to the grave“ (Whitehouse 1996, S. 710). Vgl. Burkert 1972, S. 9. Burkert 1972, S. 8. Burkert 1972, S. 29. Vgl. Burkert 1972, S. 88 f.
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Toten“¹²³ habe seinen Ursprung entsprechend im Verzehren der Jagdbeute¹²⁴ ebenso wie das Opfermahl: In letzter Konsequenz werden der Gott, für den dieses Opfer bestimmt war, und das Opfer selbst identisch. Aus einer Kommunion mit dem Gott wird eine Kommunion des Gottes, der „sakramental gegessene[ ] Gott“.¹²⁵ All diese Taten seien nun zwar überlebenstechnisch, hingegen sozial und moralisch kaum zu rechtfertigen und führten zu einem schweren Gewissenskonflikt, dem man nur mit ausgeklügelten Verhüllungs- bzw. Verdrängungstechniken beikommen konnte, mit „Unschuldskomödien“. Jener berühmte, von Karl Meuli¹²⁶ geprägte Begriff wurde oft genug für den Baldermythos in Anschlag gebracht, das Schießspiel eine vertuschte Mordtat, die beabsichtigt und keineswegs schuldlos geschehen sei, gerade hier die anschließenden Restitutionsbemühungen unaufrichtig und verlogen. Es sind letztendlich ähnliche Voraussetzungen, von denen auch René Girard mit seiner gleichermaßen populären und tatsächlich zeitgleich erschienenen „Sündenbocktheorie“ ausgeht¹²⁷ (mit Modifikationen auch der amerikanische Judaist Hyam Maccoby).¹²⁸ Mimesis ist dabei sein zentrales Erklärungsmodell. ,Nachahmungʻ sei, nach Girard, die bedeutsamste Eigenschaft des Menschen, entsprechend gebe es keine Kulturform ohne Nachahmung¹²⁹: Es gibt […] einen „Referenten“, und es ist stets etwa derselbe, es ist derselbe kollektive Prozeß, ein spezifisches Massenphänomen, ein mimetischer, einmütiger Gewaltausbruch, der sich in den archaischen Gemeinschaften auf dem Höhepunkt einer sozialen Krise ganz bestimmten Typs ereignen muß. Ist die Gewalt wirklich einmütig, setzt sie jedesmal der ihr voraufgehenden Krise ein Ende, indem sie die Gemeinschaft versöhnt, sie gegen ein einziges und alleiniges, zufälliges Opfer eint. Es handelt sich um jenen Opfertypus, den wir gemeinhin als „Sündenbock“ bezeichnen.¹³⁰
Durch die Nachahmung entwickeln sich also automatisch Konflikte, da auch das Begehren des anderen nachgeahmt wird. Die dadurch entstehende Gewalt kann nur dermaßen kanalisiert und aufgehoben werden, indem sie auf einen „opferfähigen Unglücklichen“, einen ‚Sündenbockʻ gelenkt wird;¹³¹ „eine Art spontaner Lynchmord“, der sich unablässig in einer „Ereigniskette“, einem „mimetische[n] Zyklus“ wiederholen muss.¹³² Ausnahmslos alle mythisch archaischen Gewalttaten seien entsprechend als reale Gewalttaten zu betrachten,¹³³ an denen die Opfer, davon sei die
Burkert 1972, S. 61. Vgl. Burkert 1972, S. 29; 61. Burkert 1972, S. 90, Anm. 11. Meuli 1975b. Siehe Girard 1987; Girard 1988; Girard 2002. Maccoby 1999. Vgl. da Silva 2001, S. 10. Girard 2002, S. 14. Vgl. da Silva 2001, S. 12. Vgl. Girard 2002, S. 15. Vgl. Girard 2002, S. 15.
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Gemeinschaft in ihrem „mimetischen Furor“ jedenfalls tief überzeugt, stets selbst die Schuld trügen. Und weil die mythischen Menschen nicht begriffen, wie ihnen geschehe, blieben diese Erzählungen unentschlüsselbar.¹³⁴ In einem letzten Schritt, nachdem die Gemeinschaft gerade durch den Mord ihren Frieden wieder gefunden habe, erfolge die Versöhnung, dies geschehe in Gestalt einer „Divinisierung“, der Vergöttlichung des Opfers.¹³⁵ Auf diesen Grundlagen hat Girard nun eine Gesamttheorie entwickelt, mit der er überhaupt die Entstehung der menschlichen Zivilisation erklären möchte. Er geht von einem „konfliktvollen und gewalttätigen“ Ursprung der Menschheit aus, von einem „Urkonflikt“, einer Gewalttat, die zur Wiege des Menschlichen werde. Nach diesem „Gründungsereignis“ können die Überlebenden mit spezifisch menschlichen Institutionen beginnen.¹³⁶ Es stimmt wohl, gerade Schöpfungsmythen sind Mordtaten, und auch der eigentliche Beweggrund für die primordiale Tat (das ,Opferʻ) wirkt häufig genug dürftig und kaum psychologisch motiviert, die moderne, Girard’sche Begründung freilich ebenso wie die mythische. Werden bei Burkert die gemeinschaftlichen Gewalt- und Aggressionsausbrüche durch die zunächst rein biologische Notwendigkeit von Essensbeschaffung ausgelöst, so ist es bei Girard le désir mimétique (,die Nachahmung des Neids auf fremdes Eigentumʻ), ein ohnehin diffuser Begriff, der kaum näher gefasst wird. Eine wie auch immer geartete Vorteilsnahme der Gemeinschaft steht dahinter und die muss gegen die böse Tat, den Mord, abgewogen werden. Deshalb müssen Ursachen und Urheber vertuscht werden, ein Unschuldiger wird dann zum Schuldträger, sei er als Sündenbock ausgestoßen oder als tabuisierter ‚Heiliger Henkerʻ legitimiert. In der Jagdszenerie ist es eine ritualisierte Ersatzhandlung, die die Schuld ungeschehen machen muss. Der Grundtenor ist indes der gleiche: Es ist die zur tiefsten, inneren Natur des Menschen gehörende Gewalttätigkeit, die dem Menschen dermaßen schwer zu schaffen macht, gerade weil er ihr mehr oder weniger unentrinnbar, unhintergehbar ausgeliefert ist. Nun gilt es zunächst Grundsätzliches über jene präsumtive natürliche Gewaltbereitschaft des Menschen, sei es als ‚anthropologische Konstanteʻ wie erworbene ‚Neuroseʻ, zu erwägen. Die verhaltensbiologischen Forschungen, auf die sich Burkert stützt (mit dessen prominentesten Vertreter des letzten Jahrhunderts, Konrad Lorenz¹³⁷) sind inzwischen überholt. Inzwischen weiß man, dass der Mensch Aggressions- und Gewaltverhalten gegenüber Artgenossen durchaus mit seinen nächsten tierischen Verwandten, den Primaten, teilt, wie überhaupt Gewalt aus biologischer Sicht kaum vermeidbar ist, für jedes Lebewesen ist Gewaltausübung zur bloßen
Vgl. Girard 2002, S. 16. „Die Mythen verkehren die Wahrheit systematisch in ihr Gegenteil. Sie erklären die Verfolger für unschuldig, die Opfer für schuldig. Sie sind immer täuschend, weil selbst getäuscht […]“ (Girard 2002, S. 17). Vgl. Girard 2002, S. 16. Vgl. da Silva 2001, S. 14. Lorenz 1963.
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Existenzsicherung biologische Notwendigkeit.¹³⁸ Dem Menschen kann also mitnichten ein Sonderstatus zugesprochen werden, keineswegs ist er der einzige „hunting ape“,¹³⁹ der als Einziger, laut Burkert mit einem hohen Verdrängungsaufwand, also für den Preis eines hohen kulturellen Symbolisierungs- und Plausibilisierungsaufwands, seine instinktive Tötungshemmung gegenüber Artgenossen überwunden habe.¹⁴⁰ Am problematischsten dabei ist die automatische Verquickung von Schuld und Gewalt, eine selbstverständlich implizierte moralische Dimension, die man für den vormodernen, vorchristlichen Menschen so kaum annehmen kann. Die Einschätzung von der Angemessenheit bzw. der Unangemessenheit von Gewalt, ja was überhaupt als Gewalt definiert werden kann, divergiert ohnehin: Warum sollten vormoderne Gesellschaften oder Instanzen (alle) Vorstellungen darüber mit einer modernen Gesellschaft teilen? So verweist auch Heiko Hiltman in seiner Untersuchung zu nordischen Männlichkeitsbildern auf die durchaus unterschiedliche kulturelle Perzeption von Gewalt, nicht nur was jeweils überhaupt als Gewalt erfahren werde, sondern wie diese Gewalterfahrung jeweils konnotiert werde. So zeige sich im modernen Kontext ein durchweg negatives Gewaltverständnis, was sich an Begriffen wie „Gewaltverbrechen“, „Gewalttat“, „Vergewaltigung“ exemplarisch zeige.¹⁴¹ Von einer modernen, pejorativen Verwendung dürfe aber nicht selbstredend auf eine allgemeine (historische) Bedeutsamkeit in diesem Sinne geschlossen werden:
Vgl. Bumbacher 2006, S. 156. Burkert 1972, S. 24 Vgl. dazu ausführlich Bumbacher 2006, S. 156. Burkert verweist selbst auf die Kritikpunkte, die diesbezüglich gemacht worden sind, auf die „hordes of problems in this reconstruction“ (Burkert 1987, S. 167). Dabei geht es auch um die Betonung der Wichtigkeit der Jagd für den frühen Menschen, die für manche Kritiker zu hoch angesetzt wird. In der Tat wird der tatsächliche Beitrag zum Lebensunterhalt durch die Jagd unterschiedlich eingeschätzt, aber trotz allem muss Burkert zugestimmt werden, wenn er darauf hinweist, dass „[t]he hunt has been, and still is, something special, entailing men’s pride and preoccupation far beyond what is economically reasonable“ (Burkert 1987, S. 168). Es geht also um die Wirksamkeit und Kommunikabilität eines zweifelsohne kulturell konstruierten und übermittelten Szenarios der Jagd – egal wie ,realistischʻ, wie wirklichkeitsnah letztendlich dieser gesellschaftliche Wissensvorrat ist. Wichtiger ist der Hinweis auf die kritische Beurteilung des „complex of bad conscience, guilt, and compensation in killing animals“ (Burkert 1987, S. 167), die insbesondere Karl Meuli stark betont hat. Diesen „respect for life“ (Burkert 1987, S. 168), den Karl Meuli entdeckt haben will im Jägerverhalten, ist offenbar alles andere als universell. Keineswegs taucht er in allen (Jagd)gesellschaften auf und schon gar nicht in Viehzuchtgesellschaften (vgl. Burkert 1987, S. 168). Dennoch möchte Burkert an dieser Argumentation festhalten, weil ja gerade die Verquickung von Gewalt und Schuld elementar für seine Beweisführung ist (vgl. Burkert 1987, S. 167 f). Allerdings überrascht seine Entdeckung kaum: In der (jüngeren) Viehzucht kann der Mensch gezielt Einfluss nehmen auf Zucht und Fortpflanzung, was beim Wildtierbestand noch außerhalb seiner Möglichkeiten liegt, auch die Möglichkeit zur Tötung (Erlegung) war ganz anderen Bedingtheiten unterworfen. Entsprechend musste mit besonderen (überirdischen, magischen) Ursache-Wirkungsabfolgen gerechnet werden, die nur mit religiös rituellen Maßnahmen beeinflussbar waren. Vgl. Hiltmann 2011, S. 269.
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In seiner ursprünglichen Bedeutung umschreibt der neuhochdeutsche Begriff ‚Gewaltʻ also das Vermögen, Macht und Herrschaft auszuüben, ohne dabei jedoch ein ethisch moralisches Urteil über die Legitimität dieser Fähigkeit abzugeben.¹⁴²
In anderen, früheren Gesellschaftsformen müssten wir nachgerade mit einer Umkehrung von Gewaltvorstellungen rechnen, dass es eben Gesellschaften gegeben habe (und immer noch gebe), „in which being recognized as a victimizer is status enhancing“.¹⁴³ „In honor-based societies people are more likely to be extraordinarily sensitive to anything that might be deemed a harm or an insult,“¹⁴⁴ dass also nicht die Gewalterfahrung oder -ausübung, sondern vielmehr der damit verbundene Ehrverlust oder -gewinn im Vordergrund stehe.¹⁴⁵ Erst die Einschätzung der Unrechtmäßigkeit der Tat kann also ein Unrechtsbewusstsein, ein Schuldgefühl produzieren, wiederum aber ist es fraglich, ob darauf zwangsläufig mit neurotischen Verschiebungen reagiert werden muss. Bekanntlich ein Modell aus den Anfängen der Psychoanalyse, das Sigmund Freud seinerseits explizit zur Aufdeckung von Sexualneurosen entwickelte, noch dazu für eine eng begrenzte Klientel, das Großbürgertum des späten 19. und frühen 20. Jhs. Auch René Girards Thesen sind auf vorgeblich evolutionstheoretischen, (entwicklungs)-psychologischen Grundlagen aufgebaut und auch sie sind dort in nichts begründet. Von den vielen logischen Brüchen in Girards Überlegungen können hier nur einige aufgezeigt werden. So ist allein die Behauptung der typischen, unvermeidlichen ,Gewaltverdichtungʻ in menschlichen Gesellschaften ohne Rückhalt in den frühen, realen Bedingtheiten des Menschen: Die Vermutung eines gewalttätigen Ursprungs des Menschlichen ist auch keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Ein gutes Argument gegen einen gewalttätigen Ursprung der Menschheit besagt, dass systematische Vertreibungs- und Ausrottungskampagnen in der Urgeschichte wenig Sinn hätten, weil die Welt unserer Vorfahren bis vor etwa 10.000 Jahren eine ziemlich menschenleere Welt war, in der es Nahrung im Überfluss gab. Es standen auch genügend Territorien offen, um bei Reibereien eine problemlose Abwanderung zu gestatten.¹⁴⁶
Darüber hinaus ist der menschliche Nachahmungstrieb grundsätzlich neutral, warum sollte er stets mit dieser Zwangsläufigkeit zu Konflikt und Gewalt führen?¹⁴⁷ Und wie kann es sein, dass Verfolger zu Vertuschungsmechanismen greifen müssen, wenn sie doch von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns stets überzeugt sind? Letztendlich ist dieser sogenannte ,Urmordʻ tatsächlich selbst nichts anderes als ein „wissenschaftliche[r] Mythos“,¹⁴⁸ mithilfe dessen die frühe Psychoanalyse mit ihrem Begründer Sigmund
Hiltmann 2011, S. 260. Miller 1993, S. 58. Miller 1993, S. 57. Vgl. Hiltmann 2011, S. 259. da Silva 2001, S. 45. Vgl. da Silva 2001, S. 31. da Silva 2001, S. VII.
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Freud Zivilisation erklären wollte, allerdings mit – nach heutigem Kenntnisstand – allesamt falschen, anachronistischen Konzepten. Diese Hypothese setze, so da Silva, einen Kampf um die Führung in einer menschlichen ,Urhordeʻ voraus, der so genannte ,Urvaterʻ erwecke den Hass der Söhne (der in einem Mordplan gipfelt), da dieser die Kontrolle über sämtliche Besitztümer, insbesondere die Frauen, habe. In tiefer Reue hätten die Söhne anschließend Regeln und Strukturen entworfen, um die Untat ungeschehen zu machen, den Mord am Vater zu versöhnen.¹⁴⁹ Der Ödipuskomplex war geboren! Unabhängig davon, dass auch jenes selbstredend unterstellte Alleinherrschertum zu Beginn menschlicher Sozietät in jeder Hinsicht unwahrscheinlich ist (wohl habe man es eher mit „horizontalen“, symmetrischen, reziproken Ordnungsstrukturen zu tun gehabt),¹⁵⁰ ist der eigentliche, grundsätzliche, „transzendentale[ ] Widerspruch“ wohl der: [D]ie These, dass die sozialen, religiösen und kulturellen Strukturen menschlicher Gesellschaften Konsequenzen eines durch die mimetische Krise versöhnenden Opfers seien, steht nämlich im Widerspruch zu der anderen These, dass diese Krise und deren Ausgang in dem Opfer wiederum Konsequenz der Destrukturierung bzw. Entdifferenzierung durch die Mimesis sei. Eine „Destrukturierung“ setzt freilich vorhandene Strukturen voraus. Mit anderen Worten, die These von der „Entdifferenzierungskrise“ setzt begrifflich schon voraus, was sie eigentlich erklären will.¹⁵¹
Es ist das wohl grundsätzlichste aller Anfangsprobleme, das paradoxe Voraussetzen von Begründungsstrukturen, die sich erst durch diese Anfangssetzung selbst entwickeln können.¹⁵² Gemeinschaften entstehen niemals punktuell, spontan, sondern sukzessive, es gibt kein ,Gründungsereignisʻ, es sei denn, es wird dazu gemacht: Tatsache ist es jedoch, dass die Annahme eines einmaligen Ereignisses – „Abschließung“ eines Vertrags oder Urmord – als Ursprung der sozialen Ordnung in den menschlichen Gesellschaften nicht unproblematisch ist. Gewisse Hierarchien und Ordnungen sind bereits bei Tieren vorzufinden, und wenn die so genannten „Vormenschen“ z. B. Jagd betrieben, was durchaus anzunehmen ist, dann hatten sie schon eine organisierte Form des sozialen Lebens, die sich später entwickelt hat und immer komplexer wurde. Die Annahme eines langen Prozesses [kursiv d.Verf.], in dem der Mensch und seine sozialen Organisationen sich parallel entwickeln, dürfte hier dem ganzen Sachverhalt gerechter werden. Die Entwicklung der menschlichen Institutionen ist so tief mit der Entwicklung des Menschen selbst verflochten, dass die Definition eines punktuellen Ursprungs ein unmögliches Unternehmen sein dürfte.¹⁵³
da Silva 2001, S. 37. Vgl. da Silva 2001, S. 45. da Silva 2001, S. 45. Vgl. Leanza 2014, S. 32. Leanza wählt zur Umschreibung dieses Phänomens den Ausdruck ,Fundierungsparadox‘. „Fundierungsparadoxien treten immer dann auf, wenn Systeme versuchen mit den eigenen Mitteln ihre Ausdifferenzierung zu begründen. Die Kategorien, die begründet werden sollen, werden dann zur Begründung herangezogen“ (Leanza 2014, S. 32). da Silva 2001, S. 45 f.
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Das Gewaltmodell ist damit ein Wissensmodell für die stets abstrakte, ja stets paradoxe Vorstellung von Gründung und Anfang. Es geht um die Begründung der Empirie einer uns umgebenden Wirklichkeit (Phänomene, Institutionen) mithilfe von Gewaltmodellen. Keinesfalls möchte der Mythos das Phänomen schrecklicher, ,unerklärlicherʻ Gewaltbereitschaft im Menschen plausibel machen. Gar nicht geht es darum, reale, echte Gewalttaten zu ,vertuschenʻ. Zerstückelung, Blutvergießen, ,ausgewählte Grausamkeitenʻ, sei es bei Mensch oder Tier, sind zunächst einmal weder krankhaften, sadistischen Tendenzen noch dem unbeherrschbaren Blutrausch einer chaotisch entfesselten Menge geschuldet, vielmehr zeigen sich deutlich genug gut durchstrukturierte, rituelle Handlungsmuster, die Transferierungen, Transformationen, Grenzgänge, zweifelsohne schwierige, mitunter gefährliche, sei es in eine Anderwelt oder in einen neuen Wirklichkeitsstatus bewirken sollen. Durch exzessive Körperdeformationen wird Liminalität sichtbar, beobachtbar, erfahrbar gemacht. Ein Liminalisierungsprozess wird in Gang gesetzt mit dem Effekt einer gezielten ,Ent-Menschlichungʻ. Sie gilt für den Initianden genauso wie für den Schamanen oder das Menschenopfer. Nicht zuletzt die klassische Opferdefinition der französischen Anthropologen und Soziologen Henri Hubert und Marcel Mauss¹⁵⁴ legt genau auf diese Transferleistung Gewicht. ‚Opferʻ sei zunächst einmal ganz grundsätzlich „a mediation between two worlds – human and supernatural – and the acts of sacrificere as moving an object across that boundary.“¹⁵⁵ Jene Art von Transmission in eine ,andere Weltʻ muss also keineswegs auf Abschiebe- und Ausgrenzungskontexte eingeschränkt werden, wenngleich sie ein wichtiger, aber letztendlich nur ein Aspekt jener Grenzpassagen sind, genauso wenig auf eine übliche do-ut-des-Opfervorstellung. Sie passt auf grundsätzlich alle Konzepte, in denen es darum geht, wie eine gewisse Entität von der profanen Welt separiert werden kann oder in diese gelangt. Natürlich konnten Vorstellungen darüber variieren, aber auch jene Vielzahl von Variationen, wie sie die kultische Praxis zeigt, beruhen grundsätzlich auf einer „essential action“ als „act of destruction“¹⁵⁶: To sacrifice is thus to render something other than what is mundane and familiar to us, and to do so through any number of ritual acts: from baking in a certain form, to burning away, to performing a certain speech-act – „this is not an animal, it is the gods’ food“ – to simply handing an apple or pigeon to a priest. Hubert and Mauss were particularly interested in how some offerings in the cultures they studied really had to be transformed utterly – through burning to ashes or consumption by priests – in order that the offerings could count as transmissions to the other world. „The purpose of the incineration and the consumption by the priest,“ they said, „was the
Siehe Hubert und Mauss 1899; Hubert und Mauss 1964. Frankfurter 2004, S. 512: Auch Frankfurter bevorzugt diese Opfer-Definition, da sie den Vorteil biete, nicht auf ein mystifizierendes ‚Heiligesʻ referieren zu müssen, sondern auf konkrete, dynamische, intentionale Akte, die im Ergebnis ‚göttliche Dingeʻ zu erzeugen vermögen. Hubert und Mauss 1964, S. 35.
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complete elimination from temporal surroundings of the parts of the animal thus destroyed or eaten.“¹⁵⁷
David Frankfurter macht diese „acts of destruction“ gleichermaßen aus in koptischen Martyrologien, in Judenverfolgungen des Mittelalters und der Neuzeit wie in Lynchmorden von Afroamerikanern des letzten und vorletzten Jahrhunderts, wobei er grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen dem Akt des sacrificere, des Opferns im Hubert/Mauss’schen Sinn, und dem Akt des annihilare als Basiskonzept des Expiationsrituals aufrechterhalten möchte.¹⁵⁸ Gleichwohl muss er feststellen, dass sich dafür nicht nur die Techniken, sondern auch die Ergebnisse, die ,Endprodukteʻ bis aufs Haar gleichen: Sowohl der durch diese Prozeduren geheiligte Märtyrerleib ebenso wie der geschundene Leib des als monströs eingestuften Afroamerikaners gelten offenbar als kostbare Reliquien, potente Hinterlassenschaften, wovon jeder Partizipant sich entsprechend einen Anteil sichern möchte: In acts of asceticism and stories of martyrdom, human bodies were transformed into, on the one hand, supernatural mediators with certain heavenly status, and on the other, sacred residues for devotees in coming generations: i. e. relics and the substances of ,blessingʻ. The successful transformation of such bodies depended on their complete dissolution through a protracted series of stages of asceticism or torture. […]. A parallel process of dissolution served to annihilate polluting or monstrous beings viewed as too potent to dispatch quickly and privately. […] These techniques and procedures often take place over multiple marked spaces to signify the progressive reduction of the victim’s humanity. […] And occasionally these rites also result in potent residues, symbols of victory, of collective commitment, of power over – or even from [kursiv d. Verf.] – the defeated monster.¹⁵⁹
Gerade die modernen Beispiele für rituelle Tötungen zeigen, dass auf keine Weise Schuldgefühle wegen möglicherweise erst im Nachhinein erschreckenden und unerklärlichen Gewaltausbrüchen rituell thematisiert werden. Nicht einmal in einem zeitgenössischen und kulturell vergleichbaren Umfeld scheinen jene tiefenpsychologischen Verdrängungsmodelle zu greifen, die doch so selbstverständlich für prähistorische Stammesgesellschaften in Anschlag gebracht wurden. Der Verdacht liegt nahe, dass sie bestenfalls Plausibilität für Nichtkulteilnehmer zu liefern vermögen: Für diese scheint die Gewalt unerklärlich und unbegründet – für den jeweiligen Kultteilnehmer ist sie indes sehr wohl legitimiert und infolgedessen angemessen. Die Lynchmorde, die Frankfurter beschreibt, sind jedenfalls ein öffentliches Vergnügen, als Souvenirs, als explizite Erinnerungshilfen werden Fotos gemacht und gedruckt, die Zuschauer reißen für sich Kleidungsstücke ab, Asche, Haare und Zähne, sogar Körperteile.¹⁶⁰ Diese werden später zur Schau gestellt ohne Spur eines (ja stets pos-
Frankfurter 2004, S. 512. Vgl. Frankfurter 2004, S. 522 f. Frankfurter 2004, S. 530 f. Vgl. Frankfurter 2004, S. 527.
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tulierten ,eigentlichenʻ) Unrechtsbewusstseins. Die Lynchszenarien suchten und brauchten die Öffentlichkeit. Frankfurter beschreibt die makabre Szenerie in einem Theater, wo im Eintrittspreis ein Sitzplatz und ein Schuss auf das Opfer enthalten waren.¹⁶¹ Dies macht den Eindruck eines sorgfältigen Arrangements, einer gewissenhaften rituellen performance. Und dazu gehörte die möglichst vollständige, gemeinschaftliche Teilnahme, nur so konnte eine erfolgreiche und für den einzelnen wie für die Gruppe gefahrlose Neutralisation vonstattengehen: [P]eople really wanted to be part of its successful neutralization; and the dissemination of body parts represented the vanquishing of the monster. In their very nature as fragments they testified that the rest of the body was missing, mutilated and dismembered.¹⁶²
Dieser Befund hat wichtige Konsequenzen: Die Tatsache, dass in diesem prototypischen Ursache-Wirkungscluster das Aktanten-Feature offenbar sorgfältig von jeglicher (einzel)menschlichen Intentionalität getrennt gehalten werden soll, ist als Verschleierungstaktik interpretiert worden, um Schuld und Scham, die jene Aktionen doch so augenfällig produzieren müssen, entgehen zu können.Viel eher hat es mit der rituellen Absicherung eines gefährlichen Settings zu tun: Grenzpassagen bergen immer und gerade in diesem Fall das schwer kalkulierbare Risiko der Kategorienöffnung und Kontamination, in vielen Fällen kann diese Gefährdung durch ein nicht zurückverfolgbares auktoriales, intentionales Verursacherprinzip nach dem Prinzip ,Viele gegen Einenʻ minimiert werden und gleichzeitig wird dadurch – kaum weniger wichtig – ein durchaus nicht immer erwünschter Machtzuwachs des Einzelnen verhindert. Sollte doch ein einzelner ,Annihilations-Spezialistʻ notwendig werden, also etwa der Typ „heiliger Henker“¹⁶³ (genauso aber der Schamane, z. B. in seiner Eigenschaft als
Vgl. Frankfurter 2004, S. 529, Anm. 58. Frankfurter 2004, S. 529. Vgl. dazu Maccoby 1999. Der britische Judaist prägte den Begriff „sacred executioner“, der im deutschen Sprachraum als ,heiliger Henkerʻ populär wurde, so auch der Titel seines gleichnamigen Buches, in dem er sich ebenso wie René Girard und Walter Burkert mit der Gewaltsamkeit antiker Rituale und ihrer rituellen Funktion auseinandersetzt: Sein Fokus liegt indes weniger auf der gewalttätigen Gruppendynamik, sondern auf eben jenem einzelnen Opferspezialisten und seiner merkwürdig ambivalenten Rolle, sei es in einer konkreten Opfersituation oder aber als mythologische Figur. Dazu zählen nach seiner Interpretation z. B. Romulus, der Gründer von Rom, der ägyptische Gott Seth, aber auch Loki. Sie werden von der Gesellschaft ausgestoßen aufgrund einer verhängnisvollen, mörderischen Tat und gelten doch gleichwohl als „verflucht“ wie auch als „heilig“ (Maccoby 1999, S. 11). Sie scheinen jedenfalls mit einer besonderen, nicht immer eindeutig zu bestimmenden Potenz ausgestattet. Auch Maccoby geht grundsätzlich von einer Verdrängungsthese aus, dass diese mythischen Gestalten als Übertragungsfiguren geschaffen wurden, um die beim Menschenopfer entstandenen Schuldgefühle zu kompensieren. Interessant genug, dass offensichtlich auch beim Tieropfer entsprechende ,Vertuschungsaktionenʻ auftreten konnten, etwa bei der athenischen Buphonie, dem Fest der Rinderschlachtung, bei dem der opfernde Priester in „gespielter Panik“ (Maccoby 1999, S. 13) das Opfermesser von sich werfen und fliehen musste. Auch diese rituelle Praxis möchte Maccoby mit Schuldgefühlen dem Tier gegenüber erklären, was indes nicht sehr wahrscheinlich erscheint ange-
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Psychopompos), ist deren notwendige Absonderung von der Gesellschaft weniger moralischen Bedenken, denn ihrem gefährlichen und gleichzeitig gefährdenden Kontakt mit dem ,Anderenʻ geschuldet. Der erste, der prototypische Grenzgang ist der Tod, der nur in seiner biologischen Realität, dem Zerfall schlechthin, begriffen werden kann. Zweifelsohne empfand der Mensch diesen Prozess, der durch den Tod ausgelöst wurde, als Gewalt. Das erste Bild, die erste Metapher dafür war das Bild der Jagdbeute, aber im primordialen Jagdszenario ist der Mensch nicht der Jäger, er ist vielmehr das Opfer eines intentionalen Töters, eines Verschlingers. Der Tod wird also als wildes Tier imaginiert, später wird er zum anthropomorphen Wesen, ein ,Jägerʻ, begleitet von Raubtieren und Aasfressern, und noch später, in der Ackerbaukultur, ist er der ,Schnitterʻ, der ,Sensenmannʻ, das sind auch in der Germania hochkonventionalisierte, sehr alte Plausibilisierungsmodelle. Die rituelle Handlung des Zerteilens und Zergliederns, sei es des Opfertieres, des menschlichen Körpers, des Leichnams, ist für den frühen Menschen keineswegs in einer pathologisch übersteigerten oder voyeuristischen Lust an der Gewalt begründet, auch wenn diese Effekte im Kult manches Mal gezielt gesucht und genutzt werden etwa als Faszinosum des Abstoßenden. Also nicht die Gewalt per se bzw. die dadurch evozierten moralischen Bedenken und etwaigen Gewissensbisse stehen im Zentrum, es ist die Bedeutsamkeit eines prototypischen Zerstückelungsaktes, mit dem eine Grenzüberschreitung angezeigt wird. Mit der Auflösung wird auf dieser, der menschlichen Seite etwas begonnen, was dann von anderer, ,übernatürlicherʻ zu Ende gebracht wird. Neuarrangements und/ oder Substitution, die Wiederherstellung einer Vollständigkeit, einer zumindest rituellen Ganzheit sind dann in diesem Sinne durchaus keine lächerlichen, sinnlosen Vertuschungsaktionen, eher im Gegenteil: Mit der Leiche, tierisch oder menschlich, gestorben, geopfert oder erjagt, muss als einem mächtigen einflussreichen Wesen, ja möglicherweise Feind gerechnet werden.¹⁶⁴ Die Gefährdung, die in diesem ganz konkreten Kontext vom toten Jagdtier oder vom Leichnam ausgeht, ist durchaus real und ehrlich empfunden, ein Gefährdungspotenzial, das in gleicher Weise dem ,Sündenbockʻ innewohnt. Dies gehört wohl zum folgenreichsten Missverständnis Girards: Keineswegs wird eine unbedeutende Randfigur zum ,Sündenbockʻ gemacht, weil sie ,unschuldigʻ und für die Gemeinschaft kaum gefährlich ist, sondern sie ist gerade deshalb schuldig, weil sie vom Rande der Gesellschaft das Zentrum bedroht. Keineswegs wissen die Kultteilnehmer ,insgeheimʻ oder ,unbewusstʻ Bescheid darüber. Sie wissen um die Bedrohungen, dass es unter
sichts der bereits erwähnten Unberührtheit und Pragmatik von Viehzüchtern gegenüber Tierschlachtungen. Auch hier ist nicht Scham, sondern die Furcht bzw. Vorsicht vor der machtvollen Liminalität des getöteten Opfertiers Ursache dieses Handelns, gegebenenfalls auch das ,Entsetzenʻ vor Kontamination mit dieser liminalen, in jedem Fall gemeinschaftsgefährdenden Potenz. Im Kultablauf selbst ist dieses Entsetzen freilich nicht ,gespieltʻ, sondern kultisch inszeniert. Vgl. Fuchs-Heinritz 1969, S. 41 f.
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Umständen viel Geschick und Wissen bedurfte, diese überhaupt zu erkennen, geschweige denn ihrer Herr zu werden. Vom epistemischen Standpunkt der jeweiligen Kulturen aus sind das legitime und logische, auf keine Weise verdrängungswürdige Vorstellungen. Es stimmt nicht, wenn Girard behauptet, dass erst das jüdisch-christliche Denken mit dieser Spirale der Gewalt Schluss gemacht hätte, indem schonungslos und offen Gewalt sichtbar gemacht würde und sich auf Seiten des unschuldigen Opfers gestellt würde.¹⁶⁵ Wie jedes andere Deutungssystem stellt es sich auf die Seite des aus seiner Sicht zu Unrecht Beschuldigten. Welche Stationen bei der Grenzpassage besonders behandlungsbedürftig sind, gibt die jeweilige (Krisen)situation und somit das jeweilige Ritual vor. Olympisches Opfer, Reinigungsritual, Sündenbockritual (in seinem ursprünglichen alttestamentarischen Kontext und nicht als Girard’sche Chimäre), das dionysische sparagmós, das buchstäbliche ,in Stücke Reißenʻ auch menschlicher Opfer im Dionysoskult, nicht zuletzt die Bestattung, all diese Praktiken lassen sich dann problemlos in Einklang bringen. Das Reinigungsritual wie die Bestattung legen den wichtigsten Fokus auf Grenzschließung, es geht um die möglichst vollständige, unumkehrbare Ausmerzung eines Kontagions. Girard beansprucht es aber bekanntlich als allgemeingültige Vorlage für sämtliche Blutopfer. Dies wiederum passt aber ganz und gar nicht zum gemeinschaftsstiftenden Effekt des Opfermahls, das nach Burkert unbedingt zum Opferkontext gehört. Grundsätzlich aber liegen gemeinschaftliches Zerreißen und Verzehren auf der gleichen strukturellen Ebene. Es sind biologische Metaphern der Dekomposition.
8.2 Horrenda primordia 8.2.1 Die Fiktion des Anfangs Wenn nun also ein System grundsätzlich sein Ende, seine Grenze nicht denken kann, wenn es in paradoxen Denkoperationen (und Handlungsmustern) sein Ende vorwegnehmend in sich selbst integriert, um ein buchstäbliches Weiterdenken zu ermöglichen, so stellt die Denkfigur des Anfangs (indes dem Menschen bei weitem weniger bewusst) vor nämliche Probleme. In gleicher Weise erfährt er hier diese „logische[ ] Not“,¹⁶⁶ die nämliche Sprachlosigkeit, kurz, „[d]en Anfang zu denken“,¹⁶⁷ stellt nicht nur die philosophische Theorienbildung vor Schwierigkeiten und Aporien.¹⁶⁸
Vgl. Girard 2002, S. 163. Die Argumentation Girards ist in weiten Teilen geprägt von theologischen Deutungsmustern. Dazu gehört etwa die Auffassung eines grundlegenden Unterschieds zwischen mythisch paganen und christlichen Opfermechanismen (Girard 2002, S. 167). Macho 1987, S. 186. Angehrn 2007, S. 26. Vgl. Angehrn 2007, S. 26.
8.2 Horrenda primordia
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Schon die turbulente Gründungsgeschichte Roms legt dafür ein in diesem Sinne durchaus beredtes Zeugnis ab. So verweist Alexander Demandt wohl auf den hohen Erkenntniswert des Wissens um den Ursprung einer Sache,¹⁶⁹ andererseits erscheine aber doch gerade römisches Ursprungswissen in einer eher ungünstigen Form.¹⁷⁰ Die christlichen Autoren machten sich diesen Umstand für ihre (polemischen) Zwecke zu Nutze: Ob nun die schmähliche Heimatvertreibung des Äneas, ob der Brudermord des Romulus an Remus, deren Aufzucht durch eine lupa (bedeutungsmäßig ebenso „Wölfin“ wie „Hure“), die erste Stadtbevölkerung eine turba sine […] discrimine (Liv. 1, 8), also verbrecherisches Gesindel – die Kirchenväter waren sich einig, das heidnische Rom war ein „Schurkenstaat“,¹⁷¹ die Römer „ein Volk von Verbrechern“.¹⁷² Kaum anders zunächst Beate Kellners Befund zu den genealogischen Ursprüngen des französischen Adelsgeschlechts Lusignan.¹⁷³ Dessen berühmte Ahnfrau Melusine ist gar eine (zunächst unerkannte) Schlangenfrau, ein amphibisches Mischwesen, die ihrem unbedeutenden und vor allen Dingen mittellosen (menschlichen) Ehemann Raymond zu nie gekanntem Erfolg und Reichtum verhilft. Der Melusinenkomplex wird dem Erzähltypus der ,gestörten Mahrteneheʻ zugerechnet, seit Friedrich Panzer definiert als „erotische Beziehungen zu übernatürlichen Wesen“, auf gleiche Weise aber auch „die b[esonderen] Bedingungen, unter denen diese Ehen stehen, und ihr Scheitern.“¹⁷⁴ Denn gerade deren Nachkommenschaft bekommt einen durchaus schwierigen, ambivalenten Status zugeschrieben – von unauffällig bis bösartig, immer aber mit dem skandalon des Mischwesens behaftet. Die zehn Lusignan-Söhne weisen nahezu durchgehend monströse, physische Abnormitäten auf (bis auf die beiden letzten). In ihrem Verhalten zeigen sie sich asozial, es folgt Gewalttat auf Gewalttat bis hin zum Brudermord.¹⁷⁵ Hier zeige sich denn auch die Ambivalenz des Sagentypus, so Kellner, die Melusinensagen verliefen an diesem Punkt in zwei Richtungen: Wenn etwa Giraldus von Cambrai in seinem De principis instructione liber (1217) den Untergang des Herrscherhauses der Plantagenet mit der Abfolge verbrecherischer Nachkommen begründet, die schließlich in einer Verbindung mit einem weiblichen Dämonenwesen seinen Gipfel und (verdientes) Ende findet, so erscheint diese Familiengeschichte ganz folgerichtig als unausweichliche Antiklimax konstru-
Vgl. Demandt 2013, S. 11. Vgl. Demandt 2013, S. 16. Demandt 2013, S. 11. Demandt 2013, S. 15. Vgl. Kellner 2004, S. 424– 472. Röhrich 1999, Sp. 49. Nach Lutz Röhrich dient der Begriff zur „Kennzeichnung einer Ehe […] oder eheähnlichen Verbindung mit einem nächtlichen Druckgeist ([…] Dämon). In erweiterter Beziehung wird der Ausdruck auch generell zur Kennzeichnung von Feenlieben oder Liebesverhältnissen mit mythischen Wesen, d. h. zur Umschreibung jeglicher erotischen oder sexuellen Verbindung eines Menschen mit einem übernatürlich-jenseitigen Wesen gebraucht […]“ (Röhrich 1999, Sp. 45). „Als mittelalterliche lateinische Entsprechungen finden sich fantasma (fantastica aparicio, decepcio), lamia, larva, fada (das etymologische Ursprungswort der Fee)“ (Huber 2004, S. 248). Vgl. Kellner 2004, S. 450.
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iert.¹⁷⁶ Im Gegensatz dazu freilich werde die Entwicklung der Nachkommenschaft der Lusignans als Erfolgsgeschichte entworfen,¹⁷⁷ in den spätmittelalterlichen Melusinenfassungen des 15. Jhs. (Jean d’Arras, Couldrette, Thüring von Ringoltingen) sei es gerade diese Besonderheit der Herkunft der Ahnfrau, die dem Herrscherhaus Glück verheiße, eben jener „,Überschuß aus der Anderweltʻ“,¹⁷⁸ der im Diesseits zu Reichtum in jeder Hinsicht führe. Nicht nur die vormoderne Geschichtsschreibung, auch die moderne Forschung hat mit diesen absonderlichen Geschichten vom Anfang häufig genug ihre liebe Not. Gerade Spitzenahnen, die doch Ordnung institutionalisieren und die „Vornehmheit, die besondere Qualität des Blutes“¹⁷⁹ am besten repräsentieren sollten, zeichnen sich offenbar durch monströse Mesalliancen, Heimtücke und Betrug, durch Mord und Totschlag aus, sie verkörpern an sich selbst wie in ihren Nachkommen monströse Andersheit, Unvollständigkeit, Unheil. So zeigt sich bis heute eine Tendenz oder Bedürfnis, diese befremdlich negativen Gründungsereignisse semantisch aufzuwerten. Demandt kann nur vermuten, die Römer hätten wohl „aus Naivität“¹⁸⁰ ihre unselige Gründungsgeschichte behalten und nach und nach (so gut wie möglich) ins Positive umgedeutet. So lasse das Asyl von Romulus doch auch einen gewissen Stolz entwickeln in späterer Geschichtsschreibung, es werde etwa auf die Weltoffenheit, „die Großzügigkeit allen und allem Fremden gegenüber“¹⁸¹ verwiesen. Die Vergewaltigungen der Sabinerinnen sind dann eben nicht ganz freiwillige Hochzeiten, unerklärlich bleibt dennoch der Betrug und Mord am Bruder und die gemeinschaftliche Tötung und Zerstückelung des Romulus durch die Senatoren (vgl. Liv. 1, 16, 4). Auch die literarischen Niederschläge des Lusignan-Mythos im 12./13. Jahrhundert, etwa eines Walter Map, Gaufredus von Auxerre oder Gervasius von Tilbury, thematisieren entsprechend ihrer christlichen Vorgaben eher die Erlösungsbedürftigkeit und -möglichkeiten dieser Wesen. Es geht zuallererst darum, die aus dieser Konfrontation mit der Anderwelt resultierenden Konflikte in einen christlich religiösen Denkrahmen einzuordnen.¹⁸² Wenn es sich nun aber merkwürdig ausnimmt, dass sich christliche, hochadelige Geschlechter im Spätmittelalter auf eine Ahnfrau wie Melusine (einschließlich ihres verdorbenen Nachwuchses) gründen,¹⁸³ muss dann nicht ebenso gefragt werden, wie sich pagane Geschlechter mit einem dermaßen unseligen Anfang legitimieren sollten? Mord und Totschlag unter Familienmitgliedern, Betrug, illegitimer Erbanspruch sind doch hier genauso wenig gelitten. Gerade die unsäglichen
Vgl. Kellner 2004, S. 412. Vgl. Kellner 2004, S. 413. Kellner 2004, S. 426. Kellner und Müller 2009, S. 203. Demandt 2013, S. 16. Demandt 2013, S. 16. Vgl. Kellner 2004, S. 397 f. Vgl. Kellner 2004, S. 466.
8.2 Horrenda primordia
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Genealogien der Ynglinga saga sind diesbezüglich beredtes Beispiel und werfen die nämlichen Fragen auf. Und hier möchte nun Kellner, trotz gewisser Vorbehalte und Modifikationen, auf René Girards Kulturtheorie zurückgreifen. Letztendlich sieht sie hier jenes Girard’sche Konglomerat von „Gewalt, Rache und Entsühnung“ gegeben.¹⁸⁴ Gemeinschaften gründeten ganz offensichtlich in Gewalt und auch das Fundament der Kultur müsse entsprechend ein gewalttätiges sein¹⁸⁵: Girards Thesen schärfen […] den Blick für den Zusammenhang von Gründung und Gewalt, von Gemeinschaftsbildung und Gewalt, von Heiligkeit und Gewalt. In stark abstrahierter Form treffen sie den Kern einer Vielzahl von Gründungsgeschichten.¹⁸⁶
Wohl möchte sie nicht wie Girard von einem wirklichen, historischen Ereignis ausgehen, also einem tatsächlichen, real praktizierten Gewaltakt, vielmehr von einer lediglich literarisch inszenierten Fiktion von „Ordnung und Gewalt“¹⁸⁷ – aber auch dieser Ansatz bleibt letzten Endes Girard verpflichtet: Im Sinne Girards gelesen, sind die Texte damit geradezu spektakulär, denn im Menschenopfer zeige sich die Ursprungsgewalt in unverhüllter Form. Die Tierhaftigkeit des Melusinensohns, seine Monstrosität, schwächt dabei das Skandalon des Menschenopfers zumindest ein wenig ab. Die damit versuchte Reinigung der Sippe ließe sich – Girard folgend – als archaische Form der Entsühnung verstehen. […]. Die im Opfer ausgeübte Gewalt zielt also paradox auf Gewaltlosigkeit.¹⁸⁸
Nach Auffassung vorliegender Arbeit haben wir es indes nicht mit „archaischen und magischen Strategien der Gewaltbegrenzung“¹⁸⁹ zu tun, vielmehr treffen wir hier auf zwei Denkmodelle, die sich, auch wenn sie das gleiche Problem bearbeiten, in einer ganz grundsätzlichen und richtungsweisenden Art unterscheiden: Es ist der unterschiedliche Fokus auf Anfang oder Ursprung, origo oder initium, ein „retrospektiv[er]“, rückgewendeter oder aber „prospektiv[er]“, in die Zukunft schauender Blick.¹⁹⁰ Betont der Ursprung das Eigentliche, den „Wesensgrund“ eines Phänomens, meint der Anfang „das Neue, das Andere, das nicht aus dem Vorausgehenden Ableitbare, den Bruch“,¹⁹¹ eine grundsätzliche, unhintergehbare „Fremdheit gegenüber dem Vorausgehenden.“¹⁹² Beide Denkfiguren stützen und plausibilisieren bestehende Ordnungen, Welt und Wirklichkeit. Sie modellieren auf diametral unterschiedliche Weise jene
Kellner 2004, S. 453. Vgl. Kellner und Müller 2009, S. 457. Kellner 2004, S. 451. Kellner 2004, S. 458. Kellner 2004, S. 453 f. Kellner 2004, S. 455. Vgl. Angehrn 2007, S. 21. Angehrn 2007, S. 23 f. Angehrn 2007, S. 24.
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Stufen des Übergangs, die im rituellen Handeln, im Konzept der rites de passage, als jeweils Separations- bzw. Integrationsriten erscheinen. Abstammungen, Genealogien, Ahnenreihen versammeln ihrerseits diese Bauprinzipien in einer Art „‚Grammatikʻ des Genealogischen“¹⁹³ als gewissermaßen ,Denkhilfenʻ zu Ursprung und Anfang. Die Gewaltsamkeit des Anfangs ist der mythische Wissensrahmen des epistemischen Bruchs, des Unerhörten, nie Dagewesenen. Die ‚Unmenschlichkeitʻ fasst das Fremde, das auf keine Weise Ableitbare des Anfangs. Sie findet ihre unmittelbare Entsprechung in der Gewaltsamkeit des Endes, der buchstäblichen Unmenschlichkeit der Leiche, ihrem ‚grausamenʻ Zerfall; hier wie da der Mangel an Interpretationsmöglichkeiten, der kognitive Bruch, hier wie da gefasst als paradoxe Transgression. Es ist eben jene „negative Selbstreferenz“, die zu einer Form „gerinnt“, zu einem Symbol, und sei es nur, um „etwas für eine Unmöglichkeit“ zu erklären.¹⁹⁴„Diese Form symbolisiert dann für die weiteren Operationen Unverwendbarkeit; oder auch die Notwendigkeit, andere Anschlußmöglichkeiten zu suchen. Sie wird in der Tradition als ,Paradoxʻ bezeichnet.“¹⁹⁵ In den gleichermaßen (pseudo)historischen Genealogien der nordischen Sagawelt zeigt sich diese Form der Fiktionalisierung eines Anfangs etwa in der Darstellung des Goden Arnkell, einer Gründergestalt der Eyrbyggja saga. Klaus Böldl bezeichnet Arnkell als eine der „markantesten, aber auch irritierendsten Figuren“¹⁹⁶ der Saga. Er verliert sein Leben durch die tiefe Gegnerschaft zum Goden Snorri, dem Vertreter einer neuen Zeit, des anbrechenden Zeitalters des Christentums auf Island. Dabei stehe die durch und durch positive Ausgestaltung des Arnkell in auffallendem, ja unvereinbarem Gegensatz zu seinen merkwürdigen Verwandtschaftsverhältnissen,¹⁹⁷ am meisten freilich zu seinem schmählichen Ende. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wird er von Snorris Leuten getötet – wieder ein ,Tod auf der Heuwieseʻ! – was gleichwohl der „schwärmerische[n]“ Begeisterung, ja „enthusiastische[n] Parteinahme“,¹⁹⁸ mit der der Sagaschreiber von ihm spricht, offenbar keinen Abbruch tut. Genauso wenig scheint es von Bedeutung, dass Arnkell der Sohn des bösartigen Þórólfr bægifótr ist, der zeitlebens (und darüber hinaus) die Gemeinschaft terrorisiert, ja dass sich offenbar die ganze Familie durch Magie, Schadenszauber, effeminierte, schamanistische Praktiken und Ähnliches ausweist.¹⁹⁹ Dessen Herkunft aus dem norwegischen Hálogaland ist diesbezüglich einschlägig, es ist eine symbolträchtige Landschaft mit tiefen Verbindungen in die jenseitige Welt, in die Welt der Ahnen. Auch das merkwürdige Detail, dass Arnkells Großmutter Gäste bewirtet habe in einer Halle am Wegesrand, wertet Böldl als möglicherweise ferne Reminiszenz an die irischen
Kellner 2004, S. 473. Luhmann 2000, S. 18. Luhmann 2000, S. 17. Böldl 2005, S. 229. Vgl. Böldl 2005, S. 230. Böldl 2005, S. 234. Vgl. Böldl 2005, S. 230 – 234.
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Trinkhallen an Kreuzwegen, den bruiden, hier wie da ein eher undurchsichtiges, jedenfalls mit massiven Todes- und Jenseitsassoziationen verbundenes Motiv.²⁰⁰ Und dennoch, obwohl dem Goden Arnkell nach allen Regeln der Sagaschreiberkunst sämtliche „sozialen bzw. genealogischen Voraussetzungen“²⁰¹ für einen sozialen Aufstieg an die Spitze fehlen, tritt er nicht nur als Anführergestalt auf Snæfellsnes auf, die Saga erhebt ihn darüber hinaus auch zur „herausragenden Lichtgestalt der heidnischen Periode.“²⁰² Merkwürdig genug nimmt sich dabei die Schilderung seiner unermüdlichen Arbeitsfähigkeit aus, gerade in Vollmondnächten, wohl interpretierbar als untadelige Fleiß- und Leistungsbereitschaft, aber es evoziert gleichzeitig auf ungute Weise das Bild einer nächtlichen Rastlosigkeit und Ruhelosigkeit. Die altnordische Mondmotivik ist darüber hinaus nahezu ausnahmslos negativ belegt. So scheint mit dieser Nachtaffinität nicht nur das grauenvolle Wiedergängertum des Vaters anzitiert, sondern gleichermaßen sein eigener zukünftiger Zustand bereits vorweggenommen: als Totengeist, als Nachtwesen. Und ausgerechnet beim nächtlichen Einbringen des Heus gerät Arnkell in einen Hinterhalt, in einer Umfriedung (garðr) findet er den Tod, allein gegen eine Überzahl von Angreifern, nachdem seine Sklaven in einer Art „Schreck-Neurose“²⁰³ wie von Sinnen davonlaufen, sich zu Tode stürzen oder Gedächtnisverlust erleiden. Böldl möchte diese Episode eher als „quasi-mythische[s] Verlaufsmuster[ ]“ denn als „psychopathologisches Faktum“²⁰⁴ werten. Es gleicht tatsächlich der ,Schreckstarreʻ, der Handlungsunfähigkeit der Asen nach Balders Ermordung bis aufs Haar, gut erkennbar das Konzept ,Viele gegen Einenʻ, der rituell umfriedete Raum. Und hier beklagt nun ausdrücklich alles Volk (ok var hann ǫllum mǫnnum harmdauði), wir müssen annehmen in der Öffentlichkeit, den „besten aller Männer“ ausgiebig. Die Schilderung gipfelt schließlich in einer Lobeshymne, in einer Totenrede, die ihrerseits bis in den Wortlaut Snorris Charakterisierung Balders gleicht: Und alle Leute beklagten seinen Tod sehr, denn er war in jeder Hinsicht der beste aller Männer gewesen in der heidnischen Zeit und auch der Klügste, von vortrefflicher Wesensart, hochherzig und von allen Männern der Mutigste. Er war aufrichtig und stets beherrscht. In Rechtsstreitig-
Vgl. Böldl 2005, S. 231. Auch das ossetische Heldenepos kennt das Motiv (vgl. Sikojev [Übers.] 2005, S. 71 f.), was entsprechende Fragen nach dessen Herkunft (Entlehnung oder gemeinsames indogermanisches Erbe) aufwirft. In der Narten-Erzählung „Die Geburt Soslans“ muss der Dorfälteste Uryzmæg an einem Kreuzweg („wo sich sieben Wege an einem Punkt kreuzen“) ausnahmslos alle Vorüberkommenden bewirten. Hier ist es Voraussetzung für übernatürlichen Wissenserwerb. Freilich lässt schon der Ritualkontext der römischen compitalia keinen Zweifel, welche Klientel an Kreuzwegen üblicherweise zur Bewirtung erscheint: die Toten. Böldl 2005, S. 234. Böldl 2005, S. 234. Böldl 2005, S. 236. Böldl 2005, S. 236.
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keiten setzte er sich immer durch, mit wem er es auch zu tun hatte. Dadurch zog er den Neid anderer auf sich, wie sich jetzt gezeigt hatte.²⁰⁵
Böldl denkt offenbar nicht an Balder als mythisches Pendant, aber er verweist doch ausdrücklich darauf, dass die Art der Ausgestaltung dieser Episode gegen jede Erzähllogik der Isländersaga verstoße, nicht zuletzt, weil dadurch der Gode Snorri, schließlich die Hauptfigur der Saga, als dessen Mörder in ein denkbar schlechtes Licht gerückt werde: Diese Schilderung erscheint in ihrer Ausführlichkeit geradezu als ein Verstoß gegen die Regeln der Isländersaga, läuft die postume Charakterisierung doch dem Erzählprinzip der Benennung handlungsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale insofern zuwider, als diese Informationsvergabe zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo sie zum Verständnis der Handlung offenbar nichts mehr beitragen kann. Überdies ist eine derartig enthusiastische Parteinahme für eine Figur durch den Erzähler einer Isländersaga ganz unüblich – und im vorliegenden Fall umso überraschender, als durch diese Eloge der eigentliche Protagonist der Saga, der Gode Snorri, deutlich in den Schatten gestellt wird.²⁰⁶
Nun mag der bäuerliche Kontext als übergeordneter Rahmen nicht von der Hand zu weisen sein (ähnlich wie im Baldermythos als vordergründiges Szenario eine Gerichtsszene entworfen ist), aber die mythische Vorlage, die Böldl zu Recht hinter der Arnkell-Episode vermutet,²⁰⁷ hat nichts mit Fruchtbarkeitsvorstellungen, Fruchtbarkeitsopfern zu tun und auch hier am wenigsten mit der Sündenbocktheorie eines René Girard. Für den Baldermythos kann Böldl sie überzeugend zurückweisen,²⁰⁸ für die Sagatradition möchte er sie aber letztendlich doch in Anschlag bringen: Der gewaltsame Tod von bedeutenden Mitgliedern der Bauerngesellschaft ist in den Anfängen in Erzählmustern gestaltet worden, die der mythischen Sphäre von Fruchtbarkeit, Ernteglück und Fruchtbarkeitsopfern entstammt. Wie diese frühesten, zum Teil noch in heidnischer Zeit entstandenen Erzählungen ausgesehen haben, wissen wir nicht; sie sind nicht nur im Laufe der mündlichen Überlieferungen durch christliche und andere Einflüsse stetigen Veränderungen ausgesetzt gewesen, sondern auch im Verlauf der Verschriftlichung literarisiert, d. h. nach den
Böldl 1999. [O]k var hann ǫllum mǫnnum harmdauði, því at hann hefir verit allra manna bezt at sér um alla hluti í fornum sið ok manna vitastr, vel skapi farinn, hjartaprúðr ok hverjum manni djarfari, einarðr ok allvel stilltr; hafði hann ok jafnan inn hæra hlut í málaferlum, vid hverja sem skipta var […] (Eyrbyggja saga, Kap. 37). Böldl 2005, S. 234 f. Böldl 2005, S. 236 f.: „Denn die Konstruktion der Figur Arnkell Þórólfsson und die Art und Weise, wie ihre Beseitigung narrativ konzipiert wird, legt die Vermutung nahe, daß diese Geschichte nur vordergründig von einem politischen Mord handelt.“ Vgl. Böldl 2005, S. 193: „Beide [René Girard und Hyam Maccoby, d. Verf.] isolieren die Tötungssequenz von ihrem letztlich eschatologischen Kontext und rekonstruieren einen quasi vor aller erzählerischen Verfaßtheit liegenden Urmythos, der mit einer mehr oder weniger historischen Szenerie in eins fällt. Tatsächlich aber erweist sich die Deutung des Balder-Mythos als Reinwaschung von einer mörderischen Kollektivschuld als kaum haltbar, wenn man diese Erzählung in der Gesamtanlage der eddischen Mythologie betrachtet.“
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spezifischen rhetorischen und anderen Vermittlungsprinzipien der europäischen Literaturtradition umgestaltet und sicherlich auch durch neue Elemente ergänzt worden. Ferner werden viele Traditionselemente irgendwann nicht mehr verstanden und sukzessive mit neuen Bedeutungen versehen worden sein. Andere verbleiben im Text isoliert als stumpfe oder blinde Motive; diese dem Plot scheinbar äußerlichen Elemente sind es in erster Linie, die Ansatzpunkte für die Rekonstruktion des ,religiösen Metatextsʻ der Sagas liefern.²⁰⁹
Aber es ist ja gerade Struktur und Plausibilisierungsmodell des Baldermythos, auf die sich diese Tötungsepisode gründet. Das ist die enigmatische Mythenstruktur, der „religiöse[ ] Metatext[ ]“, der sich sehr wohl, zumindest noch ein Stück weit, rekonstruieren lässt. Die Arnkell-Episode ist ein Gründungs-Mythologem, eine fundierende Erzählung. Sie zeigt die ursprünglich rituelle, später literarische Transformation Arnkells zur Gründergestalt, zum Spitzenahn. Und so wie noch dessen Vater Þórólfr bægifótr sämtliches Abgewiesenes, Abzuweisendes in diesem Prozess verkörpert, die in jeder Hinsicht gescheiterte Ahnenkommunikation, erweist sich Arnkell als geglückt transformiert. Die elogische Überhöhung seiner Gestalt hat wohl nichts mit der Gestaltung von „Opfermaterie“²¹⁰ zu tun, ist wohl auch nicht das „sinnstiftende, d. h. dem Gedeihen der Gemeinschaft dienende Opferritual[ ]“.²¹¹ Sie ist unmittelbares rituelles Erfordernis im Begräbniskontext und im Weiteren der Ahnenpflege.
8.2.2 Kongeideologien Tatsächlich weiß die altnordische Überlieferung von einer Fülle weiterer ehrloser Tode von Ahnengestalten, Anfangsgestalten zu berichten. Im Ynglingatal, in der Heimskringla wimmelt es von Königen, Fürsten, die allesamt merkwürdige, lächerliche, gewiss unwürdige Tode sterben, und die, für nordisches Verständnis noch unbegreiflicher, allesamt ungerächt bleiben. Ausgerechnet der wichtige, der prototypische, der erste menschliche Vertreter der Ynglingar, Fjǫlnir, stürzt im Vollrausch in ein Metfass und ertrinkt, und auch die Tode seiner Nachkommen sind kaum weniger bizarr. Darüber hinaus sind sie nahezu durchgehend kombiniert mit einem kaum weniger gewaltsamen, ‚unnatürlichenʻ Konzept von ehelicher Verbindung: Es ist die klassische ‚Anfängersituationʻ, die Kodierung der Ahnen, der Ersten, die, wenn auch in einer langen Reihe von abgewiesenen Alternativen, ihr Geschlecht legitimieren. Gro Steinsland möchte freilich gerade diese Erzählelemente als Teil einer altnordischen, paganen Vorstellung von Fürsten- oder Herrscherideologie sehen, seit Jahrzehnten plädiert sie in diesem Zusammenhang für ein Konzept der kongeideologi²¹²: der pagane Entwurf eines Modells und Vorbilds für den ‚eigentlichenʻ, ‚richtigenʻ Fürsten und Herrscher im Norden. Sie verweist wohl auf „the kings’ deaths, which are
Böldl 2005, S. 262. Böldl 2005, S. 242. Böldl 2005, S. 262. Siehe Steinsland 1991; Steinsland 1992; Steinsland 1994.
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most often dramatic and frequently dishonourable,“²¹³ ebenso auf den weiblichen Part der Verbindungen, den sie als „a type of ,Útgarðr-womanʻ“ fasst, „the women hail either from the realm of death, or from cold and far-away regions. Women thus represent the ,alienʻ.“²¹⁴ Und auch die moderne Forschung staune nach wie vor über diese Anhäufung von Skurrilitäten, noch dazu wenn man annehmen müsse, dass es sich beim Gedicht Ynglingatal um ein königliches Preisgedicht handle.²¹⁵ Der ,idealeʻ Herrscher unterhält offenbar durchgehend unnatürliche, erzwungene, nicht einmal auf herrschender Rechtsgrundlage geschlossene Mesalliancen, mit entsprechend illegitimen, von der Herrschaftsfolge in letzter Konsequenz ausgeschlossenen Nachkommen. Und doch bezeichnet Steinsland diese Verbindungen stets unbeirrt als „Heilige Hochzeit“ (det hellige bryllup), die Herrschaft legitimierte. Sie bleibt allerdings recht eigentlich die Antwort schuldig, auf welche Weise dies geschähe. Vielfach bemerkt erscheint gerade die Ethnie der Sami, im Besonderen deren Frauen, in der mittelalterlichen, nordischen Wahrnehmung als das ,ganz Andereʻ, das systemische Außen, zauberkundige Anderweltwesen, von deren mythischen Pendants, Trolle, Riesen, sie zumindest narrativ kaum zu unterscheiden sind, ja austauschbar auftreten.²¹⁶ Dieses starke Spannungsverhältnis, die hoch heterogene Herkunft der Herrscher aus verschiedenen Welten sei nun, so Steinsland, der Grund für deren bemerkenswert schmachvollen Tode.²¹⁷ Die Herrscher hätten sich deswegen gerade nicht durch Glück (hamingja, gæfa, gipta) ausgezeichnet, vielmehr durch ein dunkles Schicksal.²¹⁸ Wir hätten es hier mit einer spezifischen Mythologie des Todes zu tun, die durchaus Sinn mache in der Vorstellungswelt des Wikingers, die stark geprägt sei von Schicksalsgläubigkeit (skjebnetro).²¹⁹ Es sei the poem’s strong belief in fate, itself deriving from the origin myth which may have become attached to the Ynglingar tradition. Thus I have understood the kings’ extraordinary fate in connection with the tension between the worlds of the gods and that of the giants, as expressed in the origin myth. The descendant of such an extremely exogamous alliance carries in himself forces from the whole cosmos, from the worlds of gods and of the giants, which manifests itself in his exceptional fate.²²⁰
In vielen Variationen, immer wieder aufs Neue wird erklärt, der Tod des Königs sei „skjebnebestemt“ – eine Worthülse freilich, die (man muss es sagen, in nicht seltenen Zirkelschlüssen) nichts erklärt: Balders Tod ist in Steinslands Sinne Ausdruck der Vorstellung eines ‚schicksalsbestimmtenʻ Todes des Königs. Und weil der Schick-
Steinsland 2011, S. 23. Steinsland 2011, S. 23. Vgl. Steinsland 2011, S. 23. Vgl. Böldl 2009, S. 127 f. Vgl. Steinsland 2011, S. 17. Vgl. Steinsland 2011, S. 17. Steinsland 1991, S. 227. Steinsland 2011, S. 23.
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salsglaube ein fundamentales Element in der Königsideologie gewesen sei und des Königs Tod ebenso ein wesentlicher Bestandteil der nordischen Königsideologie sei,²²¹ manifestiere sich gerade in dessen Tod die „destruktive Macht des Schicksals“.²²² Balders Tod sei ein Schicksalsdrama („skjebnedrama“) gemäß des von ihr konstatierten, königsideologischen Grundprinzips: die Schicksalsbestimmtheit des Königstodes.²²³ Unabhängig davon, dass Steinsland Vorstellung von ,Schicksalʻ ihrerseits ganz vage bleibt, warum sollte der Tod durch Ertrinken, mit einer Heugabel, mit Pferdezaumzeug, nicht zuletzt im Spiel, auf der Jagd ,schicksalhafterʻ sein als der Tod auf dem Schlachtfeld? Diese Tode sind nicht schicksalhaft, tragisch sind sie ohnehin nur in einem sehr modernen, anachronistischen Verständnis von Gewalt und Gewalterfahrung. Sie sind infam, nicht akzeptabel, genauso wenig akzeptabel wie die Heiraten mit den ,unmöglichenʻ Sami-Frauen. Hier zeigt sich in allen Einzelheiten die Entsprechung zum französischen Ahnenkonstrukt, zum Modell der gestörten Mahrtenehe. Mahrtenehen gelingen nie, auf keine Weise zielen diese auf wie auch immer geartete Integrations- oder Vereinigungsvorstellungen ab: Schwanenfrauen, Schlangenfrauen, Mahre und Sami-Frauen werden für gewöhnlich nicht integriert. Wenn davon ausgegangen werden muss, dass die ebenso ,unmöglichenʻ Tode auf der gleichen Ebene liegen wie die glücklosen, extremen Exogamien, dann geht es nicht darum, mit Hilfe dieser Modelle Vorstellungen zu integrieren, sondern vielmehr Vorstellungen als nicht integrationsfähig abzuweisen, „für eine Unmöglichkeit [zu erklären]“.²²⁴ Im ausschließlich „dynastische[n] genealogische[n] Fokus“ der Saga sind diese Beziehungen (wie die Tode) Kategorienbrüche, „fatale Grenzüberschreitungen.“²²⁵ Schon die allererste Übertretung dieser Art des Königs Vanlandi nimmt ein böses, tödliches Ende, seine finnische Frau Drífa lässt ihn durch eine Nachtmahre töten. Skaði ist als Finnin konzipiert, die wohl mehr und mehr zur Naturliebhaberin mutiert, die die Bergwelt als ihren Sehnsuchtsort entdeckt, zunächst aber ist sie die Totenbraut, ihr Umgang sind die Toten, ob Balder, Njǫrðr oder Loki. Gerade bei der Verbindung des Erobererkönigs und Reichsgründers Haraldr hárfagri mit der Samenprinzessin Snæfriðr mochte man freilich lieber die Vorstellung einer Vereinigung von Gegensätzen im Vordergrund sehen. Die Ehe von Harald und Snæfriðr konzeptualisiere letztendlich ein Integrationsmodell, wenn auch ein durchaus schwieriges. Auf mythischer Ebene sei dies die Vereinigung der weiblichen riesischen Chaosmächte mit den männlichen göttlichen Ordnungsmächten. Auf diese Weise erhalte Herrschaft wesentliche fundierende und stabilisierende Elemente von außen, eben aus der als übernatürlich riesisch gekennzeichneten, samischen Sphäre.²²⁶ Auf realpolitischer Ebene scheint diese Vorstellung also einen schönen Einheitsgedanken abzubilden,
Vgl. Steinsland 1991, S. 233. Vgl. Steinsland 1991, S. 235. Vgl. Steinsland 1991, S. 235. Luhmann 2000, S. 18. Böldl 2009, S. 131. Vgl. Böldl 2009, S. 143.
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durchaus auch mit Blick auf ökonomische Interessen (etwa die samische Rentierzucht), im Besonderen reizvoll für ein gegenwärtiges politisches Selbstverständnis. Sie ist aber wohl genauso anachronistisch wie unsere modernen Vorstellungen zu Gewalterfahrungen. Mit einer mittelalterlichen Realität hat es wahrscheinlich nichts zu tun, noch weniger mit einem mythischen Verständnis von Gründung. „Eros og død“, wie Steinsland in ihrer gleichnamigen Untersuchung plausibel machen will, sind damit wohl nicht „de to hovedkomponenter i norrøn kongeideologi“.²²⁷ Mit lächerlichen Toden und unstandesgemäßen Hochzeiten, mit illegitimen Nachfolgern hat auch im Norden Herrscherideologie nichts zu tun. Dabei scheinen aber wohl tatsächlich Vorstellungen von legitimer Herrschaftsordnung im Ynglingatal eingeschrieben, allerdings jenseits seiner narrativen Strukturen.²²⁸ Sie erscheinen auf der lexikalischen, der Begriffsebene skaldischer Kenningar und Heiti. Olof Sundqvist verweist auf die Arbeit von Edith Marold, die gängige Namen, Bezeichnungen von Herrschern innerhalb der Skaldenpoetik untersucht hat, gleichermaßen mit der Absicht, einer norwegischen Vorstellung, einer ‚Ideologieʻ von Herrschaft näher zu kommen.²²⁹ Und diese haben ganz offensichtlich tatsächlich die Funktion, das Idealbild eines Herrschers zu charakterisieren, ein semantisches Spektrum an Begriffen zu entwerfen als Modell und Vorlage zum Verständnis von Königsmacht in Norwegen: There are poetical expressions, so-called heiti and kenningar as well as common appellations, which obviously had the function of characterizing the ideal image of the ruler. The semantic spectra of these expressions were thus important means of construing royal power in Norway. […]. Most of them refer to leadership, power and warlike qualities. A few connote wealth and generosity. Some kennings may emphasize religious aspects of the kings. The expressions in Ynglingatal thus indicate that certain features were expected of the ancient Svea rulers, such as leadership, power and warlike qualities, while religious aspects only played a minor role.²³⁰
Es ist ein Spektrum, das sich jedenfalls kaum vom in diesem Zusammenhang viel bemühten rex iustus-Konzept christlicher Provenienz unterscheidet, aber es ist das schiere Gegenteil von dem, was Steinsland entwerfen will. Der ,guteʻ und ,gerechteʻ Herrscher ist also nur insofern ein neues Ideal von Herrschertum, als dass der christliche Herrscher von Gottes Gnaden eingesetzt und gelenkt wird, nach göttlichem Plan. Aber wo weiters unterscheidet er sich in seinem Selbstverständnis vom idealen paganen? Es ist der tote König, der auf diese Weise markiert wird, der Ahne, gerade der, der nicht mehr dazugehört. Mit anderen Worten, es geht nicht um Herrschaft als solche, wie ideale Herrschaft auszusehen habe, es geht um den Anfang von Herrschaft, um die Setzung eines Anfangs. Es ist jene spezifische Konzeptualisierung, die keineswegs ausschließlich signifikant ist für den Norden. Es ist ein bestimmter, gut
So der gleichnamige Titel (Steinsland 1994). Vgl. Sundqvist 2005a, S. 97 Siehe Marold 1987, zit. n. Sundqvist 2005a, S. 97. Sundqvist 2005a, S. 97.
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umrissener mythischer Motivpool, eine Art Anfangssemiotik, die wohl Herrschaftskonstruktionen plausibilisiert, aber gerade nicht im Sinne einer Integration, Affirmation und Vorbildfunktion, vielmehr im Sinne einer Abweisung, einer Separierung der Alternativen.
8.2.3 Fjǫturlundr Die berühmteste (germanische) Ritualisierung eines solchen Anfangs schildert wohl Tacitus (Germ., Kap. 39). „Schreckliche Anfänge“, horrenda primordia, nennt er denn auch das so genannte Opfer im Semnonenhain, eine Opferhandlung, die von Abordnungen des suebischen Stammesverbandes in einem geheiligten Hain, stato tempore, also mutmaßlich zyklisch, vollzogen wurde. Schon auf der lexikalischen Ebene ist dieses Kapitel gesättigt mit Begriffen von Gründung, Anfang, Ursprung, Anciennität und einem entsprechend daraus abzuleitenden Herrschaftsanspruch einer Volksgruppe. Otto Höfler vermutet dieses Kultgeschehen in einem weitaus größeren Rahmen als dem eines „ländlichen Erntefestes“,²³¹ eines reinen Fruchtbarkeitskults, er verweist auf die große staatstragende Funktion dieses Opfers und er sieht die heroischen Helgi-Lieder ebenso wie den Mythos vom Tode Balders in dieser Tradition gegründet²³²: Auch der Seelenraum der Helgilieder ist nicht die Sehnsucht nach Erntereichtum und vegetativem Wohlergehen, sondern der königliche Bereich von Kampf, Sieg, Ruhm und geschichtlicher Größe. Helgi ist nicht der lebendige Inbegriff gedeihlichen Wachstums, sondern ein todgeweihter Held.²³³
Ein Mensch wurde im Hain getötet, so berichtet es auch Tacitus, aber die dort versammelten Suebenstämme „gemeinsamer Abstammung“, eiusdemque sanguinis, opferten hier an der „Wiege ihres Volkes“ (inde initia gentis) keinem Gott (auch wenn Tacitus in seiner interpretatio romana von einem ominösen regnator omnium deus berichtet, einem „Weltenherrscher“, der hier anwesend sei), vielmehr geht es um die sakrale Verwirklichung, die Vergegenwärtigung des Anfangs selbst. Hammerich möchte in dieser rituellen Handlungspraxis das schaurige Ausagieren eines kosmogonischen Mythos in allen Einzelheiten vermuten: die Schlachtung des Urriesen Ymir, seine Zerteilung durch Odin, Víli und Vé, das Zerreißen des Fleisches (zur Schaffung der Länder), das Zerbrechen der Knochen und Zähne (woraus Geröll und Steine entstehen), das Gehirn, das in die Luft geworfen wurde (um die Wolken zu formen). Das
Höfler 1952, S. 59. Vgl. Höfler 1952, S. 57: „[D]ie beiden ,Sagenʻ sind aus Kulten und Kultordnungen erwachsen, die in ihrem Wesen verwandt waren und darum in ihrer Entfaltung ähnliche Formen hervorbrachten. Doch während die Baldr-Mythen dies heilige Geschehen in die Sphäre der Götter, in die höhere Welt, erheben, spiegeln die Helgi-Sagen seine Vollziehung im Reiche der Menschen, der Geschichte.“ Höfler 1952, S. 60.
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werden auch für die Römer besonders „barbarische Riten“, ritus barbari, gewesen sein, derer sie doch einige gewöhnt waren.²³⁴ Gleichzeitig scheint dieser Ort des Geschehens mit stärksten Tabus versehen. Seine Anhänger mussten offensichtlich im höchsten Maße darauf bedacht sein, „den göttlichen Haininhaber, d. h. den ,allmächtigen Gottʻ […], der dort wohnen sollte, nicht zu verärgern“.²³⁵ Nur gefesselt durfte man diesen Ort betreten (wahrscheinlich identisch mit dem Fjǫturlundr, „Fesselhain“, der Helgakviða Hundingsbana II),²³⁶ versehentlich Gestürzte durften sich nur durch Rollen und Wälzen daraus entfernen. Vieles deutet darauf hin, dass hinter diesem Ritualgebaren kein (Asen)gott zu vermuten ist, es ist der vergöttlichte Tote, der Ahne, der dieses rituelle Verhalten zwingend einfordert. Dronke verweist in diesem Zusammenhang auf die griechischen Gefesselten par excellence Hera und Prometheus. Hera wird bekanntlich, vorgeblich als Racheakt ihres verstoßenen Sohnes Hephaistos, unlösbar an einen goldenen Thron gefesselt, den er selbst geschmiedet hat. Aber es ist nicht einmal die einzige Fesselung, die sie erdulden muss, auch durch Zeus selbst scheint sie diese rüde Behandlung erfahren zu haben,²³⁷ wenn auch noch weniger klar wofür. Gewiss, auch die Glücksgöttin Tyche wurde gefesselt, buchstäblich an ihre Stadt gefesselt, um ihr Verschwinden mit allen Mitteln zu verhindern, aber hier ist der Grund ein anderer. Gewisse (außernatürliche) Wesen wurden gefesselt, weil sie gefährlich waren, deren Beweglichkeit, Mobilität, musste unterbunden werden. So wurde der Kriegsgott Ares, ebenso verständlich, manches Mal gefesselt dargestellt.²³⁸ Eher komisch nimmt sich dann aus, dass selbst die Statuen des Dädalus, dermaßen kunstvoll, lebensecht gefertigt, wie es heißt, durch Fesseln am Fortlaufen gehindert werden mussten; ein Umstand, der aber wohl in die richtige Richtung weist, insbesondere wenn klar wird, dass die gefesselten Götter offenbar gerade die Götter der großen Maskenumzüge und Prozessionen gewesen sind. Dann aber erscheinen sie explizit als ‚gelösteʻ Götter: Zu festgesetzten, rituellen Zeiten, kontrolliert, ja erwünscht, konnten ihre Fesseln gelöst werden.²³⁹ Dazu passt auch die Tatsache, dass gerade Baumgötter („Götter des Pfeilers oder der Säule“²⁴⁰) sich als ‚Gefesselteʻ prä-
Vgl. Hammerich 1951, S. 231 f. Sundqvist 2005b, S. 252. Sundqvist vermutet hinter dem göttlichen Bewohner dieses Ortes, dem regnator omnium deus „vielleicht *Tiwaz oder Wotan“. Germ., Kap. 39, 3: Nemo nisi vinculo ligatus ingreditur, ut minor et potestatem numinis prae se ferens. si forte prolapsus est, attolli et insurgere haud licitum: per humum evolvuntur. („Niemand tritt ein, ohne mit einer Fessel gebunden zu sein, um die eigene Abhängigkeit und die Macht des göttlichen Wesens zu bekunden. Fällt einer zufällig zu Boden, darf er sich weder aufrichten lassen noch aufstehen; auf dem Boden wälzt er sich hinaus“). Siehe Il. 15, 18 – 21: „Denkst du nicht mehr, wie du hoch herschwebtest, und an die Füß’ ich / Zwei Ambosse dir hängt’, und ein Band um die Hände dir schürzte, / Golden und unzerbrechlich? Aus Aitherglanz und Gewölk her / Schwebtest du; ringsum traurten die Himmlischen durch den Olympos.“ Vgl. Merkelbach 1996a, S. 19 – 21, mit Verweis auf Meuli 1975a. Merkelbach 1996a, S. 21. Merkelbach 1996a, S. 21.
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sentierten. Merkelbach konstatiert wohl den durchaus „verwirrenden Charakter“²⁴¹ dieser Kultempfänger, bleibt aber letztendlich eine Erklärung für deren Eigenart schuldig. Maskenumzüge sind im alten Griechenland zunächst (trotz ihres prima facie ausgelassenen, heiteren Gebarens) Totenumzüge, Toten- und Ahnenfeste. Baumstümpfe sind dabei die archaischsten Konzepte von Ahnenverkörperung. Die nordische Religion kennt diese Vorstellung genauso wie die griechische: Freyr der Holzmann, Hera der Baumstumpf, die Holzbraut, „kreuz und quer verschnürt“,²⁴² ehe sie von Zeus ‚freigemachtʻ wird zum, wir wollen es dabei belassen, hieros gamos. Selbst die golemgleiche Beweglichkeit der Statuen des Dädalus findet hier ihren Platz. Allesamt müssen sie an der Unnatürlichkeit ihrer Beweglichkeit gehindert werden, Unbelebtes, das sich jedenfalls nicht unkontrolliert belebt zeigen darf. Die Bewegungseinschränkung der Kultteilnehmer, das Wälzen im Dreck, ist damit zum einen eine Demütigung, eine buchstäbliche Selbsterniedrigung und Unterwerfungsgeste, eine Demonstration der eigenen „inferiority“,²⁴³ gleichzeitig aber auch Solidarisierung, rituelle Gleichschaltung mit den Kultempfängern, den Toten. Dronke interpretiert den (versehentlichen) Sturz als „an action signifying a fall from grace“²⁴⁴ und verweist auf Parallelen in den späteren nordischen Quellen. Es sind die nämlichen, die auch für den Ahnenkomplex bezeichnend sind. König Hrollaugr rollt von einem Grabhügel herab als konkretes Zeichen seiner Degradierung, seines Verlusts an Legitimation für sein Amt, das er freilich bis dato gerade durch den Sitz auf nämlichem Grabhügel, als unmittelbar von den Ahnen verliehen demonstrieren konnte (Haralds saga ins hárfagra, Kap. 8). Und auch Dronke denkt an den Hengst Freyfaxi (Hrafnkels saga, Kap. 3), „the sacred stallion, disgraced by a human rider, rolls over twelve times to express its loss of status.“²⁴⁵ Letztendlich aber sei es fraglich, ob es sich hier wirklich nur um „an acknowledgement of disgrace“²⁴⁶ handle oder nicht vielmehr um einen Akt der Wiedergutmachung, der Kompensation.²⁴⁷ Aber wofür? Im Umgang mit den Toten, den Ahnen ist diese Schuld, die ausgeglichen werden muss, stets die der Lebenden, die Schuld ihrer eigenen Lebendigkeit.
8.2.4 Das Mädchen Hainuwele In seinem Aufsatz Der Mythos von Balders Tod verwirft Jan de Vries frühere Ansätze etwa eines Sophus Bugge, der den Baldermythos als Nachahmung der Christuslegende sehen möchte, ebenso wie den Neckel’schen (oder Frazer’schen) orientali-
Merkelbach 1996a, S. 29. Merkelbach 1996a, S. 21. Dronke 1992, S. 658. Dronke 1992, S. 658. Dronke 1992, S. 658, Anm. 6. Dronke 1992, S. 661. Vgl. Dronke 1992, S. 661.
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schen. Er schließt wie auch immer geartete Auferstehungs-Motive für Balder aus, klipp und klar stellt er fest: „[E]r stirbt und bleibt tot.“²⁴⁸ Balder sei gerade der Gott, der von den Skalden immer als gestorben vorgestellt werde, eine Rückkehr werde von Odin selbst unmissverständlich zurückgewiesen, und es sei wohl auch Odin gewesen, der mit Balders Leichenbrand die erste Leichenfeier dieser Art eingesetzt habe.²⁴⁹ Der Baldermythos behandle letztendlich „das Problem des Todes“,²⁵⁰ es gehe darum, auf welche Weise der Tod in die Welt gekommen sei. Und diese Todessymbolik sieht er ihrerseits tief mit einer Initiationssymbolik verbunden.²⁵¹ Um diesen Gedanken zu exemplifizieren, vergleicht de Vries den nordischen Baldertod mit einem der bekanntesten indonesischen Mythen, die rituelle Tötung des Mädchens Hainuwele auf der Insel Ceram.²⁵² In einem rituellen Tanz wird Hainuwele („Kokospalmzweig“) von ihrem Stamm zu Tode getrampelt, ihr Leichnam wird zerstückelt und vergraben und daraus entstehen nun die einzelnen Nahrungspflanzen des Stammes.²⁵³ Nun scheint
de Vries 1955, S. 50. Vgl. de Vries 1955, S. 50 f. de Vries 1955, S. 46. Gerade diesbezüglich weist allerdings de Vries Argumentation logische Unstimmigkeiten auf. Wenn er denn Balder als Vegetationsgottheit ablehnt und gewiss zu Recht eine Rückkehr nach Quellenlage für gänzlich ausgeschlossen hält, vermag er doch den Baldermythos als Initiation zu lesen. Er entwirft eine fantasievolle Szene einer Knabeninitiation: „[D]er Initiand steht in einem Kreis von Männern, die ihn mit Waffen aller Art bewerfen; Odin, als Hǫðr vermummt, wirft den Mistelzweig und der Initiand stürzt zu Boden, durch eine übermächtige Suggestion davon überzeugt, dass er von einem Speer tötlich [sic] verwundet ist. Aber nach einiger Zeit wird er mit derselben Pflanze berührt; jetzt fängt das neue Leben wieder an zu strömen: er ist als Odinskrieger wiedergeboren“ (de Vries 1955, S. 58). Aber das scheint doch eine Wiedergeburt, die, wie de Vries schließlich selbst bemerkt, an keiner Stelle im Baldermythos erwähnt wird. Egal wie symbolisch, wie suggestiv oder wie wirklich der Tod des Initianden im Ritus dargestellt oder empfunden wird (die Vorstellung der Initianden als Tote, die in keiner Weise mehr an der Gesellschaft teilhaben können, gehört zu einem gängigen Bild in diesem Zusammenhang), und egal wie schwierig und existenziell und vielleicht manchmal auch tödlich die damit verbundenen Aufgaben auch waren, Ziel war es dennoch, die gestellten Herausforderungen zu bewältigen, ins Leben zurückzukehren, als ,neuerʻ Mensch, in einem neuen Status (grundlegend zur Begriffsbildung van Gennep 1909 sowie Turner 1967). Auch Schjødt verweist auf eben jene Widersprüche: Ein Mythos, der abgeleitet sei von einem Initiationsritual (mit Tod und Wiedergeburt als zentrale Elemente), könne nicht gleichzeitig die Unverrückbarkeit des Todes zum Thema haben, noch dazu, wenn der von Odin gezeugte Váli der neugeborene Balder sein soll (vgl. Schjødt 2003, S. 267). Vgl. Jensen und Niggemeyer 1939. Vgl. de Vries 1955, S. 52 f. De Vries gibt die nach seiner Ansicht maßgeblichsten Elemente des Mythos wie folgt wieder: „1. Geburt des göttlichen Mädchens aus einem Kokospalmzweig (das bedeutet das Wort Hainuwele). Sie spendet unermessliche Reichtümer. 2. Veranstaltung eines Maro-Tanzes; die Hainuwele steht in der Mitte und verteilt kostbare Gaben. Die Männer töten sie, indem sie das Mädchen in eine Grube drängen und die Erde mit den Füssen feststampfen. 3. Ihr Vater findet den Leichnam, zerschneidet es in viele Stücke, die er in den Boden vergräbt; daraus entstehen die Nahrungspflanzen der Menschen, besonders die Knollenfrüchte. 4. Die Menschen werden verflucht. Die Unterweltsgöttin Malua Satene baut ein grosses Tor in der Form einer neunfachen Spirale, so wie die Menschen beim Maro-Tanz aufgestellt gewesen waren. Sie scheidet hier die Menschen von den Tieren und den Geisterwesen und verkündigt ihnen, dass sie nach dem Tode zu ihr gelangen werden“ (de Vries 1955, S. 52).
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dieser Vergleich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ganz glücklich: Zweifelsohne ist es ein großer, transkultureller Sprung, den de Vries hier in Angriff nimmt, eine schwieriger Vergleich also, der aber nicht per se illegitim ist. Das tertium comparationis muss allerdings dann besonders sorgfältig begründet werden. De Vries ist sich dessen wohl bewusst, ohnehin verweist er auch auf die aus seiner Sicht signifikantesten Unterschiede, Balder werde gerade nicht zerstückelt, der Tod auf dem Thing durch Beschießen und Bewerfen sei wohl etwas ganz anderes als das zu Tode Tanzen,²⁵⁴ wie überhaupt der germanische Mythos kriegerischer Art sei, der aus Ceram entstamme primitiven agrarischen Vorstellungen.²⁵⁵ Als ausschlaggebendes und wichtigstes Vergleichsmoment sieht er die Todesproblematik, der Tod zeige sich hier als „notwendiger Bestandteil des Lebens“.²⁵⁶ Hier wie da werde „[i]n fast klassischer Weise […] das Todesproblem ausgesprochen.“²⁵⁷ Nun lässt sich nicht leugnen, dass in beiden Mythen außernatürliche Wesenheiten zu Tode kommen. Aber Balder, der doch auf gleiche Weise einen unerklärlichen wie unerklärten Tod erleidet, wird gerade nicht zum Lieferanten von Nahrungspflanzen. Der Hainuwele-Mythos gehört zu einer Gruppe neolithischer Pflanzermythen, die durch den Ethnologen Adolf E. Jensen seit Ende der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts systematisch erforscht und im westlichen Kulturkreis bekannt gemacht wurden. Im Zentrum dieser Mythen stehen die so genannten Dema-Gottheiten, „große[ ] Gestalten der mythischen Urzeit, wunderbare Wesen, bald als Mensch, bald als Tier aufgefaßt, die alles, was den Menschen dieser Kultur von Wichtigkeit ist, hervorgebracht und die bestehende Weltordnung begründet haben.“²⁵⁸ Die Schöpfungstätigkeit, die diese übernatürlichen Wesen in Gang setzten, habe dabei mit unseren üblichen Hochgottvorstellungen nichts zu tun, dennoch sei ihre Rolle in den Kulten ebenso zentral, die Ordnung, die diese etablierten, auf gleiche
Tatsächlich gleichen sich das Konzept Tanz und Spiel (was von de Vries gerade als eine der größten Differenzen der beiden Mythen wahrgenommen wird) in ganz besonderer Weise: Tanz wie Spiel sind menschliche Simulationsprogramme. Johan Huizinga selbst verweist auf den Tanz als „reines Spiel“, er bilde „eine der reinsten und vollkommensten Formen des Spiels“ (Huizinga 2004 [1938], S. 180). Hier wie da gelten die klassischen Voraussetzungen des Spiels, wie sie Huizinga entwirft: „Heraustreten aus ihm [dem Leben, d. Verf.] in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz“ (Huizinga 2004 [1938], S. 16), „außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden“ (Huizinga 2004 [1938], S. 17), das Spiel unterbreche nachgerade diesen Prozess, schließlich gehöre dazu „Abgeschlossenheit und Begrenztheit“ sowie „Wiederholbarkeit“ (Huizinga 2004 [1938], S. 18). Es sind Konzepte, die die menschliche Kognition als ,Fiktionʻ, ,nicht wirklichʻ, gegebenenfalls ,konsequenzenlosʻ konstruiert wie rezipiert. Mit anderen Worten, ein Wurfspiel ist ebenso wenig auf seinen ,eigentlichenʻ Effekt gerichtet (Verletzungen, Todesfolge) wie der nicht minder ,eigentlichʻ aggressive Akt des Trampelns auf die Erde. Vgl. de Vries 1955, S. 54. de Vries 1955, S. 52. de Vries 1955, S. 52. Jensen 1966, S. 9 f.
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Weise verbindlich.²⁵⁹ Jensen wählt als Bezeichnung für diese Wesenheiten der mythischen Anfangszeit den Marind-Anim Ausdruck für „Vorfahren“: Dema (als allgemein zusammenfassender Oberbegriff für die ethnologischen Vorstellungen von „Stammes- oder Kulturheroen“, „Transformer“, „Ahnen“).²⁶⁰ Das Kernstück der Mythen sei die Tötung der Dema-Gottheit, wobei das eigentliche Motiv der Tötung aber kaum deutlich werde: [D]ie Gottheit existiert seitdem im Totenreich oder verwandelt sich selbst in das Totenhaus. Aus dem Leichnam der getöteten Gottheit entsteht die Nutzpflanze, und das Essen der Pflanze ist darum in Wahrheit ein Essen der Gottheit. Da jene oberste Dema-Gottheit neben ihrer menschlichen Gestalt auch die von Tieren – vor allem die des Schweines – hatte, so ist auch das Töten des Schweines eine vollgültige „Darstellung“ jenes erschütternden Urzeitvorganges, den immer wieder darzustellen für die Menschheit nichts anderes bedeutet, als sich stets von neuem an jenes göttliche Geschehen zu erinnern, das am Anfang der Dinge steht, von dem sich alles das ableitet, was heute auf Erden ist.²⁶¹
Es ist eine Denkfigur, für die Jensen nun eine Kontinuität plausibel zu machen versucht über Jahrtausende und viele Kontinente hinweg. Er schlägt einen Bogen vom alten Griechenland nach Südamerika, von Afrika bis hin zum rezenten Naturvolk der Wemale des indonesischen Archipels mit dem Ziel, dieses weltweit verbreitete Mythologem des getöteten Gottes im Zusammenhang mit der Entstehung des Ackerbaus im frühen Neolithikum plausibel zu machen. Die „getötete Gottheit“ sei damit Produkt des „Weltbild[s] einer frühen Pflanzer-Kultur“.²⁶² Nun ist sich auch Jensen der methodologischen Schwierigkeiten bewusst, hier wie überall ist es der pankulturalistische Ansatz, der als einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte an seiner Arbeit gesehen wird, gleichzeitig aber verwirft er zu Recht den psychologistischen Ansatz des ,kollektiven Unbewusstenʻ eines C. G. Jung, also den Grund für diese Gemeinsamkeiten in überkulturell angelegten ,Archetypenʻ des menschlichen Seelengrundes zu suchen, dass in der „gleichen Veranlagung der menschlichen Psyche“ die „unabhängige mehrfache Entstehung von Kulturgütern“ begründet sei.²⁶³ Ebenso problematisch erscheinen ihm die frühen Zugänge der religionsgeschichtlichen Forschung zu den Dema-Vorstellungen: Da kein eigentlicher Hochgottglaube vorhanden gewesen sei, sei diesen Völkern häufig genug überhaupt ein Götterglaube abgesprochen worden.²⁶⁴ Sicher sei aber der übliche Opferbegriff auf das rituelle Töten in den Kulthandlungen jener Pflanzerkulturen kaum mehr anwendbar: Es zeigt sich dabei, daß die eben erwähnten sogenannten Menschen- und Tieropfer bei den echten Vertretern dieser Kultur zunächst gar nichts mit der Bezeichnung Opfer in dem Sinne zu tun
Vgl. Jensen 1966, S. 10. Jensen 1966, S. 10. Jensen 1992 [1951], S. 231. Jensen 1966, S. 27. Jensen 1966, S. 112 f. Vgl. Jensen 1966, S. 9.
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haben, wie ihn spätere Kulturen mit diesem Wort verbinden. Es ist bei ihnen nichts anderes als die festlich gestaltete Wiederholung des Urzeitvorganges selbst. Das göttliche Geschehen soll noch einmal geschehen – vor allem zur Erinnerung und auch, […] um die nachfolgende Jugend in die Ordnung der Welt einzuweihen. Insofern repräsentiert natürlich das getötete Wesen – Mensch oder Tier – die Gottheit selbst in dem gleichen Sinn, wie bei uns auf der Bühne ein Darsteller etwa den König Lear repräsentiert und während des Spieles mit ihm identisch ist. Die Gottheit wird nicht „sich selbst zum Opfer gebracht“, wie man gelegentlich gesagt hat. Es wäre vielmehr vorsichtiger und auch richtiger, wenn im Hinblick auf diese ganz bestimmten Tötungsvorgänge bei echten alten Pflanzervölkern die Bezeichnung Opfer überhaupt vermieden würde. Es läßt sich zeigen, daß gerade bei diesen Völkern auch in bestimmten Zeremonien ausgeführte Tötungen – im Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit der Felder, der Herbeiführung des Regens oder der Behebung von Unfruchtbarkeit bei Mensch und Tier – nicht Regenopfer, Fruchtbarkeitsopfer oder dergleichen sind, sondern nur Darstellungen des Urzeitvorganges, die die Erinnerung lebendig erhalten.“²⁶⁵
Der Mythos erklärt also mithilfe des Denkmodells eines grausamen, unerklärlichen Todes die Grundlagen einer Kultur, mithilfe dieses Denkmodells wird es im Kult ausagiert. Im Meisten kann Jensen zugestimmt werden, freilich ist dessen Vergleich mit einem Theaterstück nur insofern haltbar, als dass die äußeren Bedingungen zur Aktivierung einer Fiktion die gleichen sind, indes tritt der König Lear des Schauspiels danach tatsächlich wieder heraus ins gewöhnliche, profane Leben, das zerstückelte Menschenopfer bleibt göttlich transformiert – nicht lediglich zu Erinnerungszwecken oder zur Belehrung der Jugend, es ist das Ritual selbst, das diese Transformation ebenso wirksam wie unumkehrbar macht. Hier zeigen sich jene horrenda primordia in extenso: Männer wie Frauen werden auf die unterschiedlichsten Arten gequält, gedemütigt, missbraucht, sprich entmenschlicht, bis sie schließlich an ihren Verletzungen sterben und sich im Sterben transformieren.²⁶⁶ Jensen nennt sie bereits göttlich
Jensen 1992 [1951], S. 232. Vgl. Jensen 1966, S. 28 f. Über den Dema Geb, den Begründer der Bananenstaude, wird erzählt, „daß er häßlich und stachelig aussah, weil sein Körper ganz mit Seepocken überzogen war, so daß ihn keine Frau wollte. Als er eines Tages am Strande fischte, sah er einige Mädchen herannahen, vor denen er sich seines stacheligen Körpers wegen schämte und sich vollständig in den Sand verkroch. Die Mädchen gruben ihn aus, und die aus dem Dorf herbeigeeilten Leute begannen mit Grabstöcken und Kokos-Öffnern seinen Körper zu reinigen und die Seepocken abzukratzen. Gegen Abend schleppten ihn die Männer in den Busch, päderastierten ihn und bestrichen ihn vollständig mit Sperma, damit sein wunder Körper geheilt und wieder glatt werde. Dazu sangen sie ein Lied, das noch heute bei den Fruchtbarkeits-Zeremonien für die Bananen gesungen wird. In der Nacht, als Geb eingesperrt war, wuchs aus seinem Nacken eine große Bananenstaude, die bis zum Morgen schon Früchte trug. Die Einreibung des Körpers mit Sperma soll die Ursache für die Entstehung der Bananen gewesen sein. Die Leute vollführten darauf ein großes Fest und schmückten den Festplatz mit Bananen, die sie an GabelÄsten aufhängten, wie man dies heute bei jedem Fest zu tun pflegt. Ein anderer Mann, der zu dieser Feier erschienen war, verwandelte sich in eine Areka-Palme. Geb, der immer noch eingesperrt geblieben war, wurde häufig von den Männer [sic] päderastisch mißbraucht, bis er eines Nachts zum Dach des Hauses hinauskletterte und sich an einer Yams-Ranke zum Himmel hinauf begab, wo er sich noch heute als Mond befindet. Die Flecken im Mond rühren von dem unreinen, mit Wunden bedeckten Körper Gebs her.“
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von Anfang an, genau genommen aber erhalten sie ihren Status der Göttlichkeit, der Übernatürlichkeit erst durch diese Transformation. Von zentraler Wichtigkeit sind dabei die erstmals kultivierten Nahrungspflanzen, seien es Knollenpflanzen, Yams, aber auch Kokos, Bananen. Aber die mythischen Urzeit-Menschen sind keineswegs nur Quelle einer existenziellen Nahrungsgrundlage, sie sind gleichermaßen Ursprung vieler weiterer kultureller Errungenschaften, ideeller wie materieller Natur, soziogonischer, kosmogonischer, astrologischer Vorstellungen, Riten, technischer Fortschritte. Das Dema-Wesen, ‚der Vorfahreʻ, schafft das Zusammenleben, Ordnung überhaupt, das Diesseits, das Jenseits als unhintergehbaren Teil der conditio humana, nicht einmal im eigentlichen Sinn den Tod, sondern viel eher, welchen Platz er in diesem neu geschaffenen Ordnungskonzept fände: Die berühmteste mythische Gestalt der Kiwai auf Neuguinea ist Sido, er wird im Kampf getötet und ist der erste Mensch, der stirbt, wie es heißt: Er muß die erste Totenreise antreten und dadurch für alle Menschen den Weg zum Totenreich öffnen. Im Totenreich, in dem es kein pflanzliches Leben gab, läßt er dieses auf die gleiche Weise entstehen, wie sein mythischer Partner Soido […] es auf Erden hervorbringt. […]. Nach seiner langen Totenreise, die er als spirit vollbringt, kommt er ins Totenreich, in dem er alles für die sterblichen Menschen vorbereitet. Vor allem baut er das große Totenhaus, das in allem ein genaues Abbild des Darimo-Hauses bei den Kiwai [orig. gesperrt] ist, in dem sich alle Kult-Handlungen vollziehen. Mit dem Bau eines Darimo-Hauses sind deshalb eine Fülle von Zeremonien verbunden, die sich ausdrücklich auf jene Urzeit-Geschehnisse und insbesondere auf die Totenreise des Sido beziehen. Es wird ebenso wie jenes Totenhaus mit einem Schwein identifiziert, indem der Oberkiefer eines Wildschweines oben und der Unterkiefer unten an der Tür angebracht werden, so daß man durch das Maul des Schweines in sein Inneres hineingeht.²⁶⁷
Durchaus beachtlich ist hier die Übereinstimmung in der Konzipierung des Jenseitsaufenthaltsortes der Kiwai als Gebäude in Gestalt eines Schweines und der Grabhügel als Schweinekobel im Norden. Und auch im Norden ist das enge Verhältnis zwischen Vanen und Schweinen ebenso einschlägig wie rätselhaft, es kann an dieser Stelle zunächst nur angedeutet werden (siehe Kap. 13.3): In poetischer Umschreibung kann das Schwein als vaningi „Abkömmling der Vanen“ („Vanr-born one“) erscheinen.²⁶⁸ Ein Name mit dem Gerðr wiederum Freyr selbst bezeichnet (vgl. Skm 37),²⁶⁹ auf gleiche Weise wie der viel zitierte Beiname sýr („Sau“) Freyja vorbehalten ist: Die Art dieser Schweinegleichheit Freyjas ist häufig diskutiert worden – mit wenig einleuchtenden Ergebnissen, noch weniger plausibel erscheinen Schweineeigenschaften für Freyr. In ihrer Untersuchung über das Schwein in der (religiösen) Weltsicht des Nordens kommt Lenka Kovárová jedenfalls zu einem eindeutigen und kaum überraschenden Ergebnis: „The [b]oar is not a [s]ymbol of [f]ertility“:
Jensen 1966, S. 40. Vgl. Gade und Marold 2017, S. 900. Vgl. Kovárová 2011, S. 109.
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Another reason for this interpretation is the obvious link between the boar and Freyr and Freyja, who are said to be gods of fertility […]. The boar has thus mainly been interpreted in their shadow, only a few scholars ever paying interest to the boar itself. Nonetheless, on the basis of evidence which concentrates first and foremost on the boar itself […], it is clear that there is nothing [kurs. d. Verf.] in the context of Old Nordic religion which connects the animal with fertility.²⁷⁰
Das Heiti scheint indes unmissverständlich, es impliziert, Schweine und Vanen seien als Familienangehörige, als Verwandte zu betrachten. Und wenn sich nun die Vanen als Verstorbene darstellen, so wird auch im Norden das Schwein als weitere Verkörperung, als Inkarnation des verstorbenen, vergöttlichten Ahnen betrachtet werden müssen.²⁷¹ Dieser bedeutsame Zusammenhang wird uns später noch beschäftigen, denn bezeichnenderweise findet er gerade in einem der populärsten Mythologeme des antiken Griechenlands einen weiteren Niederschlag. Zunächst aber ist bei den Pflanzerkulturen Neuguineas die Funktion des Herrschers im Totenreich, des Wegbereiters und Vorgängers unlöslich mit einer primordialen Schöpfertat bzw. Transformation des Spitzenahns verbunden. Auch die erste Frau der Kiwai, Satene, verlässt das Diesseits, bei ihrem Weggang spricht sie zu den Menschen: Ich werde noch heute von euch gehen, und ihr werdet mich nicht mehr auf der Erde sehen. Erst wenn ihr gestorben seid, werdet ihr mich wiedersehen. Aber auch dann müßt ihr eine beschwerliche Reise antreten, bevor ihr zu mir kommt.²⁷²
Der irische Totengott Donn, der grausam zu Tode gekommene Sohn des ersten menschlichen Landnehmers Míl, spricht ähnliche Worte und stellt seiner Nachkommenschaft eine wohl vorbereitete, jenseitige Wohnstatt in Aussicht. Auch der altindische Yama ist ,der Erste, der den Weg gefunden hatʻ. Der persische Yima, wenngleich in seiner ureigensten Funktion als Jenseitsherrscher schon verblasst, lässt eine feste Burg bauen,Wiesen anlegen, ,das Paradiesʻ für all die Menschen, die zu ihm kommen. Diese Funktion wurde schon ausführlich angesprochen, es ist die so genannte III. Grundanschauung von Hermann Güntert: „Der erste Gestorbene wird Herrscher im Totenland“, „[d]er erste Tote ist Herr der Seligen“ und nicht zuletzt ist „[d]er erste Mensch und Sterbliche […] der Ahnherr des Menschengeschlechts.“²⁷³ Die DemaHelden haben mit dem Ende der Urzeit ihr Wirken abgeschlossen, sie greifen nicht mehr in das Geschehen auf der Welt ein und haben auch keine Verbindung mehr zu den Menschen. Sie werden zu außernatürlichen Wesenheiten, zu Herrschern im Totenreich, in den Mond versetzt oder zum Mond selbst.²⁷⁴
Kovárová 2011, S. 211. Auch Kovárová denkt zumindest in diese Richtung, indem sie das Schwein als ‚Totem-Tierʻ („its possible ,totemicʻ quality“) betrachten möchte (Kovárová 2011, S. 212). Jensen 1966, S. 50. Güntert 1923, S. 393. Vgl. Jensen 1966.
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Genau unter diesem Aspekt ist der Baldermythos und die frühen Pflanzermythen vergleichbar, als spezifische Konzeptionierungen von Ahnen- und Gründergestalten, wobei die eigentliche Gründerleistung von Balder (wie im Übrigen ausnahmslos aller anderen Ahnengestalten, die wir bisher betrachtet haben) nicht in gewissen materiellen, ackerbaulichen Fruchtbarkeitskonzepten zu sehen ist, vielmehr in einer genealogisch legitimierenden, gegebenenfalls kosmogonischen Funktion. Es sind ja im eigentlichen Sinne nicht Schöpfungstaten, die diese Kulturheroen und -heroinnen begehen, sie sind in diesem Sinne gerade nicht Transformer, sondern eher Transformierte. Sie verwandeln sich zwar ,von selbstʻ in die lebenswichtigen Dinge, Nahrungspflanzen, sie bringen sie aus ihrem Körper hervor, aber sie tun das kaum aus eigenem Antrieb, vielmehr in einem grausamen, pervertierten Akt der Zerstückelung oder als Ergebnis eines bizarren Ausscheidungsprozesses, sei es als Defäkieren, Urinieren, Schwitzen, Abschuppen der Haut. Tatsächlich produziert das Mädchen Hainuwele diese Reichtümer, indem sie ihre Notdurft verrichtet, ihr „Kot [bestand] aus wertvollen Gegenständen, wie chinesischen Tellern und Gongs, und ihr Vater Ameta wurde sehr reich.“²⁷⁵ Auch beim großen Maro-Tanz verteilt sie auf diese Weise Korallen und Porzellan, Messer und goldene Ohrringe, der Wert der Gegenstände wächst von Nacht zu Nacht, die dermaßen Beschenkten freilich werden immer misstrauischer. Schließlich beschließen sie, das Mädchen zu töten.²⁷⁶ Es ist insbesondere die Eigenart dieser Gegenstände, nicht zuletzt die Art ihrer Produktion, die an einem hohen Alter des Mythos zweifeln ließ. So lehnt Jonathan Z. Smith in einer kritischen Neuwürdigung des Mythos die Lesung Jensens ab: Jensen […] understands the tale to describe the origins of death, sexuality, and cultivated foodplants. The myth, it is claimed, is a description of human existence as distinct from ancestral times – with the act of killing […] as the means of maintaining the present order. […]. Jensen has demonstrably misread his own text.“²⁷⁷
Smith kritisiert, dass im Mythos keinerlei Hinweis darauf zu finden sei, dass Sexualität oder Tod ein Resultat des Mordes an Hainuwele sei, die Kultivierung von Nahrungspflanzen möchte er ebenso wenig als Konsequenz ihres Todes sehen. Schließlich seien die Menschen als sterbliche, sexuelle Wesen bereits Voraussetzung für den Mythos und gerade nicht sein Ergebnis. Nun kann man die Tatsache, dass die Kokospalme offenbar schon existierte, das Mädchen also recht eigentlich ein Abkömmling dieser gewesen sei und diese keineswegs erschaffen habe, kaum als Argument einer Fehllesung gelten lassen. Gerade hier stößt man auf das allseits bekannte Anfangsparadoxon, das Dinge bereits voraussetzen muss, die es doch erst begründen sollte. Daneben hält Smith aber auch die ‚doppelte Fremdheitʻ der Gegenstände, die das Mädchen produziert, Kot wie chinesisches Importgut, für auffallend. Gerade dieser
Jensen 1966, S. 48. Vgl. Jensen 1966, S. 48 f. Smith 1982, S. 97.
8.3 Mondsymbolismus
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Umstand verweise auf das späte Alter des Mythos (16./17. Jh.). Damit sei ein typischer cargo-Kult gefasst, der bezeichnend sei für unterlegene, primitivere Stammesgesellschaften im Kulturkontakt mit überlegenen: „The myth of Hainuwele is not a tale of the origin of death or of yams; it is a tale of the origin of ‚filthy lucreʻ, of ‚dirty moneyʻ.“²⁷⁸ Es gehe also keineswegs um den Ursprung der ceramesischen Kultur, vielmehr um den Ursprung einer sozialen Krise.²⁷⁹ Aber das Mythologem muss bereits als solches existiert haben,²⁸⁰ und natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass damit ein aktuelles soziales Problem neu semantisiert werden sollte. Aber das Konzept von Fremdheit, Inkongruenz, der Bruch von Konventionen war diesem Mythos bereits inhärent und die Ungewöhnlichkeit, die Unverfügbarkeit, kurz das buchstäblich Außersystemische chinesischer Importgüter konnte dafür genutzt werden. Die merkwürdig pervertierte Art der Hervorbringung ist eine massive „incongruity“,²⁸¹ die den Ceramesen wohl absonderlich genug vorkommen musste. Aber gerade (Aus)scheidungs-Motive sind in unzähligen Variationen Bestandteil paradoxen, buchstäblich ,abstoßendenʻ Gründungsgeschehens.
8.3 Mondsymbolismus 8.3.1 Draupnir der Tropfer Die wunderbare Fähigkeit des Mädchens Hainuwele, unbegrenzt Reichtum zu produzieren, scheint auf merkwürdige Art eine Entsprechung im Baldermythos zu finden. Vermag nicht auch Balder am laufenden Band ,Güterʻ zu produzieren? Von seinem Ring Draupnir dem „Tropfer“ tropfen jede neunte Nacht acht weitere gleichgroße Ringe ab. Wie sehr auch immer wir dieses Bild bereits als Metapher werten wollen, so ist es doch dem Konzept der biologischen Ausscheidung, der Absonderung von Flüssigkeit entnommen, einer sich stets reproduzierenden Flüssigkeit, deren Ursprung wir in letzter Konsequenz im menschlichen, zumindest einem natürlichen, biologischen Körper vermuten können. Die Idee eines fantastischen Flüssigkeitsbehälters und einer wunderbaren, magischen, potenten Flüssigkeit darin findet sich wiederum nahezu durchgehend in mondmythologischen Vorstellungen. Rabie Ha Smith 1982, S. 98. Vgl. Mack 1987, S. 42. Vgl. Mack 1987, S. 43. Burton Mack (auch wenn er grundsätzlich die Neuinterpretation des Hainuwele-Mythos im Sinne Smiths für bedenkenswert hält) will sich damit nicht zufrieden geben: „What strikes us as surprising, […] is that Smith is prepared to acknowledge an archaic mythologem of the killling of the dema […]: ‚In primordial times, when Yam Woman, Sago Woman, or some other similar figure mysteriously produced a previously unknown form of food, the figure was killed, the food consumed, and thereby, acculturatedʻ [Smith 1982, S. 100, d. Verf.]. What if we were to accept Smith’s critique of Jensen’s reading of Hainuwele and were still left with this? Smith does not tell us what to do with it.“ Mack 1987, S. 42.
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inuwele setzt ihr eigenes Totenfest ein und wird explizit oder implizit mit dem Mond gleichgesetzt, nach ihrem Tod erscheint zum ersten Mal, wie es heißt, der Vollmond am Himmel.²⁸² Der geschundene Geb klettert eines Nachts aus dem Dach des Hauses an einer Ranke zum Himmel hinauf, wo er zum Mond wird.²⁸³ Aber auch das Schicksal anderer berühmter Toter – Leichname – ist damit verbunden. Aus der Mumie des in 14 Teile zerstückelten Osiris sprießen Getreideähren, eine Mondzahl,²⁸⁴ der nordische Reichtumsbehälter und Flüssigkeitsspender Draupnir ist mit der gleichen Zahlensymbolik verbunden.²⁸⁵ Und es finden sich noch weitere konkrete Entsprechungen in der ägyptischen Ikonographie. In einer kleinen Gruppe von Bronzefiguren erscheint Osiris als Wsỉr-Ỉcḥ (Osiris-Iaḥ), Osiris der Mondgott. In Mumiengestalt trägt er als Kopfschmuck Mondscheibe und Mondsichel.²⁸⁶ Griffith vermutet, dass Khons den jugendlichen Mondgott darstellt, der den Mond in seiner frühen Phase repräsentiert, Osiris-Iaḥ hingegen den toten Mond. Nicht ganz klar sei, ob die Inschrift auf den Statuen („health, joy, and a goodly long old age“ u. ä.) an Tote oder an Lebende gerichtet sei, zumal nämliche Texte auch in Begräbniskontexten erschienen.²⁸⁷ Da nun aber auch Osiris ganz offenbar als lebender, jugendlicher Mondgott erscheinen kann,²⁸⁸ vermutet man inzwischen in manchen bisher als Khons-Mondgottgestalten gedeuteten Darstellungen Osiris. Dies würde insbesondere eine Erklärung für eine bis dahin rätselhafte Darstellung des Gottes Anubis (der altägyptische Begräbnis- und Mumifizierungsspezialist) liefern, wie er sich über eine große runde Scheibe beugt, indes ausdrücklich in einem Geburtskontext, der Geburt der göttlichen Ḥatshepsut.²⁸⁹ Viele Jahrhunderte später erscheint diese Darstellung als üblicher Teil der Ikonographie in graeco-romanischen Geburtshäusern:
Vgl. Jensen 1966, S. 51. Vgl. Jensen 1966, S. 51; 57. Vgl. Plutarch, Über Isis und Osiris, Kap. 42: „Die Zerstückelung des Osiris in 14 Theile deuten sie auf die Tage der Abnahme vom Vollmonde bis zum Neumonde, den Tag aber, an dem der Mond zuerst erscheint, wenn er den Strahlen entflohen und bei der Sonne vorübergegangen ist, nennen sie ‚das unvollkommne Guteʻ: denn Osiris ist gutthätig“ (Übers. Parthey 1850, S. 74). In Kap. 41 setzt Plutarch Osiris explizit mit dem Mond gleich, „indem sie den Typhon für die Welt der Sonne, den Osiris für die des Mondes halten“ (Übers. Parthey 1850, S. 72). Vgl. de Vries 1956 – 1957, I, S. 114 f.: De Vries könnte sich hier eine alte Mondzählung, eine Zeiteinteilung nach Mondphasen vorstellen. Er zieht als Vergleich die Darstellung des berühmten Kultwagens von Trondheim heran. Die dort abgebildete Scheibe werde allgemein als Sonnensymbol aufgefasst (eine Interpretation, die auch er bevorzugt), dennoch aber sollte „nicht verschwiegen werden, daß wichtige Gründe für einen Mondkult sprechen dürften.“ Eine Seite der Scheibe sei mit Gold belegt, die andere mit Bronze, was nicht unbedingt einer Tag/Nacht-Symbolik entsprechen müsse, sondern ebenso auf die unterschiedlichen Mondphasen referieren könnte. Die Zahlen, die darauf dargestellt seien, neun Kreise in der Mitte, 27 am Rand, gehörten jedenfalls eindeutig in den Bereich der Mondrechnung, vgl. de Vries 1956 – 1957, I, S. 114, Anm. 2. Vgl. Griffiths 1976, S. 155. Vgl. Griffiths 1976, S. 158 f. Vgl. Graefe 1979, S. 172 f. Vgl. Ritner 1985, S. 149.
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The appearance of a funerary deity in a birth relief may at first seem surprising, but the Dendera inscriptions […] show that it is in his capacity as guarantor of rebirth, as the god of mummification, that Anubis is present. Like the lunar disc which he accompanies, Anubis embodies the Egyptian concept of the transition from death to life. But while it is the primary function of Anubis to re-form and rejuvenate the limbs of the dead through mummification, the moon’s association with rebirth becomes increasingly prominent in later Egyptian religion through its identification with Osiris. The link between Osiris and the moon has been postulated to exist as early as the Pyramid Texts, but this early association is not universally accepted.²⁹⁰
Die Mondscheibe wird also direkt mit dem Körper des Osiris gleichgesetzt, damit ist auch die Rolle des Anubis selbstredend, er beugt sich über die Mondscheibe wie er sich über den toten Leib des Osiris bei dessen Mumifizierung beugt, um diesen zu erneuern.²⁹¹ In vedisch-iranischen religiösen Vorstellungen ist das Soma/Hauma das Lebenswasser schlechthin, in seinen unterschiedlichsten Verkörperungen erscheint es als Gott oder König Soma, in der Gestalt einer Pflanze, als Stier, aber auch als der Mond selbst. Der Mond gelte als „Sammelbecken der Lebenskraft“,²⁹² so Lommel, alles Irdische, Vitale steige nach dem Abscheiden wieder in den Himmel empor und sammle sich im Mond als „lichte[r] Unsterblichkeitstrank (amṛtam),“²⁹³ eben jener Trank, den die Götter allmonatlich zu sich nehmen, um ihre Unsterblichkeit zu bewahren.²⁹⁴ Das Herabfallen, das Wiederaufsteigen, das Sammeln des Lebenswassers erscheint in seiner kultischen Realisierung als die Zubereitung des Somatranks aus den Schößlingen einer nicht näher bestimmten Pflanze.²⁹⁵ Die Soma-Kelterung wiederum gilt als „Urbild jeden Totschlags“²⁹⁶ wie der Mond als Urbild vom Sterben und neuem Leben. Sein allmonatliches Schwinden, sein Schwächer werden, sein Dahinsiechen als weltweit zu beobachtendes Drama am Nachthimmel wird damit gleichgesetzt: „[D]as
Ritner 1985, S. 151 f. Vgl. Ritner 1985, S. 152. Lommel 1966, S. 98. Lommel 1966, S. 98. Vgl. Lommel 1966, S. 98. Trotz zahlreicher Versuche (wohl über 100! Kandidaten [vgl. Nyberg 1995, S. 384]) ist es bis heute nicht gelungen (wie bei so vielen anderen mythischen Wundergewächsen), eine überzeugende, tatsächlich existierende botanische Entsprechung für diese magische Pflanze zu finden. Der Soma/Haomatrank scheint eine Art ,heilige Ekstaseʻ evoziert zu haben, entsprechend wollte man eine Pflanze mit halluzinogenen Wirkstoffen dahinter vermuten. Freilich gibt Falk zu bedenken: „[H]allucinogenic drugs lead to visions; shamans use them to visit the realms of the ancestors or gods. But there is nothing shamanistic or visionary either in early Vedic or in old Iranian texts“ (Falk 1989, S. 79). Er verweist gleichzeitig auf eine andere Eigenschaft der Pflanze, die bisher vollkommen ignoriert worden sei, „the fact that Soma prevents sleep“ (Falk 1989, S. 79). Soma musste schließlich Indra beim kosmischen Kampf gegen Vṛtra unterstützen; sein Favorit ist entsprechend Ephedra (Meerträubel). Das Gewächs scheint seit Jahrtausenden bekannt für seinen stimulierenden Wirkstoff Ephedrin (ähnlich dem körpereigenen Adrenalin) und scheint auch vom Phänotyp her passend, lange, harte, blattlose Stängel (vgl. Falk 1989, S. 82 f.). Lommel 1966, S. 100.
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Schlagen der Soma-Pflanze [wird] als ein Erschlagen, ein Töten des Mondgottes aufgefaßt […].“²⁹⁷ Das Auspressen der Soma-Pflanze müsse somit als kultische Inszenierung der Tötung des Mondgottes betrachtet werden.²⁹⁸ Im nordischen religiösen Denken scheinen diese Monddramen indes kaum Eindruck hinterlassen zu haben. So vermerkt Robert Nedoma, dass der Mond wohl durchaus seit frühester Zeit in vielen Kulturen zur Mythenbildung angeregt habe, bedingt durch seinen charakteristischen, periodischen Wandel und der damit verbundenen Prognostizierbarkeit, bei den Germanen hingegen ließen sich „Götter lunaren Charakters“ nicht nachweisen, ja im Ganzen gesehen, hätten wohl „mondmyth[ologische] Themen und Strukturen keine herausragende Rolle gespielt.“²⁹⁹ De Vries konstatiert dieses Nichtvorhandensein immerhin als auffallend: Die (nord)germanische Überlieferung erzähle auffallend wenig von der Zauberkraft des Mondes, die doch im späteren Volksglauben eine so große Rolle spiele. In der Tat erscheinen volksreligiöse, ,abergläubischeʻ Vorstellungen über die Wirksamkeit, die Art der Wirksamkeit des Mondes in späteren, folkloristischen Darstellungen in großer Zahl.³⁰⁰ Hier wie überall überbieten lunare Vorstellungskomplexe rein zahlenmäßig solare Konzepte oder Motive bei weitem.³⁰¹ Auch Snorri weiß durchaus Bekanntes über den Mond zu berichten, Aitiologisches, ,Märchenhaftesʻ, Volkstümliches, wie etwa ein gewisser Máni (doch wohl der personifizierte Mond), der den Gang und die Phasen des Mondes gelenkt haben soll, die Kinder Bil und Hjuki von der Erde auf den Mond entführte und sie diesen nun in Gestalt von Wasserträgern begleiten müssten.³⁰² Jensen 1966, S. 101. Vgl. Jensen 1966, S. 101. Vgl. Nedoma et al. 2002, S. 168. Vgl. de Vries 1956 – 1957, I, S. 279. So notiert auch Jacob Grimm, dass die Sonne offensichtlich wesentlich geringeren Einfluss auf die abergläubischen Vorstellungen der Menschen gehabt habe als der Mond (vgl. Grimm 1844 II, S. 683). In der Deutschen Mythologie nehmen denn auch die ,Sonnenbeispieleʻ, also (volks)religiöse Deutungsmuster, die die Sonne als Wissensmodell nutzen, gerade einmal eine Seite ein (Grimm 1844 II, S. 683 f.), die ,Mondbeispieleʻ hingegen belaufen sich auf über 10 Seiten (Grimm 1844 II, S. 671– 683). Ein Mondmythologem, das zu typisch und weit verbreitet ist, als dass es Snorri erfunden haben könnte, wie manches Mal unterstellt. Auch Astrid van Nahl vermutet, dass Snorri seinen Stoff Volkstraditionen entnommen hat (vgl. van Nahl 2013a). Mond und Flüssigkeit ist eine tief verbundene Motivkombination, hier wird die Form des magisch gefüllten Containers als Brunnen oder Wassereimer aufgerufen. Snorri scheint indes unterschiedliche Elemente aus volkstümlichen Mondmythen zu verbinden, was narrativ nicht mehr ganz plausibel geglückt ist. Bil und Hjúki sind nicht die Mondflecken (die allerdings in der Tat in einer Vielzahl von Mondsagen erklärt werden als in den Mond versetzte, verbannte oder entführte Menschen [vgl. Nedoma et al. 2002, S. 169]). Sie sind vielmehr die personifizierten Mondphasen, deren charakterisierende Namen in diese Richtung eindeutig sind: Hjúki „der Gesundende“ als der zunehmende, erstarkende Mond (vgl. Lex.Simek 2006, „Hjúki“, S. 193); schwieriger ist Bil, die auch als ansonsten unbekannte Asin bei Snorri erscheint. Ihr Name ist aber wohl sicher zu bil (siehe das Odin-Attribut bil-eygr) zu stellen. Allerdings bedeutet es nicht einmal bei Odin „schwach-sichtig“, es ist das Unstete, das ,Hin und Herspringendeʻ, der Wendepunkt. Bil ist also im eigentlichen Sinne nicht das ,Schwächer werdenʻ, sondern genau der Punkt, an dem der Wechsel einsetzt.
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In der übrigen Germania stellte man sich den Mond aber offenbar auch bedroht vor, hier konnte der Mond (wie überall auf der Welt) sterben. Beobachtbare astronomische Anomalien, Sonnen- oder Mondeklipsen, aber selbst das ,normaleʻ, monatliche Anwachsen und Schwinden des Himmelskörpers wurden auf diese Art gedeutet. Grundsätzlich zeichnen sich dabei zwei Hauptbegründungsstrategien ab, wonach sich entsprechende Hilfsmaßnahmen oder Therapieformen richteten: Überaus häufig scheint die Vorstellung einer Bedrohung und Verfolgung des Mondes, eines tödlichen Angriffs durch monströse Tierwesen. Man kam also dem Mond zu Hilfe.³⁰³ Sei es wegen eines drohenden Verschlingens, aber auch aus anderen unerklärlichen Gründen konnte der Mond krank oder sterbend imaginiert werden, damit in einem nicht nur körperlich, sondern auch emotional schwierigen, bedrohlichen Zustand. So sei etwa in Polynesien eine weit verbreitete Vorstellung, dass Tangaloa, der oberste Gott selbst für das Verschwinden, das Sterben des Mondes verantwortlich sei, weil er wegen einer „Vernachlässigung“ verstimmt gewesen sei. „Deshalb bedeuten Eklipsen, als vom Zorne der Götter zeugend, Unheil, zum Beispiel Tod von Häuptlingen, Krieg […].“³⁰⁴ Auch die Inka-Peruaner in Südamerika schlossen aus einer Finsternis auf eine ,zornigeʻ Sonne bzw. einen ,(sterbens)krankenʻ Mond.³⁰⁵ Für Indien vermerkt Lasch, dass die üblichen Riten und Gebräuche, die bei dermaßen Finsternissen zur Anwendung kämen, in erster Linie Trauerzeremonien darstellten, „das Rasieren der Haare, das Sichenthalten der Nahrung, das Unterlassen der allernotwendigsten Handlungen der vegetativen Organe“.³⁰⁶ Klagen, Weinen, sogar Sterbegesänge konnten ihm zu Ehren angehoben werden. Bestand also im ersteren Fall die Gefahr durch einen schrecklichen äußeren Angreifer, war es im zweiten Fall die schlimme Gemütslage eines machtvollen, überirdischen Wesens selbst, das zur tödlichen Gefahr werden konnte. Damit müssen die gleichen rituellen Maßnahmen zum Einsatz kommen, wie sie aus der Totenfürsorge bekannt sind – der Mond wird wie ein Sterbender oder (gefährlicher) Toter behandelt.³⁰⁷ Insbesondere in der christlichen Missionsliteratur sind diese ,Hilfsmaßnahmenʻ immer wieder Gegenstand kirchlicher Kritik: „Mehrere kirchliche Schriften des 8.–10. Jh. wenden sich gegen die Sitte, den Mond bedrohende Ungeheuer abzuwehren. […]. In der frk.-alem. Homilia de sacrilegiis […] wird Geschrei und das Zusammenschlagen von Gefäßen bei Mondfinsternis erwähnt. Der Indiculus superstitionum spricht Kap. 21 von: De lunae defectione quod dicunt vince luna. Der ausführlichste Bericht findet sich in Hrabans Homilia contra eos, qui in lunae defectu clamoribus se fatigabant […], wo wieder von Lärmzauber, Schießen mit Pfeilen und Werfen von Feuerbränden gesprochen wird und auch die Erklärung der Brauchtumsträger hinzugefügt wird, daß sie nämlich dem Mond gegen die ihn bedrohenden und verschlingenden portenta (Ungeheuer) hätten helfen wollen“ (Ranke 1973, S. 32). Lasch 1900, S. 101. Vgl. Lasch 1900, S. 107. Lasch 1900, S. 123. Siehe auch Rochberg 1996, S. 475. Schon in den mesopotamischen Omenlisten erscheinen unterschiedliche Medialisierungsstufen von Himmelsomina: von der mythischen und damit konkreten Vorstellung des Himmelskörpers als Gott hin zur (vermutlich) rein sprachlichen Metapher astronomischer Phänomene. Himmelskörper, insbesondere Sonne, Mond und Venus, werden zunächst im Rahmen anthropomorpher, personifizierter Konzepte gefasst, als göttliche Verkörperungen. Für die
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8.3.2 Von Mondmördern und Trennungshelden Dieses magische astronomische Weltwissen fehlt im Norden wohl nicht, aber in dieser Gestalt scheint es nicht im Fokus von Snorris Interesse, seiner mythologischen Sammlertätigkeit gelegen zu haben. So erfahren wir nur en passant vom Mond-Wissen im Volk, aber wenig genug erfahren wir ja auch von der volkstümlichen Toten- und Ahnenpflege. Ganz anders wiederum erscheint die Überlieferungslage für die großen kosmogonischen wie eschatologischen, apokalyptischen Vorstellungen. Hier berichtet Snorri ausführlich, gerade hier spielen mondmythologische Themen eine zentrale Rolle und insbesondere sehen wir, in nichts unterscheiden sie sich vom ‚Wissen des Volkesʻ: Der Mond (die Sonne) wird getötet, verschlungen durch eines oder mehrere Untiere. In Gylf 12 wird von zwei Wölfen berichtet, sie werden als Nachkommen des Fenrir bezeichnet, Skoll (Skǫll, Skalli), der die Sonne verfolgt, ein anderer, Hati (Hatti), der „Hasser“, „Feind“, Sohn des Hróðvitnir, läuft vor ihr her: Das sind zwei Wölfe, und derjenige, welcher ihr unmittelbar folgt, heißt Skoll. Sie fürchtet ihn, und er wird sie packen. Aber der vor ihr läuft, heißt Hati, Hrotwitnirs Sohn, und er will den Mond greifen, was auch geschehen wird.³⁰⁸
Diese mythische Vorstellung ist so fest verbunden mit dem systemischen Ende, dem Weltuntergang, dass sie als Adynaton, als Unmöglichkeitsmotiv, sprichwörtlich geworden ist. Es erscheint als Drohung, als Befehl, als Beschwörung, auch als (epische) Ursprungserzählung in Zaubersprüchen. So kann es etwa um das Aufzählen unmöglicher Aufgaben gehen, die das zu bezaubernde, zu bezwingende Wesen zunächst vollbringen muss, bevor es sein schadenbringendes Tun in Gang setzen darf, und dazu
babylonische Mond-Eklipse (attalû) finden sich Beschreibungen, „that the moon, in anthropomorphic guise, ,mournsʻ or ,feels distressʻ […]. The god set (lit. ,disappearedʻ) in distress (meaning ,in the state of being eclipsedʻ)“ (Rochberg 1996, S. 478). Der beobachtbare Mond ist also der Gott Sin. Veränderungen werden als direkte Veränderungen seines äußeren wie inneren Zustands betrachtet. Aber Sin und Šamaš (Mond und Sonne) wurden nicht nur als direkte Erscheinung der Götter am Himmel aufgefasst, man ging auch davon aus, dass der Gott jene Omina zu produzieren vermochte oder verschwinden lassen konnte, ja Götter würden diese als Zeichen gezielt herstellen, gerade um mit den Menschen zu kommunizieren (vgl. Rochberg 1996, S. 477). Aber die Begriffe adirtu „mourning“ und marustu „distress“ konnten auch in einem ganz buchstäblichen Sinne als ,dunkelʻ oder ,schmutzigʻ verstanden werden, lediglich als Farbkonzept (vgl. Rochberg 1996, S. 479). Nicht ganz eindeutig also lasse sich beantworten, ab wann diese mythische Sprache als rein deskriptive verstanden worden sei, ob also etwa das ,Trauern des Mondgottesʻ (vgl. das akkadische lumun libbi, „distress of heart“) in babylonischen astrologischen Listen der späteren Zeit einfach als Terminus technicus für Mondeklipsen verwendet werde (vgl. Rochberg 1996, S. 481). Einen wichtigen Anhaltspunkt gibt es indes wohl: In dem Moment, wo der Mensch keinen rituellen Behandlungs- oder Handlungsbedarf mehr sieht (der Dunkelmond muss dann weder aus den Fängen eines Untiers befreit werden noch getröstet werden), scheint er diese Übertragungen nur noch als Modellvorstellung zu reflektieren. Þat eru tveir úlfar, ok heitir sá er eptir henni ferr Skǫll. Hann hræðisk hon ok hann mun taka hana, en sá heitir Hati Hróðvitnisson er fyrir henni hleypr, ok vill hann taka tunglit, ok svá mun verða (Gylf 12).
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gehört etwa, Sonne und Mond zu fangen, zu wenden, aus ihrer Bahn zu lenken. Das Unmöglichkeitsmotiv der Mondverschlingung finde sich häufig in finnischen Zauberrunen, und gerade darin zeige sich deren hohe Abhängigkeit von germanischen (auch russischen) magischen Formeln.³⁰⁹ Tatsächlich kennen die deutschen Zaubersprüche diesen ,Trickʻ gut. In einer mittelalterlichen Handschrift sind folgende Worte an den Mond gerichtet, damit er einen Zahnschmerz abwende, nicht zuletzt als latente Drohung, jedenfalls sind unsere apokalyptischen Untiere hier wohl bekannt: Quomodo ad te nec lupus nec canis adtingere potest, sic nec ad me, ne caput meum, dolor aliquis adtingere possit.³¹⁰ So wenig wie also der „Wolf“ oder der „Hund“ den Mond erreichen könne, so wenig dürfe das der Schmerz beim Menschen. In Frankreich kennt man dieses Motiv noch bis in jüngste Zeit: Von einem aus weiter ferne drohenden pflegte man in Burgund spöttisch die redensart: ,dieu garde la lune des loupsʻ zu gebrauchen, d. h. solche drohungen treffen erst am ende der welt ein und nicht anders wird in dem franz. volkslied auf Heinrich IV das äußerste ende der zukunft durch eine zeit ausgedrückt, wo die zähne des wolfs den mond erreichen werden: jusqu’à ce que l’on prenne la lune avec les dentsʻ.³¹¹
Anders Hultgård verweist auf den Skalden Arnórr jarlaskáld, der ein solches apokalyptisches, endzeitliches Unmöglichkeitsmotiv in seiner Þorfinnsdrápa (24)³¹² und der Hrynhenda, Magnússdrápa (3) (unz himinn rifnar „bis der Himmel zerreißt“)³¹³ verwendet, ebenso auf Ólafs Erfidrápa des Hallfreðr vandræðaskáld, wo es heißt, eher würden „Erde und Himmel in Stücke brechen“, fyrr mun heimr ok himnar […] í tvau bresta. ³¹⁴ Auch die Erwähnung des Fenriswolfs in den Hákonarmál des Eyvindr skáldaspillir Finnsson (20), mun obundinn á yta sjót, fenrisúlfr fara, áðr jafngóðr á auða trǫð konungsmaðr komi („es wird sich ungebunden zu den Wohnsitzen der Menschen der Fenriswolf begeben, ehe ein gleichguter K[önigs]smann zu einem leeren Pferch kommt“),³¹⁵ möchte Hultgård als einen „Zug echter relig[iöser] Äußerung“ sehen.³¹⁶ Snorri weiß indes auch vom Wolf Mánagarmr, der den Mond verschlingen wird. In der Vsp (44) ist es nur Garmr (eigentlich „Hund“), der sich vor Gnipahellir (vielleicht einer Höhle als Zugang zum Totenreich) von seinen Fesseln losreißt und damit den „Auftakt zum Weltuntergang“ einläutet.³¹⁷ So scheint er identisch mit Fenrir, der von den Asen einst, zu Anbeginn der Welt, hintergangen, überwältigt und gefesselt wer-
Vgl. Krohn und Bussenius 1924, S. 7. Physica Plinii Sangallensis, Nr. 8 (vgl. Önnerfors 1993, S. 189; siehe auch Krohn und Bussenius 1924, S. 7). Grimm 1844 I, S. 224. Whaley (Hg.) 2009. Whaley (Hg.) 2009. Hfr ErfÓl, 27 (Heslop [Hg.] 2012). Fulk (Hg.) 2012a. Hultgård 2002b, S. 105. Vgl. Heizmann 1999a, S. 229.
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den konnte. Týr, indem er seine Hand als Pfand in den Rachen des Wolfes gibt, gerade um die vorgebliche Rechtmäßigkeit der Aktion zu bestätigen, wird dadurch zum einhändigen Asen, Fenrir, des Betrugs gewahr, beißt sie ihm kurzerhand ab. Nicht ganz klar scheint also, von wieviel (unterschiedlichen) Wölfen, Hunden, Caniden wir in diesen Endzeitszenarien überhaupt ausgehen müssen, ob Snorri versucht hat, lediglich verschiedene Benennungen in der Überlieferung für ein einziges Untier in Einklang zu bringen, ob an mehrere Tiere zu denken sei, die gegebenenfalls verschiedene Aufgaben zu erfüllen hätten.³¹⁸ Vielleicht müssen wir aber auch, bisher jedenfalls kaum erwogen, von verschiedenen Sonnen- und Mondverschlingungen ausgehen, dass also Sonnen- und Mondfinsternisse sowohl im eschatologischen wie kosmogonischen Zusammenhang denkbar wären. Grundsätzlich muss man sich wohl ohnehin von einer temporären, linearen Vorstellung der Ereignisse lösen, in diesem Sinne also keine Endzeitereignisse, sondern vielmehr ,Endraumereignisseʻ als bildgebendes Konzept vermutet werden müssen, also nicht wann diese Geschehnisse stattfinden, sondern wo. Wenn also die ursprünglichste Idee von System als lokales, spatiales Konzept zu Grunde gelegt wird, so treffen sich all diese unterschiedlichen Vorstellungen in der Denkfigur der (räumlichen) Grenze. Der Fenriswolf ist in der Tat nicht nur für Odin ein „dunkler Schatten, den dieser nie abzuschütteln vermag“,³¹⁹ sondern ebenso für die Asengemeinschaft, die ganze Welt. Snorri erklärt die Entscheidung der Asen, den Wolf nicht endgültig zu töten, als sakrale, aus Achtung vor „Heiligtum“ (vé) und „Friedensstätte“ (griðastaði), (Gylf 34), eine Begründung ähnlich stereotyp und leer wie bei der Balder-Rache, die narrative Logik würde zwingend anderes einfordern. Hier geht es wohl um ein grundsätzliches Unvermögen, eine Ohnmacht, die einem anderen Denkmodell entspringt. Denn was in der Überwindung des Fenriswolfs meist einen eher geringeren Stellenwert zugewiesen bekommt (neben der spektakulären Fesselung und dem unglückseligen Pfand des Týr),³²⁰ ist das Vgl. Dillmann 1994, S. 371 f. Heizmann 1999a, S. 229. Ein Motiv, das gerade wiederum in der ,Volksseeleʻ am nachhaltigsten Interesse und Wirkung erzeugt zu haben scheint, und sich entsprechend in einer Fülle volkstümlicher, magisch religiöser Variationen zeigt. Und auch Snorri weiß von einigen zu berichten. Die Ingredienzien der Fessel Gleipnir sind ebenso Unmöglichkeitsformeln (af dyn kattarins ok af skeggi konunnar ok af rótum bjargsins ok af sinum bjarnarins ok af anda fisksins ok af fogls hráka, „aus dem Lärm der Katze und dem Bart der Frau, aus den Wurzeln des Felsens und den Sehnen des Bären, aus dem Atem des Fisches und dem Speichel des Vogels“). Snorri kennt die Redensart, „man befreie sich von Löding oder reiße sich von Dromi los, wenn jemand eine Sache heftig betreibt,“ ebenso die Bezeichnung ulfliðr „Wolfsgelenk“ (Gylf 25) für das Handgelenk. Er scheint zu vermuten, es sei eben jene Stelle, wo der Wolf zugebissen habe und Týrs Verstümmelung liefere dafür das Aition. Das volkstümliche Wissen hingegen kennt das Gelenk an der Hand als Abwehrzauber gegen den Bösen Blick des Wolfes. Der Blick des Wolfes bewirkt nämlich, dass ein dermaßen Angesehener mit Stummheit geschlagen wird (am frühesten bei Vergil, bucol. ecl. 9, und Plinius, nat. hist. 80, 8 belegt), aber nur dann, wenn der Blick des Wolfes diesen zuerst trifft. Im magischen, vormodernen Wissensrahmen des Blickes bedeutet dies, dass die volle Wucht des bösen Inhalts des Auges auf einen Ungeschützten trifft. Als wichtigste Gegenmaßnahme empfiehlt sich entsprechend, den Wolf zuerst zu sehen, die eigenen Augenstrahlen auf diesen zu werfen und ihn
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Auseinanderreißen des Rachens, sein gewaltsames Aufstemmen und Offenhalten mithilfe einer gómsparri, einer „Gaumensperre“. Ein Schwert wird dem Wolf in den Rachen gerammt, um sich vor seinem bösartigen Zubeißen zu schützen, es ist eines der ältesten Motive in diesem Zusammenhang, schon der Skalde Eyvindr Skáldaspillir (960) kennt die Kenning „Sperre der Lippen des Fenrir“ (Fenris varra sparri).³²¹ Aber dieses Auseinanderstemmen erweist sich als durchaus produktiv: der Geifer, der dem wütenden Fenrir aus dem Mund strömt, wird zum mythischen Fluss Ván. Die Erwähnung stürzender Gewässer evoziert nun im Nordischen stets eine Art primordiale, raue Urzeitszenerie, da ist zunächst Hvergelmir, der „tosende Urkessel“, aus dem alle Flüsse, die Élivágar, entspringen, aber darin haust kein geringerer als der böse Leichenfresser-Drache Níðhǫggr, darüber erhebt sich als weltenbildende wie weltenstützende Vertikale Yggdrasill. Es ist ja eine kosmische Topographie, die in dem aufgesperrten und gewaltsam offen gehaltenen Rachen des Fenrir seinen Platz findet. Auffallend oft wird in der volkstümlichen Überlieferung vom weit aufgerissenen Rachen des Wolfes berichtet: „In Frankreich glaubte man im 13. Jh., er laufe mit offenem Maul, weil er es, erst geschlossen, nur schwer und mit Hilfe der Pfoten allein wieder zu öffnen vermöge“.³²² Eine besondere Bewandtnis oder Schwierigkeit hatte es offensichtlich damit, und auch in Norwegen stellte sich der Volksmund den Wolf mit weit geöffnetem Maul auf sein Opfer zu rennend vor, aber am Schließen des Mauls (nicht logischerweise zunächst am Öffnen) muss er mit einem Zauberspruch gehindert werden, so dass, „wenn er mit offenem Rachen kommt, er ihn nicht wieder zumachen kann.“³²³ Aber dieses primordiale, ja kosmogonische, ,kreativeʻ Öffnen des Rachens entspricht einem nahezu identischen eschatologischen, apokalyptischen. Und ebenso werden diese Aktionen hier wie da gar nicht mehr als solches verstanden. Läuft die erstere unter der Rubrik Unschädlichmachung oder Ausschaltung eines Untiers (das bestimmt in Teilaspekten anvisiert ist), ist die letztere eher als Racheaktion am getöteten, verschlungenen Odin, dem Göttervater, durch seinen Sohn Víðarr verstanden
damit unschädlich zu machen, zumindest aber die verhängnisvolle Wirkmacht seines Auges abzuschwächen. In Norwegen geschieht dies folgendermaßen: „Sieht ein Hirte den Wolf, ehe er von ihm gesehen ist, so muß er ihm gleich: ,klums haai!ʻ entgegenrufen, dadurch wird der Wolf ,geklumstʻ (bezaubert), so daß, wenn er mit offenem Rachen kommt, er ihn nicht wieder zumachen kann und umgekehrt, und dieser Zustand dauert so lange, bis man ihn aus dem Gesicht verliert. Sieht dagegen der Wolf den Hirten zuerst, so wird dieser bezaubert und sprachlos, in welchem Falle er in den Rockkragen oder Handschuh, kurz in etwas Wollenes oder auch über die beiden Gelenke des Daumens [kurs. d.Verf.] beißt, oder endlich sich soviel wie möglich bückt; tut er dies, dann hört die Bezauberung auf“ (Seligmann 1910, S. 121). Nicht ganz klar ist also, was Ursache und Wirkung dieser Auffassung ist, möglicherweise bereits missverstanden (oder neu verstanden), als dass das Beißen in ein Handgelenk überhaupt die Überwältigung eines Wolfes zur Folge habe, als eine Art symbolische Wiederholung des Urereignisses. Vgl. Heizmann 1998b, S. 231. Peuckert 1938/41, Sp. 725 f. Seligmann 1910, S. 121.
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worden.³²⁴ Víðarr ist nun eine Gestalt, über die Snorri in besonderer Weise aus einer Fülle von Informationen aus dem Volksmund schöpft, allen voran ist es ja die Stummheit, die ihm als durchaus bemerkenswertes Attribut zugeschrieben wird. Und gerade diese findet im magischen Weltwissen über die verhängnisvolle Wirkmacht von Wölfen eine gute Erklärung: So kann schon Äschines in den Idyllen des Theokrit gegenüber der schönen, gleichwohl schweigsamen Kyniska witzeln: „Fehlt dir der Laut? […] den Wolf wohl sahst du im Sprichwort!“³²⁵ (Doppeldeutig genug, lautet auch der Name ihres Liebhabers ausgerechnet Lykos). Und in der Tat – das hat auch Víðarr. Seine Stummheit ist Kennzeichen wie Folge seines wölfischen Umgangs – eine Großtat zweifelsohne, die der schweigsame Víðarr vollbringt, wenn er dem heranstürmenden Fenriswolf mit seinem berühmten eisernen oder ,dickenʻ Schuh die Kiefer auseinandertritt, aber wohl gerade nicht eine letzte, eschatologische. Er vollendet vielmehr das Werk, das schon begonnen worden ist zu Beginn der Zeit. Fenrir musste dingfest gemacht werden, wie alles Unfeste, Chaotische, Schwankende im Schöpfungsakt stets auf seinen Platz verwiesen werden muss, aber das Motiv des gewaltsamen Aufsperrens und gewaltsamen Auseinanderhaltens findet seine Fortsetzung im Aufreißen und Auseinandertreten des Rachens vom Himmel bis zur Erde.³²⁶ Es sind kosmische Ausmaße hier wie da, Bilder, die die Vorstellung eines Durchmessens und Begrenzens eines ganzen Weltenraums evozieren sollen: „Und der Fenriswolf kommt mit aufgerissenem Maul herangestürmt, der untere Kiefer berührt die Erde, der obere den Himmel. Er würde sein Maul noch mehr aufsperren, wenn Platz dafür wäre.“³²⁷ Es ist damit weniger eine apokalyptische, zerstörerische als vielmehr die Fortsetzung einer Welt konstituierenden und stabilisierenden Maßnahme, eine Maßnahme, wie sie in den Kosmogonien dieser Welt häufig anzutreffen ist: „Das Thema der ‚Trennung von Himmel und Erdeʻ bildet zugleich Abschluß und Fortsetzung des so
So schon in der Vsp 55: Þá kømr inn micli mǫgr Sigfǫður, / Víðarr, vega at valdýri; / lætr hann megi Hveðrungs mund um standa / hior til hiarta, þá er hefnt fǫður. („Da kommt der starke Sohn Siegvaters, / Widarr, um gegen das Waltier zu kämpfen; / er lässt dem Sohn Hwedrungs seine Hand mit dem Schwert / ins Herz stechen; da ist der Vater gerächt.“). (Siehe auch Vafth 53). Auch Dumézil warnt davor, den Rachemoment in dieser Aktion allzu sehr bzw. ausschließlich in den Vordergrund zu stellen (vgl. Dumézil 1965, S. 5, Anm. 1). Kyniska, Idyllen 14 (Übers. Voß 1808). Úlfrinn gleypir Óðin. Verðr ϸat hans bani. En ϸegar eptir snýsk fram Viðarr ok stígr ǫðrum fœti í neðra keypt úlfsins. (Á ϸeim fœti hefir hann ϸann skó er allan aldr hefir verit til samnat: ϸat eru bjórar ϸeir er menn sníða ór skóm sínum fyrir tám eða hæl. Því skal ϸeim bjórum braut kasta sá maðr er at ϸví vill hyggja at koma Ásunum at liði.) Annarri hendi tekr hann inn efra keypt úlfsins ok rífr sundr gin hans ok verðr ϸat úlfsins bani. („Der Wolf verschlingt Odin, was dessen Tod ist. Aber gleich darauf stürmt Widarr vor und tritt mit einem Fuß in den Unterkiefer des Wolfes. An diesem Fuß trägt er den Schuh, für den alle Zeit gesammelt worden ist. Es sind die Lederstücke, die man aus seinen Schuhen für Zehen oder Ferse schneidet. Darum soll derjenige die Stücke wegwerfen, der beabsichtigt, den Asen zu Hilfe zu kommen. Mit einer Hand packt Widarr dann den Oberkiefer des Wolfes und reißt sein Maul entzwei. Das bringt ihm den Tod.“) (Gylf 51). En Fenrisúlfr ferr með gapanda munn ok er hinn efri kjǫptr við himni en hinn neðri við jǫrðu. Gapa mundi hann meira ef rúm væri til (Gylf 51).
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genannten Weltelternmythos.“³²⁸ Zu Beginn der Zeit, nachdem ‚Vaterʻ Himmel und ‚Mutterʻ Erde in inniger Umrahmung die Welt zeugten, bleiben sie in der Folge gleichwohl dicht, beklemmend dicht aufeinander liegen, so dass „den Geschöpfen ihrer Hierogamie […] kein Raum der Entfaltung [bleibt].“³²⁹ [D]iesen für die Urzeitwesen qualvollen Zustand beendet schließlich der so genannte „Trennungsheld“, der den Himmel gewaltsam nach oben treibt und im allgemeinen als Weltenherrscher den Schöpferwesen nachfolgt; seine Tat wird als Befreiung empfunden.³³⁰
Und auch Uranos bedeckt seine Gattin Gaia nicht etwa als fruchtbare Zeugungskraft, vielmehr hindert er damit ihre weitere Entfaltung, ihre Entwicklung³³¹: „Doch es erseufzt’ im Innersten Gäa die Riesin, / Schwer beklemmt; und zum Trug’ ersann sie verderbliche Arglist.“³³² Die folgt bekanntlich im mythischen Motiv der Vaterkastration.³³³ Víðarr ist der nordische Trennungsheld (vielleicht auch eine Erklärung dafür, dass er als einer der wenigen nach Ragnarǫk in einer erneuerten, ja recht eigentlich erst durch ihn konstituierten Welt wieder erscheint); eine Funktion, die er sich darüber hinaus teilt mit einem anderen bedeutsamen, primordialen, nordischen Helden: Thor. Auch von Snorri wird er nahe an diesen gerückt, an Stärke kommt er Thor fast gleich, wie es ausdrücklich heißt (vgl. Gylf 28), wie er im Übrigen als Einziger, neben Thor, von Lokis Schmähreden in der Lokasenna unbehelligt bleibt. Aber noch manch andere bemerkenswerte Affinitäten weisen diese beiden Götter auf, bezüglich ihrer Taten
Stöhr 1976, S. 60. Stöhr 1976, S. 60. Stöhr 1976, S. 60. Vgl. Angehrn 1996, S. 162. Hesiod, Theogonie, V. 159 f. (Übers. Voß 1806). Siehe Angehrn 1996, S. 164. Vgl. Schröder 1957, S. 5 f.: Auch Indra ist der Sohn eines so genannten Urelternpaars, der „Urkräfte des Himmels und der Erde“, und auch der Rigveda weiß zu berichten, wie dieses seit Anbeginn der Zeit fest umschlungene Elternpaar mit massivem Kraftaufwand seitens Indras getrennt werden muss. Indra ,stütztʻ gleichzeitig bei dieser primordialen Tat den Himmel (RV 1, 121, 2), er ,festigtʻ die ,schwankende Erdeʻ, so wird er im Hymnus besungen, „der die tobenden Berge zur Ruhe brachte, der das Luftreich weiter ausmaß, der den Himmel stützte, der, ihr Leute, ist Indra“ (RV 2, 12, 2). „Den Ausgangspunkt bildet jedenfalls die Vorstellung des Göttersohnes, der das Urelternpaar auseinanderstemmt und gleich der Weltsäule, ja als [orig. gesperrt] Weltsäule ‚aufrecht stehendʻ das Himmelsgewölbe stützt und trägt.“ Viele weitere Beispiele bringt Staudacher für diese Himmel-Erde-Trennungsmythen. „Allen ist die Vorstellung gemeinsam, daß der Himmel einst so nahe der Erde war, daß die Menschen und die Tiere in berühren konnten. Der Himmel beschließt – meist aus Aerger über die Vergehen der Menschen – sich von der Erde zu trennen. Die Trennung erfolgt durch ein gegenseitiges Stoßen von Himmel und Meer. Das Meer erhält dadurch seine Tiefe und der Himmel seine jetzige Höhe“ (Staudacher 1942, S. 11 f.). Neben Indien und Griechenland finden wir vor allen Dingen in Sibirien, Japan und China ähnliche Mythen (vgl. Staudacher 1942, S. 21 ff.), hier oft mit dem Zerbrechen des Welteis verbunden. Die Ähnlichkeiten liegen also auf einer strukturellen Ebene, es geht um das Konzept des Engen, fest Verschlossenen, das geweitet, gegebenenfalls gewaltsam aufgesprengt und mit erheblicher Mühe und Kraftaufwand auch in diesem Zustand gehalten werden muss.
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ohnehin (siehe unten). Andererseits oder gerade deshalb wurde vermutet, Víðarr sei eine junge Gestalt, in der Skaldenliteratur taucht er nicht auf, also vielleicht doch nur eine Motiv-Doppelung zu Thor, ein literarisches Motiv, gegebenenfalls eddische Erfindung.³³⁴ Aber die Funktion des Trennungshelden ist alt und Víðarr scheint doch gerade ein Held aus Fleisch und Blut, ein populärer, volkstümlicher Held, auch darin gleicht er im Übrigen Thor. Und nichts anderes bedeutet schließlich sein Name, Víðarr ist nicht „der über das Buschland Herrschende“, auch nicht „der weithin Herrschende“, Víðarr ist der „Weitmacher“ (vgl. an. víða „weit machen, erweitern“ oder adv. „weit, weit umher“). Wir folgen hier der Interpretation Dumézils, der den Gott keinesfalls als „un génie mineur“³³⁵ betrachten möchte. Ähnlich wie der indische Gott Viṣṇu in einer kosmogonischen Frühzeit die Welt mit Riesenschritten durchmisst und im Durchschreiten buchstäblich umgrenzt, schreibt er auch Víðarr eine spezifisch ,spatialeʻ Funktion im nordischen Mythos zu.³³⁶ Auch dem Schöpfergott Mithras wird auffallend häufig die „ganze Breite der Erde“ zugesprochen, „er kommt daher, breit wie die Erde, sein Palast ist breit wie diese, mit beiden Rändern berührt er diese Erde“, den ganzen Erdumfang berühre er, und dabei gehe Mithras der Sonne voraus und folge ihr.³³⁷ Auch in seiner typischen Stiertöterpose zeigt er sich bemerkenswert aus-
Vgl. Lex.Simek 2006, „Víðarr“, S. 467 f. Vgl. Dumézil 1965, S. 3; 12 f.: In drei Schritten (Trivikrama) durchmisst der Gott Viṣṇu den Raum am Anfang der Zeit, Erde, Äther und Himmel. Die ,Erschaffung des Raumsʻ gilt als seine berühmteste Heilstat: „I will now proclaim the heroic deeds of Visnu, who has measured out the terrestrial regions, who established the upper abode having, wide-paced, strode out triply […]“ (Rigveda 1.154.1). „Peutêtre tenons-nous ici l’explication la plus simple du nom de Viðarr […]. Beaucoup ont été proposées. Les meilleures le rattachent d’une manière ou de l’autre à l’adjectif víðr (cf. all. weit, etc.) ,largeʻ; ainsi celle que préfère J. de Vries: ,Viðarr, zu víðr gebildet, und zwar *wíða-harjaR ,der weitherrschendeʻ, ,celui qui règne loinʻ […]. L’adjectif vídr est lui-même d’origine contestée, mais l’explication la plus probable le rapproche justement du sk. vitarám ,plus loinʻ, de l’avest. vitarəm, ,de côtéʻ, c’est-à-dire, en dernière analyse, du préverbe vi-. L’adjectif Scandinave víðr a un comparatif víðari, et l’adverbe correspondant víða un comparatif víðar ou víðarr. Ce víðar(r), ce ,plus loinʻ, qualifiait-il, orientait-il, dans des formules liturgiques ou populaires, la fonction de Víðarr, comme vitarám celle de Viṣṇu?“ Dumézil sieht diese „fonction spatiales“ nicht nur in der auffallenden narrativen wie lexikalischen Betonung der Vertikale wie der Horizontale des Monsters und seines Bekämpfers („ayant à vaincre un monstre qui écarte ses deux mâchoires sur toute la mesure verticale de l’espace, du plus bas au plus haut concevable, sans aucun résidu (gара myndi hann meira, ef rum vaeri til)“ (Dumézil 1965, S. 5), sondern ebenso in Viðars gewissermaßen ,gewöhnlichemʻ Leben vor Ragnarǫk, in seiner einzigen Aktion, in der er überhaupt davor in Erscheinung tritt. Gemeint ist eine Szene zu Anfang der Lokasenna, in der Odin ausgerechnet Víðarr auffordert, ,Platz zu machenʻ für einen denkbar ungebetenen Gast – Loki. Alle anderen weigern sich, Loki „Sitz und Platz“ zu weisen (Bragi qvað: „Sessa oc staði velia þér sumbli at æsir aldregi“ [Ls 8]). (Vgl. Dumézil 1965, S. 6). Odins Worte sind zweifelsohne von ebenso zynischer wie abgründiger Zweideutigkeit: „Erheb dich dann, Widar, und lass des Wolfs Vater beim Gelage sitzen“ (Rístu þá, Víðarr, oc lát úlfs fǫður sitia sumbli at [Ls 10]), aber zum ersten Mal und vielleicht bezeichnenderweise scheint der gewiefte Loki blind für diese Zwischentöne. Vgl.Weiß 1996, S. 13 f. Wir müssen Maria Weiß hier nicht unbedingt in ihrer Neuinterpretation von Mithras als „Nachthimmel“ folgen, sicher aber lehnt sie zu Recht die Gleichsetzung Mithras mit der
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greifend, in einem dynamischen Sprung, selbst ohne Stier, wird er stets an den „Grenzen seines Wirkungsbereichs“ dargestellt, einer, der Himmel und Erde berührt.³³⁸
8.3.3 Urðarmáni der Unheilsmond Im nordischen Endzeitszenario wird das Sterben des Mondes mit dem Sterben Balders in Verbindung gebracht, von einer Identität wird nichts gesagt, in der Tat erscheint der Mond in nordischen religiösen Vorstellungen nicht als personifizierte Gottheit,³³⁹ aber beide mythischen Konzepte markieren auf gleiche Weise die absolute, ,utopischeʻ, undenkbare Grenze, das Weltenende, die Katastrophe. In den Sagas erscheint der Mond, das kulturelle Wissen vom Mond nicht anders, er ist durchgehend mit Tod, Toten und Unheil assoziiert. Als Nachtgestirn gehört er in die Welt der Toten (letztendlich ist es das Mondlicht, das den Bösen Blick des Untoten Glamr dermaßen zu verstärken mag, dass es um Grettir geschehen ist (vgl. Grettis saga, Kap. 35). Wenn auch einzigartig, erscheint in der Eyrbyggja saga (Kap. 52) ein so genannter urðarmáni, ein „Unheilsmond“ oder „Todesmond“ (wohl zu urðr „schlimmes Schicksal, Untergang“)³⁴⁰ und zeigt damit an oder läutet ein das Verderben, den Untergang der Menschen auf der Fróðá-Farm, ihrer gesamten Lebenswelt. Es ist seine verdrehte, widernatürliche Erscheinung, entgegen seinem üblichen Lauf, die sogleich auf diese Weise interpretiert wird (mun hér eptir koma manndauðr, Kap. 52), und bezeichnenderweise ist es der durch seine Einbeinigkeit als liminale Gestalt gekennzeichnete Þórir Viðleggr, der darüber aufklärt,³⁴¹ ähnlich wie der einäugige Odin die apokalyptischen Vorzeichen des Balder-Todes, wie es ausdrücklich heißt als Einziger, er-
Sonne ab. Zu Mithras kosmogonischer Funktion gehören jedenfalls die typischen ,weitenʻ, ,ausholendenʻ Aktionen des Trennungshelden. Vgl. Weiß 1996, S. 21. Zumal wir der Aussage Caesars, die Germanen hätten ausschließlich Naturerscheinungen, Solem et Vulcanum et Lunam (Caes. Gall. VI, 21, 2) verehrt, wohl in dieser Form wenig Glauben schenken können. Vgl. Nedoma et al. 2002, S. 170. Þat kveld, er líkmenn kómu heim, þá er ménn sátu við málelda at Fróðá, þá sá menn á veggþili hússins, at komit var túngl hálft; þat máttu allir menn sjá, þeir er í húsinu vóru; þat gékk öfugt um húsit ok ansælis. Þat hvarf eigi á brott meðan menn sátu við elda. þóroddr spurði Þóri viðlegg, hvat þetta mundi boða. Þórir kvað þat vera urðarmána, man hér eptir koma manndauðr, segir hann. Þessi tíðindi bar þar við viku alla, at urðarmáni kom inn hvert kveld sem annat. („An dem Abend, als die Leichenbegleiter nach Hause gekommen waren und die Leute gerade wieder an den Küchenfeuern saßen, sahen die Leute, dass an der Bretterverkleidung der Wand ein Halbmond erschien; den konnten alle sehen, die im Haus waren. Er wanderte rückwärts von rechts nach links um den Raum herum. Er verschwand nicht, solange die Leute an den Feuern saßen. Þórodd fragte Þórir Viðlegg, was das wohl zu bedeuten habe. Þórir erklärte, das sei ein Unheilsmond; ‚es wird hier wohl zu einem großen Sterben kommenʻ, sagt er. Dieses Ereignis wiederholte sich die ganze Woche hindurch; jeden Abend erschien der Unheilsmond im Küchenraum.“) (Böldl 1999, Eyrb, Kap. 52).
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kennt. Es sind ja die Ragnarǫk-Vorboten der Snorra Edda, die in der Saga gezielt in diesem Kontext aufgerufen werden: Der Blutregen bei der Heuernte entspricht dem Blutmond zu Ragnarǫk, es ist sein Blut, das über den ganzen Himmel spritzt, wenn er verschlungen wird, deshalb verdunkelt sich die Sonne und Stürme beginnen zu toben (Vsp 40, 41).³⁴² Bis in jüngste Zeit wurde in Deutschland Sonnen- oder Mondfinsternissen „vergiftende und verpestende Wirkung“ nachgesagt, „giftiger Tau“ falle dann vom Himmel, Brunnen müssen abgedeckt werden, Feldfrüchte würden ungenießbar.³⁴³ Ähnliches befürchtete man wohl auch vom isländischen Blutregen als konkrete Auswirkung, aber er war insbesondere Omen, Anzeige für zukünftige Ereignisse. Es scheint der nämliche Zustand, auf den die Vǫluspá (Str. 25) anspielt, wenn die Götter zusammenkommen und beratschlagen, hverir hefði lopt alt lævi blandit eða ætt iǫtuns Óðs mey gefna, („wer die ganze Luft mit Gift vermischt und der Sippe des Riesen Ods Frau gegeben hätte“).³⁴⁴ Die Snorra Edda (Gylf 42) weiß mehr, die Abwesenheit von Sonne und Mond ist offenbar der Grund, Loki hat sie (einschließlich Freyja) dem so genannten Riesenbaumeister versprochen (oder bereits gegeben?) – eine Sonnen- und Mondfinsternis also, aber gerade zu Anfang aller Zeiten. Nicht ganz klar ist, ob Managarmr, tungls tiúgari,³⁴⁵ identisch ist mit dem weltverschlingenden (aber auch weltaufbauenden) Wolf. Er tötet und verschlingt nicht nur den Mond, er füllt sich mit den Leibern aller getöteten Männer (Vsp 41). Er füllt sich mit ihrem Blut, mit ihrer Essenz, damit scheint er doch gerade ein Seelensammler, ausgerechnet eine Funktion, die üblicherweise der Mond selbst hat: Im Mond sammeln sich die toten Seelen, alle Lebenskräfte, die man sich bezeichnenderweise sehr konkret als Lebenssäfte, Feuchtigkeit vorstellte – aber wie weit entfernt davon das friedvolle Bild der Veden, schon näher der mithräische Stiermord: Hier wird der Mond mit dem Samen des getöteten Stiers aufgefüllt. Im Norden scheint ein anderes Monster den Wolf bei seinem Tun zu unterstützen. Es haust in Hvergelmir, einem Jenseitsort übelster Manier, ausdrücklich am „schlimmsten“ von allen bisher aufgezählten (Gylf 52), in einer mythischen, utopischen Kosmographie ist er in den Tiefen des geöffneten Wolfsschlunds selbst zu verorten. Es ist Níðhǫggr, in Vsp 39 bemerkenswert ähnlich zum gigantischen Blutsauger Managarmr beschrieben: þar saug Níðhǫggr nái framgengna, sleit vargr vera („dort sog Nidhögg die Leichen der Verstorbenen“). Auch Níðhǫggr saugt das Blut der Leichen, während der Wolf sie zerreißt. Vielleicht hat Snorri hier tatsächlich allzu christliche Bestrafungsmotive in seine Interpretation einer Jenseitswelt einfließen lassen, so dass aus dem Drachen Níðhǫggr fast eine Art christlicher Teufel wird, der
Vgl. Böldl 2005, S. 126, Anm. 149: Auch in der Njáls saga wird die Schlacht von Clontarf durch das endzeitliche Omen des Blutregens angekündigt. Vgl. Lasch 1900, S. 139 f. Þá gengo regin ǫll á rǫcstóla, ginnheilog goð, oc um þat gættuz, hverir hefði lopt alt lævi blandit eða ætt iǫtuns Óðs mey gefna. Siehe Vsp 40. Manches Mal nicht als der „Mondfresser“, sondern als der „der Sonne Dieb“ (vgl. etwa die Übersetzung Krause) verstanden.
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die toten Sünder quält.³⁴⁶ Aber merkwürdigerweise fehlt dieser auch in der ,himmlischenʻ, erneuerten Welt nach Ragnarǫk nicht. Nach zahlreichen Paradies-Stereotypen (paganer wie wohl auch christlicher Provenienz) erscheint in der letzten Strophe der Vǫluspá (66) ausgerechnet der Leichensauger Níðhǫggr wieder,³⁴⁷ „die glänzende Schlange“, kaum anders als zuvor, wenn man so will, als gigantischer, jetzt freilich fliegender ,Leichencontainerʻ, der aufgestiegen ist aus Niðafjǫll, seine Bahnen zieht und expressis verbis wieder versinkt, untergeht (søcqvaz). Die Forschung hat verschiedene Vorschläge für die Identität dieses Drachens gemacht, jedenfalls will dieses düstere Motiv in die malerische Szenerie der goldenen Hallen und heiteren Zusammenkünfte nicht so recht passen. Aber wohl gilt auch hier: keine Welt ohne Gegenwelt, keine Kosmogonie ohne Totenreich. Der Name Níðhǫggr wird üblicherweise als „der hasserfüllt Schlagende“ verstanden, wobei die Länge des i-Vokals nicht festgelegt ist, entsprechend auch Niðhǫggr gelesen wird. Damit lässt sich aber der erste Bestandteil (neben der Anschlussmöglichkeit an níð, „Hass, Feindseligkeit, Schmähung“) ebenso zu nið f., pl. niðar stellen, was Cleasby/Vigfusson mit „the wane of the moon, when there is ‚no moonʻ“ wiedergeben.³⁴⁸ Auch die Alliteration ný ok nið, „full moon and no moon“ (Vþm 25) gehört hierher.³⁴⁹ In Schweden und Dänemark noch gebräuchlich, sei es in Island nur noch als Kompositum bekannt, etwa niða-myrkr. Der Ausdruck bedeute im genauen Wortlaut ,Dunkelheit aufgrund des fehlenden Mondesʻ („pitch darkness and no moon“). Dann aber könnte die mythische Ortsbezeichnung Niða-fjǫll neben „Darkness Mountains“ auch mit einigem Recht als „Waning-Moon Mountains“ gelesen werden,³⁵⁰ und Níðhǫggr wäre nicht der ‚dunkle Schlägerʻ, sondern der ,Mondschlägerʻ oder ,Mondtöterʻ, was eine exakte Übereinstimmung zum Namen Mána-garmr bedeuten würde. Schon in der altindischen Mythologie zeigt sich eine durchaus verwirrende Ununterscheidbarkeit zwischen all diesen Sammlern und Beschaffern jenes begehrten Lebenswassers, so sehr, dass etwa Indra selbst, Schöpfer wie Bewahrer des Kosmos, Vgl. Egeler 2011, S. 83; Lex.Simek 2006, „Níðhöggr“, S. 300. Þar kømr inn dimmi dreki fliúgandi, / naðr fránn, neðan frá Niðafiollom; / berr sér í fioðrom – flýgr vǫll yfir – / Níðhǫggr, nái – nú mun hon søcqvaz. („Dort kommt der dunkle Drache geflogen, / die glänzende Schlange, von unten, von Nidafjöll; / er trägt in den Flügeln – fliegt übers Feld –, / Nidhögg, Leichen – nun wird er versinken.“ Vsp 66). Cleasby/Vigf. 1874, „nið“. Ähnlich an. etym. Wb 1962, „nið“: „neumond“, „abnehmender mond“. Cleasby/Vigf. 1874, „nið“: „Máni stýrir göngu tungls ok ræðr nýjum ok niðum, Edda 7; um ny hit næsta ok niðar (acc. pl.), N. G. L. i. 29; nótt með niðum,Vþm. 24; nótt ok niðjum (i. e. niðum) nöfn um gáfu, Vsp 6; máni, ný, nið, Edda 76: poët., niða borg = the heaven, Skálda (in a verse).“ Vgl. Missuno 2012, S. 249. Ein lunar motiviertes Toponym, ein ‚Mondgebirgeʻ, findet sich auch in Il. 13, 10 – 14. Poseidon steigt auf den Gipfel des Saosgebirges auf Samos, um von dort den Fortgang des Trojanischen Krieges zu beobachten. Bis heute lautet dessen Name Φεγγάρι (fengari, feggari), „Mond“. Auch die Snorra Edda kennt fengari als poetische Bezeichnung für den Mond, und es ließe sich immerhin spekulieren, ob sich die bis dato nicht recht zufriedenstellend geklärte Etymologie des Fenrisúlfr als „Sumpfwolf“ mit diesem Mondwort in Verbindung bringen ließe. Als ursprüngliche Form wäre dann etwa *fengaris-úlfr anzusetzen: „Mond-Wolf“. Siehe die bereits vorgeschlagene Grundform *fenjarr (Hellquist 1891, S. 173).
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des Frevels und des Mordes bezichtigt wird, weil er das Untier, die Schlange, Bedroher und ausdrücklich Wasserräuber Vṛtra erschlägt, obwohl er damit die Schöpfung rettet und (aufs Neue) befruchtet (Mahābhārata, 12, 273). Aber nicht nur was die moralische Wertigkeit dieser Tat anbelangt, ob sie etwa als abgrundtiefe Schlechtigkeit oder aber Heilstat für die Welt zu sehen sei, sondern auch bezüglich der eigentlichen Wesenheit des Opfers herrscht am wenigsten (mythische) Einheitlichkeit. Das Untier Vṛtra, ausdrücklich die Schlange Ahi, kann sogar mit dem Gott Soma gleichgesetzt werden,³⁵¹ dem guten Allbefruchter, also wiederum recht eigentlich mit dem Sammelbecken der Seelenessenzen, gar dem Blut der Verstorbenen, dem Mond.³⁵² Im persischen Bundahišn (34, 17) heißt es: „And as [the dragon] Gochihr within the celestial sphere shall fall from the base of the moon on to the earth, the earth shall have such distress as that of a sheep when a wolf tears off its wool.“ Opfer- und Täterrolle werden also austauschbar, und auch im Norden scheinen beide Ausformungen möglich: Der schaurige, blutige Totenmond ist das Mondungeheuer selbst, es zieht auch in einer erneuerten Welt seine Bahnen angefüllt mit Toten, mit den Toten im Gefieder. Und schließlich gilt zu bedenken, wohl wird in der Vǫluspá von einer neu ergrünten Erde gesprochen, die aus den Fluten steigt, von einer Tochter, die die Sonne („Albenglanz“) gebiert und die aufs Neue den Weg ihrer Mutter reitet (Gylf 53; Vm 47) ‒ aber der Mond? In der Utopie einer neuen Welt ist auch die Rückkehr Balders möglich: In der Logik des Raums markiert seine Abwesenheit das System selbst, Balders Anwesenheit markiert die Zeit außerhalb der Zeit, den Weltenanfang wie das Ende. Deshalb spricht der Riese Vafþrúðnir im Rätselstreit mit Odin expressis verbis von den „Urtagen“, árdaga, einem längst vergangenen Anfang der Zeit als Balders Todeszeitpunkt, seinem Ausscheiden aus dem System (Ey manni þat veit, hvat þú í árdaga sagðir í eyra syni [Vm 55]). Sein Aufenthaltsort ist das Totenreich, aber er ist auch der ,blutige Gottʻ (blóðgom tívor [Vsp 31]) und vielleicht gerade dadurch auf besondere Weise dem blutgefüllten Container, dem Totenmond verbunden.
Vgl. Lommel 1978b, S. 422; Lange 2017, S. 131. Vgl. Lommel 1966, S. 98 f.
9 Dô zôch herz ûz mit der hant: Tödliche Pflanzen 9.1 Mistel Von Anfang an hat die Eigenart der Mordwaffe, die Mistelpflanze, in der Forschung besondere Aufmerksamkeit erregt.¹ Sie galt als wesentlich zum Verständnis, als „Dreh- und Angelpunkt“ des ganzen Mythos, zumindest als ihr „auffälligstes Motiv.“² Dagegen bemerkt Schier, dass ihm das Motiv der Mistel als tödliche Waffe keineswegs so signifikant für den Mythos erscheine, wie es oft dargestellt werde,³ in der Tat nennt Saxo bekanntlich eine ganz andere Mordwaffe: ein (namenloses) Schwert. Aber wollte man diesem den Vorzug geben, hieße das denn nicht auch, so zweifelnd Liberman, „to destroy the entire Icelandic version of the myth, for an object made of iron would have sworn to Frigg not to hurt Baldr?“⁴ In Snorris Mythen-Version steht nun aber die Mistel im Mittelpunkt des Geschehens. Sie ist eine prominente Pflanze, im Grunde genommen hat sie bis heute ihren speziellen, nahezu sakralen Charakter nicht verloren, aber es ist wohl gerade dieser Nimbus, der uns den Blick ein wenig verstellt hat, zumindest prima facie unvereinbar erscheinen ließ mit den Ereignissen um Balder. Man mag an die schöne Beschreibung Plinius in seiner Naturgeschichte denken (vgl. nat. hist. 16, 249), mit welch heiliger Scheu die keltischen Druiden die Pflanze ernteten. Insbesondere bei ihrer Einholung gibt es ganz bestimmte Meidungsvorschriften, mit Eisen darf sie nicht in Berührung kommen oder sie darf nur waffenlos, werkzeuglos abgerissen oder abgeschlagen werden. Wie überhaupt der Kreis der Befugten, der Informierten eingeschränkt ist. Die Mistel gilt als omnia sanans, ein Allheilmittel, contra omnia venena („gegen alles Gift“), hier und im späteren Volkswissen, von Europa bis ins ferne Japan vermag sie alle Arten von Krankheiten zu heilen, von der Fallsucht bis zur Unfruchtbarkeit bei Frauen, sie schützt gegen Blitzschlag, Gewitter, und vieles mehr.⁵ Notorisch ist ihre Zuschreibung einer Wirksamkeit gegen böse Geister, Hexen und Dämonen, also ihre explizit apotropäischen Eigenschaften. Entsprechend werden Mistelzweige an strategisch wichtigen Stellen wie etwa Türschwellen oder Dächern angebracht oder als Talisman um den Hals gehängt. Im germanischen und nordischen Volksmund werden sie auch Marentaken oder Alpranken genannt in magischer Kongruenz von Ursache und Wirkung, dass also diese krankhaften Auswüchse an Bäumen auf gleiche Weise als Abwehrmittel gegen ihre mutmaßlichen Verursacher eingesetzt werden können. Auffallend bleibt der Umstand, dass die Mistel gerade nicht als bedrohliches Todeswerkzeug bekannt ist. Sie ist eine die Menschen in jeder Hinsicht schützende
Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 223. Neckel 1920, S. 1. Vgl. Schier 1995, 126 f. Liberman 2004, S. 10. Vgl. dazu ausführlich Marzell (du Tubeuf 1923, S. 28 – 37).
https://doi.org/10.1515/9783110789140-010
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Pflanze. Kabell hält die Mistel als negativ konnotierte Mordwaffe für „kulturhistorisch unwahrscheinlich“, allein schon ein Blick in die einschlägigen Handbücher zeige, „dass die Mistel nirgendwo ein Mittel der Tücke, sondern überall ein Zeichen des Heils und des Gedeihens gewesen ist.“⁶ Ähnlich urteilen Liberman und Neckel.⁷ Die Mistel ist eine glückbringende Pflanze, „no misteltoe, no luck“, so heißt es in Wales,⁸ sollte sie doch einmal als böse, schadenbringende Pflanze auftreten, dann gegen böse, schädliche, missgünstige Zielgruppen oder, um ein Vergehen, einen Frevel zu ahnden. So soll im Jahr 1657 in Norwood, südlich von London, eine Eiche mit Misteln gefällt worden sein. Mehrere Leute hätten sich diese abgeschnitten, um sie an die Apotheken Londons zu verkaufen. Die Bestrafung folgte buchstäblich auf dem Fuß, einer dieser Frevler soll lahm geworden sein, einer verlor ein Auge, wieder ein anderer brach sich das Bein.⁹ Verstümmelungen dieser Art sind mythische Verstümmelungen, bezeichnend für Grenzverletzter, Tabubrecher. Und tatsächlich evoziert diese Episode, wie wir noch sehen werden, Reminiszenzen an einen Tabubruch von kosmischer Tragweite. Aber auch im Mythos von Balder – nur Balder gegenüber! – entwickelt die Mistel diese verhängnisvolle, tödliche Wirkung. Ein Umstand, den die Forschung wohl manches Mal registriert, aber doch letztendlich übergangen hat, gerade weil es in auffallendem Gegensatz zum ‚Geistʻ des Baldermythos zu stehen schien. Zunächst aber wird man davon ausgehen müssen, selbst wenn der Mistel auch der Ruf als Wunderpflanze bis nach Island vorausgeeilt sein mag – die Isländer kannten die Pflanze nicht.¹⁰ Island gehörte nicht zum Verbreitungsgebiet dieser Pflanze, man scheint also auch ihr botanisches Erscheinungsbild nicht gekannt zu haben, die Beschreibung der Vǫluspá passt ja so wenig wie Snorris Vorstellung: „[G]ewachsen war, überm Feld hoch, / schmal und sehr schön, der Mistelzweig“ ([S]tóð um vaxinn, vǫllom hæri, / miór oc mioc fagr, mistilteinn [Vsp 31]). „Aus diesem Holz wurde, das dünn schien, das gefährliche Harmgeschoss, Höd schoss es.“ (Varð af þeim meiði, er mær sýndiz, / harmflaug hættlig, Hǫðr nam scióta [Vsp 32]). Der Verfasser der Vǫluspá stellt sich eine auffallend hoch gewachsene, schöne, eher schmächtige Pflanze vor, jedenfalls holzartig, ein Bäumchen oder einen Baumschössling vielleicht. In der Gyl-
Kabell 1965, S. 7. Weniger bedeutsam mag sein Einwand sein, dass die Mistel auch „waffentechnisch absurd“ gewesen sei. Konzepte mythisch magischen Denkens müssen keineswegs einer Realprobe standhalten. Noch weniger vermag man seiner Idee zu folgen, dass der Mistelzweig selbst der nicht initiierte Krieger Hǫðr gewesen sei. „The mistletoe as a deadly weapon also causes surprise, because in superstitions all over the world, this plant promotes fertility, makes one invulnerable, serves as an antidote against poison, etc.“ (Liberman 2004, S. 28). „Man hat es auffällig gefunden, daß die Mistel, die im Volksglauben überall eine heilende, schützende, fördernde Wirkung ausübt, in der Baldrsage die entgegengesetzte Rolle spielt. Dies ist in der Tat auffällig“ (Neckel 1920, S. 181). Diese Überlegung führt Neckel dann im Folgenden zu dem Schluss, dass die Bewerfungsszene wohl eigentlich zunächst als „wohltätige[ ] Veranstaltung“ (Neckel 1920, S. 181) zur ,Erquickungʻ des Gottes gedacht gewesen sei. Frazer 1922, S. 663. Vgl. Marzell (du Tubeuf 1923, S. 31). Vgl. Liberman 2004, S. 26.
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faginning scheint es sich auf gleiche Weise um eine ,inkorrekteʻ Pflanze zu handeln: Nachdem Loki der Frigg das Geheimnis um die Verwundbarkeit Balders entlockt hat, lässt Snorri Loki den Spross direkt aus dem Boden herausreißen oder herausziehen. (En Loki tók mistiltein ok sleit upp [Gylf 49]). Um die Mistel kann es sich nach alledem nicht handeln. Und nicht einmal die Bezeichnung mistil für das Pflanzenkonzept viscum album scheint in Skandinavien – selbst dort, wo die Pflanze heimisch ist – ursprünglich zu sein.¹¹ Also vielleicht ein ,botanisches Missverständnisʻ?¹² Ja, könnte das exotische Pflanzenmotiv seinerseits eine ursprünglichere, einheimische Pflanze verdrängt haben, aber welche und aus welchen Gründen?¹³ Ein langer Fragenkatalog tut sich hier auf, an dem sich die Forschung letztendlich bis heute wenig befriedigend abgearbeitet hat. Natürlich könnte das Mistelwort etwa als altenglisches Lehnwort in einer Zeit intensiver skandinavisch britischer Kontakte in der Wikingerzeit in den Norden gekommen sein, weil es womöglich als prestigeträchtiger, wohl auch geheimnisvoller und entsprechend passender für eine Zauberpflanze angesehen worden war. Ein Anknüpfungspunkt, eine gemeinsame ursprüngliche Vorstellung muss aber doch bestanden haben. Nun findet sich die Mistel tatsächlich, trotz all ihrer Exotik, expressis verbis schon in frühen einheimischen Runen-Inschriften, so auf dem Runenstein von Gørlev (9. Jh.) als Teil eines magischen Bannspruchs in einem sepulkralen Kontext. In einer mehrfach bezeugten Formel erscheint sie hier zusammen mit der Distel: Þistill mistill kistill („Distel, Mistel, [kleine] Kiste“), und sie muss einen Bezug zur weiteren Inschrift haben: Niūt vel kumbls!, etwa „Genieße dein Grab!“, eine Art vorchristliche Requiescat in pace-Formel, wenn man so will, mit unverkennbar apotropäischen Implikationen.¹⁴ Das heißt aber doch, am frühesten bekannt im
Vgl. Liberman 2004, S. 28: Die einheimische Bezeichnung in Norwegen lautet: ledved (led „limb“; ved „wood“), in Schweden: fogellim „bird lime“ (da aus dessen klebrigen Beeren ein Leim zum Vogelfangen hergestellt wurde), daneben maretulle, flygrön, in Dänemark: fuglelim, flyverøn. Den Pflanzennamen mistelten gibt es zwar, dann aber bezeichnenderweise gerade nicht für die ,Mistelʻ, sondern für andere wintergrüne Pflanzen, z. B. ‚Efeuʻ. Lindow 1997, S. 60. Vgl. Liberman 2004, S. 27. Liberman verweist in diesem Zusammenhang auf einen häufigen Fehler in der Mythenanalyse: Aus der Existenz eines einzelnen, ganz offenbar entlehnten, fremden Motivs dürfe gerade nicht auf die Entlehnung des ganzen Mythos geschlossen werden: „The use of the mistletoe, about whose properties west Scandinavian mythographers knew only from hearsay, cannot be the original element of a Norwegian or Icelandic myth. But one should beware of hasty conclusions like the one at which Kaarle Krohn arrived […]. He followed Sophus Bugge in all major points and traced the myth of Baldr to Scandinavian settlements in England, a country well acquainted with the mistletoe, where it had allegedly developed from Christian legends and much later reached Sweden (whence Baldr) and Finland (whence Lemminkäinen). Krohn made the same mistake many others made before and after him. He reasoned that if the use of the mistletoe in the scene of Baldr’s death is of non-Scandinavian provenance (I mean continental Scandinavia), the whole myth must have been borrowed. This is a non sequitur. There is still another possibility, namely, that in an older Scandinavian version Baldr was killed with a different plant, but for some reasons […] it was replaced with the mistletoe.“ Düwel 2008, S. 98 f.
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südskandinavischen Raum scheint die Mistel ausgerechnet in einem Beerdigungskontext gewesen zu sein, in einer Fluchformel, ein Umstand der für weitere Überlegungen auf jeden Fall bedeutsam sein muss.¹⁵ Und auch ein Schwert, das die nordischen Quellen unter dem Namen mistilteinn kennen, ist das Schwert eines Untoten, eines Berserkers Þráinn, das ihm im Grabhügel abgerungen wird (siehe Hrómundarsaga Greipssonar).¹⁶ Wir könnten also Schiers Relativierung bezüglich der Mistel in die Richtung verstehen, dass womöglich zunächst weniger das konkrete botanische Erscheinungsbild der Pflanze im Zentrum mythischer Überlegungen stand als vielmehr das Gedankengebäude, der Wissensrahmen, in den diese eingebunden war. Gut möglich, dass die Mistel, ja überhaupt eine Pflanze, erst die letzte, prominenteste Aktualisierung in diesem Modell war und dann tatsächlich in diesem Sinne, aber nur in diesem Sinne, austauschbar wäre. An alternativen Mordpflanzen mangelt es ja zunächst nicht. So wäre etwa der Lauch anzuführen (allium, an. laukr, laukaʀ), das „Panazee“ des Nordens, gerade in seinem (magischen) Wirkspektrum, in seinen apotropäischen Fähigkeiten der Mistel erstaunlich ähnlich.¹⁷ Darüber hinaus würde er in seiner äußeren Erscheinungsform, in seiner buchstäblichen ‚Exzellenzʻ viel eher zur Beschreibung der Vǫluspá passen. In der Gudrun-Klage auf den toten Helden Sigurðr erscheint der Lauch als Bild des in jeder Hinsicht Herausragenden: „So war mein Sigurd neben den Söhnen Gjukis, / wie Speerlauch übers Gras gewachsen / oder wie ein glänzender Stein aufs Band befestigt, / ein Edelstein über den Edlen.“¹⁸
Vgl. Düwel 2008, S. 98 f. Auf der B-Seite des Steins erscheint der Spruch in einer Buchstabenfolge þmkiiissstttiiilll. Auch Düwel geht (mit Axel Olrik) von einer Zauberformel aus, die genaue Bedeutung und Wirkungsweise hält er indes für unklar. Natürlich ist es zunächst einmal der formale Gleichklang der Wortfolge, der dem Spruch magische Wirksamkeit verleiht, in vielen Fällen ist es ohnehin ausschließlich die formale Gestaltung (mit entsprechendem Formzwang) und eine geringe bis gar keine inhaltliche Referenz, die diese zauberische Wirksamkeit ausmacht. Und diese muss keineswegs an das Grab selbst geknüpft gewesen sein. Auch ausschließlich Gedenksteine für Verstorbene könnten in einer Art „Fernwirkung“ (Düwel 2008, S. 99) auf den Toten gewirkt haben. Das wurde bekanntlich umso dringlicher notwendig, wenn umständehalber kein richtiges Grab und damit keine korrekt durchgeführten Begräbnisriten möglich waren. Dennoch scheint die Formel kein ausschließlicher Grabbannungsspruch oder Totenzauber gewesen zu sein. Der Spruch findet sich (neben einer weiteren Steininschrift im Stein von Ledberg) auch in einer mittelalterlichen Stabkirche. Literarisch eingebunden finden wir ihn im Busla-Fluch (Buslubœn). Ein (noch lebender) König soll zu einem Meinungsumschwung gezwungen werden und hier scheint unterschiedslos alles aufgeboten, was der mittelalterliche Schreiber an Fluchformeln ausfindig machen konnte (vgl. Heizmann 1998b, S. 520). Ein gleichnamiges Schwert war im Besitz eines Sæmingr (Herv. 3). Vgl. Heizmann 2001a, S. 338; siehe auch Heizmann 1992; Heizmann 2011, S. 556 f. Svá var minn Sigurðr hiá sonom Giúca, / sem væri geirlaucr ór grasi vaxinn, / eða væri biartr steinn á band dreginn, / iarcnasteinn yfir ǫðlingom (Gðr I, 18). Ähnlich in Guðrúnarqviða ǫnnor: Svá var Sigurðr uf sonom Giúca, / sem væri grœnn laucr ór grasi vaxinn. („So war Sigurd neben den Söhnen Gjukis, / wie grüner Lauch über das Gras gewachsen“ (Gðr II, 2).
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Liberman bevorzugt die Distel oder den Rohrstängel als „best candidates“,¹⁹ erstere wird wohl durchaus erfolgreich im Skírnir-Fluch gegen die unwillige Gerðr eingesetzt,²⁰ natürlich der reyrsproti der Gautreks saga (Kap. 7), der König Víkarr ums Leben bringt. Gerade hier ergeben sich freilich schon ganz grundsätzliche, strukturelle Unterschiede. Ein Konzept der rein symbolischen Zeigefähigkeit kann für die Mistel zu keinem Zeitpunkt, in keiner Kultur in Anschlag gebracht werden. Niemals lief die Mistel unter der Rubrik Harmlosigkeit. Andererseits ist auch im Pflanzenkonzept des Rohrstängels, der Binse (wie wir noch sehen werden) uraltes mythisches wie ritualpraktisches Wissen verkörpert, das mit der Neumotivierung, der Aktualisierung in der Saga nichts mehr gemein hat, ja nachgerade damit kollidiert. Nun beruht die Vorstellung einer zauberischen Kraft einer Pflanze keineswegs auf einer empirisch erfahrbaren Wirksamkeit, etwa im Sinne eines spezifischen pharmazeutischen Inhaltsstoffes, sondern häufig genug auf äußere, formale, sensuelle Aspekte. Daraus entstehen im Weiteren deren ins Magisch-Übernatürliche gesteigerten Syntagmatismen. Mit der Mistel ist die übliche, vorwissenschaftliche Auffassung des parasitären Epiphyten verbunden, der immergrünen Schmarotzerpflanze, die sich ganz offenbar selbst mächtigste Wirtspflanzen, etwa die Eiche, untertan machen kann. Überall auf der Welt wird Epiphyten magische Kompetenz zugeschrieben, tatsächlich aber wohl weniger aufgrund ihres Schmarotzerdaseins als vielmehr aufgrund der daraus resultierenden Kategorienlosigkeit. Es ist die im magischen Denken allumfassende, tief sitzende Furcht vor der Uneindeutigkeit, der Nichtdefinierbarkeit, der Unmöglichkeit, einen Status zu bestimmen (wenngleich wohl Kennzeichen menschlichen Denkens überhaupt, zumal die modernen, wissenschaftlichen Diskurse Nichtdefinierbarkeit mit kaum geringerem Unbehagen registrieren), die der Pflanze letztendlich ihre Wirksamkeit zuweist: Man weiß nicht wo sie herkommt, kennt ihren Ursprung nicht, nicht ihre Wurzeln, ja sie scheint überhaupt außerhalb der üblichen, natürlichen Jahreszyklen zu stehen. Auffällig genug, erkennen wir in all diesen (präsumtiven) Eigenschaften den Beschreibungskatalog für eine andere Wunderpflanze: Es ist der Weltenbaum selbst, Yggdrasill, als dessen „irdische[r] Repräsentant[ ]“ der Tempelbaum von Uppsala gesehen wird: „Nahe bei diesem Tempel steht ein sehr großer Baum, der seine Zweige weithin ausbreitet und im Winter, wie im Sommer immer grün ist. Welcher Art derselbe ist, weiß niemand.“²¹ Gerade in der Liberman 2004, S. 48. Zur apotropäischen Funktion der Distel ausführlich Heizmann 1996, mit Hinweis auf eine Stelle im isländischen Svartkonstbok (Lindqvist (Hg.) 1921, S. 50), in der „eine magische Maßnahme zum Schutz vor unwillkommenen Besuchern“ angeführt wird (vgl. Heizmann 1996, S. 98). Ein „Ebereschenzweig“ (reinerz sprotanum) spielt darin ebenso eine Rolle wie ein gewisses „Dornengras“ (þyrni grase), das zu diesem Zweck an der Tür anzubringen ist. Am wahrscheinlichsten sei darunter die Distel zu verstehen: „In dieser abwehrenden Funktion, speziell als unheil- und dämonenabwehrend, sind Disteln und generell alle Arten von Dornsträuchern und dornigen Gewächsen sowie scharfe und spitze Gegenstände reichlich belegt“ (Heizmann 1996, S. 98 f.). Prope illud templum est arbor maxima late ramos extendens, semper viridis in hieme et aestate; cuius illa generis sit, nemo scit (Hamburger Kirchengeschichte, Kap. 26, Schol. 134).
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Schilderung Adams von Bremen scheint eine korrekte Kategorisierbarkeit kaum möglich, denn Yggdrasill erscheine wohl stets in den Quellen als askr, als „Esche“, so Heizmann, gleichzeitig aber werde sie auch in der Vǫluspá (19) als „immergrün“ (stendr æ […] grœnn) beschrieben, was wiederum eher eine Eibe als Denotat vermuten ließe. Allerdings müsse gerade in diesem Fall mit dem Einfluss mythisch gegründeter Wissensmodelle gerechnet werden.²² Auch die dem Wunderbaum an anderer Stelle zugesprochene Wurzellosigkeit (Fjm 14) gehört hierher. Tatsächlich ist nicht einmal die in dieser Hinsicht noch unspezifischere Aussage, late ramos extendens, „der seine Zweige weithin ausbreitet“, in einem mythischen Zusammenhang ein rein deskriptives, naturalistisches Detail, ja es ist vermutlich, wie sich noch zeigen wird, die wohl bedeutsamste, gefährlichste, exzessivste Eigenschaft des Baums. Unabhängig davon aber, ob die Mistel als Pflanzenkonzept im Baldermythos ihren ursprünglichen Platz hat oder eine andere Pflanze von ihrem Platz verdrängte, ist es doch diese Affinität zum Weltenbaum selbst, die wir im Auge behalten müssen. Und weiter gilt es zu bedenken: Die Pflanzenförmigkeit scheint wohl das Primäre, selbst die magisch geschmiedete oder hergestellte Waffe hat eine gewisse Art von Pflanzenhaftigkeit (und sei es nur im Namen) nicht abgelegt, andererseits aber scheint gerade die Vorstellung des ‚Gemachtenʻ, des ‚Hergestelltenʻ, des ‚Künstlichenʻ auch für die Mistel auf besondere Weise immer mitzulaufen.
9.2 Ramus aureus Die Prominenz der Mistel im nordischen Baldermythos hat ihre Entsprechung in einer kaum weniger prominenten antiken Quelle des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Es ist die berühmte Unterweltfahrt des Äneas, die Vergil im 6. Buch seiner Aeneis schildert. Gerade hier spielt die Mistel eine außergewöhnlich wichtige Rolle: Ihr wird die Macht zugeschrieben, die Pforten der Unterwelt zu öffnen.²³ Damit diese Reise in die Welt der Toten überhaupt möglich ist, muss Äneas mit Unterstützung der Seherin Sybille den so genannten ramus aureus, den „goldenen Zweig“, finden (der indes von Vergil nie explizit als ‚Mistelʻ bezeichnet wird).²⁴ Die unheilabwehrende Funktion
Vgl. Heizmann 1989, S. 563. Vgl. de Vries 1956– 1957, II, S. 224 f. De Vries verweist auf Saxos Darstellung, wo das gleiche von der Schierlingspflanze berichtet wird: Mit deren Hilfe kann Haddingus den Zugang zum Totenreich öffnen. Vgl. Aen. VI, 136 – 148: [L]atet arbore opaca / aureus et foliis et lento vimine ramus, / Iunoni infernae dictus sacer; hunc tegit omnis / lucus et obscuris claudunt convallibus umbrae. / sed non ante datur telluris operta / subire auricomos quam quis decerpserit arbore fetus. / hoc sibi pulchra suum ferri Proserpina munus / instituit. primo avulso non deficit alter / aureus, et simili frondescit virga metallo. / ergo alte vestiga oculis et rite / repertum carpe manu; namque ipse volens facilisque sequetur, / si te fata vocant; aliter non viribus ullis / vincere nec duro poteris convellere ferro. („Golden mit zähen Reisern und Blättern versteckt sich ein Zweig auf schattigem Baume: / Iuno, der stygischen, ist er geweiht; es bedeckt ihn der ganze Hain, und schattiger Wald umschließt ihn im dunkelen Tale. / Doch ist keinem erlaubt, in die Tiefen der Erde zu dringen, / Wenn er zuvor nicht des Baums goldhaarige Sprossen
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scheint also sogar im Jenseits zu wirken, die Mistel vermag Einfluss auf die Totengeister auszuüben. Äneas erhält von der Seherin nun Informationen, ganz ähnlich wie Loki von Frigg oder ein anderer Grenzgänger, Svipdagr (Fjǫlsvinnsmál), von Fjǫlsvinnr dem „Vielwisser“, wo dieser Wunderzweig überhaupt zu finden sei, auf welche Weise er zu erlangen sei, mit welchen Schwierigkeiten zu rechnen sei usw. Und die zauberkundige Sibylle ebenso wie die zauberkundige Frigg (und Fjǫlsvinnr) wissen Rat und geben bereitwillig Auskunft, im Fall der Frigg fast zu bereitwillig hat man den Eindruck. Schon bei Vergil erscheint der Wirtsbaum der Mistel in einer auffallend düsteren, jenseitigen Umgebung. Äneas macht sich schweren Herzens, mit schweren Gedanken auf die Suche. Und er muss noch eine weitere Vorbedingung erfüllen für deren Erlangung: die Bestattung seines Kameraden Misenus. Nur wenn diese ordnungsgemäß, rite, durchgeführt wird, ‚zeigtʻ sie sich. Aus der Erzählung heraus kaum motiviert erscheint also bereits hier die Mistel auf gewisse Weise mit einem Bestattungsritual verknüpft. So kommt es zunächst zu einer Feuer-Bestattung am Strand. Dieser Beerdigungs-Ritus wird in allen Einzelheiten beschrieben, und, auffallend genug, besonders ausführlich wird dabei das Fällen der Bäume geschildert, die notwendig sind für den Leichenbrand. Äneas steht dabei ausdrücklich in erster Reihe, wie es heißt, die Fichten und die Eichenbäume stürzen und zersplittern unter seiner Axt, Eschen zerbersten, die Ulmen werden vom Berg herabgewälzt, all das macht den Eindruck eines sehr urgewaltigen Szenarios: Alle erheben ein großes Geschrei; doch der fromme Aineias / Jammert zumeist. Dann ohne Verzug vollziehen sie weinend / Rasch der Sibylla Geheiß, wetteifernd den Totenaltar ihm / Aus Baumstämmen zu baun und hoch zum Himmel zu häufen. / Und in das alte Gehölz, in des Waldtiers hohe Behausung, / Ziehn sie; es stürzen die Fichten; der Eichbaum dröhnt von dem Axtschlag. / Eschen zerspaltet der Keil zu Gebälk; Steineichen zersplittern, / Und von den Berghöhn wälzt man herbei hochstämmige Ulmen. / Auch Aineias steht nicht zurück: er ermahnt die Genossen / Selbst als der erste zum Werk, mit denselbigen Waffen gerüstet (Aen. 6, 175 – 184).²⁵
Erst nachdem diese ,Fällorgieʻ abgeschlossen ist, erhält Äneas ein Zeichen: Vögel (die Tauben seiner Mutter Aphrodite) lassen sich auf dem Wirtsbaum nieder und er erkennt
gepflückt hat, / Die zum Ehrengeschenk sich die schöne Proserpina weihn lässt. / Pflückt man den Zweig, so wächst sogleich nach dem ersten ein zweiter, / Golden wie jener; es schlägt ein Reis von demselben Metall aus. / Spähe daher hoch aus mit dem Blick und, wenn du ihn findest, / Pflück ihn ab mit der Hand; denn er folgt dir leicht und von selbst, / Wenn das Geschick dich ruft. Sonst wirst du mit keiner Gewalt ihn / Zwingen; du könntest ihn selbst mit dem härtesten Eisen nicht abhaun“ (Übers. Hertzberg 1853 – 1859). [E]rgo omnes magno circum clamore fremebant, / praecipue pius Aeneas. tum iussa Sibyllae, / haud mora, festinant flentes aramque sepulcri /congerere arboribus caeloque educere certant. / itur in antiquam silvam, stabula alta ferarum; / procumbunt piceae, sonat icta securibus ilex / fraxineaeque trabes cuneis et fissile robur / scinditur, advolvunt ingentis montibus ornos. / Nec non Aeneas opera inter talia primus / hortatur socios paribusque accingitur armis.
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sogleich den „goldenen Zweig“, der sich indes – bemerkenswert genug – weniger von organischer, sondern eher von metallener Konsistenz zu zeigen scheint: So wie die Mistel im Wald beim Froste des Winters mit neuem / Grün sich belaubt, das nicht aus dem Stamme des Baumes entsprossen, / Und um den rundlichen Ast sich mit safranfarbnem Gezweig schlingt, / So war der Schimmer des goldenen Laubs inmitten der dunkeln / Eiche, so regte das Blech sich knisternd beim leisesten Winde (Aen. 6, 205 – 9).²⁶
Das heißt, die Mistel erscheint zunächst in einem diesseitigen Ritualkontext, um dann im Folgenden ihre stets als eigentliche Hauptrolle empfundene Funktion im jenseitigen unterweltlichen Milieu zu spielen. Äneas benötigt den Zweig als Weihegeschenk für Proserpina, die Göttin der Unterwelt, nur so kann er sich zu seinem verstorbenen Vater Anchises begeben (dem eigentlichen Zweck seiner Unterweltsfahrt) und ausdrücklich auch wieder zurückkehren. Ihn hat er bekanntlich auf dem Rücken tragend zusammen mit seinem Sohn und den gleichermaßen tragbaren Ahnenfiguren, den Penaten, aus dem brennenden Troja gerettet. Ein hochsymbolisch aufgeladener Akt, es ist die Urzelle des Gründungsgeschehens: Nicht nur die Lebenden, gerade die Toten, die Ahnen gehören zwingend zur Translation, zum Gründungsakt in der neuen Heimat in Latium. Es ist die nämliche Vorstellung, die wir bereits in der Vatnsdœla saga angetroffen haben, wo ein mysteriöser hlutr bei der Auswanderung und Etablierung Ingimundrs auf Island eine zentrale Rolle spielt.²⁷ Auf mysteriöse Weise geht der Talisman verloren und wird mit der Hilfe zweier divinatorisch begabter Samen wiedergefunden auf Island. Damit ist schließlich auch Ingimundr überzeugt (der bis dato kaum anders als Äneas am wenigsten Absicht zeigte, seinen schönen Familienstammsitz zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen), dass der göttliche Ahnherr Freyr auf diese Weise seinen Willen kundgetan habe. Auch Äneas nimmt Kontakt mit seinem vergöttlichten Ahnen, seinem Vater, auf, nur mit dessen Divination, der seherischen Gabe des Toten, vermag er erfolgreich die Stadtgründung Roms zu bewerkstelligen. Für diese wichtige, aber gleichzeitig auch hochgefährliche Kontamination mit dem Jenseits benötigt er den Schutz des Zweiges. Der wütende Fährmann Charon, der sich zunächst weigert, Lebende überzusetzen, wird damit auf gleiche Weise besänftigt wie der Höllenhund Cerberus mit Honigbrocken und Zauberliedern. Man macht sich die Totenwelt gefügig. Freilich erscheint der Zweig auch hier ausschließlich in dieser Funktion, als Mittel der Bannung, keine Rede von einer feierlichen Übergabe an die Hausherrin, die Unterweltgöttin Proserpina, lediglich in limine, auf deren Schwelle muss er ihn ablegen. Es ist die gleiche Verwendungsweise wie sie aus dem folkloristischen Brauchtum bekannt ist, auch und gerade aus dem Bestat-
[Q]uale solet silvis brumali frigore viscum / fronde virere nova, quod non sua seminat arbos, / et croceo fetu teretis circumdare truncos, / talis erat species auri frondentis opaca / ilice, sic leni crepitabat brattea vento. Vgl. Meulengracht Sørensen 1992, S. 722 f.
9.3 Eberesche
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tungskontext: die Bannung, die Abwehrmaßnahme gegen die Toten, die geschützte Grenzüberschreitung und ‒ die erfolgreiche Rückkehr der Lebenden.
9.3 Eberesche In der Forschungsgeschichte zum Baldermythos wird häufig auf die Mistelepisode bei Vergil referiert, selten auf die genaueren Umstände,²⁸ nie aber auf zwei andere Werke, die damit in engem Zusammenhang stehen, dem Baldermythos aber vermutlich sogar noch wesentlich näherstehen als das lateinische Epos. Gemeint sind der anonym überlieferte altfranzösische Roman d’Eneas (ca. 1160) und der mittelhochdeutsche Eneasroman des Heinrich von Veldeke²⁹ kaum ein Jahrzehnt später. Veldeke kannte das lateinische Original, wenngleich er sich den französischen Roman zur Vorlage nahm, und interessant sind gerade hier die Veränderungen, die beide vorgenommen haben im Bezug auf die Unterweltepisode.³⁰ Die Schilderung der Gylfaginning (wie Vǫluspá) über Art und Aussehen der Mistel galt lange Zeit, wie bereits erwähnt, als gewissermaßen nordisches botanischen Missverständnis, durchaus einschlägig scheint schließlich die Beschreibung der Einholung der Mistel durch Loki: Loki tók mistiltein ok sleit upp ok gekk til þings (Gylf 49). Snorri lässt Loki den Spross direkt aus dem Boden herausreißen oder herausziehen, dann eilt er damit stante pede zum Thing, wo ja bekanntlich schon das Wurfspiel im Gange ist. Und eben an dieser Stelle zeigt Snorris Version eine auffallende Übereinstimmung mit dem mittelhochdeutschen Werk. In dessen Entstehungsgebiet war die Mistel und ihre botanischen Eigenschaften bekannt, aber, man staune, hier erklärt die Seherin Sibylle Äneas, sollten ihm die Götter gewogen sein, kann er das rîs, den Zweig, mit Leichtigkeit aus der Erde ziehen, ûz der erden / geziehen viele lîhte (ER 87, 30 – 31). Und ebenso hurtig wie Loki erledigt Äneas mithilfe der Götter den Auftrag, dô sanden sie in an die stat / rehte dâ her ez vant. / dô zôch herz ûz mit der hant (ER 88, 4– 6). Auch hier kann es sich keinesfalls um ein Baumgewächs handeln, sondern um ein Gewächs, das aus dem Boden sprießt, und wohlgemerkt, Veldeke wandelt diese Passage eigenwillig ab, die lateinische wie die französische Vorlage haben andere Vorgaben.³¹ Dem mittelhochdeutschen Autor scheint also eine andere Pflanze vorgeschwebt zu haben, aber wohl gerade nicht aus einer Verwechslung heraus oder Unwissenheit, sondern weil er sie für gegebenenfalls austauschbar hielt. Dann stellt sich aber doch die Frage, ob dies nicht auch für Snorri und den Poeten der Vǫluspá anzunehmen wäre. Nun ist das so genannte Epiphytentum, das prototypische Kategorienmerkmal der Mistel, nicht einmal heute, in modernen wissenschaftlichen Diskursen ganz eindeutig zu bestimmen, noch viel weniger in vormodernen. So hat man einfach alle Pflanzen,
Siehe aber ausführlich Neckel 1920, S. 187– 91. Ettmüller (Hg.) 1852. Vgl. Christ 2015, S. 77. Vgl. Christ 2015, S. 80 f.
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die auf einer anderen Pflanze wachsen, unabhängig davon, ob diese nun wirklich parasitär in den Stoffwechsel ihrer Wirtspflanze eingreifen, mit ähnlichen Eigenschaften belegt. Und so erscheint etwa die Eberesche (Sorbus aucuparia, an. reynir), die aufgrund ihrer spezifischen Anlagen als so genannte Pionierpflanze in Felsritzen oder Spalten zu wachsen vermag und – in gewisser Weise ‚pseudoepiphytischʻ – auch auf anderen Bäumen, häufig genug austauschbar mit der Mistel. Entsprechend ist auch die Palette von (magischen) Wirkmustern und Einsatzmöglichkeiten nahezu identisch. Kaum unerwartet teilen sich Mistel und ‚Epiphyten-Eberescheʻ auch ein Benennungskonzept: flyverøn, flygrön, flogrogn. Aber die Eberesche muss natürlich nicht als Epiphyt wachsen, sondern tut dies üblicherweise ganz gewöhnlich auf der flachen Erde, auf der Wiese, im Feld. Allerdings, wichtig genug, verliert sie dabei keineswegs ihre magische Wirkmacht, was wohl nicht zuletzt ihrer tatsächlichen botanischen Fähigkeit zuzuschreiben ist, sich in liminalen Habitaten aller Art gut zurechtzufinden, in Brachen, Waldrändern, Flussufern. Veldeke und vielleicht sogar Snorri könnten also möglicherweise an eine Eberesche gedacht haben. Insbesondere hatte die Eberesche, im Gegensatz zu der Mistel, die kein einziges weiteres Mal mehr im mythologischen Kontext auftaucht, schon einen festen Platz in der altnordischen Mythologie wie Sagawelt. Tatsächlich findet sich auch in den Kenningar der Ausdruck reynir, „Erprober (der Waffen)“ für Speer, der mit reynir, „Eberesche“, formal identisch ist.³² Nun wird reynir üblicherweise von urn. *rauðnia- „die Rote“ abgeleitet, sei es von der Farbe der Beeren, aber wohl eher von der braun-rötlichen Farbe des Holzes, entsprechend scheint auch die Etymologie der Eberesche als „Aber-Esche“, als „falsche“ Esche inzwischen nach allgemeiner Übereinkunft eine volksetymologische zu sein. Man geht von einer alten Farbbezeichnung aus, die auf die idg. Wurzel *ereb(h)-
Ausgehend von dieser Homonymie seien, so Snorris eigene Begründung, sämtliche (weitere) Baumkenningar entstanden: Ok fyrir ϸví at hann er reynir vápnanna ok viðr víganna – alt eitt ok vinnandi; viðr heitir ok tré, reynir heitir tré – af ϸessum heitum hafa skáldin kallat menn ask eða hlyn, lund eða ǫðrum viðar heitum karlkendum ok kent til víga eða skipa eða fjár. („Und weil er der Erprober (Eberesche) der Waffen ist, und der Leister (Baum) der Kämpfe, ist es ein und dasselbe wie der Verrichter. Baum heißt der große Baum, die Eberesche ist auch ein Baum. Nach diesen Namen haben die Skalden den Mann Esche oder Ahorn genannt, ebenso Hain oder mit einem anderen männlichen Baumnamen und ihn näher bezeichnet mit Kämpfen, Schiffen oder Eigentum“ [Skáldsk 31]). Heizmann sieht in diesen Überlegungen allerdings eher eine im Nachhinein rationalisierende Erklärung. Vorstellungen von Menschen, die nach Baumkonzepten gestaltet seien, fänden sich weltweit in magischer Identität wie literarischer Metaphorisierung (vgl. Heizmann 2012b, S. 167 f.). Man denke an das erste Menschenpaar als von den Göttern beseeltes Treibholz oder an die Wiederverkörperung nach dem leiblichen Tod als Baum (Baumstrunk), als tréman oder trémaðr. Tatsächlich gehört eine Runenritzung raunijaṚ (reynir) auf der Speerspitze von Øvre Stabu zu den ältesten erhaltenen Runendenkmälern (2. Hälfte 2. Jh.). Die Bezeichnung ‚Erprober‘ passt zweifelsohne zur Semantik anderer Waffenbenennungen als „magisch-poetische Bezeichnung der Angriffswaffe“ (Düwel 2008, S. 24), siehe die Nomina agentis ranja „Anrenner“, tilarids „Zielreiter“, wagnijo „die Laufende“. Aber ob es sich mit letzter Sicherheit sagen lässt, welche Assoziation bei der Nennung reynir evoziert wurde, zumal auch zahlreiche Schwerternamen zweifelsfrei aus der Welt der Pflanzen stammen?
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„dunkelrötlich, bräunlich“ zurückgeführt wird.³³ Gerade Thor ist nun mit der Eberesche aufs engste verbunden, sie gilt als bjǫrg Þórs „die Rettung Thors“. Er kann sich an ihren Ästen aus dem Fluss Vimur retten,³⁴ den die Riesentochter Gjálp, indem sie breitbeinig ins Wasser uriniert, in eine reißende Flut verwandelt. Dieses Mythologem ist auch bekannt in Verbindung mit Achilles. Auch Achilles musste um sein Leben fürchten, nachdem er den Flussgott Skamandros (Xanthos) böse verärgert hatte durch ein Übermaß an Leichen, das er in dessen Flussbett geworfen hatte und damit den Lauf des Wassers zum Stillstand gebracht hatte (Il. 21, 218‒39). An den Ästen einer Ulme kann er sich im letzten Moment aus dessen Fluten retten.³⁵ Im Norden staut Thor den Fluss durch einen gezielten Steinwurf auf dessen ,Ursprungʻ.³⁶ Hier mag man von einem gemeinsamen indogermanischen Motivkomplex ausgehen, zumindest aber von einer gemeinsamen typologischen Vorstellung eines unreinen, verschmutzten Gewässers, eines Leichenflusses, eines Jenseitsflusses. Thor unternimmt hier eine Jenseitsreise, nachdem er sich zuvor präpariert hat (oder wurde) mit magischen Schutzgegenständen. Es ist seine berühmte Geirrøðr-Reise in die Welt der Riesen, letztendlich der Toten. Die Art wie diese Welt beschrieben wird als stinkend und düster und schlangenverseucht, lässt kaum anderes vermuten. Ein Wettkampf muss
„Eberesche f. ‚Vogelbeerbaumʻ, frühnhd. eberboum (Anfang 15. Jh.), Eberasch(en), Eberesche (16. Jh.). Die Varianten wie frühnhd. Abresch, Aberesche entstehen durch lautgesetzliche Vertretung von mhd. e durch a in bestimmten Landschaften; volksetymologische Umdeutung im Sinne von ‚falsche, minderwertige Escheʻ […] ist sekundär. […]. Das Bestimmungswort wird letztlich zu ie. *erb(h)-, *reb(h)‚dunkelrötlich, bräunlichʻ (s. Erpel, Rebhuhn) gestellt. Die hierzu geschaffene Bildung mit r-Suffix (frühnhd. eber‐) zeigt wie Parallelfälle in anderen ie. Sprachen (oft in der Bedeutung ‚Eibeʻ) dissimilatorischen Schwund des wurzelhaften r; vgl. air. ibar ‚Eibeʻ und gall. Eburo- in Orts- und Personennamen. Die unterschiedlichen Baumarten Eberesche und Eibe sind also nach ihren roten bzw. rötlichbraunen Beeren benannt […]“ (Pfeiffer 1993, „Eberesche“). Ok í ϸví bili bar hann at landi ok fekk tekit reynirunn nokkvorn ok steig svá ór ánni. Því er ϸat orðtak haft at reynir er bjǫrg Þórs (Skáldsk 18). („Und in diesem Augenblick kam er dem Ufer nahe und ergriff einen Ebereschenstrauch. So stieg er aus dem Fluß. Daher stammt der Ausdruck, die Eberesche sei Thors Rettung.“). „Da fasst’ er die Ulm’ in den Händen, / Frisch von Wuchs, hochragend; doch jene, gestürzt aus den Wurzeln, / Riss das Gestad’ auseinander, und sank, die schönen Gewässer / Hemmend mit dichtem Gezweig’, und überbrückte die Fluten, / Ganz hinein gestürzt; und der Held aus der Tiefe sich schwingend, / Eilte dahin durch die Ebne mit hurtigen Füßen zu fliegen, / Angstvoll“ (Il. 21, 242– 248). Hier wäre an eine Entsprechung zu weiblichen Wasserwesen der (süd)slavischen Mythologie zu denken, dämonische Furtbewohnerinnen, die eine Flussüberquerung entweder hilfreich unterstützen oder aber zu verhindern wissen. Vgl. bulg. Brodniza, „Wassernixe“, „zauberkundige Frau“, oder Brodiriza als Attribut der serbokr. Vila, „die in Meeren, Flüssen, Seen und Brunnen haust und sie bewacht“ (< *brado „seichte Stelle im Fluß oder See, Furt“) (vgl. Dukova 1997, S. 50). Die Brodniza ist „eine nackte Frau, die einen beim Namen ruft; antwortet man, so stirbt man; wirft man einen Stein nach ihr, so muß sie sterben“ (Dukova 1997, S. 50). Auch im Slavischen referiert die Benennung ihres Aufenthaltsortes auf den Sinnbezirk des verschmutzten, morastigen, seichten Wassers (siehe serbokr. brodnica „nautea, stinkendes Wasser im Schiffsinneren“; slov. brodnica „Watvogel“, russ. dial. brodniza „Schlamm“, čech. brodnice „Stelle, wo eine Furt ist“, kaschub. br’odhica „Sumpf, morastige Stelle“, urslav. *bradьn-icā „Ort an dem sich seichtes Wasser befindet“ (Dukova 1997, S. 50).
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bestritten werden, allerdings bei weitem weniger heiter kultiviert und vor allen Dingen gar nicht konsequenzenlos wie noch bei seiner (gleichermaßen jenseitigen) Reise zu Útgarðaloki. Die Atmosphäre ist ,archaischerʻ, die Handlungen roh, gewalttätig, drastisch. Und nun kommt der magische Stab Gríðarvǫlr zum ersten Mal zum Einsatz, den er zuvor von Gríðr, erstaunlich genug, von einer Riesin, der Mutter des schweigsamen Víðarr, zusammen mit einem Kraftgürtel erhalten hat. Thor rammt den Stab in das Flussbett, um auf diese Weise Halt zu finden in den tobenden Wasserfluten, es gelingt ihm schließlich, mit Loki den Fluss zu überqueren. Und das ,Einrammenʻ und ,Entgegenstemmenʻ geht weiter: Wenig herrschaftlich wird Thor im Ziegenstall empfangen. Jetzt muss er sich mithilfe von Gríðarvǫlr gegen die Decke stemmen, weil die Riesentöchter ihn mitsamt dem Stuhl, auf dem er sitzt, gegen den Dachstuhl drücken und zu zerquetschten drohen. Thor aber rammt den Stab gegen das Gebälk und bricht dabei den Riesentöchtern das Rückgrat. Bei dem darauf folgenden ,Wurfspielʻ durchbohrt er seinen Gastgeber mit einem glühenden Eisenstück und tötet ihn. Gerade hier zeigt sich, nicht zuletzt durch die bemerkenswerte Verbindung zu Víðarr, das kosmogonische Motiv: Es ist das gewaltsame Auseinanderstemmen von Himmel und Erde als primordialer Schöpfungs- und Konsolidierungsakt schlechthin.³⁷ Der Ebereschenzweig hilft Thor bei dieser Mission, bei der Grenzüberschreitung, ganz ähnlich wie die Mistel im lateinischen Epos. Schließlich ließe sich mutmaßen, dass Gríðarvǫlr selbst ein Ebereschenstab war, auch wenn es dafür keine weiteren Hinweise gibt. Sicher aber erscheint die Eberesche in anthropomorpher Gestalt: In einem finnischen Götterverzeichnis des Bischofs Agricola (1551) findet sich eine Göttin Rauni als Ehefrau des finnischen Donnergottes Ukko, wobei die finnische Wortform Rauni dem altnordischen Wort reynir genau entspricht. Auch in Zauberrunen ist von einer Rauna oder Raana die Rede als Pohjolan emäntä („Herrin von Pohjola“) oder Raani pakkasen emonen („Raani, Mutter der Kälte“). Setälä verweist auf eine Notiz in der lappischen Mythologie von Jacob Fellmann, wo von einer Ravdna, Ukkos Weib, die Rede sei, und dieser sei die Vogelbeere geheiligt gewesen. Und nachdem der finnische
Vgl. Schröder 1957, S. 6 f.: Schröder interpretiert entsprechend das Stuhlmotiv in Thors GeirrøðrAbenteuer als „die Trennung des göttlichen Urelternpaars durch den Sohn […], welcher sich mit seiner ganzen Kraft gegen Himmel und Erde stemmt, wie Thor gegen den Boden und die Decke des Raums.“ In indonesischen Himmel-Erde-Trennungsmythen finden sich merkwürdig ähnliche Details des altnordischen Geirrøðr-Mythos: Die Verbindung zwischen Himmel und Erde wird manches Mal durch eine Liane, ein Seil oder Ähnliches symbolisiert, das zerschnitten oder gekappt wird, in einem Fall ausgerechnet durch einen Tragstuhl (!), der zerbrochen wird. Der Grund für den Bruch dieser Verbindung wird unterschiedlich angegeben, meist sei es eine „Widerwärtigkeit oder Streit“, etwa „der Gestank von Kinder-Kot“ oder weil die Götter des Himmels „den Gestank, den die Schweine verbreiteten, nicht ertragen konnten“ (Staudacher 1942, S. 29 f.). So mag sogar der stinkende Ziegenstall noch als Reminiszenz, zumindest konkret sinnliche Verkörperung des ‚Abstoßendenʻ und damit ‚Abzustoßendenʻ gesehen werden.
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Ukkokult ohnehin nordischer Provenienz sei, müsse wohl das Nämliche von dessen Ehefrau angenommen werden.³⁸ Tatsächlich taucht nun aber im Altnordischen diese Wurzel als Namenskonzept noch einige weitere Male auf. Siehe eine mythische Wesenheit, die wir ausdrücklich als baumgestaltig, als hölzerne Kultfigur kennengelernt haben: die Schwester von Þorgerðr Hǫlgabrúðr, Irpa, die „Bräunliche“. Das bis dato vorgeschlagene Benennungsmotiv als die dunkle, finstere Seite des Schwesternpaars passt indes kaum, Irpa steht ihrer Schwester an Bösartigkeit und Gefährlichkeit in nichts nach. Zumindest tut sich Þorgerðr Hǫlgabrúðr ihr gegenüber auf keine Weise durch besondere Helligkeit, angenehmes Wesen u. ä. hervor. Es könnte darüber hinaus auch eine Erklärung dafür sein, warum in deren Heiligtum als dritte Gestalt ausgerechnet Thor erscheint, dem zunächst gar nichts Unterweltlich-Chthonisches anhaftet. Aber für seine Reisen in die Anderwelt, in das Reich der Toten, benötigt auch Thor chthonischen Schutz. Denn schließlich gibt es auch misslungene Jenseitsreisen, misslungen in dem Sinn, dass die Lebenden nicht mehr zurückkehren können, gerade weil sie die Hilfe der Zauberpflanze, der Eberesche, verkannt haben und nicht in Anspruch genommen haben. Es gibt einen weiteren Hinweis auf eine nunmehr männliche Verkörperung der Eberesche in der nordischen Vorstellungswelt und auch hier in ihrer ureigensten Funktion als bjǫrg, als Hilfe und Rettung. Und gerade durch diese Zurückweisung sind die Protagonisten von Anfang an als todgeweiht gezeichnet, ist der Zusammenbruch vorprogrammiert: Im Eddalied Hamðismál, trümmerhaft, kryptisch sogar im Erzählverlauf selbst, wird das Ende der Gudrun-Söhne Hamðir und Sǫrli inszeniert. Sie sind bekanntlich die letzten des Gjukungen-Geschlechts und sterben im Rachefeldzug gegen Jǫrmunrekkr, den Mörder ihrer Schwester. Trotz der magisch induzierten Unverwundbarkeit durch ihre Mutter Gudrun finden sie, in schöner Übereinstimmung zum Balderende, den Tod durch Steinigung.³⁹ Nicht nur formal beendet das Lied die Handschrift, es steht ja bekanntlich an letzter Stelle,⁴⁰ es setzt auch inhaltlich in jeder Hinsicht einen Schlussstrich: In starken, bis ins Groteske gesteigerten Bildern der körperlichen Auflösung und Dekomposition findet eine Familiengeschichte, das Geschlecht der Völsungen ihr Ende,⁴¹ und damit wohl auch die Heldenzeit, die „HamdirZeit“.⁴² Und es scheint ausgerechnet deren mysteriöser Halbbruder Erpr zu sein, der letztendlich den Untergang vollendet. Merkwürdig genug, wissen die Hamðismál gar
Vgl. Setälä 1912, S. 202– 204. In den Hamðismál gibt der König Jǫrmunrekr selbst den Ratschlag zur Steinigung (Hm 27), er weiß um die Unverwundbarkeit der Brüder, ebenso wie diese umgangen werden kann. In der Vǫlsunga saga (Kap. 44) hingegen ist es ein alter, einäugiger Mann, unschwer als Odin zu erkennen, der mit diesem Ratschlag seiner eigenen Sippe den Garaus macht. Unwillkürlich fragt man sich, wer im Baldermythos das ,Wurfspielʻ anordnete. Vgl. Krause 2001, S. 232. Siehe dazu grundlegend Deichl 2019. Glauser 1999, S. 476.
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nichts von seiner Existenz⁴³ – bis zur Strophe 12, als er urplötzlich als „kleiner brauner Knirps“, iarpscammr, am Wegesrand erscheint. Sein Name ist etymologisch gewiss ebenso zur Wurzel *erebh- „bräunlich“ zu stellen, das Benennungsmotiv hat man manches Mal als optische, gar ethnische Abweichung sehen wollen,⁴⁴ Erpr ist der inn sundrmœðri („Bruder einer anderen Mutter“ [Hm 13]) oder hornungr („der Bastard“ [Hm 14]), nicht einmal zu Unrecht ist das im Sinne einer Nichtzugehörigkeit, als Andersheit zu seinen Brüdern erklärt worden.⁴⁵ Letztendlich gründet diese genealogische, optische wie ethnische Nichtzugehörigkeit, seine Undefinierbarkeit aber in einem längst nicht mehr erkannten mythischen Pflanzen-Konzept.⁴⁶ Die Hilfe, die Erpr seinen Brüdern anbietet, bietet er als Eberesche an, als liminaler Epiphyt, von den Brüdern verächtlich abgewiesen und verkannt,⁴⁷ aber ohne
Die gotische Version kennt den dritten Bruder „als tragisch verschmähte Helfergestalt“ (Beck und Herwig 1989, S. 513) ohnehin nicht, wenngleich die sonstige Figurenkonstellation übereinstimmt: Jǫrmunrekr entspricht Ermanarich, Svanhildr der Sunilda, Hamðir ist Ammius und Sǫrli Sarus (vgl. Beck und Herwig 1989, S. 513). Obwohl im Historischen verankert, scheinen die Namen der Brüder sprechende Namen zu sein, Sarus/Sǫrli ist zu germ. *sarwa- „Rüstung“ zu stellen, Ammius/Hamðir zu as. hamo („Hemd“). „Die Namen der Brüder sind also etwa synonym und verraten, daß ihre Kleidung zu ihrem Wesen gehört: sie tragen Rüstungen mit magischen Eigenschaften“ (Reichert und Castritius 2004, S. 521). Ähnliches muss auch für Erpr angenommen werden: Sein Name mag wohl einerseits historisch sein, was indes nicht ausschließt, dass er nach mythischen Grundlagen gestaltet (oder umgestaltet) wurde. Historie und Fiktion laufen gerade hier ineinander (vgl. Reichert und Castritius 2004, S. 521; Beck und Herwig 1989, S. 515). Man wird auch hier davon ausgehen müssen, dass die ,Schwärzeʻ als äußeres Kennzeichen als solches kaum ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Brüdern ausmachen kann, zumal diese ebenso als ,rabenschwarzʻ (hrafnbláir) vom Aussehen bezeichnet werden (siehe Ragnarsdrápa 3). Der Edda-Kommentar lehnt solche ethnischen Zuweisungen ab, keinesfalls könne man davon ausgehen, dass die Beschreibung Erps auf eine „ungermanisch[e] oder nicht nordgermanisch[e]“ Herkunft abziele, oder damit „Sohn einer ungermanischen Kebse“ gemeint sei, auch sei nicht sein „dunkle[r] Teint“ gemeint, sondern sein braunes Haar (vgl. Komm.Edd. Hamðismál, von See et al. 2012, S. 914). Gudrun selbst versetzt ihr mittelalterliches Publikum ins rechte Bild, in die Welt der Bäume, schon in Str. 5 gibt sie die entscheidenden Rezeptionshinweise: „Einstoð em ec orðin sem ǫsp í holti, / fallin at frondom sem fura at qvisti, / vaðin at vilia sem viðr at laufi, / þá er in qvistscoða kømr um dag varman“ (Hm 5). („Einsam bin ich geworden wie eine Espe im Wald, / beraubt der Verwandten wie eine Föhre der Zweige, / beraubt der Freude wie ein Baum des Laubs, / wenn der Zweigschädliche am warmen Tag kommt“). Ähnliches sehen wir in Gðr I (19), wo sich Gudrun ebenso mit einem spärlich belaubten Baum vergleicht. In Am (70) spricht sie von sich als einem todgeweihten Baum, „ein Baum wankt, wenn man die Wurzeln abschlägt“. Auch Egill Skallagrímsson verwendet eine Baummetapher für seinen ertrunkenen Sohn, ættar ask „Esche des Geschlechts“ (Sonatorrek 21). (Vgl. Komm.Edd. Hamðismál, von See et al. 2012, S. 874). Der verwaiste, verstümmelte Baum im Angesicht des Todes, die (florierende) Familiengenealogie als Bäume, all das sind jedenfalls geläufige, gut eingeführte Stereotype im nordischen kulturellen Kontext, bis hin zu Jǫrmunrekr, der schließlich im ‚Endkampfʻ wie ein Baumstrunk präpariert wird. In einem grotesken Bild werden ihm die Arme und Beine wie Äste abgeschlagen, dann wird er ins Feuer geworfen. ‚Hvé mun iarpscammr ocr fultingia?ʻ („Wie wird der braune Knirps uns beiden helfen?“ [Hm 12]). Es ist eben jene fulting („Hilfe, Beistand, Unterstützung“), die Thor in der Eberesche, ohne zu zögern und
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den hornungr, das „Winkelkind“, das „auf der Bank (und nicht im Bett) gezeugte“, das Zwitterwesen, ohne die Eberesche als Schutz und Passagehelfer machen die Brüder sich verwundbar, sind ohne Wegweiser und können nicht mehr zurückkehren aus dem Reich des Todes. Kaum anders wird schließlich Jǫrmunrekrs Reich beschrieben, übers „feuchte Gebirge“ (úrig fioll [Hm 11]), auf dem „Unheilspfad“ gelangen sie dorthin, den Stiefsohn und (vorgeblichen) Liebhaber Svanhilds, Randvér, finden sie am „windkalten Wolfsbaum“, „westlich des Hofes baumelnd“ (Hm 17),⁴⁸ gewiss ein Bild, das letzte Zweifel über die grausige Art der Örtlichkeit ausräumt. Und so treten sie in die Welt des Todes ein wie die Wiedergänger aus der Eyrbyggja saga (Kap. 54) in die Welt der Lebenden: Scóco loða „Sie schüttelten die Mäntel“. Dann gürten sie ihre Schwerter, „und die Edelgebornen legten kostbare Gewänder an.“⁴⁹ Das ,Schüttelnʻ eines Kleidungsstückes muss hier nicht überbewertet werden, es kann durchaus eine rein praktische Aktion gemeint sein beim Aufbruch. Auffallend sind aber die ganz ähnlichen (Kampf)-vorbereitungen im ahd. Hildebrandslied (V. 4– 6): sunufatarungo iro saro rihtun, / garutun sê iro guðhamun, gurtun sih iro suert ana, / helidos, ubar hringa do sie to dero hiltiu ritun. („Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht, / sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre / Schwerter über die Eisenringe, die Männer, / als sie zu diesem Kampf ritten“)⁵⁰ ‒ mit bekanntermaßen ähnlich tragischem Ende: die Ausrottung eines Geschlechts durch die (wenn auch unfreiwillige) Tötung des letzten Sprosses. Nicht nur erscheinen also die einzelnen Elemente der ahd. Kriegerausrüstung als exaktes etymologisches Pendant zu den sprechenden fraglos, erkennt. Dann wäre aber, wenn man nun von einem botanischen Kontext ausgehen möchte, zu überlegen, ob die Verständnisschwierigkeiten der Strophe 12 (14) nicht gerade aus diesem Missverständnis heraus entstanden sind. Die Situation könnte dann etwa folgendermaßen neu überlegt werden: Die Brüder treffen unterwegs, am Straßenrand, im Grenzland, auf den Ebereschenbaum. Dieser beginnt mit einem Mal (einno sinni) zu sprechen, die Brüder sind darüber erstaunt und fragen, welche Hilfe sie gerade von ihm, dem braunen Knirps, zu erwarten hätten. Ihre Ahnungslosigkeit veranlasst Erpr, diese mit der Eigenschaft blauðr „feige, weich“ (< ai. mlāyati „welken, erschlaffen“) zu belegen, sie bezöge sich dann auf eine Art schlechte, weiche Holzqualität, im Gegenzug müssen die Brüder wohl anerkennen, dass er miǫk harðan („sehr hart“) sei, eine zweifelsohne gerade auch botanische Eigenschaft der Eberesche, aber dafür sei er eben ein hornungr, „ein Bastard“ (= ein ,Epiphytʻ). Und die „leichte ,spielendeʻ Bewegung“ (lék < leika) würde der Ebereschenbaum Erpr dann gewiss nicht vom „Rücken des Pferdes“ herab unternehmen, wenngleich eddische Belege für eine solche Sprechsituation vorhanden sind (vgl. Komm.Edd. Hamðismál, von See et al. 2012, S. 904 f.). Mit á mars baki könnte ursprünglich á marbakki gemeint sein (vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „marreins-bakki“, = marbakki, „the bank where the deep and shallow water meet“), es wäre das leichte Hin- und Herschwanken der Baumzweige an ihrem typisch liminalen Standort, am Ufer eines (mythischen) Gewässers, als Grenze zur Totenwelt. Fram lágo brautir, fundo vástígo oc systor son sáran á meiði, / vargtré vindkǫld vestan boiar; / trýtti æ trǫno hvǫt, títt varat biðia (Hm 17). („Vorn lagen die Wege, sie fanden den Unheilspfad / und der Schwester Sohn voll Wunden am Galgen, / am windkalten Wolfsbaum westlich des Hofes; / der Reiz des Kranichs schwankte, übel war’s zu bleiben“). Scóco loða, scálmir festo, / oc goðbornir smugo í guðvef (Hm 16). Vgl. Komm.Edd. Hamðismál, von See et al. 2012, S. 926. Vgl. Reichert und Castritius 2004, S. 521.
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nordischen Namen, auch ihre Position im narrativen Verlauf ist die gleiche: Das Motiv erscheint im Kontext einer Grenzsituation, eines schaurigen Übergangs, die Umstände ändern sich auf bestürzende Weise. Darüber hinaus kennt die Sagawelt monströse Zustandsänderungen, die explizit mit einem bewegten Kleidungsstück verbunden sind, in denen das Kleidungsstück selbst diesen Zustand auf magische Weise verursacht. Terry Gunnell führt eine Reihe einschlägiger Beispiele an⁵¹: In der Vatnsdæla saga (Kap. 37) ist es die zauberkundige Gró, die ein speziell präpariertes, mit Gold eingeflochtenes Tuch, einen gizki schwingt, in eine rasche Bewegung versetzt und damit einen schrecklichen Wetterumsturz einschließlich einer Schlammlawine auslöst. (Die umgekehrte Wirkung vermag der Zauberer Bárðr stirfinn, der, indem er einen gizki schüttelt, das aufgewühlte Wetter beruhigt!). In der Njáls saga (Kap. 12) agiert Svanr auf diese Weise. Die Materialität dieses Zaubertuchs variiert, einige Forscher wollen darin ein Ziegenfell sehen („a shortening of the word ,geitskinnʻ“),⁵² als das es allerdings nur in der Njáls saga explizit erscheint, sonst als dúkr („any cloth or texture“),⁵³ héðinn („a jacket of fur or skin“), das andere Mal als „Schal“ (sveipa) (Harðar saga, Kap. 25) oder gar als „Hut“ (kofri) (vgl. Víglunda saga, Kap. 12), der geschwenkt wird. Den beabsichtigten Effekt beschreibt Gunnell als „invocation of chaos, whereby natural rules are broken.“⁵⁴ Das ist eben jener hochpotente magische Akt der Rotation, den wir bereits im Zusammenhang mit den seiðr-Praktiken kennengelernt haben: Erinnert sei an den göndull, die Spindel, den Spinnrocken als Zauberwerkzeug (der spätere ,Zauberstab‘) par excellence. Als außernordisches mythisches Vergleichsobjekt bietet sich die mysteriöse Aigis (αἰγίς) des Zeus an, ein ebenso mächtiges wie kaum bestimmbares magisches Gewirk wie Schutzgegenstand, ein „Ziegenfell mit Goldtroddeln“ (als solches wird es allerdings erst von Herodot identifiziert), das in auffallend ähnlicher Weise wie das Zaubertuch Grós präpariert scheint, mit nämlicher Wirkung. Auch hier ist ein Moment der unsteten, ruhelosen Bewegung, ein gefährliches Oszillieren stets mitgedacht, auch und gerade verursacht oder verstärkt durch die hundert sorgfältig (magisch) geknüpften goldenen Troddeln und Quasten (θύσανοι, θυσσανόεσσα).⁵⁵ Interessant genug, dass auch bei der Aigis bezüglich Konsistenz wie Aussehen Unsicherheit herrscht. Tatsächlich ist es bei Homer noch ein Schild, das von Zeus indes nicht zur Abwehr benutzt wird, sondern ,geschütteltʻ werden muss (Il. 17, 593 – 95). Der Effekt ist
Vgl. Gunnell 2014, S. 136 – 141. Gunnell 2014, S. 137. Cleasby/Vigf. 1874, „dúkr“. Gunnell 2014, S. 148. Schon früh ist in der Herleitung des Namens aus „Ziege“ (αἴξ) eine Sekundärmotivation vermutet worden, vgl. Frisk 1960 – 1972, „αἰγίς; αἴγλη“: Frisk verweist auf ἐπ-αιγίζω „einherstürmen“ (< *αἴγω = aind. éjati „sich bewegen, erbeben“, idg. aig- „schütteln“, „sich heftig bewegen“). Auch αἴγλη „Glanz“ (αἰγλήεις „glänzend“) gehört in dieses semantische Spektrum. Dahinter steht die Vorstellung des ,Flirrendenʻ bzw. ,Pfeilähnlichenʻ von Lichtstrahlen (siehe αἰγανέη „Wurfspieß“ < *αἴγανον „das Werfen, Wurfgeschoß“).
9.3 Eberesche
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auch hier eine unnatürliche Wetteränderung, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Mit der Aigis „fährt die Göttin [Athene] blitzend durch das Volk der Achäer“ und versetzt es in Panik, Apollo wiederum ,schütteltʻ sie. Andererseits kann die Aigis auch um die Schulter gelegt werden wie ein Schal, dann soll es das darauf Dargestellte sein, das die Menschen mit Entsetzen erfüllt (Il. 2, 446 – 49), was wiederum eher als Versuch erscheint, diesen unerklärlichen (Abwehr)effekt eines Bekleidungsstücks zu rationalisieren. Nicht zuletzt wird ausgerechnet der Leichnam Hektors von Apollo in die Aigis gehüllt, dadurch bleibt er auf wunderbare Weise unversehrt und heil beim Leichenfrevel, bei der Schleifung durch Achill (Il. 24, 20).⁵⁶ Das heißt, ausdrücklich einem Toten wird der magische Schutz zuteil, damit der Totendämon (noch) nicht seines Amtes walten kann. Das dezidierte Ziel: ein korrektes Beerdigungsritual durchführen zu können, einen korrekten Übergang zu ermöglichen. Man wird Ähnliches für die zauberisch gefeiten nordischen Helden, Hamðir, Sǫrli ‒ und nicht zuletzt Balder ‒ annehmen müssen. Ihre Unverwundbarkeit ist die Unversehrtheit des rituellen Übergangs und damit ebenso begrenzt. Nicht nur in der Heldensage, auch in der isländischen Sagawelt treffen wir auf ‚schwärzliche Zwitterwesenʻ, wohl werden sie nicht direkt als ‚Winkelkinderʻ bezeichnet, aber ob ihres befremdlichen Aussehens und damit letztendlich zweifelhaften Herkunft von der eigenen Mutter verstoßen. Gemeint sind die Brüder Geirmundr und Hámundr des Geirmundar þáttr heljarskinns (Sturlunga saga I).⁵⁷ Nicht nur besitzen sie eine unansehnliche, schwarze Haut (weswegen sie den Beinamen heljarskinn „Höllenhaut“ erhalten), ihre Nichtzuordenbarkeit, ihr Doppelwesen ist schon per se in ihrem ureigenen Status als Zwillinge verkörpert. Die Mutter, die Königin, mag die ‚dunklenʻ Kinder nicht leiden und lässt sie nach der Geburt gegen einen schönen, hellen Knechtsohn austauschen.⁵⁸ Nach Jahren aber tauscht der Skalde Bragi, der klug genug ist, die eigentliche Wesenheit der Brüder zu erkennen, diese nach Art eines magischen Rituals wieder zurück: Er berührt – odingleich präpariert! – die Königin mit einem reyrsproti (die längst selbst ihren Betrug bitter bereut hat, da sich der eingetauschte Knechtsohn als durchaus unfähig erweist im Gegensatz zu den richtigen Söhnen) und setzt die Knaben wieder ein in ihr altes Recht als Königsöhne.⁵⁹ Nun aber weiß die Saga weiters zu berichten, dass der spätere Landnehmer Geirmundr eine ‚Talsenkeʻ oder ‚Muldeʻ auf seinem isländischen Gehöft besessen habe, in der eine Vgl. Roscher 1884– 1886, S. 149 f. Jón Jóhannesson et al. (Hg.) 1946. Þeir váru báðir ákafliga miklir vǫxtum ok báðir furðuliga ljótir ásýnis; en þó réð þvístærstu um ófríðleika þeira á at sjá, at engi maðr þóttiz hafa sét døkkra skinn en á þessum sveinum var. Drottning feldi lítinn hug til sveinanna ok sýndiz henni þeir óástúðligir (Kap. 1). („Sie waren beide riesengroß und beide furchtbar häßlich; am meisten trug jedoch zu ihrer Häßlichkeit bei, daß keiner glaubte, eine dunklere Haut gesehen zu haben, als diese Knaben hatten. Die Königin war den Knaben wenig zugeneigt, und sie erschienen ihr nicht liebenswert“ (Krömmelbein 1994, S. 35). Daneben sei es wohl nicht nur die Hässlichkeit der Brüder gewesen, die die Königin so ablehnend gemacht habe, sondern auch die starken Assoziationen zu Hel, zum Totenreich (vgl. Krömmelbein 1994 [1995], S. 37). Vgl. Krömmelbein 1994, S. 42.
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einzelne Eberesche gewachsen sei. Von dieser sei aber ein besonders „widriger Schimmer“, ein seltsames Licht ausgegangen, das seinen Augen im höchsten Maße unangenehm gewesen sei.⁶⁰ Er verbot, das Vieh dort weiden zu lassen, dessen Milch schien ihm dann verdorben, so dass er sie wegschütten ließ. Als ein Knecht einmal mit einer Ebereschenrute das Vieh von dort wegtrieb, bestrafte er diesen schwer. Später wird an diesem Ort eine Kirche errichtet. Ganz offensichtlich bringt der Sagaautor hier gut bekanntes,volksreligiöses Wissen ein, zumal diese Episode in mehreren Versionen bekannt ist.⁶¹ Üblicherweise ist das Schlagen des Viehs mit Ebereschenruten (oder anderen ,Lebensrutenʻ) eher als unheil- und dämonenabwehrender Brauch bekannt, beim Butterstoßen war es Erfolg versprechend, wenn der Stößel aus Ebereschenholz gefertigt war.⁶² Hier könnten tatsächlich ursprünglichere Traditionen bereits durch christliche Einflussnahme ins Gegenteil verkehrt worden sein, trotzdem scheint in Island die Furcht vor einer negativen Wirkmacht dieser Pflanze ungleich größer gewesen zu sein, eine eher negative, schädigende Wirkmacht scheint im Vordergrund gestanden zu haben. Gerade für den Isländer sei der Gebrauch der Pflanze für „häusliche oder nautische zwecke unheilbringend“⁶³ gewesen. Geirmundr hasst die Eberesche und meidet sie, aber wohl aus einem ganz besonderen Grund. Die Eberesche spielt diese so einnehmende Rolle ausdrücklich am Ende seines Lebens (til elli æfi sínnar), sie ist damit Kennzeichen seines eigenen tödlichen Übergangs. Und jener Pflanze möchte nun Thomas Krömmelbein ein anderes Pflanzenkonzept gegenüberstellen, den Rohrstängel, eben die Pflanze, die wiederum am Anfang des Lebens der Zwillingsbrüder von so großer Bedeutsamkeit war: Einem Zweig, dem Rohrstengel [reyrsproti], mit dem Bragi die Königin anstieß, als er den Rücktausch einleitete, verdankte Geirmundr sozusagen die Wiedereinsetzung in sein eigentliches Leben, und ein Zweig, eine Ebereschenrute, steht am Ende seines Lebens.⁶⁴
Dies ist zweifelsohne eine der wichtigsten Entdeckungen für das Verständnis der unsichtbaren, subkutanen mythischen Struktur der Erzählung. Es erklärt deren Aufgabe am Anfang der Sturlunga saga, ihre fundierende Funktion. Krömmelbein macht ebenso auf die Verbindung des Baumes zum Gott Thor aufmerksam, der Ebereschenhain könnte eine „Thorsstätte“ gewesen sei. Allerdings werden wir uns dem
En sá var einn hvammr í landi Geirmundar, at hann kvazk vildu kjósa á brott ór landunu, ef hann mætti ráða, ok mest fyrir því, – „at sá er einn staðr í hvamminum, at ávalt er ek lít langat, þá skræmir þat ljós fyrir augu mér at mér verðr eigi at skapi; ok þat ljós er ávalt yfir reyni-lundi þeim er þar er vaxinn einn samt undir brekkunni“ (Kap. 6). („On Geirmundʼs land there was a grassy slope which he said he could do without if he had his way, mostly because, ‚There’s one place on that slope where, whenever I look at it, the light so blazes into my eyes that I become very uneasy. And the light is always just above the rowan-tree which grows by itself under the lip of the slopeʻ“ [Übers. McGrew 1970 – 74, S. 6]). Vgl. Seelow 1994, S. 710, Anm. 18. Vgl. Setälä 1912, S. 204, Anm. 5. Setälä 1912, S. 205. Krömmelbein 1994, S. 42.
9.4 Viðofnir
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Resümee, das er daraus zieht, so nicht anschließen können: Das merkwürdige Strahlen, das von der Eberesche im Tal ausgegangen sei, habe dieser Ort erst im Nachhinein, sozusagen christlich „okkupiert“. Er möchte mit Marlene Ciklamini davon ausgehen, dass das Licht als „Vorzeichen des kommenden Christentums“ zu deuten sei. Geirmundr empfinde das Christentum als „Bedrohung“, als eine „negative Macht“, der er sich zu entziehen suche: „Geirmundr heljarskinn erfährt dieses Neue als die Verkehrung einer schützenden Macht in eine bedrohliche.“⁶⁵ Ähnlich Guðrún Nordal: Licht wie Baum „clearly denote the advent of Christianity.“⁶⁶ Die gefährlich strahlenden Lichterscheinungen mögen die Vorboten eines kommenden Christentums, des ,weißen Christsʻ und Ähnliches sein, aber diese spezifischen Konnotationen hatte die Eberesche schon lange vor dem Glaubenswechsel. Deren „spiritual significance“⁶⁷ wird man noch in einem durch und durch paganen Wissensrahmen verankert sehen müssen. Es sind Wissensmuster, die in der Saga funktionalisiert worden sind zur Darstellung der Krisis, der Brüchigkeit der politischen wie sozialen wie religiösen Situation, es ist die mythische, die kosmische Situation einer „ins Wanken geratenen“ Welt⁶⁸ – genauso wie in den Hamðismál, und hier wie da spielt die Eberesche dabei eine bedeutsame Rolle. Schon im paganen Denken galt deren Standort als tabuisierter Ort, als liminaler Ort, undir brekkunni ⁶⁹ (die Errichtung der Kirche mochte dabei ein christliches Antidot gegen dessen zauberische Wirkmacht darstellen). Setälä verweist auf ein estländisch-schwedisches Rätsel: Twä wärde raunträ = ränboan („über die Welt ein Vogelbeerbaum = Regenbogen“).⁷⁰ Die Eberesche ‚strahltʻ, eine Eigenschaft, die sie mit der Vergil’schen Mistel, deren merkwürdigem Klimpern und Flittern teilt. In der Saga freilich ist es ein bösartiges, unheimliches Strahlen und tatsächlich ähnelt es dem geheimnisvollen, bösen Glitzern eines anderen mythischen ‚Baumbewohnersʻ.
9.4 Viðofnir Auch das späte, balladeske Eddagedicht Fjǫlsvinnsmál hält alle diese Informationen noch bereit, wenn auch stark trümmerhaft und narrativ schon ganz neu aufgebaut. Nach allgemeiner Übereinkunft sind Grógaldr und Fjǫlsvinnsmál (zusammengefasst als Svipdagsmál) junge Eddalieder. Sie zeigten sich als „Konglomerat aus Märchenmotiven“ und „mythol[ogischen] Splittern“, die aber wohl Kenntnisse älterer eddi-
Vgl. Krömmelbein 1994, S. 42. Nordal 2000, S. 227. Nordal 2000, S. 227. Krömmelbein 1994, S. 43. Vgl. brekka „steiler Hügel“, ne. brink „Rand, Strand“, mnd. brink „Rand, Ufer, Ackerrand“ (an. etym. Wb 1962, „brekka“). Setälä 1912, S. 205 f.
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scher Dichtung voraussetzten, so Naumann.⁷¹ ‚Brautwerbungsmotivʻ wie ‚Stiefmuttererzählungʻ sind dabei typische Balladenerzählelemente, die engen Verbindungen zur schwedischen Ballade des Ungen Svejdal sind gut erkennbar⁷²: Unter gefahrvollen Umständen muss der junge Held Svipdagr seine Braut Menglǫð in einer Anderwelt erringen, im Zentrum des Eddalieds steht dabei ein Wissensgespräch zwischen dem Helden und dem Torwächter der Burg, in der sich die Angebetete aufhält. Dieser Dialog (obgleich er in der schwedischen Ballade fehlt) wird manches Mal als spät, als „hoch[mittelalterliche] Wissensdichtung im pseudomytholog[ischen] Rahmen“⁷³ eingeschätzt. Ganz im Gegensatz dazu allerdings will Otto Höfler in der Gestalt des Svipdagr den angelsächsischen Svebdeg (Swǣfdæg) erkennen, den mythischen Ahnherrn der Sueben. Damit könnte in den Fjǫlsvinnsmál noch ein sehr alter, „ritueller Hintergrund“ einer ‚Heiligen Hochzeitʻ vermutet werden.⁷⁴ Ob eine Brautwerbung (wenn auch eine mythische) als ursprünglichstes Schema hier anzunehmen ist, ist allerdings fraglich. Harris verweist auf das große medizinische Wissen der Svipdagsmál, das keine Entsprechung in der Ballade finde, und dort auch funktionslos wäre, vom isländischen Mythopoeten also wohl eigenhändig eingefügt worden sein müsse. Der Wissensdialog des Helden Svipdagr mit dem Torwächter Fjǫlsvinnr („Vielwisser“) scheint jedenfalls über eine lediglich „elaborately witty, but narratively non-functional, world“⁷⁵ hinauszuweisen. Es ist wohl mehr als lediglich ‚Pseudomythologieʻ, die der Liedautor hier entwirft: Hier zeigt sich sehr altes kosmologisches Endzeit- wie Anfangswissen. Siehe zunächst die besonders umständliche und unlogische Beschreibung der Erlangung der Schwanzfeder eines ‚Hahnesʻ Viðofnir als Eintrittskarte in Menglǫðs Jenseitswelt. Harris sieht sie als feinsinnigen Spaß für ein Publikum, das mit den literarischen Spielereien des Balladen-Genres vertraut gewesen sei. Aber unabhängig davon, dass dies vielleicht sogar für eine letzte Rezeptionsphase so stimmen mag, vermutet auch er dahinter ursprünglichere, mythische Bedeutungszuweisungen.⁷⁶ In den Fjǫlsvinnsmál geht es um den Erwerb von magischen Hilfsmitteln zur sicheren Grenzpassage, um sich Zugang zu einer anderen Welt zu verschaffen (wie im Übrigen ebenso die Frage nach der sicheren Rückkehr).⁷⁷ Dazu müssen zwei Wachhunde, Grenzwächter, mit einem besonderen Beruhigungsmittel, gewissen Fleischstücken, „Flügelbraten“ (vængbráðir tvær), außer Gefecht gesetzt werden. Ein myste-
Vgl. Naumann 2005, S. 181. Vgl. Böldl 2017, S. 45 – 47; Simek und Pálsson 1987, „Svipdagsmál“, S. 344; Lex.Simek 2006, „Svipdagr (1)“, S. 401 f. Simek und Pálsson 1987, „Svipdagsmál“, S. 344. Vgl. Höfler 1952, S. 38. Harris 2014b, S. 426. Vgl. Harris 2014b, S. 425. Ausdrücklich möchte Svipdagr wissen, ob denn bei seiner gefährlichen Mission eine Chance auf Rückkehr bestehe: hvort aftur kemur, sá er eftir fer / og vill þann tein taka? (Fjm 27). („Ob der zurückkommt, der auszieht / und den Zweig holen will?“).
9.4 Viðofnir
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riöser mythischer Hahn Viðofnir trägt diese (in einem durchaus nicht üblichen Bild) an seinem Körper, an seinen Gliedern (liggja í Víðófnis liðum [Fjm 18]).⁷⁸ Aber er besitzt noch ein anderes ‚Beruhigungsmittelʻ, „die glänzende Sichel“ (ljósan ljá, Fjm 30), vielleicht eine goldene Schwanzfeder, jedenfalls etwas ,Glitzerndesʻ, ,Gebogenesʻ. Diese wiederum braucht Svipdagr nach der zweifelhaften Logik des Gedichtes als eigentliches Geschenk, um eine Bewohnerin der Unterwelt, Sinmara, die „Todesbleiche“, geneigt zu machen (og verður því in fölva gýgur fegin [Fjm 29]). Dann nur erhält er Lævateinn, den „Schadenszweig“, wiederum gerade um den goldenen Hahn zu erlegen, „zu Hels Sitz sinken zu lassen“ (hníga á Heljar sjöt [Fjm 25]). Der Hahn hat seinen Platz im Geäst des Mímameiðr (Fjm 24), eines mythischen Baums, dessen Identität vorläufig noch offenbleiben muss. Lævateinn aber ist ein Schwert, eine magische Waffe, hergestellt von Loptr, also Loki, dem ,Schadensschmiedʻ, die tief unter der Erde in der Totenwelt („unterhalb der Totengitter“) in einer fest verschlossenen Kiste verwahrt werden muss (Fjm 26). Ein enigmatisches Arrangement, das sich aber als Mythenabbreviatur aus dem Totenbannspruch Þistill mistill kistill („Distel, Mistel, Kiste“) herauslesen ließe: Der Lævateinn selbst hielte damit die Toten unterhalb der Totengitter. Aber warum sollte der Hahn sterben müssen, der doch ausdrücklich der „einzige Kummer“ (einum ekka) ist für die Unterweltriesen Surtr und Sinmara und diese zumindest in Schach zu halten vermag (Fjm 24)? Surtr (< svartr „schwarz“, siehe lat. sordes „Schmutz“, aisl. sorti „Schwärze, Finsternis“) ist etymologisch durchsichtig der „Feuerriese“, das passt zu seiner Endzeitfunktion zu Ragnarǫk gerade als Gegenspieler des Erzahnen und Erztoten Freyr (Gylf 37; 51). Er gehört in einen individuellen wie kosmologischen Untergangs- und Zerstörungskontext. Der Name Sinmara ist schwieriger zu beurteilen, aber es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie in Art und Wesenheit zu ihrem Gefährten passt. So scheint Rydbergs Vorschlag immer noch der überzeugendste, „the one who maims by doing violence to the sinews“,⁷⁹ sie ist also eine ,Sehnenzerfetzerinʻ.⁸⁰ Natürlich, es sind die Leichenfresser, finstere Todesdämonen, die buchstäblichen embodiments des Auflösungsprozesses (sei es durch Feuer oder Fäulnis) der Leichen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Surtr der Erzfeind Freyrs. Und ganz offensichtlich müssen, ja können sie beschwichtigt werden, durch etwas, das der goldene Hahn an sich trägt (oder selbst verkörpert). Komplizierte Umstände, die sich zu guter Letzt als gar keine Schwierigkeiten mehr herausstellen, da Svipdagr (dem „Auserwählten“) ohnehin nun alles wie
Vængbráðir tvær liggja í Víðófnis liðum / ef þú vilt það vita; / það eitt er svo matar, að þeim menn of gefi, / og hlaupa inn, meðan þeir eta (Fjm 18). („Zwei Flügelbraten liegen an Widofnirs Gliedern, / wenn du das wissen willst; / das ist die Speise, die man ihnen gibt / und hineinläuft, während sie essen“). Rydberg III 1906, S. 764. Das Gegenstück zur Sehnenzerfetzerin erscheint genauso in der germanischen (wie finnischen) Mythologie: die (göttliche) Heilerin Sinthgunt des Zweiten Merseburger Zauberspruchs. Deren Etymologisierungsversuche übersteigen freilich bei weitem – ob der Prominenz der Quelle – die der Sinmara. Im Zauberspruch ist bedauerlicherweise kein einziges Mal die ,Sehneʻ (bzw. in diesem Fall die etymologisch verwandte ,Saiteʻ) als Namensgrundlage erwogen worden.
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von selbst zufällt. Er braucht nur seinen Namen zu nennen und die Tore öffnen sich (Fmj 43). Ein balladeskes Happyend zweifelsohne, allerdings scheint hier nichts mehr klar, nicht, wen es hier zu überwältigen gilt, was eigentlich errungen werden muss und zu welchem Zweck. In einer Reihe von Neumotivierungen scheint aus einem nicht mehr verstandenen Pflanzensymbol, der goldglänzenden Mistel, ein Vogel, ein Hahn geworden, der goldglänzend, „wetterleuchtend“ (veðrglasir, Fjm 24)⁸¹ auf dem Weltenbaum sitzt. Erhalten blieb allerdings die nämliche Unentschiedenheit zwischen Waffe oder Pflanze, zwischen künstlich Gemachtem oder Natürlichem. Und so stellt sich doch die Frage, ob bei der ‚goldenen Sichelʻ (unentschieden ob körperhafter, anatomischer Teil oder Besitz des Tiers) nicht an das merkwürdig metallerne ,Klirrenʻ des Zweiges der Äneassage zu denken wäre. [S]ic leni crepitabat brattea vento, wie ein Geschmeide aus „dünnem Metall- oder Goldblech“ sei er gewesen, „ein Flitterstaat“, gleichwohl am Baum befestigt.⁸² Im Norden erscheinen sie als zwei unterschiedliche Objekte, die errungen werden müssen für die sichere Passage (übereinstimmend indes als Geschenk für die Unterweltherrscherin Sinmara). Merkwürdig genug trägt der Vogel auch die ,Beschwichtigungsbrockenʻ selbst an seinen Gliedern, die doch in der antiken Tradition des Vergil klar und logisch voneinander geschieden sind.⁸³ Mag sein, dass sogar der einheimische Ausdruck fuglelim das Seine dazu beigetragen hat, dass plötzlich ein Vogel gemutmaßt wurde, oder das norwegische ledved „Gliederholz“ (dort wo die Mistel ohnehin am seltensten auftritt und deshalb am wenigsten aus eigener Anschauung bekannt war) das eigenartige Bild des „Flügelbratens“ (vængbráðir tvær) möglich machte, das der ,Hahnʻ in seinen ,Gliedernʻ (liggja í Víðófnis liðum) befestigt hat. Den norwegischen Namen Ledved („Gliederholz“) habe die Pflanze möglicherweise aufgrund ihrer eigenartigen Wachstumsweise erhalten, so Frederik Schübeler, dieser Name habe aber nun seinerseits dazu beigetragen, in der weitgehend unbekannten Pflanze – in üblicher magischer Kombinierweise – ein Heilmittel gegen Gliederkrankheiten zu vermuten.⁸⁴ Möglicherweise ist also auch im
Für den Namen Víðófnir sind zahlreiche Etymologisierungsvorschläge gemacht worden, da sich aber die mythische Konzipierung des Namensträgers bis dato als sehr unsicher darstellte, können diese auch nur Optionen bleiben. Ansprechend scheint aber immer noch die sehr alte Erklärung des „Baumglühers“ oder „Baumflackerers“ (Bergmann 1874, S. 54). Bergmann fasst dies als ,Brennenʻ auf, eher ist damit aber die unstete Bewegung, das ,sich Hin- und Herbewegenʻ gemeint, das Oszillieren, das durch Lichterscheinungen ausgelöst wird. Siehe ähnlich das Odins-Heiti Ófnir (vom Partizip ofinn < vefa, váfa), aber nicht etwa als „Verflechter“, wie de Vries vorschlägt (an. etym. Wb 1962, „Víðófnir“), sondern in der gleichen Grundbedeutung. Siehe ae. wæfre „unstet, flackernd“ (an. etym. Wb 1962, „Víðófnir“). [L]atet arbore opaca / aureus et foliis et lento vimine ramus (Aen. 6, 136 f.), „[G]olden mit zähen Reisern und Blättern / versteckt sich ein Zweig auf schattigem Baume“. So schon Bergmann 1874, S. 106. Vgl. Schübeler 1873, S. 288 f. Auch an die Tauben der Aphrodite ließe sich denken, die sich als weithin sichtbares Zeichen exakt auf dem Wirtsbaum der Mistel niederlassen: „Als des avernischen Sees pesthauchende Kluft sie erreichten, / Hoben sie [die Tauben, d. Verf.] rasch sich empor, und, die
9.5 Sif
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poetischen Kontext eine Neumotivierung nach der vermeintlich durchsichtigen Vorstellung von ,Gliedernʻ, ,Gelenkenʻ im Sinne einer Knochenverbindung entstanden. Viðofnir, der böse Baumfunkler, entspricht der bösartig funkelnden Eberesche wie der geheimnisvoll glitzernden Mistel und wohl auch dem Lævateinn. Neben einer Vorstellung des biologisch Gewachsenen und des metallisch Gemachten entwirft das mythische Denken also im Norden (wenn wohl auch spät) eine Tierverkörperung für die Pflanze. Aber damit sind wir mit unseren mythischen Schubketten noch nicht am Ende: Wir werden auch einer Anthropomorphisierung der Mistelpflanze begegnen, wenn auch bis dato noch weniger erkannt als deren theriomorphe Ausgestaltung.
9.5 Sif Mythische weibliche Wesenheiten mit den Eigenschaften der Eberesche, sei es Rauni oder Reynir, Irpa oder Þorgerðr Hǫlgabrúðr, sind aufs engste mit dem Donnergott, Thor, verbunden: Und ‚Thors Hilfenʻ sind mächtig. In kaum geringerem Maße als der Gott selbst können sie Herrschaft über das Wetter ausüben, Þorgerðr Hǫlgabrúðr wie Irpa beschwören schreckliche, todbringende Hagelstürme herauf, sie verlangen gar Menschenopfer, ihre Verehrer liegen vor ihnen im Staub. Aber wie passt dazu die liebliche, goldhaarige Sif, wir wollen sie nicht vergessen, die andere, die ‚eigentlicheʻ Ehefrau Thors? Häufig erwähnt und gut bekannt ist sie in der Edda-Dichtung wie der Skaldik, aber nichts Weiteres gibt es offenbar von ihr zu berichten, als dass Loki ihr einmal aus Bosheit, wie es heißt, ihr schönes blondes Haar abgeschnitten habe, daraufhin sei er von den Göttern gezwungen worden, gleichwertigen Ersatz zu bieten: Loki beauftragt also die Schwarzalben (neben anderen magischen Gegenständen) ein wunderbares Geschmeide für die Göttin zu schmieden, so erhält sie neues Haar aus blankem Gold, das sogleich an ihrem Kopf festwächst (Skáldsk 35). Haar, das geschnitten wird, sich aber wieder erneuert, nachwächst, ein mythisches Bild, das man, wie so oft, zunächst geneigt war an naturmythologische Vorstellungen, an wie auch immer geartete Fruchtbarkeitskonzepte oder -rituale anzuschließen. Aber davon ist im altnordischen Kontext nichts bekannt. Sif erscheint auf keine Weise als Verkörperung etwa eines „wogenden Getreidefelds“,⁸⁵ als Fruchtbarkeitsgöttin oder Ähnliches. Somit sei sie vielleicht eine späte Ergänzung zur gleichermaßen späten Fruchtbarkeitsfunktion ihres Mannes.⁸⁶ Eugen Mogk stellt immerhin die hypothetische Frage, ob man sich nicht eine wie auch immer geartete Gemeinsamkeit zwischen Þorgerðr Hǫlgabrúðr und Sif vorstellen könnte, ob nicht Þorgerðr Hǫlgabrúðr mit Sif in „ihrem keime“⁸⁷ wenigsten zusammenfiele, zumal sie doch wohl „in den kreis der Thorsflüchtigen Lüfte durchgleitend, / Wählten zum Sitz sie den Wipfel des doppelgestaltigen Baumes, / Wo durch die Zweige das Gold abstach mit schimmerndem Glänze“ (Aen. 6, 202– 204). Lex.Simek 2006, „Sif“, S. 371. Vgl. Lex.Simek 2006, „Sif“, S. 371. Mogk 1889, S. 91.
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mythen“ gehöre.⁸⁸ Aber im Hinblick auf die Ereignisse der Jómsvíkinga saga, wo die Schwestern ihre schrecklichen Fähigkeiten unter Beweis stellen, möchte Mogk dies dann doch in Abrede stellen. Deren dämonisches Wesen und tödliche Fähigkeiten deckten sich doch auf keinen Fall mit dem, was die Überlieferung über Sif zu berichten wisse.⁸⁹ Und wenngleich auch Turville-Petre eine Verbindung zur Vogelbeer-Ehefrau Rauni zumindest andeutet,⁹⁰ bleibt er doch auch das tertium comparationis, den gemeinsamen Denkraum, in dem eine solche Verbindung möglich sein könnte, schuldig.⁹¹ Nun ist aus dem nordischen Kulturbereich tatsächlich eine Pflanze bekannt, die den Namen haddr Sifjar trägt, „Sifs Haar“. Dabei handelt es sich um eine Moosart (Polytrichum aureum), den „goldenen Widerthon“, eine zunächst eher unspektakuläre Pflanze, von ihrer Erscheinung her gewiss am entferntesten zum Ebereschenbaum, und doch gehört der Widert(h)on (auch Widertod oder Widridad im deutschen Volksmund) im vormodernen Pflanzenwissen offenbar zu den wichtigsten und populärsten Apotropaia. Er galt als Hexenkraut, als wirksames Mittel zum Gegenzauber, zur Dämonenabwehr. Zwar stoße der moderne Botaniker auf die übliche Schwierigkeit, so Marzell, dass sich die dermaßen benannte Pflanze kaum genau fassen ließe.⁹² Es scheint eine ganze Gruppe von Moosen und Farnen zu sein, die mit demselben Namen belegt wurde. Aber schon im Ahd. finden sich die Pflanzennamen widertan (wedertan, widertat) mit capillus veneris oder iuncfrouwenhaar glossiert, in den Kräuterbüchern des 16. Jhs. erscheint Widerthon, Widertodt (Letzteres aber eher in volksetymologischer Angleichung).⁹³ Marzell vermutet hinter der Bezeichnung eine Ableitung aus „wider das (An‐)tun“, also gegen die Behexung, das ,Versehenʻ (so auch Grimm) und verweist auf eine weitere Farnpflanze (den Milzfarn), der den ähnlichen
Mogk 1889, S. 92. Vgl. Mogk 1889, S. 93. Vgl. Turville-Petre 1964, S. 98: „Probably the wife of Thór was once conceived in the form of a rowan, to which the god clung.“ Auch Margaret Clunies Ross möchte in diese Richtung denken. Der Ebereschenzweig sei an Sifs statt im Mythos funktionalisiert worden. Im Zentrum stehe die sexuelle Emanzipation eines adoleszenten Thor, der sich aus inzestuösen Bedürfnissen lösen müsse. Der durch Urin und gegebenenfalls Menstruationsblut aufgewühlte Fluss Vimur stehe für das erdhafte Element, das überwunden werden müsse, also letztendlich für Jǫrðr, seine eigene Mutter. Die Ergreifung der Eberesche, die in diesem Moment Sif vertrete, biete ihm Rettung, da diese die rechtmäßige, ordnungsgemäße Heirat verkörpere, entsprechend der üblichen Etymologisierung ihres Namens als „Sippe“, „Verwandtschaft“, „kinship by marriage“ (vgl. Ross 1981, S. 379 f.). Den sexualpsychologischen, ödipalen Ansatz werden wir in diesem Zusammenhang kaum unterstützen können, unbedingt aber ihre Interpretation weiblicher Körperausscheidungen und weiblicher sexueller Exorbitanz als Konzeptualisierungen von Chaos und Tod (vgl. Ross 1981, S. 385). Das nämliche skatologische wie eschatologische Bild sehen wir ja bereits in der Ilias aufgerufen, hier ist es allerdings Achill selbst, der den ‚heiligenʻ Fluss Skamandros mit Leichen verschmutzt und aufstaut. Keine inzestuösen Bedürfnisse sollen hier überwunden werden, vielmehr soll eine undenkbare, mythische, existenzielle Transgression medialisiert werden. Vgl. Marzell 1931, S. 163 f. Vgl. DWb, „widerton“; siehe auch Marzell 1938–41.
9.5 Sif
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Namen Abthon trägt. Und auch Alchimisten versuchten die ,goldenenʻ Widerthonarten für ihre Zwecke zu nutzen – wofür anderes als zur Goldherstellung?⁹⁴ „Vil abentheur“ sei mit diesem Widerthon getrieben worden, so bereits Zeitgenossen, „[d]en alten Weibern wohl bekandt […]. Sie brauchens sehr für Zauberey. / Treiben damit vil Fantasey.“⁹⁵ Marzell schließt hieraus, dass der Widerthon eine recht bekannte Zauberpflanze gewesen sein müsse, nicht zu vergleichen mit seiner heutigen Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig könne man aber diese Popularität kaum irgendwelchen besonders auffallenden äußerlichen oder gar pharmazeutischen Eigenschaften zuschreiben. Allenfalls die besondere Qualität des Standorts, „im düsteren Wald, ihr Vorkommen auf Felsen und in Klüften“, könnte der Pflanze dann zu ihrer Wirkmacht verholfen haben.⁹⁶ In diesem Sinne verdankte dann das Moos, wie die Eberesche und die Binse, seine Fähigkeiten dem betwixt and between seines Habitats, seiner lokalen Randständigkeit. Grundsätzlich kann man davon ausgehen: Auch Sif verkörpert ein Pflanzenkonzept oder wird zumindest mit diesem in Verbindung gebracht, wie Rauni (reynir) besitzt sie dessen liminale Wirkmacht, eine Grenzen ziehende wie Grenzen schützende Funktion, und in dieser Funktion steht sie ‒ wie die Vogelbeerehefrau ‒ dem Grenzpatrouilleur par excellence, Thor, zur Verfügung. Mit diesem Ansatz erklärte sich zugleich auch die auffallende Mythenlosigkeit der Sif. In der Gestalt der Sif scheint nur ein ganz bestimmter Teilaspekt dieses Konzepts mythisch verkörpert zu sein: Es ist die Darstellung einer besonders schändlichen Verwendung, eines Missbrauchs ihrer Funktion, und es ist ihr Haar, das darin im Mittelpunkt steht: Loki scheint sich dessen bedient zu haben, ja er scheint sich Sifs bedient zu haben. Die Ungeheuerlichkeit seiner Tat wird von Snorri lakonisch mit „Bosheit“, til lævísi, abgetan,⁹⁷ es ist ja die gleiche Begründungshülse, der gleiche semantische Platzhalter wie der „Übermut“, skemtun, ‚grundlosʻ, ,zum Spaßʻ. Der Raub des Haars wiederum scheint mit einer anderen Untat zusammenzuhängen: Loki hat offenbar Ehebruch mit Sif begangen hat. Ein Zusammenhang ist ohnehin längst vermutet worden, wie hätte Loki der schlafenden Ehefrau Thors so nahe kommen können, um den Haarraub auszuführen, doch nur in einer Liebesnacht.⁹⁸ (Entsprechend verweist der Verlust des Haars auch auf die Konsequenz des Ehebruchs als Rügemaßnahme an der sexuell
Vgl. Marzell 1931, S. 166. Marzell 1931, S. 167. Vgl. Marzell 1931, S. 171. Loki Laufeyjarson hafði þat gert til lævísi at klippa hár allt af Sif (Skáldsk 35). („Loki, Laufeys Sohn hatte aus Bosheit Sif alle Haare abgeschnitten“). Vgl. Ross 1994, S. 59: „One might reasonably question whether such a bland explanation of Loki’s actions, given his position in divine society, is sufficient to account for the bizarre nature of his behaviour in cutting off all Sif’s hair or for Þóir’s [sic] strong and immediate reaction to it. One might ask, innocently enough, what circumstances might allow Loki or any other male being to get close enough to Sif to cut off all her hair? The obvious answer is a situation of physical intimacy such as exists between lovers, which would normally be difficult for a married woman, unless, like Sif, her husband was often away from home.“
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devianten Frau).⁹⁹ Aber, und diese Frage stellte sich bisher offensichtlich weder im asischen Götterkollegium noch in der modernen Forschung – hier wie da fand ja der Ersatz weit größeres Interesse – wofür benötigte Loki Sifs Haar? Nutzte Loki etwa auf heimtückische Weise seine Verführungskünste, um an das begehrte magische Mittel zu gelangen – ein magisches Hilfsmittel freilich, das üblicherweise Thor zustand? Nur mit Unterstützung seiner Pflanzenehefrau vermag Thor die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zu überwinden und somit die Unterweltdämonen, die Jenseitsbewohner, die Trolle und Riesen in Schach zu halten und zu bezwingen. Welch klägliche Figur er macht, wenn ihm diese Passagehilfe abhandengekommen ist, ist schließlich gut bekannt: In den Hárbarðslióð lässt bekanntermaßen der ,Fährmannʻ Odin¹⁰⁰ seinen eigenen Sohn Thor (der von einer Reise aus dem Osten zurückkehrend über einen Sund gesetzt werden will) wie einen unfähigen Tölpel aussehen. Hárbarðr/Odin verweigert ihm die Überfahrt, er verhöhnt ihn nach bekannter Art eines Männervergleichs, prahlt mit zahllosen Liebesabenteuern, nutzlos bleibt dabei die Kraft Thors, die Erwähnung seiner eigenen Machttaten, zahnlos seine Drohgebärden, durch nichts vermag er den vermeintlichen Fährmann zum Übersetzen zu bewegen. Und was sollte er ihm auch anbieten? Er kündigt wohl mehrmals an, selbst über den Sund zu waten, er vermag es aber offenbar nicht. Als er schließlich kleinbeigeben und zu Fuß den Heimweg antreten muss, zeigt er sich gänzlich orientierungslos: Vísa þú mér nú leiðina, allz þú vill mic eigi um váginn feria (Hrbl 55). („Weis mir nun den Weg, da du mich nicht über die Bucht setzen willst“), so dass ihn Odin ein letztes Mal hämisch in die Irre führen kann. Hier scheint es doch um weit mehr zu gehen als lediglich eine spaßige Inszenierung eines mannjafnaðr. Thor fehlt offensichtlich gerade das wichtigste Hilfsmittel für eine sichere Heimkehr: die Stütze seiner Ehefrau, Sif. Doch die, das scheint der unverschämte Fährmann besonders gut zu wissen, ist anderweitig beschäftigt, sie liegt im nämlichen Moment daheim mit einem Liebhaber: Sif á hó heima, hans mundo fund vilia (Hrbl 48). („Sif hat einen Liebhaber daheim, mit dem wirst du ein Treffen wünschen“). Das Motiv des unwilligen Fährmanns ist auch sonst im Mythos gut bekannt, das Nibelungenlied kennt ihn und der antike Lukian.¹⁰¹ Für unsere Belange von besonderem Interesse ist indes wiederum die Ausgestaltung der Vergil’schen Unterweltfahrt und die besondere Rolle, die Charon, der vielleicht berühmteste mythische Fährmann, darin spielt. Auch in der antiken Szene entspinnt sich ein Streitgespräch, Ross 1994, S. 59 f.: „A number of legal codes list hefty fines for those who commit the offence of cutting off a man’s hair […], presumably as an affront to his honour, and it may be assumed that cutting off a woman’s hair had a similar socially opprobrious meaning as well as the sexually symbolic one foregrounded in my analysis of the myth of Sif’s hair.“ Wenngleich dessen Identität bis zum Schluss des Liedes nicht explizit enthüllt wird, entsprechend wurde überlegt, ob sich unter dem Decknamen Hárbarðr z. B. auch Loki verbergen könnte (vgl. Komm.Edd. Hárbarðslióð, von See et al. 1997, S. 155). Allerdings tritt Odin noch ein weiteres Mal als Fährmann auf, in jener berühmten Überfahrt des Sigmund mit dem Leichnam Sinfjǫtlis ist es wohl Odin als karl („alter Mann“), der diesem das Boot, das Jenseitsfahrzeug zur Verfügung stellt (vgl. Komm.Edd. Hárbarðslióð, von See et al. 1997, S. 159). Vgl. Komm.Edd. Hárbarðslióð, von See et al. 1997, S. 158 f.
9.5 Sif
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Charon beginnt sogleich mit lautstarken Beschimpfungen vom anderen Ufer her¹⁰² – diese Fahrgäste will er auf keinen Fall akzeptieren,¹⁰³ auch wenn die Seherin versucht zu vermitteln. Erst als auch ihre verbalen Beschwichtigungsversuche nutzlos bleiben,¹⁰⁴ greift sie zu ihrer stärksten Waffe: Es ist der ramus, venerabile donum fatalis virgae, der „verhängnisvolle“ Zweig, ein Blick darauf genügt, und der Fährmann zeigt sich gebannt durch dessen Macht und wendet sein Boot.¹⁰⁵ Wenn also davon ausgegangen werden kann, dass die mythische Konzeption wie Funktion des Epiphyten wie Pseudoepiphyten, Mistel (ramus) wie Eberesche austauschbar sind, so zeigt sich auf gleiche Weise, dass die nordische Sif in ihrer ganz spezifischen Ausgestaltung der Darstellung der antiken Zauberpflanze entspricht: Expressis verbis erscheint die Vergil’sche Pflanze als „goldhaarige Sprossen“ (auricomos […] fetus), gleichzeitig aber, auffallend genug, im Bild des duftigen Geschmeides, des Goldflitters, das durch den leisesten Windhauch bewegt werden kann, gleichwohl am Baume festgewachsen. Es ist ein merkwürdiges Changieren zwischen Natürlichkeit wie künstlich Geschaffenem, ein Kunstwerk, das indes – am bemerkenswertesten – biologische, organische Qualitäten aufweist, primo avulso non deficit alter aureus, et simili frondescit virga metallo: „Pflückt man den Zweig, so wächst sogleich nach dem ersten ein zweiter, golden wie jener; es schlägt ein Reis von demselben Metall aus.“¹⁰⁶ Aber nicht mit Gewalt vermag Äneas das Reisig an sich zu
[N]avita quos iam inde ut Stygia prospexit ab unda / per tacitum nemus ire pedemque advertere ripae, / sic prior adgreditur dictis atque increpat ultro: / „quisquis es, armatus qui nostra ad flumina tendis, / fare age, quid venias, iam istinc et comprime gressum.“ („Als von der stygischen Flut fernher sie der Schiffer erblickte, / Wie durch den schweigenden Wald sie den Schritt hinlenkten zum Ufer, / Spricht er zuerst von selbst sie an mit scheltenden Worten: / ‚Wer du auch seist, der du hier in Waffen zu unserem Strom kommst, / Sag’ mir, was dein Begehr; doch von drüben! – und halte den Schritt an!ʻ“ Aen. 6, 385 – 389). [U]mbrarum hic locus est, somni noctisque soporae: / corpora viva nefas Stygia vectare carina. („Dies ist der Schatten Gebiet, der betäubenden Nacht und des Schlummers. / Lebenden Körpern versagt ist die Fahrt auf stygischem Floße.“ Aen. 6, 390 f.). „[N]ullae hic insidiae tales – absiste moveri –, / nec vim tela ferunt;“ („‚Nichts droht hier von solcherlei List (lass schwinden die Sorge) / Noch von Waffengewalt;ʻ“ Aen. 6, 399 f.). „[S]i te nulla movet tantae pietatis imago, / at ramum hunc“ – aperit ramum qui veste latebat – „agnoscas.“ / tumida ex ira tum corda residunt; / nec plura his. [I]lle admirans venerabile donum / fatalis virgae longo post tempore visum / caeruleam advertit puppim ripaeque propinquat. („‚Kann dich der Anblick auch so frommer Gesinnung nicht rühren, / Wirst du den Zweig (und sie zeigte den Zweig, den im Kleid sie versteckt hielt,) / Sicher doch kennen.ʻ / Da legt’ sich der Zorn im schwellenden Herzen. / Mehr nicht sprach sie, und er, des verhängnisvollen Gezweiges Heilige Gabe bestaunend, die längst nicht mehr er gesehen, / Wendet das grünliche Boot herum und nähert dem Strand sich.“ Aen. 6, 405 – 410). [S]ed non ante datur telluris operta subire / auricomos quam quis decerpserit arbore fetus. / hoc sibi pulchra suum ferri Proserpina munus / instituit. primo avulso non deficit alter / aureus, et simili frondescit virga metallo. („Doch ist keinem erlaubt, in die Tiefen der Erde zu dringen, / Wenn er zuvor nicht des Baums goldhaarige Sprossen gepflückt hat, / Die zum Ehrengeschenk sich die schöne Proserpina weihn lässt. / Pflückt man den Zweig, so wächst sogleich nach dem ersten ein zweiter, / Golden wie jener; es schlägt ein Reis von demselben Metall aus.“ Aen. 6, 140 – 144).
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bringen, geschickt, verführerisch muss er sich anstellen, sogar beim pius Aeneas werden da Begehrlichkeiten geweckt,¹⁰⁷ (avidus ist das ,Begehrenʻ gerade auch mit sexueller Konnotation), so folgt es „leicht“ und wie „von selbst“ (ipse volens facilisque).¹⁰⁸ Nichts anderes erzählt der Mythos im Norden, er erzählt von Sifs Inbesitznahme als mythisch magische Pflanze. Und doch, auch bei Sif hält sich der Verlust in Grenzen, auch sie erhält – wie der Vergil’sche ramus – adäquaten Ersatz.¹⁰⁹ Der Vorwurf der Hurerei der Sif findet sich nicht nur im Hárbarðslióð, in der Lokasenna brüstet sich Loki selbst damit, entsprechend sind Entlehnungsrichtungen nach beiden Seiten hin überlegt worden.¹¹⁰ Freilich ist Sif nicht die Einzige. Weibliche Promiskuität als sexuelle Devianz ist die Standard-Diffamierung in patriarchalen Gesellschaften, entsprechend trifft der Vorwurf ausnahmslos alle weiblichen Asinnen, aber so oder so klingt er plausibel. Loki lügt nicht in der Lokasenna, er erzählt vielmehr auf hässliche Weise die Wahrheit. Darüber hinaus zeigt sich gerade in der Lokasenna, wie das Wissen um diese Pflanzenkonzepte sehr überlegt auf struktureller Ebene eingebaut wird: Im Geirmundar þáttr heljarskinns kennzeichnen Binse und Eberesche die Anfangs- und Endpunkte einer Entwicklung: Das Hantieren mit dem reyrsproti des ,Skaldenʻ Bragi war Investitur- oder Initiationsritual für die rechtmäßigen Königsöhne, die entgegengesetzte Grenzüberschreitung, das Lebensende, markierte die bedrohlich glänzende Eberesche. Diese Fixpunkte nutzt auch die Lokasenna, nunmehr übertragen in die Welt der Götter: Das Lied ist symmetrisch aufgebaut. Neun Strophen dauert es zu Beginn, bis Loki beim Gelage Platz nehmen darf, neun Strophen vergehen auch am Ende, bis Thor ihn aus der Halle vertrieben hat […]. Mit dem Angriff auf Bragi in 11 leitet Loki die senna ein, in die insgesamt 16 Personen hineingezogen werden. […] Sif versucht in 53 eine letzte Versöhnung nach dem Angriff auf Skaði;
[C]orripit Aeneas extemplo avidusque refringit / cunctantem, et vatis portat sub tecta Sibyllae. („Und gleich fasst es Aineias und reißt mit Begierde den zähen / Ast sich herab und trägt ihn sofort ins Haus der Sibylle.“ Aen. 6, 210 f.). Siehe Aen. 6, 145–148. In den mittelalterlichen Äneas-Romanen ist gerade dieser spezifische Zug, trotz zahlreicher Änderungen, erhalten. Ausdrücklich heißt es, nach dem Pflücken wachse ein identischer Zweig sogleich nach (RdE 2325 – 26), (ER 88, 8 – 9), vgl. Christ 2015, S. 80 – 83. Der Vergleich mit dem biblischen Samson, der, nachdem er im Schlaf seiner Haare beraubt wurde, auch seiner Kraft verlustig ging, passt also in diesem Fall nur bedingt. Clunies Ross sieht im Sifmythos die soziale Überlegenheit einer bestimmten Gesellschaftsgruppe (der Asen) thematisiert und den Versuch eines Outlaws (Loki), diese zu erschüttern (vgl. Ross 1994, S. 72). „As the well-known Old Testament story of Samson indicates, removal of hair while the victim is in a passive state of sleep symbolises loss of virility and physical weakness. In the case of Sif and Loki the semiotics are slightly different for the sex-roles are reversed; whereas Delilah cut off Samson’s hair at the instigation of the Philistines with the specific purpose of weakening him physically, Loki probably does not intend to weaken Sif herself, as far as one can tell. His intended victim is Þórr, whose honour will be stained by the public disclosure of Sif’s intimacy through the evidence of her shorn head. Such a revelation of the cuckolding of the gods’ strong-arm man also has the effect of humiliating the Æsir as a group“ (Ross 1994, S. 60). Wenn auch in gewisser Weise Leidtragender, ist Thor aber hier wohl gerade nicht Ziel des Angriffs. Vgl. Komm.Edd. Hárbarðslióð, von See et al. 1997, S. 241.
9.5 Sif
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nach deren Scheitern kündigt Beyla in 55 Thors Nahen an. […] Der Wortwechsel zwischen Sif und Loki (53 f.) mit dem Hinweis auf Sifs Ehebruch leitet zum Dénouement des Liedes über.¹¹¹
Es ist also keineswegs Zufall, dass Loki ausgerechnet mit einem Angriff auf Bragi beginnt. Dessen göttliche Funktion ist alles andere als klar, man behilft sich mit der etwas schwammigen Umschreibung ,Dichtergottʻ, wobei das Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Dichter unsicher bleibt. Bragi enn gamli Boddason (9. Jh.) gilt als „durchaus glaubwürdig bezeugte person“, als erster Skalde, als Erfinder des Versmaßes des dróttkvætt, als „schöpfer der nordischen formenpoesie“,¹¹² allein diese kleine Auswahl, die Eugen Mogk gibt, zeigt, dass der (historische) Dichter Bragi als eine Gestalt des Anfangs, als Gründervater, Schöpfer und Erfinder stilisiert wurde. Es sind die Eigenschaften des Ahnherrn. Auch die griechischen Heroen werden als die ,Erstenʻ und ,Bestenʻ verehrt, aber es sind letztendlich Kunstfiguren, Fiktionen des Anfangs. Im Rahmen des Totenkultes bzw. Ahnenverehrung ist denn auch Bragi zunächst kein Eigenname, eher Titel oder Epitheton für die Verstorbenen, Heroen, später möglicherweise sekundär übertragen auf einen fiktiven (bzw. mythisch fingierten) Begründer der Dichtkunst.¹¹³ Snorri rechnet ihn zu den Asen, das passt zu seinen Systematisierungsversuchen,¹¹⁴ denen bekanntlich schon Freyr und die Vanen in ihrer ursprünglichen Konzeption als Ahnen-Götter mehr oder weniger zum Opfer gefallen sind. Bragr ist der ,Princepsʻ, „der erste, vornehmste“, aber ebenso (vermutlich) homonymisch „dichtkunst“ (< altind. bráhma „Zauberspruch“, air. bricht „Zauber, Zauberspruch“¹¹⁵ und damit eigentlich der „Gott des kultliedes und des zauberspruchs“¹¹⁶). Wie auch immer dieses Verhältnis auf etymologischem Weg gefasst werden kann, genau in dieser Kombination tritt er in der Sturlunga saga auf, als ‚Initiatorʻ, als ‚Beginnerʻ, mit ,Zauber-Runen auf der Zunge’, (vgl. Sigrdrífumál 16) und mit dem Binsenstängel, dem ,Kraut des Anfangsʻ in der Hand. Und als Princeps hat er auch in der Lokasenna das zweifelhafte Vergnügen das erste Opfer von Lokis Schmähungen zu werden. Genauso wenig ist es Zufall, dass diese mit Sif ein Ende finden. Sie ist die Beschließerin, die Grenzbewohnerin, die Führerin ins Totenreich. Ihre Gefährlichkeit ist gerade in diesem Moment kaum zu unterschätzen. Der Vorwurf an und über Sif wird in beiden Eddaliedern zum Höhepunkt der Infamie, danach kommt es zum Abgesang. In den Hárbarðslióð scheint sich freilich die Schandtat im Augenblick zu ereignen, im Augenblick des Aufeinandertreffens von
Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 374. Vgl. Mogk 1887, S. 383. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „Bragi“; „Bragr“: „Bragi, a, m. the god of poetry Bragi, also a pr. name.“ Siehe aber ebenso „pl. bragnar, poët, heroes, men, […] as. brego = princeps. BRAGR, ar, m. […] I. best, foremost; […] hence the compd. bragar-full or braga-full, n. a toasting cup, to be drunk esp. at funeral feasts.“ Vgl. Lex.Simek 2006, „Bragi“, S. 58. Vgl. eDIL „1 bricht“: „incantation, charm, magic spell“. Vgl. an. etym. Wb 1962, „bragr (1)“; „bragr (2)“.
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Odin und Thor. Und damit macht sich ausgerechnet Odin zum Helfershelfer. Er nimmt Thor jede Möglichkeit, sie zu verhindern. Ungestört vermag Loki Frau wie Haar in seinen Besitz zu bringen. Nicht zuletzt muss Sif als Einzige in der Lokasenna für sich selbst einstehen, niemand ist bereit sie zu verteidigen. Denn es ist ja ein wahrlich ungeheuerlicher Vorwurf, der damit im Raum steht: Loki hat haddr Sifjar, die „goldhaarigen Sprossen“, die Zauberpflanze Widerthon, das Pflanzenmetallgeschmeide, in letzter Konsequenz die Mistel entwendet, um Balder zu bezwingen. Und alle haben geholfen, Frigg verrät die Art des Gegenzaubers, Odin hält Thor in Schach, und Loki tut das, was er am besten kann, hintergehen und verführen. Von der besonderen Macht des Ebereschenzweigs gerade gegen Tote (im Besonderen auf zauberische Weise zu neuem Leben erweckte oder am Leben gehaltene Tote) weiß die keltische Tradition zu berichten. Von den irischen Wunderkesseln (peir dadeni) und ihrer Macht, die über Nacht Erschlagenen wiederzubeleben, ist schon berichtet worden. Es sind künstlich am Leben gehaltene, auf widernatürliche Weise ins Leben zurückgerufene Tote, defizitär, stumm, so wie Balder in seinem Übergangsritual, in seinem Bestattungsritual, ein noch in dieser Welt verhafteter Toter. Das Lebor Gabála weiß indes noch eine weitere bemerkenswerte Episode über die Tuatha Dé Danann zu berichten, wie sie ehedem Seite an Seite mit den Athenern gegen die Philister gekämpft hatten und die gefallenen griechischen Krieger wieder mit Dämonengeistern zum Leben erwecken konnten. Aber die Priester der Philister reagieren nun ihrerseits mit einem magischen Gegenschlag: Sie raten den Kriegern, „Pflöcke von Hasel und Eberesche (cairthind) mit in die Schlacht nehmen und diese den Dämonenkriegern in das Genick zu stoßen.“ Daraufhin zerfallen die Untoten zu Würmern.¹¹⁷ Es ist das bekannte Konzept der pervertierten Toten-Erweckung (einschließlich dessen Gegenschlag), das indische Mahābhārata kennt es, im Nordischen denken wir sogleich an den Kampf der Hedinskrieger (Hjaðningavíg, Gylf 48). Dieses ‚unnatürlich am Leben Halten oder Bleibenʻ von Toten kann die Eberesche Rauni, die Mistel Sif beenden. Sif ist Balders Ende, aber sie wird auch Lokis sein. Insofern muss noch ein letzter Blick auf Sifs Namen geworfen werden. Zur ,Sippeʻ wird er üblicherweise gestellt, „[r]elationship-by-marriage“,¹¹⁸ ‚die rechtmäßig Verwandteʻ oder Ähnliches. Die formale Möglichkeit besteht wohl, aber wahrscheinlich ist es nicht. Das wäre kaum ein Benennungskonzept für eine (anthropomorphisierte) Pflanze, deren Lebensraum, deren ureigenstes Erkennungsmerkmal ‒ im diametralen Gegensatz dazu ‒ die Randständigkeit, die Nichtzugehörigkeit, die Grenze ist. Es könnte ein Pflanzenname sein, vielleicht sef n. als „Gemeinschaftsname einer Reihe schilfartiger Wasserpflanzen wie der Binse (Juncus) und der Simse (Scirpus)“,¹¹⁹ schw.
Vgl. Birkhan 2009, S. 95. Siehe auch den mit Runen versehenen Ebereschenzweig (reinerz sprotanum), der im isländischen Svartkonstbok (Lindqvist (Hg.) 1921) als Mittel der Wahl zur Abwehr unliebsamer Besucher empfohlen wird (vgl. Heizmann 1996, S. 98 f.). Die unwillkommenen Besucher par excellence sind zweifelsohne die Toten. Dronke 1992, S. 678. Heizmann 2012b, S. 57.
9.5 Sif
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säv, dän. siv, „alles was auf feuchtem Boden wächst“,¹²⁰ natürlich muss man sich hier eins ums andere an die uneinnehmbare ‚Schilfburgʻ des kymrischen „prince of death“ Maelgwas erinnert fühlen. Daneben ist ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen der antiken Seherin Sibylle und Sif bereits vom Erzähler des Prologs der Snorra Edda (ob Snorri oder ein anderer) vermutet worden: „In der nördlichen Welthälfte traf er [Thor, d.Verf.] die Seherin mit Namen Sibil, die wir Sif nennen, und heiratete sie. Von Sifs Familie kann ich nichts erzählen; sie war die schönste aller Frauen, ihr Haar war wie Gold.“¹²¹ Siehe Clunies Ross: „This passage blends several learned traditions; it links Norse deities with the Troy story by euhemerism and comparative etymology of names“.¹²² Es sind zunächst typisch mittelalterliche, volksetymologische Bezüge, aber damit wird gleichzeitig auch eine Möglichkeit für inhaltliche Gleichschaltungen geschaffen. In Anbetracht dessen, wie eng sich die nordische und die Vergil’sche Erzählung gerade in diesem Punkt zeigen, wäre ein Zusammenhang durchaus vorstellbar. Somit wäre aus der Verwalterin der Zauberpflanze, Sybille, eine Personifikation, Sif, geworden, mit den Eigenschaften der Mistel, in Kombination oder Ergänzung oder Doppelung mit der nordischen Zauberpflanze Eberesche, der (gegebenenfalls volksetymologische) Anklang an siv („alles was auf feuchtem Boden wächst“) dann zumindest nicht störend. Vordergründig erscheint die Mistel als Mordpflanze wie die Kürbisranken, Tamarisken, sogar Pfirsiche, die zu tödlichen Geschossen werden. Dazu gehört der besonders präparierte Schierlingsstängel, der den finnischen Helden Lemminkäinen durchbohrt, der groteske Kohlstängel aus der jüdischen apokryphen Legendensammlung Toledot Jeschu, der, mit den nämlichen liminalen Eigenschaften ausgerüstet, als Einziges zur
Vgl. an. etym. Wb 1962, „sef“. Auch das nhd. ,Siebʻ (ahd. sib, as. siph, sif) gehört hierher. Allerdings nicht (wie de Vries auch zu Recht bezweifelt) im Sinne einer „pflanze mit dem durchlöcherten und porösen stengel“, das gemeinsame Benennungskonzept ist das ,Rinnenʻ, das ,Tröpfelnʻ, got. *seihw-a- „seihen, tröpfeln“, aind. siñcáti „gießt aus, befeuchtet, bespritzt“ (vgl. Meineke und Müller 2005, S. 277). Eine merkwürdig einschlägige Spezialbedeutung zeigt sich in der Bergbauterminologie. Hier wird die Gewinnung bzw. Lagerstätte von Flussgold als Seife bezeichnet. „Das Wort – im Althochdeutschen ,seifa‘ bzw. ,seiffa‘, im Mittelhochdeutschen ,seife‘ – meinte ursprünglich einen schmalen, rinnenden Bachlauf, wurde aber bereits im Mittelhochdeutschen in die Bergmannssprache übertragen. Dort stand es seit dem Mittelalter sowohl für die Ablagerung von Mineralien in Gewässern wie für die technische Einrichtung zum Gewinnen dieser Mineralien“ (Schwämmlein 2003, S. 2). Dieses so genannte „Seifengold“ (Hansen 2008, S. 80), das schon in antiker Überlieferung in den germanischen und keltischen Flüssen (allen voran im Rhein) in überreichem Maße vorhanden war, wurde durch das Abgraben und Trennen des Flusssandes, in dem sich das Gold als winzige Körnchen oder Goldflitter in so genannten „Goldnestern“ sammelte, gewonnen (vgl. Hansen 2008, S. 82). Mittels Waschpfannen oder Waschrinnen (mit grobem Gewebe, etwa Schaffellen bespannt) wurde das Gold aus dem Flusswasser gefiltert (vgl. Hansen 2008, S. 82) ‒ kaum anders die göttliche Aphrodite, die beim Bad im Goldfluss Xanthos schließlich expressis verbis ihr eigenes Haar (!) dafür verwendet (siehe Kap. 3.7). Í norðrhálfu heims fann hann spákonu ϸá er Sibil hét, er vér kǫllum Sif, ok fekk hennar. Engi kann at segja ætt Sifjar. Hon var allra kvenna fegrst, hár hennar var sem gull (Formáli 9, 6 – 9). Ross 1992, S. 643.
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todbringenden Waffe, zum Kreuzholz für Christus werden konnte. In letzter Konsequenz aber sind sie allesamt Bannungsmittel für einen gefährlichen Leichnam.
9.6 Mímameiðr Zur Erlangung des Vergil’schen wie nordischen Wunderzweigs werden die gleichen Vorgaben diskutiert, müssen die gleichen Schwierigkeiten umgangen werden wie bei der Überwindung der Unverwundbarkeit Balders. Tatsächlich lässt sich der (ungenannte) Baumspross der Äneassage auf keine Weise, mit keiner erdenklichen Kraft, auch nicht mit dem Schwert pflücken, außer vom „Auserwählten“. Im nordischen Kontext werden solche Bedingungen für Balder durchexerziert. Dies mag J. G. Frazer dazu bewogen haben, nichts weniger als eine Identität zwischen Balder und der Mistel anzunehmen. Entsprechend möchte er Balder, ganz im Banne seiner Naturmythologie, als „Baumgeist“ sehen, als eine „Vegetationsgottheit“.¹²³ Balder sei der „menschliche[ ] Verkörperer der Eiche“ selbst gewesen, die Mistel dessen ,Seeleʻ als „Sitz des Lebens der Eiche“: „Wenn wir nun annehmen, daß Balder die Eiche war, dann wird der Ursprung des Mythus verständlich. Die Mistel galt als der Sitz des Lebens der Eiche, und solange sie unbeschädigt war, vermochte nichts die Eiche zu töten oder auch nur zu verwunden. […]. Wenn der Gott daher getötet, der heilige Baum verbrannt werden mußte, war es notwendig, daß man damit anfing, die Mistel abzubrechen. Denn solange die Mistel unzerstört blieb, war, so konnten die Leute meinen, die Eiche unverwundbar. […]. Das Pflücken der Mistel war demnach zugleich das Zeichen und die Veranlassung zu seinem Tode.“¹²⁴
Nun hat sich Frazer wohl zu Recht mit dieser etwas kruden Idee der veräußerten ,Mistel-Seeleʻ kaum durchsetzen können, aber damit braucht seine Pars pro toto-Idee noch nicht ganz verworfen zu werden. Schließlich scheint es tatsächlich Hinweise auf eine Gleichschaltung, eine Analogie zwischen dem Schicksal Balders und dem Schicksal eines mythischen Baumes zu geben. Erinnert sei an das Bestattungsritual der Äneassage, an die exorbitante Baumfällaktion, die dafür notwendig war, erst dann zeigt sich die Mistel in ihrer ganzen Wirkmacht. Schon bei Vergil erscheint die Mistel also in tiefer Verquickung mit einem düsteren Jenseitskontext und Bäumen. Und es ist ausdrücklich deren Sturz, der zu den Vorbedingungen für die Grenzpassage zählt. Saxo scheint von all diesen Dingen nichts zu wissen. Tatsächlich kommt bei ihm ein (namenloses) Schwert ins Spiel, eine geschmiedete Waffe. Es ist das Schwert eines
Frazer 1989, S. 965: „Wenn ich Recht habe, bildete die Geschichte von Balders tragischem Ende sozusagen den Text des geistlichen Dramas, das Jahr für Jahr als magischer Ritus zu dem Zwecke aufgeführt wurde, damit die Sonne scheine, Bäume wüchsen, die Ernte gedeihe und Mensch und Tier von den verderblichen Künsten der Feen und Trolle, Hexen ud [sic] Zauberer bewahrt blieben“ (Frazer 1989, S. 964 f.). Frazer 1989, S. 967 f.
9.6 Mímameiðr
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silvarum satyrus, des ,Waldschratesʻ Mimingus, das Hotherus erwerben muss. Bei Saxo spielt Gevarus, Nannas Vater, die Rolle des kundigen Ratgebers, er kann in die Zukunft sehen und ist in der „Kunst der Weissagung“ unterrichtet. Auf selbe Weise wie alle zuvor genannten Weisheitskundigen klärt er Hotherus über die Schwachstelle seines Gegners auf, die Eigenart der Waffe und deren Fundort: Selbst dem Eisen wiche nicht die Festigkeit seines [Balderus, d. Verf.] heiligen Leibes; doch fügte er hinzu, er wisse ein Schwert, tief und fest verschlossen, mit dem ihm die Todeswunde geschlagen werden könne; das sei im Besitze Mimings, eines Waldschrates. Der habe auch eine Armspange, die eine wunderbare, geheime Kraft in sich trüge: sie vermehre nämlich die Schätze ihres jedesmaligen Besitzers. Der Zugang zu seiner Wohnstätte sei ungebahnt, mit Hindernissen besetzt und für Sterbliche nicht leicht zu gehen.¹²⁵
Auch Saxos Tötungsinstrument zeigt sich also durchaus ,baumaffinʻ. Im ,Waldhaftenʻ, in den Jenseitsassoziationen gleichen sich die Orte ohnehin: In der griechisch-römischen Tradition versteht man unter einem Satyr (ohne auf die ihrerseits komplexe Entwicklung dieser mythischen Gestalt einzugehen) einen Naturgeist, Wald- und Baumgeist, dem Faun ähnlich oder dem Waldgott Silvanus.¹²⁶ Trotz der Diskrepanzen bleibt also auch Saxo in der Welt der Bäume. Zunächst aber folgt, in typischer Saxomanier, eine brachiale narrative Wende: Damit Hotherus die kostbaren Objekte nicht vom begehrlichen Gelderus wieder abgejagt werden, rät Gevarus im Kampf mit ihm (eine Seeschlacht) „hakenförmige Sicheln“ zu verwenden. Und so „rief er den Hother zu sich, und wies ihn an, er solle die Geschosse des Gelder beim Angriff ruhig über sich ergehen lassen und selbst erst dann Geschosse werfen lassen, wenn er bemerkte, dass sie dem Feinde ausgingen“.¹²⁷ Hotherus tut also wie ihm geheißen, ausdrücklich lässt er seine Leute „stille stehen und sich mit den Schilden decken“, da der Sieg in diesem Kampf „durch ruhiges Aushalten“ errungen werde: „Der Feind ging mit den Geschossen verschwenderisch um und das in seiner Kampfeslust massenweise, und nur um so blinder begann er Lanzen und Speere zu schleudern, als er den Hother sie so ruhig über sich ergehen lassen sah.“¹²⁸
Gest.Dan. 3.2: Nam ne ferro quidem sacram corporis eius firmitatem cedere perhibebat. Adiecit tamen scire se gladium artissimis obseratum claustris, quo fatum ei infligi possit. Hunc a Mimingo silvarum Satyro possideri. Eidem quoque armillam esse mira quadam arcanaque virtute possessoris opes augere solitam. Horum praeterea locorum aditum invium ac impedimentis offusum haud facile mortalibus patere posse. Vgl. Stoessl 1979, Sp. 191 f. Gest.Dan. 3.2: […] vocato Høthero iubet, congressuri secum Gelderi iacula patienter excipiat, non ante sua remissurus, quam hostem missilibus carere conspiciat; Gest.Dan. 3.2: Siquidem ad primos Gelderi impetus subsistere suos ac corpora scutis protegere iubet, praesentis pugnae victoriam patientia capessendam testatus. At hostis, missilibus nulla ex parte cohibitis iisdemque per summam pugnandi cupiditatem effusis, hoc avidius hastas ac spicula torquere coepit, quo Høtherum in his excipiendis patientius se gerere comperit.
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Der massenweise Geschosshagel, der hier so auffallend im Mittelpunkt steht, das ausdrücklich ruhige, geduldige Aushalten, das den Feind umso mehr in Wut versetzt, war gewiss als ursprüngliche Erzähleinheit Balder zugedacht, es ist Teil seiner rituellen Steinigung, seines Bestattungsritus. Diese Aktion folgt unmittelbar nach Hotherus ,Jenseitsreiseʻ, der Einholung der Todeswaffe. In Saxos weltlichem Szenario ergibt sich Gelderus, er muss sich geschlagen geben durch die unglaubliche Passivität seines Gegners. Hotherus erweist sich im Gegenzug ,mildeʻ und ,gütigʻ.¹²⁹ Friedvolle Arrangements werden getroffen, für eine Wikingerschlacht ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Prozedere. In der darauffolgenden Theomachie, in der Schlacht gegen Balderus (mit Unterstützung der gesamten Göttergemeinschaft) muss dieser dann doch sein Leben lassen, und wiederum, entgegen aller narrativen Logik, wird Gelderus mit einem großartigen Schiffsbegräbnis bedacht. Balderus ,verschwindetʻ, er entzieht sich ,durch Fluchtʻ. Saxo aber lässt die Sieger (schon wieder ,wutentbranntʻ) Balderus Flotte kurz und klein schlagen: „Die Sieger, nicht zufrieden damit, Götter besiegt zu haben, ließen auch die Reste der Flotte ihre Wut fühlen, um durch deren Vernichtung ihre mörderische Kampfesgier zu stillen: sie versenkten oder zerhackten die Schiffe Balders.“¹³⁰ Den Sachsenkönig Gelderus hingegen „ließ Hother hingestreckt über die Leichen seiner Ruderer auf einen aus Schiffstrümmern errichteten Scheiterhaufen legen und bestattete ihn so gütig mit Pracht.“¹³¹ Darauf folgt ein üppiges Leichenbegängnis und ein riesiger Grabhügel wird aufgeschüttet. Wir erkennen unschwer nicht nur die ursprüngliche Struktur des Balderbegräbnisses,¹³² auch das Vergil’sche Bestattungsszenario scheint noch durch, hier wie da die potlatchähnlichen Zerstückelungen, Verbrennungsaktionen. Selbst Saxo scheint noch um das ursprüngliche, apokalyptische Weltuntergangssetting der Ereignisse zu wissen, nichts anderes schließlich ist der verlorene Götterkampf, Ragnarǫk, der letzte seiner Art. Und dazwischengeschaltet ist der dänische Waldschrat Mimingus. Zunächst durchaus naheliegend schien eine wie auch immer geartete Nähe zum altnordischen Mímir, dem „obersten Ratgeber Odins“. Auch eine Verbindung zum Mime der deutschen Heldensage ist früh vermutet worden, insbesondere zum Namen des berühmten Schwerts Wielands: Mimung.¹³³ Und schließlich kennt die nordische Tradition, vice
Auch Dumézil verweist auf die ganz offensichtliche Übertragung einer ,baldereskenʻ Episode auf Hotherus, dazu gehöre auch die anschließende Reaktion Hotherus bei den Friedensverhandlungen. Saxo habe sie eingeführt als „l’occasion de manifester sa qualité ‚baldérienneʻ de líknsamastr“ (Dumézil 1962, S. 264). Gest.Dan. 3.2: Ceterum Balderum fuga cursu quaesita servavit. Cuius navigiis victores aut ferro laceratis aut fluctu obrutis, non contenti deos vicisse, classis reliquias saevitia insequuntur, earum iactura funestam belli cupidinem expleturi. Gelderum quoque Saxoniae regem eodem consumptum bello remigum suorum cadaveribus superiectum ac rogo navigiis exstructo impositum pulcherrimo funeris obsequio extulit. Vgl. Kauffmann 1902, S. 85. Vgl. Dillmann 2002, S. 40: „Der Mimingus genannte satyrus silvarum in der Legende von Balderus und Høtherus in den Gesta Danorum […] verdankt seinen Namen offenkundig der Assoziation von Saxo
9.6 Mímameiðr
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versa, ein Schwert mit Namen Mistilteinn. Auch Saxo scheint diese Schmiede-Tradition näher zu liegen. Es ist jene Unentschiedenheit, die seit Anbeginn die Forschung in zwei Lager spaltet. Sollte als ursprünglicheres Todeswerkzeug eine Pflanze vermutet werden oder umgekehrt? Die berechtigten Einwände Libermans wurden bereits erwähnt, der isländische Mythos würde damit seine Logik verlieren, Schiers Statement scheint ihm entsprechend kaum verständlich, „that in the extant myth the mistletoe does not have the importance usually ascribed to it.“¹³⁴ Aber Schier hat damit wohl eher die botanische Spezifik der Pflanze relativiert, die keineswegs ausschließlich an ein Mistelkonzept geknüpft sein muss. Vielmehr sind es Bäume, die eine besondere Rolle spielen – selbst bei Saxo, der die Mistel nicht kennt. Nicht nur aus formalen Gründen muss in diesem Zusammenhang nun endlich an Mimameiðr, den Sitz des „Baumfunklers“ Viðofnir, gedacht werden. Auf irgendeine Weise scheint er Teil dieses Mímir/Mime/Mimung-Komplexes zu sein, wenn auch bis jetzt der Versuch, alle diese Erscheinungsformen in einer mythischen Person oder Wesenheit zu vereinen (oder überhaupt in Bezug zu setzen) nahezu aussichtslos schien. Nach Dillmann findet jedenfalls am wenigsten ein Baumname darin Platz: Aber wenn der Dichter der Fjǫlsvinnsmál sich Mímameiðr als den Weltenbaum vorstellte und dabei dessen Früchten therapeutische Kraft verlieh […], so hat der so benannte Baum in diesem Gedicht doch keine Beziehung zur Gestalt des M[ímir] selbst.¹³⁵
So sieht auch Dillmann das größte Problem bei der Interpretation „in der offenkundigen Existenz zweier sogar in der Feder des Snorri Sturluson verschiedener Traditionen“.¹³⁶ Das muss auch nicht verwundern. Tatsächlich kann man hier nicht von einem Nomen proprium einer einzigen Figur ausgehen. Es sind wohl überhaupt keine
Grammaticus mit dem Schwert Mimungr (oder Minnungr) in der Þiðreks saga, einer von Velent geschmiedeten Waffe (c. 105 – 107) – dieser hatte seine Lehre bei einem Schmied namens M[ímir] gemacht – (c. 84), nach dem Namen des berühmten Mîme in der dt. Gesch[ichte] von Biterolf. Die Gestalt des mythischen Schmiedes im Kontinentalgerm. ist vernünftigerweise nicht mit der des obersten Ratgebers des Gottes Oðinn in den nord. Qu[ellen] in Verbindung zu bringen.“ Liberman 2004, S. 26. Dillmann 2002, S. 40. Dillmann 2002, S. 41. Andererseits wird gerade diese Zwei-Traditionen-Lösung abgelehnt unter Berufung auf keltische Quellheiligtümer, in denen der (abgetrennte) Kopf eines übernatürlichen Wesens Wissen und Zukünftiges verkündet: „On this hypothesis, it becomes clear that there are not two or three Mímirs with different natures and attributes, but one; the severed head, still magically alive, is inside the well at the root of Yggdrasill, and Snorri’s paraphrase of mælir Óðinn við Míms hǫfuð as ‚Óðinn rides to Mímir’s Well and takes counsel from Mímirʻ is no longer an arbitrary piece of rationalizing“ (Simpson 1962, S. 50). Simek verweist auf zahlreiche Gewässernamen (und räumt damit der Argumentation Simpsons einige Plausibilität ein), etwa dt. Mimling, schwed. Mimeså, Mimesjöen, „die auf eine Vorstellung vom Aufenthalt weiser, weissagender Wesen in Gewässern hinweisen dürften“ (Lex.Simek 2006, „Mímirsbrunnen“, S. 281). Aber religiös mythische Benennungskonzepte sind gerade im Bereich der sehr alten Hydronomien selten genug, die Benennungsgrundlagen sind meist sehr konkrete, Wasserqualität wie -quantität, örtliche, geographische wie geologische Bedingtheiten.
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Eigennamen, zunächst einmal nicht, es sind Epitheta, Attribute von Personen und Objekten mit einer ganz bestimmten prototypischen Eigenschaft oder Handlungsweise, die (gegebenenfalls) namengebend wurde. Und somit ist Mímameiðr nicht der Baum eines imaginären „Mími“, schon gar nicht des mythischen Mímir, er ist der Baum ‚nach Art eines Mímiʻ, ein ,mimartiger Baumʻ, und das ist ein Unterschied. Zunächst einmal hat die Wurzel wohl nichts mit „Denken“ zu tun, schon aus formalen Gründen lässt sie sich kaum zum lateinischen memor stellen.¹³⁷ Dillmann und andere möchten den Namen zu einer Wurzel *mein- stellen, dagegen scheint formal nichts einzuwenden zu sein, aber die Bedeutung „meinen“, „denken“ und in einem weiteren Sinn „messen“, „reflektieren“ passt genauso wenig. Man wird semasiologisch einen anderen Weg einschlagen müssen, indem von einer Bedeutung ausgegangen wird, wie sie etwa in Begriffen wie ,Meineidʻ (der ,falscheʻ Eid) und Ähnlichem zu finden ist. Siehe etwa das altnordische mein, „Schaden, Verletzung“, meina „beschädigen“, „verletzen“, meinn „schädlich“, „schlecht“. Diese Wurzel gehört in ein Bedeutungsfeld von „Tausch, Wechsel“, vgl. ai. máyatē, „er tauscht“, lat. munus „Gegengabe“, asl. mēna „Wechsel, Veränderung“, ai. māyā „Zauber(bild), Truggestalt, Gaukelei, Betrug“ – ein interessantes Bedeutungsspektrum, es geht um die grundsätzliche Vorstellung einer Veränderlichkeit und damit Undurchsichtigkeit einer Tätigkeit, eines Objekts oder einer Person, einer Wechselwirkung und einem daraus resultierenden Schaden. Die Bedeutungsentwicklung geht ähnlich wie im Deutschen von „tauschen“ zu „täuschen“.¹³⁸ Es ist die nämliche Wurzel, die sich auch im nhd. ,Mimeʻ (,Schauspielerʻ) wiederfindet. Dieser geht (über lat. mimus) auf griech. μῖμος zurück,¹³⁹ zunächst zur Bezeichnung eines „derben Volkstheaters“, μιμ(ε)ία „Posse“,¹⁴⁰ dazu das Verb μιμέομαι,
Siehe Dillmann 2002, S. 42: „In der gleichen Betrachtungsweise ist zu beobachten, daß der Name M[ímir], obwohl häufig mit dem lat. memor in Verbindung gebracht, sich zweifellos nicht aus der Wurzel *(s)mer- herleitet, weil das -r in Mímir nicht wurzelhaft ist; vielmehr muß er aus plausiblen Gründen in Verbindung gebracht werden mit Begriffen des Messens und Reflektierens.“ Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Meineid“. Hans Kuhn überlegt auch für Mímir diesen Anschluss: Er sei ganz offensichtlich außerhalb der üblichen Ordnung gestanden, vielleicht sei er als „Fremder“ in den Odins-Kreis geraten, und das verstärke den „alten Verdacht“, dass in ihm gr. μῖμος ‚Gauklerʻ stecke (vgl. Kuhn 1978, S. 282). Der Ausdruck ,Posseʻ (DWb, „Posse“) erscheint häufig als Synonym in diesem Zusammenhang. Grimm gibt als Bedeutung dafür „lustiges ding, scherz, spasz, ein lächerlicher, lustiger, neckischer oder ein mutwilliger, übler streich, schabernack, narretei, unsinn u. dergl.“ an, aber auch „bildwerk“ (meist aus Stein geschlagen); daneben ,Bosseʻ (DWb, „Bosse“) als „jocus, nugae, ineptiae, astutia, gestus“, aber auch „bewurf, adumbratio picturae“; siehe „die römisch kirch stellt die h. schrift erst in bossen (in die rechte form, gestaltet sie erst)“, also nicht nur ein schauspielerisches oder handwerkliches, sondern auch ein literarisches Gestalten ist damit gemeint, „wie ein bildwerk gerissen, abgerissen, getrieben wurde, gerade so heiszt es bossen reiszen, treiben, scherze, witze, zoten reiszen, scherz und spott treiben“; das Verb ,bosselnʻ (DWb, „bosseln“) meine „in fünffachem sinn“: „vile opus facere, pfuschen, sudeln, flicken, zuweilen auch allgemeiner arbeiten, schmieden.“
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ebenso präfigiert, ἀπο-, ἐκ-, „nachahmen, -äffen“.¹⁴¹ Auch hier erscheint jene grundsätzliche Diskrepanz zwischen einerseits „(künstlerisch) abbilden“, „ein Abbild, eine Fiktion erschaffen“ (im Griechischen zunächst auf die schauspielerische Fiktion eingeschränkt) und andererseits „betrügerischem, heimtückischem, ja zauberischem Handeln“, eben jene Vorstellung der Veränderlichkeit, der Undurchsichtigkeit, die der Mime als negative, zumindest hochambige Konnotation bis in die jüngste Zeit mit sich führte: Er fingiert, täuscht Wirklichkeit vor, stellt sie recht eigentlich in Frage, was ihm von Anfang an eine tiefe, erbitterte Gegnerschaft der christlichen Kirche einbrachte.¹⁴² Nun gehört zur gleichen Sippe auch das Verb ,meidenʻ.¹⁴³ Erwartbar zeigt sich ebenso eine durch und durch zwiespältige Semantik. Das an. Verb meiða bedeutet zunächst wiederum „verletzen, schaden“,¹⁴⁴ (vgl. goth. gemaiþs „schwach, verkrüppelt“, ae. gemād, as. gemēd, ahd. gimeit „verrückt, töricht“, got. maidjan „verändern, fälschen“), aber auch meiðmar (f. pl.) „Kostbarkeiten“, „Geschmeide“ wird davon abgeleitet (vgl. got. maiþms, ae. māðum, as. mēðom „Schatz, Kleinod“).¹⁴⁵ Der Grund für diese Bedeutungsaufspaltung, die jeweils positive oder negative Bedeutungsausrichtung, ist vom Ergebnis abhängig, wenngleich die Tätigkeit selbst stets bereits intrinsisch belegt ist mit einem ebenso unguten wie brachialen Kippmoment. Es ist das Biegen, das Krümmen, Verändern, Zerschlagen, aber auch das ‚aufs Neue Machenʻ, das Transformieren schlechthin, sei es zur Gestaltung einer konkreten Materialität, eines (Edel)metalls, aber auch in einer übertragenen Vorstellung zur Veränderung (oder ,Demontageʻ) von Wirklichkeit. Es scheint nur folgerichtig, diese Wurzel auch im an. smiðr „Schmied“ zu vermuten,¹⁴⁶ womit sich, falls sich diese Gleichung als haltbar erwiese, auch formal linguistisch ein Kreis schließen ließe, der religions- und kulturgeschichtlich längst offenbar ist: Nicht nur in der mittelalterlichen Germania besitzt der Schmied ein Evokationspotenzial wie Symbolkraft von gewaltigem Ausmaß: Der nordische Mímir ebenso der Mime des deutschen Heldenlieds sind ja gewiss keine ,Schauspielerʻ – es sind Schmiede, das ist der Vilmeiðr, der bislang ungeklärte Namen
Vgl. Frisk 1960 – 1972, „μĩμος“. Frisk möchte allerdings die Anknüpfung an ai. māyā f. „Zauber(bild), Truggestalt, Betrug“ nur als eine „sehr entfernte Möglichkeit“ gelten lassen. Vgl. Ogilvy 1963, S. 604. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „meiden“: mhd. míden, ahd. mídan < wg. *meiþ-a- Vst. „meiden“ < ig. *meit- „wechseln, tauschen“, lat. mūtāre „wechseln, weichen“, akl. mitě „abwechselnd“. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „meiða“; „meiðr“: „meiða, to hurt, of bodily injury, to maim, injure seriously. meiðr – a pole or longitudinal beam. The word can never be used of a living tree, mein (< *mei) a hurt, harm.“ Vgl. an. etym. Wb 1962, „meiðr“; „meiðmar“. So an. etym.Wb 1962, „meiðr“; „meiðmar“. Freilich sieht de Vries das tertium comparationis in der Handwerksarbeit, die der Schmied beim Behauen der Stämme beim Hausbau leiste. Kluge/Seebold verweisen wohl auf die allgemeinere Bedeutung, die der Schmied in früherer Zeit gehabt haben müsse, etwa ahd. smeidar „Künstler, Bildner“ (vgl. auch Seebold 2001, S. 270: smeidar: artifex), allerdings gibt er keine weiteren Anschlussmöglichkeiten an – „weitere Herkunft unklar“ (Kluge/Seebold 2002, „Schmied“).
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einer mythischen Gestalt des Hdl (33), von dem alle Zauberer abstammen sollen, magische Verwandler, Veränderer, in ihrer eigentümlichen Ambivalenz, wie wir sie so gut kennen von sämtlichen Schmieden der (mythischen) Welt. Nämliche Ambivalenz findet sich in den vielleicht noch berühmteren Schmiedenamen Wieland, Vǫlundr, Velent. Auch an. véla ist sowohl „kunstfertig herstellen“ wie „betrügen“.¹⁴⁷ Den Schmieden, noch allgemeiner den Metallverarbeitern, wurden entsprechend immer auch Zauberkräfte, übernatürliche, magische Fähigkeiten zugeschrieben (ähnlich den Mühlen bzw. Müllern als vormoderne ,Supertransformatorenʻ). Jenes Bündel an vormodernen Wissensvoraussetzungen, Annahmen, Präsuppositionen, Konnotationen des Schmieds (und seines Handwerks) lassen sich problemlos in jedem einzelnen dieser soeben angeführten Bedeutungsaspekte unterbringen. In der Tat scheinen sie „ganze Welten aus wenig oder nichts“ erschaffen zu können, das Verb smíða „schmieden“ kann synonym verwendet werden zu skapa „erschaffen“. Der Schmied ist also nicht nur begnadeter Techniker, er ist ,Transformatorʻ, „Schöpfer“ schlechthin.¹⁴⁸ Aber mímameiðr ist nicht etwa der ,Baum eines mythischen Schmiedsʻ, er verhält sich nach Art eines Schmieds, er ist der ,schwankendeʻ, der ,biegsameʻ, der ,verdrehteʻ Baum, die Konnotationen bleiben die gleichen, er ist in dieser Konsequenz der ,schädlicheʻ, ,zerstörerischeʻ Baum. Meiðr ist die schwankende, wackelige, biegsame Stange – die nämliche an der Odin hing neun Nächte: am vindga meiði (Hav. 138). Diese Bezeichnung ist eine genaue Entsprechung zu mima-meiðr, es muss damit nicht direkt der Galgen gemeint sein, aber der Galgen teilt sich mit diesem die Eigenschaft des Schwankens.¹⁴⁹ Gutenbrunner lehnt entsprechend die Übersetzung „der windige Baum“ für vindga meiði (Hav 138) ab: Ich glaube nicht an den ,windigen Baumʻ, sondern denke an ,windschiefeʻ Bäume als Galgenbäume, denn solche, für die Zimmerarbeit wenig geeignet, stellen sich dem dürren und unfruchtbaren Baum als Galgenholz an die Seite.¹⁵⁰
Auch er sieht also primär die Vorstellung des ,Schiefenʻ, des ,Verdrehtenʻ, des ,Schrägenʻ im Vordergrund (vgl. mhd. windeht, „gewunden“, wintschaffen „krumm“). Erst im „modernen Sprachgefühl“ (d. h. volksetymologisch) sei das Wort mit ,Windʻ verbunden worden.¹⁵¹ Auch Kluge erklärt das Adjektiv „windschief“ in der Bedeutung „verdreht wachsende Hölzer“. Auszugehen sei von g. *wenda „schief, gewunden“, gt. in-vinds „verkehrt“, an. vindr „gewunden, schief“. In der idiomatischen Wendung
Schröder 1977, S. 385. Vgl. Jón Hnefill Aðalsteinsson 2004, S. 194. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Galgen“: Ursprünglich ein „biegsamer Stamm, an dem der zu Hängende in die Luft geschnellt wurde“, siehe an. gelgja „Stange“, lett. žalga, „Angelrute“. Gutenbrunner 1955, S. 61. Vgl. Gutenbrunner 1955, S. 61 f.
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wind und wehe („vor Schmerz gekrümmt“) ist wehe eine Verdeutlichung für das nicht mehr verstandene wind.¹⁵² Im Grunde genommen gehören dazu auch die apokalyptischen Bilder der Vǫluspá 45: vindǫld, vargǫld – das ist keine „Windzeit“ so wenig wie eine „Wolfszeit“, es sind schiefe, verdrehte, chaotische Zeiten. So wie der Galgen wohl der vargtré ist, aber auch hier ist nicht ein „Wolfsbaum“ gemeint, sondern ein Baum, der sich ein bedeutungsgebendes Konzept, eine Eigenschaft mit einem Wolf teilt. Oft hat man dies im ,Würgenʻ gesehen, so seien also Wolf und Galgen gleichermaßen ,Würgerʻ. Es ist aber das ,Zentrumsloseʻ, das auf gleiche Weise ,nicht Festgemachteʻ, das den vargr auch zum Synonym für den mittelalterlichen outcast, ‚den Ruhelosenʻ, ‚Heimatlosenʻ schlechthin hat werden lassen.¹⁵³ Zunächst aber finden sich zahlreiche, (zunächst) ganz ungefährliche Alltagsgegenstände in dieser Vorstellung wieder. Es sind gewöhnliche ,Sachenʻ, Gegenstände, Handwerkszeug des bäuerlichen Alltags, der ,Weberbaumʻ ist ein meiðr, (telgja meið til rifjar, „to shape a pole for a loom“), aber auch die ,Querstange am Wagenʻ oder der ,Heubaumʻ.¹⁵⁴ Nun hat letzteres Gerät im Deutschen auch den Namen ,Heugeigeʻ, was früheren Folkloristen und bäuerlichen Sachforschern einigermaßen Kopfzerbrechen bereitete: Welches tertium comparationis sollte man annehmen zwischen einem ,Stangengerüst zur Trocknung von Heuʻ und einem ,Musikinstrumentʻ? Es ist exakt das Konzept einer iterativen Bewegung, Beweglichkeit, das diese verbindet, ein (unbeständiges) ,Hin und Herʻ. Hugo Schuchardt, einer der Gründer der so genannten Wörter- und Sachenbewegung in der Historischen Sprachwissenschaft, erkennt dieses Prinzip¹⁵⁵ – im Gegensatz zu seinem Kollegen und erbitterten Konkurrenten Rudolf Meringer. Dieser wollte entsprechend von lediglich Homonymen ausgehen.¹⁵⁶ Nun zeigt sich gerade in dieser Wurzel, trotz ihrer Gewöhnlichkeit und Alltäglichkeit (und doch mit jener inzwischen erwartbaren Zwangsläufigkeit), eine negative, bedeutungsverschlechternde Entwicklung. Das altn. geiga bedeutet „seitwärts abweichen“, nisl. und nnorw. dial. „hin- und herschwanken“, dial. geigla, geigra, geigna „schief gehen“, giga, gigla, gigra „lose stehn“, „wackeln“, nhd. geigen „sich hin und her bewegen“, das Nomen geigr hingegen schon deutlich pejorativ „Schade, Verletzung“. Es gehört zum Berserker-Name Geigaðr und nicht zuletzt zum Odins-Name Geiguðr, durchaus möglich, wie de Vries vermutet, als „der am galgen baumelnde“, aber es ist wohl gerade in einem ganz wörtlichen Sinne einer, der schief geht, beim Laufen
Vgl. Kluge/Seebold 2002, „windschief“. Siehe etwa grundlegend Jacoby 1974. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „meiða“; „meiðr“. Vgl. Schuchardt 1912, S. 831. Vgl. Meringer 1904, S. 133 – 135. Eine Ähnlichkeit der Heugeige zum Musikinstrument ist für Meringer „unerfindlich“, obwohl er für das Wort Geige das an.Verb geiga „schwanken“ in Anschlag bringt, „das Schwanken des Bogens als etwas für die Geige Charakteristisches auffällt“ (Meringer 1904, S. 133), sucht er dennoch die Vergleichsmöglichkeit im gotischen Verb gageigan „etwas gewinnen“, die Heugeige also der „Heugwinnn“ wäre (vgl. Meringer 1904, S. 133).
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schwankt, jene spezifische, defiziente Art von Bewegung, der die Menschen immer auch mit einem tiefen und nachhaltigen Misstrauen begegnet sind.¹⁵⁷ Zur tödlich gefährlichen Bewegung wird sie, wie noch zu zeigen sein wird, im magischen Ritual, vielleicht am berühmtesten und gefürchtetsten als „Berserkergang“ (berserksgangr). Und noch ein weiteres Synonym für den Weltenbaum bedeutet schließlich nichts anderes als „Schadenbereiter“: Léraðr, Læraðr (Gylf 39, Grm 24– 26) – alles in allem für einen heilbringenden, weltenschaffenden, weltenstützenden mythischen Baum irritierend negative Konnotationen. Wie sollte der Weltenbaum zu diesen unglücklichen Zuschreibungen gekommen sein? In der Forschung bleibt dies bis heute unkommentiert. Ja mehr noch, wenn Mímameiðr, Léraðr, vindga meiði, vielleicht auch Yggdrasill als buchstäbliche „Schreckensbäume“ in eine Reihe gestellt werden können, so muss auch das Wurfgeschoss selbst, das Balder den Tod bringt, unter diesem Aspekt betrachtet werden. Es wird doch ebenso als meiðr bezeichnet, als „dünn“ und „schmal“, was nun aber auch hier kaum ,Jugendʻ oder ,Harmlosigkeitʻ meint (wenngleich von Snorri offenbar zunächst so verstanden), vielmehr eine gefährliche ,Unfestigkeitʻ und damit Unberechenbarkeit: „Aus diesem Holz wurde, das dünn schien, / das gefährliche Harmgeschoss, Höd schoss es.“¹⁵⁸ Hier erscheint Balders Todeswaffe aus einer Pflanze gemacht, hergestellt zu sein – womöglich aus dem Holz des Mímameiðr selbst, des Schadenbaums. Die Überlegung liegt nahe, dass genau hier der Grund für die merkwürdig negativen Konnotationen des mythischen Baumes liegen könnte ‒ weil er zur Mordwaffe des Götterlieblings Balder wurde. Tatsächlich aber müssen wir wohl eher von der anderen Seite her denken: Weil der Baum diese negative Wirkmacht schon zuvor besessen hatte, konnte er recht eigentlich erst zum Mordwerkzeug werden. Der Weltenbaum war ein Schadensstifter und es sind nur mehr die Fjǫlsvinnsmál, die wenige, trümmerhafte Informationen im Norden dazu erhalten haben. Mimameiðr und Weltenbaum sind identisch, genauer, ,mimameiðrʻ ist ein spezifischer Zustand des Baumes, ein negativer, schädlicher. Es ist also von einer Entwicklung auszugehen, von unterschiedlichen Daseinsstufen oder Etappen. Davon weiß der nordische Kontext nichts mehr, somit zeigt sich hier ein hochwidersprüchliches Bild: Ein Baum, der seine Zweige über alle Länder breitet, so heißt es (Hvat þat barr heitir, / er breiðask um / lönd öll limar? [Fj 19]). Aber warum kennt man seine Wurzeln nicht (en þat manngi veit, / af hverjum rótum renn [Fj 20]), wiewohl diese an anderer Stelle (Grm 31) gerade ausführlich für Yggdrasill beschrieben werden? „Wie er fällt, weiß niemand, ihn fällt nicht Feuer noch Eisen,“ (við þat hann fellr, / er fæstan
Siehe DWb, „geige“: Grimm spricht vom „uralten stamme gag (gig), der in reichster ausgestaltung wesentlich eine gaukelnde bewegung bezeichnet.“ Etwa in „aargauisch gigagge sich in den hüften wiegen […], mhd. in gigen garren […] von einem narren und seinem gaukelnden gehn und thun […], altn. geiga von der rechten richtung abirren, schräg gehen.“ Auch auf anzügliche, sexuelle Konnotationen treffe man hier, auf Hüllwörter für Geschlechtsverkehr, vulva oder meretrix. Insbesondere sind damit (weibliche) sexuelle Devianzen gemeint, entsprechend wird die umgehängte Geige zum Symbol und Rügeinstrumentarium, „ehrenstrafe für gefallene mädchen“. Varð af þeim meiði, er mær sýndiz, / harmflaug hættlig, Hǫðr nam scióta (Vsp 32).
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varir, / flær-at hann eld né járn [Fj 20]), so heißt es weiter, aber wiederum berichten die Grímnismál detailgetreu, welchen unterschiedlichen größeren und kleineren Verletzungen die Esche Yggdrasill permanent ausgesetzt ist („Die Esche Yggdrasil erduldet Mühsal, mehr als man weiß; der Hirsch weidet oben, und an der Seite fault es, Nidhögg beschädigt unten“ [Grm 35]). Schließlich sollen seine Früchte eine mysteriöse innere Krankheit heilen, fyr kelisjúkar konur („womb-sick“, vielleicht eine Frauenkrankheit), utar hverfa, / þess þær innar skýli; („heraustreiben soll sie, was innen ist“ [Fj. 22]). Tatsächlich gehört das Frage-Antwortspiel der Fjǫlsvinnsmál, in dem kosmologisches, primordiales Wissen über die Entstehung der Welt kundgetan wird, in einen ursprünglich rituellen Zusammenhang. Auch das Kalevala kennt es, und gerade das finnische Epos vermag bei der Entschlüsselung zu helfen: Die wenigsten dieser Zuschreibungen sind positiv gemeint. Es geht zunächst nicht um den heilspendenden, fördernden Weltenbaum, sondern um den schädlichen, einengenden, Unheil bringenden.¹⁵⁹ Hier werden Informationen erfragt über dessen Zerstörungsmöglichkeiten. Der Untergang des ‚Gottesbaumsʻ ist Teil eines einstmals riesigen Mythenkomplexes, der sich über den ganzen eurasischen, orientalischen Raum erstreckte, und wenngleich auch in der finnischen Überlieferung nur noch Bruchstücke davon erhalten seien,¹⁶⁰ so vermag sie uns doch noch hinreichend ins Bild zu setzen.
Auch in der Tradition der Ainu, einer vom Ursprung her eurasischen, altaischen Ethnie in Japan, ist der Weltenbaum als ,Baum des Bösenʻ bekannt. Deren Weltschöpfungsmythos kennt den schadenbringenden Weltenbaum nitat kene-ni in Gestalt einer Erle (Alnus japonica). Dabei geht es auch hier nicht um ,das Böseʻ im Sinne einer moralischen Verfehlung, vielmehr in einem konkret physischen Sinne als Verursacher von Krankheiten (vgl. Batchelor 1901, S. 46). „The bark, not the fruit, is supposed to be the evil-causing agency. Even at the present day some Ainu consider it to be the direct cause of a disease they call shihapapu, a complaint which is said to consist chiefly in severe internal pains [kurs. d. Verf.], and which often terminates in death. After some time, as the tree grew old, the bark is said to have fallen off and rotted on the ground, as it does indeed at the present day. But as it decomposed and became fine powder or dust, it was blown over the face of the earth by the winds, and in some mysterious way became the cause not only of stomach complaints but also of many kinds of bodily ailments. But, strange as it may appear, the bark of this tree is not only looked upon as the cause of illness, but is also sometimes used as a means for its cure. The bark, if taken fresh from the tree and a decoction made by steeping it in hot water, is said to work wonders; and not only therefore are there special maladies for which it is to be particularly recommended, but, as might be expected, it is also supposed to be good for almost every kind of disease“ (Batchelor 1901, S. 46). Auf ganz ähnliche Weise wird in den Fjǫlsvinnsmál von einer mysteriösen ,inneren Krankheitʻ berichtet, die der schadenstiftende Weltenbaum zu kurieren vermag, aber, wie nun anzunehmen ist, ebenso verursacht. Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 394 f.: „Das Lied von der Großen Eiche, dem ,Baume Gottesʻ hatte ursprünglich kultische Funktion. In ihm wurde Kunde gegeben von Ursprung und Ende des Urbaumes, der als Welt- oder Lebensbaum die Mythologie nicht nur der Finnougrier, sondern auch der Nordeurasier und vieler anderer Völker Europas und Asiens bereichert. Wir kennen ihn aus dem Lebensbaum des Paradieses ebenso wie als Yggdrasil, als Weltesche der Germanen. […]. Nur ein unscheinbarer Splitter ist es, den wir mit dem Liede von der Großen Eiche vom gesamten Mythenkomplex vor uns haben. Daß seine älteste Ausformung noch der frühesten Schicht angehört, ist noch an dem kargen
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Im finnischen Epos finden sich an dieser Stelle die ältesten Lieder, es sind 3 Kultlieder, die in der Überlieferung nur noch als historiolae in magischen Beschwörungen und Zaubersprüchen erhalten waren.¹⁶¹ Im zweiten Gesang des Kalevala wird in einer Neukombination dieser Lieder die Urbarmachung und Fruchtbarmachung der Welt als Kulturwelt geschildert durch den ,sehr alten, weisenʻ Väinämöinen. Und so wird auch das Schicksal der „Großen Eiche“, des Weltenbaums, beschrieben: ihre Fällung. Zunächst freilich vermag die Eiche gar keine Wurzeln zu schlagen: „Ohne Keim ist nur die Eiche, Gottesbaum nur ohne Wurzel“ (2, 54), klagt Väinämöinen. Die Wurzellosigkeit des Wunderbaums bezieht sich also auf dessen Anfangszustand, seinen Urzustand. Aber als es schließlich doch gelingt, breitet sich die Eiche in der Folge dermaßen über das ganze Land bis in den Himmel hoch aus, dass kein Platz mehr bleibt zur Entfaltung für andere Lebewesen. Der riesige Baum löst Sonnen- und Mondfinsternisse aus, kein Lichtstrahl fällt mehr durch das dichte Laubdach. Es ist diese nicht schattenspendende, sondern verschattende, verdunkelnde Eigenschaft des Laubwerks, das dem Motiv seinen Platz im Standardrepertoire des Wunderbaums gesichert hat. So stellt Väinämöinen (wenngleich sein Platz auch hier an dieser Stelle nicht ursprünglich ist) schließlich die bange Frage: „Wer könnt diesen Baum zerbrechen, diese schöne Eiche schlagen“?¹⁶² Es ist ja die nämliche Frage, die Svipdagr an den Toren zur Anderswelt stellt, und ebenso wird ihm versichert, dass es kein (herkömmliches) Mittel gebe, um diesem Herr zu werden. Der Baum mutiert nun expressis verbis zum „bösen Baum“ – aber im finnischen Mythos in seinem logischen, ursprünglichen Kontext. Die Fällung des Baumes erscheint schließlich als Erlösungstat, als notwendige Etappe in der Schöpfungsgeschichte: Die Eiche senkt sich, der „Baum der Hölle“ birst, Funken schlagen unter den Axtschlägen. Wie sehr gleicht dieses Bild Äneas gewaltiger Baumfällung – ausgerechnet für den Scheiterhaufen seines toten Kameraden. Selbst Saxo kennt das kosmische Bild noch, als ferne Reminiszenz anzitiert im furiosen Zerschlagen, Zerbersten der (hölzernen) Schiffe der Feinde und dem Versenken der Holzsplitter im Meer, sogar noch in der korrekten zeitlichen Abfolge: Die Holzaktion geht hier wie da dem Schiffsbegräbnis voraus. Wir sehen die strukturelle Ähnlichkeit zu anderen kosmogonischen Heilstaten als buchstäbliche Weltraumschaffung, etwa eines Víðarr, wie er dem Fenris-Wolf die Kiefer auseinander tritt, sperrangelweit vom Himmel bis zur Erde, eines Thor, wie er nachgerade dieses
Hauptsatzstil (1 Hauptsatz = 1 Kurzvers) und der unbedingten Entsprechung von Haupt- und Variationsvers zu erkennen.“ Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 392. „Bald schon breitet er die Äste, dehnt und reckt die dichtbelaubten, / Hoch zum Himmel strebt der Gipfel, in die Lüfte steigt das Laubwerk, / Hält die Wolken ab vom Wandern, hemmt den Flug der Federwölkchen, / Schiebt sich vor den Schein der Sonne, deckt den milden Strahl des Mondes. // Väinämöinen drauf, der alte, wägt es ab und überlegt es: / Wer könnt diesen Baum zerbrechen, diese schöne Eiche schlagen? / Leidig ist des Menschen Leben, furchtbar ist der Fische Schwimmen / Ohne allen Schein der Sonne, ohne allen Glanz des Mondes“ (2, 70 – 77).
9.7 Ullr
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Auseinanderstemmen, Einstemmen bei seinen (Jenseits)reisen notorisch praktizieren muss. Das finnische Kalevala gibt sich aber nicht damit zufrieden, lediglich über den Sturz, den Untergang des Baumes zu berichten.¹⁶³ Eine letzte Frage muss noch beantwortet werden. Das Kultlied bzw. die Zauberrune stellt sie: „[W]as wird aus den Splittern des gefällten Baumes?“¹⁶⁴
9.7 Ullr Auf besondere Weise scheint der Sohn der Pflanzen-Frau Sif mit dieser Frage verbunden: Ullr. Sif hat ihn mit in die Ehe gebracht, er gilt ausdrücklich als der Stiefsohn Thors, Thor ist der stjúpfaðir Ullar (Skáldsk 11). Nirgends wird etwas von einer Vaterschaft verlautet, was auffallend ist. Seine Abstammung scheint damit zweifelhaft, ähnlich den schwärzlichen Sturlunga-Zwillingen und dem hornungr Erpr. Man weiß Weniges, Verstreutes von Ullr, aber das, was von ihm bekannt ist, nimmt sämtlich Bezug auf Bäume, genauer, auf Objekte von hölzerner Materialität. Sein Wohnort wird in den Grímnismál (5) mit Ýdalir, („Eibentäler“) angegeben. Er gilt als guter Bogenschütze (bogaáss), als Skifahrer (ǫnduráss), Schildgott (skjaldaráss). Eine Kenning für „Schild“ lautet „Ulls Schiff“ (Ullar skip, Ullar kjóll, Ullar askr), gleichzeitig aber konnte jedes Schiff als Ulls Schiff, Ullar kjóll, bezeichnet werden.¹⁶⁵ Damit scheint es nicht unwahrscheinlich, auch in Sifs Sohn die Verkörperung eines Baumes anzunehmen, und gerade in seiner ausdrücklichen Vaterlosigkeit könnte eine Anspielung auf das Konzept der biologischen Parthenogenese vermutet werden, jene pflanzentypische, eingeschlechtliche Art der Fortpflanzung. Die bisherigen Etymologisierungsversuche seines Namens (etwa zu *wulþus „Ruhm“ oder *wullinaz „Wolle“)¹⁶⁶ scheinen wenig ergiebig, da sich dafür keine Bezüge zum mythischen Material auftun lassen. Und trotz seiner eher mythischen Nichtpräsenz scheint ausgerechnet eine Vielzahl norwegischer und schwedischer Ortsnamen seinen Namen als Bestandteil zu enthalten.¹⁶⁷ Aber Simek warnt zu Recht davor, aus einer durchaus beeindruckenden Zahl an Ortsnamen auf eine nämliche
„Hieb den Baum mit einem Beile, schlug ihn mit der glatten Schneide; / Einmal hieb er, hieb noch einmal, mühte sich zum dritten Male; / Feuer fuhr da aus dem Beile, aus der Eiche floh die Flamme; / Senken wollte sich die Eiche, bersten schon der Baum der Hölle“ (2, 193 – 96). Fromm und Fromm 1985, S. 395: „Das Lied schon hatte diese Frage in den Mittelpunkt gestellt: was wird aus den Splittern des gefällten Baumes? Das Epos stellte sie in dieser Konkretheit nicht mehr. Die v. 191– 196 lassen die alte Funktion noch durchscheinen.“ Vgl. Lincoln 2012, S. 25. Vgl. an. etym. Wb 1962, „Ullr“. Meist in Kombination mit einem Grundwort engi, land, vin, þveit, ey, also natürliche Landschaftsverhältnisse, Wiesen, Weiden, Inseln, ebenso vé, hǫrgr, lundr, akr, mit vielleicht eher sakraler Konnotation. Das Toponym ýdalir taucht auch in angelsächsischen Ortsnamen auf, so schott. Udale „yew valley“, ähnlich ein Uley in Gloucestershire (vgl. Lex.Simek 2006, „Ullr“, S. 447).
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Kultverbreitung zu schließen.¹⁶⁸ Natürlich, das Benennungsmotiv dürfte zunächst einmal ein recht profanes gewesen sein, es sind einfach Örtlichkeiten, die nach ihrem Bewuchs benannt wurden; ullir, yllir ist ein Baum, nicht näher bestimmt (vgl. ullir, m., „a tree, = yllir“),¹⁶⁹ im Nisl. ist es der ,Holunderʻ (sambucus nigra), der lautet wiederum im Norwegischen und Schwedischen hyll. De Vries beschreibt den Begriff (neben poet. „Baum“) als „Schafthalter am Webstuhl“, fär. skaftillir, norw. skaft(h)elder, uller. Der ,Ullerʻ ist ein baum- oder stangenartiges, hölzernes Element, ein Pflock als Teil des Webstuhls.¹⁷⁰ Ein seltenes Wort, einzig im Darraðarljóð, dem Walkürenweblied (siehe Nj, Kap. 157), erscheint es als Element am Webstuhl, als járnvarðr yllir (Darr. 5). So wenig wie Ullr nun aber zum ,Webegottʻ avanciert, ist er ein ,samischer Wintergottʻ oder ,Jagdgottʻ. Seine Verbindung zur Eibe, zum Eibenholz ist alt und einschlägig genauso wie das Wissen um diese Holzart zur Bogen-Herstellung par excellence.¹⁷¹ Dennoch sind diese Zuschreibungen sekundär: It is easy to imagine that Snorri’s attribution of Ullr having wintery characteristics is the result of a personal interpretation of the information given in Grímnismál. Given that Snorri was aware of the practice of making bows from the yew tree, Snorri may simply have deduced that Ullr was related to bows, and thus hunting. It must be assumed that the practice of hunting (as opposed to agriculture) seemed especially associated with winter, and that Ullr, therefore, was thought of as a god of winter […]. It might be noted that Snorri’s first account of Ullr in Gylfaginning speaks of him only as skier and archer – and that it is only in Skáldskaparmál that the god is first referred to as a hunting god (veiðiáss).¹⁷²
Ähnlich urteilt Lincoln: [O]ne still must understand that Snorri chose to ignore most other aspects of Ullr that were known to him from various sources (oaths, rings, magic, kingship, runes etc.) and created a distinctive identity for Ullr by making (skis + archery) his prime attributes.¹⁷³
Snorri versteht also Ullrs Eigenschaften oder Attribute als „typisch samische Klischeemerkmale“¹⁷⁴ (auch Skaði ist ja, vermutlich ebenso sekundär, in diese Richtung interpretiert worden). Tatsächlich aber weist Ullr Ähnlichkeiten zu einer samischen Gottheit auf, die üblicherweise auf Skiern mit Pfeil und Bogen dargestellt wird: L(e)aibolmai, „der Erlenmann“, ein Gott in Form einer anthropomorphisierten Erle. Die Vergleichbarkeit, das tertium comparationis wird allerdings hier zunächst in der hölzernen Materialität, der spezifischen Qualität und Machart der Attribute zu sehen
Vgl. Lex.Simek 2006, „Ullr“, S. 447. Cleasby/Vigf. 1874, „ullir“. an. etym. Wb 1962, „yllir“. Vgl. Heizmann 1986a, S. 528 f. Molin 2015, S. 142. Lincoln 2012, S. 25 f. Kusmenko 2011, S. 377.
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sein, insbesondere hat das Erlenholz dieselbe rötliche Farbeigenschaft wie die Eibe.¹⁷⁵ Und da die charakteristische Färbung des Holzes häufiges bedeutungsgebendes Konzept ist, zeigen sich hier schon immer Vermischungen zwischen den einzelnen Benennungen.¹⁷⁶ Entsprechend konnten auch Eibe und Eberesche, wenn auch nach modernen botanischen Einteilungskriterien (und rein äußerlicher Anschauung) dezidiert unterschiedliche Baumkonzepte, gleich benannt werden. Und es ist wahrscheinlich auch diese (vormoderne) botanische Kategorienbildung, die den Anstoß gab, den Gott auf mythischer Ebene mit der Eberesche (bzw. Sif) zu versippen.¹⁷⁷ Mit dieser Vorstellung einer Baumhaftigkeit Ullrs¹⁷⁸ ist es nun auch möglich, sich dem einzigen, rudimentären Mythos über den Gott zu nähern. Er wird uns von Saxo überliefert. Er weiß von einem zauberkundigen Ullr/Ollerus zu berichten, der mit einem Knochen (in den er Runen eingeritzt habe) übers Meer gefahren sei, schneller als es ein Schiff mit Rudern vermocht hätte. Des Weiteren soll er einmal, anstelle des verbannten Odins, die Herrschaft ausgeübt haben, bis er schließlich selbst verjagt und getötet worden sei (Gest.Dan. 3.4).¹⁷⁹ Die von Saxo konstatierte Interimsregierung des Ollerus fällt in die Zeit nach Odins Transgression, der Vergewaltigung Rindas, um einen Rächer für Balders Tod zu erhalten. Nach Art der Umstände kann darin das (euhemerisierte) Endzeitszenario der Gylfaginning vermutet werden, entsprechend ist Odins ‚Verbannungʻ wohl mit seinem (mythischen) Tod gleichzusetzen. Ollerus wird ausdrücklich von Saxo als Ersatz, als Substitut bezeichnet, ein befremdliches indes, wie er betont. Die Götter hätten an Odins statt einen gewissen Ollerus gewählt, „nicht allein zur Nachfolge in der Herrschaft,“ sondern gerade auch in der Göttlichkeit. Und obgleich er nur in Stellvertretung zum Obergott gewählt worden sei, sollte ihm doch an Hoheit nichts fehlen, und so hätten sie ihm auch den Namen Othin gegeben.¹⁸⁰ All
Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Erle“: „Man vermutet als Grundlage einen Farbnamen für ‚gelb, rötlichʻ nach der Farbe des Holzes.“ Auch Kusmenko verweist auf die spezifische Materialität des Holzes, die rötliche Farbe, die sich beide Baumarten teilten. Dennoch sieht er – gerade umgekehrt – diese Übereinstimmungen nicht als primär an, die Ähnlichkeiten hingen vor allen Dingen mit der Jagd, insbesondere der Winterjagd zusammen. Allerdings vermutet er in Ullr zuallererst einen „Lichtgott“, und so seien diese Eigenschaften von Skaði sekundär auf ihn übertragen worden (vgl. Kusmenko 2011, S. 392 f.). Dem werden wir nicht zustimmen können, zumal diese Eigenschaften auch für Skaði neu motiviert sind, wohl aber seiner Überlegung, dass die Entlehnungsrichtung vom Samischen ins Nordische gewesen sein müsse (vgl. Kusmenko 2011, S. 394), ein nordischer Gott also ‚finnisiertʻ wurde. Siehe Pfeifer 1993, „Eibe“: „Der germ. Name ahd. īwa (9. Jh.), eiba (Hs. 14. Jh.), mhd. mnd. īwe, mnl. nl. ijf, aengl. īw, ēow, engl. yew, anord. ȳr ist verwandt mit gleichbed. air. ēo sowie lit. ievà, jievà ‚Faulbaumʻ, russ. íva […] ‚Weideʻ, griech. óiē, óē, óa (οἴη, ὄη, ὄα) ‚Vogelbeerbaumʻ.“ Die präsumtive Baumnatur Ullrs macht denn auch plausibel, warum eine so große Zahl an Krieger-Kennigar mit ihm verbunden ist. Baumnamen, wie Snorri selbst unterstreicht, gehören zu deren beliebtesten Bestandteilen. Vgl. Lex.Simek 2006, „Ullr“, S. 447 f. Gest.Dan. 3.4: Hunc itaque, ne publicam religionem exsulare cogeret, exsilio multantes Ollerum quendam non solum in regni, sed etiam in divinitatis infulas subrogavere, tamquam deos ac reges creare in aequo positum foret. Quem licet perfunctorie flaminem creavissent, integro regum honore donabant, ne
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das macht den Eindruck eines kultischen, eines rituellen Ersatzes, vielleicht sogar eines künstlich geschaffenen, hölzernen Substituts, wie es so gut bekannt ist aus den Freyr-Mythen: ein trémaðr, ein ‚Holzmannʻ, der durch den Akt der Namengebung Identität erhielte und, wenn er seine (rituelle) Schuldigkeit getan hätte, einfach ‚verjagtʻ oder ‚getötetʻ (rituell verbrannt) werden könnte. Unmittelbar daran schließt sich in Saxos Beschreibung die Zauberfahrt des Ollerus auf dem Wasser, wie es scheint durchaus unzusammenhängend.¹⁸¹ Tatsächlich aber sind diese beiden Mythologeme aufs engste aufeinander bezogen. Saxo stellt auf irgendeine Weise, und sei es nur einer überlieferten Tradition geschuldet, einen Zusammenhang zwischen der Regentschaft und dem Sturz des Herrschers Ollerus wie seiner Fahrt auf dem Wasser her. Zunächst aber scheint die Idee, Ullr habe Skier oder Schneeschuhe benutzt als eine spezifische Art der Fortbewegung, des ‚Dahingleitensʻ, ein ähnliches Missverständnis bei Saxos Beschreibung bewirkt zu haben. So wie ‚Ullrs Schiffʻ als Fortbewegungsmittel eines Samengottes zu Lande verstanden wurde, scheint Saxo die Fahrt des Ollerus als einen Schlittschuhlauf zu beschreiben: [L]ittle difference in the concepts of bone skates and skis seems to have existed in medieval Scandinavia, and Saxo’s and Snorri’s differing accounts in this regard might simply be interpreted as regional variations of the idea of the god ‚slidingʻ, and actually using skis or skates to travel. As Thurber argues, skis as a means of travel had been commonplace in Scandinavia for such a significant amount of time, that when bone skates became known to the Vikings, they might not have distinguished the two to any greater extent, but rather considered skates just another variation of skis.¹⁸²
Aber selbst wenn nun die Winteraffinität als sekundär konstruiert und unmittelbar davon abhängig der Knochenschlittschuh wegfällt, so bleibt doch das magische
alieni officii procurator, sed legitimus dignitatis adverteretur esse successor. Et ne quid amplitudinis deesset, Othini quoque ei nomen imponunt, vocabuli favore invidiam novitatis exclusuri. („Sie straften ihn also mit Verbannung, damit nicht durch seine Schuld die Religion ganz schwinde und wählten an seine Statt einen gewissen Ollerus, nicht allein zur Nachfolge in der Herrschaft, sondern auch in der Göttlichkeit, gleich als ob es das Gleiche wäre, Götter und Könige zu wählen. Obgleich sie ihn nur in Stellvertretung zum Obergott gewählt hatten, so beschenkten sie ihn doch mit der vollen Ehre der Stellung: er sollte nicht als Verweser eines fremden Amtes, sondern als gesetzlicher Nachfolger in der Würde dastehen. Damit nichts in der Hoheit ihm fehle, gaben sie ihm auch den Namen Othin: durch den beliebten Namen wollten sie das Gehässige der Neuerung ausschliessen“). Gest.Dan. 3.4.: Fama est, illum adeo praestigiarum usu calluisse, ut ad traicienda maria osse, quod diris carminibus obsignavisset, navigii loco uteretur nec eo segnius quam remigio praeiecta aquarum obstacula superaret. („Die Sage berichtet, dass er ein so geschickter Zauberer gewesen sei, dass er sich zur Überschreitung der Meere eines Knochens, auf den er Zaubersprüche eingegraben, wie eines Schiffes bediente und mit ihm ebenso rasch wie mit dem Ruder die hemmende Wasserflut vor ihm überwand“). Molin 2015, S. 106, mit Bezug auf Thurber 2013. Vielleicht schwebte Saxo aber auch mit dem Ausdruck osse eine Art spezifisch präpariertes Zaubermittel vor. So könnte an Zauberrunenknochen nach Art der Weserrunen gedacht werden (vgl. Pieper 1989; Pieper 2006), nicht auf denen, sondern mithilfe derer die Fahrt möglich wäre.
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Transportmittel auf dem Wasser und seine spezifische, bisher am wenigsten beachtete Machart. In seiner Unentschiedenheit zwischen Schiffs- bzw. Schildartigkeit gleicht es einem anderen göttlichen Transportmittel: Skíðblaðnir, das ‚aus dünnen Holzscheiten zusammengesetzteʻ Zauberschiff Freyrs, das gleichermaßen wie von Zauberhand, windlos zu gleiten vermag. Es ist ein Jenseitsschiff wie das Schiff Balders Hringhorni und wie Naglfar, das „Totenschiff“ par excellence. Dies wiederum würde Ullr/Ollerus in die Nähe eines Jenseitsfahrers rücken. Es ist die ganz enigmatische Strophe 42 der Grímnismál, die schließlich hilft, die Wesenheit und Funktion des Baummannes Ullr, die Eigenheit dieser ‚Fahrt‘ zu bestimmen: Ullar hylli hefr oc allra goða, / hverr er tecr fyrstr á funa; / þvíat opnir heimar verða um ása sonom, / þá er hefia af hvera. Krause übersetzt: „Ulls und aller Götter Gunst hat, / wer zuerst ins Feuer greift; / denn die Welten werden den Söhnen der Asen sichtbar, / wenn man die Kessel abhebt.“ Der Sinn der Strophe ist (trotz zahlreicher Interpretationsversuche) am wenigsten klar, nicht zuletzt weil Ullr darin eine besondere, herausragende Position zugeschrieben wird, die kaum zu seiner ansonsten marginalen Position im Götterpantheon zu passen scheint. Nun wird in den beiden Strophen unmittelbar zuvor die Zerstückelung des Urriesen Ymir thematisiert als primordiale, weltschöpferische Aktion (Grm 40, 41). Eine Entsprechung findet sich dazu im Kalevala: Auch hier wird zunächst von Väinämöinen als solitärem Urwesen berichtet, der mit seinem eigenen Körper schmerzvoll die Urlandschaften, Gebirge formt, durch seinen Körper Welten entstehen lassen kann. In einem nächsten Schritt folgt die Schaffung der Kulturlandschaft. Jetzt ist Väinämöinen ganz menschlicher Landnehmer, Roder. Und hier vollendet er seine große Aufgabe: Er fällt den Schadensbaum, um Platz zu schaffen, Licht und Luft für die Menschen. Späne, Funken spritzen vom brennenden, stürzenden Weltenbaum weg, wer kann, so heißt es, greift sich ein Stück davon, bricht sich eine „Zaubergabe“ ab, wie kleine „Schiffchen“, „Kähne“ gleiten die anderen Holzteile auf dem Meer davon: „Wer sich davon einen Ast griff, griff ein Glück sich unvergänglich, / Wer den Gipfel davon abbrach, brach sich stete Zaubergabe, / Wer vom Laubwerk etwas wegschnitt, schnitt sich Weltgunst immerwährend. / Was an Spänen weggespritzt war, was an Splittern abgesplissen / Auf den offnen Meeresrücken, auf die weite Wogenfläche, / Das war dort gewiegt vom Winde, von dem Wogenschwall geschaukelt / Auf der See wie kleine Kähne, auf den Wogen wie ein Schiffchen“ (2, 198 – 204).
Dieses mythische Bild ist in den Grímnismál gemeint. Es ist die Situation unmittelbar nach dem Sturz des Weltenbaums. Der Weltenbaum liegt darnieder, ausdrücklich mit Feuer und Axt gestürzt, die Welt bekommt wieder Licht, und jetzt kommen die Menschen hinzu, ása sonom, und brechen sich von seinen Ästen Stücke, Zweige als Zaubergaben ab: Ullar hylli sichert man sich vom zerborstenen Weltenbaum selbst, nachdem die Welt, das Firmament endlich „sichtbar“, opnir heimar verða, geworden war. Aber hylli bedeutet dann möglicherweise nicht einmal „Gunst“, „Zuneigung“. Es könnte Homonym zu norw. hylle, dän. hylde „Bord, Regal“ sein, das wiederum als Synonym zu an. skíð, „Holzscheit“, „Brettchen“ erscheint. Und wohl werden dann
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keine „Kessel abgehoben“ (þá er hefia af hvera). Es sind hier wie im finnischen Epos die Holzsplitter, die wie Schiffchen mit der Strömung davongetragen werden (vgl. hefja „to be heaved, hurled, drifted, by storm, tide, or the like“).¹⁸³ Deshalb ist Ullr notorisch mit einer ganz spezifischen Machart von Holz verbunden, langen, dünnen Holzscheiten, die er als (Schild)-Schiffchen benutzt, ja recht eigentlich diese an sich verkörpert. Und gleich im Anschluss (Grm 43) ist schließlich von Freyrs Zauberschiff Skíðblaðnir die Rede, das von den Söhnen Ivaldis (Ívalda synir „Eibensöhne“) geschaffen wurde – „etwas aus dünnen Holzstücken Zusammengesetztes“, wie es üblicherweise paraphrasiert wird.¹⁸⁴ Aber auch eine weitere Eigenart des Schiffes, es könne so klein zusammengefaltet werden wie ein Tuch, so dass es in einen Beutel passe (Skáldsk 35, Gylf 43), findet eine Entsprechung im finnischen Epos: Wind trieb sie auch nach dem Nordland; Nordlands Magd, von Wuchse winzig, / Spülte ihre Linnenhauben, wässerte und wusch Gewänder / Auf dem Wasserstein am Strande, an des langen Vorsprungs Spitze. // Da sah sie ein Spänchen schwimmen, raffte es in ihren Ranzen, / Trugs nach Haus im Rindenranzen, in dem langgelaschten Ränzel, / Daß der Zaubrer daraus Pfeile, Waffen sich der Schütze schaffe“ (2, 205 – 210).
Im „Nordland“ (d. h. in der finnischen Jenseitswelt) werden also die angeschwemmten Holzspäne von einer Bewohnerin, einer jungen Frau gesammelt, ausdrücklich in einem Beutel, Ranzen, damit Zauberer ‒ ähnlich den nordischen Ívalda synir ‒ daraus Zaubergegenstände schaffen können.¹⁸⁵ Auch „Sifs Haar“ gibt Loki (wenn auch an dieser Stelle nicht ganz eindeutig) jenen mysteriösen Ívalda synir in Auftrag, „daß sie für Sif aus Gold Haar machten“, und auch die weiteren Objekte, die Loki dort ordert, sind ausdrücklich Holzobjekte. So heißt es, sie hätten Haar wie Skíðblaðnir wie den
Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „hefja“: „þá hóf upp knörr (acc.) undir Eyjafjöllum, a ship was upheaved by the gale.“ Siehe Lex.Simek 2006, „Skíðblaðnir“, S. 381. Vielleicht zeigt sich in einem bekannten (literarischen) Motiv der Tristanerzählung eine ferne Reminiszenz an dieses kosmologische Ereignis: Tristan verfertigt Holzspäne mit geheimen Einritzungen und wirft sie in ein Bächlein, das durch (oder bis zu) Isoldes Schlafzimmer fließt, um auf diese Weise Nachricht von sich zu geben (V. 14432). Dies ereignet sich im boumgertelîn („Baumgarten“), einem Ort, der von Gottfried als eine Art locus amoenus konzipiert worden sei, so Monika Schulz, also das „Bild- und Stimmungsspektrum“ eines „topischen Lustortes oder Paradieses“ aufrufe. Der Baumgarten könne damit als Ort des Übergangs zwischen höfischer Innenwelt und naturhafter, wilder Außenwelt verstanden werden (vgl. Schulz 2017, S. 105). Und in diesem, wenn man so will, mikrokosmischen „liminalen Sonderraum“ treiben die auch hier mit höchster Bedeutung aufgeladenen Holzspäne einer ähnlichen Destination zu wie die mit primordialer, magischer Potenz aufgeladenen finnischen und nordischen Weltenbaumteilchen (und Runenknochen!). Dazu passt, dass Tristan seine Holzscheitchen aus einem gewissen „Ölbaum“ (öleboum, V. 14444) fertigt, der seinerseits im typischen Beschreibungsmodus des Weltenbaums gefasst wird, ausdrücklich ‚weit ausladend‘, ‚Schatten werfend‘, ,verbergend‘ (vgl. Schulz 2017, S. 105).
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Odins-Speer Gungnir geschaffen.¹⁸⁶ Im Anschluss werden Sifs Haare mit eben jenen Holzgewerken zusammen den Asen zur Prüfung vorgelegt. Und ausdrücklich werden diesen drei Schmiedegewerke gegenübergestellt: der Ring Draupnir, der Eber Gulllinborsti und der Hammer Mjǫllnir, verfertigt von den Zwergen Brokkr und Sindri. Eine gewisse Unentschiedenheit der Haar-Materialität bleibt also in dieser Zuordnung angedeutet, letztendlich aber macht die symmetrische Aufteilung ‚drei zu dreiʻ deutlich, obschon künstlich gefertigt, gehören die goldenen Haare Sifs zur biologisch organischen Welt der Bäume. Der ,Sturz‘ des Herrschers Ollerus meint das primordiale Ereignis des gestürzten Weltenbaums. Das sich daran anschließende Gleiten des Ollerus übers Wasser sind ,Ullrs Schiffchen‘, die abgesplissenen Holzteilchen des Weltenbaums, die sich ins Nordland aufmachen. Eine tiefe Affinität Ullrs zum Weltenbaum ist manches Mal vermutet worden. Diese lässt sich nun gut unterstreichen, allerdings wie bei seiner Mutter Sif (und somit recht eigentlich in identischer Funktion) ist es die Affinität zum Weltenbaummaterial, Ullar hylli, zu den Zauberholzstückchen, dessen wirkmächtigen Bestandteilen. Die Baumteile werden sowohl zu heilsamen wie schadenbringenden Gegenständen, zu „Zaubergaben“ verarbeitet, d. h., dass durchaus nicht entschieden ist, wann und wie die jeweils spezifische positive oder negative Potenz dieses Baumes zum Einsatz kommt. Finnische Zauberlieder (die etwa zur Heilung von Krankheiten gesungen werden) kennen expressis verbis eine einschlägige Konstellation von Schadensbringern, denen es gelingt, in den Besitz solcher Weltenbaumteilchen zu gelangen,¹⁸⁷ es ist ein eigenartiges, gleichwohl notorisches Schadenstrio Ruho, Sampa, Perisokia, „der Krüpplige“, „der Lahme“, „der gänzlich Blinde“. In den Zauberrunen treffen wir auf eben jene sehr alte, tief im Magischen gegründete Erklärung von Krankheit als so genannte „Projektilerklärung“, wie sie Lauri Honko in seiner seminalen Untersuchung umreißt: Krankheit bei Mensch und Tier wird durch einen konkreten Gegenstand (Pfeil, Kugel, Knochen- oder Holzsplitter) verursacht, von dem man in der Regel annimmt, dass er abgeschossen wurde von einem wie auch immer gearteten böswilligen Wesen (entsprechend lappskott, finnskott, trollskott).¹⁸⁸ Es sind
En er Þórr varð ϸess *varr, tók hann Loka ok mundi lemja hvert bein í honum áðr hann svarði ϸess at hann skal fá af svartálfum at ϸeir skulu gera af gulli Sifju hadd ϸann er svá skal vaxa sem annat hár. Eptir ϸat fór Loki til ϸeira dverga er heita Ívalda synir, ok gerðu ϸeir haddinn ok Skíðblaðni ok geirinn er Óðinn átti er Gungnir heitir (Skáldsk 35). („Als Thor dies erfuhr, packte er Loki und wollte ihm jeden Knochen brechen, bis er gelobte, er werde von den Schwarzelben erreichen, daß sie für Sif aus Gold Haar machten. Das sollte wie anderes Haar wachsen. Danach ging Loki zu den Zwergen, die Iwaldis Söhne heißen. Sie schufen das Haar und Skidbladnir und den Speer, der dann Odin gehörte und der Gungnir heißt“). Die Zaubersprüche funktionieren nach einem üblichen magischen Analogieverfahren. Indem auf ein mythologisches Ereignis, ein ,Urereignisʻ referiert wird, wird ein Bezugspunkt zum momentanen Krankheitsereignis geschaffen als sympathetisches Vergleichsmoment; eine Art vormoderne Krankenanamnese, wenn man so will, so dass die Ursprünge und damit Ursachen einer Krankheit gezielt angegangen werden können. Vgl. Honko 1959, S. 32 f.
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eben jene überkulturellen Konzepte von Ursache und Wirkung, die sich der ,primitiveʻ mythische Mensch hier wie überall auf der Welt in einer konkreten Körperaktion plausibel macht.¹⁸⁹ Die drei Gestalten werden damit zu Verursachern von Krankheiten aller Art: „Der krüppelige macht die pfeile, / der lahme spannt den bogen, / der gänzlich blinde schießt.“¹⁹⁰ Es ist ein sehr stabiles Konzept im Übrigen, immer schießt der Blinde, das Organisieren, die Herstellung und das Reichen der Pfeile bewerkstelligen wahlweise ,der Krüppligeʻ und/oder ,der Lahmeʻ.¹⁹¹ Darum können noch in der englischen Folklore des 17. Jhs. die geschäftstüchtigen Mistelverkäufer als mythische Schadensbringer konzipiert werden.¹⁹² Im ‚blinden Schützenʻ lässt sich darüber hinaus unschwer Hǫðrs Ausgestaltung in der Gylfaginning erkennen. Aber auch der ‚Lahmeʻ und der ‚Krüppligeʻ finden ihre nordische Entsprechung, es ist ja Odin selbst und Loki, die in dieser Körperdefizienz oder -devianz erscheinen. Und ebenso erscheinen diese Schüsse in wohl ursprünglich kosmogonischen Dimensionen, es sind Schöpfungsereignisse: Als fortsetzung zur darstellung des schießens folgt sehr oft eine genauere beschreibung: der blinde schoss den ersten pfeil gegen den himmel – und der himmel war nahe daran zu bersten, den zweiten gegen die erde, wobei die erde sich öffnete, und den dritten gegen einen felsen, aber dieser pfeil prallte von dem steine zurück und traf die haut eines anderen menschen die krankheit verursachend. Es ist deutlich, dass die erzählung von dem schießen der drei brüder ursprünglich nicht mit dieser fortsetzung, welche für die besonderen zwecke der zauberrune entstanden ist, zusammengehört.¹⁹³
Das Motiv des Durchmessens und Erweiterns des Weltenraums mithilfe eines Pfeils ist bekannt aus vielen weiteren Kosmogonien. Es gehört zu einer der großen Heilstaten des Mithras, des großen ,Erweiterersʻ und ,Durchmessersʻ, wenn er, um seine dürstenden Geschöpfe mit lebensspendendem Wasser zu versorgen, einen Pfeil gegen den ,Felsenhimmelʻ schießt.¹⁹⁴ Es ist die Heils- wie Freveltat des chinesischen Schützen Vgl. Honko 1959. Setälä 1912, S. 221. Vgl. Honko 1959, „Der blinde Schütze“, S. 135– 41. Vgl. Setälä 1912, S. 221 f. Die bereits erwähnte (ob nun historische oder fiktive) Fällung einer Eiche im englischen Norwood im Jahre 1657 (vgl. du Tubeuf 1923, S. 31) referiert in ihrer narrativen Ausgestaltung auf dieses mythische Modell des Sturzes des Weltenbaums, der primordialen ‚Großen Eiche‘. Auch die darauffolgenden Ereignisse entsprechen der Schilderung im finnischen Kalevala wie im nordischen Götterlied Grímnismál: Die Menschen strömen herbei und schneiden sich als potenteste Teile die Misteln vom Baum. Im fernen London werden sie von neuzeitlichen ‚Zauberern‘, den Apothekern, zu wirkmächtigen Heilmitteln verarbeitet. Die Verstümmelungen (Lahmheit, Einäugigkeit, Verkrüppelung) als typische, körperhafte Devianz des außersystemischen Wesens erscheinen hier indes als Folge, als Bestrafung und nicht Voraussetzung für diese unerhörte Tat. Setälä 1912, S. 222. Vgl. Merkelbach 1984, S. 112 f.: Merkelbach verweist auf das Relief von Besigheim, wo das so genannte Wasserwunder, das im Übrigen zu den beliebtesten Szenen in der Mithras-Ikonographie zählt, dargestellt ist. Auch der Schuss des Mithras kann sich dabei sowohl gegen den steinernen Himmel als auch gegen einen Felsen richten, der dann auf gleiche Weise vom Pfeil des Gottes gespalten
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Yi¹⁹⁵ wie seines nordischen Pendants Egill. Und wiederum scheint auch Saxo um diese kosmische Verbindung zu wissen, denn auch er führt in der Folge (kaum durch den Erzählfortgang selbst motiviert) ein ,Wasserwunderʻ Balders ein, wie er einst seinem vom Durst gequälten Heer eine Quelle graben ließ, [d]eren hervorbrechenden Strudel schlürfte das ganze durstige Heer mit weitgeöffnetem Munde. Die Spuren dieser Wasser, durch unvergänglichen Namen unsterblich gemacht, sollen noch jetzt nicht vollständig geschwunden sein, obwohl der frühere starke Strudel aufgehört hat.¹⁹⁶
Damit schließt sich der Kreis: Die Epiphyten, die Mistel, die Eberesche, Sif, Ullr sind miteinbezogen oder angeschlossen worden an dieses Weltendrama. Auf sie sind die Eigenschaften der Weltenbaumsplitter übertragen worden, gar in ihren Verkörperungen einander angesippt worden als Ehefrauen (Sif und Rauni) oder als Mutter und Sohn (Sif und Ullr). Jene mythischen Baumwesenheiten aktualisieren immer wieder aufs Neue ein Urereignis, ein kosmologisches Ereignis und seine Folgen: das MetaMythologem vom Urbaum, vom Weltenbaum und seinem Schicksal. Der Fall der Großen Eiche – das ist das Ende eines Äons, sowie Yggdrasil im Marke erzittert und kracht, wenn das Ende der Welt hereinbricht, so wie der Fall der Donarseiche den heidnischen Äon beendet. Doch er ist auch der Beginn eines neuen; denn aus dem Holz der Eiche werden die Dinge geschnitzt, die dem Menschen dienen und Schaden zufügen. Mit dem Fall der Großen Eiche beginnt die Menschenwelt. Mit hohem Bedacht hat daher Lönnrot den Mythus des Großen Baumes zwischen die Belebung der Natur durch Bäume und Pflanzen – das Gotteswerk der Bibel – und die Bestellung des Ackers mit der Frucht – das Kainswerk – eingefügt. ¹⁹⁷
Selbst das Alte Testament (siehe Ezechiel 31, 3 – 18) bewahrt von diesem Urmythos noch eine ferne Erinnerung. Es berichtet von der sagenhaften Zeder des Libanon, sehr bruchstückhaft, aber es weiß sogar noch um deren Ambivalenz, ein prachtvoller Baum, ein Gottesbaum, der bis in den Himmel wächst, der aber aus ,Hochmutʻ oder ,Neidʻ gestürzt wurde; eine Erklärung, die auch die Bibelexegeten vor gewisse Schwierigkeiten stellt. Es sind ja die gleichen Fragen: Wenn es ein Gottesbaum ist, ein Wunderbaum, ein Weltenbaum, womit hat er es verdient, gestürzt zu werden?¹⁹⁸ So
wird (siehe das persische aśman, das sowohl den „Himmel“ wie den „Stein“ bezeichnet, ähnlich das griechische Wort akmon für „Himmel“ und „steinerner Amboss“). Ein mythischer Schütze schießt zu Beginn der Zeit auf eine (überzählige oder zu heiße) Sonne, was als Heils- wie Freveltat betrachtet wird. Hier geht es um die Schaffung einer Weltordnung, wie sie dem Menschen angemessen ist (vgl. Naumann 1964, S. 64 f.). Gest.Dan. 3.2: Victor Balderus, ut afflictum siti militem opportuno liquoris beneficio recrearet, novos humi latices terram altius rimatus aperuit. Quorum erumpentes scatebras sitibundum agmen hianti passim ore captabat. Eorundem vestigia sempiterno firmata vocabulo, quamquam pristina admodum scaturigo desierit, nondum prorsus exolevisse creduntur. Fromm und Fromm 1985, S. 395. Vgl. Stolz 2004a, S. 139: „Die besondere Problematik von Ez 31 ist dadurch gegeben, dass ein einzelner Baum erwähnt wird, dessen Verhältnis zu den Edenbäumen nicht eindeutig geklärt werden
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9 Dô zôch herz ûz mit der hant: Tödliche Pflanzen
erscheint der Sturz, ähnlich wie in der nordischen Mythologie, als apokalyptisches Ereignis, das primordiale Ereignis, das Gründungsereignis ist vergessen. In diesem Szenario ist der Platz Balders, sein individueller Tod ist gleichzeitig Beginn eines individuellen Anfangs, einer Gründung, einer menschlichen Ahnenreihe. Sein Tod ist aber auch ein kosmisches Drama: Er mag das Ende einer Welt bedeuten, das Ende eines Weltzeitalters, aber nur, damit ein neues beginnen kann.
kann; es handelt sich um eine ,Zeder auf dem Libanonʻ, welche bis zum Himmel wächst, durch die Wasser der Urflut genährt wird und die Völkerwelt bedeckt. Der Baum hat also kosmische Dimensionen. Er erregt den Neid der Bäume des Gottesgartens […].“ Schließlich bewirkt Gott selbst, dass er gefällt und zerbrochen wird und in die Unterwelt fährt (vgl. Stolz 2004a, S. 145). Stolz vermutet, dass hier vorisraelitische, kanaanitische religiöse Vorstellungen aufscheinen. Berührungspunkte fänden sich etwa im Gilgamesch-Zyklus, wenn Gilgamesch seinem Freund Enkidu vorschlägt, Humbaba, den ,Wächter des Waldesʻ zu töten und seine riesige Zeder zu fällen, aber warum Gilgamesch ausgerechnet die Zeder zu seinem Zielobjekt mache, bleibe hier ebenso unerklärt (vgl. Stolz 2004a, S. 148 f.).
10 Ahnenverkörperungen 10.1 Die Pflanzen-Seele Väinämöinen ist der große Anfangsheld der finnischen Kosmologie, entsprechend erscheint er mit den unterschiedlichsten kosmogonischen Konzepten bedacht, mit einer Fülle von Anfangssymboliken unterschiedlichster Provenienz. So bringt Väinämöinen nach seinem primordialen Sturz ins Urmeer im wohl archaischsten und unmittelbarsten Bild der Schöpfung durch oder aus seinem Körper die Welt hervor, er formt und gestaltet sie. Aber die Weltschöpfungsarbeit geht weiter, die rohe ungeordnete Urwelt muss einer Kulturwelt, der Welt der Menschen weichen. Die Fällung der Großen Eiche gehört dazu. Auch wenn Väinämöinen an dieser Stelle nicht ursprünglich im Lied erscheint, legt ihm doch Lönnrot die bange Frage nach Unterstützung in den Mund,¹ und diese Hilfe, die ihm schließlich zuteilwird, gehört wiederum zur ältesten Liedschicht. Fromm geht davon aus, dass gerade hier noch mythologische und kosmologische Vorstellungen der Urfinnen erkennbar seien, uraltes Ritualwissen.² Es sind ganz besondere Schöpferwesen, die nun ihre Arbeit beginnen, unerhörte Taten, die nur sie vermögen, und auf ganz besondere, unerhörte Art müssen sie herbeizitiert werden. Zunächst erscheint ,der kleine Mann aus dem Meerʻ: „Da entstieg ein Mann dem Meere, hob ein Held sich aus den Wogen; / Er war nicht der allergrößte, doch auch keineswegs der kleinste: / Lang wie eines Mannes Daumen, hoch wie eines Weibes Handspann“ (2, 121– 123). Ein Däumling bietet sich also an, die schreckliche Tat zu begehen, den Lebensbaum zu fällen.Väinämöinen zweifelt an dessen Fähigkeiten, er nennt ihn „Wicht“, er sei „[b]esser kaum als ein Verblichner, schöner kaum als ein Verstorbner“ (2, 132 f.). Er bringt den Winzling also mit den Toten in Verbindung. Dieser Idee liege die Anschauung zugrunde, so Fromm, dass die Toten zu winziger Größe zusammenschrumpften, die Totengeister als kleine Wesen³ vorgestellt würden.⁴
Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 394. Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 392. Im Altindischen erscheint die Seele des Menschen bei dessen Tod ausdrücklich als daumengroß (vgl. Güntert 1923, S. 390 f.). Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 397. Auch dieser Dialog wurde von Lönnrot erst zusammengestellt, wenngleich er sich im Einzelnen auf Elemente zweier Redaktionen des Liedes stützt. In einer südlichen (estnischen) ist es der ,Bruder des Sängersʻ, der diese Rettungsaktion schließlich übernimmt. In der nördlichen (karelischen) Version ist es ,der kleine Mann aus dem Meerʻ, für die er sich schließlich entschieden hat (Fromm und Fromm 1985, S. 394). https://doi.org/10.1515/9783110789140-011
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Es ist nicht sein einziger Erfüllungsgehilfe von winziger Statur, auch der so genannte Sampsa (Sämpsä) Pellervoinen,⁵ mit dem Väinämöinen schließlich das Land zum Grünen bringt,⁶ ist ausdrücklich klein, auch er wird als „kleingewachsner Knabe“ beschrieben, nach allgemeiner Übereinkunft eine Art ,Korngeistʻ oder ,Fruchtbarkeitsdämonʻ. Und er muss ganz besonders mühevoll herbeizitiert werden: Im Lied von Sampsa, seinem uralten Rituallied (auch Ukko-Gesang genannt), heißt es: Der schlafende Sampsa muss aufgeweckt werden, er muss dazu bewegt werden aufzustehen, damit die Frühjahrsaussaat, das Getreide sprießen kann. Nachdem dies schließlich beim durchaus Unwilligen (nach mehreren Anläufen) gelingt, geschieht das Unerhörte, er schläft mit seiner Mutter oder seiner Schwester.⁷ Wegen dieser Untat muss er fliehen nach Pohjola, ins finstere Nordland. Es ist die finnische Totenwelt, Welt der Gefallenen, als desolate, baumlose Insel über dem Meer beschrieben. Dieses Lied wurde anlässlich eines Festes vorgetragen (,Ukkos Minneʻ), das mit der heftigen alkoholischen Intoxikation der Frauen verbunden war, so der finnische Reformator Mikael Agricola: „Dann betrank sich Jungfrau und Frau, weiter wurde viel Schande dort verübt, was sowohl gehört als gesehen wurde.“⁸ Fromm möchte diese Kulthandlungen in engster Verbindung zum Freyr-Kult in Uppsala sehen, schließlich berichte schon Adam von Bremen mit ähnlicher Abscheu wie der finnische Theologe von auffallend übereinstimmenden Umtrieben in Schweden. Früh wurde die Sampsa-Sage entsprechend an jene germanischen Kulte angeschlossen, die im Zusammenhang mit Freyr (und Nerthus) selbstredend als Vegetationskulte aufgefasst wurden. Der FreyrKult sei damit ähnlich wie der Thorskult zu den Finnen entlehnt worden. Auffallend
Der Name hängt wahrscheinlich mit nhd. Semse „Riedgras, Binse“, der „sehr frühen, schnell wachsenden sämpsä (Scirpus silvaticus)“ zusammen, vielleicht der personifizierte, kultische Gegenstand selbst, ein „Riedgrasbüschel“ (vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 393). „Er bedenkt und überlegt es, hegt es lang in seinem Sinne: / Wer das Land ihm wohl bestellen, dichte Saaten säen sollte? // Pellervoinen, Sohn der Fluren, Sampsa, kleingewachsner Knabe, / Der soll ihm das Land bestellen, soll ihm dichte Saaten säen. […] // Birken sät er in die Brüche, Erlen in die lockre Erde, / Auf das feuchte Land den Faulbaum, auf das frische Lorbeerweiden, / Auf geweihten Boden Eschen, auf den wasserreichen Weiden, / Sät auf kargen Grund Wacholder, an den Stromlauf sät er Eichen. […] // Väinämöinen alt und wahrhaft kam herbei, um selbst zu sehen / Das Gebiet, besät von Sampsa, Land, bestellt von Pellervoinen; / Sah die Bäume hochgewachsen, junge Sprossen aufgeschossen, / Ohne Keim ist nur die Eiche, Gottes Baum nur ohne Wurzel. // Da ließ er den Wicht in Frieden, überließ ihn seinem Lose, / Harrte seiner noch drei Nächte, eine gleiche Zahl von Tagen; / Schließlich ging er nachzuschauen, als vergangen war die Woche: / Nicht gewachsen war die Eiche, Gottes Baum war ohne Wurzel“ (2, 5 – 58). In mehreren Varianten wird davon berichtet: Sämpsä poika Pellervoi makasi emintimensä keskellä jyväkekoa („The boy Sämpsä Pellervoi slept with his stepmother amidst the grain rick“); Sämsä poika Pellervoinen makais sisaruensa uinaisi emoisen lapsen („The boy Sämsä Pellervoinen slept with his sister, slumbered with his mother’s child“), manchmal findet der Beischlaf auf der Rückbank eines Fahrzeugs statt, eines Schlittens, aber auch in einem „Kornschiff“, in einer „Getreidebarke“ (Tolley 1996, S. 25; Krohn 1906, S. 241 f.). Vgl. Krohn 1906, S. 247.
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sei schließlich insbesondere die „Schwesterehe“, derer sich alle drei mythischen Gestalten, Njǫrðr wie Freyr wie Sampsa schuldig machten.⁹ Aber diese inzestuöse Vereinigung wird auch hier kaum als hieros gamos eines ,Frühlingsgottesʻ bezeichnet werden können. Der Beischlaf mit der Mutter oder Schwester fasst (wie beim nordischen Freyr) im Bild der exzessiven sexuellen Devianz den ungeheuerlichen Tabubruch, der in Umkehrung von Ursache und Wirkung recht eigentlich erst seine Erweckung, seine Zitation bewirkt. Sampsa kommt vom Land der Toten, nach getaner Arbeit verschwindet er wieder in seine jenseitige Welt, zurück zu den Toten. Er gehört zu ihnen, er wird zumindest mit diesen gleichgesetzt. Das aber bedeutet: Die Erweckung der Pflanzkraft erscheint in der gleichen Vorstellung wie die Belebung der Totengeister, genauer, das Wachsen und Sprießen der Pflanzen, ihre Fruchtbarkeit, ihre ‚Beseelungʻ ist das Werk der rituell behandelten, herbeizitierten, ‚erwecktenʻ Ahnengeister. Gerhard Baudy sieht anthropomorphe Bedeutungen und Qualitäten, die ehedem dem Tier zugekommen seien, in einer Pflanzerkultur üblicherweise auf die Hauptnahrungspflanze übergehen. Die Brotpflanze werde somit zu „einer Art sozialem Partner, einem Adressaten wiederkehrender Kulthandlungen“, es entstehe eine nahezu „symbiotische Beziehung“.¹⁰ Die zahlreichen Mythen der „Entstehung der Kulturpflanzen aus der Leiche eines mythischen Kulturbringers“ fassen seiner Ansicht nach gerade realweltliche Erfahrungen: Körner die als Totengaben aufs Grab gestreut worden seien, seien im Jahr darauf zu Ähren herangewachsen und hätten damit den Eindruck erwecken können, eine direkte Verkörperung der Toten selbst zu sein, oder aber, dass diese direkt aus dem Totenreich die Lebenden mit Nahrung versorgten.¹¹ Solche Überlegungen mögen gewiss nicht von der Hand zu weisen sein, freilich werden auch andere Kulturpflanzen, Kokos, Bananen, Yams als zerstückelte, grausam zu Tode gekommene Ahnen imaginiert, ohne dass die einzelne Pflanze Teil eines real existierenden Grabkults wäre. Und schließlich gibt es noch weitere Beseelungen in der Pflanzenwelt, mithilfe derer Ahnenvorstellungen medialisiert werden. Eine davon ist schon beschrieben worden, die Verknüpfung der Weiterexistenz der Toten an die Materialität von Holz. Die Holzartigkeit umfasst dabei den Vorstellungskomplex des Gewachsenen, Entstandenen wie des Bleibenden, Beständigen. Im trémaðr erwacht der Tote zu neuem Leben, er belebt das ‚toteʻ Holz, er wird zur anthropomorphen Pflanze (oder zum ,floralisiertenʻ Totengeist) – ganz ohne expliziten Nahrungsaspekt. In der Debatte über die Ursprünge des ägyptischen Osiris-Kultes tauchen ähnliche Überlegungen auf. Die Fassung Osiris ursprünglicher Wesenheit – Vegetationsgott oder Totengott? – ist in der Ägyptologie eine lange schwelende Streitfrage. Heinrich Balz sieht (mit Verweis auf John Gwynn Griffiths)¹² dessen Wurzeln gerade nicht im „Agrarisch-Vegetativen“, vielmehr im „Herrn des Westens“, also in einer primordialen Vgl. Krohn 1906, S. 245 f. Baudy 2008, S. 62. Vgl. Baudy 2008, S. 80. Siehe Griffiths 1980.
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Verbindung mit dem Totenreich, was wiederum nicht unwidersprochen blieb: Joachim F. Quack möchte von einem alltagspraktischen Ritual ausgehen, von den jährlich notwendigen Saatproben des Getreides, die zur Überprüfung der Keimfähigkeit angelegt wurden. Deren Entsorgung habe erst die Bestattungsriten formal, sekundär an sich gezogen.¹³ Balz sieht diese Bezüge zum Vegetationsthema durchaus, aber jene zentralen Fruchtbarkeitsriten, Getreiderituale, eine Art Kornosiris, gebe es bereits früher, noch bevor sie mit dessen Namen in Verbindung gebracht würden.¹⁴ Nun ließen sich diese diametralen Ansichten insofern harmonisieren, dass für den religiösen, vormodernen Menschen zwischen Saatkult und Totenkult möglicherweise gar kein Widerspruch bestanden habe, dass also der menschliche Tod und Pflanzenwachstum aus einer gleichen Vorstellung gespeist würden, die ,sterbendenʻ Saatkörner dem menschlichen Leichnam glichen¹⁵: „Der menschliche Tod deutet und erklärt, was jahraus jahrein auf dem Ackerfeld geschieht, und umgekehrt.“¹⁶ So sind auch bei den Bakossi in Kamerun Ahnenkult und Pflanzkult aufs engste miteinander verbunden. Bei einem großen gemeinsamen Fest, das einfach „das Essen“ (Ndie) heißt, tritt man mit den Ahnen in Kontakt, ausdrücklich hängt der jährliche Erntesegen von deren Wohlwollen ab (und nicht etwa von einem wie auch immer gearteten Fruchtbarkeitsgott). Aber selbst hier steht zunächst nicht einmal der Erntesegen im Zentrum der Gebete zu den Ahnen, wie überhaupt die Kommunion mit den Ahnen nicht jährlich (etwa im Sinne von Erntezyklen) angelegt war, sondern offenbar zunächst als Krisenkult abgehalten wurde in besonderen Notzeiten, Hungersnöten, Epidemien. Die Katastrophen zeigten es an, die Ahnen mussten erzürnt sein und entsprechend versöhnt werden. Die Art und Struktur der Rituale gleicht entsprechend auch zunächst Bestattungsritualen. Ziel war die Schaffung und in der Folge Erhaltung eines positiv wirkmächtigen Ahnenstatus der Verstorbenen.¹⁷ Ausdrücklich wird der hohe religiöse Stellenwert des Festes betont als „Zentrum dieses Ahnenkultes und damit der öffentlichen Religion überhaupt“.¹⁸ Am wichtigsten aber sei die besondere Lokalität, der Ort der Ndie, übereinstimmend werde er als „the real place of worship“, „the chief place of worship“¹⁹ u. ä. bezeichnet. Der Platz sei konstitutiv für die Feier
Siehe Quack 2007, S. 331: „Die Frage wird nun wesentlich sein, was man mit diesen Testobjekten nach Abschluß des Verfahrens macht. Wirft man sie einfach auf den Müllhaufen, oder werden sie in dem Maße, wie der Prozeß eine rituelle Überhöhung erfährt, so mit Göttlichkeit umgeben, daß ein spezifischer ritueller Umgang mit ihnen im Sinne einer Bestattung – dann natürlich mit dazugehöriger Totenklage – als angemessen empfunden wurde?“ Vgl. Balz 2014, S. 78 f. Balz 2014, S. 81 f. Wenn man entsprechend afrikanische Christen in Kamerun darauf hinweise, „dass Beerdigen kein Säen“ sei, und der Leichnam gerade nicht „wie ein Samenkorn die Potentialität neuen Lebens in sich trägt, und dass alle Auferstehungshoffnung allein in Gott gründet“, so zeigten sich diese „erstaunt und enttäuscht“ (Balz 2014, S. 85). Balz 2014, S. 82. Vgl. Balz 2014, S. 84 f. Zimmermann 2000, S. 169. Zimmermann 2000, S. 169.
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und könne an keinem anderen Ort begangen werden. Üblicherweise habe jedes Dorf seine eigene Ndie, mitunter würden aber auch mehrere Dörfer zusammen diese Festlichkeit begehen. Auffallend sind die spezifischen Meidungsvorschriften, mit denen dieser sakrale Raum belegt ist: Der Platz ist heilig und mit mancherlei Tabus versehen. Zum Beispiel darf kein Holz dort geschlagen und kein Ackerbau betrieben werden. Es ist der Ort der besonderen Gegenwart der Ahnen, deren Nähe dort von Zeit zu Zeit gesucht wird. […]. Zur Heiligkeit des Platzes gehört auch, daß, wenn dort etwas auf den Boden fällt, es den Ahnen gehört, bei größeren Sachen zumindest ein Teil davon. Wer selbst fällt, muß einen Versöhnungsritus vollziehen.²⁰
Bei den Ewe in Togo müsse der Gestürzte den Platz umgehend verlassen, den Kultplatz selbst dürfe man nur „rückwärtsgehend“ betreten.²¹ Diese Gebote erscheinen nicht zufällig merkwürdig ähnlich den nordischen Tabu-Konzepten, die in Verbindung mit dem semnonischen Fesselhain berichtet werden. Im ägyptischem wie zentralafrikanischen Kulturbereich wie im europäischen, nordischen treffen sich analoge Vorstellungen. Der Toten- und Ahnenkult ist immer zuerst da, scheint wichtiger, bestimmender für die Sozietät, auch Osiris ist zunächst ganz der ‚Afrikanerʻ: Es kann als höchst wahrscheinlich, wenn nicht als absolut sicher angesehen werden, dass in beiden Kulturen, auch bei den Ägyptern das agrare Thema zu einer bestimmten Zeit mit dem Totenthema in eine Verbindung gesetzt wurde, die nicht von Anfang an bestand. Beide, agrarer Kult und Totensorge haben ihre langen, alten Wurzeln: der Totenkult noch ältere als der Agrarkult, weil die Menschen mit dem Tod schon zu tun hatten, bevor sie den Ackerbau entdeckten. Es ist dann eine Prinzipienfrage, wo in einem Kult, der beides verbindet, man das Ursprüngliche und das Sekundäre festmachen will. Der Vergleich mit schwarzafrikanischem Kult legt – ohne das Umgekehrte, von Quack neuerlich Vertretene a priori auszuschließen – nahe, auch im Osiris der Ägypter zuerst einen Totengott und dann erst einen für den agraren Zyklus zuständigen Gott zu sehen. J.G. Griffiths führt mit dem Vor-Agrarischen an Osiris auf einen unaufgebbaren, bei Frazer noch nicht gesehen Zug seines Kults, der nicht verloren gehen darf.²²
Für den nordischen Balder (und Freyr!) können diese Vorgaben gleichermaßen beansprucht werden: Und dass tatsächlich auch im Norden nicht das ‚Agrarischeʻ, das ‚Vegetativeʻ die ursprünglich konstitutiven Elemente dieser Anfangsmythen gewesen sein müssen, dass diesem etwas vorausgehe, etwas Grundsätzlicheres, Existenzielleres, eben das, was Balz beschreibt als „der Tod und das Verhältnis der Lebenden zu den Toten“,²³ mag der Umstand zeigen, dass nicht einmal bei der ausdrücklichen Brotpflanze Getreide der Nahrungsaspekt ausschließliches Telos ritueller Bemühungen war. Schon bei der allerersten Urbarmachung der Welt scheint das Korn aus der unmittelbaren agrarischen Sphäre herausgehoben. Wir sehen die Vorstellung von Lebendigkeit und Beseeltheit keineswegs nur im Bild des Keimens und Sprießens
Zimmermann 2000, S. 170. Vgl. Zimmermann 2000, S. 170, Anm. 328. Balz 2014, S. 86 Balz 2014, S. 99.
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gefasst, vielmehr treffen wir auf einen organischen Prozess der ganz besonderen Art: die Herstellung von Alkohol. Die Episode der Gerstenaussaat im finnischen Kalevala ist (nicht ausschließlich aber vor allem) vorbereitende Maßnahme zur Bierherstellung. Im Lemminkäinenmythenkomplex diente das Lied ursprünglich als Aition des ersten alkoholischen Getränks.²⁴ In epischer Breite wird erzählt, wie die Gärung, jener angestrebte Gipfel dieser Transformation, zunächst nicht gelingen will und ähnlich wie bei der mühevollen Erweckung des Sampsa muss mit zahlreichen magischen Mitteln nachgeholfen werden. In vielen Versionen ist es indes nicht Sampsa, der mit der Aussaat der Gerste betraut ist, ein anderes mythischen Wesen steht dann im Zentrum der Gerstenverarbeitung: (Pellon)pekko (Pikko, Pekka). Aber auch hier zeigt sich dasselbe mythische Bild: Pekko ist nicht nur ,Getreidegottʻ, das personifizierte Korn, sondern ausdrücklich Verkörperung eines Rauschgetränks.²⁵ Dazu passt die früh vorgeschlagene Herleitung aus einer germanischen Wurzel *bygg (< beggwu „Gerste“). Sie schien längere Zeit aus lautlichen Gründen kaum möglich, entsprechend hat man im Namen eine Verkleinerungsform zu Pietari (Peter) in Anlehnung an den christlichen St. Petrus sehen wollen oder ein (russisches) Hüllwort für ,Bärʻ. Inzwischen kann sie aber wieder als wahrscheinlich angenommen werden. So hält Clive Tolley eine (wieder) vorgeschlagene Ableitung aus der Grundform *beggwa (und nicht wie ursprünglich *beggwu) für plausibel, die dann phonetisch korrekt zu finn. Pekko/a führen kann. Eine Bärenassoziation zeige sich ohnehin auf keine Weise im Mythos: „[T]he bear does not seem exspecially associated with barley elsewhere: it is thus most likely that the association between Pekko and barley does indeed stem from the Scandinavian origin of the name.“²⁶ Weniger überzeugt ist Dumézil: [O]ne will discover that, outside the given initial fact of a relationship to barley (different, furthermore, since Byggvir is barley and Peko, a wax puppet, only protects, through barley, rural prosperity), and with the beer of the festivals issuing from barley, the two descriptions have nothing in common. ²⁷
Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 396. Für das große Fest auf Päivölä (bei dem Lemminkäinen als ungebetener Gast erscheint) soll Bier gebraut werden, aber niemand kennt zunächst die Herstellungsweise (siehe 20. Gesang). Beim Genuss von frischem Bier sei die Redewendung „Pellon pekko schmecken oder trinken“ üblich gewesen, oder, wenn das Bier gelungen sei: „Ist das aber ein ordentlicher Pellon-pekko!“ (Balys und Haussig 1973, S. 334). Andererseits wird Pekko in Gestalt einer kleinen, ,kindlichenʻ (Wachs)puppe verehrt, etwa bei den estnischen Setukesen, wo er als Getreidegott Peko in einer Getreidekiste aufbewahrt wird und zu rituellen Zwecken hervorgeholt wird (vgl. Balys und Haussig 1973, S. 335). Tolley 1996, S. 32. Dumézil 1973b, S. 115. Man hat den Eindruck, dass Dumézil auffallend rigoros gerade hier Gemeinsamkeiten ignoriert oder zumindest minimiert. Nicht nur die Frage, ob etwa ein dreijähriges Kind (als das der finnische Pekko manches Mal erscheint) klein genug sei, um die Wesenheit eines Samenkorns zu verkörpern oder um als ,Zwergʻ zu gelten (vgl. Dumézil 1973, S. 115), erscheint in einem mythischen Zusammenhang eher gesucht. Auch dass von keinem Kult berichtet werde vom präsumtiv vergleichbaren Byggvir in der Lokasenna, zumal doch Pellon Pekko nur in kultisch rituellen Kontexten
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Aber auch das häufige Erstglied des Namens Pellon (vgl. finn. pelto „Feld, Acker“) lässt sich gut zum germ. *felþo stellen,²⁸ was aber wiederum die Frage nach einem agrarischen Kontext aufwirft. Nun sind an dieser Stelle nicht nur Verbindungen zum (eher unbekannten) nordischen ,Korn-Gottʻ Byggvir erwogen worden, sondern ebenso, wenn auch zögerlich, zur angelsächsischen Heroenwelt, zum legendären angelsächsischen Helden Beow: „The cult associated with Pekko is evidence of some form of cult focusing on his Germanic counterpart, which would have envolved barley as the source of ale, and which has its reflexion in the Norse Byggvir and the English Beow.“²⁹ Aber wenn auch inzwischen die formalen Hindernisse hinfällig geworden sind, so scheinen gerade hier die semasiologischen Schwierigkeiten kaum überwindbar. Auf welche Weise sollte der Heroe Beo(w), gar der Recke und Monstertöter Beowulf in diesen Konzepten von ‚Korngottheitenʻ oder alkoholischen Getränken Platz finden? Anders verhält es sich mit dem nordischen Winzling Byggvir. Er erscheint nur ein einziges Mal in den nordischen Quellen, in der Lokasenna, und dort will man ihm kaum mehr mythische Relevanz zugestehen als seinem (gegebenenfalls) finnischen Pendant. Neben seiner Frau Beyla wird er als ,Dienerʻ des Gottes Freyr eingeführt. Kleinheit wie Nähe zu einem ,Fruchtbarkeitsgottʻ scheinen seine Position eindeutig zu machen als eben buchstäblich ,kleinereʻ Gottheit, ein ,Korndämonʻ, ein „Feldgeist“.³⁰ Sein Auftritt in der Lokasenna scheint ja lächerlich genug, selbst der Prosa-Kommentator vermag in ihm kaum etwas anderes zu sehen als den Untergebenen, den Bediensteten des großen Freyr. Und dennoch, die formal etymologischen Übereinstimmungen sind wohl zweifelsfrei, und so betont auch de Vries, dass wohl nur der Umstand einer so offensichtlichen linguistischen Verbindung zum altenglischen Beav (Beow) Byggvir eine gewisse Aufmerksamkeit sichern könne, wo auch er lieber von einer niederen, sekundären Gottheit mit geringer religiöser Bedeutung ausgehen würde. Es sei aber doch wohl dieser „größere[ ] Zusammenhang“, den man nicht unberücksichtigt lassen könne.³¹ Dieser größere Zusammenhang hat wenig genug mit Fruchtbarkeit zu tun: Der Beo(w) der angelsächsischen Tradition wird nicht als Korndämon oder Ähnliches verehrt, er zeigt sich auf keine Weise devot oder lächerlich oder ‚sekundärʻ wie seine nordische (etymologische) Entsprechung. Er ist vielmehr Abkömmling des eponymen
überliefert sei, scheint ein schwaches Argument. Von welchen Kultaktivitäten wird in der Lokasenna sonst berichtet (wenn wir nicht überhaupt davon ausgehen wollen, dass das gesamte Festmahl des Ægir eine ,Kultveranstaltungʻ ist)? Vgl. Balys und Haussig 1973, S. 334. Tolley 1996, S. 32. Vgl. etwa die Einschätzung Polomés, der die Gestalt Byggvirs in diesem Zusammenhang für „irrelevant“ (Polomé 1995, S. 592) halten möchte und sich Dumézils abschlägigem Urteil anschließt. Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 204 f.
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Dynastiegründers Scyld Scéfing (vgl. Beowulf V. 4– 7³²), der im Dänischen als Skjǫldr erscheint. Auch dieser wird zunächst als „forlorn and helpless foundling“ im Land der Dänen aufgenommen, die ihn zu ihrem König machen, eine wunderbare, magische Ankunft, die zum Gründungsereignis der nordischen Skjǫldungen wird. Und ebenso schwimmt Scyld Scéfing nach seinem Tod, wieder in einem Boot, davon übers Meer. In anderer Tradition ist es hingegen ein Sceaf,³³ der in einem ,Pflanzenbootʻ, frumenti manipulo,³⁴ auf eine Ährengarbe (oder „a handful of corn“) gebettet, ausdrücklich schlafend, an den Ufern Skaneys angespült wird. Scéfing erscheint damit eher unentschieden als Beiname, „das Garbenkind“ (siehe as. sceaf, an. skauf), oder als Vatersname. Ein ualde recens puer, also sehr jung, vielleicht ein neugeborenes Kind sei Sceaf gewesen, feasceaft („wretched, destitute“, „elend“) habe man Scyld Scéfing gefunden (Beowulf, V. 6 f.), was dann freilich im Widerspruch zur Überlieferung stünde, dass dieser ja andererseits keineswegs als mittellos vorgestellt wird, sondern vielmehr als ausdrücklich bewaffnet, reich bestückt, „von Waffen umgeben“. Es ist damit wohl auch nicht gemeint. Interessant genug wird ausgerechnet für den bösartigen Untoten Grendel dasselbe Epitheton verwendet, feasceaft sei auch dieser gewesen (V. 973). Richard Schrader möchte dies als Hinweis darauf interpretieren, dass, im Gegensatz zu Grendel, Scyld ausdrücklich Hilfe erfahren haben: „Grendel has sunk back into the primordial disorder from which the Scyldings have always escaped thus far.“³⁵ Aber es ist doch zuallererst ein bedenkenswerter Hinweis auf einen gemeinsamen, jenseitigen Ursprung. Der kleine Scyld gehört oder kommt wie Grendel aus der Welt der Toten. Er ist mittellos in dem Sinn, dass er noch keinerlei Bindungen zu dieser Welt besitzt, was im Fall von Grendel gerade verhindert werden muss. Man hat die Kornbeigaben, gewiss nächstliegend, als Attribut eines agrarischen Kulturbringers betrachtet, aber dies wird weiters nicht ausgeführt. Der Knabe wächst heran, „würdenreich“, bis alle ihm untertan sind, und wird damit zum ersten Herrscher. Als Nachkommen wird diesem nun ein Beowulf zugeschrieben, gewiss nicht derselbe, so Oft Scyld Scéfing sceaþena þréatum / monegum maégþum meodosetla oftéah / egsode eorle syððan aérest wearð / féasceaft funde hé þæs frófre gebád. („Der Garbensohn Scyld hat oft grimme Feinde / Viel mutige Krieger vom Metsitz verjagt / Und Furcht verbreitet. In früher Jugend / Fand man hilflos ihn auf, doch Heil ersproß ihm“). Siehe Chronicon Aethelweardi, III (Campbell [Hg.] 1962, S. 33): Ipse Scef cum uno dromone aduectus est in insula oceani que dicitur Scani, armis circundatus, eratque ualde recens puer, et ab incolis illius terræ ignotus. Attamen ab eis suscipitur, et ut familiarem diligenti animo eum custodierunt, et post in regem eligunt; de cuius prosapia ordinem trahit Aðulf rex. („And this Sceaf arrived with one light ship in the island of the ocean which is called Skaney, with arms all round him. He was a very young boy, and unknown to the people of that land, but he was received by them, and they guarded him with diligent attention as one who belonged to them, and elected him king. From his family King Æþelwulf derived his descent“). Siehe auch William of Malmesbury, De Gestis Regum Anglorum (Stevenson [Hg.] 1991 [1854], I, 121), der eine Zusatzinformation einzufügen weiß, um den Namen Sceaf („Garbe“) zu erklären: posito ad caput frumenti manipulo, dormiens, ideoque Sceaf nuncupatus („because a handful of corn was placed by his head while he slept, he was named Sceaf“). (Vgl. Anlezark 2006, S. 270). De gestis regum Anglorum (Stevenson [Hg.] 1991 [1854], S. 121). Schrader 1991, S. 498.
10.1 Die Pflanzen-Seele
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wird zumindest versichert, wie der legendäre Held Beowulf, der eponyme Held des Epos.³⁶ In angelsächsischen Genealogien erscheint dieser Name indes in unterschiedlichsten Variationen als Beaw, Beo, Bedwig, Beadwig, Bedwagius, Beowinus, Boerinus, die man allesamt als Kürzungen oder Entstellungen eines ursprünglichen Namens Beowulf betrachten möchte. Vielleicht sollte aber auch einmal die umgekehrte Richtung erwogen werden. Dass also der Name Beowulf, der sich bisher sämtlichen sinnvollen Etymologisierungen entzogen hat, eine Neumotivierung (mit einem hochkonventionalisierten Zweitglied -wulf) eines nicht mehr verständlichen Namens gewesen sein könnte. Er hätte dann nichts mit ,Bienenʻ oder ,Wölfenʻ oder ,Bärenʻ zu tun, wofür sich ohnehin keinerlei Anknüpfungspunkte im Mythos oder Sage finden lassen. Indes ist die Verknüpfung zum altenglischen Begriff für „Gerste, Getreide“, beow, zweifelsfrei, ähnlich wie im Norden für die Gestalt des Byggvir. Gerade in der explizit dynastischen Rahmung des angelsächsischen Kontexts wird die Problematik einer allzu einseitigen Interpretation der Motive als agrarische und/oder wie auch immer geartete Fruchtbarkeitskonzepte besonders deutlich. Nun hält auch Tolley einen ausschließlich agrarischen Hintergrund bzw. agrarische Riten nicht unbedingt für ausreichend als Erklärung für den Scealf-Mythos. Gewiss müsse man von mehr als lediglich einem „personified corn spirit“ ausgehen, er sieht eine Entwicklung, Übertragungen, weg von „merely agricultural in tone“³⁷ hin zu abstrakteren politischen Strukturen, zu Dynastiengründung, Königtum und Herrschaft.³⁸ Aber schließlich sei eine enge Beziehung zum Gott Freyr offensichtlich. Scyld werde, nach seinem Tod, expressis verbis „into Frea’s care“ entlassen, womit nicht der christliche Gott als vielmehr der pagane Freyr gemeint sei.³⁹ Und gerade aufgrund dieser Verbindung sieht er den Ursprung des Mythos letztendlich doch in agrarischen Fruchtbarkeitsvorstellungen und Ackerbaukulten verankert. So verweist er auf die so genannte ,letzten Garbeʻ und deren besondere Behandlung in landwirtschaftlichen Kulten, die Scyld (bzw. Scealf) dann verkörpere: „The idea of the protagonist of the sheaf myth as a progenitor could develop out of the belief in the special fertility of the last sheaf“⁴⁰: Sceaf himself would be closely associated with or a personification of the last sheaf from which would spring the crop of barley in the chosen land, and would thus be a bringer of agricultural (which would develop into political) welfare to his people.⁴¹
Aber ein solcher agrarischer Zusammenhang muss nun nicht mehr mühsam konstruiert werden. Agrarische Belange mögen zu irgendeinem Zeitpunkt in Freyrs Vgl. Tolley 1996, S. 29. Tolley 1996, S. 21. Vgl. Tolley 1996, S. 26. Vgl. Tolley 1996, S. 16. Him ðá Scyld gewát tó gescæphwíle / felahrór féran on fréan waére (Beowulf,V. 26 – 27). („Für Scyld auch kam die Schicksalsstunde / Es ging der Held in Gottes Hut“). Tolley 1996, S. 21. Tolley 1996, S. 14
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Kompetenzbereich fallen, aber seine mythischen ,Kernkompetenzenʻ, die in vollkommenem Einklang mit der Gestalt des Beow stehen, sind Dynastienbildung, genealogische Verknüpfungen, Abstammung, Ursprung. Scéfing ist wohl gerade nicht Vatersname, eher späterer Zusatz als erklärender Beiname und Epitheton.⁴² Scyld ist im angelsächsischen Namenmaterial gut belegt, dabei wird aber gar nicht unbedingt von einer Bedeutung „Schild“ ausgegangen. Gustav Binz stellt den Namen in eine Reihe von Ortsnamen mit dem Erstglied Scealde(etwa Scealdaemeres, Scealdeford u. ä.) oder Flussnamen wie Scaldis (Schelde). Noch in neuengl. Dialekten bezeichne shalder eine „Binsenart“ („a broad flat rush“). Und in ausgewiesenen Hydronymen wie Scealdaemeres erscheine die Bedeutung von *scaldals „Binse“ semantisch bei weitem plausibler als ein Personennamen. Die Art der Bildungen als Kompositionsbildungen lege dies formal ohnehin nahe.⁴³ Das würde aber bedeuten, dass bei der Interpretation des Namens der angelsächsischen Scyldingas (der dänischen Skjǫldungen) als ,Schildleuteʻ von einer volksetymologischen Umdeutung ausgegangen werden müsste. Diese unentschiedene Kombination von ,Binsen-Kindʻ wie ,Garben-Kindʻ findet sich in gleicher Weise beim finnischen Sampsa/Sämpsä, und es passt in jeder Hinsicht zu den uralten mythischen Anfangskonzepten: Die Gründungssagen dieser Welt wissen von zahllosen Pflanzen-, Schilf-, Binsen-Schifflein zu erzählen, in denen zukünftige Spitzenahnen einem ungewissen Schicksal entgegenschwimmen, der biblische Moses nur der bekannteste. Tolley verweist auf eine irische Parallele (um 1500), die Erzählung Fiacha Fer Mara (aus Cóir Anmann „Fitness of Names“): Im betrunkenen Zustand hat Oengus Tuirmech mit seiner Tochter ein Kind, Fiacha, gezeugt. Um die Schande zu verbergen, wird das Neugeborene in einem runden Korbschifflein auf dem Meer ausgesetzt, gleichwohl zusammen mit den königlichen Insignien. Schottische Fischer finden ihn und er bekommt den Namen Fiacha Fer Mara, „man of the sea“. Schließlich wird er zum König und damit Gründer einer königlichen Genealogie.⁴⁴ Hier erscheint deutlich das Motiv des Tabubruchs durch Inzest, indes gibt es gar keine Spur von Fruchtbarkeit im Sinne agrarischer Belange, keine Ährenbündel, Körner oder Ähnliches genauso wenig wie bei den übrigen ,Pflanzenbootenʻ.Vielmehr spielt der reyrsproti ‒ wieder einmal ‒ die wichtigste Rolle. Durchgehend geht es um den Gründer, den Ersten, den Anfänger, dessen Ursprung in ein undenkbares, unsägliches kognitives wie lokales Systemaußen verlegt wird, mythisch und damit buchstäblich gesprochen ‚in die Binsenʻ.
Vgl. Binz 1895, S. 147 f. Vgl. Binz 1895, S. 148 f. Vgl. Tolley 1996, S. 20.
10.2 Die Alkohol-Seele
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10.2 Die Alkohol-Seele Die japanische Kosmogonie kennt, wie bereits erwähnt, eine ähnliche Aussetzungsgeschichte: Das Urelternpaar Izanagi und Izanami setzen ihr erstes ,unziemlichesʻ, ,missratenesʻ Kind Hiruko (das ,Blutegelkindʻ) in einem Binsen-Schifflein auf dem Meer aus.⁴⁵ Wahrscheinlich stand auch hier zunächst ein Inzestmotiv im Vordergrund, das aber ersetzt wurde durch das Motiv des falsch ausgeführten, verkehrten Eheschließungsritus.⁴⁶ Ein allzu unnützes Wesen kann das Schilfboot-Kind, das ,unangenehmeʻ Blutegelkind Hiruko trotz allem nicht gewesen sein, so Numazawa, zumal es häufig mit einem bedeutsamen japanischen Kulturheroen und Demiurgen gleichgesetzt wird: Sukunabikona.⁴⁷ Auch dieser kommt in einem Boot, das aus einer Pflanzenhülse (kagami) oder Kürbis gemacht ist, übers Meer angeschwommen. Er kommt dem großen Gott Ōkuninushi (auch Ōnamuchi, Ōmononushi, Ōhonamuji „Großer Landesherr“) zu Hilfe, der Unterstützung braucht bei seinem Schöpfungswerk.⁴⁸ Sein augen Vgl. Numazawa 1946, S. 196 f. Vgl. Naumann 1996b, S. 60. Vgl. Numazawa 1946, S. 199. Numazawa möchte Hiruko als Sonnengott interpretieren. Eine vorgebliche ‚Blutegelhaftigkeit‘ ausgerechnet des Erstgeborenen sei kaum zu erklären, ja sei mit den Worten William G. Astons nachgerade eine „handgreifliche Absurdität[ ].“ Man müsse entsprechend wohl von einem (volksetymologischen) Missverständnis ausgehen. So bedeute das chinesische Zeichen hiruko zwar „Blutegel“, meine aber eigentlich hiru-ko „Sonnensohn“ (vgl. Numazawa 1946, S. 193). Paul Ehrenreich habe zeigen können, dass „das Motiv der Lähmung oder Beinwunde […] sich häufig auf die Sonne oder Wesen von solarem Charakter“ (Ehrenreich 1910, S. 210) beziehe. Der Sonne werde etwa ein Bein abgeschnitten, ausdrücklich „um ihren Lauf zu verlangsamen“ (Ehrenreich 1910, S. 210). (Vgl. Numazawa 1946, S. 197 f.). Tatsächlich bezeichnet das buchstäbliche ‚Zurechtstutzen‘ einer primordialen Sonne auf ein menschenerträgliches, normales Maß das Etablieren einer natürlichen Ordnung zu Anfang der Zeit. Auch der Schuss auf das ,Auge‘ einer (zu heißen oder überzähligen) Sonne gehört hierher. Dagegen verkörpert der knochenlose Erstgeborene des Ragnarr loðbrók, Ívarr, unser nordisches Pendant (und so viele weitere Vergleichsobjekte), die nämliche stereotype Devianz des mythischen Spitzenahns. Ōkuninushi ist der Hauptgott der Provinz Izumo. Auch bei ihm steht ein Wiedergeburtsmotiv im Vordergrund: Bevor er die Herrschaft über das ,Mittelland der Schilfgefildeʻ erringen kann, wird er dreimal von seinen missgünstigen Brüdern getötet, jedes Mal belebt ihn die Mutter wieder mit magischen Mitteln, unter anderem bestreicht sie den Toten mit einem Gemisch aus Muschelstaub (Naumann vermutet ein Symbol der Vulva) und Muttermilch, so dass er in noch viel größerer Schönheit wiedererstehen kann (vgl. Naumann 1996b, S. 167 f.). Beim ersten Mal beauftragen die Brüder Ōkuninushi, ein rotes Wildschwein zu fangen. Sie würden es vom Gipfel eines Berges herunterjagen und er solle es mit bloßen Händen ergreifen. Die Brüder aber erhitzen einen riesigen Stein und lassen den glühenden Brocken den Hang hinabrollen. Ōkuninushi fängt den Stein, verbrennt sich daran und stirbt (vgl. Naumann 1996b, S. 161). Beim nächsten Mal treiben die Brüder einen Keil in einen großen Baumstamm, Ōkuninushi wird darin eingeklemmt und zu Tode gequetscht. Die Mutter vermag ihn zwar nochmals aus seiner Pflanzenhülse zu befreien und wiederzubeleben, dennoch schickt sie ihn ins „Wurzelland“ (ne no katasu-kuni), ein Jenseitsreich. Vom dortigen Herrscher Susa no Wo no mikoto, dem ,Trickstergottʻ, der von den Göttern wegen seiner Untaten dorthin verbannt wurde, soll er sich Rat holen (in anderer Version ist dieser sein Vater). Er stirbt also wieder (oder wird für tot gehalten) und
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10 Ahnenverkörperungen
scheinlichstes Merkmal ist sein zwergenhafter Wuchs, aber auch seine Kindhaftigkeit.⁴⁹ Beim ersten Aufeinandertreffen am Meeresstrand nimmt Ōkuninushi die winzige Gestalt auf seine Handfläche. Verwundert stellt er fest, dass er das Federkleid eines ebenso winzigen Vogels trägt, des Zaunkönigs. In der Folge hilft Sukunabikona – im Übrigen durchaus gleichberechtigt, wenn nicht überlegen – Ōkuninushi, die Schöpfung, die die Ureltern Izanagi und Izanami begonnen haben, zu vollenden, zu ,festigenʻ: Kein fertiges Staatsgebilde, sondern die irdische Welt der Menschen wird Ohonamuji als Herrschaftsgebiet anvertraut. Diese Welt, das ,Sichtbare Landʻ, ist noch unfertig; es bedarf weiterer Formung und Bildung.⁵⁰ „Nicht daß sie aus dem Nichts eine neue Erde schöpfen,vielmehr machen sie die geschaffene Erde, die wilde und grimmige ,Naturlandschaftʻ der ungebärdigen Felsen, Kräuter und Bäume, zum bewohnbaren Land der Menschen, zur eigentlichen ,Kulturlandschaftʻ.⁵¹
Dieser Zustand der Welt ist auch in der finnischen Kosmogonie bereits erreicht, als der Kulturheros Väinämöinen mithilfe des Sämpsä und des namenlosen, winzigen Männleins eine bewohnbare Kulturlandschaft schafft, die Kulturwelt der Menschen.⁵² Noch bevor nun aber die Weltschöpfung vollendet ist, verschwindet Sukunabikona auf mysteriöse Weise in jene Jenseitswelt, aus der er einst kam, er fährt zurück nach Tokoyo no kuni („Land der ewigen Jugend“ oder „Land der Toten“),⁵³ um indes auf noch mysteriösere Weise wiederzukehren als eine Art Geistwesen, als eine göttliche Lichterscheinung, als sakimitama, kushimitama, wobei tama als „Lebenskraft“ verstanden wird, saki bezeichnet etwa den „göttlichen Segen“, kushi „Heil(ung)“.⁵⁴ Es
Begräbnisfeierlichkeiten werden für ihn abgehalten (vgl. Naumann 1996b, S. 169). Auch beim ,Großen Landesherrnʻ stehen also explizit Todesmotive im Vordergrund, auch er scheint von Anfang an nur als Toter, als Ahne gedacht. Ausdrücklich betont Klaus Antoni, dass Sukunabikona nicht einfach ein Zwerg sei, sondern tatsächlich ein Kind, von den Göttern erhalte der Große Landesherr den Auftrag: „Liebe ihn und ziehe ihn auf!“ (Antoni 1988, S. 136). Der Kleine erweist sich dabei aber zunächst noch als sehr ungezogen und beißt Ōkuninushi in die Wange. Naumann 1996b, S. 177. Naumann 1996b, S. 178. Vgl. Fromm und Fromm 1985, S. 395. Siehe Naumann 1996b, S. 179: „Das Wort tokoyo setzt sich zusammen aus toko ,unvergänglich, unveränderlich, immerwährendʻ und yo ,Lebensspanne, Lebenszeitʻ. Tokoyo meint demnach nicht dasselbe wie unser abstrakter Begriff der ,Ewigkeitʻ als Gegensatz zur verrinnenden Zeit; es umfaßt vielmehr den konkreten Zustand des Nicht-Alterns und Nicht-Sterbens und bedeutet nur insofern ein Stillestehen der Zeit.“ Naumann 1996b, S. 178. In der Version des Kojiki wird nur von deren landformenden Aktionen gesprochen, das Nihongi weiß indes mehr von der Tätigkeit der Götter: Sie erweisen sich nun als „Wohltäter“ der Menschen: „Sie bestimmen, wie die Krankheiten von Mensch und Tier zu behandeln sind, sie lehren die magischen Sprüche und Methoden zum Vertreiben aller Übel […]. Nicht daß sie beide hier selbst als ,Heiler‘ auftreten, ihr Tun greift weiter; sie bestimmen die ,Methoden‘ und lehren so die Menschen selbst, was zu tun ist“ (Naumann 1996b, S. 178).
10.2 Die Alkohol-Seele
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ist ein durchaus komplexer Ausdruck, eine Art geistiges oder seelisches Vermögen. Ganz offenbar versucht hier die japanische Sprache, ein Seelenkonzept zu fassen,⁵⁵ eine neue, ,transzendenteʻ, körperlose Daseinsform in der Sukunabikona wieder zurückkehrt, der Winzling, das Kind, der Zaunkönig, vielleicht auch als eine Art Alter Ego des Ōkuninushi selbst, als seine eigene geistige Wesenheit, seine ,Schöpferkraftʻ.⁵⁶ Den schwierigen Weg der Seelenvorstellung im indoeuropäischen Kulturraum haben wir schon versucht kurz nachzuzeichnen. Wir treffen etwa auf Körpermetonymien, d. h., Identität und Eigentlichkeit konzentriert sich in einem prototypischen Körperteil (die ,Knochenseeleʻ) oder in Surrogaten besonderer Materialität. Aber welches Konzept nutzt das Japanische? Tatsächlich bedeutet kushi in einem ganz konkreten Sinn das „alkoholische Getränk“, in einem übertragenen Sinne ist es das göttliche Lebenswasser oder Lebensessenz – der kleine Sukunabikona wie der große Ōkuninushi (Ōmonononushi)⁵⁷ sind „Herr[en] des kushi“,⁵⁸ Herren des Alkohols.⁵⁹ Diese Vorstellung, die Gestaltung einer Wesenheit aus oder als alkoholisches Getränk, muss an dieser Stelle nicht mehr erstaunen: Natürlich ist an den nordischen ,Alkoholmannʻ Kvasir zu denken, den ‚weisesten der Vanenʻ. Selbst die Art des Herstellungsprozesses, die Speichelfermentierung, die archaische Herstellungsmethode für Alkohol, gleicht der japanischen. Hier wie da wird dem menschlichen Speichel eine besondere, transformative, ja schöpferische Wirkmacht zugesprochen,⁶⁰ und hier wie
Vgl. Antoni 1988, S. 86 f. Vgl. Antoni 1988, S. 88. Man vermutet hier ein Gegensatzpaar oho „groß“ – suku „klein“ (oder „viel“ und „wenig“), also etwa „Großer Herr“ und „Kleiner Prinz“, oder „großer Grundbesitzer“ und „kleiner Grundbesitzer“ (vgl. Aoki 1997, S. 179, Anm. 47). In diesem Sinne möchte sie Antoni für identisch halten, wenngleich ein bedeutsamer Unterschied festzustellen sei: Sukunabikona trete in Zwergengestalt auf, Omonononushi dagegen bleibe von der Gestalt her unfassbar, er sei ein „leuchtendes Etwas“, eine „Wirkkraft“, „Manifestation der Kraft selbst“ (Antoni 1988, S. 90). Freilich können wir gerade den winzigen Wuchs als eine Daseinsform der Toten annehmen, die Zwergenhaftigkeit der Alben wird aus der gleichen Vorstellung gespeist, in gleicher Weise die Kindhaftigkeit Freyrs. Genau genommen berichtet uns der japanische Mythos allerdings sehr wohl etwas über Omonononushis irdische, materielle Erscheinungsformen: Er erscheint in enger, ja kontagiöser Verbindung mit einem (glühenden) Schwein, einem Baumstamm und mit dem Mond selbst. In einer märchenhaften Episode verhilft er dem so genannten ,weißen Hasen von Inabaʻ zu einem neuen Fell. Der Hase wird in der japanisch chinesischen Mythologie üblicherweise als Mondtier, als Mondgottheit interpretiert. In diesem Sinne werden auch chinesische Grabmalereien der Han-Dynastie verstanden, wo der Hase in einem Mörser das ,Unsterblichkeitskrautʻ stampft (vgl. Naumann 1996b, S. 165). Vgl. Naumann 1996b, S. 179 – 181. Vgl. Antoni 1988, S. 134: Schon im chinesischen Taoismus (6. Jh. v.Chr.) geht es nicht nur lediglich um die Idee einer Stärkung oder Heilung durch Alkohol, das alkoholische Getränk gilt vielmehr als eine Art unsterbliches Prinzip, lebensverlängernd, ja überhaupt lebensgebend. Im Heiligtum von Miwa, einem Schutzschrein der Sake-Brauer, Japans ältestem Shintoschrein, wird Omonononushi als Geist des himmlischen Getränks Miwa (= Sake) verehrt (vgl. Antoni 1988, S. 67 f.). Vgl. Antoni 1988, S. 144. Durch das Kauen des Getreides entsteht in so genannter Ptyalin-Verzuckerung ein gärfähiger Grundstoff, wobei als Gärungserreger Kräuter, Hefen oder Verschmutzungen im
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10 Ahnenverkörperungen
da muss von einer tief sakralen Bedeutung dieses Vorgangs ausgegangen werden.⁶¹ Sukunabikonas Schifflein ist eine Kalebasse, das übliche Aufbewahrungsgefäß für Sake (wie zunächst zur Herstellung, Gärung und Aufbewahrung ausgehöhlte Baumstämme verwendet wurden).⁶² Nun gleicht sich die Behandlung des Korns, ob zur Brotherstellung oder zur Alkoholherstellung, zunächst in jeder Hinsicht. Die landwirtschaftlichen Vorarbeiten sind ohnehin identisch, identisch das anschließende Zerkleinern, das Wasser Zusetzen, identisch selbst der gärende, sich zersetzende Kornbrei, sei es nun Brotteig oder Maischesud. In einer englischen Ballade des 16./17. Jhs. wird eben dieser Herstellungsprozess in Form eines Rätsels besungen.⁶³ Die Gerste erscheint personifiziert in Gestalt des schwer malträtierten ,Sir John Barleycornʻ (in seiner frühesten Form Allana-Maut „Alan of the malt“). Genau genommen ist es eine Gruppe von thematisch ähnlichen Liedern, die die Verarbeitung einer Pflanze (der Gerste) im bildgebenden Konzept der Leiden eines menschlichen Wesens zum Inhalt haben. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten geht es um die Prozeduren, denen sich das Korn unterziehen muss, also etwa die Aussaat und Ernte, das Mahlen, die Mälzung und Gärung bis hin zu den Auswirkungen des Alkohols auf die Menschen. Als ,totes Kornʻ wird John Barleycorn in die Erde gepflügt, um im nächsten Frühjahr in voller Pracht wieder zu erstehen. Aber jetzt beginnen erst seine Qualen, er wird ,zerschnittenʻ, ,verprügeltʻ, ,zerquetschtʻ, er sieht sich Demütigungen aller Art ausgesetzt:
Gefäß selbst dienen können. Japans bekanntestes und ältestes alkoholisches Getränk Sake (eher Reisbier denn Reiswein) ist auf diese Weise hergestellt worden (vgl. Antoni 1988, S. 15 f.). Vgl. Antoni 1988, S. 63. Vgl. Antoni 1988, S. 120. Man könnte in dieser Vorstellung eine Analogie zur Kenning dvergar farskostr (dvergar skip) für „Met“ sehen: Die Zwerge Fjallar und Gallarr haben Kvasir ermordet, und brauen aus seinem Blut den Met. Recht inkonsistent erzählt der Mythos weiter, sie hätten im Folgenden den Riesen Gillingr getötet, indem sie sein Boot zum Kentern brachten. Dann erschlagen sie seine Frau mithilfe eines Mühlsteins. Daraufhin werden sie vom erbosten Sohn des Riesen, Suttungr, auf einer Insel ausgesetzt und müssen ihr Leben freikaufen mit dem wertvollen Met (Skáldsk 1). Auch die chinesischen Unsterblichkeitsinseln werden als „schwimmende hu“ (Antoni 1988, S. 120), als „Kürbisse“ bezeichnet. Sie beinhalten wie riesige Krüge oder Kürbisse die Unsterblichkeitsessenz. Antoni verweist auf Analogien zum Mond, zur Mondbarke (vgl. Antoni 1988, S. 121). Im altindischen Mythos wird dieser gleichermaßen als Behältnis der Unsterblichkeit bzw. Unsterblichkeitsessenz, der unsterblichen Seelen aufgefasst. Sukunabikona, ein Zwerg, ein Kind, ist also Herr von Tokoyo, des ,Ortes der Jugendʻ und des kushi, des alkoholischen Getränks. Die Kalebasse ist Behälter wie Gefährt des Gottes.Vielleicht wird im Nordischen eine Harmonisierung ähnlicher Vorstellungen versucht. Der Kvasir-Mythos scheint (schon allein aufgrund des Namens) auf eher östliche, uralische Herkunft schließen zu lassen, der sich daran anschließende Raub des Dichtermets in Gestalt eines Adlers eher auf indoeuropäische Konzepte. Die relativ „blasse“ Gestalt des Suttungr selbst (vgl. Lex.Simek 2006, „Suttungr“, S. 399) scheint Motivwiederholung ohne eigene Funktion zu sein, der personifizierte Alkohol (siehe *suþ-þungr „von Sud [Gebrautem] beschwert“, schwed. und norw. dial. sotta, seyta, sutla, „mischen, sieden“, vgl. Schulz 2005, S. 156). Auch im Eddalied Alvíssmál (34) erscheint im Kontext von Bezeichnungen für ,Bierʻ die Kenning Suttungs synir (vgl. Schulz 2005, S. 156). Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 204 f.; vgl. McKinnell 2014a, S. 186.
10.2 Die Alkohol-Seele
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And then his enemies began / To shew their deadly rage. They’ve taen a weapon strong and sharp, / And cut him by the knee. […] // They laid him down upon his back, / and cudgell’d him full sore: […] // They filled up a darksome pit, / With water to the brim, / They heaved in John Barleycorn, / There let him sink or swim. […] // They wasted o’er a scorching flame, / The marrow of his bones; / But a miller used him worst of all, / For he crush’d him between two stones. // And they hae taen his very heart’s blood, / And drank it round and round.⁶⁴
Die Ähnlichkeit zur Tötung Kvasirs ist in der Tat auffallend genug. Hier wie da scheint der Tod von Anfang an ausgemachte Sache zu sein, und auch der „feierliche Eid“ fehlt nicht, zu dem sich die Peiniger verabreden: „There were three kings into the east, / Three kings both great and high; / An’ they hae sworn a solemn oath, / John Barleycorn should die.“⁶⁵ John Barleycorn, Kvasir, Sukunabikona und Omonononushi ,sterbenʻ, werden aber gleichsam wiedergeboren oder materialisieren sich als alkoholisches Getränk und setzten in dieser neuen, erneuerten Form ihr Wirken fort. Das sind keine Korngötter, keine agrarische ,Dämonenʻ, es geht nicht einmal darum, dem Alkohol ein (mythisches) Gesicht zu geben,⁶⁶ es geht vielmehr darum, mithilfe des magischen Transformationsprozesses des Alkohols ein Seelenkonzept zu fassen, eine schöpferische, demiurgische Wirkmacht in Gestalt eines Geistwesens, eines Jenseitswesens, eines Toten. Kaum mehr weiß die nordische Überlieferung, dass der ,weise Kvasirʻ in einer früheren Tradition als Kulturheroe ersten Ranges gegolten haben muss.⁶⁷ Aber auch in seiner Überlieferung deutet nichts auf einen Zusammenhang mit agrarischen Belangen. Kvasir wie Scyld Scéfing, Sampsa, Pekko, ,der kleine Mann aus dem Meerʻ werden mit einem spezifischen, mythisch bedeutsamen Transformationszustand des Korns gleichgesetzt, einem neuen, transzendenten, buchstäblich spirituellen Bewusstseinszustand. Deshalb wird Kvasir von den Ahnengöttern, den Vanen, den Toten als vornehmste Geisel gestellt. Aber damit sind wir mit unseren Alkoholmännern (und -frauen) in der nordischen Überlieferung noch nicht einmal am Ende: Auch den Sohn des Yngvi-Freyr und der Gerðr, Fjǫlnir, werden wir hier einreihen können. Bei einem Fest, so die Ynglinga saga (Kap. 11), beim Friedens-Fróði in Lejre, stürzt er des Nachts im Rausch in ein riesiges Metfass und ertrinkt. Es ist ein jämmerlicher Tod wie all die anderen Tode seiner
Burns 1844, S. 349. Burns 1844, S. 348. So Rood 2014, der Kvasir als „personified alcohol“ sehen möchte, der menschlich, anthropomorphisiert agieren könne. Ähnlich Frog 2010, S. 280, Anm. 396: „There is a distinct possibility that a tradition of ‚talking beerʻ was known in the Germanic tradition considering that Snorri’s account potentially shares features with Finnic songs/incantations for Beer’s Origins, and the Finnic traditions exhibit a clear continuity in motifs in the corresponding Baltic and Mordvian traditions, particularly involving dialogue with the beer or its ingredients […]. There may very well have been traditions related to kvasir being attributed with anthropomorphic characteristics and the power of speech […].“ Kvasir zieht durch die Welt und lehrt sein Wissen, bis er erschlagen wird (Skáldsk 1). So weiß er etwa um die besondere Art der Netzherstellung für Lachse, die Snorri freilich auf etwas umständliche, narrativ nicht mehr plausible Art Loki zuschreibt (Gylf 50).
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10 Ahnenverkörperungen
Nachfolger, wohl am wenigsten werden wir es hier mit historischen Wahrheiten zu tun haben, aber, wichtig genug, auch nicht mit narrativen, literarischen Plausibilitäten über Macht und Herrschaft Lebender: Es sind andere Wahrheiten (was Snorri vielleicht wusste oder ahnte),⁶⁸ es sind Ritualwahrheiten, die Wahrheiten der Toten, Variationen um ein einziges Thema: die Ahnen. Wiederum ist auch ein Zusammenhang zwischen Fjǫlnir und dem finnischen Pellon Pekko schon sehr früh angenommen worden, insbesondere auf etymologischem Weg versuchte bereits Wolf v. Unwerth eine Verbindung plausibel zu machen: Er möchte von einer Entwicklung *FelduniR > *Fioldnir ausgehen. Damit ließe sich problemlos eine Anknüpfung an den Stamm von „Feld“ (*felþa‐) herstellen,⁶⁹ eine Wurzel, die auch für den finnischen Pellon Pekko wahrscheinlich gemacht werden konnte: „Fiolnir ist also dieselbe Gottheit, die als Pellon-Pecko bei den Finnen Aufnahme gefunden hat.“⁷⁰ Rein formal spräche damit auch nichts gegen eine Verbindung vom Zweitglied Pekko mit dem eddischen Byggvir, und doch scheint er an der nächsten Hürde, dem ,Sitz im Lebenʻ, der semantischen Vergleichbarkeit zu scheitern. Allzu hastig, so denn auch Dumézil kritisch dagegen, habe von Unwerth Fjǫlnir (immerhin ein schwedischer König und Herrscher) zum „spirit of the field“ gemacht, wo sonst keinerlei Verbindungen zu ,Feldernʻ oder ,bäuerlichem Lebenʻ zu finden seien. Fjǫlnir sei schließlich, trotz seines schmählichen Todes, Erster eines bedeutsamen Geschlechts, Sohn des Freyr.⁷¹ Wie sollte dazu der Korndämon, der kleine ,BierPekkoʻ passen? Aber auch hier geht es am wenigsten um bäuerliche Funktionen, vielmehr um die Verkörperung einer Wesenheit, die nicht, nicht mehr, nur zeitweilig von dieser Welt ist. Auch Fjǫlnir ist ein Totengeist. Er ist nicht der „Gerstengott [, der] im Bier sein Leben gelassen [hat]“, er musste auch nicht sterben, „damit [kursiv d. Verf.] der köstliche Rauschtrank entstand“,⁷² seine Ahnentransformation, seine ephemere Existenz wird in der Vorstellung eines Rauschtranks gefasst. Exakt auf diese Weise (und nur so) kann die Gleichung v. Unwerths: „fiolnir“ = „Béow-Byggvir“⁷³ unterstützt werden.
10.3 Die Vogel-Seele Unter diesen neuen Vorgaben werden wir uns den (zumindest etymologischen) nordischen Verwandten von Beow, den ,putzigenʻ kleinen Byggvir der Lokasenna und seine Frau Beyla, ‚die Kuhmagdʻ, nochmals genauer ansehen müssen. Tatsächlich werden wir sie beide im Rahmen dieses neuen Interpretationsansatzes rehabilitieren
Vgl. die Diskussion von Starý 2013, S. 119 – 121. Vgl. von Unwerth 1917, S. 323. von Unwerth 1917, S. 327. Vgl. Dumézil 1973b, S. 115, Anm. 94. von Unwerth 1917, S. 329. von Unwerth 1917, S. 332.
10.3 Die Vogel-Seele
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müssen. In der Prosaeinleitung werden sie wohl als ,Dienerʻ des Freyr bezeichnet, aber zu Recht bemerkt Simek, dass Byggvir und Beyla gleichberechtigt am Tisch der Götter sitzen können, ja beide können im Rededuell der Götter mit Loki eingreifen.⁷⁴ Als Freyr von Loki angegriffen wird, ist es Byggvir, der sogleich für ihn in die Bresche springt: „Weißt du, wenn ich Herkunft hätte wie Ingunar-Freyr, / und solchen reichen Sitz, / kleiner als Mark zermalmt ich die Unheilskrähe / und zerschlüge sie ganz in Stücke.“⁷⁵ Darauf folgt postwendend Lokis hämische Retourkutsche, von der man allerdings annehmen muss, dass sie Eigenschaften des Geschmähten letztendlich wahrheitsgemäß auflistet. Loki also antwortet: „Was ist das Kleine da, das ich schwänzeln seh, / und das schnappkundig schnappt? / In den Ohren Freyrs wirst du immer sein / und unter den Mühlsteinen schnattern.“⁷⁶ Es scheint tatsächlich zunächst zu Byggvir als ,Korndämonʻ gut zu passen, wenn Loki ihm verächtlich einen Platz unter den Mühlsteinen zuweist, wie überhaupt dieser erste Schlagabtausch auf beiden Seiten mit Sprachbildern und Assoziationen des Zerstückelns, des Zerkleinerns befrachtet ist. Hier wird die Tätigkeit des Mahlens an den Mühlsteinen evoziert. Und doch scheint sich noch ein anderer, durchaus ungewöhnlicher Wissensrahmen aufzutun, der indes in der Forschung selten nähere Beachtung gefunden hat. Es ist eine Konzeptionierung, die in der Übersetzung von Arnold Krause ohnehin untergeht, in der Übersetzung des Frankfurter Edda-Kommentars aber explizit wird: Byggvir scheint eine ausgeprägte Vogelhaftigkeit zu besitzen: „Was ist das Kleine, das ich mit dem Schwanz wippen sehe, / und [das] pickgewandt pickt? / In Freyrs Ohren wirst du immer liegen / und bei den Mühlsteinen zwitschern.“⁷⁷ Ausdrücklich werden hier die Eigenarten eines Vogels hervorgehoben.⁷⁸ Er wippt mit dem Schwanz, er pickt wie ein Vögelchen, zwitschernd scheint er Freys Kopf zu
Vgl. Lex.Simek 2006, „Byggvir“, S. 65. „Veiztu, ef ec øðli ættac sem Inguna-Freyr, / oc svá sællict setr, / mergi smæra mølða ec þá meinkráco / oc lemða alla í liðo“ (Ls 43). „Hvat er þat iþ litla, er ec þat lǫggra séc, / oc snapvíst snapir? / at eyrom Freys munðu æ vera / oc und qvernom klaca“ (Ls 44). Vgl. Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 474 f. Eine ebenfalls vorgeschlagene Hundemetapher lehnt der Edda Kommentar an dieser Stelle ab, das Verb klaka gebe vorzugsweise die „Lautäußerung von Vögeln“ wieder. Auch das Verb snapa „schnappen, picken“ finde sich in der Dichtung nur ein einziges weiteres Mal (Háv 62) und auch hier im Zusammenhang mit einem Vogel (Adler). Siehe aber McKinnell 2014a, S. 187, mit Verweis auf Magnus Olsen, der die Eingangsfrage als Hinweis auf ein Rätsel verstehen möchte mit der Antwort: ,ein Huhn‘ (vgl. Olsen 1960, S. 37– 39). Ähnlich Dronke 1969 – 2011, S. 367: „What kind of creature is being described? […]. I think it is a bird because I associate the vocabulary with birds.“ Sie möchte Byggvir als ,Spatzʻ verstehen, ähnlich dem geliebten Spatzen des dänischen Königs Dagr der Ynglinga saga (18), der ihm aus allen Ländern Informationen zuträgt, bis er eines Tages von einem Bauer mit einem Steinwurf getötet wird. Dass es sich um keinen gewöhnlichen Vogel gehandelt haben kann, zeigt die in jeder Hinsicht außergewöhnliche Reaktion des Königs auf den Tod des Vogels: Er opfert einen Eber (ein Freyr-Opfer!), um etwas über den Verbleib seines Haustiers herauszufinden und rüstet schließlich eine Armee, um dessen Tod zu rächen.
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10 Ahnenverkörperungen
umschwirren. Byggvir nutzt selbst eine Vogelmetapher, um Loki zu beleidigen, meinkráka „Unheilskrähe“ nennt er ihn,⁷⁹ was gewiss ganz ausgeschlossen wäre, befände er sich in jener vermeintlich untergeordneten Dienerposition, es hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Es ist dieser Gegensatz, die Androhung roher, brachialer Gewalt (der sich Byggvir in seiner wie auch immer gearteten Affinität zum Gerstenkorn selbst ausgesetzt sehen muss), Beschimpfungen, ausgestoßen von einem Wesen, klein und indifferent (iþ litla) wie ein Vögelchen, die diese Szenerie in der Tat zunächst einmal eher wie ein „burleske[s] Zwischenspiel“⁸⁰ wirken lassen. „[H]is [Byggvir’s, d. Verf.] miniature bellicosity is simply ridiculous“,⁸¹ so McKinnell, als bestenfalls lustige Erfindung der späten Mythopoetik möchte sie ohnehin Dumézil abtun.⁸² So wird dessen selbstbewusste Antwort auf Lokis Affront als komisch interpretiert,⁸³ Lokis Vorwurf an ihn sei als Versagen in seiner Dienertätigkeit, einer „banale[n] Essenszuteilung“ zu sehen.⁸⁴ Und als niederer Bediensteter ist er natürlich auch lächerlich feige und versteckt sich im Stroh, wenn richtige Männer kämpfen.⁸⁵ Nun zielen alle Vorwürfe Lokis darauf ab, die dermaßen Angegriffenen lächerlich zu machen und böse bloß zu stellen. Aus welchem Grund sollten wir ausgerechnet für Byggvir ein anderes Setting annehmen, also die Seiten wechseln und uns in die Lachgemeinschaft Lokis einordnen und nur seine Vorhaltungen den ,richtigenʻ Göttern gegenüber als Affront sehen? Wohl kann Dumézil zunächst durchaus zugestimmt werden in seiner abschließenden Einschätzung der mythischen Wesenheit Byggvirs: „All that he himself [Byggvir, d. Verf.] says, and all that Loki says, amounts to a description of the behavior of barley grain, or of
Dabei findet Dagr auf gleich bizarre Weise den Tod, ein Knecht wirft eine Heugabel und trifft ihn tödlich. Der Name Dagr ebenso wie das Eberopfer wiesen den König als Freyr-Gestalt aus, so Dronke, und entsprechend habe wohl der Edda-Poet die Wesenheit eines Spatzes für die Gestalt des Byggvir gewählt. Es muss an dieser Stelle unentschieden bleiben, welcher Vogel den zeitgenössischen Rezipienten vorgeschwebt haben mag, ein sehr kleiner jedenfalls (vgl. an. spǫrr „Sperling“ etwa zu griech. σπὲργυλος „kleiner Vogel“ (an. etym. Wb 1962, „spǫrr“). Vgl. Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 474. Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 476. McKinnell 2014a, S. 177. Siehe Dumézil 1973b, S. 116: „[M]ust we admit, that Byggvir, in the Lokasenna, is only an amusing and artificial personification, without mythological reality? As for me, this is the interpretation that seems most likely.“ Siehe ähnlich Dumézil 1973b, S. 117: „But this mythology does not go very far: it is always concerned with evanescent figures, linked to an action or a place, whose names are neither ancient nor stable, by-products of that ,mytho-poeic facultyʻ that man will never forsake.“ „Byggvir ec heiti, enn mic bráðan qveða / goð ǫll oc gumar; / því em ec hér hróðugr, at drecca Hroptz megir / allir ǫl saman.“ („Byggwir heiß ich, und hurtig nennen mich / alle Götter und Menschen; / darauf bin ich stolz, dass Hropts Söhne alle / Bier zusammen trinken“ [Ls 45]). Vgl. Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 476. „Þegi þú, Byggvir! þú kunnir aldregi / deila með mǫnnom mat; / oc þic í fletz strá finna né mátto, / þá er vágo verar.“ („Schweig Byggwir! Du konntest nie / bei den Männern das Mahl austeilen; / und dich konnt man nicht im Stroh der Bänke finden, / wenn die Männer kämpften“ [Ls 46]).
10.3 Die Vogel-Seele
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the temper inspired in men by beer.“⁸⁶ Um freilich gleich darauf fortzufahren, dass diese Informationen selbstverständlich auf keine Weise Niederschlag fänden im Mythos, sie seien „without religious resonance and without even the shadow of an allusion to a myth, however poor.“⁸⁷ Aber es erscheint ja durchaus unlogisch, wenn er weiters davon ausgeht, dass alle Strophen der Lokasenna mythologisches Wissen bereithielten, die wir, wohlgemerkt, „either know or do not know“ – „except those that concern Byggvir and Beyla“.⁸⁸ Lokis Vorwürfe sind jedenfalls exakt so konstruiert wie die Vorwürfe an keine geringeren als Odin und Týr⁸⁹ – viel Aufhebens um einen kleinen Diener. Man wird aber nun diesen Interpretationsrahmen verlassen müssen und dafür sollte auch der Ausdruck deila með mǫnnom mat unter einem neuen Aspekt betrachtet werden. [M]atr ist das „Essen“, „Mahl“, aber zumindest in einigen Fällen scheint die Schreibweise des Vokals geschwankt zu haben.⁹⁰ So könnte womöglich gar nicht „das Mahl“ gemeint sein, sondern die sehr ähnlichen Wörter máti, m. „Art, Weise“,⁹¹ mát, n. „Wertschätzung“, „Mass“, das wiederum auch als mat, n. erscheinen kann („an estimate, taxing“). Das aber könnte bedeuten, Byggvir konnte sich mit den anderen Männern nicht „an Größe messen“ – natürlich, als Vögelchen war er so klein, dass man ihn nicht einmal im Stroh finden konnte, wenn es zum Kampf kam. Aber deshalb ist er weder feige und schon gar nicht ungefährlich, effizient allemal, wie Heimdallr bei seinem Eingreifen als nächstes klarmacht: Byggvir erscheint nicht nur als Vogel, sondern gleichermaßen als Alkoholmann – und der kämpft mit anderen Waffen: Ǫlr ertu, Loki, svá at þú er ørviti,⁹² und schon halb hat er selbst einen so gerissenen Gegner wie Loki bezwungen. Aber warum springt ausgerechnet Heimdallr für Byggvir in die Bresche? Der altehrwürdige Ahnen-Gott? Wir können zusätzlich mutmaßen: Treffen ihn nicht die gleichen Beleidigungen wie Byggvirs Frau Beyla? Mit „schlammigem“, „verdrecktem Rücken“, aurgo baki muss er wachen wie die arme „beschissene“ (dritin) Beyla (siehe unten). Aber es sei erinnert, Heimdallr ist der Götterfluss, es sind die schlammigen Uferbänke, die feuchten Auen und Fluss-
Dumézil 1973b, S. 116. Dumézil 1973b, S. 116. Dumézil 1973b, S. 116. Vgl. Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 476. Siehe Cleasby/Vigf. 1874, „matr“: „Matr, m., gen. matar, dat. mat; with article matinum, Grág. i. 47 (mod. matnum); plur. Matir, it is twice or thrice in Fb. spelt mát with a long vowel, with which cp. the rhyme máta uppsátr, Hallfred, -máta (gen. pl.) viggjar uppsátr = a pantry […].“ Siehe nnorw. maate, nschw. måtta „passendes verhältnis“, mnd. māte „mass, art und weise, passendes verhältnis“ (an. etym. Wb 1962, „máti“). „Ǫlr ertu, Loki, svá at þú er ørviti, / hví né lezcaðu, Loki? / þvíat ofdryccia veldr alda hveim, / er sína mælgi né manað.“ („Betrunken bist du, Loki, sodass du von Sinnen bist, / warum hörst du nicht auf, Loki? / Denn unmäßiger Trank bewirkt jedem unter den Wesen, / dass es sein Geschwätz nicht merkt“ [Ls 47]).
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10 Ahnenverkörperungen
landschaften des personifizierten Urflusses, die Loki damit meint. Und diese Assoziation ist von Loki keineswegs zufällig evoziert, wie sich noch zeigen wird.⁹³ Byggvir wird also auch in der Lokasenna mit der Alkoholherstellung bzw. dem Alkohol selbst in Verbindung gebracht, er ist gleichzeitig ein enger Vertrauter des großen Freyr – und er ist ein Vogel, eine denkbar bizarre, aber eben gerade nicht einzigartige Kombination, gerade dafür findet sich in den japanischen Weltschöpfungsmythen ein exaktes Vergleichsmoment: Der kleine ,Schöpfergottʻ Sukunabikona erscheint in seinem Kürbisschifflein ebenso in Gestalt eines Vogels – als Zaunkönig! Ein Umstand, der in der japanischen Mythenforschung üblicherweise unkommentiert bleibt, wohl aber als Hinweis auf seine Kleinheit gesehen wird. Der Zaunkönig hat seinerseits gar nichts mit alkoholischen Getränken zu tun, wiederum aber ist es der gemeinsame Vorstellungsraum eines Seelen-Konzepts, die Ausgestaltung einer spirituellen Wesenheit, die diese verbindet (siehe Kap. 11.1). Die Kombination von Vogelartigkeit und Alkohol erscheint im Norden aber noch ein weiteres Mal, nun kaum mehr unerwartet, in Jenseitsentwürfen. An der Entwicklung der Walkürenvorstellung kann diese Idee gut nachvollzogen werden: Ihre vogelhafte Todesaffinität zeigt sich zunächst in ihrer Konzeptionierung als Aasgeier und Leichenfresser, die ihre Beute auf den Schlachtfeldern finden. In einer Weiterführung dieser Vorstellung werden sie zu Seelenführerinnen, die die toten Gefallenen auswählen für eine kriegerische Jenseitswelt, Walhall. Und schließlich werden die grässlichen Leichenvögel zu „Schankmeiden“,⁹⁴ die in eben diesem Jenseits für den Alkoholausschank zuständig sind. In den Eiríksmál trägt ihnen Odin auf, Wein zu bringen, die Einherier sollen die Bänke bestreuen und den Biertrog spülen.⁹⁵ Aber auch hier wird die Gabe von Alkohol kaum als minderwertiges Dieneramt zu betrachten sein.⁹⁶ Hier wie da bedeutet Alkoholisieren die Spende des Lebenselixiers, das Hinüberführen in eine neue Bewusstseinsstufe. „Ihre Verbindung zum Tod, zum Übergang des Toten ins Jenseits, zu Krieg und Gewalt und ihre Affinität zu Vögeln“,⁹⁷ Auch McKinnell findet das Eingreifen Heimdallrs ausgerechnet an dieser Stelle zumindest auffallend, aber gewiss nicht zufällig, allein schon wegen der „careful motivation of most of the other interventions in the poem“ (McKinnell 2014a, S. 188). Der Vorwurf des ,schlammigen Rückens‘ an Heimdallr ist für ihn allerdings genauso schwer erklärlich wie die Motivation des Dichters, unmittelbar daraufhin ausgerechnet Skaði intervenieren zu lassen. Möglicherweise sei damit der Vorwurf des „incompetent watchman“ kombiniert. Die Riesin Skaði habe dadurch die Möglichkeit gehabt, unerlaubt ins Asenland einzudringen (vgl. McKinnell 2014a, S. 190), eine Erklärung, die er allerdings nicht einmal selbst für recht überzeugend hält. Keine Quelle wisse etwas von Heimdallr als „lazy watchman“, der sich ,im Dienst‘ beschmutze. Er verweist aber in diesem Zusammenhang auf die einzige weitere Stelle in der altnordischen Poetik, in der das Adjektiv aurugr erscheine, in Vǫluspá 27, „where it refers to the muddy waterfall in the river which flows from Óðinn’s pledge […]“ (McKinnell 2014a, S. 189). ‒ Hier solidarisieren sich die Flussgottheiten! Nichts anderes ist schließlich auch Skaði, die Urmutter Skandinaviens. Egeler 2011, S. 40. Siehe Eiríksmál 1; Gylf 36. Siehe Egeler 2011, S. 40 f. Egeler 2011, S. 31.
10.3 Die Vogel-Seele
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die Egeler für die Walküren konstatiert, ließe sich damit gut verbinden. Auch die Gefäße, die die Einherier herrichten, sind somit keine gewöhnlichen Biertröge, die lediglich gereinigt werden müssen, es ist die Vorbereitung für eine kultische Handlung, ein Wiedererneuerungsritual für die Toten, ein Ritual, das für Fjǫlnir, für seinen Sturz ins Fass als Teil seines Bestattungsrituals (zumindest als Vorstellung dahinter) ohnehin angenommen werden muss. Und in diesen Zusammenhang gehört auch Balders Ankunft bei Hel, für den auf gleiche Weise die ,Bänke bestreut werdenʻ und ,Bier gebraut wirdʻ (Bdr 7). Auch das ist keinesfalls als reiner Akt der Gastfreundschaft zu betrachten.⁹⁸ Man mag also Freys Position analog zum Großen Landesherrn Ōkuninushi sehen, hier wie da große Gründer- und Ahnengestalten, Tote,⁹⁹ mit ihren winzigen, vogelgestaltigen, ,alkoholaffinenʻ Helfern.
Siehe auch das Motiv der Alkoholgabe auf gotländischen Bildsteinen, vgl. Heizmann 2015; Egeler 2011, S. 15. Auch Byggvir verweist schließlich auf den sællict setr Freyrs (Ls 43). Als „reichen Sitz“ übersetzt es Krause, womit allerdings die starke Jenseits-Assoziation, die diesem Ausdruck anhaftet, ganz verloren geht. Siehe ausdrücklich Dronke: „sællikt setr: i. e. Álfheimr (Grím 5), realm of the immortal dead“ (Dronke 1969 – 2011, S. 367).
11 Bird on a wire 11.1 Der Zaunkönig Auch im nördlichen oder mitteleuropäischen Raum scheint sich der Zaunkönig (Troglodytes troglodytes, Troglodytes parvulus) noch eine Spur, eine ferne Reminiszenz dieser Seelenvorstellung bewahrt zu haben. Siehe etwa die, wenn auch ins Abstruse verformte Geschichte des Ynglingar-Vorfahren König Dagr und seines so tragisch zu Tode gekommenen Vögelchens. Anekdotisch, bestenfalls märchenhaft gefasst erscheint der Zaunkönig in anderen Erzählungen oder im folkloristischen Brauchtum. In der Volksüberlieferung tritt der Zaunkönig – byggvirgleich – als pfiffiger, kleiner Held auf: Er gelte als „spirited and restless, seldom still, possessing ,overflowing vitalityʻ“, eine „noisy, perky, bossy spiritedness“ werde ihm zugeschrieben, die er nicht selten in einer offen demonstrierten Streitlust zeige.¹ Bereits die griechische Antike kennt den Zaunkönig als den kleinsten Singvogel, so erscheint er bei Aristoteles (4. Jh. v.Chr.) und Plutarch (1. Jh. n.Chr.), wobei er teilweise geschieden wird vom (noch kleineren) Goldhähnchen, meist beide aber als eine einzige Vogelart verstanden werden. Als Namen für diesen ,synkretistischen Goldhähnchenzaunkönigʻ erscheint „Königlein“, βασιλίσκος, regulus (auch βασιλεύς, rex). In einer sehr alten Fabel des Äsop wird erzählt, wie der kleinste aller Vögel sich durch eine List zum König der Vögel emporschwingen konnte. Bei einer Wette, bei der derjenige Vogel zum König auserkoren werden sollte, der am höchsten fliegen könne, versteckt er sich im Gefieder des Adlers. Als dieser schließlich erschöpft umdrehen muss, kommt der Zaunkönig unter dessen Schwingen hervor und ruft sich selbst zum Sieger und König aus.² Durch die rasche Verbreitung der Fabel in Europa bürgerte sich nun erst der Name kuningilîn ein, der damit ein ursprüngliches ahd. wrendo, wrendilo verdrängte. Im Angelsächsischen ist die (alte) Bezeichnung für den Zaunkönig erhalten geblieben, ne. wren („Zaunkönig“). Zu dieser Wurzel gehört formal an. rindill (vrindill), Cleasby/Vigfusson geben es als Diminutiv zu wren an,³ aber im Altnordischen ist rindill nicht der „Zaunkönig“,⁴ vielmehr ist es die Bezeichnung eines (im modernen Sinne) sehr unterschiedlichen Vogels: die „Bachstelze“ ‒ eine merkwürdige Doppelnamigkeit, die noch nähere Betrachtung verdient. Vielleicht um Verwechslungen zu vermeiden, erscheint der neuisl. Zaunkönig verdeutlicht als músar-rindill,
Vgl. Lawrence 1997, S. 14. Als weitere Konnotationen würden dem Zaunkönig insbesondere Klugheit und Gerissenheit zugeschrieben, im Irischen gelte er – noch vor dem Fuchs – als das schlauste Tier. Vgl. Keller 1913, S. 82 f. Die anderen Vögel sind über diesen Betrug dermaßen erbost, dass er fortan in Hecken und Büsche und Erdhöhlen verbannt wird, daher der Name τρωγλοδύτης „Loch- oder Höhlenschlüpfer“. Die Brüder Grimm erzählen diese Fabel nach im „Märchen vom Zaunkönig“ (Kinder- und Hausmärchen 171), (vgl. Plin. nat. hist. 10, 74, 203 und Aristoteles Historia animalium 9, 11). Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „rindill“. Vgl. an. etym. Wb 1962, „rindill“. https://doi.org/10.1515/9783110789140-012
11.1 Der Zaunkönig
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auch músar-bróðir (gleichermaßen „as a nickname of a small, puny person“),⁵ ähnlich wie im Deutschen der volkstümliche Name „Mäusekönig“ (,ein Vogel so klein wie eine Mausʻ⁶). Im Grottasǫngr (Skáldsk 42), dem Eddalied, das wir bereits als ,Wiegenlied für einen Totenʻ identifiziert haben (sei es als Kultlied selbst oder als Lied, in dem der mythische Hintergrund für ein Kultgeschehen beschrieben wird), erscheint ein Heer, das König Fróði den Untergang bringt. Snorri ergänzt dazu, es sei das Heer eines „Seekönigs“ Mýsingr gewesen (sækonungr er Mýsingr hét [Skáldsk 43]). Cleasby/Vigfusson stellen Mýslingr (mýsingr)⁷ zu mysa, nhd. „Mäuslein“, „a little mouse“,⁸ ein wenig martialischer Namen für einen kriegerischen Seekönig und Heerführer, aber er erinnert auffallend an den volkstümlichen Vogelnamen músar-rindill, músar-bróðir des isländischen Zaunkönigs. Die tiefen kosmologischen Implikationen dieser Episode wurden bereits angesprochen, insbesondere die Verbindung der Grotti-Mühle selbst (die der Seekönig mit sich nimmt) mit dem finnischen ,Wunderdingʻ Sampo. Der Mythos steht damit keineswegs nur mit Untergang und Zerstörung in Verbindung, sondern auf gleiche Weise mit Schöpfung und Anfang, mit einem gewaltigen Schöpfungsstrudel, der in Gang gesetzt oder gehalten werden muss, und wie es scheint ‒ mittels eines Vogels.⁹ Nun stand der Zaunkönig (trotz seines eher positiven, jedenfalls auf keine Weise prekären Status in der Volksüberlieferung) im Mittelunkt einer merkwürdig grausam anmutenden folkloristischen Praxis, die bis in die jüngste Zeit in Großbritannien, Irland und der Isle of Man (ebenso in manchen Teilen Frankreichs und Spaniens) ausgeübt worden ist: die „wren hunt“. Einmal im Jahr, am St. Stephanstag, am 26. Dezember, wurde der kleine Vogel gejagt. Am „wren day“ machten sich die Männer und Knaben auf die Suche nach einem Zaunkönig, wenn sie fündig geworden waren, bewarfen sie das Tier mit Stöcken und Steinen und brachten es zu Tode.¹⁰ Die Besonderheit der Todesart wurde erklärt mit dem Tod des ersten Märtyrers Stephan (eine Steinigung, die der Vogel in einer späten Erklärung verursacht haben soll). An einer Stange oder Gerüst befestigt, die Flügel in besonderer, grotesker Weise aufgespannt
Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „rindill“. Ebenso als ,Schneekönigʻ, weil er auch im Winter unverdrossen seinen – an seiner winzigen Größe gemessenen – überaus kraftvollen Gesang anstimmt, oder ‚Nesselkönigʻ, wahrscheinlich von ,Nesselʻ als Spitzname für ein „kleines, unruhiges Mädchen“ (Bertau 2014, S. 226). Siehe die gleiche Wortbildung bei meisingr „Meise“ (an. etym. Wb 1962, „meisingr“). Cleasby/Vigf. 1874, „Mýslingr“. Auch der winzige, gleichwohl mächtige Schöpfergott Sukunabikona kommt als Zaunkönig in einem Kürbis-Schifflein an, um den Großen Landesherrn Ōkuninushi (Omonononushi) bei seiner Schöpfungsarbeit zu unterstützen, und auch in der japanischen Kosmogonie kommt es zunächst zu einer brachialen Zerstörung und Neuordnung einer noch primitiven, strukturlosen Natur. Vgl. Spence 1949, S. 156: „That the little wren must at one time have been the central object of a rather widespread worship in some parts of Britain is certain. In Scotland, Ireland and the Isle of Man, as well as in Essex, Devonshire and Ireland, it was hunted on St. Stephan’s Day (December 26th) and slain with peculiar rites.“ Siehe Harrison 1865, S. 126 f.
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11 Bird on a wire
und gebunden, wurde der tote Zaunkönig dann von Haus zu Haus getragen, Federn verteilt für Glück und Wohlergehen im kommenden Jahr.¹¹ Für den Rest des Jahres galt der Zaunkönig als unverletzlich, sakrosankt, einen Zaunkönig zu stören oder gar zu töten, sein Nest zu berauben, galt als verabscheuungswürdig und in hohem Maße Unglück bringend.¹² George Waldron, ein Folklorist und Mythensammler der Isle of Man, weiß im Anschluss an die ,Steinigungʻ weiters zu berichten, wie die Vogelleiche auf eine Bahre gelegt worden sei, „with the utmost solemnity, bringing her to the parish-church, and burying her with a whimsical kind of solemnity, singing dirges over her in the Manks language, which they call her knell; after which Christmas begins.“¹³ Unschwer zu erkennen, dass wir es hier mit einem Bestattungsritual zu tun haben, die Steinigung als apotropäische Tötungsmaßnahme zur endgültigen, sicheren Vertreibung des Toten,¹⁴ die Totenklage, wie es scheint, keineswegs lediglich Parodie. Jedenfalls muss hier eine Vorstellung einer Verbindung des Vögelchens zum Jenseits, zu Toten(seelen), wenn auch längst nicht mehr bewusst reflektiert, vorhanden gewesen sein. In diesem Sinne passt der europäische Zaunkönig zu seinem japanischen Pendant. Jene unerbittlich rohe, rituelle Behandlung, das eigenartige, spezifische Arrangement der Kultgegenstände findet dort allerdings keine Entsprechung.¹⁵ Aber wie es scheint, haben sich gerade auf der Insel Manx unterschiedlichste europäische wie ursprünglich östliche religiöse rituelle Vorstellungen vermischt und erneuert. Für den Zaunkönig-Kult ist zu Recht eine rite de passage vermutet worden, ein jahres-
Vgl. Lawrence 1997, S. 47 f. Vgl. Lawrence 1997, S. 36 – 38. Harrison 1865, S. 49 f. König Dagr und sein Spatz sterben ähnliche Tode. Sie werden von Wurfgeschossen getroffen, bezeichnenderweise gerade nicht in einem kriegerischen Kontext. Entsprechend werden die Wurfhandlungen als ritualisierte Handlungen betrachtet werden müssen, als Variation des denkwürdigen, buchstäblich ,merk-würdigenʻ Ahnentodes der Ynglingar. Der Spatz als ,Wissenserkunder‘ ist wohl (vielleicht von Snorri selbst) den Raben Odins nachgebildet, einschließlich der Furcht um ihn (vgl. Grm 20, siehe dazu Marold 2013, S. 225 – 227). Ursprünglicher wird die Idee des kleinen Vogels als Ahnenverkörperung sein. Ebenso ähnlich zum keltischen Brauch nimmt sich schließlich nicht nur dessen Tod durch Bewerfen mit Steinen und Stöcken aus, sondern auch die sich daran anschließende exorbitante Totenpflege, die Untröstlichkeit, das Übermaß an Kompensation: Ein ganzes Heer an ausgerüsteten Männern wird für den kleinen Sperling wie für den Zaunkönig abgestellt, sei es um seiner habhaft zu werden (im Ritualgeschehen) oder um ihn zu rächen (im mythischen Erzählen). Somit ist die Auffassung Marolds, die in der Erzählung ein „Textmissverständnis“ Snorris einer Skaldenstrophe sehen möchte, eher weniger wahrscheinlich (vgl. Marold 2013, S. 225). Der so genannte „wren-bush“ war eine eigenartig gebogene Holzkonstruktion aus Weidenruten, die in einer Prozession durch den Ort getragen wurde. Darin war der tote Vogel eingebunden, „suspended by a leg from the junction-point of two hoops of willow or other flexible wood with their ends fastened together to form two circles, and intersecting each other at right angles“ (Gill 1932, S. 368). Die ManxFolkloristin Mona Douglas fügt weitere Details hinzu: ‚‚Behind the dead wren in its elaborate cage, another man, dressed in women’s clothing, carried a second, much smaller cage woven closely of green rushes, inside which was another wren; and this one was alive. Carrying ,torches of flaming pitchʻ“ (Lawrence 1997, S. 51) begab sich der Zug zum Friedhof, wo der tote Zaunkönig begraben, der lebende aber freigelassen wurde (vgl. Lawrence 1997, S. 51).
11.1 Der Zaunkönig
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zeitlicher, kosmischer, astronomischer Übergang: die Wintersonnenwende, der Jahreswechsel. Der getötete Zaunkönig vertrat darin das alte, das gestorbene Jahr,¹⁶ durch seinen ,Opfertod‘ belebte, vitalisierte er aber gleichzeitig das neue. Nun wird der Zaunkönig in europäischer Tradition durchgehend als männlich empfunden, nur an einer einzigen Stelle auf den britischen Inseln wird aus dem Zaunkönig eine Zaunkönigin: auf der Isle of Man.¹⁷ Eine Insel wiederum, auf der der nordische Einfluss besonders stark war, sie gehörte bis ins 13. Jh. zum norwegischen Herrschaftsgebiet und hatte wohl eine keltisch nordische Mischbevölkerung.¹⁸ Und in der Manx-Tradition (aufgezeichnet im frühen 18. Jh.) erscheint nun ein ganz besonderes Aition für das Zaunkönig-Ritual. Darin spielt ein ebenso verführerisches wie zerstörerisches, weibliches Wasserwesen, die schöne Hexe Tehi-Tegi, eine verhängnisvolle Rolle. In Zaunköniggestalt (nur in unten stehender Version als Fledermaus) muss sie schließlich vor den erbosten Inselbewohnern fliehen. George Waldron erzählt die Geschichte, wie er sie 1731 von einem Informanten auf der Insel erfährt, die, interessant genug, die dort ansässige Bevölkerung auch als Erklärung für die extreme Misogynie, die Waldron gleichermaßen auf der Insel beobachtet hat, anführt: He told me that a famous enchantress sojourning in this Island, but in what year he was ignorant, had, by her diabolical arts, made herself appear so lovely in the eyes of men, that she ensnared the hearts of as many as beheld her. The passion they had for her so took up all their hearts that they entirely neglected their usual occupations; they neither flowed nor sowed; neither built houses nor repaired them; their gardens were all overgrown with weeds, and their once fertile fields were covered with stones; their cattle died for want of pasture, their turf lay in the bowels of the earth undug for; and every thing had the appearance of an utter desolation: even propagation ceased, for no man could have the least inclination for any woman but this universal charmer, who smiled on them, permitted them to follow and admire her, and gave every one leave to hope himself would be at last the happy he. When she had thus allured the male part of the Island, she pretended one day to go a progress through the provinces, and being attended by all her adorers on foot, while she rode on a milk-white palfrey, in a kind of triumph at the head of them: she led them into a deep river, which by her art she made seem passable; and when they were all come a good way in it, she caused a sudden wind to rise, which driving the waters in such abundance to one place, swallowed up the poor lovers to the number of six hundred in their tumultuous waves. After which, the sorceress was seen by some persons who stood on the shore to convert herself into a bat, and fly through the air till she was out of sight; as did her palfrey into a sea-hog or porpoise, and instantly plunged itself to the bottom of the stream.¹⁹
Vgl. Lawrence 1997, S. 30, 36, 143. Gerade auf der Isle of Man sei indes die wren-hunt „extremly significant“ (Lawrence 1997, S. 71) gewesen. Hier habe sich der rohe Brauch bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts gehalten, so wie er 1731 zuerst beschrieben wurde. Das Interesse an dem alten Brauch sei bis heute ungebrochen, wenn auch, dem Zeitgeist angepasst, nicht mehr mit lebenden Vögeln ausgeführt (vgl. Lawrence 1997, S. 71). Siehe dazu Steinforth 2015. Harrison 1865, S. 75.
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Auffallend scheint hier, dass durch die Zauberkünste der Tehi Tegi sämtliche landwirtschaftlichen, pflanzerischen, aber auch ,fortpflanzerischenʻ Pflichten vernachlässigt werden. Sie bewirken einen chaotischen, gesetzlosen, unfruchtbaren, öden Zustand. Alles Hoffen, Sehnen, Streben der Männer ist nur nach der schönen Zauberin ausgerichtet, die sich aber, wohlgemerkt, sämtlich verweigert. Ihre besonderen Fähigkeiten geben ihr Macht über das Wasser, sie vermag Flüsse passierbar zu machen, Untiefen, scheinbar festes Land zu erzeugen, die liebeskranken Männer indes, die ihr bedingungslos folgen, führt sie auf diese Weise in den sicheren Tod. Spätere Mythographen (siehe Hannah Bullock oder Lewis Spence) kennen Varianten der Geschichte, in denen, nachdem sämtliche biologischen Prozesse zum Erliegen gekommen sind, die Insel von Männern entvölkert, Rettung in Gestalt eines fahrenden Ritters, eines „knight-errant“ naht (bei Lewis Spence ein nicht näher bestimmter „youth“²⁰): [A] knight-errant sprung up, who discovered some means of countervailing the charms used by this syren, and even laid a plot for her destruction, which she only escaped at the moment of extreme hazard, by taking the form of a wren; but though she evaded instant annihilation, a spell was cast upon her, by which she was condemned on every succeeding New Year’s Day, to reanimate the same form, with the definitive sentence, that she must ultimately perish by a human hand. In consequence of this well authenticated legend, on the specified anniversary, every man and boy in the island (except those who have thrown off the trammels of superstition), devote the hours between sun-rise and sun-set, to the hope of extirpating the fairy […].²¹
Der fahrende Ritter vermag offenbar als Einziger die Zaubersprüche der Tehi-Tegi durch einen Gegenzauber wirkungslos zu machen und erscheint damit als der noch größere Zauberer. Er stellt ihr eine Falle, die Hexe kann in Zaunkönig-Gestalt entkommen, aber sie wird fortan dazu verdammt, Jahr für Jahr in dieser Gestalt gefangen, gebunden und erschlagen zu werden. Hier also wird die Sage wiederum an die konkrete Ritualpraxis angeschlossen. Der tote Körper der Zaunkönigin (die auch als „a spirit of the sea“ verstanden wurde, „which haunted the ,herring trackʻ“²²) diente den Heringsfischern als Schutz und Talisman, die Federn „preserved with religious care.“²³ Die Verbindung eines sirenenartigen Seewesens, einer Nixe, mit einem kleinen Landvogel, ausdrücklich einem ,Höhlenbewohnerʻ ist auffallend, es ist schwierig einzusehen, wie ausgerechnet der Zaunkönig diese weiblichen wie maritimen Charakteristika entwickelt haben sollte, insbesondere diese spezifisch sexuelle wie regenerative Wirkmacht, die allerdings zurückgehalten wird und erst durch das Habhaftwerden des Vogelkörpers freigesetzt und wirksam werden kann. Spence vermutet wohl zu Recht (seine fragwürdige Interpretation des Zaunkönigs als „druidic bird“²⁴
Spence 1949, S. 156. Bullock 1816, S. 370 f. Spence 1949, S. 157. Bullock 1816, S. 371. Siehe Spence 1949, S. 156.
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kann an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben), dass die Zauberin in dieser Tradition so nicht ursprünglich gewesen sein könne, entsprechend eine Verwechslung vorliegen müsse auf formaler, nomineller Ebene: I am of opinion that in the Isle of Man the wren-spirit became confused nominally with Ran, the Norse goddess of the sea, whose name and legend must have been well known in an aera so thickly settled by Norse folk as was Man. And this, I feel, accounts for the circumstance that in Man the wren was regarded as female and that a maritime connection with the bird was unknown elsewhere.²⁵
Eine ,mythische Konfusionʻ also zwischen „wren“ und „Rán“, die als lediglich lokale Sonderform betrachtet werden müsse, sie habe gar nichts mit der Zaunkönig-Legende zu tun, wie wir sie sonst fänden, kurz: „In the first instance the wren can have had no association whatever with the Norse goddess Ran“.²⁶ Tatsächlich scheint wohl eine Kontamination zwischen zwei zunächst unterschiedlichen mythischen Konzepten stattgefunden zu haben, gerade die weibliche, vogelhafte Wasseraffinität wird woanders zu suchen sein, aber sollte dann wirklich eine schiere Namensähnlichkeit dieses Ähnlichkeitsempfinden angestoßen haben? Für einen bizarren, letztendlich seinerseits unmotivierten Vogel-Kult? Und dabei ist wohl nicht einmal die Frage, welcher Mythos hier mehr Anspruch auf Nativität erheben könnte, für Spence scheint klar, dass die Hunt-the-Wren-Traditionen importiert sein müssen, was indes kaum wahrscheinlich ist, immerhin ziehen sie sich durch nahezu den gesamten (ehedem) keltischen Kulturraum. Aber wo sollte sich die Meeresgöttin Rán vogelgestaltig zeigen, wo nähme sie auf merkwürdig fetischhafte, ritualpraktische Weise Einfluss auf das Gedeihen, die Prosperität der Menschen?
11.2 Die Bachstelze Nun bezeichnet der nordische Vogelname rindill den Zaunkönig auf gleiche Weise wie die (durch und durch wasseraffine) Bachstelze. Eine wie auch immer geartete Gemeinsamkeit, ein Ähnlichkeitsempfinden muss also angenommen werden, und sei es zunächst nur aufgrund sprachgeschichtlicher Evidenzen. Tatsächlich scheint es aber nicht nur Verwechslungen oder Indifferenzen zwischen Goldhähnchen und Zaunkönig gegeben zu haben, auch zu gewissen Bachstelzenarten scheinen kaum Unterschiede empfunden worden zu sein.²⁷ Über die Gründe lässt sich spekulieren: Bei der Bachstelze ist es eine ganz besondere Eigenart in ihrer (natürlichen) Verhaltensweise, die ihr in zahlreichen Sprachen, im Lateinischen, Griechischen, vermutlich auch im germanischen Sprachbereich zu ihrem Namen verholfen hat: das unablässige Auf-
Spence 1949, S. 157. Spence 1949, S. 158. Vgl. Keller 1913, S. 84.
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und Abwippen des Schwanzes. Ihren lateinischen Namen Motacilla erklärt schon Varro: Motacilla quod semper movit caudam (mota- < movere „bewegen“ und -cilla „Wipperin“), und wenn auch gerade in dieser durchaus ansprechenden Erklärung eine volksetymologische Neumotivation vermutet wird, so erscheint der Vogel auch bei Hesych als σεισοπυγίς „Steißwipper“. Auch die neuhochdeutsche Bachstelze ist kaum die, „die im Bach stelzt“.²⁸ Kluge/Seebold vermuten eine Umdeutung aus einer ursprünglicheren Bedeutung des Vogelnamens, „der mit dem Schwanz wippt“ (ähnlich mundartlich Wippstert, kwikstaart, ne. wagtail).²⁹ Über den Zaunkönig wird von einer ähnlich charakteristischen Art der Bewegung berichtet, von einem „almost continual bobbing of his head“,³⁰ einem pausenlosen, ruhelosen Wippen und Schaukeln mit Kopf und Schwanz, von einem ähnlich auffallend steil in die Höhe gestellten Schwanz. Es könnte also diese gemeinsame Eigenart gewesen sein, die im nordeuropäischen Raum zu einem ähnlich ,synkretistischen Bachstelzenzaunkönigʻ geführt hat.³¹ Nun scheint die Bachstelze im mittel- und nordeuropäischen Raum kaum mythische Spuren hinterlassen zu haben im Gegensatz zum Zaunkönig, der es immerhin zu einiger Prominenz in der folkloristischen Überlieferung, im Märchen und volkstümlichen Brauchtum gebracht hat. In der östlichen, sibirischen, japanischen Kosmogonie hingegen nimmt die Bachstelze einen ganz besonderen, in diesem Sinne gewiss einschlägigen Platz ein: Zu Beginn aller Zeit erhält das Urelternpaar Izanagi und Izanami von den Himmelsgöttern einen Schöpfungsauftrag. Sie senden den ,großen Juwelenspeerʻ, mit dem Izanagi ins Urmeer stößt und darin rührt, bis die Salzflut, die davon abtropft, an manchen Stellen gerinnt und festes Land, die ersten Inseln, erscheinen. Der phallisch sexuelle Einschlag dieses Gründungsaktes ist klar ersichtlich, die Inseln selbst erscheinen somit als Produkt einer geschlechtlichen Zeugung,³² eines Geschlechtsakts, den in der Folge das Paar nun selbst ausüben will. Aber es ergibt sich ein Problem. In einer Nebenversion (Variante V des Nihongi) heißt es:
Wenn auch in einer gegebenenfalls Neumotivation weist doch das Erstglied auf den bevorzugten Aufenthaltsort des Vogels an feuchten Geröllhalden und schlammigen Uferzonen hin, siehe griech. auch σχοινίλος „Binsenvogel“, Motacilla melanocephala (Keller 1913, S. 84). Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Bachstelze“. Lawrence 1997, S. 21. Siehe die entsprechend vorgeschlagene Verbindung zu ríða, allerdings nicht in der Bedeutung „winden, flechten“ (wie bei de Vries angeführt), vielmehr als „hin und her bewegen“, „schütteln“ (an. etym. Wb 1962, „ríða 1“). Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „riða“: riða, að, „to tremble as from age or infirmity“; riða, u, f. a shivering fever, ague; „in mod. usage the trembling of the head and hands from age or infirmity“. Von einer noch allgemeineren, typologischen Perspektive aus wäre an die strudelförmige Rotationsbewegung des Sampo (respektive Grotti-Mühle) zu denken (siehe Kap. 6.2) im großen kosmologischen Schöpfungsgeschehen, aber ebenso an alltagsmagisches Handeln mittels einem Spinnwirtel.
11.2 Die Bachstelze
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Schließlich waren sie im Begriff, miteinander den Koitus auszuüben, aber sie verstanden die Kunst nicht. Da war eine Bachstelze, welche herbeigeflogen kam und ihren Kopf und Schwanz hin und her bewegte. Die beiden Gottheiten sahen es und ahmten es nach und fanden so die Methode des Koitierens heraus.³³
Tatsächlich wurde in diesem Uranfang, noch bevor überhaupt Sonne, Land und Götternachwuchs erschaffen sind, die Bachstelze mit einem besonderen Auftrag zur Erde geschickt: Sie soll das Urpaar die Ausführung des Geschlechtsverkehrs lehren. Ein Mythologem, das keineswegs als lediglich schwankhafter Einschub betrachtet werden darf, wohl wird es als mehr und mehr anzüglich empfunden und entsprechend in der Texttradition verdrängt, in den bildlichen Darstellungen der Ureltern fehlt der Vogel aber selten. In den Schöpfungsmythen der Ainu (eine indigene Ethnie Japans, die genetisch und phänotypisch nicht den ostasiatischen, sondern den nordsibirischen Populationen zugerechnet wird) ist die Funktion der Bachstelze noch urtümlicher. Auch hier erscheint sie als Aufklärungshelfer der unwissenden Ahnen, zunächst aber erhält der Vogel selbst den allerersten Schöpfungsauftrag, die Trennung von Wasser und Land: In the beginning the world was a great slushy quagmire. The waters were at that time hopelessly mixed up with the earth, and nothing was to be seen but a mighty ocean of bare, sloppy swamp. All the land was mixed up with, and aimlessly floating about in, the endless seas. All around was death and stillness. Nothing existed in this chaotic mass and nothing stirred, for it was altogether incapable of sustaining life; […]. By and by the great God – the true God – determined to render the world inhabitable. He, therefore, made a water-wagtail, and sent him down from heaven to produce the earth. When he descended and saw what a dreadfully shocking condition the elements were in, and how they were mixed up in confusion, he was almost at his wits’ end to know how to perform his allotted task. But he thought of a way, for he fluttered over the waters with his wings, trampled upon the muddy matter with his feet, and beat it down with his tail, till, after a very long time of fluttering, trampling, and tail wagging, dry places appeared, and the waters became the ocean. In this way the worlds were gradually raised, and made to stand out of the waters, and caused to float about upon them.³⁴
Hier dient der unermüdlich wippende Schwanz zur Bearbeitung der schmutzigen, noch ungetrennten Urwasser, bis schließlich festes Land entsteht. Das mythische Denken nutzt also auf zweifache Weise die natürliche biologische Eigenart des Tieres für einen Wissensrahmen der besonderen Art: Der aquatische Schwellenbewohner wird zum Ersten, zur Ersten schlechthin. Es spricht einiges dafür, dass wir in Beyla, der Ehefrau Byggvirs (dessen vogel-, mutmaßlich zaunköniggestaltige Natur oben dargelegt wurde) eine dermaßen Verkörperung einer Bachstelze sehen müssen. Die Etymologie ihres Namens ist unsicher genug. Am problematischsten bei der Suche nach Anschlussmöglichkeiten hat sich auch hier (ähnlich wie bei Byggvir) die Orientierung am Konzept der ,Dienerhaftigkeitʻ
Numazawa 1946, S. 157. Batchelor 1901, S. 34 f.
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und ,Bedeutungslosigkeitʻ erwiesen. Aber es sei erinnert, auch Beyla kann sich einfach ins Gespräch einmischen und Thors Ankunft ankündigen, ja Loki unverhohlen damit drohen. Genau genommen ist sie es, die (noch nach Sif) einen endgültigen Schlussstrich unter die Anfeindungen Lokis zieht. Dieser Umstand wirft wiederum eine Reihe von Fragen auf: Warum sollte sich ausgerechnet ein Thor die Mühe machen, Loki wegen einer ,Magdʻ zum Schweigen zu bringen? Warum sollte einer Dienerin im Göttersymposium die Ehre des Schlussakkords zuteilwerden? Wer könnte das einer „Frau Bohne“ (< *Baunilo) oder der „Kuh“ (< an. baula), dem „Bienlein“ (an. bý „Biene“ < *bíu-iló)³⁵ zugestehen? Und merkwürdig genug, wie bitterböse Loki darauf antwortet.³⁶ Loki beschimpft eine deigja, eine ,Kuhmagdʻ,³⁷ als „größten Schandfleck“ unter den Asen, „ganz und gar mit Unheil vermischt“ (oc meini blandin mioc). Das sind auch aus dem Mund eines notorischen Lästerers schwere Vorwürfe – und Beyla teilt sie ausgerechnet mit Freyja, der göttlichen Hure (vgl. Ls 32). Ókynian meint eine Schande für das eigene Geschlecht, vielleicht tatsächlich in der Ausgangsbedeutung (wenn auch so nicht bezeugt) ein „schändliches Sexualverhalten“,³⁸ ein Verhalten jedenfalls, „das aus der Art schlägt“,³⁹ und das offenbar gerade weil sie Byggvirs Frau ist (Ls 56: þú ert Byggvis qvæn). Es mag sein, dass in neuskandinavischen Dialekten deigja „Milchmagd“ bedeutet (allerdings erscheint das Wort in dieser Bedeutung niemals im Isländischen, vgl. Cleasby/Vigfusson), aber man wird wohl zunächst getrost bei der ursprünglichen Bedeutung „Kneterin“ (< an. deig „Teig“⁴⁰) bleiben können. Wie auch immer dieser ,Teigʻ im Weiteren beurteilen werden soll (das semantische Spektrum dieses Werkstoffs scheint jedenfalls weit), die Bearbeitung von Kornprodukten gehört in jedem Fall dazu. Man kann davon ausgehen, dass es hier um eine Anspielung auf einen charakteristischen Zug und/oder Tätigkeit Beylas geht, die gegebenenfalls in einer wie auch immer gearteten Beziehung zu ihrem Ehemann steht: Denn ob nun Grundstoff der Brotherstellung oder Grundstoff der Bierherstellung, Brotteig wie Maische sind gleichermaßen ein gärender, sich zersetzender Kornbrei,⁴¹ selbst die Arbeitsschritte
an. etym. Wb 1962, „Beyla“. „Þegi þú, Beyla! þú ert Byggvis qvæn, / oc meini blandin mioc; / ókynian meira koma með ása sonom, / ǫll ertu, deigia, dritin“ (Ls 56). („Schweig, Beyla! Du bist Byggwirs Frau / und stark mit Unheil vermischt; / kein größres Schandmal kam zu den Söhnen der Asen, / ganz bist du Milchmagd, beschissen“). Simek vermutet, kaum wahrscheinlich, eine mythische Funktion als „Beschützerin der Milchwirtschaft“ (vgl. Lex.Simek 2006, „Beyla“, S. 51). Vgl. Sturtevant 1943, S. 286: „,disgraceful sexual conductʻ > (with shift of gender to neuter) ,a woman guilty of such conduct, one who (through such conduct) is a disgrace to her sexʻ.“ Komm.Edd. Lokasenna, von See et al. 1997, S. 492. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „deig“, „deigja“; „deigr“: „deigr (moist), deigja (wetness, dump), deigla, digull (a sort of clay), the fundamental notion being plasticity.“ Grundsätzlich möchte Dumézil bei seinem Interpretationsansatz von einer ähnlichen Annahme ausgehen: „[D]eigja must have been chosen for a nuance of meaning, for its clear relationship with deig dough (German ‚Teigʻ)“ (Dumézil 1973b, S. 101). Aber seine Ableitung des Namens von bý, „Biene“ (+
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sind bis zu einem gewissen Punkt identisch.⁴² Aber ebenso ist damit überhaupt feuchte, formbare Materie gemeint: Erde, Dreck. Hier zeigt sich Beyla in ihrer mutmaßlichen Bachstelzennatur ‒ ob in Anbetracht ihres biologischen Lebensraums oder in Ausübung ihrer mythischen primordialen Pflichten ‒ ganz und gar mit Schlamm und Kot verspritzt.⁴³ Es ist die schmutzige Arbeit, die sie zu Anbeginn der Zeit verrichten muss. Aber die Boshaftigkeit Lokis geht tiefer, er spielt wohl auch auf die ,Drecksarbeit‘ im übertragenen Sinne an, sehr genau scheint er um die weiteren, buchstäblich schlüpfrigen Konnotationen des Vogels zu wissen, um jenes charakteristische Verhalten, das in vielen Teilen der Welt dem Vogel als Laszivität, als Imitation des Geschlechtsaktes ausgelegt wird. Ganz ohne Böswilligkeit wird die Bachstelze in Japan Ochiu-chiri genannt, „bird of passion“ oder „desire“, „because he has strong sensual desires.“⁴⁴ Bei Loki freilich wird Beyla zur deigia
Diminutiv -la) zu „Bienlein“ bietet dafür kaum überzeugende Anknüpfungspunkte (wenn auch immerhin soweit bedenkenswert, dass die Biene mit dem Honig den wichtigsten Grundstoff zu einem alkoholischen Getränk, dem Met liefert): Deigja beziehe sich dann auf die Herstellung der Bienenwaben, dritin auf die mit Blütenstaub oder dem Tau des Weltenbaums verschmutzte Biene, der schließlich (laut Gylf 16) mit weißem Schlamm beworfen werde. Da aber nun eine personifizierte Biene in der Welt der Götter schwer vorstellbar sei, müsse dieses Motiv der Fantasie des Poeten entsprungen sein. Und eine angedichtete Ehefrau könne eine Entsprechung nur in einem fiktiven Ehemann haben (vgl. Dumézil 1973b, S. 104 f.). Vgl. Dumézil 1973b, S. 103. Er verweist auf den eigentlichen Sinn des Verbs blanda als „to mix“, insbesondere in Verbindung mit der Herstellung von Met. Aber auch beim Herstellungsprozess des Biers wird dieses Wort verwendet: In der Hymiskviða ist es Bestandteil eines Eigennamens. Hier heißt es, der Meerriese Ægir sei barnteitr „heiter wie ein Kind“ gewesen, mioc glícr megi miscorblinda, „sehr ähnlich dem Sohn Miskorblindis“ (Hym 2). Ægir wird bekanntermaßen von den Göttern dazu auserkoren, für sie Bier zu brauen. Thor und Týr machen sich also auf den Weg und Thor bringt sein Anliegen vor (gar nicht als Bitte, sondern auffallend unhöflich und kurz angebunden). Sogleich scheint denn auch die Laune des Riesen ins Gegenteil umzuschlagen und er verlangt zunächst einen passenden Kessel. Nun wird unter dem Ausdruck mǫgr Miskorblinda üblicherweise Ægir selbst verstanden, Miskor- könnte zu einem mhd. meisch „Maische“ gestellt werden (vgl. Gutenbrunner 1940, S. 13 f.). Kluge/Seebold halten einen Anschluss an die Wortsippe von ,mischenʻ zumindest für möglich (vgl. Kluge/Seebold 2002, „Maische“). *Miskorblendi wäre dann derjenige, der die Maische mischt, also ein ,Bierbrauerʻ. Nun ist aber die Annahme, dass Miskorblindi ein Epitheton von Ægirs Vater Fornjótr sein müsse, nicht zwingend, er gleicht dem ‚Sohn eines Bierbrauersʻ, von einer Identität ist nichts gesagt (vgl. Reichardt 1933, S. 132); siehe auch Gutenbrunner 1940, S. 13: „[S]o daß der Hinweis auf Miskorblindi dem Hörer an dieser Stelle etwas über den Charakter oder die Rolle des Aegir sagen sollte.“ Vielleicht müssen wir eine ähnliche Kenning vermuten wie bei Suttungs synir der Alvíssmál, damit wäre der ,Sohn des Maische-Mischersʻ einfach der Alkohol. Ægir wäre dann betrunken. Deigja könnte dann als Synonym zu Miskorblindi aufgefasst werden: Bierbrauerin. Damit würde sich eine weitere Übereinstimmung zu ihrem Ehemann auftun, indes nicht zu Byggvir, ,dem Vogelʻ, sondern zu Byggvir, dem ,Alkoholmannʻ. Siehe auch an. etym. Wb 1962, „ertla“: „bachstelze, motacilla fusca“, ae. earte „bachstelze“; lat. ardea „reiher“; serb. róda „storch“, griech. ἄρδαλος „Dreckfink“ zu ἄρδα „Schmutz“ (dazu lat. ardalio „geschäftig tuender Müßiggänger, Schlemmer“, vgl.Walde/Hofm. 1965 – 1972, „ardalio“; „ardea“; Frisk 1960 – 1972, „ἄρδᾰ“). Batchelor 1901, S. 75.
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dritin, nicht nur die ,schmutzige Kneterinʻ, sondern auch die hemmungslose, die sich in einer noch abgründigeren, skatologischen (indes typisch lokiesken) Komponente beschmutzten lässt: [D]ritin beschimpft er sie, „beschissen“, zu dríta, „seine Notdurft verrichten“. Und ausdrücklich ergänzen hier Cleasby/Vigfusson: „esp[ecially] of birds“.⁴⁵
11.3 Rindr ‒ lymphanti similem reddidit Nach diesen mytho-ornithologischen Vorüberlegungen rückt nun eine weitere nordische mythische Wesenheit in den Blickpunkt, die im Baldermythos eine ganz besondere, bedeutsame Rolle spielt. Ihr Name gleicht der altnordischen Bezeichnung für „Bachstelze“, rindill, am auffallendsten: Es ist Rindr, die Mutter des so genannten Balder-Rächers Bous (die Snorri immerhin unter die Asinnen einordnet). Ein Zusammenhang ist diesbezüglich noch nicht hergestellt worden, aber schon aus formalen und metrischen Gründen wird von einer ursprünglicheren Form *(V)rindr ausgegangen werden müssen (siehe Rindr berr Vála í vestrsǫlum, „Rind gebärt Wali in den Westsälen“, Bdr 11), was in gutem Einklang stünde zu den frühen Belegen des Zaunkönig-/Bachstelzennamens rindill/vrindill (vgl. ahd. rentilo < wrendilo). Bevor indes auch eine wesenhafte Vogelhaftigkeit Rindrs und damit etwa eine Verbindung zu östlichen wie westlichen Bachstelzen-Mythen überlegt werden kann, muss zunächst die mythische Ausgestaltung der Rindr genauer untersucht werden. Den einzigen, dafür umso umfangreicheren und detaillierteren Bericht zu ihr liefert Saxo Grammaticus (siehe Gest.Dan. 3.4): Odin (Othinus) zeugt mit der rutenischen/russischen Prinzessin Rindr (Rinda) den Rächer Balders, indem er massiven, magischen Zwang auf sie ausübt ‒ eine wichtige Episode des Baldermythos, auf die sich indes im weiteren nordischen Kontext bestenfalls Anspielungen und kleinere Hinweise finden lassen. Es gibt den wertvollen Hinweis in der Sigurðardrápa (3) des Kormákr, wo es heißt, Odin habe Rindr durch einen Zauber bezwungen (seið Yggr til Rindar).⁴⁶ In der isländischen Version fehlt indes diese bemerkenswerte Episode gänzlich, die Rachethematik, die als so zentral im Baldermythos immer wieder hervorgehoben wurde,⁴⁷ wird hier auf keine Weise mit der Zeugung eines Sohnes in Verbindung gebracht. Váli, wie der Rächersohn im Isländischen heißt, tritt überhaupt nicht in Aktion (wenngleich seine Existenz an anderer Stelle (Gylf 36) stillschweigend voraussetzt gesetzt wird). Die Racheaktion betrifft ausschließlich Loki, die aber wiederum von der versammelten Göttergemeinschaft ausgeführt wird. Bei Snorri fällt also, merkwürdig genug, nicht nur die Rache an Hǫðr, dem ,eigentlichenʻ Schützen und Mörder, komplett aus, auch Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „drit“: fugla-d[rit], dufna-d[rit] (drit, n., mod. dritr, engl. dirt). Finnur Jónsson (Hg.) 1912b–1915. Nicht zuletzt durch Snorri selbst, etwa wenn er Gylfi die ,drei Hohenʻ am Ende der Schilderung der tragischen Umstände, die zu Balders Tod geführt haben, fast reflexhaft fragen lässt, ob denn diese infame Tat nicht gerächt worden sei (Gylf 50).
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von einem Sohn, der schließlich eigens zu diesem Zwecke gezeugt worden sein soll, weiß er im expliziten Kontext des Baldertodes nichts zu berichten. Die Vǫluspá (32) kennt einen namenlosen Balder-Rächer, der von einer namenlosen Mutter geboren wird. Das Eddalied Baldrs draumar weiß indes gut Bescheid über „Rind,Walis Mutter“ (die östliche Prinzessin, die gleichwohl hier ausgerechnet in den „Westsälen“ gebiert). Auch Saxo weiß genau genommen wenig von der Rachetat als solcher, noch weniger vom designierten Täter Bous zu berichten. Unspektakulär und blass erscheint der Rächer beim sonst so wortreichen Saxo, ja der Racheakt wirkt auch hier gar nicht wie das eigentliche Telos der Erzählung, und scheint, man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, ähnlich wie bei Snorri eher pflichtschuldig angehängt. Es ist die spektakuläre Vergewaltigungsepisode Rindrs, die eindeutig im Zentrum seines Interesses steht, sie zeigt sich gut strukturiert und als geschlossenes Ganzes. Nun erzählt Saxo folgendermaßen: Odin/Othinus wird nach Balderus Tod geweissagt, dass nur die russische Königstochter Rinda den Göttern einen adäquaten Balder-Rächer gebären könne, und so beginnt Odin ebenso hartnäckig wie niederträchtig ein allerdings denkbar schwieriges Unterfangen: Ihm verkündete der Finne Rostiophus (Rossdieb), es werde ihm ein anderer Sohn erweckt werden von der Rinda, der Tochter des Russenkönigs, welcher den Mord seines Bruders bestrafen würde; […]. Als Othin das vernahm, verdeckte er sein Antlitz mit einem Hute, um nicht durch sein Aussehen verraten zu werden und begab sich zu dem erwähnten Könige, um bei ihm Dienste zu nehmen. Er wurde von ihm zum General gemacht, erhielt ein Heer und brachte einen schönen Sieg über die Feinde nach Hause. […]. Auf diese Verdienste bauend weihte er nun heimlich den König in seine Liebe ein. Durch dessen wohlwollende Begünstigung ermutigt, bat er die Jungfrau um einen Kuss, erhielt aber einen Backenstreich. Jedoch weder die schmachvolle Behandlung noch der Ärger über die Beleidigung konnten ihn von seinem Vorhaben abbringen.⁴⁸
Als nächstes tritt Odin als kunstfertiger Schmied auf, er versucht Rindr mit einem schönen Schmuckstück zu gewinnen. Gerade in dieser Sequenz ist die Ähnlichkeit von Odin und Wieland, dem ebenso versierten wie skrupellosen Schmied, oft bemerkt worden. Sind es indes bei Othinus mehrere aufeinanderfolgende abenteuerliche Aktionen, in denen er auf jede erdenkliche Weise Tabus bricht, moralische wie körperliche Grenzen überschreitet, sind es bei Wieland eher Transformationen hin zu einer mehr und mehr überirdischen Daseinsstufe. Nicht einmal das schöne Schmuckstück kann als harmloses Geschenk betrachtet werden, wir müssen schließlich als Refe-
Gest.Dan. 3.4: At Othinus, quamquam deorum praecipuus haberetur, divinos tamen et haruspices ceterosque, quos exquisitis praescientiae studiis vigere compererat, super exsequenda filii ultione sollicitat. Plerumque enim humanae opis indiga est imperfecta divinitas. Cui Rostiophus Phinnicus alium filium ex Rinda Rutenorum regis filia suscitandum praedixit, qui fraternae cladis poenas exigere debebat; […] Hoc audito, Othinus os pileo, ne vultu proderetur, obnubens praedictum regem stipendia meriturus accedit. A quo magister militum effectus, recepto exercitu, pulcherrimam ex hostibus victoriam retulit. […] Quibus meritis fretus tacite regem amoris sui conscium facit. Cuius benignissimo favore recreatus, dum a puella osculum peteret, alapam recepit. Nec eum aut contumeliae deformitas aut iniuriae dolor proposito depulit.
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renzrahmen die Gewaltexzesse eines Wieland/Vǫlundr im Hinterkopf haben, die er ebenso mit grimmigem ,Ringe-Biegenʻ einleitet: Sein geschmiedeter Ring führt die Königstochter Bǫðvildr, möglicherweise sogar unter magischem Einfluss, direkt in die Höhle des Löwen, wo sie wehrlos gemacht werden kann.⁴⁹ Die kluge Rinda hingegen lässt sich nicht täuschen, sie erkennt sogleich die böse Absicht: Aber Abneigung lässt sich durch keine Wohlthaten besänftigen. Als er Rinda einen Kuss geben wollte, schlug sie ihm einen derben Backenstreich. […] Die energische Jungfrau war sich völlig klar darüber, dass der listige Alte mit seiner falschen Freigebigkeit es nur auf einen Weg für seine Wollust abgesehen habe. Ausserdem war ihr Sinn hart und nicht zu beugen, denn sie begriff, dass die Gefälligkeit nur ein Deckmantel für eine List sei, und dass hinter dem Schenkeifer nur ein böser Wunsch lauere. Der Vater tadelte sie heftig, dass sie die Heirat ausschlage; ⁵⁰
Rindr weist Odin aber auch als gewandten Reiter grob zurück, wieder versetzt sie ihm eine Ohrfeige, diesmal dermaßen heftig, dass er mit dem Kinn auf die Erde aufschlägt.⁵¹ Man mag sich an den alternden Starkaðr (Starcatherus) und seinen absichtlich herbeigeführten eigenen Totschlag (Gest.Dan. 8.8) erinnert fühlen, wie der abgetrennte Kopf des Helden posthum in die Erde beißt, aus lauter Ingrimm, wie es heißt. In diesem buchstäblichen ‚ins Gras Beißenʻ, ‚in die Erde Beißenʻ⁵² könnte indes noch ursprünglicher eine magische Abwehrmaßnahme für den gefährlichen (Un)toten vermutet werden.⁵³ In jedem Fall ist dies eine bemerkenswerte Handlungsweise für
Auf einer strukturell ähnlichen Ebene sind wohl die verhängnisvollen Schmuckstücke in der Truhe des Schmiedes zu verorten, die die beiden kleinen Königssöhne unwiderstehlich anziehen. Erst in ihrem magischen Bann gefangen, ist es um sie geschehen, Wieland kann ihnen mit dem schweren Truhendeckel die Köpfe abschlagen (Vkv 23 f.). Gest.Dan. 3.4: Sed nullis flecti meritis indignatio potest. Quem Rinda basium sibi porrigere cupientem colapho percussit. […]. Non dubitavit enim pervicacis animi puella, quin subdolus senex libidinis aditum ficta liberalitate captaret. [6] Praeterea acre eidem atque intractabile ingenium fuit. Siquidem dolum obsequio instrui donorumque studio flagitii votum subesse cognovit. Quam pater plurimum obiurgare, quod nuptias detrectaret, aggressus est. Gest.Dan. 3.4: Quam cum discessurus osculo petere vellet, ita ab ea propulsus est, ut mentum terrae nutabundus impingeret. („Als er ihr beim Abschiede einen Kuss aufdringen wollte, wurde er von ihr so kräftig zurückgestossen, dass er taumelnd mit dem Kinne auf die Erde stiess“). So schon bei Homer (Il. 2, 418) erwähnt als drastisch anschauliches Bild des Todeskampfes des Kriegers. Siehe den mittelalterlichen Brauch der so genannten ‚Notkommunionʻ: Menschen steckten sich vor einem plötzlichen, drohenden Tod noch Erdbrocken in den Mund als Hostienersatz (vgl. Segl 1990, S. 175, zit. n. Alzheimer 2014, S. 78). Auch habe man ohne Beichte Verstorbenen Erde in den Mund gelegt mit der Begründung, damit die Erde sie nicht ‚drückeʻ und sie so Ruhe fänden. Vgl. Alzheimer 2014, S. 79 mit Verweis auf Fehrle 1930, Sp. 906 f.: „Weitverbreitet ist die Sitte, sterbende Menschen auf die E[rde] zu legen. […] oder man legte dem Sterbenden […] E[rde] in den Mund, auf die Brust oder unter das Kinn. […]. In Wierland schiebt man mit dem linken Fuß dreimal E[rde] auf den Sarg, um die ‚Heimgängerʻ abzuhalten.“ Alzheimer warnt hier vor „voreiligen Magie-Interpretamente[n]“ und würde bei diesem Phänomen lieber Liturgiewissenschaftler zurate ziehen (vgl. Alzheimer 2014, S. 79), aber auch wenn hier christliche Synkretismen nicht auszuschließen sind, so scheint doch der Gedanke zugrunde zu liegen, dass die Zauberkraft der Erde die Bannung des Toten bewirkt. Und Saxo berichtet
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eine junge Dame. Nicht nur Odin verhält sich hier nicht gendergemäß (zu guter Letzt erscheint er in Frauenkleidern), auch Rindr gibt sich unweiblich, unnatürlich aggressiv, männlich. Eine Art Geschlechter-Inversion also, die so typisch ist für liminale Situationen, Rindr verteilt Ohrfeigen und Prügel, bis sie schließlich ihrerseits eine Transformation, eine ,Geschlechtsumwandlungʻ, vom aggressiv männlichen Auftritt zur äußersten weiblichen Passivität und Schwäche erfährt. Bis dahin aber sehen wir einen heftigen Schlagabtausch, ein gleichrangiges, unentschiedenes Kräftemessen. Es ist manches Mal vermutet worden, dass Rindr ihrerseits einen magischen Zwang ausübt, um Odins Wirkmacht zu unterbinden: „She, too, is a worker of magic, and the contest between them may have been partly magical.“⁵⁴ Darüber erfahren wir indes bei Saxo nichts, zuletzt scheint ohnehin Odin um das potenteste Zaubermittel zu wissen. Er berührt Rindr mit einem Stück Baumrinde und macht sie damit rasend, lymphanti similem reddidit.⁵⁵ Hier steht zunächst die Bedeutung „den Verstand verlieren“, „wahnsinnig werden“ im Vordergrund, aber es finden sich auch sexuelle Konnotationen, im Sinne einer sexuellen Raserei oder Ekstase.⁵⁶ Der Ausdruck wird von ,Nympheʻ hergeleitet, dem weiblichen Wasserwesen, aber auch der ,Brautʻ, also ein (ob nun wesenhaft ,amphibischʻ oder temporär rituell) hochgefährlicher betwixt and between-Zustand einer Frau. Schließlich als Zauberin Wecha verkleidet, gelangt Odin in Rindrs Schlafzimmer, verrichtet dort geringste Dienerarbeiten, wäscht ihr sogar den Schmutz von den Fü-
noch von weiteren Zaubermaßnahmen: Starcatherus macht seinem Totschläger Hatherus den Vorschlag, zwischen seinem abgeschlagenen Kopf und Rumpf hindurchzugehen, um Unverwundbarkeit zu erlangen. Bekanntlich lehnt dieser den Vorschlag misstrauisch ab, aber tatsächlich ist diese Praxis im magisch rituellen Handeln bekannt als heilende, stärkende, aber auch zauberabwehrende Maßnahme. So wird in syrischen Märtyrerakten vom Schicksal der Hl. Tarbo berichtet, die der Verzauberung der persischen Königin beschuldigt wird. Um sie zu heilen, lässt man die kranke Königin durch die in zwei Hälften geteilten Leiber der Christin und ihrer Gefolgschaft gehen. Nicht zuletzt schreitet Jahwe selbst zur Festigung und unabdingbaren Einhaltung seines Bundes mit den Israeliten durch die zweigeteilten Opfertiere hindurch. Speyer möchte dies als eine Art „sympathetisches Ritual“ (Speyer 1980, S. 197) sehen, wer den Bund bräche, erlitte das gleiche Schicksal wie die Opfertiere (vgl. Speyer 1980, S. 196 f.). Hier geht es aber wohl um die (durch sympathetische Magie hergestellte) Unverbrüchlichkeit des Eides, ähnlich der magisch (wieder)hergestellten Ganzheit der kranken Königin. McKinnell 2005, S. 162. „Da berührte er sie mit einer Baumrinde, in die Zaubersprüche eingeschnitten waren und machte sie einer Rasenden gleich; so strafte er mit immerhin mässiger Rache die wiederholte schmähliche Behandlung.“ Auf eine Art magische Überwindung scheint auch in Grógaldr (6) angespielt. Gróa, die tote Mutter des Helden Svipdagr, weiß von einem Zauberlied, das (H)rani (= Odin) für Rindr gesungen habe: Þann gel ek þér fyrstan, þann kveða fjölnýtan, / – þann gól Rindi Rani, – / at þú of öxl skjótir, því er þér atalt þykkir; / sjalfr leið þú sjalfan þik. („Den sing ich dir als ersten, den man vielnutzend nennt / [so nicht richtig in der Übersetzung von Krause, d. Verf.]: – den sang Rind der Ran – / Dass du über die Schulter schiebst, was dir übel erscheint, / führ du selbst dich selbst.“ In jedem Fall gilt das ‚Über die Schulter werfenʻ als magisch apotropäischer Akt (vgl. Goldmann 1931, S. 72– 85); in Kombination mit dem Sprechakt, dem ‚Besingenʻ, „sind dies weltweit verbreitete Methoden des Schadenzaubers“ (Naumann 1996b, S. 245). Vgl. Hultgård 2007b, S. 764.
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ßen,⁵⁷ was von Saxo als Gelegenheit zur schamlosen Annäherung gedeutet wird, eine sexuelle Anzüglichkeit zweifelsohne, für einen Mann des nordischen Kulturkreises aber wohl auch denkbar würdelose Selbstdegradierung.⁵⁸ In eher ungeschickter (und wohl nicht ursprünglicher) Motivdoppelung⁵⁹ lässt Saxo die Prinzessin ein zweites Mal erkranken, und jetzt bietet sich Odin an, ein Heilmittel zu verabreichen, das indes so scharf sei, dass das Mädchen ans Bett gefesselt werden müsse. Der Vater stimmt in allem zu und so kommt Odin schließlich zum Ziel: Als der Vater das vernahm, liess er unverzüglich die Tochter binden und hiess sie, auf das Bett gelegt, alles geduldig aushalten, was der Arzt über sie verhänge; es täuschte ihn der Schein der Weiberkleidung, die der Alte benutzte, um seine zäh festgehaltene böse Absicht zu verschleiern; dieser Umstand machte es möglich, den Schein der Heilung zu einer Schändung zu benutzen. Der Arzt nämlich nutzte die Gelegenheit zum Liebesgenusse, liess den Heildienst bei Seite und eilte erst zur Ausübung seiner Lust und dann erst zur Vertreibung des Fiebers, indem er so die Krankheit der Jungfrau benutzte, von der er in ihren gesunden Tagen nur Feindschaft erfahren hatte.⁶⁰
Nun sind gerade im sehr zentralen Motiv der Fesselung der Rindr immer wieder Ähnlichkeiten zu einem anderen Liebesabenteuer Odins gesehen worden: ein wohl erhofftes, aber, wie es scheint, versagtes nächtliches Stelldichein mit der so genannten „Billings-Maid“ (Billings mey), von dem nur die Hávamál (95/96 – 102) zu berichten wissen.⁶¹ Ein ominöses Mädchen (das ansonsten gänzlich unbekannt scheint in der nordischen mythologischen Tradition) provoziert eins ums andere Avancen eines ,liebeskrankenʻ Odin, nur um sich diesem letztendlich höhnisch zu entziehen. Jetzt ist
Gest.Dan. 3.4: Cuius etiam pedum sordes serotinis horis abluere solebat; licebat quoque lympham pedibus ministranti suras ac superiores femorum partes contingere. („Er wusch ihr auch gewöhnlich am Abend den Schmutz von den Füssen; wenn er nun den Füssen das Wasser reichte, so konnte er auch die Waden und die Schenkel hoch hinauf berühren“). Vgl. Miklautsch 2002, S. 581, die gerade diese Episode (zusammen mit der Verwendung von Frauenkleidern) als massiven sozialen Abstieg Odins interpretiert. Die weibliche Verkleidung sei somit der letztendliche Hinweis auf die „Verwerflichkeit des Täters“, seine äußerste Pervertierung. Siehe Kunstmann 2020, S. 97: „Es ist davon auszugehen, dass nicht in erster Linie die Vergewaltigung Rindrs den eigentlichen Tabubruch innerhalb dieser Episode darstellt, sondern vielmehr der Auftritt des Gottes in Frauenkleidern.“ Vgl. McKinnell 2005, S. 159. Gest.Dan. 3.4: Quo pater audito filiam vincire non distulit iniectamque toro ad omnia, quae medicus admovisset, patientiam praestare iussit. Fallebat illum feminei species cultus, quo senex ad obumbrandam artis suae pervicaciam utebatur; quae res medicamenti speciem ad stupri licentiam transtulit. Medicus namque, Veneris occasione sumpta, mutato curationis officio, prius ad exercendae libidinis quam pellendae febris negotium procurrit, adversa puellae valetudineqr usus, cuius inimicam sibi incolumitatem expertus fuerat. Vgl. Komm.Edd. Hávamál, von See et al. 2019, S. 758.
11.3 Rindr ‒ lymphanti similem reddidit
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es Odin, in merkwürdiger Verkehrung der Situation, der vor Verlangen brennt, leidet,⁶² wenngleich wir bedenken müssen, dass dieser auch bei Rinda durchaus nicht nur von einem gewissen Fortpflanzungspragmatismus getrieben scheint, sondern ausdrücklich von einer „leidenschaftlichen Verliebtheit“ (Veneris occasione sumpta).⁶³ Für ein Treffen mit der jungen Frau muss sich der verliebte Gott der Hávamál offenbar zunächst ins „Schilf“ begeben (er ec í reyri sat [Háv 96]) und dort ausharren.⁶⁴ Dann wechselt die Szenerie, nun ist der Ort der Liebeshändel auf einmal das Bett der Schönen, auf dem Odin sie schlafend ‒ „sonnenglänzend“ (sólhvíta) ‒ vorfindet. Als nächstes scheinen die Ereignisse zu eskalieren und eine „Kriegerschar“ mit „brennenden Fackeln und geschwungenen Hölzern“ (at in nýta var vígdrót ǫll um vakin; með brennandom liósom oc bornom viði [Háv 100]) weisen Odin einen „beschwerliche[n] Weg“, wie er selbst beklagt. Zu guter Letzt findet er eine gefesselte Hündin – anstelle der Jungfrau – in deren Bett vor.⁶⁵ Eine äußerste Schmach (háðungar hverrar [Háv 102]), dennoch aber wird die Ersehnte durchgehend mit Epitheta versehen, die sich auf ihre ganz offensichtlich geistige Überlegenheit beziehen, ausdrücklich vom „kluge[n] Mädchen“ (horsca mær [Háv 96]; horsca man [Háv 102]), von der „guten Frau“ (góðo kono [Háv 101]), der „weisen Frau“ (iþ ráðspaca fljóð [Háv 102]) ist die Rede, von einer trotz allem bewundernswerten Könnerschaft, die uns nicht einmal unbekannt erscheint. Vielleicht müssen wir also noch einen Schritt weitergehen und nicht nur eine auffallende Ähnlichkeit, sondern vielmehr eine Identität der beiden Gestalten konstatieren, will heißen, Rindr/Rinda und Billings-Tochter sind ein und dieselbe. Damit könnten die Hávamál eine unterdrückte Tradition wiedergeben, wie wir sie in Saxos Version immerhin noch angedeutet sehen. Nicht nur Saxo, auch der Verfasser der Hávamál hat seine Quelle umgeformt, mutmaßlich nach einem Vorbild, wie es schon lange für das Eddagedicht vermutet wird. Es passt zu dessen besonderer, tendenziöser Funktion: ein warnendes exemplum, auf welche Weise das unbeständige Wesen der Frau gerade in Liebesdingen dem Mann zuzusetzen vermag. Auf diese Weise kann ausdrücklich die Erfolglosigkeit Odins in den Mittelpunkt gestellt werden, nur dieser Aspekt ist an dieser Stelle von Bedeutung. Bekanntlich ist Klaus von See jener früheren Überzeugung, dass in der Spruchdichtung ein Zeugnis ursprünglichs-
Hugr einn þat veit, er býr hiarta nær, / einn er hann sér um sefa: / ǫng er sótt verri hveim snotrom manni, / enn sér ǫngo at una. („Das Verlangen allein weiß es, das beim Herzen wohnt, / es allein kennt das Gemüt: / Kein Leiden ist ärger dem klugen Mann, / als unglücklich zu sein“ [Hav 95]). Vgl. Hultgård 2007b, S. 765. Þat ec þá reynda, er ec í reyri sat / oc vættac míns munar; / hold oc hiarta var mér in horsca mær, / þeygi ec hana at heldr hefic. („Das erfuhr ich da, als ich im Schilf saß / und die Erfüllung der Begierde erhoffte; / Fleisch und Herz war mir das kluge Mädchen, / doch ich bekam sie trotzdem nicht“ [Háv 96]). Es könnte allerdings, durchaus unentschieden, auch reyrr der „Steinhaufen“, genauer, „der über e[inem] Leichnam aufgeworfene[ ] Steinhaufen“ gemeint sein, ein Grab also, eine Örtlichkeit, die dem Nekromanten Odin zumindest näher stünde als das prima facie befremdliche Röhricht. Oc nær morni, er ec var enn um kominn, / þá var saldrót um sofin; / grey eitt ec þá fann innar góðo kono / bundit beðiom á (Háv 101). („Und gegen Morgen, als ich zurückgekommen war, / da war das Gesinde eingeschlafen; / eine Hündin fand ich da aufs Bett der guten Frau gebunden“).
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ter, ,bäuerlicher‘ germanischer Denkart zu sehen wäre, zu Recht entgegengetreten, wenngleich er damit keineswegs bestreiten möchte, dass im Gedicht Altes, Paganes, „allerlei altes Überlieferungsgut“ enthalten sei.⁶⁶ Dennoch aber müsse es im „Zusammenhang mittelalterlicher europäischer Literaturbeziehungen“ gesehen werden.⁶⁷ Die Ähnlichkeit zum Spruchgedicht Hugsvinnsmál, seinerseits eine altnordische Bearbeitung der Disticha Catonis (eine anonyme Sammlung von Lebensweisheiten in lateinischer Sprache des 3./4. Jhs.), sei schließlich unbestritten.⁶⁸ Aber auch unmittelbare Einflüsse auf die Hávamál müssen angenommen werden.⁶⁹ Das heißt, man kann neben Nachahmungen, Nachdichtungen ebenso von lediglich Beeinflussungen, Angleichungen ausgehen, Anähnelungen von durchaus ursprünglichem nordischem, magisch mythischem Wissen an (spät)antike Wissenskonzepte. Wie stark diese „Kontamination“⁷⁰ ausgefallen ist, muss allerdings in jedem einzelnen Fall entschieden werden. So wenig bei der nachfolgenden Gunnlǫð-Erzählung der Hávamál (und dem damit verbundenen Raub des Dichtermets) von einem Liebesabenteuer Odins die Rede sein kann, so wenig dürfte das für die Billings mey-Episode zutreffen. In beiden Fällen ist die trickreiche, zauberische Überwältigung eines weiblichen mythischen Wesens nicht schiere Bedürfnisbefriedigung, vielmehr Mittel zum, wenn man so will, höheren Zweck. Für den Billings mey-/Rinda-Mythos scheint wahrscheinlich, dass Vorstellungen des antiken (römisch griechischen) Liebeszaubers eingedrungen sind, und die Koppelstelle zwischen dem nördlichen und dem antiken Kulturkreis ist der magische wie mythische Wissensrahmen eines – Vogels.
11.4 Jynx torquilla Die Verrücktheit, die fiebrige Raserei der Rinda, hervorgerufen durch ein eingeritztes Rindenstück des Othinus, gleicht in allen Einzelheiten den Wirkungen der römischen defixiones amatoriae. Die mit Fluchsprüchen versehenen Bleiplättchen dienen im Liebeszauber dazu, den Begehrten, in den weitaus häufigeren Fällen indes die Begehrte buchstäblich zu fixieren, zu fesseln und dem Willen des Ausführenden zu unterwerfen.⁷¹ Dabei müsse, so Edith Kollegger, innerhalb dieser „erotische[n] Defi Vgl. von See 1972, S. 2. von See 1972, S. 2. Vgl. von See 1972, S. 4. Vgl. von See 1972, S. 9 f. von See 1972, S. 1. Noch in der christlichen Spätantike ist dies bekannte, gängige Zauberpraxis. So berichtet Hieronymus (um 400) in der Vita S. Hilarionis eremitae, wie eine junge Christin mittels eines „Täfelchen[s] aus kyprischem Erz, in das zwingende Worte (tormenta verborum) und schreckliche Bilder (portentosas figuras) eingeritzt waren“ (Kollegger 2013, S. 6), in den „Liebeswahnsinn“ getrieben wurde, so dass diese schreiend und wie besessen zum Haus des jungen Mannes rannte, der dieses gefertigt hatte (vgl. Kollegger 2013, S. 6).
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xionen“ bezüglich ihrer Wirkweise noch einmal unterschieden werden: Der Trennungszauber (διάκοπος) soll die (für den Zaubernden hinderlichen) sozialen Kontakte der Bezauberten unterbinden, die αγωγή, der „Beibringe-, Zubringungs- oder herbeizwingende[ ] Zauber“, bewirkt das Herbeiziehen zum Zwecke der „Vereinigung mit dem Urheber der Defixion“⁷² und erlöst damit erst das Opfer aus eben jenem unerträglich qualvollen, manischen Zustand, den der Zaubernde erschaffen hat. Das Wissen um die Existenz dieser Praktiken war antikes Allgemeinwissen, deren mitunter drastischen Effekte wie Ursachen beliebte Motive auf Kreationen nahezu sämtlicher „Disziplinen antiken Kunstschaffens, von bemalten Tongefäßen, Skulpturen, Wandbildern, Mosaiken, Sarkophagen etc. bis hin zu filigranen Schmuckgegenständen“⁷³: Wie etwa der Liebesgott Eros Liebende wie Geliebte malträtiert mit einem Equipment, das Folterwerkzeugen gleicht, mit Pfeil und Bogen, mit brennenden Fackeln, Fesseln, Peitschen, mit dem Stachelstab (κέντρον), mit dem er die noch Zögerlichen zur Eromanie aufreizt. Regelmäßig wird er dabei aber auch selbst zum Opfer: Die Nymphe Psyche, in die er sich bekanntlich unsterblich verliebt hat, zeigt sich kaum weniger sadistisch in der Behandlung ihres Angebeteten. Siehe etwa eine Abbildung des Eros, „gefesselt und von Psyche mit einer Fackel gebrannt“, darüber die Inschrift „Wie du mir, so ich dir.“⁷⁴ Nahtlos jedenfalls scheinen im „battlefield of Eros“⁷⁵ Liebesfantasien (vor allem wenn sie enttäuscht wurden) in Rachefantasien überzugehen. Und ein Bleitäfelchen aus Messina erscheint gerade für unseren nordischen Zusammenhang besonders aufschlussreich: Das Täfelchen wurde in einem geschlossenen Grabhügel entdeckt, wohin es, wie in vielen weiteren Fällen, absichtsvoll verbracht wurde, um sich die (in diesem Fall verhängnisvolle) Unterstützung der Toten zu sichern. Die Inschrift lautet: „(I bind) Valeria Arsinoe, the bitch, the dung worm, the criminal, and useless Arsinoe. (I bind) Valeria Arsinoe, the criminal, sickness, the bitch, putrefaction.“⁷⁶ Es vereint Verwünschungen, wie sie allesamt als erzählte Motive, als (bereits eingetretene) Zustände in den nordischen Quellen erscheinen: die Rasende, Kranke, die σκύζα, „die läufige Hündin“, die Nymphomanin – als Gefesselte. Bekanntermaßen macht der Zauberspruch, der Sprechakt (mit dem aufgeschriebenen Wort ohnehin als jüngste Version) nur einen Teil der magischen Aktion aus, weitaus am wichtigsten ist das rituelle Handeln, der Akt sympathetischer magischer Übertragung, der Herstellung einer magischen Konkreszenz. Die Hündin auf dem Bett mag Billings mey selbst sein, die buchstäbliche Verkörperung der Rachefantasien eines enttäuschten Odin, andererseits aber gehört das Fesseln von (kleinen) Tieren,
Kollegger 2013, S. 73. Kollegger 2013, S. 7. Siehe Kollegger 2013, S. 134. Daneben finden sich aber auch Abbildungen etwa auf magischen Gemmen, wo Eros die zu Boden gezwungene, gefesselte Psyche mit Pfeil und Bogen drangsaliert, mit der erklärenden Überschrift δικαίως [„zu Recht“] (vgl. Kollegger 2013, S. 134). Kollegger 2013, S. 73. Seite A: Βαλερίαν Αρσινόην την σκύζαιν σλωλ[λ]ηκες την αμαρτωλον Αρσινόην κ(αι)μελέαν. Seite B: Βαλερίαν Αρσινόην την αμαρτωλον νόσος, την σκύζαν [αν] σηψις (vgl. Kollegger 2013, S. 91).
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ausdrücklich auch Hundewelpen, zur gewissermaßen Voodoo-Praxis des antiken Zauberwesens.⁷⁷ Das heißt, die junge Frau könnte diese Technik angewendet haben, weniger um Odin zu demütigen, als vielmehr ihrerseits eine αγωγή, einen Herbeiziehungszauber zu vollziehen, um Odin mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die Qualen der ‚brennenden Fackeln‘ und ‚gebogenen Hölzer‘⁷⁸ wären dann nichts anderes als (mythisierte) Entsprechungen (oder Nachahmungen) zu jenen grausamen Torturen, denen sich Liebende, Menschen wie Götter, in den antiken griechischen und römischen Quellen typischerweise ausgesetzt sehen. Den weitaus nachhaltigsten Erfolg, um diesen Effekt zu erlangen, verspricht indes ein anderes Tier in Verbindung mit einem Objekt, von dem am frühesten Pindar (Pind. P. 4, 213 – 219) berichtet⁷⁹: Aphrodite habe als Erste dem Jason einen ominösen Zaubergegenstand vom Olymp gebracht, um Medea unentrinnbar in ihn verliebt zu machen: ein ,Zauberrad‘, die ίυγξ. Der Name leitet sich wiederum von einem Vogel ab, dessen natürliche biologische Verhaltensweise als perfektes Analogon für menschliches Liebesgebaren erschien, das Rad als Mittel der Wahl, im Bedarfsfall diesen Habitus (künstlich) hervorzurufen und auf ein menschliches Opfer zu übertragen. Gemeint ist Jynx torquilla, der nhd. „Wendehals“: „For purposes of defense or of courtship-display during the mating season, it elongates and twists its neck about, turning its head in all directions with a quick rotary movement.“⁸⁰ Seine wüsten Verdrehungen, seine schlangengleichen, zischenden Laute gerade zur Paarungszeit, diese so offenkundig manische Verrücktheit wurde nun durch einen perfiden Mechanismus, ein Rad, auf das er gebunden wurde und das seinerseits in eine rasche Rotation versetzt werden konnte, ins Unnatürliche, Exzessive, Magische gesteigert.⁸¹ Die Zaubertechnik der Rotation, wie wir bereits gesehen haben, ist alt und wohl in (überkulturellen) Körpererfahrungen gegründet. Interessant genug wird als Vorläufer der ίυγξ das Symbol des (schon babylonischen, später griechischen) Sonnenrads vermutet (später als ρόμβος bezeichnet), zunächst ein einfaches vierspeichiges Radsymbol, das indes auf gleiche Weise schon früh mit Vögeln assoziiert scheint.⁸² Eine
Vgl. Faraone 1993, S. 16. Svá kom ec næst, at in nýta var / vígdrót ǫll um vakin; / með brennandom liósom oc bornom viði, / svá var mér vilstígr of vitaðr (Háv 100). („So kam ich bald, da eine treffliche / Kriegsschar auf Wache stand; / mit brennenden Fackeln und geschwungnen Hölzern / wurde mir ein beschwerlicher Weg gewiesen“). Archäologische Zeugnisse erscheinen indes schon im 8. vorchristlichen Jahrhundert (vgl. Nelson 1940, S. 443). Nelson 1940, S. 447. „Described as ,a mad bird pinned to a four-spoked wheel‘, this iunx has occasioned much discussion and confusion. It is usually argued or assumed that a sympathetic ,spinning‘ motion lies at the heart of the magical operation, and that the victims of such a magical device are to be similarly whirled about and disoriented that they yield to the demands of the practitioner“ (Faraone 1993, S. 1 f.). „The more immediate antecedents of our iynx-wheel are found in the Greek geometric solar wheel, usually of bronze, with one or more birds seated or standing upon it. A solitary bronze bird, pierced for suspension, standing on a horizontal wheel, was a frequent form of votive offering“ (Nelson 1940, S. 446).
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Art „mimic sun“, die wiederum als konkretes Zaubergerät die kosmische Rotationskraft der Sonne magisch nachahmen wie provozieren konnte.⁸³ Entsprechend fand das Sonnenrad (im Gegensatz zur singulären Verwendung der ίυγξ als Liebeszauber) in vielfältigen magischen Riten ihren Platz, in großen staatstragenden wie in individuellen Fruchtbarkeits-, Regen-, Mondzauber. Diese unmittelbare Verbindung der Erregung einer kosmischen Regenerationskraft mit der Erregung individueller sexueller (Regenerations)kraft, in deren Mittelpunkt ein gebundener Vogel bzw. das menschliche Analogon zu diesem steht, findet sich in allen Einzelheiten im keltischen Zaunkönig-Brauchtum, im Manx-Mythos um das böse Zwitterwesen, die Nymphe Tehi-Tegi, es findet sich im Billings-mey-Mythos,⁸⁴ im Besonderen aber im nordischen Rindr-Mythos. Dann überrascht es auch kaum mehr, dass der Wendehals nicht nur in seinen volkstümlichen Zuschreibungen der Bachstelze bis aufs Haar gleicht (er gilt auf gleiche Weise als κίναιδος, „unzüchtiger Mensch, Wüstling“, als ζῶον ἀδικώτατον, „das ungerechteste Lebewesen“), manches Mal wird er auch mit dem gleichen Namen belegt: σεισοπυγίς, „der Steißwackler“.⁸⁵ Rindr, die (wenn auch unfreiwillige) Sexbesessene, die Nymphomanin, wäre dann als die Nymphe, das amphibische Wesen zu verstehen, die Verkörperung von Ambiguität in jeder Hinsicht. Saxo steigert sogar noch die Abartigkeit der Verbindung, indem er auf Vermutungen anderer verweist, dass der Vater insgeheim der Vergewaltigung seiner Tochter zugestimmt habe,⁸⁶ was als Hinweis gelesen wird, dass
Bezeichnenderweise ist auch das Sonnenrad in der griechischen Mythologie mit einer grausamen Bestrafung verbunden: Ixion, ein (ursprünglicher) Mensch, der eine Reihe schrecklicher Freveltaten begangen hatte, wurde von Zeus auf ein „geflügeltes feuriges Rad mit vier Speichen“ gebunden und dazu verdammt, auf Ewigkeiten dessen Rotation mit zu vollziehen (vgl. Weizsäcker 1894). Die mythische Qual des Ixion findet somit eine Entsprechung in der rituell hergestellten Qual des Vogels Iynx und anderer Surrogate: „Pindar tells us that the bird was bound to the wheel and then alludes to the subsequent actions (whipping and burning) […]. See […] for parallels from extant magical texts, from which we can deduce that small animals were bound […], mutilated […] and burnt […] (Faraone 1993, S. 14, Anm. 49). Siehe die antike Bezeichnung σχοινίλος „Binsenvogel“ für eine mutmaßliche Unterart der Bachstelze, Motacilla melanocephala (Keller 1913, S. 84). Insofern wäre immerhin zu überlegen, ob der Name Billings mey vielleicht weniger als die Tochter eines ansonsten unbekannten Billingr zu lesen wäre als vielmehr als „Zwitter-Mädchen“, als ,Wasser-Mischwesenʻ schlechthin. Vgl. Engelmann 1894. Vgl. Miklautsch 2002, S. 581. Auch Miklautsch verweist auf die „ungewöhnliche Allianz“ zwischen Vater und Liebhaber, was sie als ‚Männerbundverpflichtungenʻ deuten möchte.Wir könnten darin auch Hinweise auf eine extreme Misogynie vermuten, ähnlich wie sie die Folkloristen auf der Insel Manx beobachteten. Insbesondere muss aber wohl an den perfiden Effekt des antiken Liebeszaubers gedacht werden, der ausdrücklich die Lösung sozialer Bande des Opfers mitbeinhaltet. So oder so ist dieses Verhalten auf keine Weise in den mittelalterlichen Sittenkodex einzuordnen und zeigt sich damit seinerseits als Pervertierung herrschender Normen.
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mehrere Varianten dieser Episode in Umlauf gewesen sein müssen,⁸⁷ die sich sogar widersprochen haben könnten gerade in der Zuweisung von Gut und Böse: Ich will auch noch eine andere Meinung von der Sache anführen: Einige behaupten nämlich, der König habe den Arzt heimlich seine Tochter beschlafen lassen, damit er den wohlverdienten Mann nicht um den gebührenden Lohn bringe, als er gesehen, dass der Liebeskranke mit seiner grossen geistigen und körperlichen Anstrengung nichts ausrichte.⁸⁸
Saxos Haltung zu dieser Freveltat ist also keineswegs so unmissverständlich, wie es eigentlich bei seiner unbeugsamen moralischen Prinzipientreue zu erwarten wäre. Er äußert gar ein gewisses, wenn auch verhohlenes Verständnis für Odins Handlungsweise, Rindrs kompromisslose, ja aggressive ,Sprödigkeitʻ scheint insgeheim auch sein Missfallen zu erregen, letztendlich sei Odin doch ein „wohlverdienter Mann“, dem sein „gebührender Lohn“ vorenthalten werde. Die Verzauberung Odins, seine magischen Machenschaften, seien doch nachvollziehbar, eine bestenfalls „mässige Rache“ für die schließlich „wiederholte schmähliche Behandlung“. Hier scheint ein versteckter zweiter Diskurs durchzuscheinen, der in Saxos Bearbeitung indes, wie so oft, bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist: Mit allen Mitteln versucht Odin, Rindr gefügig zu machen, von Stufe zu Stufe wird er niederträchtiger und gewalttätiger. Aber Rindr wird ihr geschicktes Parieren nicht unbedingt positiv ausgelegt, es erscheint vielmehr – kaum anders als bei der Manx-Zauberin oder der Billings mey – wenn nicht als Heimtücke, so doch als unverständliche, spröde Sinnesart. Erstaunlich genug reagieren gerade die Götter in der Entrüstung, wie man sie von Saxo erwartet hätte, als empörte Moralapostel, die Odin mit Schimpf und Schande aus ihrer Gemeinschaft verbannen. Sie nehmen ihm „jede Ehre“ und verweisen ihn „ins Elend“. Gleichzeitig ergreift sie allerdings auch eine merkwürdige Endzeitstimmung, „die Vernichtung stand ihnen vor Augen, die Furcht im Herzen“, mors prae oculis, metus in animis erat (Gest.Dan. 3.4). Weder ihre Brüskiertheit noch die Untergangsahnungen passen als Konsequenz zu einem der üblichen Liebesabenteuer Odins, die bis dato die Göttergemeinschaft ohnehin unberührt gelassen hatten. Aber die Merkwürdigkeiten gehen weiter, nach Ablauf seines (zehnjährigen) Exils steht Odin reicher denn je da, und er kann sich seine erneute Führerschaft regelrecht wieder erkaufen: Gewisse Quellen berichten, er habe die Götter teils durch Kriecherei, teils durch Geschenke bestochen und den Besitz der verlorenen Majestät durch Geld erkauft und habe sich die Rückkehr zu
Vgl. Hultgård 2007b, S. 764. Gest.Dan. 3.4: Aliam quoque ea de re opinionem subtexere non pigebit: aiunt enim quidam, quod, cum rex laborantem amore medicum tanto animi et corporis impendio nihil profecisse cognosceret, ne bene meritum debita mercede fraudaret, clandestino filiae concubitu potiri permiserit.
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den Ehren, die er schon lange verloren hatte, durch Aufwendung einer grossen Summe verschafft.⁸⁹
Dann berichtet er weiter: Nachdem aber Othin die Abzeichen der Göttlichkeit wiedergewonnen hatte, erstrahlte er über den ganzen Erdkreis in solchem Glanze des Ansehens, dass alle Völker ihn wie ein der Welt wiedergeschenktes Licht ansahen, und kein Ort auf der Welt war, der sich nicht der Macht seiner Hoheit beugte.⁹⁰
Nimmt sich nicht auch diese Schilderung der Rückkehr eines Exilanten übertrieben aus, umso mehr als sie offenbar bestenfalls durch Bestechungsgelder zustande gekommen sein soll? Aber es scheint ja hier wohl nichts anderes als der postapokalyptische Zustand gemeint zu sein, den Saxo zu euhemerisieren versucht, die schöne neue Welt nach Ragnarǫk.⁹¹ Und diese neue, erneuerte Welt konnte offenbar nur entstehen mithilfe von Rindr, nur sie scheint dieses Potenzial in dieser ,Stunde Nullʻ in sich getragen zu haben. Beim Aufeinandertreffen von Odin und Rindr geht es also keineswegs ausschließlich um (menschliche) Nachfolge (wenn wir die Rachethematik ohnehin kaum mehr bemühen wollen, zumindest nicht mehr an erster Stelle). Der Baldermythos selbst weist weit über dieses Ahnen-Konzept hinaus, es geht nicht nur um die Zeugung eines neuen Stammhalters, um den Beginn einer Ahnenreihe. Es ist gleichzeitig Endzeitgeschehen, die Welt steht an einem endgültigen, unumkehrbaren Systemende, wenn auch diese End-Gültigkeit weniger im Sinne einer endlichen Zeitlichkeit zu verstehen ist als vielmehr einer endgültigen Differenzierung, der Festlegung eines buchstäblich end-gültigen Status quo. Die Überwältigung der Rindr ist ebenso Endzeit- wie Anfangs-Konnubium und deshalb in jedem Sinne grenzwertig, gewalttätig, pervertiert. Darüber hinaus freilich scheint dieser absolute Anfang neben seinen unterdrückten kosmologischen Dimensionen⁹² mit dem durchaus nicht gewöhnlichen Motiv des materiellen Reichtums verbunden. Odin scheint im Exil zu Geld gekommen zu sein. Wir könnten es Saxos selten ganz glücklichen Euhemerisie-
Gest.Dan. 3.4: Sunt qui asserant eum quosdam deorum adulando, quosdam praemiis permulcendo amissae maiestatis fortunam pecunia emercatum fuisse et ad honores, quibus iam pridem defunctus fuerat, ingentis summae pretio reditum comparasse. Gest.Dan. 3.4: At Othinus, recuperatis divinitatis insignibus, tanto opinionis fulgore cunctis terrarum partibus enitebat, ut eum perinde ac redditum mundo lumen omnes gentes amplecterentur, nec ullus orbis locus exstaret, qui numinis eius potentiae non pareret. Vgl. Abram 2011, S. 207. Saxo verwendet gerade an dieser Stelle in auffallender Häufung Begriffe des Strahlens und des Glanzes (fulgore, enitebat, lumen), und ausdrücklich ist es der wiedergewonnene Glanz. Er schreibt dies dem Verdienst des zurückgekehrten Othinus zu, was gleichzeitig impliziert, dass dies während der Interimsherrschaft des Ollerus nicht der Fall war. Auch auf lexikalischer Ebene findet sich also hier noch ein Hinweis auf die finsteren Zeiten vor dem Sturz Ullr/Ollerus, den wir bereits als Weltenbaum identifiziert haben.
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rungsversuchen zuschreiben, dass aus dem paradiesischen Überfluss des Schöpfungsanfangs eben ein finanzieller geworden sei, wenn nicht gerade dieses Motiv in der östlichen folkloristischen Tradition über die Bachstelze gut bekannt wäre. Bachstelzen-Mythologeme sind in östlicher Tradition (trotz ihrer Meidung in späterer Zeit) zunächst einmal positiv konnotiert, aber sie sind auch hier nicht frei von ambigen Zuschreibungen. Auch in der östlichen Konzeptionierung zeigt sich eine negative, gefährliche Seite. Und wie der Zaunkönig im europäischen Kulturkreis wird die Bachstelze in der japanischen und noch mehr in der Ainu-Mythologie nicht nur als zentrale Gestalt der Schöpfungsgeschichte verstanden, auch im rituellen Handeln, in Alltagsritualen ist es ihr Körper selbst (Federn, Knochen), der magische Wirkmacht besitzt: We are now about to learn that he [die Bachstelze, d. Verf.] first taught the ancestors of the Ainu race their duties to each other as husbands and wives, and that he has been known to act as Cupid in watching over love-stricken people. I find that some young Ainu men keep the skins and skeletons of these birds in boxes, as love charms, carefully wrapped up in inao shavings. These they sometimes worship, especially if their possessors are in love or want a wife.⁹³
Aber nicht nur in Liebesnöten verspricht der hochwirksame Fetisch eines solchen Vogelkörpers Abhilfe, ähnlich wie sein kultisches Pendant im römischen und griechischen Kulturkreis verhilft er ebenso zu Wohlstand und Reichtum, Prosperität, Fruchtbarkeit in einem ganz allgemeinen Sinn. Zunächst aber hat der Totschlag des in jeder Hinsicht sakrosankten Vogels, des Götterbegleiters der ersten Stunde, durchaus fatale Folgen für den Besitzer: It is through his kindly offices of instruction that men increased and multiplied in the world. He is known to be a good charm, and therefore to be highly prized. Once upon a time a man killed one of these birds, and used the body as a charm. It was soon observed that its possessor was becoming very lustful, and was continually getting into all kinds of trouble. He had to pay a great many fines for his misdeeds. This kind of thing lasted just six years. After that time had elapsed he repented, and completely turned over a new leaf, and grew very rich indeed. This was all owing to his possessing a water-wagtail as a charm.Whoever, therefore, keeps this kind of fetich must expect to be very wicked for the space of six years; but after that time he may, by exercising care, repent and grow rich.⁹⁴
Sechs Jahre lang wird der Totschläger zum asozialen Wesen, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, „very lustful“, lüstern, „very wicked“, eine heftige, kaum beherrschbare, verbrecherische Gesinnung ergreift ihn, fortwährend muss er für verübte Schandtaten zur Rechenschaft gezogen werden,⁹⁵ nach Ablauf dieses liminalen Aus-
Batchelor 1901, S. 75. Batchelor 1901, S. 76. Siehe die betrügerischen Zuschreibungen des Vogels im alten Ägypten: „Another bird, which is generally mistaken for the swallow […] is figured in the hieroglyphic legends as the type of an impure or wicked person. I believe it to be the wagtail, or motacilla; and it is worthy of remark that this bird is still
11.4 Jynx torquilla
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nahmezustandes schlägt seine Seelenverfassung wieder um, und die mächtige Transformationspotenz des Vogels beginnt zu wirken: Der Besitzer wird reich und, wichtig genug, wieder angesehenes Mitglied der Gemeinschaft. Die Logik eines magischen Denkmodells, das hinter dieser Ritualpraxis steht, scheint an das in jeder Hinsicht extreme, übergriffige, tabubehaftete Verhalten Odins (einschließlich der ungewöhnlich abweisenden Reaktion der Göttergemeinschaft) anschließbar.Vielleicht war es tatsächlich die Isle of Man, wo diese Gedankenmodelle aneinandergeknüpft wurden, wo von der ritualpraktischen Behandlung des einen Vogelkörpers auf eine Ähnlichkeit zum anderen geschlossen wurde. Der Zaunkönig scheint hier wie da Ahnenvogel, Totenvogel, die Bachstelze ist Vogel des Anfangs, niemals Totenvogel oder Ahnenverkörperung. Beyla, Rindr, die Manx-Hexe Tehi-Tegi sind mythische Entsprechungen, wenn auch deren nordische Charakteristika ‒ die skrupellose Aufreizung, die Chaos und Untergang erst bewirken (Tehi-Tegi), die strikte Weigerung, Chaos und Untergang abzuwenden (Rindr), die verabscheute Praxis in der Abwendung von Chaos und Untergang (Beyla) ‒ kaum Entsprechungen finden in den unbefangenen, uneingeschränkt positiven Konnotationen des Ostens.⁹⁶ Der Anfangsvogel Bachstelze und der Ahnenvogel Zaunkönig treffen hier aufeinander, um einen Anfang zu machen, eine Genealogie zu begründen, die im chaotischen Außen, im ,Noch nichtʻ oder ,Nicht mehrʻ, dem Tod, Balders Tod, verankert werden muss. Im Norden stehen diese beiden Helfervögel entsprechend in einer sehr alten Verbindung zu den Ahnengöttern Balder und Freyr. Auch die AinuUrsprungsmythen kennen einen Spitzenahn mit der üblichen Ambiguität des toten Vorfahren, der Gründergestalt, halb im Historischen verankert, aber auch gleichermaßen in eine sagenhafte, ungenannte Vorzeit versetzt: der Gott Okikurumi, der wiederum manches Mal identifiziert wird mit der historischen Gestalt eines japanischen Helden Yoshitsune. Von ihm überliefert Batchelor eine Legende, die in ihrer Unentschiedenheit, ihrer Vagheit, ja überhaupt dem Fehlen einer nachvollziehbaren Quintessenz auffallend ist und ihn, wenngleich ein guter Kenner der Ainu-Kultur, auf gewisse Weise ratlos lässt. Die Erzählung beginnt medias in res: The great Okikurumi fell deeply in love; he became very ill, yea, exceedingly love-sick; he lost his appetite and bodily strength; he lay down in his hut in sullen despair, and would eat neither good food nor bad; he was, in short, ready to die of love. And, mark you, all this happened through taking just one glance at a beautiful woman. „Dear, dear!“ says the legend, „how badly he felt!“.⁹⁷
called in Egypt ,Aboo fussád‘, the father of ,corruption‘, as if in memorial of the hieroglyphical character assigned to it by the ancient Egyptians“ (Wilkinson 1841, S. 213 f.). Angesichts der wohl östlichen Herkunft des Bachstelzen-Mythos ließe sich überlegen, ob für den Eigennamen Beyla ein Lehnwort aus einer nichtindoeuropäischen Sprache in Frage kommen könnte. Vgl. Proto-Mongolian: *bila- „to smear, plaster“, [w]ritten Mongolian: bila-, Khalkha: b´ala-, Buriat: bila-, Ordos: bila-; Proto-Altaic: *bilč‘i, „to mix, knead“, Proto-Mongolian: *bilča- „to become flat and watery; to smear all over“, Proto-Tungus-Manchu: *bilča- „to mix (flour), to glue“, Proto-Korean: *pi`č„to mix up, brew“ (Starostin und Starostin 1998 – 2014). Batchelor 1901, S. 77 f.
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Die Legende berichtet nun (auf etwas umständliche Weise, mit Kommentaren des Ainu-Informanten oder des ethnologischen Berichterstatters selbst gespickt), wie es dazu kam: Ein schönes junges Mädchen (eine Göttin?) sei vor die Tür ihrer Hütte getreten, und begeistert durch die Schönheit des Himmels verweilte sie einen Augenblick, um den Horizont zu betrachten. Okikurumi habe das Mädchen zu Gesicht bekommen, die Tatsache, dass sie sich rückwärts in ihre Hütte zurückgezogen habe, zeige, dass sie wohl auch ihn bemerkt haben müsse und ihm damit großen Respekt zollte. Um nun Okikurumi von seiner gefährlichen Krankheit zu heilen, wird die Bachstelze losgeschickt: A little bird, the water-wagtail, flew to the cause of this affliction – the object of his affections. Word was brought to her of his deep-seated love and critical condition. The pretty little bird wagged his tail, and whispered in the lady’s ear that if Okikurumi died the soul of Ainu-land would also depart. […]. Then two chirps and three chirps came to her and touched the inside of her ears, and what she heard was this: The mighty Okikurumi, who is governor of all Ainu-land, went out of doors for a little while, and seeing you, has fallen ill of love on your account. And though two bad fish and two good fish were placed before him for food he refused to eat. Therefore the bird begged her to have mercy upon poor Okikurumi for the sake of Ainuland.⁹⁸
Die Schöne lässt sich offenbar bewegen nicht zuletzt durch das anmutige Zwitschern an, ja in ihrem Ohr,⁹⁹ aber die Maßnahmen, die nun folgen, um den Gott zu ,heilenʻ, sind auf jede Weise befremdlich: eine Art Ersatz wird geschaffen von dem Mädchen, nicht sie selbst begibt sich zum tödlich Kranken: An unreal, unsubstantial woman was made in the likeness of the beauty with whom Okikurumi had been smitten. She was brought to his hut, and forthwith proceeded to arrange the mats, furniture and ornaments. Okikurumi took a sly glance at her through his sleeve; he was encouraged; he got up, rejoiced, ate food, was revived, and felt strong again. This done, the lady took her departure.¹⁰⁰
In vieler Hinsicht erinnert diese Erzählung an den nordischen Liebeskranken par excellence, an die Geschehnisse der Skírnismál, an Freyr und seinen Postillon d’amour Skírnir, an eine Aufgabe, die im Ainu-Mythos ausgerechnet die Bachstelze (wenn auch bedeutend charmanter) übernimmt. Es ist eine rituelle Braut, eine Totenbraut, die dem Ahnengott als Surrogat zur Verfügung gestellt wird, dem mächtigen Okikurumi, der gleichermaßen ,Herrscherʻ wie ,Seeleʻ des Ainu-Landes ist. Er muss bei Laune gehalten werden, „for the sake of Ainuland“, „if Okikurumi died the soul of Ainu-land would also depart“.¹⁰¹ Wie bei Freyr erscheint hier das Bild der tödlichen Liebes-
Batchelor 1901, S. 78. Vgl. Batchelor 1901, S. 80. Batchelor 1901, S. 78. Batchelor 1901, S. 78.
11.5 Nanna
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krankheit für den transzendenten, den Anderwelt-Zustand.¹⁰² Die ,Braut‘ arrangiert auf rituelle Weise wie eine Ehefrau die Bedürfnisse und Angelegenheiten eines Toten. Und liegt nicht Byggvir auf gleiche Weise seinem Herrn, Freyr, zwitschernd (vielleicht ebenso besänftigend oder aufmunternd) in den Ohren? [A]t eyrom Freys munðu æ vera („in den Ohren Freyrs wirst du immer sein“ [Ls 44]), bemerkt Loki verächtlich. Auch die Begegnung zwischen Gerðr und Freyr bleibt ähnlich vage, ungewiss, ob und wie eine Vereinigung zu Stande kommen würde. Bei Okikurumis Partnerin ist von vorneherein klar, es ist Betrug, Täuschung, ein act-as-if-Handeln, was im religiösen Kontext rituelles Handeln bedeutet, und beim verstimmten Ahnen scheint dies auch zum Ziel zu führen.
11.5 Nanna 11.5.1 Von Schwänen und Schmieden Die Sprödigkeit der Rindr ist oft verglichen worden mit der hartnäckigen Weigerung der Gerðr, Freyrs Avancen nachzugeben.¹⁰³ Aber wir sehen die gleiche unüberwindliche Abneigung in der Werbung Balderus um Nanna, den gleichen massiven Tabubruch, den gleichen unerhörten Grenzgang, der für Balder indes – als Einzigen – auch in der sichtbaren, narrativen Logik den tödlichen Übergang, den Tod meint. Auch mit Nanna, Balders Frau, werden wir in der Welt des Wassers bleiben, bei ihren natürlichen wie mythischen Bewohnern, Nixen, Wassermännern, Amphibien, nicht zuletzt Wasservögeln, wir bleiben bei gewaltsamen Grenzgängen, notorischen Grenzbrechern, erzwungenen Konnubien wie deren Folgen: dem Nachkommen. Um die Gestalt der Nanna besser zu verstehen, wollen wir zunächst einen weiteren mythischen Vergleichstext betrachten, der, wie bereits erwähnt, bemerkenswerte Übereinstimmungen zur Odin-Rindr-Episode zeigt. Gemeint ist die Vǫlundarkviða mit ihrem berühmten Protagonisten, dem Schmied Wieland/Vǫlundr. Auch die Vǫlundarkviða gibt sich auf der rein narrativen Ebene als Rachefabel, und auch hier spielt die Zeugung eines Kindes eine bedeutsame Rolle. Aber auch die Wielandsage ist ursprünglich keineswegs als Rachegeschichte angelegt, auch sie ist im Rahmen ihres neuen, heroischen Bezugsfeldes mehr oder weniger konsequent dazu gemacht worden. Sie ist wohl zu Recht stets als „exotischer Außenseiter“ der eddischen Heldenlieder betrachtet worden. Um deren Andersartigkeit, die „Ausnahmestellung“¹⁰⁴ sei-
Die Vergleichsstelle im Ainu-Mythos macht damit auch die Argumentation Anne Heinrichs (siehe Heinrichs 1997), den Freyr-Gerðr-Mythos (ausschließlich!) als typische mittelalterliche, christliche Darstellung einer Liebeskrankheit zu lesen, noch weniger wahrscheinlich. Wie überhaupt beide Werbungsepisoden so ähnlich erschienen, dass Neckel die Rindrepisode ursprünglich Freyr zuschreiben wollte (vgl. Neckel 1920, S. 216 f.). Krause 2001, S. 7.
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ner zentralen Gestalt Vǫlundr, seine „unorthodox nature“¹⁰⁵ wusste schon der Bearbeiter des Liedes und reihte es, gewiss korrekt, unter die Götterlieder ein.¹⁰⁶ Das Lied beginnt mit der Beschreibung des Vǫlundr und seiner Brüder Slagfiðr und Egill. Sie sind als Jäger und Schiläufer unterwegs und treffen eines Tages am Ufer eines Sees auf drei Frauen, die neben sich „Schwanenhüllen“, álptarhamir, also offensichtlich ein Vogelgewand abgelegt haben (Vkv 7 f.). Die Leserschaft wird also schon in der Prosaeinleitung auf Vogelwesen und ihr natürliches Habitat eingestimmt. Allerdings ist sich die Forschung bezüglich der Bedeutung dieser weiblichen Wasservogelwesen für die eigentliche Wielandsage eher uneins. Der Lied-Poet bezeichnet die Mädchen ausdrücklich als Walküren, Töchter des Königs Hlǫðvér (Chlodwig) und des Kjárr af Vallandi (etwa „Kaiser von Welschland (Italien)“). Und sie gehen einer besonderen Tätigkeit nach: Sie spinnen. In der Folge entwickelt sich nun eine romantische Liebesgeschichte zwischen den Vǫlundr-Brüdern und den drei Schwanenwesen, deren Ausgang indes ungewiss bleibt. Abrupt, ohne eigentliche Stringenz und Ziel endet die Episode, nach sieben Wintern verlassen die Mädchen ihre Männer und fliegen mit unbestimmtem Ziel davon. Und jetzt erfolgt ein (kaum geglätteter) Bruch im Erzählfortgang wie in der Gestalt Wielands selbst. Die Brüder Wielands machen sich auf die Suche nach ihren Frauen, Wieland bleibt als Einziger zurück und unversehens finden wir ihn als magischen Meisterschmied wieder beim ,Ringebiegenʻ. Man vermisst ein happy end, zumindest eine Fortsetzung des Eingangsmotivs, das in der folkloristischen Forschung gut bekannt ist als so genanntes Schwanenmädchenmotiv. Über die gesamte nordeurasische Halbkugel (über die paleosibirischen, altaischen, mongolischen Regionen, von China bis hin nach Korea und Japan) wird in unterschiedlichsten Variationen, Ergänzungen und Erweiterungen etwa folgende (hypothetische) Basisgeschichte erzählt: There is a story woven from several motifs in which a man forces a birdmaiden to become his wife by stealing her feather-robe while she is bathing, thus preventing her from flying off. The pair have children, and one day the bird-woman recovers her feather-robe and flies away with them. As a sequel, the man may pursue her to the other place to which she has returned.¹⁰⁷
Es geht also um eine unerhörte Grenzüberschreitung und ihre Folgen. Durch die magische Bindekraft des ,ersten Blicksʻ bzw. den Bruch eines Blicktabus muss sich eine aquatische Anderweltfrau, (meist) Schwanenfrau, in die Hand des Menschen geben und in eine Heirat einwilligen. Nicht alle wollen indes eine Vergleichbarkeit der Wielandmädchen mit dieser Gruppe von mythischen Wesenheiten so selbstverständlich annehmen. So sieht Egeler die Ähnlichkeit zu den „klassischen“ Schwanenmädchenfabeln nicht sehr groß, wie er ohnehin hier eher von einem ursprünglich nordischen Walkürenkonzept ausgehen möchte:
Motz 1986 – 1989, S. 50. Vgl. Krause 2001, S. 7. Hatto 1961, S. 326.
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Verwendet man hingegen die folkloristische Definition der Schwanenjungfrauengeschichte als Basis eines Vergleichs mit der Vǫlundarqviða, so ist deutlich, daß die Ähnlichkeit zwischen der klassischen Schwanenmädchengeschichte und der Vǫlundarqviða nicht sehr weit reicht: Die Schwanenmädchen der Vǫlundarqviða baden nicht, sondern spinnen. Nirgends steht, daß ihnen ihre Schwanen-hamir gestohlen oder daß die Frauen auf andere Weise zum Zusammenleben mit den Männern gezwungen werden; ganz im Gegenteil erweckt Strophe 2 den Anschein, daß die Beziehung von den Frauen eingeleitet wird.¹⁰⁸
Entsprechend könne man auch gar nicht von einem eigentlichen Schwanenmädchenmythos in der Vǫlundarqviða ausgehen: Die Ähnlichkeit zur folkloristisch definierten Schwanenmädchengeschichte ist also äußerst beschränkt. Eine Herleitung der Frauengestalten der Vǫlundarqviða aus dieser Wanderfabel scheint daher methodisch problematisch. Dieses Problem wiegt umso schwerer, als die Vǫlundarqviða den ältesten westeuropäischen Beleg für das Motiv darstellen würde.¹⁰⁹
Nun erscheint die Verbindung in der Tat freiwillig, ja die Mädchen wirken ihrerseits sehr ambitioniert und zugetan, sie müssen auf keine Weise erpresst oder gezwungen werden. Aber in vielen, auch so genannten klassischen Versionen erfolgt die Annäherung tatsächlich genauso vice versa: Die Anderweltfrau unternimmt ihrerseits mehr oder weniger starke Aktivitäten (meist genügen indes ebenso ihre schieren körperlichen Reize) zur Verbindung mit einem Menschenmann. Dem Mann (der manches Mal gar nichts ahnt oder bestenfalls ahnt von der anderweltlichen Herkunft seiner Frau) wird ein Sehtabu oder Fragetabu (nach Herkunft oder körperlicher Eigenart) aufgetragen. Erst die Übertretung zeigt ihm ihre wahre, monströse, amphibe, vogelartige, (wasser)schlangenhafte Wesenheit. Dann beendet der unerlaubte männliche Blick abrupt und meist spektakulär diese Beziehung zwischen den Welten, so wie er sie in anderen Versionen erst in die Wege leitet. Selbst jene Tätigkeit, die die nordischen Schwanenmädchen anstelle des Badens verrichten, das Spinnen bzw. als sehr verwandte Tätigkeit das Weben, findet sich im eurasischen Mythenkomplex. Der Edda Kommentar möchte sich nicht festlegen, ob dies als natürliche, übliche Betätigung von Frauen in diesem Zusammenhang zu sehen sei oder ob vielleicht doch eine höhere, symbolische Bedeutung dahinter zu vermuten sei.¹¹⁰ Aber die Webetätigkeit ist gewiss keine alltägliche Betätigung von Frauen am Wasser. Es gibt indes in der chinesischen und japanischen Mythologie die Vorstellung einer ,himmlischen Weberinʻ, die zum Wasser herabsteigt, um dort zu weben, oder die an einem (unterirdischen) Wasserort webt. Die Sonnengöttin Amaterasu webt in einer himmlischen Webehalle imi-hataya zusammen mit ihren Diene-
Egeler 2011, S. 70. Egeler 2011, S. 71. Siehe dazu auch Teichert, der die Einwände Egelers an dieser Stelle wohl grundsätzlich für bedenkenswert, aber „in der Summe eine Nuance zu hyperkritisch“ (Teichert 2018, S. 348) halten möchte. Vgl. Komm.Edd. Vǫlundarkviða, von See et al. (2000), S. 133f.
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rinnen. Es ist das Licht, ja der Kosmos selbst, den sie wirken.¹¹¹ Natürlich muss in diesem Zusammenhang auch an außerjapanische spinnende oder webende Göttinnengestalten gedacht werden,¹¹² die Nornen, Parzen, Moiren, die ebenso schicksalsbestimmend sind, aber eher für den einzelnen Menschen und sein individuelles Schicksal, wohingegen in der ,Heiligen Webe-Halleʻ der Sonnengöttin die buchstäbliche Wirklichkeit und Ordnung des kosmischen Gefüges als Gewirktes, als Gewebe entsteht. Jedenfalls muss mit einer Vielzahl von Abstufungen und Variationen in der Art dieser Annäherungen gerechnet werden, von einem Idealtyp, einem Archetyp, auf den man sich letztendlich oder gar ausschließlich berufen könnte, wird man ohnehin nicht ausgehen können. Wir müssen wohl eher von einer Art Mythenkontinuum sprechen, also einer Gruppe von Mythologemen mit einer mehr oder weniger großen Nähe zu einem Bedeutungskern. Aber tatsächlich wie angeklebt wirkt nach diesem romantischen Präludium die darauffolgende skrupellose Racheaktion Vǫlundrs gegen das Herrscherhaus des Königs Níðuðr. Unversehens avanciert er vom sanften Naturburschen zum bösartigen, gewalttätigen Schmied: Er zerstückelt Kinder, die beiden Söhne des Königs Níðuðr, und fertigt Schmuck und Gerätschaften aus ihren Körperteilen an, die Tochter Bǫðvildr betäubt er mit Bier, vergewaltigt und schwängert sie, um sich in der Erzähllogik für seine Gefangennahme und Verstümmelung seiner Beine durch den König und seine Frau zu rächen. Sein größter Triumph dabei, dass es sein Kind sein wird, das die Familiengenealogie als nunmehr einziger männlicher Nachkomme fortführen wird. Nicht zuletzt aufgrund dieser starken Diskrepanzen wurde erwogen, ob nicht gerade die Vogelähnlichkeit des Vǫlundr seinerseits (er konstruiert sich zu Ende der Geschichte einen Flugapparat, mit dem er entfliehen kann) die Fabel von den Schwanenjungfrauen recht eigentlich erst angezogen habe und dass weiters gar kein innerer Zusammenhang bestehen müsse. Aber wie auch immer man die Qualität dieser Verknüpfung im Folgenden beurteilen möchte, man nahm offensichtlich manch narrative Unplausibilität, manch lose Enden und Katachresen in Kauf für eine gemeinsame Überlieferung, und das deutet gerade weniger auf rein oberflächliche, formale Ähnlichkeiten, die sich gewissermaßen automatisch, mechanisch angezogen hätten, sondern auf einen weitaus engeren, historischen Zusammenhang zwischen Schwanen-Motiv und Schmied-Motiv: Aus irgendeinem (ganz offensichtlich nicht mehr bekannten) Grund schienen beide ,irgendwieʻ zusammenzugehören. Und in der Tat ist die Verbindung zwischen dem Schwanen-Motiv und dem Schmied-Motiv alt, diese spezifische Kombination von Erzählelementen kennt keineswegs nur der altnordische Bereich, sie findet sich auf gleiche Weise verbreitet bis Japan. Aber selbst wenn diese Symbolkombination bis in die Steppen Eurasiens zu-
Vgl. Naumann 1983, S. 19. Vgl. Naumann 1983, S. 17.
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rückverfolgt werden kann, ist sie doch auch dann am wenigsten selbstredend: Was sollte ausgerechnet den Schmied zum besten, will heißen plausibelsten Gefährten der Schwanenfrau machen? Der japanische Germanist Mitsunobu Ishikawa wollte im Bild des Schwans (bzw. noch allgemeiner im Bild eines weißen Vogels) die Tätigkeit des Schmieds selbst, das Metallhandwerk, die Metallverarbeitung mythisch ausgestaltet sehen. Die Verbindung hätte dann im Grunde genommen von einer naturmythologischen Vorstellung ihren Ausgang genommen: Licht, Feuer, Sonne seien mit einem weißen Vogel assoziiert worden und somit zur Kernsymbolik für das Metallhandwerk geworden, eine aitiologische Sage, die die Technik und Art der Metallherstellung auf mythische Weise erklärte.¹¹³ Nun kann Ishikawa wohl in einer Fülle von Belegen die Verbindung zwischen Schwanenmädchenmotiv und Schmiedemotiv als sehr fest und gut etabliert nachweisen, tatsächlich muss er aber ebenso feststellen, dass ausgerechnet in den ältesten Schwanenmädchenfabeln keineswegs der Schmied der mehr oder weniger übergriffige Heiratswillige und Grenzgänger ist – das freilich wäre nach seiner Theorie eine zwingende Voraussetzung. Es sind zunächst arme Bauern und Hirten, Jäger, Fischer, ganz ähnlich wie unsere nordischen Wieland-Brüder. Aber Wieland selbst macht ja innerhalb ein und derselben Erzählung eine erstaunliche Karriere vom Jäger zum Meisterschmied bis hin zum gottähnlichen, anderweltlichen Albenfürsten, so dass König Níðuðr ihn schließlich nurmehr in hochformelhafter, rituell gebundener Sprache anzureden wagt: „Kein Mann ist so hoch, dass er dich vom Pferd fasse, / noch so stark, dass er dich von unten schieße, / dort, wo du schwebst oben in den Wolken.“¹¹⁴ Und auch diese nahezu überirdische Transformation ist in den Erzählversionen des Ostens nicht ohne Vorbild: Bei den Turk-Völkern Mittelasiens existiert eine Sammlung von Erzählungen über einen überaus populären und beliebten (im Westen gleichwohl nahezu unbekannten) Helden Edige.¹¹⁵ Die Aufzeichnungen seiner Epen umfassen ein weiträumiges Gebiet vom Schwarzen Meer bis nach Westsibirien und Mittelasien.¹¹⁶ Seine Außergewöhnlichkeit und übermenschliche Heldenhaftigkeit wird durch eine besondere, vogelhafte Abstammung erklärt. Seine Mutter ist ein dämonisches Wesen, eine Albastï oder Peri.¹¹⁷ Das bezeichnet bei den Kasachen und Kirgisen einen „guten oder bösen weiblichen Geist, meist von großer Schönheit, der Siehe Ishikawa 1991, S. 377 f.: So sind etwa Metamorphosen des Metallgottes Usa weiße Tauben, ein anderer Metallgott Kanayakogami fliegt auf dem Rücken eines Reihers vom Himmel herab. Auch in der Gründungsgeschichte des berühmten Shinto-Schreins Fushimi in Kyoto erscheint ein Schwan. Er kommt als Kulturbringer vom Himmel herabgeflogen, mit sich trägt er einen Schmiede-Blasebalg, daneben zeigt er den Menschen den Ort des besten Gedeihens für die Reispflanzen. Ansonsten aber fehlen die weiteren erzählerischen Merkmale der Schwanenmädchenfabeln. [E]rat svá maðr hár, at þic af hesti taki, / né svá ǫflugr, at þic neðan scióti, / þar er þú scollir við scý uppi (Vkv 37). Vgl. Schmitz 1996, S. 1. Vgl. Schmitz 1996, S. 13. Vgl. Schmitz 1996, S. 24 f.
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(bei Berührung bzw. Anhauchen des betreffenden Körperteils) auch Krankheiten (Lähmung oder Rheumatismus) verursachen kann.“¹¹⁸ Die Peri hat die Fähigkeit, sich in einen Vogel zu verwandeln, in manchen Versionen erscheint sie als Schwanenjungfrau. Der Vater des Helden entdeckt diese an einem Seeufer allein oder zusammen mit seinen zwei Brüdern, nachdem die Schwanenmädchen zunächst fliehen können, kehren sie freiwillig zurück und verbinden sich mit den Männern.¹¹⁹ Durch den Bruch des Blicktabus zerbricht auch hier die Verbindung, die Peri tötet ihren Liebhaber nur deshalb nicht (wozu sie ganz offensichtlich die Macht hätte, im Gegensatz zu anderen Versionen, wo sie auf Gedeih und Verderb dem Menschenmann ausgeliefert ist), weil sie ein Kind erwartet, das sie am Leben lassen will und nach der Geburt dem Vater übergibt.¹²⁰ Dieser erscheint einerseits als hoher Würdenträger Qutlu-qays, andererseits aber, etwa in den kasachischen Varianten, als der wundertätige Heilige BabaTüktü (der seinerseits der jüngste von Drillingen ist oder aus der Asche eines Totenschädels entstanden ist). Ausdrücklich wird er in einigen Versionen schwanengleich vorgestellt, „in Gestalt eines Schwans mit weißgelbem Kopf“.¹²¹ Er vermag seinen zum Tode verurteilten Sohn Edige aus einer Jurte hinauszutragen, um schließlich – „Richtung Mekka“ – davonzufliegen.¹²² Aus der nordwestlichen Mongolei wird folgende Sage überliefert: Eines Tages sieht Odjuge-Chogor-bo – d. h. der ,krumme (lahme) Schamane Odjugeʻ – drei badende Schwanenjungfrauen, es sind ,Töchter des Himmelsʻ (tengriin gurban basygyt); er bemächtigt sich des Federkleides der jüngsten, und zwingt sie so, seine Frau zu werden. Nach drei Jahren – sie haben inzwischen einen Sohn und eine Tochter – gelingt es der Frau mittels einer List, ihr Federkleid zurückzubekommen. Bevor sie endgültig davonfliegt, bestimmt sie ihren Sohn zum Ahn der Charjat, die Tochter zur Ahnfrau der Šarjat. Dies ist, so wird erklärt, der Grund dafür, daß diese beiden Sippen den Schwan als ihren Vorfahren betrachten, ihn verehren und ihm opfern und keine Schwäne töten.¹²³
Es ist die Ursprungssage der burjatischen Stämme der Charjat und der Šarjat. In ihrem ursprünglichen, sibirischen, altaischen Kontext sind all diese Schwanenlegenden Gründungs-Mythen, es sind Aitiologien einer Abstammung, sei es eines Stammes, Volkes, aber auch eines einzelnen Helden als gewissermaßen „Präludium zur Geschichte des Nachkommens dieser Verbindung“.¹²⁴ Funktionell brauchen wir zwischen diesen Abstammungslegenden keinen Unterschied zu machen, denn so oder so wird hier ein außergewöhnlicher, absoluter Anfang markiert, eine Funktion, die weit
Schmitz 1996, S. 32. Vgl. Schmitz 1996, S. 33. Vgl. Schmitz 1996, S. 33 f. Schmitz 1996, S. 36. Vgl. Schmitz 1996, S. 36. Schmitz 1996, S. 40 (siehe Potanin 1881– 83). Schmitz 1996, S. 40.
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über eine lediglich folkloristische Erzähltradition hinausgeht.¹²⁵ Durchgehend zeigen sich also Schwanenmädchen-Fabeln in ihrer frühesten Form, ob in türkischen, mongolischen, burjatischen oder kasachischen Stammessagen, als Gründungsmythologeme, die die Entstehung von berühmten Helden- und Königsgeschlechtern erklären wie legitimieren. Sie sind Ursprungsmythen von Sippen und Stämmen und/ oder ihrer eponymen Ahnherren und -frauen. So verweist auch Lotte Motz ausdrücklich darauf, dass in den asiatischen Schwanenfabeln die Schwanenfrau nahezu ausnahmslos als Mutter und darüber hinaus als Ahnfrau auftrete: „The tale is, however, overtly related to a belief in which water birds are seen as ancestral beings, and it functions as a myth of origin in some places.“¹²⁶ Entsprechend geht sie davon aus, dass auch die Erzähleinheiten im Wielandlied, ganz entgegen allgemeiner Auffassung,¹²⁷ gerade aufs engste aufeinander bezogen gewesen seien. Ohne diesen ursprünglicheren, genealogischen Bezugsrahmen hätten sich allerdings jene zwei klar erkennbaren Episoden mehr und mehr auseinanderdividiert: Let us recall that in the beginning of the Eddic tale Volundr suffers the loss of a beloved mate and that he later manages to bed a woman who will be the mother of his child.We thus deal here, as in the full version of the myth, with the loss and the regaining of a woman, even though the role has been divided between two persons in the Eddic lay.¹²⁸
Tatsächlich könnten die Episoden als einziger Motivkomplex angelegt gewesen sein, vielleicht aber auch einfach als zwei unterschiedliche Versionen der Annäherung, die in einem einzigen Textcorpus miteinander verbunden wurden als jeweils unterschiedliche Entwürfe der aquatischen Anderweltfrau: die aktiv Handelnde, Fordernde wie die passiv Duldende. In jedem Fall muss Motz zugestimmt werden, wenn sie für einen weitaus engeren Zusammenhang zwischen Schwanenmädchenfabel und Schmiedesage im Altnordischen plädiert.¹²⁹
Vgl. Hatto 1961, S. 343: „The fact that a motif of the Bird Maiden story – the stealing of the birdwoman’s feather-dress and her inability to fly up to the sky without it – is applied to ancestresses of the Buryat, suggests that, as a myth, it is likely to be older and more firmly established in that tribe than a plain folk-tale.“ Motz 1986 – 1989, S. 54. „Clearly we have before us two distinct and separate stories: one of love and loss, and another of injury and revenge. Scholars agree that a new narrative begins after Volundr’s wife has broken the bonds of marriage. Much speculation has arisen concerning the relation of the swan woman’s story to Volundr’s. It has frequently been held that two separate and unconnected tales were here brought together by the poet“ (Motz 1986 – 1989, S. 50 f.). Motz 1986 – 1989, S. 54. Siehe aber kritisch dagegen John McKinnell: „This argument seems to me to be dubious as applied to the archetype. No surviving version of the legend equates Bǫðvildr with the swan-maiden bride, and we cannot assume a feature which is not in any version of the story merely in order to force the legend into perfect accordance with the archetype. And as regards Vǫlundarkviða itself, such argument is valueless, for in this poem it is quite clear that the swan bride and Bǫðvildr are not the same woman, that Bǫðvildr becomes the mother of a son while the swan bride does not, and that the ancestor myth is
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Die Wielandfabel ist zweifelsohne ein mythisches Konglomerat, eine bricolage unterschiedlicher, sich überlagernder Diskurse,¹³⁰ der unversöhnliche Held und Krieger ist dabei lediglich der letzte in einer langen Reihe. Deshalb erscheint das Vogelelement in der Wielandsage kaum mehr als merkwürdiges Anhängsel, in der Rindrepisode ist es ohnehin (bis auf den Namen selbst) verschwunden. Aber Alvitr, Bǫðvildr wie Rindr sind strukturell wie funktionell identisch, sie sind Vogelmütter bzw. Mutter eines ,Vogelkindsʻ, des Helden Wittich (mhd. Witegouwe/Witege, ae. Widia/ Wudga, anord. Viðga), vielleicht Vidigoia,¹³¹ der legendäre Ahne der Goten, wie er bei Jordanes in der Geschichte der Goten genannt wird. Dort wird er in einer Reihe mit anderen Helden aufgelistet, in Liedern sei er besungen worden (Jord. Get. 5, 43), ein berühmter Sohn Wielands, aber mehr als eine ferne Reminiszenz (gerade auch im angelsächsischen Raum) besitzen wir von ihm nicht.¹³² Und auch die wohl berühmteste Bilddarstellung der Wielandsage auf dem Runenkästchen von Auzon (Franks Casket, Northumbria, 8. Jh.) weist in diese Richtung: Auch hier erscheint die Wielandepisode explizit anderen Bilddarstellungen von berühmten Gründergestalten gegenübergestellt, sei es in einer Vorstellung der Entsprechung (siehe die Gründer eines heidnischen Weltreichs Romulus und Remus) und mehr noch im Sinne einer christlichen Ablösung, Weiterentwicklung und Entfaltung, die sich in der christlichen Jungfrau Maria mit ihrem Kind, dem Begründer eines neuen, christlichen Weltreichs zeigt.
11.5.2 Nú em ek fugl, ok nú em ek maðr Den Schmied Wieland zeichnen zahlreiche körperliche Besonderheiten und/oder Fähigkeiten aus, wohl aber die auffälligste: Er kann fliegen. Nicht von allem Anfang an, die Flugfähigkeit ist vielmehr Endpunkt eines in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Transformationsprozesses. Mehr und mehr wird aus einem ursprünglichen Menschen ein vogelähnliches, überirdisches Wesen, das (wie seine weiblichen Pendants) seine Vogelhaftigkeit nach Belieben an- und ablegen kann: „[N]ú em ek fugl, ok nú em ek maðr.“¹³³
in any case not what the poet is interested in“ (McKinnell 1990 – 1993, S. 14). Das stimmt wohl, aber gerade das fehlende Interesse an Abstammung und Genealogie könnte die Erklärung dafür sein, warum gewisse Elemente fehlen (oder gegebenenfalls weggelassen wurden), gerade um die narrative Plausibilität einer Racheerzählung aufrechtzuerhalten bzw. zu konstruieren. Vgl. Motz 1986 – 1989, S. 52: „The poem thus accepted themes and motifs from three divergent cultures and developed its plot using a protagonist from each group: the hunter, the craftsman and the warrior.“ Vgl. Rübekeil 2007, S. 153. Vielleicht könnte sein Name selbst Hinweis auf seine Vogelnatur bzw. -abstammung geben. Wittich wäre dann etwa zu mhd. vetach, vitich (ahd. feddāh), mnd. vitteke, nhd. Fittich (vgl. Beck 1994, S. 266 f.) zu stellen. Þiðreks saga af Bern, Velents þáttr smiðs, Kap. 78 (Bertelsen [Hg.]1905 – 1911).
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Klar scheint bei Wielands Flugkünsten das Dädalus-Motiv vor Augen, das mit einem anderen, antiken Meisterschmied verbunden ist. Auch dieser vermag sich durch seine Kunstfertigkeit einen Flugapparat zu konstruieren (und ergreift damit zusammen mit seinem Sohn die Flucht).¹³⁴ In der griechischen wie nordischen Version wurde diese Fertigkeit als unmittelbarer Effekt des Könnens, als Meisterstück des Meisterschmieds erzählerisch plausibel gemacht. Eine ähnlich dramatische Rettungsaktion ist aber auch mit dem Heldenvater Baba Tüktü verbunden, dem explizit Schwanenhaften, wie er sich in die Lüfte erhebt und seinem gefangenen Sohn Edige fliegend zu Hilfe eilt. Und gerade hier kann diese wunderbare Flugfähigkeit nicht durch eine Schmiedetätigkeit begründet werden, er ist kein Schmied. Flugfähigkeit und Schmiedetätigkeit sind ursprünglich keine zusammenhängenden, sich bedingenden Eigenschaften. Die merkwürdige Vogelnatur des Wieland verbunden mit seiner fast jenseitigen, transzendenten Albennnatur, seine gottgleichen, magischen Fähigkeiten mögen im Nordischen einzigartig dastehen, nicht aber im eurasischen Mythenkorpus. Deswegen ist Wieland kein Schamane, wie manches Mal vorgeschlagen wurde. Er teilt mit dem Schamanen Eigenschaften, aber am wenigsten dessen Funktion. Letzterer ist der professionelle Grenzgänger, der diesen Zustand nach Bedarf, zu rituellen, medizinischen Zwecken annehmen kann, als Begleitung und Unterstützung in die Anderwelt, zur Totenkommunikation, Information und manches mehr. Wieland ist das Ergebnis einer Transformation eines ursprünglichen Menschen, der sich dauerhaft, wesenhaft in ein fliegendes, außernatürliches Wesen zu verwandeln vermag. Die östlichen Mythen kennen solche fantastischen Transformationen in Gestalt des japanischen Sennin oder des chinesischen Xian (hsien). Die übliche Übersetzung „immortal“ trifft diese Vorstellung kaum.¹³⁵ Auch hier steht ein schwer bestimmbares, hochambiges Konzept von Transzendenz dahinter. Der Sinologe Edward Schafer definiert den Begriff etwa wie folgt: [T]ranscendent, sylph (a being who, through alchemical, gymnastic and other disciplines, has achieved a refined and perhaps immortal body, able to fly like a bird beyond the trammels of the base material world into the realms of aether, and nourish himself on air and dew).¹³⁶
Durch Zauber(handlungen), magische Praktiken und Künste aller Art, Enthaltsamkeit, Einsiedelei sollte der Körper in einen Zustand gebracht werden losgelöst von sämtlichen Bedürfnissen des Diesseits, aber doch gleichzeitig noch mit diesem verbunden, im Ergebnis eine Art „materielle Unsterblichkeit“.¹³⁷
Vgl. Ovid Met. 8, 183 – 235. Vgl. Kirkland 1991, S. 229, Anm. 1; Kirkland 2008. Schafer 1966, S. 204. Vgl. Needham 1962, S. 139: „From the beginning Taoist thought was captivated by the idea that it was possible to achieve a material immortality“, ein Ziel, das wiederum alchimistischen Praktiken, esoterischen Techniken u. ä. zu ungeahntem Aufschwung verhalf.
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Die Bezeichnung Xian wird zum Verb chin. xian „soar up“ gestellt, qian „remove“, auch xianxian „a flapping dance movement“; dazu gehört auch chin. yuren „feathered man; xian“, der wiederum mit peri (vgl. pers. pari < par „feather; wing“), „a fairy or supernatural being in Persian mythology“,¹³⁸ verglichen wird. In der Ikonographie erscheinen diese Wesen zuerst in der Handynastie des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts als „feathered sprite-like or dragon- or snake-tailed figures“,¹³⁹ feenartige Mischwesen, die zum stereotypen Bestandteil der Sepulkralarchitektur der späteren östlichen Handynastie (25 – 220 n.Chr.) werden. Zahlreiche Abbildungen so genannter immortals erscheinen auf Grabreliefs,¹⁴⁰ sie zeigen sich typischerweise als „avian hybrids“,¹⁴¹ geflügelt, mit überdimensionierten Ohren, am ganzen Körper mit Federn bedeckt, oder pars pro toto „with a kind of feathered hairdress“.¹⁴² Halb im Historischen verankert, halb legendär, wissen auch chinesische literarische Quellen von berühmten ,Unsterblichenʻ zu berichten, etwa von Jiao Xian, dessen Werdegang als ganz normales soziales (sogar in einer (Pseudo)historie verankertes) menschliches Wesen beginnt¹⁴³: Durch Kriegswirrnisse bedingt verliert Jiao seine Familie, er wandert hunderte Kilometer durchs Land, da beschließt er, ein Eremit zu werden, und zieht sich zurück auf eine unbewohnte Flussinsel. So erregt er das Misstrauen des Anführers Zhu Nan, der in ihm ein subversives Element vermutet, das sich gegen ihn stellen könnte. Er entgeht seiner Verhaftung nur, weil er für verrückt gilt, insbesondere aber, weil er für seine Gabe der Prophetie und sein Geheimwissen bekannt ist. Das wollen die Herrschenden für sich nutzen und suchen ihn dafür immer wieder auf.¹⁴⁴ Der Erzählplot scheint in mancher Hinsicht nicht unähnlich dem Schicksal Wielands, einschließlich des merkwürdig überzogenen Lobpreises, den der Verfasser des Gaoshi zhuan („Biografies of Lofty Men“) am Schluss der Erzählung über Jiao erhebt: He emerged from the display of the crowd of forms and entered into the concealment of mysterious solitude. In all the world there was no man worthy to grasp his ideas; within the expanses of the four seas no-one could return his glance. He was as sublime as the ancestor of the Three Souvereigns. Since cords were knotted no-one has reached his apogee. How can the babel of voices describe him or the most constant mind attain his measure?¹⁴⁵
Schafer 1966, S. 204. Wallace 2011, S. 73. Vgl. Wallace 2011, S. 73. Wallace 2011, S. 75. Wallace 2011, S. 75. Siehe die Shenxian zhuan („Biografies of Immortals“), eine literarische Sammlung von so genannten Unsterblichenleben, zusammengestellt im 4. Jh. (vgl. Penny 2002, S. 20 f.). Vgl. Penny 2002, S. 20 f. Penny 2002, S. 21 f.
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Von einem anderen ,Unsterblichenʻ, dem Sennin Kume, berichtet die Konjaku Monogatarishū (11/24), eine japanische anonyme Erzählsammlung zu Beginn des 12. Jhs., eine denkwürdige Begebenheit: „As Kume was flying along, he passed over the Yoshino River, where a young woman stood at the riverbank, laundering her clothes. As she washed, she raised the hem of her kimono to keep it dry, inadvertently exposing her legs. When Kume looked down and saw the white flesh of her thighs, carnal thoughts clouded his mind, and he came tumbling down right in front of her and took her as his wife.“¹⁴⁶
Diese gut bekannte, auch ikonographisch gern dargestellte Geschichte kommentiert der Mönch Kenko Yoshida im 14. Jh. (Tsure-zure Gusa „Essays in Idleness“) mit den Worten: Did not the fairy Kumé lose his supernatural powers when he saw the white legs of a girl washing clothes? And well he might, at the sight of the bare unpainted skin of those arms and legs beautifully glossy and plump!¹⁴⁷
Hans Peter Duerr vermutet, dass an dieser Stelle die weißen Waden euphemistisch wie tabuisierend auf die Vulva verwiesen,¹⁴⁸ die Wäscherin sich dem Sennin wohl nackt gezeigt habe mit den nämlichen fatalen Auswirkungen, wie sie auch unseren nördlichen Begegnungen eigen sind, eine Transgression, die eine weitere einleitet.¹⁴⁹ In-
Hickman 1981, S. 21. Siehe auch Koriyama et al. 2015, S. 23 – 25: „Kume the Hermit with Magical Powers Builds Kume Temple“. Porter (Übers.) 1914, S. 14. Vgl. Duerr 1994, S. 93. Duerr bringt eine Reihe identischer, ganz offensichtlich kulturübergreifender Beispiele für diese folgenschweren Begegnungssituationen am Wasser, in denen Frauen, üblicherweise durch den kulturellen Kodex vorgegeben kaum einmal unbekleidet, in Ausübung der alltäglichen Pflicht des Wäschewaschens genötigt sind, sich zu entblößen. So sei der Waschplatz ein willkommener Freiraum gewesen, an dem kein Mann etwas verloren habe. Und gerade in dieser ausgesprochenen „Frauensphäre“ wird das bewusste, aggressive Präsentieren der Vulva eingesetzt, um jedweden männlichen Eindringling zu vertreiben: So sei es in Frankreich üblich gewesen, dass die jungen Burschen den Waschfrauen zweideutige Anspielungen zuriefen, etwa „Lavez-vous blanc?“ („L’avez-vous blanc?“), „worauf diese ihre Kleider rafften und von vorne und von hinten die Vulva präsentierten“ (Duerr 1994, S. 106). Selbst die Heiligen des christlichen Europas bleiben von dieser Behandlung nicht verschont. So berichtet Abraham a Santa Clara von einer einschlägigen Begegnung des Heiligen Jakobus Nisibitanus mit jungen Waschfrauen bei ihrer Arbeit: „[D]iese waschten auf eine Zeit bei einem klar rauschenden Bach mit einem unmanierlichen Aufputz, wie bei gleicher Begebenheit pflegt zu geschehen, ihre Arm waren bis über die Ellenbogen entblößt und um den Hals hübsch schländerisch wie ein Tändlerbutte, die Kittel so hoch aufgeschürzt, daß einem hätte mögen einfallen, sie wollten durch den Fluß Jordan waten. Mit einem Wort, sie waren in allem mit 3 Federn, gesamten Wäscherin Gebrauch nach, gezeichnet, nemlich frech, frisch, frei. Nun hat es sich begeben, daß ungefähr allda seinen Weg vorbei genommen der von großer Heiligkeit berühmte Mann Jakobus Nisibitanus, den da fremder Bekleidung und demüthigen Aufzugs halber diese Naßküttel maulaffend angeschaut, und nicht allein wie es die liebe Ehrbarkeit erheischte, ihre Röcke nicht hinunter gelassen, sondern noch darüber den h. Mann
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teressant genug scheint hier freilich die Grenzüberschreitung, die Transformationsrichtung eine durchaus umgekehrte, nicht ein Übergang ins Jenseits wird dadurch initiiert, vielmehr wird aus dem gottähnlichen Jenseitswesen nunmehr ein durch und durch irdisches. Dermaßen unsanft wieder im Diesseits angekommen, heiratet der ,ehedem Transzendenteʻ (wie er sich selbst von da ab zu bezeichnen pflegte) gar die Frau, die ihn seiner Kräfte beraubt hatte, und gründet mit ihr eine Familie. Später aber gelingt es ihm, seinen früheren übermenschlichen Status wiederzuerlangen, und wird dadurch zum Gründer anderer Art, zum Gründer des Klosters Kumedera. Nun ist auch Wielands Aufenthalt keineswegs von Dauer, auch er erhebt sich, gewissermaßen nach getaner Arbeit (hier: der Befriedigung seiner Rachegelüste) lachend in die Lüfte und ebenso erfahren wir in westlichen Meisterschmiedesagen nicht nur von spektakulären Flügen, sondern auch von meist nicht minder spektakulären Abstürzen: Im griechischen Mythos ist es etwa Aition für die Behinderung des Schmieds selbst: Hephaistos, der griechische Schmiedegott, verletzt sich beim Absturz ins Meer am Bein (die eigene Mutter Hera verursacht den Sturz, sie verstößt ihn ob seiner Hässlichkeit vom Olymp und er hinkt fortan). Aber auch der Schmiedsohn Ikarus stürzt bei seiner Flucht ins Meer (hier wiederum aus schierem Übermut, weil er trotz Warnung mit seinen Wachsflügeln der Sonne zu nahe kommt), er verliert dabei sein Leben. Im Wielandmythos erscheint das Motiv des Absturzes eng mit dem Meisterschützen Egill, dem Bruder Wielands, verbunden. So oder so scheint zu der wunderbaren Flugfähigkeit der Fall auf irgendeine Weise bereits mitgedacht. Nun geht bekanntlich dem eddischen Vǫlundrlied die so genannte Meisterschützenszene, wie sie in der Þiðreks saga entfaltet ist, vollkommen ab. Hans-Peter Naumann scheint es fraglich genug, ob der berühmte ,Apfelschussʻ überhaupt ursprünglich mit dem Wielandstoff verbunden gewesen sei, die „narrativen Defizite“ der betreffenden Episode sprächen jedenfalls eher dagegen.¹⁵⁰ Aber doch scheint auch hier, ähnlich wie bei der Eingangsfabel der Schwanenmädchen, eine narrative Verknüpfung versucht, die Implementierung eines Mythologems, das aus kaum mehr nachvollziehbaren Gründen in die Tradition eingeschrieben scheint. Man mag im Apfelschuss selbst tatsächlich ein sekundäres Element, ein Wandermotiv (das ,TellMotivʻ) erblicken (Egill wird bekanntlich von König Niðuðr gezwungen, seinem eigenen Sohn einen Apfel vom Kopf zu schießen), das Konzept des Meisterschützen ist es indes wohl nicht. Ægili/Egill trägt einen sprechenden Namen, er ist der Pfeil- bzw. Bogenschütze par excellence,¹⁵¹ seine Meisterschaft, sein Können zeigt sich in seiner absoluten Treffsicherheit, aber gerade auch darin, dass er die drohenden tödlichen
ausgelacht“ [Abraham a Sancta Clara 1836, S. 61 f.]). Vgl. Duerr 1994, S. 510, Anm. 9. Der christliche Heilige lässt sich indes durch diesen Affront nicht aus der Ruhe bringen und ergreift machtvolle Gegenmaßnahmen: Er lässt zunächst den Fluss austrocknen und beraubt die Frauen ihrer Jugend und Schönheit und damit ihrer gefährlichen magischen Wirkmacht. Vgl. Naumann 1996a, S. 80. Siehe Naumann 1996a, S. 82 f.: „[A]e. ećģ, afr. egg, as. eggia, ahd. ecka, egga usw. ,Ecke, Schneide, Kanteʻ, ,Schneide einer Waffeʻ (vgl. lat. acies ,Schärfeʻ).“
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Konsequenzen umgehen kann. Im nordischen Mythos erscheint er eher als besonders geschulter Spezialist in einem konstruierten, simulierten Setting. In weiser Voraussicht präpariert sich Wieland mit einer Blutblase, da er vermuten muss, dass König Niðuðr Egill zu einem weiteren Meisterschuss nötigen würde – nunmehr mit ihm selbst als (fliegende) Zielscheibe. Wieland und sein Bruder simulieren also einen Todesschuss, nur sie beide wissen, dass der Schuss nur ,zum Spaßʻ war und gar kein ,richtigesʻ Blut fließt. Auch für den Apfelschuss sind bereits im Vorfeld Arrangements getroffen: Uneingeweiht bleibt letztendlich der König, der wohl von gegebenenfalls tödlichen Konsequenzen für den Sohn Egills ausging, aber nicht, dass die von Egill bereitgelegten Pfeile ihm selbst gegolten hätten. Der nordische Kontext macht daraus eine Farce, ein Spiel, und Egill ist der gewiefte Spieler, der die Spielregeln glänzend beherrscht. Und hier ist es auch Egill, der einen Flugversuch mit dem neu konstruierten Flugapparat unternimmt, an dem er kläglich, aber nicht tödlich scheitert. Gewiss zu Recht stellt de Vries diese Episode zum Flug des Dädalus-Sohnes Ikarus.¹⁵² Letztendlich ist es ein narrativ nicht besonders geglückter Versuch, den eigentlichen Verursacher des Vorfalls als Opfer des nämlichen umzufunktionieren. Die ursprüngliche Logik dieses Motivs erkennen wir erst in den eurasischen (japanischen, chinesischen) mythischen wie rituellen Varianten. Im Japanischen wurden dem Toten- und Berggott Yama no kami, dessen Verehrung bis in die frühzeitlichen Jägerkulturen zurückreicht, üblicherweise Pfeile und Bogen geopfert,¹⁵³ Opfergaben, die aber auch in dessen Kulthandlungen eine herausragende Rolle spielten. Nelly Naumann berichtet von zahlreichen „religiöse[n] Zeremonien mit Bogenschießen“.¹⁵⁴ Pfeile (die entsprechend ihrer rituellen Aufgabe genau abgezählt waren) wurden in den Himmel geschossen, in eine ‚glückliche Richtungʻ oder in alle vier Himmelsrichtungen, vielerorts gab es Geschicklichkeitsschießen auf Zielscheiben, mit besonderen Auszeichnungen für den besten Schützen.¹⁵⁵ Ob rituelles Schießen, Schießspiele, Kultveranstaltungen mit Spielcharakter, Pfeilopfer, sie gleichen sich in ihrer religiös motivierten, handlungspraktischen Zielsetzung wie in ihrer mythischen Denkvorlage: der ,Schuss ins Auge der Kräheʻ. Dahinter steht die Vorstellung der Krähe als Symboltier bzw. Verkörperung der Sonne. Der ,Schuss ins Auge der Kräheʻ bedeutet also der Schuss auf die Sonne, eine primordiale Tat, die wiederum die notorische Ambivalenz von Gründungstaten in sich trägt. Sie wird als Heilstat wie als Freveltat betrachtet: Der ,guteʻ Schütze scheint seine Ursprünge in China zu haben. So mag hier der Schuss als weltrettender, notwendiger Schuss auf eine ,zu heißeʻ oder auf eine (oder mehrere) überzählige Sonnen erscheinen, die zu Beginn der Zeit die Erde und alles, was darauf wächst, dermaßen
Vgl. de Vries 1950, S. 77: „Wenn Egill also ein germanischer Ikaros wäre?“ Für diese merkwürdige Szene gebe es entsprechend nur „[a]ls einzig mögliche Antwort“: „[D]er durch seine Ungeschicklichkeit veranlasste Sturz des Egill beim Probefluge ist ein Gegenstück zu Ikaros’ Sturz“. Vgl. Naumann 1964, S. 53. Naumann 1964, S. 53. Vgl. Naumann 1964, S. 54– 57.
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versengen, dass die Menschen dort nichts zu essen finden. Der Schütze Yi (I) schießt die überzähligen Sonnen vom Himmel (in Gestalt von Raben oder Krähen), um eine Weltordnung herzustellen oder aufrecht zu erhalten. Deutlich trete in diesen Mythen der „kosmisch-kalendarische Aspekt“ zutage, so Naumann, die Funktion des Schützen als Weltenordner.¹⁵⁶ Diese kosmogonische Funktion ist in der Þiðreks saga bis zur Unkenntlichkeit narrativ verändert, wiederum aber scheint der Gestalter des Runenkästchens von Auzon noch von eben jenem kosmisch-kalendarischen Aspekt in Verbindung mit Egill zu wissen, und so erscheinen auch seine Pfeilschüsse im ursprünglichen wie (christlich) aktualisierten Wissensrahmen von Gründung und Anfang. Selbst das merkwürdige Einzelmotiv der speziell präparierten Blutblase, um einen tödlichen Treffer des Meisterschützen zu simulieren, findet sich in den nordasiatischen wie chinesischen Erzählungen wieder, wenn auch kaum erklärlicher. Im chinesischen Shi-ki (Geschichtsannalen, ca. 100 v.Chr.) wird erzählt, wie König Wu-i eine menschenähnliche Figur erschaffen lässt, die er „Himmelsgeist“¹⁵⁷ nennt. Dieser Homunculus ist in der Lage, Brettspiele zu spielen. Als der Geist sein Spiel verliert, lässt der König einen Ledersack mit Blut füllen, ihn aufhängen, so dass er mit Pfeilen danach schießen kann. Ausdrücklich aber sagt er, er schieße mit den Pfeilen nach dem Himmel. Die Geschichte endet mit der Bemerkung, dass der König auf der Jagd sein Leben verloren habe, weil er vom Blitz getroffen worden sei. Er scheint also für eine Freveltat bestraft worden zu sein. Ähnliches wird von einem Prinzen Kang erzählt: Dieser habe einen „Baumstumpfgott“¹⁵⁸ gemacht, dann ließ er Blut in einen Ledersack füllen. „Er schoß danach in Helm und Panzer von unten, bis das Blut auf die Erde floß. Das nannte er Gott schießen.“¹⁵⁹ Wir treffen auf ein eigenartig konstruiertes, fingiertes Setting, das die chinesischen Erzählungen nurmehr als Spiel, als
Vgl. Naumann 1964, S. 64 f. Mänchen-Helfen 1937, S. 84. Mänchen-Helfen 1937, S. 84. Mänchen-Helfen 1937, S. 84. Mänchen-Helfen erwähnt diese Erzählungen im Rahmen der asiatischen Meisterschützenerzählungen, lässt sie aber unkommentiert. Sie wirken sehr unzusammenhängend und machen den Eindruck einer bricolage unterschiedlichster Mythologeme, die aber offenbar noch zum Konzept des primordialen, mythischen Meisterschützen zugehörig empfunden wurden. Eine auffallend genaue Übereinstimmung zum eurasischen, blutigen Sonnen-Schießen findet sich ausgerechnet in schwäbischen und schweizerischen Sagensammlungen aus dem 19. Jh.: „In der Umgegend von Freudenstadt erzählt man: der ewige Jäger habe in der Weihnacht oder Charfreitagsnacht gegen die Sonne (!) geschoßen, worauf Blut herabgefloßen sei. Dieß Blut habe er in einem Tuche aufgefangen und Bleikugeln damit benetzt, und mit solchen Kugeln habe er alles treffen können, was er nur habe erreichen wollen. Seien die Kugeln verschoßen gewesen, so habe er einen frischen Schuß gegen die Sonne gethan. Dafür muß er nun jagen und zieht mit Hundegebell und Jagdgetöse in der ganzen Welt umher“ (Meier 1852, S. 116). Interessant genug ist hier das Motiv des Blutschusses nicht nur ‒ wie in der Þiðreks saga ‒ mit dem unfehlbaren Meisterschützen verbunden, vielmehr gehört die Gestalt des sagenhaften ‚ewigen Jägers‘ seinerseits in den übergeordneten Komplex der ‚Wilden Jagd‘, des ,Muotes-Heers‘, das als mythischer Reflex einer männerbündischen germanischen Kultgemeinschaft bzw. deren Ritualpraxis interpretiert wird (vgl. Höfler 1934, siehe Kap. 12.2; 12.5).
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Simulation auffassen können, aber auch hier wird eher der Eindruck eines kultischen Arrangements, eines Rituals erweckt.¹⁶⁰ Aber gerade dieses bizarre Einzelmotiv, das hier wie da narrativ so wenig plausibel scheint, findet sich wieder in den materiellen Hinterlassenschaften des Nordens, an einem in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Fundstück aus dem schwedischen eisenzeitlichen Zentralort Uppåkra. An diesem Ort, an dem sich nahezu ein Jahrtausend Herrschaft, Reichtum, kultische wie genealogische Macht konzentrierte, kam im Jahr 2011 ein Objekt aus Metall zu Tage, das die Forschung zunächst noch unspezifisch als „winged figure“ bezeichnete,¹⁶¹ ohne sich genau festlegen zu wollen bezüglich Funktion (möglicherweise Teil eines Paradehelms) und insbesondere, welche der nicht wenigen geflügelten Gestalten der nordischen Mythologie damit dargestellt sein könnte. Aufgrund eines winzigen Details indes identifiziert Michaela Helmbrecht das Fundstück gewiss eindeutig als figürliche Darstellung Wielands des Schmieds: Flüssigkeitstropfen am Flügelbereich der linken Seite. Es sind die enigmatischen Blutstropfen der Þiðreks saga. Sie müssen damit im 10. Jh. fest im Wissen über den göttlichen Schmied verankert gewesen sein.¹⁶² Und wenn uns nun gegebenenfalls die schriftlichen Quellen kaum mehr trümmerhafte Informationen zu diesem besonderen Arrangement liefern können, so sind es gerade die Fundumstände dieses Objekts, die ein wertvolles Licht darauf werfen können. Besondere Aufmerksamkeit an der Ausgrabungsstätte Uppåkra hat bekanntlich ein Gebäude auf sich gezogen, das aufgrund seiner mächtigen Dachstützen als außergewöhnlich hoch einzuschätzen ist, und das in einem Zeitraum von 200‒1000 n.Chr. nicht weniger als siebenmal an der gleichen Stelle wieder aufgebaut wurde. Damit vergesellschaftete Funde von Guldgubber, zeremoniellem Trinkgerät (ebenso die zahlreichen außerhalb des Gebäudes gefundenen Tierknochen) weisen es als zentrales Kultgebäude aus. Direkt daneben wurden große Hallenkomplexe gefunden, wohl so alt wie das Kulthaus selbst (ca. 3. Jh.). Eine Halle im Südwesten des Kulthauses wurde wiederholt abgebrannt (in einem Zeitraum zwischen 400 – 800 n.Chr.), aber dreimal wieder aufgebaut. Das Wieland-Objekt wurde in der jüngsten Halle gefunden, wo es wohl absichtlich deponiert wurde, in einer Umgebung, die darauf hinweist, dass hier große Mengen an Speisen und Getränken, Fleisch und Bier zubereitet wurden.¹⁶³ Auch hier wird von einer ausschließlich kultischen Verwendung ausgegangen. Das wiederholte Niederbrennen der Halle wurde als Teil wie auch immer gearteter ag-
Vgl. Naumann 1993, S. 126 f. Vgl. Helmbrecht 2012, S. 171: „A human figure, seen from the back or above, is grasping a pair of feathered wings with both hands.“ Das Objekt erscheint also aus der ‚Vogelperspektiveʻ, „a human intertwined with a pair of wings – a mix of human body and a flying device“ (Zachrisson 2017, S. 141). „In the case of the Uppåkra mount, though, it seems plausible to identify the figure with Wayland. The evidence is an inconspicuous detail: a row of droplets on then left wing under the arm […]. On the right wing, there is only a double line“ (Helmbrecht 2012, S. 176). Vgl. Zachrisson 2017, S. 143 f.
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gressiver, kriegerischer Handlungen gewertet – eigenartige indes, wie auch Torun Zachrisson bemerkt: It is peculiar, however, that the cult house had no traces of fire whatsoever, although it stood less than 10 meters away from the residence hall and became even closer as the halls were enlarged over time. This shows that special respect must have been paid to this building. The excavators cautiously interpret this as if the hall-burning was more likely the result of internal feuds, rather than caused by an external enemy […]. Considering how closely the buildings were placed, the fires must have been very controlled. Although the cult house never caught fire, it nevertheless was rebuilt on exactly the same spot perhaps as many as seven times.¹⁶⁴
Aber wie sollte man sich diese ,kontrolliertenʻ kriegerischen Handlungen vorstellen? Dass sich ein paar Meter weiter der Feind mit Löscheimern postiert? Nun vermutet Zachrisson nicht zuletzt angesichts des hochritualisierten Umfelds, dass es gerade die zahlreichen Änderungen und Bearbeitungen an den Kultgebäuden seien, die bereits ihrerseits Teil von Kulthandlungen seien, dass „the repeated renewal of the cult house constituted ritual action.“¹⁶⁵ Zusammen mit dem Niederbrennen und der Errichtung einer neuen Halle könnte dies etwas mit dem Herrscherkult, mit der Etablierung der Herrschaftsmacht einer gegebenenfalls neuen Herrscherfamilie zu tun haben¹⁶⁶: The theme of succession of the leadership must have been highly relevant and absolutely crucial for the rulers of Uppåkra. I argue here that the succession may have included the burning down of halls and rebuilding of the cult house.¹⁶⁷
Das freilich ist ein kultisch religiöser Kontext, in dem unsere Wieland-Figur ihren perfekten Platz findet. Sei es im weiteren Rahmen der kosmogonischen Ordnung, aber auch im engeren genealogischen als mythische Gründergestalt, als Ahne schlechthin. Spekulieren ließe sich tatsächlich, ob der Pfeilschuss zu einem Inaugurationsritus gehörte, den der neue König etwa als Gewährer der Ordnung in Wiederholung Egills primordialer Tat vollzog. Darüber hinaus ist gerade das Abbrennen der Hallen in Kombination mit dem Verbrennen von hölzernen Kultfiguren eine gut bekannte Größe im Ahnenkult. McKinnell vermutet bekanntlich an anderer Stelle in diesen Aktionen eine Art „ritual cremation“, eine rituelle Verbrennung, deren mutmaßliche Funktion er allerdings offenlässt.¹⁶⁸ Vielleicht können wir diesen rituellen Hintergrund für die wiederholten Hallenbrände vermuten. Auch das Hera-Fest der Daidala scheint in unterschiedlichen größeren und kleineren zyklischen Abständen begangen worden zu sein, nach antiken Berichten die so genannten großen Daidala in einem Zeitraum von 60 Jahren. Es ist aber nicht etwa der Zeus-Ehefrau und Göttermutter gewidmet, viel-
Zachrisson 2017, S. 146. Zachrisson 2017, S. 146. Vgl. Zachrisson 2017, S. 146 f. Zachrisson 2017, S. 155. Vgl. McKinnell 2014d, S. 279.
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mehr der ursprünglicheren Hera ᾿Aργείη, der homerischen Palastgöttin, der Ahnfrau und Stammmutter der Argiver. Die Verbrennung der Ahnen bzw. der Ort, an dem man sich mit ihnen versammelt, scheint ein Akt der Purifikation, der Abweisung, gleichermaßen des Neubeginns. Und der Schuss auf den fliegenden Ahnen muss auf irgendeine Weise dazu gehört haben.
11.5.3 Nepsdóttir – Nǫkkva dóttir Nun ist die Verbindung Wielands, des Erzahnen, mit einer Anderweltfrau keineswegs die erste in dessen Ahnenreihe. Schon Wielands Vater, der Meerriese Vaði, ist Abkömmling aus einer Verbindung König Vilkinus¹⁶⁹ mit einer Meerjungfrau (einer im Übrigen ebenso freiwilligen, von dieser wohl aktiv initiierten Annäherung), wie die Vilkina saga der Þiðreks saga zu berichten weiß.¹⁷⁰ In der baltischen Wildnis trifft der König auf die fremde Schöne, ein liminaler Ort ebenso wie die spätere Begegnung im Wasser, wo sich diese dann eindeutig als Wasserwesen, ja als Wasserungeheuer offenbart: Sie vermag den Lauf des Schiffes des Königs aufzuhalten und lässt diesen erst ziehen, nachdem er sein Versprechen gegeben hat, sich um den Nachwuchs ihrer Liebesvereinigung zu kümmern. Zweifelsohne sind hier die dämonischen, abzuwehrenden Aspekte des Außersystemischen bei Weitem geringer gehalten als im Rahmen christlicher Spekulationen, wenngleich das Abnorme, Monströse dieser Begegnung auch hier anklingt: Die Wasserfrau wird als skrimsl, als Ungeheuer beschrieben.¹⁷¹ Sonst aber erfüllt die Meerfrau die gleiche genealogische Funktion wie die französische Melusine, und ganz ähnlich den französischen Adelssprösslingen ist auch das Meerjungfrauenkind Vaði von monströser Andersheit.¹⁷² In der Erzählsammlung des Walter Map¹⁷³ finden sich neben der Melusinenerzählung noch mehrere andere Erzählungen vom Typ der gestörten Mahrtenehe. In der Geschichte Henno cum dentibus (Dist. IV, Kap. 9) findet der Protagonist Henno am Strand ein schönes fremdes Mädchen, dem er ob ihrer ,Taubenhaftigkeitʻ den Namen Columbine gibt. Nach einiger Zeit entdecken jedoch Schwiegermutter und Ehemann durch einen unerlaubten Blick ins Bad ihr wahres, schlangenhaftes Wesen. Mithilfe
Vgl. McConnell 1978, S. 65: Der Name Vilkinus wird zu Wilzen (Wilten, Welten) gestellt, ein legendäres Volk von „Riesen“ (< *volt, *velt, (alt)russ. volot, aksl. vlat „Riese“). Þiðreks saga af Bern, Vilkina saga, Kap. 23 (Bertelsen [Hg.] 1905 – 1911). Vgl. McConnell 1978, S. 66. Freilich sind alle Nachkommen König Vilkinus von gewisser monströser Natur. Sein anderer Sohn Nordian scheint wenigstens vom rein äußerlichen Erscheinungsbild her menschlich, aber ausdrücklich wird sein unmenschlicher, devianter Charakter erwähnt. Dessen Söhne wiederum sind allesamt Riesen, von denen einer, Vidolf, sich dermaßen unkontrollierbar in seinem Gebaren zeigt, dass er in Ketten gelegt werden muss und nur zum Kampf losgelassen wird (vgl. McConnell 1978, S. 67). De nugis curialium (1181/1193) (James [Hg.] 1994).
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des Pfarrers wird der Dämon erfolgreich vertrieben. Auf ähnliche Weise entpuppt sich die Ehefrau des Herrn von Esperver aus den Erzählungen des Gervasius von Tilbury als amphibes Mischwesen,¹⁷⁴ das wie die schöne Melusine und Columbine durch die christliche Messfeier entlarvt wird, die die dämonischen Wesen nicht ertragen können. Ein paradoxes Wissensmodell zweifelsohne, das aber, wie wir bereits gesehen haben, vielleicht seit Jahrtausenden die crux des Spitzenahns erfolgreich zu plausibilisieren vermag.¹⁷⁵ Nicht nur Genealogien haben hier ein „Legitimationsdefizit“ und damit in der Folge auch „Legitimitätsdefizit“,¹⁷⁶ jeder Anfang hat dies. Die Mahrtenehe hat jedenfalls auch in einem rein christlichen, höfischen Umfeld nichts von ihrer ursprünglichen Funktionalität und Effizienz verloren, ja sie erfährt sogar in den volkssprachlichen Romanen eine Aufwertung, ausdrücklich werde hier „ein ursprünglicher heidnischer Funktionsbereich der Feen wieder aktualisiert“,¹⁷⁷ wenn auch in den theologisch begründeten Texten diese paganen Semantisierungen immer wieder zurückgewiesen werden müssten.¹⁷⁸ Dieser heidnische Funktionsbereich ist die Legitimierung einer Genealogie, eine Funktion, die ausschließlich darin besteht, überhaupt einen Anfang benennen zu können. Wir werden auch in Balders Frau Nanna diese ursprüngliche, aquatische Natur vermuten müssen. Damit ließe sich auf sie ein gut ausgearbeitetes mythisches Wissensmodell anwenden, von dem die dänische Überlieferung immerhin noch Weniges weiß, in der isländischen Überlieferung treffen wir kaum mehr auf Spuren. Snorri berichtet nichts von einer ursprünglichen Wassernatur Nannas, ohnehin kaum mehr, als dass sie Nepsdóttir oder Nefsdóttir sei, die Tochter eines sonst unbekannten Nepr oder Nefr.¹⁷⁹ Daneben erwähnt auch das Hdl 20 eine Nanna, hier allerdings als die Tochter eines Nǫkkvi (und damit eher zögerlich zur Nanna der Gylfaginning gestellt), von dem ebenfalls sonst nichts Weiteres bekannt ist: Nanna var næst þar, Nǫcqva [Nǫkkva] dóttir („Nanna war da die Nächste, Nökkwis Tochter“). Beide Vatersnamen aber können mit wasseraffinen Gestalten zusammengebracht werden, sie sind vermutlich sogar identisch. Reinhard Wenskus überlegt für den Namen Nepr einen etymologischen Zusammenhang mit dem römischen Neptunus.¹⁸⁰ Neptunus ist ganz allgemein der „Herr des feuchten Elements“ (siehe das idg. Zugehörigkeitssuffix *-onos, germ. *-anaz),¹⁸¹ der aber in seiner ursprünglichen Konzeptionierung kein Otia imperialia (1209/1214) (Liebrecht [Hg.] 1856), Tertia Decisio, Kap. 57. Vgl. Kellner 2004, S. 107. Kellner 2004, S. 439. Kellner 2004, S. 462. Vgl. Kellner 2004, S. 464. Forseti heitir sonr Baldrs ok Nǫnnu Nepsdóttur (Gylf 32), kona hans Nanna Nepsdóttir (Gylf 49). In den Thulur wird er als Sohn Odins aufgeführt (vgl. Lex.Simek 2006, „Nanna“, S. 294). Vgl. Wenskus 1994, S. 188-190. Vgl. Sallmann 1979, Sp. 64: *neptus < *nebh-tu-s, (vgl. νέφος, nebula, imber). Siehe Walde/Hofm. 1965 – 1972, „Neptūnus“: *neptus oder *sneptus, „Nässe, Feuchtigkeit“, vielleicht zu ai. snapáyati „er schwemmt, benetzt, badet, wäscht“.
11.5 Nanna
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Meergott gewesen sein könne, zunächst wohl eher ein „Gott der Quellen und Flüsse, dann auch der Seen“, typischerweise ein „Landwassergott“ ähnlich dem griechischen Poseidon,¹⁸² der seinerseits erst spät zum Meeresgott avancierte.¹⁸³ Und an dieser Stelle kommt wiederum der Name des germanischen Quell- und Inselgottes Fosite ins Spiel,¹⁸⁴ was der ebenso lange wie erfolglos geführten Diskussion über eine mögliche Verbindung zum Baldersohn Forseti (siehe Kap. 4.1) neue Evidenz liefern könnte. Die bis dato bevorzugte Grimm’sche Etymologisierung Forsetis als ,der Vorsitzende‘ ist unsicher genug. Entsprechend vehement wendet sich schon Siebs gegen eine sich darauf stützende Konzeptionierung Forsetis als Rechtsgott, schließlich habe Jacob Grimm selbst „gerechten zweifel an seiner vermutung [ge]äussert“, von formaler Seite sei sie ohnehin „unhaltbar“¹⁸⁵: „Denn gesetzt auch, man wollte an diesen unmöglichen allegorischen präsiden Forseti der Edda glauben, so liesse er sich doch nicht kurzerhand mit unserem Fos(e)te vereinigen, sondern würde ein germanisches *(for)setan-, ahd. -sëzzo voraussetzen, und in unseren quellen hätten wir etwa *Forseta, *Forseteland zu erwarten. Dafür, dass das r aufgegeben wäre, ist kein grund einzusehen. Wer sich durchaus nicht zur völligen trennung von dem nordischen namen bequemen will, würde zum mindesten gut tun, in dem nordischen namen Forseti eine etymologisierende umgestaltung eines älteren dem friesischen Fos(e)te, Fos(i)te entsprechenden namens zu sehen […]. Da man nun in diesem worte also gar nicht mit einem präfix for- zu rechnen hat, wird man die erste silbe als stammsilbe betrachten müssen. Und da ein altes i- der nebensilbe unter allen umständen iumlaut zu *Fēs(i)te bewirkt hätte, so müssen wir entweder Fosete als die richtige form ansehen oder aber (und das ist viel wahrscheinlicher) in dem zwischen e und i wechselnden vocal der nebensilbe eine art irrationalen vocals sehen, so dass Fosete, Fosite für Foste stünde.“¹⁸⁶
Siebs möchte dementsprechend den Namen zur germ. Wurzelstufe fôd „ernähren“ stellen (vgl. etwa ae. fŏstor, an. fóstr „Nahrung“),¹⁸⁷ ohne freilich die von Grimm in diesem Zusammenhang (wenn auch noch zurückhaltend) vorgeschlagene Alternativetymologie auszuführen. Diese passt nun aber in jeder Hinsicht zum mythischen Kontext wie Personenkonstellation, wie wir sie in vorliegender Untersuchung entworfen haben. Auch für Grimm scheinen aquatische Bezüge für Forseti mehr und mehr plausibel: [B]ei Fosete ist mir ein anderer gedanke durch den kopf gefahren. im anhang zum heldenbuch heissen Ecke, Vasat, Abentrot brüder, die form Fasat statt der gewöhnlichen Fasolt braucht kein fehler zu sein, es gibt mehrere ahd. mannesnamen auf -at, alts. -ad, -id, und Fasat, Fasolt bestehen nebeneinander. Fasolt […] und Ecke wurden aber für göttliche riesen des windes und wassers, Abentrot für einen dämon des lichts erkannt.Wie Ecke-Oegir an der Eider und auf Lässöe konnte Fosite auf Helgoland verehrt werden. die übereinkunft mit Forseti darf man nicht fallen
Vgl. Sallmann 1979, Sp. 64. Vgl. Wenskus 1994, S. 188 f. Vgl. Kuhn 1978, S. 285. Siebs 1909, S. 546. Siebs 1909, S. 546. Vgl. Siebs 1909, S. 546 f.
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lassen, nur die deutung For-seti, Forasizo wird bedenklich, ich hätte lust Fors-eti aus fors (strudel) dän. fos zu erklären, und einen dämon des strudels [kurs. d. Verf.], einen Fossegrimm […] anzunehmen, wozu des Fosite heilige quelle stimmt. Jenen drei brüdern wird aber im heldenbuch ein Vater Nentigèr […] = ahd. Nandgêr gesetzt, und gemahnt er nicht an Forsetis mutter Nanna = Nandá?¹⁸⁸
In Belgien, Obergermanien, auch in Gallien und dem niedergermanischen Walcheren ist Neptun sicher als Flussgott verehrt worden. Den in den Homilia de sacrilegiis erwähnten neptunalia in mare ¹⁸⁹ möchte Wenskus entgegen manch kritischer Einwände immerhin einen gewissen Zeugniswert als germanischen Quell- oder Wasserkult zusprechen,¹⁹⁰ nicht zu vergessen das berühmte bistia Neptuni Quinotauri similis, das ,Neptunsviehʻ aus der Ursprungssage der Merowinger der Fredegar-Chronik (3, 9). Die keltische Entsprechung Nechtan wurde bereits erwähnt, eine mythische Wesenheit, die explizit mit einem Quellkult in Verbindung gebracht wird. Ein weiterer Hinweis in diese Richtung könnte im schwierigen Begriff ,Nippflut‘ gesehen werden, der offenbar für einen ganz bestimmten (mondabhängigen) Wasserstand des Meeres steht.¹⁹¹ Die Kristni saga (Kap. 13) kennt den Namen Nepr schließlich für den Fluss Dnjepr selbst. Auch der alternative Vatersname, der von Nanna überliefert wird, Nǫkkvi, weist in eine ähnliche Richtung. Eine buchstäbliche Bedeutung des Namens ist „Boot“, „Nachen“,¹⁹² was zum Verständnis kaum weiterhilft. Aber Nǫkkvi erscheint auch in einer Schiffskenning des Skalden Þorbjǫrn hornklofi. Hier werden aber nicht etwa die Schiffe Harald Schönhaars als ,Boote‘ bezeichnet, vielmehr ausdrücklich als ,Pferde‘ eines Nǫkkvi (Stóðum Nǫkkva „stud-horses of Nǫkkvi“),¹⁹³ der entsprechend Snorris eigener Vorgabe eine Art Seekönig sein könnte – vielleicht aber sogar das (personifizierte) Meer selbst.¹⁹⁴ Und noch in einem weiteren Gedicht des Skalden erscheint Nǫkkvi: In Str. 2 der Glymdrápa ¹⁹⁵ ist die Rede von vébrautar Nǫkkva, „die heiligen Pfade des Nǫkkvi“,¹⁹⁶ wohl die Wege, die ein Seekönig üblicherweise begeht, also das
Grimm 1875, S. 192, Anm. 2. Caspari 1886, S. 6. Vgl. Wenskus 1994, S. 188 f. Vgl. Wenskus 1994, S. 190. Vgl. DWb, „nippflut“: „[D]ie schwächsten fluten, die man nippfluten nennt, sind mit den mondsvierteln, sowie die springfluten mit dem neu- und vollmonde verbunden.“ Vgl. an. etym. Wb 1962, „nǫkkvi“. Vgl. Haraldskvæði (Hrafnsmál) 9 (Fulk [Hg.] 2012c). Hvernig skal kena skip? Svá, at kalla hest eða dyr eða skið sækonunga eþa sævar eða skipreiða eða veðrs (Skáldsk 51). („Wie soll man ein Schiff umschreiben? – Indem man es Pferd, Tier oder Holzstück von Seekönigen nennt oder des Meeres, der Schiffsausrüstung oder des Sturms.“ Skáldsk 50). Marold (Hg.) 2012. So Rydberg II 1906, S. 673: „[T]he holy path of Nokve“. Rydberg widmet Nǫkkvi einen ganzen Abschnitt in seiner Teutonic Mythology und versucht darin den Beweis zu liefern, „that nanna’s father is the ward of the atmosphere and god of the moon“ (Rydberg II 1906, S. 672), Nannas Vater also als Mondgottheit zu verstehen sei (vgl. Rydberg II 1906, S. 669). Die Argumente, die er dafür bringt, können kaum überzeugen, trotz allem aber scheint sein Übersetzungsvorschlag für diese schwierige Stelle nicht unplausibel. Nicht zuletzt schreitet auch der Flussgott Heimdallr/Rígr auf „grünen Pfaden“
11.5 Nanna
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Meer. Schließlich klingt der Name Nǫkkvi stark an die gesamtgermanischen Ausdrücke für mythische Wasserlebewesen an, etwa isl. nykr, as. nicor, engl. nick, nhd. nix, dän. nök, schwed. näcken, norw. nykk, nök(ken), im Isländischen stoßen wir sogar auf einen nennir, was indes als assimilierte Form von neknir angesehen wird.¹⁹⁷ Nannas Name könnte in einer jüngsten Bedeutungsaktualisierung als Lallwortkomplex rezipiert (wie funktionalisiert) worden sein, ursprünglich gehört ihr Name indes genauso wie der ihres Vaters und ihres Sohnes in einen aquatischen Bedeutungsbereich. Siehe griech. νάω, „quellen, strömen“; lat. nō „schwimme“ ( < idg. *snā„fließen“),¹⁹⁸ mw. nant, mbret. nant, „stream, river, brook, dale, valley“ ( < protokelt. *nanto, *nantu, „stream, valley“).¹⁹⁹ De Vries verweist unter dem Stichwort „Nanna“, „nenna“ (neben der Lallwort-Etymologie) auf altir. neit (< *nanti) „kampf“, germ. *nanþ.²⁰⁰ Er möchte entsprechend den Namen aus germ. nenna < *nanþjan herleiten. Nanna sei also „die Wagemutige, die Kampfesfrohe“, „die wie eine richtige Hildr den Kampf zweier Brüder verursacht und dem einen in den Tod folgt“.²⁰¹ Aber auf keine Weise tritt Nanna derart in Erscheinung. Am wenigsten bei Snorri, nicht einmal bei Saxo ist sie eine streitlustige Kämpferin.²⁰² Sein Hinweis auf den Flussnamen Nǫnn, der im mythischen Flusskatalog des kosmologischen Gedichts Grímnismál (28) erscheint, ist für diesen Zusammenhang wiederum einschlägig. Und auch die heimtückischen Nivaši-Töchter,²⁰³ ausdrücklich Töchter von Wassermännern, gehören ‒ mythologisch wie etymologisch ‒ hierher (ebenso die Nereiden, die Meeresnymphen, als Entsprechung zu den nordischen Wellenmädchen). Wir werden uns also Nanna als die Tochter eines Wasserwesens vorstellen müssen, und damit ist sie selbst ein Wasserwesen. Auch bei Saxo scheint ihre aquatische Abstammung noch im Vaternamen durch, hier ist sie die Tochter des alten, weisen und zauberkundigen Gevarus (altn. *Gefr). Neckel und andere wollen den Namen zu gefa „geben“ stellen,²⁰⁴ aber diese Grundlage passt schon für die nordische Göttin Gefjon schlecht. Gevarus ist so wenig ,ein Gebenderʻ wie Gefjon. Auch sein Name gehört zu
(ganga gronar brautir [Rþ 1]), ausdrücklich „entlang irgendeines Meeresstrandes“ (fór ferðar sinnar oc fram með sióvarstrǫndo noccorri [Einleitung Rþ]). Vgl. Cleasby/Vigf. 1874, „nykr“. Cleasby/Vigf. können sich offenbar auch eine direkte lautliche Verbindung zu Neptunus vorstellen: „[O]ne is tempted to suggest that the Lat. Neptunus (p = g) may be related to this Teutonic word“. Siehe Frisk 1960 – 1972, „νάω“; „ναϊάς“. Siehe auch Νηρεύς „Meergott“, Vater der Nereiden; Walde/Hofm. 1965 – 1972, „nō“. Vgl. Matasović 2009, S. 283. An. etym. Wb 1962, „Nanna“; „nenna“; „Nǫnn“. de Vries 1956– 1957, II, S. 222 f. In diesem Zusammenhang warnt de Vries zu Recht davor, Nanna aufgrund einer „allerdings merkwürdige[n]“ Ähnlichkeit mit dem Namen der babylonischen Nana gleichzusetzen, erst müsse „der Versuch gemacht werden, ob man mit dem germanischen Namenmaterial“ auskomme (de Vries 1956– 1957, II, S. 222). Siehe Berger 1984, S. 803, „Nivaši“. Vgl. Neckel 1920, S. 82.
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altengl. geofon „Meer“.²⁰⁵ Gevarus wäre damit auf gleiche Weise der Wassermann, die personifizierte Meeresflut.
11.5.4 Die Wasserfrau als Totenbraut Die mythische Begegnungssituation, das erste Aufeinandertreffen des Balderus und der Nanna, das uns nur Saxo so entwirft, ist damit in jeder Hinsicht einschlägig: Balderus trifft die junge Frau nicht nur am, sondern nachgerade im Wasser an. Er beobachtet sie heimlich beim Baden, wohl nackt, und fortan ist er ihr nicht nur verfallen, er verfällt zusehends.²⁰⁶ Die Begegnung zwischen Gerðr und Freyr ist identisch strukturiert. Auch Gerðr befindet sich am Meer, ihre ausdrücklich von Snorri erwähnten ,verrutschenden Ärmelʻ sind in der mittelalterlichen Minne-Symbolik Kodierung für Nacktheit, das Blicktabu, das Freyr wie Balder bricht, ist deren Tod. Aber bei Saxo wird dieser Motivstrang im Folgenden nicht fortgeführt. Wohl erscheint noch narrativ ausgearbeitet die heftige Weigerung Nannas mit Baldr eine Verbindung einzugehen, dann aber macht Nanna eine gewiss merkwürdige, wesenhafte, ja existenzielle Änderung durch. Ist sie zunächst die Bedrängte, mehr oder weniger unfreiwillig den Avancen eines lüsternen (Halb)gottes ausgeliefert, wird sie nun ihrerseits aktiv, jetzt ist es Nanna, die sich Balderus trotz ihrer anfänglich gänzlich ablehnenden Haltung als erotisch verführerische Nachtmahr nähert, ihn ihrerseits massiv bedrängt. Wohl hat Saxo von Anfang an die Erzählung gewissermaßen umgelenkt auf Hotherus, flugs zum Verlobten der Nanna gemacht will dieser nun lediglich einen missliebigen Konkurrenten aus dem Weg räumen. Dadurch wird er wie in Snorris Version zum Töter, zum handbani Balders. Aber er hat auch hier, wenn man so will, mentale Unterstützung. Er begeht die Tat nicht alleine: Es ist das dämonische Nachtwesen Nanna, die Balder nicht nur um seine Nachtruhe bringt, sondern letzt-
Siehe schon Grimm (vgl. Grimm 1844 I, S. 219), der in ags. Geofon (alts. Geban) einen alten Beinamen des Meergottes Ægir vermuten möchte und diesen ausdrücklich zu altn. Gefjun stellt; dazu nennt er Geofenes begang (Beowulf 721), Gebenesstrôm (Heliand 90, 7; 131, 22), „Meeresflut“ (vgl. Reichl 2012, S. 511). Siehe auch das Wasserwort gylfr „,flussname‘, auch welle, meer“ (an. etym. Wb 1962, „gylfr“); Lex.Poet., „gjalfr“, S. 185: brysende lyd. Die Namensidentität von Gerðrs Vater mit einem weiteren Beinamen des Meergottes, Gymir, ist genauso wenig zufällig. Gest.Dan. 3.2: Accidit autem, ut Othini filius Balderus Nannae corpus abluentis aspectu sollicitatus infinito amore corriperetur. Urebat illum venustissimi corporis nitor, animumque perspicuae pulchritudinis habitus inflammabat. Validissimum namque libidinis irritamentum est decor. Hotherum itaque, per quem maxime votum interpellandum timebat, ferro tollere constituit, ne morae impatiens amor ullo fruendae libidinis obstaculo tardaretur. („Es begab sich aber, dass Balderus, des Othinus Sohn, die Nanna im Bade erblickte und von unendlicher Liebe ergriffen wurde; ihn versetzte der strahlende Glanz des wohlgestalteten Leibes in Erregung und seinen Sinn entflammte die herrliche Schönheit. Der stärkste Reiz der Lust ist ja die Anmut. Er beschloss, also den Hother, von dem er am meisten eine Störung seines Wunsches befürchtete, mit dem Schwerte zu beseitigen, damit nicht seine Liebe, die keinen Aufschub ertrug, durch ein Hindernis in der Erlangung des Genusses gehemmt würde“).
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endlich ums Leben. Diesen Todesaspekt schildert Saxo nun wiederum sehr ausführlich, eine gefährliche, schadenbringende Dämonenhaftigkeit, jetzt kommt das spezifisch Amphibische, Wasseraffine hinzu, es ist das typische Bedeutungsspektrum der mittelalterlichen Mahr.²⁰⁷ Und wie der slavische Fürst im Schiff und Freyr im Wagen bei ihrer eigenen Beerdigung herumgefahren werden, so wird auch Balders Hochzeitsfahrt zur Beerdigungsfahrt. Die ,Larvenʻ Nannas gehören zu lat. lārua, larva („Larve, Maske, böser Geist, Gespenst“), Lăres („das Ansehen, das Bild eines Lar tragend“). Nanna zeigt sich bereits hier in Gestalt eines Ahnengeistes.²⁰⁸ Dem Wasser entstiegen gleicht Nanna jetzt einer Peri, einer Schadensdämonin, aber auch einem Totengeist. Saxo lässt daran kaum einen Zweifel, wenn er schließlich in einem weiteren Traum, nachdem Balderus von Hotherus tödlich mit dem Schwert verletzt wurde, die Unterweltgöttin Proserpina erscheinen lässt, auf nämliche Art wie zuvor Nanna, als verstörendes Traumbild, aber ebenso mit eindeutig erotischen Konnotationen: Als Balder fühlte, dass das Geschick ihm unabwendbar nahe, da erneuerte er, erregt durch die schmerzende Wunde, am folgenden Tage den Kampf; beim wildesten Toben des Kampfes lässt er sich auf einer Sänfte in die Schlacht tragen, um nicht im Zelte eines unrühmlichen Todes zu sterben. In der folgenden Nacht erschien ihm Proserpina (Hel) im Traume und verkündete ihm, dass sie des nächsten Tages in seinen Armen ruhen werde; die Weissagung des Traumbildes war nicht eitel; denn als drei Tage vergangen waren, da liess ihn die grosse Qual der Wunde sterben. Seine Leiche bestattete das Heer mit königlichem Begängnis und setzte sie in einem aufgeschütteten Hügel bei.²⁰⁹
Die weiblichen Wesen in Balders Todesträumen markieren damit den Anfang wie Ende seines Übergangsritus: Mit Nannas Verheißungen beginnt die Totenhochzeit, in Proserpinas Armen wird sie vollzogen, was den ,eigentlichenʻ, rituell unterstützten Tod bedeutet.
Gest. Dan 3. 2: Idem larvarum Nannae speciem simulantium continua noctibus irritamenta perpessus adeo in adversam corporis valetudinem incidit, ut ne pedibus quidem incedere posset. Quamobrem biga redave emetiendorum itinerum consuetudinem habere coepit. Tanta amoris vi suffusum pectus ad extremam paene eum tabem redegerat. Nihil enim sibi victoriam dedisse credidit, cuius Nanna praeda non fuerit. („Balder erlitt durch Larven, welche die Gestalt der Nanna annahmen, fortwährend in der Nacht störende Belästigungen und wurde davon so schwach, dass er sich nicht auf den Füssen halten konnte. Deshalb gewöhnte er sich daran, seine Wege auf einem Zweigespanne oder Wagen zu machen; die grosse Liebe, die sein Herz ergriffen, hatte ihm mit ihrer Qual alle Kraft genommen. Nichts, glaubte er, habe ihm ein Sieg gegeben, dessen Beute nicht Nanna gewesen war“). Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „lārua“; Walde/Hofm. 1965 – 1972, „lemurēs“: „die herumschweifenden Geister“, „Nachtgeister, Gespenster“, wohl zu λαιμός „Schlund, gefräßig“, lat. lamia, lamium, λαμία „Gespenst“, lit. lemoti „lechzen“. Gest.Dan. 3.3: Qui cum indubitatum sibi fatum imminere sentiret, dolore vulneris accensus die postera proelium renovat. Quo fervente, lectica se in aciem deferri iussit, ne intra tabernaculum obscura morte defungi videretur. Postera nocte eidem Proserpina per quietem astare perspecta post triduum se eius complexu usuram denuntiat. Nec inane somnii praesagium fuit; nam Balderum elapso triduo nimius vulneris cruciatus absumpsit. Cuius corpus exercitus regio funere elatum facto colle condendum curavit.
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Aber auch das christliche Mittelalter kennt die Wasserfrau nicht nur in ihrer vorchristlichen Funktion als Ahnin und Genealogiengründerin, sondern ebenso in der (nicht weniger unchristlichen) Funktion der Totenbraut und Jenseitsgeleiterin. So ist etwa der Tod des Ritters Peter von Staufenberg in der gleichnamigen Versnovelle des Egenolf von Staufenberg (ca. 1310) auf solche Weise inszeniert. Diese Erzählung gehört zum Typus der gestörten Mahrtenehe, aber hier liegt das Tabu nicht in einem Blickoder Sehtabu, vielmehr im Verbot zur Heirat selbst. Die schöne Anderweltfrau, die der Ritter in einer stereotypen Begegnungssituation am Wasser antrifft, verbietet diesem ausdrücklich zu heiraten, die Übertretung würde seinen sicheren Tod nach drei Tagen zur Folge haben. Wie zu erwarten, kann der Ritter das Verbot nicht einhalten, er schließt den Bund der Ehe mit einer Menschenfrau. Als (angekündigtes) Zeichen des unausweichlichen Todes bricht nun zum Schrecken der versammelten Hochzeitsgesellschaft ausgerechnet ein Fuß der Fee durch die hölzerne Decke. Für den mittelalterlichen Helden bleibt immerhin noch Zeit, sich zum Sterben niederzulegen, die Sakramente zu empfangen, von der Familie Abschied zu nehmen und die (zukünftige) Witwe ins Kloster zu schicken. Eine bizarre Szenerie, manches daran bleibt eher unklar, wie etwa dieses Heiratsverbot einzuordnen sei, womöglich als „Angstfantasien“ eines in seiner „regressiven Sexualität“ gefangen jungen Mannes?²¹⁰ Wohl eher nicht, wenngleich dermaßen tiefenpsychologische Deutungsansätze nicht von vorneherein ausgeschlossen werden müssen. Aber ursprünglich wird hier wohl ein Übergang ganz anderer Art inszeniert: der endgültige, tödliche Übergang als Hochzeit. Das wundersame Motiv des schönen Feenfußes hat dabei nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet. Natürlich muss man an die bekannten sexuellen Assoziationen des nackten Damenfußes denken, sie mögen in diesem Fall durchaus mitgedacht sein, aber, interessant genug, treffen wir auf nämliches Motiv auch im altnordischen Mythos. Man kann dabei an die nackten (männlichen) Füße der Skaði-Anwärter denken, vielleicht aber auch an eine andere, gewiss am wenigsten erotisch aufgeladene Situation: Ausgerechnet im wohl berühmtesten Thorsabenteuer, Thors Angelung der MidgardSchlange, steht eine ,Fußepisodeʻ im Zentrum der mythischen Dramaturgie. Thor bricht an der Grenze seiner eigenen Kräfte (wie die der Weltenschlange!) mit dem Fuß durch den hölzernen Rumpf seines Bootes, indes bestenfalls als Element der Spannungssteigerung sekundär narrativ motiviert. Aber hier wie da ist es buchstäbliches, verkörpertes Symbol der Übertretung.²¹¹ Das Sterben des christlichen, in jeder Hinsicht vorbildlichen, höfischen Protagonisten wird als Vereinigung mit einem jenseitigen Wesen inszeniert, gleichzeitig aber nach bekannter Art einer mittelalterlichen
Von Fuchs-Jolie 2010, S. 102, an dieser Stelle eher zögerlich vorgeschlagen. Wir sehen das Fuß-Motiv als offenbar wichtiges Detail auch ikonographisch abgebildet, etwa auf dem Runenstein von Altuna oder dem Bildstein von Hørdum Kirke. Literarisch scheint der darin eingebundene Kampf mit dem Riesen Hymir (wie so häufig bei den Thorsabenteuern) zum lustigen Gerangel herabgesunken: Thor versetzt dem Riesen, der ihn bekanntlich von seinem Vorhaben abhalten will, eine Ohrfeige. Auf diese Weise wendet Thor seinerseits ,das Untersteʻ nach oben, auch die Fußsohlen des Riesen werden sichtbar und verweisen als Achse gegen den Himmel (Gylf 48).
11.5 Nanna
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ars moriendi, der idealen christlichen Art zu sterben. Wir treffen also auf eine Kombination vorchristlicher wie christlicher, höfischer Plausibilisierungsmuster, was aber die Erwartungshaltung an eine nichtchristliche Mahrtenehe gleichermaßen wie an die christlichen Vorgaben einer ars moriendi enttäuschen muss. Hier geht es gerade nicht um den „Überschuß aus der Anderwelt“,²¹² den die Anderweltfrau üblicherweise gewährt, es geht nicht um Ruhm und Reichtum, den der Ritter ohnehin bereits besitzt, nicht einmal um die Kennzeichnung und Vertreibung eines unchristlichen Wesens, vielmehr um deren Funktion als Totengeleiterin. Es muss deshalb kaum verwundern, dass sich im paganen Norden bereits eine Annäherung des Schwanenjungfraukomplexes an die Walkürenvorstellung, die Totengeleiterinnen par excellence, beobachten lässt. Gewiss erst ab dem Moment als sich der Hauptaspekt der Totenvögel nicht mehr im monströsen Bild der Leichendekomposition konkretisierte, sondern in gewissermaßen verfeinerten, sublimeren Vorstellungen. Die Auflösung der Leiche wird zu einem ,Weggehenʻ des Toten, einem Abschied, im Weiteren zu einem kommunikativen, sozialen Akt. Und so werden auch aus den tierischen Aasfresserinnen mehr und mehr anthropomorphe Wesenheiten mit eben nunmehr menschlichen, sozialen, emotionalen Bedürfnissen und Fähigkeiten,²¹³ das Sterben wird zum Geleit, zum Austausch bis hin zur sexuellen Verbindung. Aber auch die umgekehrte Richtung der Annäherung werden wir dabei im Auge behalten müssen.²¹⁴ Eurasische wie europäische Schwanenvögel sind keinesfalls Raubvögel oder Aasfresser, dennoch erscheinen sie durchaus monströs, schlangenartig oder drachenartig, ja die (europäischen wie eurasischen) Mahrtenehen schließen expressis verbis Nachtmahre in den Kreis der potentiellen Heiratskandidatinnen mit ein, dämonenhafte, schadenstiftende, todbringende Wesen, die wohl für eine Zeit gebändigt werden können, bis schließlich die Ehe dramatisch, nicht selten tödlich für den Menschen endet.²¹⁵ Kellner 2004, S. 426. Siehe Egeler 2009, S. 450: „Einerseits Schreckensgestalten des Schlachtfelds, die sich am Gemetzel erfreuen und als Nebelkrähen vom Fleisch der Gefallenen fressen, aber andererseits auch Wesen in sexuellen Beziehungen mit Kriegshelden, die ihrem Liebhaber Hilfe in der Schlacht gewähren können […].“ Egeler möchte keine Unterscheidung zwischen so genannten „archaischen“ und späteren „literarischen“ Modellen sehen, diese Unterschiede ließen sich in den altnordischen Quellen nicht chronologisch interpretieren, vielmehr seien sie auf gleiche Weise typische Züge des Walkürenglaubens (vgl. Egeler 2009, S. 451). Siehe Böldl 2004, S. 420: „In der anord. Überlieferung nähern sich die Sch[wanjungfrauen]Typol[ogien] den Walküren an oder werden auch, wie in der Vǫlundarkviða, mit diesen identifiziert.“ Dieser Bruch des weltlichen Heiratsverbots der Anderweltfrau wäre beinahe auch dem Wikingerfürsten Ragnarr loðbrók zum (mutmaßlich tödlichen) Verhängnis geworden. Auch Ragnars Frau Áslaugr ist eine ‚Drachenfrau‘ und erscheint in jenem hochgefährlichen „Überschuß aus der Anderwelt“ (Kellner 2004, S. 426). Dazu gehört auch und gerade eine übernatürliche Kommunikationsfähigkeit mit Vögeln, entsprechend gut informiert zeigt sie sich über den Plan ihres Mannes zu einer heimlichen Verheiratung mit der schwedischen (Menschen)prinzessin Ingibjǫrg (vgl. Ragnars saga, Kap. 8).Vordergründig mit deren Standesmäßigkeit begründet im Gegensatz zum (scheinbar) niederen Stand der Áslaugr, geht es auch hier um den unerhörten Tabubruch wie seine Folgen.
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Die Symbolsprache von Anfängen gleicht sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit der Symbolsprache von Enden an. Die östlichen Schwanenmädchen medialisieren zunächst Anfänge, schließlich erscheinen sie aber auch als Verkörperung der Ahnen selbst, der (weiblichen) Toten: Das ,Land der Vögelʻ ist das ,Land der Ahnenʻ und damit letztendlich das ,Land der Totenʻ. Aber Schwäne sind zunächst einmal keine Verursacher oder Prozessoren dieses Übergangs, so wenig wie Walküren zunächst die Toten selbst verkörpern. Mit Erscheinen des Wiedergeburt-Motivs im Rahmen der Walkürenvorstellungen ändert sich dies: Die Walküre wird nun zur direkten Verkörperung der toten Ahnin. Auch das Nanna-Mythologem vereinigt (ähnlich wie im Wielandlied) beides, die überwältigende wie überwältigte Wasserfrau (Vogelfrau). Sie fügt sich damit nahtlos ein in die Reihe mythischer Vogelfrauen,²¹⁶ und wie Isis in Gestalt eines Falkenweibchens den Geschlechtsakt mit dem Erzahnen, dem toten Osiris vollzieht, wird Nanna zur Vogelfrau des toten Balder.
Dazu passt auch der ursprüngliche Vogelname der Áslaugr: Kráka, „Krähe“ (Ragnars saga loðbrókar).
12 Körper und Delinquenz 12.1 Býleistr oder die Asymmetrie des Mörders 12.1.1 Böse Beine Bekanntlich besitzt Wieland ‒ neben seiner Flugfähigkeit ‒ eine weitere rätselhafte, körperliche Eigenart, die, auch wenn sie notorisch über Jahrtausende und Erdteile mit diesem Berufsstand verbunden scheint, genauso wenig selbstredend ist für das Konzept des Schmieds: die Lahmheit, die Gehunfähigkeit, die Geheinschränkung. Hier gelten indes die gleichen Präsuppositionen. Die (vorgebliche) Behinderung ist keine unmittelbare, natürliche Auswirkung des Schmiedehandwerks, auch wenn sie immer wieder auf diese Weise mehr oder weniger geglückt narrativ plausibel gemacht werden kann: in der Wielandsage etwa als grausamer Verstümmelungsakt eines habgierigen Königs, im griechischen Mythos als Tat der missgünstigen Mutter Hera. Ishikawa nennt die tragische Gestalt des Prinzen Yamato-takeru: Dieser verwandle sich nach seinem Tod in einen Schwan und steige zum Himmel auf. Dabei werde „unverhältnismäßig ausführlich“ eine Beinverletzung, eine Lähmung geschildert. Der Prinz klage, seine Beine würden sich ,biegenʻ, sie seien „dreifache Kurven“ und er könne nur noch hoch zum Himmel fliegen.¹ Da nun die Erzählung zur Gründungsage der mächtigen Sippe Okinaga gehöre, die (ehedem aus Korea eingewandert) zweifelsfrei mit der Metallherstellung verbunden sei, erkläre sich das Motiv wohl zwanglos als „weltweit bekannte[s] Körpergebrechen“ des Meisterschmieds.² Er möchte einer rationalistischen These den Vorzug geben, eine Art Berufskrankheit, das Risiko eines gefährlichen Berufs, möglicherweise aber auch ‚Beschäftigungsnischeʻ für gegebenenfalls von Geburt an auf diese Weise Eingeschränkte.³ Nun wäre diesem Argument, wenn überhaupt, nur dann eine gewisse Plausibilität einzuräumen, wenn tatsächlich diese körperlichen Eigenschaften ausschließlich im Rahmen des Schmiedeberufs aufträten.⁴ Sie tun es nicht, was sich immer wieder aufs Neue bestätigt. So wird auch die japanische Berggottheit Yama no kami körperlich defizient vorgestellt, einäugig und/oder einbeinig. Im japanischen Hyakki-yagyo emaki („Bildrollen der 100 Nachtgespenster“) werden nur die sogenannten ,Bergmenschenʻ, also die Totengeister, auf diese Weise dargestellt.⁵ Naumann verweist auf die Begräbnisstätten, die in Japan
Vgl. Ishikawa 1991, S. 379, Anm.13. Vgl. Ishikawa 1991, S. 379. Vgl. Ishikawa 1991, S. 379, Anm. 14. Damit kann wohl auch die Interpretation von Lois Bragg beiseitegelassen werden, die mit Claude Lévi-Strauss die Beinbehinderung („the marked foot“) der Schmiede als Kennzeichen einer Art berufsmäßigen Erdverbundenheit sehen möchte: „Only a man with the sign of chthonic origins can work appropriately with minerals of the earth“ (Bragg 2004, S. 36). Vgl. Naumann 1965, S. 106. https://doi.org/10.1515/9783110789140-013
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üblicherweise in den Bergen angelegt worden seien, was eine entsprechende Lokalisierung von Toten- und Ahnenseelen eben in diesen Regionen zur Folge habe. Und selbst wenn sie die Ursachen dieser körperlichen Einschränkungen nicht restlos klären kann, kommt sie doch zu einem eindeutigen Ergebnis: Ohne eine umfangreiche Untersuchung läßt sich mit Sicherheit vorläufig nur sagen, daß die Verbindung mit dem Schmied nicht am Anfang stehen konnte, da die Vorstellung der Einbeinigkeit in eine Zeit ohne Kenntnis der Metallbearbeitung zurückreicht.⁶
Vielfältig seien die Angaben über die Einbeinigkeit aus China,⁷ von besonderem Interesse ist dabei der Hinweis auf einen schamanistischen Tanz, der einbeinig bzw. hinkend ausgeführt wurde: Unter den einbeinigen oder hinkenden Gestalten der chinesischen Mythen ist auch Yü zu nennen, dessen Einbeinigkeit man ebenso wie die des Musikmeisterrs [sic] K’ui später wegzudiskutieren bemüht war. Der „Schritt des Yü“ ist ein Tanz, der entweder aus Hinkeschritten oder aus Hüpfen auf einem Bein bestand.⁸
Bis in jüngste Zeit wurde dieser Tanz noch von Schamaninnen ausgeführt, die sich damit in Trance zu tanzen vermochten. Auch in der burjatischen Gründungssage erscheint eine dermaßen körperliche Defizienz des Helden Odjuge-Chogor-bo, d. h. der „krumme, lahme Schamane Odjuge“, die indes überhaupt nicht weiter begründet wird. Schon der Name von Wielands Vater, des Riesen Vaði, scheint auf eine besondere Art der Fortbewegung zu verweisen. So ist die Bedeutung der idg. Wurzel *ṷādh- > germ. *wad, proto-germ. *wað- wohl zunächst einmal „gehen, schreiten“, aber McConnell zögert wohl zu Recht, den Namen Vaði/Wate einfach als „a wader“ zu verstehen,⁹ insbesondere sind es die pejorativen, abwertenden Konnotationen, die in diesem Zusammenhang interessieren müssen. So bedeute „dial. waddern ‚to walk clumsily, awkwardlyʻ, and is usually employed to describe the gait of obese persons“, dial. wädig „wild, unruly, haughty“.¹⁰ Vater wie Sohn erscheinen also als abweichend im Gang, in der Art ihres Gehens gekennzeichnet. Die Lahmheit des Schmieds ist auch im Norden nicht ursprünglich, aber er konnte (ab einer bestimmten Zeit, die zweifelsohne erst mit der Erfindung und Ausbreitung
Naumann 1964, S. 170. Vgl. Naumann 1964, S. 162. Naumann 1964, S. 166. Vgl. McConnell 1978, S. 86. McConnell 1978, S. 84. McConnell verweist auf insgesamt drei semantische Felder, die mit der Wurzel gefasst würden: „1) largeness, or obesity; 2) foolishness or clumsiness in one’s habits, particulary in one’s gait; 3) boldness. All of these aspects represent deviants from the norm of moderation“ (McConnell 1978, S. 85). Er sieht das Bedeutungszentrum dieses Namens also eher im Bereich des ,Monströsenʻ, ,Riesigenʻ, ,Fettenʻ.
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der Metallgewinnung und Verarbeitung einsetzen konnte) eine ganz bestimmte Vorstellung auf besonders plausible, prototypische Weise darstellen, die bereits zuvor auf andere Art verkörpert war. Mit anderen Worten, als Schmied bekommt er nun all jene Eigenschaften zugeschrieben, ja zieht sie mehr und mehr an, die zuvor (oder daneben) in anderen Wesenheiten verkörpert war. Im Zusammenhang mit dem mythischen Baum Mímameiðr ist bereits auf das Benennungskonzept verwiesen worden, das sich die Schmiede des nordischen Mythos und der (böse) Wunderbaum teilen: Als Grundlage konnte ganz allgemein ein Bedeutungsfeld von ,betrügerischem Wechselʻ, ,Täuschungʻ ausgemacht werden und einem dadurch entstehenden „Schaden“, einer „Verletzung“ (vgl. an. meina „beschädigen“, „verletzen“, meinn „schädlich“, „schlecht“). Das Verb ,meidenʻ (mhd. míden, ahd. mídan < wg. *meiþ-a- „meiden“ < idg. *meit- „wechseln, tauschen“) gehört gleichermaßen in dieses Bedeutungsspektrum (siehe Kapitel 9.6). Tatsächlich ist damit zunächst einmal die Tätigkeit an sich gemeint, die Tätigkeit des Schmieds: das Biegen, das Krümmen, Verändern, Zerschlagen, die Transformation; ein semantisches Feld mit jenem unhintergehbaren Kippmoment, das gleichermaßen an. meiðmar „Kostbarkeiten“ „Geschmeide“, goth. gemaiþs „schwach, verkrüppelt“, ae. gemād, as. gemēd, ahd. gimeit „verrückt, töricht“, got. maidjan „verändern, fälschen“ nebeneinanderstellen kann. Die Lahmheit des Schmieds ist damit die konkrete Verkörperung dieser Vorstellung. Er ist der brutale, grausame ,Verdreherʻ, der seinerseits buchstäblich gimeit „verdreht“, gemaiþs „verkrüppelt“ sein muss. Es ist der Vorstellungskomplex der Asymmetrie und Abweichung, es ist das Verquere wie das Schwankende, Zentrumslose, das durch den kulturellen Wissensvorrat über den Schmied am effizientesten ‒ aber beileibe nicht als Einziges ‒ medialisiert werden konnte. Es geht also gerade nicht um den defizienten Körper als solchen, auch nicht um Berufsstände oder Tätigkeiten, sondern um die am besten konventionalisierten Wissensspeicher in einer jeweiligen Kultur. Alle Körperformationen, die normalerweise paarig, gerade, symmetrisch auftreten, sind für die Perversion, die ,Entartungʻ, das Monströse prädestiniert.¹¹ Dazu gehören neben den Augen, die Extremitäten, Arme, Hände, gerade auch die Beine. Der Böse Blick hat im Rahmen dieser Konzeptualisierung (insbesondere in der folkloristischen Forschung) buchstäblich immer mehr Augenmerk auf sich gezogen, auf ein Jahrtausende altes, stereotypes Verwendungswissen, das erst in jüngster Zeit abgebrochen ist bzw. gänzlich neu motiviert wurde. Wesentlich früher ging dieses Verwendungswissen für andere Körperteile verloren. Es nähme sich gewiss merkwürdig aus, sprächen wir von der ,unvorstellbaren Zerstörungsmacht der Beineʻ, deren schrecklicher magischer Wirkmacht. Aber man wird davon ausgehen müssen, dass Einäugigkeit, Einbeinigkeit (nicht zuletzt die Einhändigkeit!), ja überhaupt jeglicher Verweis auf eine Abweichung oder Abnormität von Körperteilen in diese Richtung weist. Grundsätzlich gilt: ,Schiefeʻ Gestalten erzeugen ,schiefeʻ Handlungen, und in
Vgl. Birkhan 1997, S. 732 f.
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einem weitaus höheren Maße als buchstäblich unorthodoxe ,schiefeʻ Gedanken, erzeugen diese ein ,schiefesʻ, ,wackeligesʻ Bild von Wirklichkeit.¹² Das ist die größte Gefahr für Wirklichkeitskonstruktionen und -ordnungen, aber auch die wichtigste Voraussetzung für den Anfang, der stets Umsturz des Vorherigen, gewaltsames Übertreten des Bestehenden voraussetzen muss. Entsprechend gehört die Abweichung, das Monströse, die Perversion kulturübergreifend in den Vorstellungskomplex von Gründung. Die Aberration im Gehen, die eine Asymmetrie, eine Schiefheit, ein Schwanken im körperlichen Erscheinungsbild bewirkt, hat somit im magischen Denken (neben der Abweichung im Blick) einen gigantischen Bedeutungsüberschuss, ein riesiges Evokationspotenzial. Das ist der býleistr (býleiptr, býleiftr, bileiztr), ein Beiname Odins. Er bedeutet das ,unstete oder schwankende Gehenʻ als direkte Entsprechung zu bileygr, das ,unstete, schwankende (schillernde) Sehenʻ.¹³ Die Odinsmythen scheinen nichts mehr davon zu wissen, aber, wie sich zeigen wird, das Ritual hat nicht vergessen. Grundsätzlich gilt: Es ist dem magischen Denken ,gleich-gültigʻ, ob es sich dabei um ,richtigeʻ Behinderungen handelt, die permanent zur Asymmetrie zwingen, ob es sich um Berufsgruppen handelt, die Verbiegungen und Verformungen quasi professionell praktizieren wie der Schmied (oder der Müller, dessen sprichwörtliche ,Unehrlichkeitʻ sogar im mittelalterlichen Zunftrecht festgeschrieben war)¹⁴ oder die schiere Armut des Bettlers keinen Ausweg aus der schwankenden, unfesten Nichtsesshaftigkeit und Heimatlosigkeit zulässt. Die Schiefheit, das Schwanken kann rituell erzeugt werden, unabsichtlich oder künstlich, nicht zuletzt durch ein Kleidungsstück hervorgerufen werden. Der Schlapphut Odins ist dafür wohl berühmtestes Medium, letztendlich nurmehr zum literarischen Motiv herabgesunken.
Die Logik dieses (mythischen) Vorstellungskomplexes entspricht dem in der Metaphernforschung als PRODUCER-FOR-PRODUCT-Metonymie bekannten Prinzip. Das Ergebnis, der Effekt wird buchstäblich zum Attribut des Verursachers: das ‚traurigeʻ Buch, der ‚warmeʻ Mantel und Ähnliches (vgl. Kövecses 2002, S. 154). So schon Setälä (Setälä 1912, S. 227 f.) zu bil mit Verweis auf Cleasby/Vigfusson „of unsteady eyes“, „twinkling of an eye“. De Vries gibt bila mit „nachgeben, schlaff werden, fehlschlagen“ wieder, Bil als Name einer Göttin ebenso wie als „aufenthalt, zeit, augenblick, schwache stelle“ (an. etym. Wb 1962, „Bil“; „bila“). In diesem Sinne bedeutet es aber gerade nicht „schwachsichtig“, es ist vielmehr das Unstete, das Hin- und Herspringende, der Wendepunkt im Blick, wie wir es etwa im ahd. Ausdruck bil noch genau gefasst haben, „der augenblick, wo das gejagte wild sich zur wehr stellt.“ Aber es ist auch das Zwiefache, wiederum nicht im Sinne des „Doppelten“, vielmehr im Sinne des (noch) nicht Entschiedenen: billingr „der zwilling“, „der zwitter“. Ähnlich sind die Epitheta Odins tvi-blindi oder tveggi motiviert: Es sind die twerhe ougen, der verquere, der scheele Blick des Mittelhochdeutschen. Bil ist also im eigentlichen Sinne nicht das ,Fehlenʻ, sondern genau der Punkt, wo der Wechsel einsetzt. Es bezeichnet exakt den Kipppunkt, das Umschlagen von einer in die andere Situation. Vgl. Switalski 2005, S. 153 f.
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12.1.2 Schiefe Gestalten in Rom Von Plinius dem Jüngeren erfahren wir von einem merkwürdigen Einsatz einer Art Augenbinde vor Gericht. In einigen seiner Briefe (ep. 1,5; 4,2) macht Plinius einen offenbar eher mäßig begabten römischen Advokaten zur Zielscheibe seines Spotts wie herben Kritik: M. Aquilius Regulus, ebenso schmeichlerisch wie heimtückisch, darüber hinaus, wie es heißt, extrem ,abergläubischʻ.¹⁵ Seinen Mangel an rednerischer Begabung versuchte Regulus nun offenbar mit einer eigenartigen Praxis bei Gerichtsverhandlungen auszugleichen. Bevor er sein Plädoyer hielt, bemalte er sich das rechte oder linke Auge (nitorem addere, so nennt es Plinius, also wohl eine farbliche ,Aufhellungʻ der Augenumgebung) entsprechend für welche Seite er plädieren musste. Gleichzeitig trug er eine Art bewegliche weiße Binde (splenium candidum) über der einen oder anderen Augenbraue, um diese abzudecken, vielleicht um zusätzlich die Strahlkraft zu verstärken (oder zu unterdrücken),¹⁶ kurz ‒ eine künstliche Präparierung zur Herstellung des Bösen Blicks, des malocchio, wie Jacques Heurgon in einer Untersuchung aus dem Jahr 1969 (Les sortilèges d’un avocat sous Trajan)¹⁷ diesen befremdlichen Aufzug einwandfrei einordnet. Interessant genug, dass ausgerechnet George Dumézil, der sich sein halbes Leben mit mythischer Einäugigkeit (und insbesondere dem Zusammenhang mit mythischer Einarmigkeit) auseinandergesetzt hat, gerade dieses Beispiel nicht gelten lassen möchte. Er zitiert selbst ausführlich aus dem Aufsatz von Heurgon, kommt aber zu dem Ergebnis: „But I do not think that we can speak here of the evil eye.“¹⁸ Mit der sehr schwachen Begründung, vor römischen Gerichten sei es undenkbar gewesen, dermaßen Praktiken anzuwenden. Er habe sich wohl nur wichtigmachen wollen („impressiv and terrifying“) und die Gegenpartei moralisch („morally“) auf Distanz halten wollen, was wir auch immer darunter verstehen wollen.¹⁹ Aber wie hätte ihm das mit diesem Auftritt gelingen sollen, wenn nicht beide Parteien, Redner wie Zuhörerschaft, auf einen konventionalisierten Wissensvorrat, das, ,was jeder weißʻ über den Bösen Blick, referieren hätten können? Nun versucht Dumézil seinerseits in seinem Aufsatz ,Le Borgneʻ and ,Le Manchotʻ:The State of the Problem ein Resümee zu ziehen aus seinen jahrzehntelangen Untersuchungen und gleichzeitig eine erneute Annäherung an eine Problematik, für die er, wie er selbst zugibt, immer noch keine befriedigende Lösung gefunden habe: die Einordnung devianter Körperkonzepte, Verstümmelungen, Behinderungen als Charakteristik der obersten Souveräne, der Herrschergottheiten in seiner idéologie tripartite, seiner so
In dessen Augen scheint es sich jedenfalls um einen „äußerst verabscheuungswürdigen Menschen“ gehandelt zu haben, selbst ein Plinius, so Hans-Joachim Glücklich, der üblicherweise für humanitas plädiere, halte sich hier erstaunlich wenig zurück (vgl. Glücklich 2003, S. 54). Vgl. Dumézil 1974, S. 26f. Heurgon 1969, zit. n. Dumézil 1974. Dumézil 1974, S. 27. Vgl. Dumézil 1974, S. 27 f.
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genannten Dreifunktionentheorie.²⁰ Kritik an diesem Entwurf einer Systematisierung einer indogermanischen ,Urgesellschaftʻ ist schon an vielen Orten und von beredtem Mund geäußert worden,²¹ an dieser Stelle soll lediglich auf die Unstimmigkeiten unter dem spezifischen Aspekt jener Körperdevianzen hingewiesen werden. Dumézils eigenes Erkenntnisinteresse oder Ziel macht letztendlich bereits den größten Teil dieser Unstimmigkeiten aus: Die Einäugigkeit und Einarmigkeit sollen nach seinen Überlegungen Kennzeichen der obersten Vertreter der indogermanischen Herrscherklasse, der ,magischenʻ und der ,juridischenʻ Souveränität sein, was im Nordischen den Gottheiten Odin und Týr entspräche. Andere Aberrationen, etwa der unteren Körperhälfte, der Beine ignoriert Dumézil nahezu vollständig ebenso wie Einäugigkeit und Einarmigkeit bei Vertretern anderer ,Klassenʻ, etwa der Krieger oder Bauern. Am folgenschwersten für seine Argumentation mag indes sein, dass er außerindogermanische Quellen überhaupt nicht gelten lässt, Hinweise auf (strukturell wie funktionell ähnliche) Körperabweichungen und Verstümmelungen etwa aus dem Alten Testament muss er (mit viel apologetischem Aufwand) zurückweisen.²² Aber magisch religiös induzierte Verstümmelungen bzw. mit magisch religiöser Bedeutsamkeit versehene Körperabweichungen sind keineswegs ausschließlich für ,Indogermanenʻ reserviert, gar ausschließlich für deren ,Souveräneʻ, Herrschergottheiten (bzw. deren euhemerisierte Abkömmlinge). Dermaßen Körperaberrationen sind nicht auf einen bestimmten Trägerkreis eingeschränkt, es handelt sich vielmehr um trans-
Dabei handelt es sich um eine von ihm entworfene und für allgemeingültig erklärte, überkulturelle wie überzeitliche indogermanische Dreiklassenstruktur. Else Mundal fasst sie in ihrem kritischen Überblick wie folgt zusammen: „The three social strata included a priestly stratum (the first order on top), a warrior stratum (the second order) and a herder-cultivator stratum (the third order). To these social strata corresponded an equivalent set of gods and heroes in mythic and epic“ (Mundal 2006, S. 285). Sämtliche Götter der Indogermania lassen sich entsprechend Dumézil in dieses System einordnen, den Herrschergöttern auf der höchsten Stufe entspräche dann im Nordischen Odin und Týr, dem Kriegsgott auf der mittleren Hierarchie Thor, die Vanen wären als Fruchtbarkeitsgötter auf der niedrigsten und damit am wenigsten mächtigen Position anzusiedeln. Schon diese grobe Übersicht zeigt, dass diese Einteilung auf keinen Fall auf das germanische Religionssystem angewendet werden kann. Mundal verweist auf nur einige der vielen Probleme, die sich gerade im nordischen religiösen System damit auftun: Die Vanen sind (unabhängig davon, ob wir sie primär als Fruchtbarkeitsgottheiten betrachten wollen oder nicht) gewiss keine untergeordneten, niedrigen Gottheiten, Odin erscheint nicht nur als Magiergott, sondern genauso als Kriegsgott, die Funktion Týrs als Rechtsgott wird durch keine Quelle gestützt. Vgl. zu Letzterem insbesondere die schöne Analyse von Klaus v. See (von See 1999b). So stehen etwa sämtliche Beiträge der Zeitschrift für Religionswissenschaft 6 (1998) unter dem Thema der Kritik wie Würdigung Dumézils Theorien. Siehe auch Mundal 2006 und insbesondere Schlerath 1995. In seiner Untersuchung über die Semantik von Linkshändigkeit in der Indogermania verweist Lincoln auf die auffallende Ähnlichkeit zu alttestamentarischen, semitischen Vorstellungen. Für diesen Zusammenhang vermerkt er die stark eingeschränkte Validität der Arbeiten Dumézils, der hier Vergleichbarkeiten rigoros ausschließe: Dumézil habe auf die Einzigartigkeit und den privilegierten Status der indoeuropäischen Völker insistiert, entsprechend habe er sie zu den semitischen Völkern kontrastiert in einer Art, die an Rassismus erinnere (vgl. Lincoln 1991a, S. 258, Anm. 30).
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kulturelles Körperwissen, das nicht nur inter- sondern auch intrakulturell mit unterschiedlichen Gültigkeiten versehen werden kann, vom wirkmächtigsten Zauberer, ja Weltenschöpfer, zum rein literarischen Motiv bis hin zur Alltagsmetapher: In diesem Sinne mag das seltsame Gebaren des römischen Advokaten tatsächlich kaum mehr gewesen sein als ein lächerlicher Auftritt, „tittle tattle“,²³ für Plinius allemal, aber die Präsuppositionen, die Wissensvoraussetzungen sind die gleichen wie bei der Konzeption des devianten, so genannten obersten Germanengotts, bei sämtlichen devianten Germanengöttern. Dumézil zieht also Grenzen, wo keine sind, denn sehen wir uns die im Übrigen (sehr zu seinem eigenen Unmut) einzige indogermanische Parallele einmal an, die er zu seinem nordischen ,Herrscherpaarʻ („my maimed pair“)²⁴ Odin und Týr zu finden glaubt (nachdem er von einem ,keltischen Paarʻ, Nuada und Lug, später, indes ohne Not, wieder Abstand genommen hat): Es sind wahrscheinlich fiktive, pseudohistorische Gestalten der römischen Frühzeit, Horatius Cocles,²⁵ der ,Zyklopʻ, der ,Einäugigeʻ, und Mucius Scaevola,²⁶ der ,Linkshänderʻ ‒ gewiss adäquate Vertreter magischer Verstümmelungen, schon durch ihre Beinamen sind sie gekennzeichnet. Allerdings erscheinen sie nicht in einer wie auch immer gearteten (mythischen) Herrschertätigkeit, vielmehr werden sie bedeutsam im Rahmen eines Gründungsgeschehens. Es ist das Jahr 2 oder 3 nach der Gründung der jungen römischen Republik und ausgerechnet durch die heldenhaften Taten eines Einäugigen und eines Einarmigen gelingt es, den Angriff des vertriebenen Etruskerkönigs Tarquinius Superbus, der erneut nach der Macht strebt, und des Königs Porsenna, der diesen unterstützt, niederzuschlagen. Ganz allein soll Horatius die Brücke über den Tiber verteidigt haben und die Feinde in Schach gehalten haben, indem er, so berichtet es Livius ausdrücklich, circumferens truces minaciter oculos,²⁷ also „schreckliche Blicke“ um sich geworfen habe, bis es schließlich gelang, die Holzbrücke hinter ihm abzureißen. In voller Bewaffnung und Rüstung soll er sich anschließend dem Fluss, dem Vater Tiber überantwortet haben, konnte sich aber, nach Livius (und anderen), schwimmend ans Ufer retten (Livius 2, 10 – 13),²⁸ nach Polybios soll er indes ertrunken sein (Historien 6, 55).²⁹ In anderer Überlieferung soll er aus diesem Kampf eine Verletzung davonge-
Dumézil 1974, S. 28. Natürlich muss Dumézil auf diese Paarbildung oder -bindung bestehen, weil nur das paarweise Auftreten dieser Behinderungen sein System stützt. Walde/Hofm. 1965‒1972, „cocles“: „der (von Geburt) Einäugige“, zu griech. κύκλωψ. Die Verbindung zu oculus, die Varro angebe, sei aber „unmöglich“. Vgl. Walde/Hofm. 1965‒1972, „scaevus“: „link“, dazu mhd. schief, schiec „schief“. Vgl. Walde/Hofm. 1965‒1972, „trux“: „durchbohrend (vom Blick)“, „schroff abstoßend“, „grimmig“. Minae, -arum „hervorragend (die Spitzen an den Mauern, Zinnen)“, „Drohungen“; „Unglück drohende Vorbedeutungen“, minax „(über)ragend, drohend“ (Walde/Hofm. 1965‒1972, „minae“). Hillen (Hg.) 1997. Paton (Hg.) 2010. Die Memorierung dieser Großtaten gehörte zum spezifischen Ritualablauf eines römischen Aristokratenbegräbnisses (vgl. Roller 2004, S. 1). Servius weiß von einer Abbildung Horatius Tat auf dem Schild Äneas (Serv. Aen. 8, 646).
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tragen haben, eine Hüftverletzung, die ihn zeitlebens hinkend machte (vgl. Dionys von Halikarnass 5, 24, 3). Roller verweist auf ein „famous bon mot“, das Servius Horatius diesbezüglich zuschreibt (Serv. Aen. 8, 646), „when during the elections his hip defect was cast against him as a reproach: ,With every step, I am reminded of my triumph.ʻ“³⁰ Dabei stellt Roller wohl berechtigt die Frage: „But why should Horatius be reproached for his wound in the first place?“³¹ Natürlich könnte er aufgrund dieser Verwundung für ein öffentliches Amt ungeeignet erscheinen aus rein praktischen Gründen, aber die Ablehnung, so Rollers Vermutung, scheint eher mit der religiösen Kultausübung, also nicht mit seinem körperlichen Vermögen, vielmehr mit seiner Geeignetheit dafür in Verbindung zu stehen.³² Servius gebe die Begründung, cum […] coxae vitium obiceretur, und obicio sei der „technical term for introducing a religious objection to a course of action […], and vitium is a technical term for an unfavorable augury […].“³³ Presumably, his limp was „held against him“ by a viewer who inserted the wound into a different discourse, one in which physical imperfection correlates with moral and social inadequacy. Indeed, this ambiguity ‒ Is the disfigured person turpis or fortis? Are the marks on his body dehonestamenta or decora? ‒ is endemic in Roman discussions of wounds.³⁴
In der Tat werden in einem militärischen Diskurs Wunden, die im Kampf expressis verbis ,von vorneʻ zugefügt wurden (vgl. cicatrices advorso corpore, „scars in the front of the body“, Iug. 85, 29), wertvolle, ehrenvolle Wunden sein,³⁵ stumme Zeugen der Kampfkraft und des Mutes ihres Trägers, aber hier interagiert noch ein weiterer Diskurs, ein sehr sublimes Körperwissen, wo weniger die Verwundung als solche (bzw. wie diese erhalten wurde) im Mittelpunkt steht, vielmehr das Ergebnis, eine Körperdevianz, die auch im römischen kulturellen Kontext als ungut und schmählich empfunden wurde. Sie wird vergleichbar sein mit der verminderten Kultfähigkeit von Menschen mit Behinderung im Alten Testament (vgl. etwa Lev. 21, 17‒23).³⁶ Über die Art von Horatius Körperdefekten ist sich freilich die Überlieferung am wenigsten einig, so wird manches Mal in der neueren Forschung bezweifelt, ob er überhaupt jemals einen Augenschaden besessen habe. Zum einen wird er (in antiker Tradition) ebenfalls als Verletzung aus einem früheren Kampf erklärt. Plutarch (Publicola 16, 7) bietet eine alternative Erklärung an, die Anomalie im Blick sei seiner merkwürdigen Physiognomie, einer Art Gesichtsverformung, zuzuschreiben. Von See möchte von gar keiner ,wirklichenʻ Einäugigkeit ausgehen, das Cognomen sei diesbezüglich bedeutungslos,³⁷ und er verweist auf römische Beinamen ähnlichen Cha
Roller 2018, S. 38. Roller 2018, S. 39. Vgl. Roller 2018, S. 39. Roller 2018, S. 39, Anm. 18. Roller 2004, S. 13. Vgl. Roller 2004, S. 13. Vgl. Schorch 2008. Vgl. von See 1999b, S. 130.
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rakters, die schließlich ebenso, ohne jeglichen appellativen Charakter, reine Nomina propria seien, etwa ,Varroʻ „der Krummbeinige“ oder ,Straboʻ „der Schieler“. Darüber hinaus sei ausdrücklich vom Plural die Rede, von truces oculos, den „drohenden Augen“, und damit seien doch wohl gerade zwei Augen gemeint. Wenn überhaupt, berichteten die Quellen von einem ganz anderen Leibschaden, der Lahmheit, aber der stünde damit ja nicht in Verbindung.³⁸ Alle diese Einwände mögen realistischer Logik entsprechen ‒ aber sie sind nicht ,magischʻ gedacht. In einem magischen Denkmodell korrelieren tatsächlich alle diese Symbolformen, weil sie einer anderen Logik folgen, der Logik der Konkretheit, der „magischen Konkreszenz“. Zweifelsohne haben wir es hier mit aitiologischen Mythenelementen zu tun (wofür wir auch Odins ,Augenverlustʻ oder ,Augenpfandʻ letztendlich halten müssen), „retrojected from the name for which it accounts“, so Roller, „necessitated because no one could find a way to connect the cognomen to his defense of the bridge, the only deed for which he was known.“³⁹ Es sind in der Tat die magischen Denkstrukturen, die bereits in der Antike für Missverständnisse sorgte. Der Grund dafür ist leicht zu sehen: Diese Gründungsnarrative mussten schon früh für andere Zwecke zur Verfügung stehen als lediglich vom Anfang zu erzählen.⁴⁰ Sie erfahren eine tiefe und nachhaltige Umstrukturierung in „ethische Kategorien“, sie werden zu exempla, zu nachahmenswerten, erinnerungswürdigen Idealen der römischen Gesellschaft, allen voran die virtus, das „behavior appropriate to a man.“⁴¹ Diese Aufgabe musste sie zwangsläufig in Kollision bringen zu eben jenen transgressiven, inversen, ja mitunter perversen Eigenschaften von Anfangsgestalten, eine unauflösliche Diskrepanz, die wiederum eine Vielzahl an narrativen Plausibilisierungsversuchen nach sich ziehen musste. Dumézil schenkt auch der Lahmheit des Horatius auffallend wenig Aufmerksamkeit. Er hält sie offenbar ähnlich wie von See, wenngleich sie sonst in fast allen Punkten unterschiedlicher Meinung sind, für bedeutungslos. Wohl verweist er nachdrücklich auf den symbolisch religiösen Wert von Körpereinschränkungen, „each disability was paradoxically connected with the particular god’s character and role in the pantheon“,⁴² aber dazu zählt er nur die Einäugigkeit und Einarmigkeit und gerade
Vgl. von See 1999b, S. 130. Roller 2004, S. 16, mit Verweis auf Münzer 1913, Sp. 235: „[N]iemand [war] beim besten Willen im Stande, diesen Beinamen mit der einzigen bekannten Tat des Helden in Verbindung zu bringen; man half sich mit der kläglichen Ausflucht, er habe in einem früheren Kampfe ein Auge verloren […].“ Im Rahmen einer insgesamt „annalistische[n] Konstruktion“ (Sehlmeyer 1999, S. 93) wird Horatius Cocles mit weiteren Gründungsmythologemen belegt, etwa einem Pflügemythos, er dürfe so viel Land sein Eigen nennen, wie er an einem Tag umpflügen könne. Wenn auch das Motiv des betrügerischen Landerwerbs hier nicht ausgeführt wird, so wird es doch in gewisser Weise anzitiert. Daran schließt sich eine weitere merkwürdige Abgabeaktion an, dass jedermann Horatius von seinen eigenen kargen Zuteilungen eine Ration abzugeben hatte, was gegebenenfalls ein mythisches Teil-Ganzes-Verhältnis evozieren sollte. Roller 2004, S. 4. Dumézil 1974, S. 18.
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nicht die Einbeinigkeit (Lahmheit). Jene Art von Verwundung sei lediglich ein „secondary bodily fault, which is not a mutilation in the strict sense of the term“.⁴³ Sie habe also „no effect whatsoever upon his performance.“⁴⁴ Über diese Ignoranz wundert sich auch Lincoln, schließlich würde gerade in antiker Überlieferung die Wichtigkeit dieser Wunde hervorgehoben, es sei diese Verletzung gewesen, weswegen er geehrt worden sei, so wurde im Tempel des Vulkan, dem ,hinkenden Gottʻ, für Horatius eine Bronzestatue aufgestellt, ein Akt von allgemeiner, öffentlicher Bedeutsamkeit.⁴⁵ Im Übrigen findet sich die Kombination Flussüberquerung, Kampfhandlung, Hüftverletzung auch als alttestamentarisches Gründungsmythologem. Hier ist es mit der berühmten Anfangsgestalt Jakob, dem Stammvater und Erzahnen Israels, verknüpft. Auch hier erscheint bekanntlich ein primordiales Bruderpaar, die Zwillinge Jakob und Esau. Und kaum unerwartet treffen wir auch in diesem Anfangsmythologem auf einen Mangel an „klare[n] moralische[n] Prinzipien.“⁴⁶ Dem Älteren wird wie bei Romulus und Remus sein Erstgeborenenrecht durch Betrug streitig gemacht, dem blinden Vater Isaak mit einem Trick (nicht zuletzt mithilfe der Mutter) ‚der Segenʻ abgerungen. Und auch bei Jakob steht das Motiv der trickreichen Vermehrung des Besitzes im Vordergrund, das sich freilich im kulturellen Kontext von Nomadentum nicht als betrügerische Landnahme zeigen kann, dafür als betrügerische, insbesondere zauberische Erweiterung des Viehbestandes (siehe Gen. 30, 25‒43). Auf diese Übereinstimmungen ist vielfach verwiesen worden, weniger auf eine Episode, die sich bei der Rückkehr, in der Nacht vor der erhofften Aussöhnung Jakobs mit seinem Bruder Esau ereignet (Gen. 32, 23‒33). In theologischer Reflexion zur existenziellen Auseinandersetzung des Gläubigen mit Gott, zum Gotteskampf stilisiert, ist es doch zunächst einmal ein Ursprungsmythos par excellence: In der Nacht überquert Jakob den Fluss Jabbok und bringt all seinen Besitz, all seine Frauen, Mägde und Söhne Dumézil 1974, S. 19. Dumézil 1974, S. 19. Dumézils Verkennung der Funktionsweise magischer embodiments zeigt sich noch an manch anderer Stelle: Der einäugige Odin habe wohl übernatürliches Wissen, aber die Macht, seine Feinde zu lähmen und blind zu machen, sei keine Konsequenz dieser Behinderung. Dies treffe nur auf den einäugigen Horatius zu (vgl. Dumézil 1974, S. 24). Lugs Blickzauber hingegen sei „only a magical grin, not a mutilation“ (Dumézil 1974, S. 21), Nuada, den einhändigen König der Tuatha Dé Danann hält er zwar für einen legitimen Vertreter des idg. Rechtssouveräns, aber den Zusammenhang zwischen Bösem Blick und Einäugigkeit erkennt er hier genauso wenig: „Balor is evil-eyed rather than one-eyed“ (Dumézil 1974, S. 21). Das vermutlich größere Problem für ihn aber dürfte wohl sein, dass Balor nicht in sein System passt, er ist kein Tuatha Dé Danann und ist deshalb auch nicht ,homologʻ (vgl. Dumézil 1974, S. 21) zu Nuada. Siehe dazu auch kritisch Lincoln 1991a, S. 249. Vgl. Lincoln 1991a, S. 247 f.: Entsprechend mutmaßt auch Lincoln, dass es wohl die ,falscheʻ Verstümmelung nach Dumézils Auffassung gewesen sein müsse. Nach seiner Theorie seien die unteren Gliedmaßen für die unteren, die niederen Klassen reserviert, entsprechend unpassend für einen vorgeblichen Souverän der obersten Klasse (vgl. Lincoln 1991a, S. 252). Ähnliches bemerkt Kim McCone: Dumézil lasse Figuren, die nur ein Bein oder einen Schuh besäßen, ganz willkürlich außer Acht (vgl. McCone 2002, S. 62). Recker 2000, S. 64.
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sicher ans andere Ufer. Und da heißt es: „Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jacobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang“ (Gen. 32, 25 f.). In einem erbitterten Kampf klammert sich Jakob an den Fremden und trotzt ihm den ‚Segenʻ ab. Die älteste Schicht dieser Erzählung scheint aus kanaanäischer Lokaltradition zu stammen und hat ursprünglich nichts mit einer Gotteserfahrung zu tun, es ist der „Kampf eines Mannes gegen einen Flussdämon.“⁴⁷ Er gleicht damit auch den ähnlich unentschiedenen Kämpfen mit Flussgöttern aus der griechischen und nordischen Mythologie. Hier ist es der Flussgott selbst, der als Geschädigter, als ,Einseitigerʻ aus dem Kampf hervorgeht, der griechische Acheloos, der nordische Heimdallr. Beide werden erst zu Segensspendern, nachdem sie (fast) besiegt sind.⁴⁸ Der abgerungene Segen ist in diesem Sinne identisch mit dem ‚erschwindeltenʻ Vatersegen.⁴⁹
12.1.3 Noch mehr Zauberbeine Im Gegensatz zu Dumézil möchte Lincoln in diesem Zusammenhang keinesfalls den irischen Gott Lug übergehen. Dieser könne schließlich ganz gezielt eine einbeinige und einäugige Form annehmen: In der Erzählung The [Second] Battle of Mag Tuired ⁵⁰ werde berichtet, wie Lug Zugang zur Göttergemeinschaft gefunden habe, indem er sich zuerst als Baumeister, dann als Schmied, dann als Kämpe, als Harfenspieler, als Poet, als Historiker, als Zauberer und zuletzt als Arzt vorgestellt habe, also als buchstäblich ,Alleskönnerʻ (entsprechend der Beschreibung Caesars von Lug als omnium inventor artium), versiert in den besonders wirkmächtigen, gerade auch übernatürlichen, magisch wirkmächtigen Künsten. Und darüber hinaus beherrscht Lug einen Kampfzauber, auf einem Bein, um das feindliche Heer hüpfend, und mit einem Auge geschlossen, tätigt er einen Zauberspruch und verhilft damit dem eigenen Heer zum Sieg.⁵¹ Aber mehr denn je zeigt sich doch nun gerade darin die Ähnlichkeit zum nordischen Býleistr Odin. Übereinstimmungen zwischen beiden Gottheiten sind von anderer Seite schon lange vermutet worden, auch aus schwachen oder gar falschen Gründen,⁵² aber nicht zugestimmt werden kann Egeler in seiner Einschätzung, es sei überhaupt keine spezifische Verbindung zwischen beiden Gottheiten zu erkennen:
Recker 2000, S. 65. Siehe ähnlich der nächtliche Kampf des menschlichen Vaters des Achill, Peleus, mit dessen Mutter, der Meerfrau, der Nereide Thetis: Auch sie entzieht sich seinen Annäherungen durch den typischen Gestaltenwandel des Wasserwesens. Um sie überwältigen zu können, muss er sich heftig an sie klammern (vgl. Ovid Met. 11, 240 – 265). Dagegen Recker 2000, S. 66. Gray (Übers.) 2009 [1982]. Vgl. Lincoln 1991a, S. 255, Anm. 17. Siehe Gray (Übers.) 2009 [1982], S. 59. Vgl. Egeler 2013, S. 93 – 96.
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Die Art von Magie, die Lug betreibe, sei lediglich „a stock-element of magical actions in Irish literature“,⁵³ „overall conventions of Irish literary magic“,⁵⁴ damit sei dieser Vergleichspunkt (neben vielen weiteren) von keiner nennenswerten Signifikanz, da es ja nicht um ein spezifisches Charakteristikum des Gottes Lug gehe.⁵⁵ Die Einäugigkeit und Einbeinigkeit ist aber hier wie da Kennzeichen (wie Voraussetzung) des notorischen wie kasuellen Transgressors, des Umstürzlers. Es geht um die spezifische Funktion, in der sich die Götter gleichen. Siehe etwa Agamemnons berühmten „lowerclass antagonist“⁵⁶ Thersites (Il. 2, 211– 69), ein „Meuterer, Lästerer und Prahlhans, dessen gemeine Gesinnung mit körperlicher Missgestalt in Einklang gesetzt wird.“⁵⁷ Er wird als „lahm am Fuß“ beschrieben, φολκóς, ein hapax legomenon, das aber gleichermaßen von den antiken Autoren als „squinty-eyed“ verstanden wurde, als eine Art ,Sehabweichungʻ.⁵⁸ Somit müsse Thersites, so vermutet Lincoln, (wiederum ganz ähnlich wie Horatius Cocles) als deformiert an Auge und Bein verstanden worden sein.⁵⁹ Die übelwollende Hexe Cailb bringt in der Erzählung Togail Bruidne Da Derga (Die Zerstörung der Halle Da Dergas) den König Conaire Mór mit eben diesen Mitteln ums Leben.⁶⁰ Sie erweist sich hier als typische Todesdämonin, nach Art einer irischen Bodb.⁶¹ Sie wird zur tödlichen Grenzenbrecherin mit dem stärksten magischen Mittel, das zur Verfügung steht ‒ mit ihrem Körper. Auch in diesen ist das Konzept der Asymmetrie, der Schiefheit, der Abweichung unübersehbar eingeschrieben: Ihr Mund sitzt seitlich im Gesicht (wie ohnehin ihr ganzes Äußeres von abstoßender Hässlichkeit ist, etwa Schamhaare, die ihr bis zum Knie hängen). Gleichzeitig verstärkt sie diese Schiefheit künstlich, indem sie noch zusätzlich ein Auge zukneift, und ausdrücklich damit den Bösen Blick auf die Anwesenden wirft. Diese Implikationen werden meist erkannt ebenso die starke Sexualisierung dieser Szene, eine pervertierte Sexualität freilich, die am wenigsten mit Fruchtbarkeitskonzepten zu tun hat,⁶² son Egeler 2013, S. 94. Egeler 2013, S. 95. Vgl. Egeler 2013, S. 94 f. Lincoln 1991a, S. 255, Anm. 15. Groß 1979, Sp. 748. Auch Thersites ist ein Wehrkraftzersetzer wie Lug und Odin – nur für die falsche Seite. Entsprechend erfährt er, nachdem er von Odysseus wegen seiner Hetzreden böse verprügelt worden ist, keineswegs Solidarität, sondern erntet nur schadenfrohes Gelächter des Heeres. Aber bekommt nicht auch Týr, trotz seiner schlimmen Verletzung und ‒ wie es zumindest Snorri darstellt ‒ selbstlosen Opferung seiner Hand, genauso wenig Anteilnahme? Auf gleiche Weise wird er von den Göttern schadenfroh verlacht, was gar nicht zu seiner uneigennützigen Rettungstat passen mag. Vgl. Pape 1914, S. 1297 f.: „φολκός, ὁ, nur Il. 2, 217 als Beiwort des Thersites; […] mit verdrehten Augen, schieläugig; […] schiefe Beine, krummbeinig“. Da aber „Homer die Schilderung des Thersites mit den Füßen von unten auf anfängt, wie neben einander stehen φολκὸς ἔην, χωλὸς δ’ ἕτερον πόδα, so ist es natürlicher, es von den Füßen, als es von den Augen zu verstehen“. Vgl. Lincoln 1991a, S. 255, Anm.15. Stokes (Hg.) 1902. Vgl. Egeler 2011, S. 119 – 121. Vgl. Egeler 2011, S. 146.
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dern nur durch die abscheuliche Abweichung (von weiblicher Sexualität) magisch wirksam wird. Die auffällige Kennzeichnung ausgerechnet ihrer Beine, „[a]s long as a weaver’s beam was each of her two shins, and they were as dark as the back of a stagbeetle,“⁶³ bleibt dabei meistens unkommentiert, aber gerade darin zeigt sich die Körpersymbolik der Zerstörung besonders augenscheinlich. Kaum anders erscheint der Nachwuchs aus der verhängnisvollen Samen-Verbindung des Harald Schönhaar: Sigurðr hrísi, Hálfdan háleggr, Guðrǫðr ljómi, Rǫgnvaldr réttilbeini.⁶⁴ Von letzterem wird explizit berichtet, obgleich König von Haðaland, dass er ein Zauberer gewesen sei, seiðr ausgeübt habe, was ihm bekanntlich das Leben gekostet hat. Als Harald davon erfährt, reagiert er unverzüglich und lässt seinen Sohn zusammen mit achtzig weiteren seiðmenn verbrennen (in anderer Version ertränken), eine Tat, die laut Snorri offenbar auch in der breiten Bevölkerung, „von allen“, gutgeheißen wurde. Man wird sich dieses wie auch immer geartete zauberische Wirken jedenfalls im höchsten Maße gefährlich, Schaden bringend für eine ganze Gemeinschaft vorstellen müssen, wenn der eigene Vater, zur Erleichterung aller, so schnell und rigoros eingreift.⁶⁵ Diese harte Reaktion auf die Eigenart des Haraldsohns wirft kein gutes Licht auf die Verbindung Haralds mit der Mutter dieser Söhne, der Samenprinzessin Snæfriðr. Nicht zuletzt aufgrund Snorris eigener redaktorischer Eingriffe,⁶⁶ so Takahiro, müsse man davon ausgehen, dass er die Beziehung zwischen König Harald und Snæfriðr keineswegs positiv gesehen habe, jedenfalls „as less favorable than previous researches have assumed“⁶⁷: It is important to note that this specialty of Rognvald Rettilbeini in medieval historiographies, however, does not harmonize with the opinion of previous researches, emphasizing the positive meaning of the marriage between the ruler and the supernatural female figure.⁶⁸
Gerade die wenig beachteten Beinamen dieser Haraldsöhne könnten diese Einschätzung bestätigen. Es sind euphemistische Konzepte, sie fassen, prima facie durchaus nicht erkennbar (und am wenigsten gewünscht), sämtlich Vorstellungen beschädigter und damit schädlicher Körper. Bei zwei Söhnen wird auf eine Eigenart der Beine Bezug genommen: Háleggr (daneben háfœta) ist das „hohe“ oder „lange Bein“ (bzw. „Fuß“), auch hvítbeinn, das „weiße Bein“ (Ágrip, Kap. 2) oder gar hýrbeinn (Fagrskinna, Kap. 3), das „sanfte“, „weiche“, „liebliche“ Bein,⁶⁹ wobei gerade bei
Stokes 1902, S. 57. Vgl. Haralds saga hárfagra, Kap. 25; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Kap. 2. Vgl. Wallenstein 2013, S. 71 f. „Snorri altered the established genealogical traditions of these four sons to specify their maternal origin, not recorded in preceding sources, except for one, Rognvald. Preceding sources pay not so much attention to their mother. In other words, it is Snorri who chose to incorporate Sámi blood into the genealogical tradition of the Fairhair dynasty through Snæfriðr“ (Takahiro 2011, S. 117). Takahiro 2011, S. 119. Takahiro 2011, S. 118. Vgl. an. etym. Wb 1962, „hýrr“.
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Letzterem wohl zunächst am wenigsten klar ist, was darunter vorzustellen wäre. Zusammen mit réttilbeini (< rétta, nhd. „richten“; engl. „reach, to make right or straight“) scheinen sich diese Epitheta ausschließlich auf positive Eigenschaften der Beine zu beziehen, gerade, gleichlange, weiße, eben ,schöneʻ Beine. Aber inzwischen wird man davon ausgehen müssen, dass schon die schiere Erwähnung, die Fokussierung gerade auf diese Körperteile auffällig ist. Sie müssen etwas mit der Wesenheit ihrer Träger zu tun haben, mit Handlungen, die diesen zugeschrieben werden. Es sind wohl nicht längst konventionalisierte und damit nicht (mehr) motivierte Namenszusätze (wie v. See auch für die römischen Anfangshelden vermutet hat), es sind gerade in ihrer Inversion sprechende Namen. Die geraden, gleich langen, ,geheurenʻ Beine müssen als Hüllkonzepte verstanden werden,⁷⁰ wie sie so häufig aus tiefer Furcht und Abneigung in magischen Kontexten erscheinen. So wie die Konzeption und Funktion des gefürchteten Auges in paradoxer Verkehrung als ,gutesʻ Auge erscheint, wird das Bein im Rahmen eines apotropäischen Sprachtabus benannt. Auch ljómi, „der Glanz“, wird sich kaum auf das strahlend schöne Aussehen des Haraldsohns beziehen als vielmehr auf die gefährliche Brillanz seiner Augen, eben jene bösartige, raubtierartige Ausstrahlung (siehe Horatius Cocles, der Schmied Vǫlundr) als Konnotation bzw. Funktion des Bösen Blicks. ,Zauberbeineʻ sind in allen Punkten das schiere Gegenteil, die irische Totendämonin gibt uns eine Vorstellung ‒ schwarz und von unnatürlicher Länge oder Proportion, sie bewirken entsprechend das schiere Gegenteil: Sie machen ihre Träger nicht nur buchstäblich zu Ungeheuern, sie schaffen auch Ungeheures.⁷¹ Auch Lévi-Strauss verweist auf den engen und in den Mythen dieser Welt so häufig anzutreffenden Zusammenhang zwischen Anfangsgestalten und Beinbehinderung: In der Mythologie werden häufig die aus der Erde geborenen Männer so dargestellt, als seien sie im Augenblick ihres Auftauchens gleichsam noch unfähig zu gehen oder als gingen sie linkisch. So hinken bei den Pueblo-Indianern die chthonischen Wesen wie die Shumaikoli oder auch die Muyingwû, die an dem Auftauchen teilnehmen (man nennt sie im Text „Blutiger Fuß“, „Verwundeter Fuß“, „Weichfuß“). Dieselbe Beobachtung macht man bei den Koskimo der KwakiutlMythologie: nachdem das chthonische Ungeheuer Tsiakish sie verschlungen hat, steigen sie zur Erdoberfläche empor, „wobei sie nach vorn stolpern oder seitwärts ausrutschen“.⁷²
Die Pueblo-Indianer-Bezeichnungen für chthonische Wesen, „Blutiger Fuß“, „Verwundeter Fuß“, finden ihre Entsprechung in den Namen (bzw. Eigenschaften) von Freyrs und Balders Pferd, „Weichfuß“ erinnert an das Epitheton des Haraldsohns, hýrbeinn. Ebenso muss an die blutegelhafte, knochenlose Weichheit der Beine des Ragnarrsohnes Ívarr gedacht werden. Wir vermögen indes Lévi-Strauss’ Analyseer-
Siehe zur präfigierten Form mhd. gehiure < g. *hiurja „lieb“ die gegebenenfalls geläufigere Negation ahd. ungihiuri, unhiuri „unheimlich“ (Kluge/Seebold 2002, „geheuer“), dazu die Substantivierung „Ungeheuer“ (Kluge/Seebold 2002, „Ungeheuer“). Hrísi ist der „Riesen- oder Troll(sohn)“, vielleicht auch der „Bastard“, „unehelicher Sohn“ (an. etym. Wb 1962, „hrísa“; „hrísi“). Lévi-Strauss 2003, S. 69.
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gebnissen im Weiteren nicht zu folgen (selbst wenn wir dessen bizarre Vorliebe für die Verrätselung mythischer Symbolsprache in mathematische Gleichungen an dieser Stelle unberücksichtigt lassen wollen): „[D]ie Überbewertung der Blutsverwandtschaft verhält sich zu ihrer Unterbewertung wie die Bemühung, der Autochthonie zu entgehen, zu der Unmöglichkeit, dies zu erreichen.“⁷³ Die Anfangsmythen und damit der Ödipusmythos fassten also in seiner Lesung die Aporie einer Gesellschaft, die sich zwischen Autochthonie und zweigeschlechtlicher Fortpflanzung entscheiden müsse.⁷⁴ Sein Hinweis auf die Beinbehinderung des antiken Tabubrechers Ödipus, ja des ganzen Geschlechts der Labdakiden als ,(Bein)behinderteʻ (vgl. Labdakos „hinkend“, Laios „linkisch“, Ödipus „geschwollener Fuß“)⁷⁵ bleibt aber in diesem Zusammenhang unbedingt einschlägig. Tatsächlich verweisen diese Namen allesamt auf „eine Schwierigkeit, aufrecht zu gehen“.⁷⁶
12.1.4 Fet-Meili: der Schritt-Tölpel Es geht also um eine zauberische, in jeder Hinsicht transgressive Wirkmacht, die hervorgerufen werden kann entweder durch die konkrete Erscheinungsform des/der Zaubernden, eine körperliche Asymmetrie (der Beine) und einer daraus unmittelbar oder mittelbar resultierende Asynchronität der Gehweise (,hinkendʻ, ,schleppendʻ, ,abweichendʻ). Aber nicht nur Odin, der seiðr-Meister ist býleistr, gerade auch seinem engen Freund, seinem Tischgenossen und Begleiter Hœnir (sessi, sinni, máli Óðins, Skáldsk 15) werden Epitheta zugeschrieben, die allesamt aus dem spezifischen Sinnbezirk der Fortbewegung stammen, der auffälligen Fortbewegung: Er ist hinn langi fótr, „der Langfüßige“ (Skáldsk 15), hinn skjóti Áss, „der schnelle Ase“ (Skáldsk 15), der fet-Meili (Haustlǫng 4),⁷⁷ das ist der „Schritt-Tölpel“, einer der auf ,närrischeʻ Weise Schritte tut. Im Geiselaustausch mit den Vanen nimmt er (in Snorris Verständnis) eine wenig ruhmreiche Rolle ein, er wird zum restituierten Mängelwesen, zum nordischen Golem ohne eigenen Willen und Verstand. Hœnir ist als chthonisches Wesen, ja Toter zu verstehen, aber er ist ebenso ‚Mann der ersten Stundeʻ (siehe Kap. 6.9). Die Liste an Vorschlägen zur Klärung seines Namens ist lang, aber es scheint doch bis heute nicht zufriedenstellend geglückt. Ein neuer Ansatz ließe sich in diesem konkret körperhaften Denkrahmen von devianter Bewegung plausibel machen. Auch dieser könnte seinen Ausgang nehmen von einer erschlossenen Grundform *hauhnijaz oder *huhnijaz, die dann allerdings weder zu griech. κύκνος „Schwan“ noch zu einem
Lévi-Strauss 2003, S. 70. Vgl. Lévi-Strauss 2003, S. 70. Vgl. Lévi-Strauss 2003, S.67. Lévi-Strauss 2003, S. 69. Vgl. Cleasby/Vigf. 1874: „a pace, step; ganga, stíga, feti framar, to go a step forward“.
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weiteren vorgeschlagenen Vogel, dem „Hahn“ (hana, hœna), zu stellen wäre.⁷⁸ Hœnir hat so wenig mit Hühnern zu tun wie eine berüchtigte Sagagestalt, selbst wenn sie tatsächlich mit solchen in Verbindung gebracht wird: der „Hühner-Thorir“ der HœnsaÞóris saga. In der Saga wird sein Name dermaßen motiviert, dass er als HühnerHausierer zu Geld gekommen sei.⁷⁹ Zunächst aber ist Hœnsa-Þórir ein Landstreicher und er bleibt, wenn auch sesshaft geworden, von destruktivem, unberechenbarem, deviantem Wesen. Und diese Eigenschaften sind in seinem Namen gefasst: Sein Charakter korrespondiert mit dem Leben, das er führt oder zumindest geführt hat, die Landstreicherei, eine auch im mittelalterlichen Island nicht nur tief verachtete, sondern nachgerade gefürchtete, gemeinschaftsgefährdende Lebensweise. In den Gesetzestexten erscheint dieses Verhalten sogar ausdrücklich als „unmenschlich“, ómennska, d. h., nicht dem korrekten, erwartbaren, durch Konventionen festgelegten Verhalten von Männern (aber auch Frauen) entsprechend⁸⁰: The word ómennska is the opposite of the adjective mennska (ultimately derived from maðr) meaning ‚humanʻ or ‚belonging to a manʻ as opposed to trolls and giants. Ómennska therefore implies that such inhumanity was associated with illegal vagrants.⁸¹
„Vagrants“, die gǫngumenn, einhleypingar, stafkarlar der Sagas, würden entsprechend nahezu ausschließlich in einem negativen Licht dargestellt: „They are depicted as scurrilous, mercenary, treacherous and manipulative, and rarely have social or kinship links of significance.“⁸² Gleichzeitig aber werden sie zu wichtigen, handlungstragenden Agenten, die gerade durch diese gleichwohl verpönte, uneingeschränkte Mobilität Ereignisse im Guten wie (indes meist) im Schlechten vorantreiben konnten.⁸³ Die Nichtzugehörigkeit, Randständigkeit dieser Gruppe ohne jegliche soziale und damit (sei es real oder lediglich unterstellt) moralische Bande bot also den so genannten in-group-Mitgliedern der isländischen Gesellschaft die Möglichkeit, sich diese für ihre Zwecke zu Nutze zu machen: „ [T]here is at least one member of es-
Als mythische Anfangsgestalt könnte Hœnir wohl eine Schwanenaffinität für sich beanspruchen, für Hœnir als Hahnengott (*hōnisnō < hōnisīnō [an. etym. Wb 1962, „Hœnir“]) ergäben sich indes überhaupt keine Anschlussmöglichkeiten. Vgl. Cochrane 2011‒2012, S. 68: „Hœnsa-Þórir is an example of a vagrant who has rather more success, albeit temporarily, in finding a place within society. At the opening of the saga we are told he has acquired both his name and his wealth by travelling the land selling small goods including hens (hœns). In fact we never witness this vagrant lifestyle, as he then settles down to become a farmer and usurer.“ Þat er ómennska ef maðr gengr með húsum fyrir nenningarleysis sakir eða ókosta annarra þeira er góðir menn vilja fyrir þeim sökum eigi hafa þau (Grágás, II, §143 [Vilhjálmur Finsen (Hg.) 1974]). („It is perversity if a man or woman goes as a vagrant from house to house because of indolence or such other failings as make good men unwilling to have them“ [Cochrane 2011– 2012, S. 43]). Cochrane 2011‒2012, S. 46. Cochrane 2011‒2012, S. 44. Vgl. Cochrane 2011‒2012, S. 44.
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tablished society who is willing to pay him: for information, to set a trap, to slander an enemy, to lay an ambush or even to attempt to kill an enemy.“⁸⁴ Ein dermaßen gedungener Mörder erscheint etwa in Gestalt des flugumaðr: der ,Herr der Fliegenʻ, ein Benennungsmotiv, das in schamanistischen Vorstellungen gegründet ist, in der zauberischen Fähigkeit des Schamanen, (tödlich) schädliche Tiere, Fliegen ausschwärmen lassen zu können.⁸⁵ Und wie überall in der mittelalterlichen Gesellschaft berührt sich auch hier gesellschaftliche Liminalität mit sämtlichen anderen liminalen Konzepten auf körperlicher, kognitiver, magischer Ebene. Sie sind allesamt austauschbar, gleichwertig im Sinne ihrer Zeigefunktion: Das häufigste Benennungskonzept dieser Gruppe gründet nun, erwartbar, in der Vorstellung der Bewegung, der indes meist wenig zielgerichteten, der ausschweifenden, planlosen, der ,unnatürlichʻ langsamen, unkoordinierten. So etwa der reikunarmaðr (< reikan „strolling about“) oder der flǫkkunarmaðr (< flakka „to rove about as a beggar“), aber auch der ,unnatürlichʻ schnellen, flinken, unberechenbaren, umrenningr (< renna „to run“, „literally ‚one that runs aroundʻ, although this is used to refer to pirates as well as vagrants“).⁸⁶ Schließlich bringt Cochrane die Wirkweise dieser Saga-Gestalten auf einen kurzen, signifikanten Nenner: „The actions of vagrants contribute in small ways to the impending social breakdown in each saga in which they appear.“⁸⁷ Es ist dieses ziellose, schlendernde Gehen wie Herumrennen, insbesondere dessen Effekte der systemischen Destabilisierung bis hin zur Destruktion, das als Benennungskonzept für den Gott Hœnir anzunehmen ist. Als neue Anschlussmöglichkeit für *hauhnijaz/*huhnijaz soll hier entsprechend g. *hanh(a)-sinwō, ae. hōhsinu, afr. hōx(e)ne (nhd. „Haxe“, „Unterschenkel und Fuß von Mensch und Tier“, ahd. hāhs(i)na „Achillessehne“)⁸⁸ vorgestellt werden. Es ist die Bezeichnung des Körperteils, in dem diese Idee prototypisch gefasst ist bzw. als Verursacher verstanden wird. Dazu passt der bereits erwähnte Beiname Odins: Geiguðr < geiga „seitwärts abweichen“, nisl. und nnorw. dial. „hin- und herschwanken“, dial. geigla, geigra, geigna „schief gehen“, und als Effekt (wie Voraussetzung!) dieser Handlung geigr „Schaden, Verletzung“, eine Bedeutungsübertragung, wie sie auch bei lat. scelus, -eris, „Bosheit, Verruchtheit, Verbrechen“ (formal zu griech. σκέλος „Schenkel, Biegung, Fußbeuge“) zu beobachten ist. Damit ginge Hœnirs wie Hœnsa-Þóris Name auf die Bezeichnung eines wohl nicht genau bestimmbaren Teils der unteren Extremitäten zurück. Vielleicht gehört der Name Odin/Wotan selbst in dieses Bedeutungsspektrum. Seit dem Mittelalter, besitzt er eine durchsichtige und durchaus ansprechende Bedeutung: „Wuodan, id est furor“, so die Etymologisierung Adams von Bremen (Gest.Ham. 26) ‒
Cochrane 2011‒2012, S. 76. Vgl. Cochrane 2011‒2012, S. 60. Cochrane 2011‒2012, S. 47. Cochrane 2011‒2012, S. 76. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Hachse (auch Hechse, Haxe)“. Daneben g. *hanhō, ae. hō(h) „Ferse, Wade“, *hanhilō, an. hæll, ae. hēla, afr. hēla, „Ferse“. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist das davon abgeleitete Verb hahsnen „lähmen“ (8. Jh.).
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Odin der ,Wut-Gottʻ. Zweifellos, spätestens seit dem 11. Jh. (und wohl auch schon davor), war dies das aktuelle Verständnis, die synchrone Bedeutungsstruktur dieses Namens.⁸⁹ Aber damit ist über dessen Bedeutungsgeschichte, insbesondere bevor er im christlichen Diskurs erscheint, nichts gesagt. Einiges deutet darauf hin, dass die Wut-Semantik ein explizit christliches Verständnis des Namens ist, gerade in diesem Kontext scheint es von Interesse gewesen zu sein, den Namen Wodan als ,Wut-Gottʻ zu interpretieren. Entsprechend kommt Ludwig Rübekeil nach Analyse der Quellenlage zu einem ganz anderen Ergebnis. Wohl will auch er von einer Ableitungsgrundlage germ. *wōð-; vorgerm. *ṷāti- ausgehen, aber die vermeintliche Durchsichtigkeit des zu Grunde liegenden Etymons ‚Wutʻ habe alle weiteren Interpretationsansätze verunmöglicht.⁹⁰ Es habe, wenn etwa die Sprache auf Odin gekommen sei, immer eine Art gefühlvolle mythologische Metaphorik geherrscht. Exemplarisch zitiert er Elard Hugo Meyer, der Odin als einen „durch die Wälder rasenden Gott“ zusammen mit den dahinbrausenden „Seelen der Verstorbenen“ und „tobenden Wind- und Waldelfen“ beschreibe. Dermaßen „atmosphärisch ‚verdichtete[ ]ʻ Poetik“ habe für lange Zeit den Verständnisrahmen für den Gott abgegeben.⁹¹ Man wird in der Tat solche naturmythologischen Bilder heute nicht mehr bemühen wollen, aber die weiteren Argumente, die er in diesem Zusammenhang bringt, wiegen noch schwerer: Sieht man sich aber die historischen Quellen zur heidnischen Gottheit Wodan beziehungsweise Odin genauer an, so findet man keine der obigen Angaben bestätigt. Wodan ist eine grausige Gottheit, hinterlistig, und unberechenbar ‒ mit anderen Worten: alles andere als eine sympathische Identifikationsfigur. Aber er zeigt in den mythologischen Quellen nirgendwo Eigenschaften, die man als „Raserei“ interpretieren könnte, und keine Angabe in diesen Quellen rechtfertigt die beliebte naturmythologische Gleichsetzung mit dem Sturm.⁹²
Und das heißt: ,Wutʻ gehörte nicht zu den prototypischen paganen Eigenschaften des Gottes Odin. „Wodan ist in den mythologischen Quellen nirgendwo ein wütender Gott.“⁹³ Der Wodansname weise vielmehr gerade dort den a-Vokalismus auf „(und somit Anpassung an das Wort für ,Wutʻ), wo das Christentum früh und konsequent Einzug gehalten [habe].“⁹⁴ Dort wo Wuotanestag durch neutrales Mittawehha ausgetauscht worden sei, sei Wodan „am konsequentesten zum ,Gott der Wutʻ umgedeutet“.⁹⁵ Aus einer (modernen) „Begeisterung für Wut- und Ekstaseideologien“ werde diese Deutung als Grundlage verwendet, ohne auf die tiefen Widersprüche zu achten.⁹⁶ Rübekeils kritische Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte Odins sind – aus
Vgl. Rübekeil 2003, S. 28. Vgl. Rübekeil 2003, S. 32. Vgl. Rübekeil 2003, S. 26. Rübekeil 2003, S. 27. Rübekeil 2003, S. 28. Rübekeil 2003, S. 30. Rübekeil 2003, S. 30. Rübekeil 2003, S. 31.
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den unterschiedlichsten Gründen – eher kritisch aufgenommen worden, ganz ablehnend dazu stellt sich etwa Stephan Zimmer in seiner Untersuchung zum Odinnamen.⁹⁷ In seinen Augen sind sie nicht mehr als eine „weitschweifende Diskussion […], allzu phantastisch, als daß ich darauf eingehen möchte“.⁹⁸ Aber einen ähnlichen Eindruck wie Rübekeil hat offenbar auch Liberman: Some features of a shaman are indisputable in Óðinn, but fury is not among them. It is, of course, possible that at every stage of Óðinn’s career his name was understood differently: ‚he who stormsʻ (a god of war), ‚he who exhibits furyʻ (a shaman), ‚he who protects poetic inspirationʻ (the god of skaldic poetry). Before he became Óðinn and added a glamorous suffix to his name, he may have been Óðr (a wader, that is, ‚wandererʻ, ‚slow traveler‘ [kurs. d. Verf.], ‚vegtamrʻ).⁹⁹
Auch Liberman sieht hier das Konzept des ‚(langsamen) Gehens‘ als die vielleicht älteste Vorstellung, die mit Odins Namen verbunden ist: Odin ‚der Wanderer‘ schlechthin, eine mythische Gestalt, die ,Wandern‘ prototypisch praktiziert, auch wenn er dessen weitere Aktualisierungen und Neusemantisierungen, die einhergehen mit den Veränderungen und Entwicklungen seiner funktionellen Ausgestaltung in der germanischen Mythologie und Religion, nicht infrage stellt. Zunächst aber lassen sich einige, wenn nicht die rätselhaftesten Konnotate Odins gut in diesem semantischen Feld der auffälligen, uneingeschränkten (und damit gefährlichen) Mobilität verorten. Es ist das mythische wie mittelalterliche lebensweltliche Umfeld der Landstreicher, der gǫngumenn, einhleypingar, stafkarlar. Wie seine Freunde und Tischgenossen ist Odin ein reikunarmaðr (reikan „strolling about“), ein flǫkkunarmaðr (flakka „to rove about as a beggar“), ein umrenningr, ein ‚Herumrenner‘, und wohl nicht zuletzt ein flugumaðr, ein Mörder.¹⁰⁰ Entsprechend wird man Zimmers methodischem Credo, „daß eine Etymologie grundsätzlich nicht Ausgangspunkt einer religionswissenschaftlichen Studie sein kann“, also „Charakter und Funktion einer Gottheit […] zunächst allein aus den (im weitesten Sinne) literarischen Belegen herauszuarbeiten [seien]“,¹⁰¹ unbedingt zustimmen müssen. Es macht aber gleichzeitig die Schwachstelle seiner eigenen Un-
Siehe Zimmer 2015. Zimmer 2015, S. 371, Anm. 1. Tatsächlich ist Rübekeils eigener Erklärungsversuch des Odinnamens im Weiteren wenig plausibel. Er möchte davon ausgehen, dass der germanische Gott Odin/Wotan seinen Namen aufgrund einer missverständlichen oder oberflächlichen (germanischen) Rezeption eines präsumtiven keltischen Götternamens *Ṷātinos („Gottheit der Vates“) erhalten habe, der Odinnamen also an die Bezeichnung einer Priesterklasse, die keltischen Vates, anzuschließen sei (vgl. Rübekeil 2003, S. 40). Aber schon ganz grundsätzlich muss hier bemerkt werden, dass Götter üblicherweise nicht nach ihren Kultspezialisten oder Verehrern benannt werden, eher umgekehrt nennen sich Kultspezialisten nach ihrer verehrten Gottheit. Liberman 2012, S. 101. Siehe Lokis ,Attentat‘ in Gestalt einer Fliege auf die schlafende Freyja (Sǫrlaþáttr). Auch wenn er ihr hier nicht nach dem Leben trachtet, vielmehr nach dem Zauberhalsband Brísingamen (mit dem in der Folge viel Unheil angerichtet wird), so tut er dies doch auf Geheiß Odins. Zimmer 2015, S. 371.
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tersuchung klar, denn auch er möchte sich auf die formale, sprachhistorische Seite eines religiösen Konzepts begrenzen (selbst wenn Zimmer zu Recht moniert, dass diese in religionswissenschaftlichen Studien häufig genug nicht genügend Beachtung gefunden hätte).¹⁰² Aber sehen wir uns seine Argumentation im Einzelnen an. Für den (germanischen) Namensbestandteil -an- (*ṷōđunaz) könne wohl sicher das so genannte „Herrschersuffix“ angenommen werden.¹⁰³ Formallinguistisch müsse beim Odinnamen aber zunächst eine grundsätzliche Frage entschieden werden: „Ist von einer Wurzel des Typs *ṷet- auszugehen, an die ein vokalisches Formans (‐ú‐) angetreten ist, oder von einer Wurzel des Typs *ṷe-, an die ein Dentalsuffix angetreten ist?“¹⁰⁴ Siehe etwa die idg. Abstrakt-Suffixe *-ti- und *-tu.¹⁰⁵ Letztendlich komme nur eine „Ableitung des Theonyms Wotan usw. von der Wurzel h2ṷeh1- ,wehen‘“ in Frage.¹⁰⁶ Urgerman. *wō-đ u- sei das „Wehen, Brausen“, das wiederum, „in weitestem Sinne“, zu altnord. óðr „Wut“ passe. *Wō-đ u-na-z werde entsprechend benannt, „wessen Zuständigkeitsbereich das Wehen ist.“¹⁰⁷ Nun existiert aber im Indogermanischen eine weitere Wurzel *ṷet-, die, was Zimmer ausdrücklich betont, formal genauso möglich ist.¹⁰⁸ Er verweist auf die Untersuchungen von Stefan Schaffner,¹⁰⁹ der die idg. Wurzel *ṷet- in der Bedeutung „umhergehen, wandern, sich hin- und herbewegen“ zum Ausgangspunkt seiner Analyse nimmt (der Götternamen Odin spielt darin allerdings keine Rolle). Dazu gehört das altir. Verb fethid, das, mutmaßlich homonymisch, in zwei Bedeutungen erscheint: 1) „geht, macht seinen Weg“, 2) „beobachtet, richtet seine Aufmerksamkeit auf“ (das sich wiederum zu iir. *ṷáta/ā „sich geistig aneignen, vertraut sein“ stellen lässt).¹¹⁰ Nun neigt aber Schaffner dazu, diese Wurzeln gar nicht als Homonyme zu betrachten (entsprechend eines Vorschlags von Stefan Schumacher),¹¹¹ vielmehr ließen sich diese gut in einer grundlegenden Bedeutung von „sich wenden“ zusammenfassen.¹¹² Das heißt, es geht um ‚Beweglichkeit‘ im weitesten Sinne, als Funktion von Körperteilen, Augen, Beinen und deren unmittelbare wie mittelbare metaphorische Effekte (‚Gehen‘, ‚Denkvorgänge‘). Auch Schaffners weitere Vergleichswörter passen gut zum formal sprachlichen wie mythischen Erscheinungsbild Odins, etwa das ahd. wadalōn (< urgerm. *ṷaþlóie/a), das in Glossenbelegen als ambulāre, vagāri, fluctuāre („umhergehen, wandern, umherschweifen, umherwogen“) erscheint. (Dazu gehört auch wallōn „wandern, umhergehen, ziehen,
Vgl. Zimmer 2015, S. 371. Vgl. Zimmer 2015, S. 384. Zimmer 2015, S. 374. Vgl. Zimmer 2015, S. 374. Zimmer 2015, S. 387. Vgl. Zimmer 2015, S. 387. Vgl. Zimmer 2015, S. 380. Schaffner 2004. Schaffner 2004, S. 285 f. Siehe Schumacher 2004. Vgl. Zimmer 2015, S. 386.
12.2 Dressed to kill
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pilgern, fortschreiten, sich ausbreiten, sich bewegen“).¹¹³ Siehe auch mhd. wadel, das einerseits die „Wanderschaft“, das „Umherschweifen“ in einem ganz allgemeinen Sinn meint, andererseits aber in einer spezifischen Bedeutungsverengung die sichtbare Veränderlichkeit eines Himmelskörpers meint: „Mondphase, Mondwechsel, Vollmond, Neumond“,¹¹⁴ dazu mittelengl. weoðelen „hin- und herschwanken“.¹¹⁵ Als Grundbedeutung von urgerm. *ṷaþla- sei entsprechend „Wandern, Wanderschaft, Umhergehen“ anzusetzen, für das davon abgeleitete Verb *ṷallóie/a < *ṷađlóie/a etwa „sich mit Wandern, Wanderschaft, Umhergehen beschäftigen, wandern, umhergehen“.¹¹⁶ Diese Beleglage kann wahrscheinlich machen, dass im Odinnamen die ungerichtete, iterative, unberechenbare Bewegung schlechthin gefasst ist. Im (mythischen) Denken ist dies Kennzeichen von Chaos im Gegensatz zum buchstäblich Standfesten eines normativen Status quo. Aber auch die Semantik des Begriffs óðr selbst (ausdrücklich erst in einem mittelalterlichen Verständnis „Dichtung, Dichtkunst, dichterische Inspiration“¹¹⁷) gründet zunächst einmal in dieser rein körperhaften Vorstellung von ‚Beweglichkeit‘. Es ist die Aktivität, die den ausschließlich substanzhaft vorstellbaren Elementen unseres Körper- oder Kopf-Containers zugeschrieben wird: Ideen, Emotionen, die dem Menschen entsprechend ‚in den Sinn kommen‘, in der meteorologischen Metapher des Bewegers schlechthin, des Windes, ‚eingeblasen werden können‘, ihn in drangvoller Enge, durch das schiere Übermaß an Agilität ‚erregt‘, wütend machen. Aber noch viel mehr vermögen Odin und seine mythischen (wie rituellen) Gefährten. Deren Fähigkeiten zur Erweckung (bzw. Übertragung) geistiger Erregung, Lebendigkeit ist ja in der Gestalt von Dichtkunst nur die jüngste und zweifelsohne kulturell verträglichste Variante. Zunächst geht es um das ‚rege Machen‘ per se, die Erregung neuer Wirklichkeiten, Fiktionen von Wirklichkeiten, die Belebung, ja Wiederbelebung von Unbelebtem, Totem, will heißen: Magie.
12.2 Dressed to kill 12.2.1 Berserksgangr Ob also primordiale, göttliche Vagabunden oder mittelalterliche Streuner, sie werden zu Zerstörern, Umstürzlern, Mördern, aber auch zu Prozessoren, Transformatoren, Schöpfern. In diesem Denkraum liegen die schlimmen Konsequenzen von Lokis Otterwurf unmittelbar neben der Erschaffung der ersten Menschen. Und diese machtvolle Fähigkeit zur Erschütterung bis hin zur Auflösung von Ordnung und Wirklichkeit
Vgl. Schaffner 2004, S. 295. Vgl. Schaffner 2004, S. 298. Vgl. Schaffner 2004, S. 299. Schaffner 2004, S. 300. Vgl. Zimmer 2015, S. 375.
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kann im oder durch den Ritus, durch magisches, ritualpraktisches Handeln immer wieder aufs Neue hergestellt werden: So wie der seiðr-Zauber als Idee der Rotation schlechthin Altes erschüttert und gleichzeitig Neues, Entsetzliches, Monströses ,spinnt‘, ist auch der berserksgangr letztendlich eine Zaubertechnik, eine spezifische Ritual-Dramaturgie, ausdrücklich ein gangr, ein Bewegungsablauf, als dessen außergewöhnlichstes, superrationales Ergebnis die transformatio, die physiopoiesis, der neue, animalische Körper entsteht. Durch magische Mimikry, bestehend aus einem Bündel an handlungspraktischen, visuellen, auditiven, kinetischen Maßnahmen, werden magische Potenzen erlangt, allen voran eine ins Außernatürliche gesteigerte Körperkraft wie Unverwundbarkeit. Im Norden ist mit berserksgangr zunächst ausschließlich ein terminus technicus des Kriegs- bzw. Kampfwesens gemeint, „[w]ar magic, a form of dark magic that involves powers of destruction and invulnerability,“ keineswegs einzigartig, wohl aber „the latest documented in a long history of IndoEuropean ecstatic warrior cults.“¹¹⁸ Dabei scheinen aber diese typischerweise Entmenschlichungsprozesse des Krieges¹¹⁹ nicht unbedingt an ein Geschlecht geknüpft. Wir wissen von „Berserkerbräuten“, brúðir berserkia (Hárbarðslióð 37), mit denen sich Thor Kämpfe liefern muss.¹²⁰ Der Berserkergang wird praktiziert auch außerhalb des Krieges, im Holmgang, dem ritualisierten Zweikampf ¹²¹ und in so vielen weiteren gewissermaßen ,zivilenʻ Konfliktsituationen der nordischen Sagawelt. Selbst im Mythos kommen die Berserker zum Einsatz: Ausgerechnet bei Balders Begräbnis werden vier Berserker von Odin zur Sicherung des Rituals, zum Schutz der Ritualteilnehmer abgestellt (Gylf 49). Auch in der Ynglinga saga werden die Berserker ausdrücklich als ,Odins Männer‘ bezeichnet,¹²² was, wie auch immer wir diese Erwähnung im Weiteren verstehen wollen, auf eine magisch religiöse Praxis im Zusammenhang mit Odin verweist. Dieser religiöse Referenzrahmen für paganes, ritualpraktisches Handeln geht bekanntlich mit dem Beginn des Christentums verloren, ein schwerwiegender, aber nicht einmal der einzige Grund für die starke Heterogenität, ja Widersprüchlichkeit der nordischen Berserker-Quellen. Der Berserkergang
Wade 2016, S. 21. „[W]ar spirituality promotes dehumanizing processes that put people into a liminal, sociallytransgressive state, referred to as becoming-intense and becoming-animal“ (Wade 2016, S. 22). Dieser Ausdruck wird auch lediglich metaphorisch, als Umschreibung für „Riesinnen“ verstanden (vgl. von See 1981a, S. 312). Allerdings spezifiziert Thor selbst im Weiteren diesen Begriff, indem er diese Berserker-Bräute expressis verbis als „Wölfinnen“ bezeichnet: Vargynior vóro þær, enn varla konor (Hrbl 39). In der Egils saga Skalla-Grímssonar, Kap. 64, erscheint entsprechend „Berserker“ und „Holmgangsmann“ synonymisch (siehe Beck 2000, S. 78). Ynglinga saga (Kap. 6): […] en hans menn fóru brynjulausir ok váru galnir sem hundar eða vargar, bitu í skjǫldu sina, váru sterkir sem birnir eða griðungar. Þeir drápu mannfólkit, en hvártki eldr né járn orti á þá. Þat er kallaðr berserksgangr. („[H]is [Óðinn’s] own men went to battle without coats of mail and acted like mad dogs or wolves. They bit their shields and were as strong as bears or bulls. They killed people, and neither fire nor iron affected them. This is called go berserk“ (Hultgård und Sundqvist 2004, S. 589).
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steht, wie bereits erwähnt, am Ende einer langen Reihe indoeuropäischer martialischer Ekstasekulte, jener uralten Art der magischen Kriegsführung,¹²³ und hier wie anderswo in der Indogermania musste jene ‚schamanistische‘ Art der Kriegsführung einer mehr „,rational‘ warfare“ weichen.¹²⁴ Gerade in den nordischen Quellen werden wir mit den unterschiedlichsten Stationen, mit den unterschiedlichsten Aspekten, Aktualisierungen, Neusemantisierungen dieser Entwicklung konfrontiert. Die nicht selten heftigen Differenzen in der Forschungsgeschichte zum Symbolkomplex Berserkertum als etwa ausschließlich profanes, literarisches oder verhaltensbiologisches Konstrukt¹²⁵ vs. magisch rituelles bzw. initiatorisch männerbündisches Phänomen¹²⁶ haben zu einem nicht geringen Teil ihre Ursache in der vernachlässigten Diachronie, der unterschiedlichen diskursiven Bezogenheit. Siehe Vincent Samson: „Festzuhalten bleibt, dass der Begriff berserkr je nach Ermessen der Quelle eine beachtliche semantische Entwicklung durchlebt hat.“¹²⁷ Im Kontext der isländischen Literatur des 13. Jhs. gebe es jedenfalls kaum mehr „Berührungspunkte mit den Tierkriegern vom Beginn der Wikingerzeit.“¹²⁸ In den einzelnen Symbolsystemen kann magische Wirklichkeit unterschiedliche Gültigkeiten einfordern, unterschiedliche Glaubwürdigkeiten schaffen, im literarischen Diskurs andere als in der konkreten Handlungspraxis des paganen Tierkämpferrituals, in der Vorzeitsaga andere als in der (pseudo)historischen Familiensaga.Von ihrem Ursprung her sind die Handlungspraxen des Berserkergangs indes niemals etwas anderes als magische, zauberische Praktiken. Das heißt, die grundsätzliche Plausibilität wie Validität des Berserkertums geht einher mit der Plausibilität wie Legitimität eines magischen Weltbilds. Snorri (selbst wenn ihm möglicherweise vieles aus dem heidnischen Zauberwesen nicht mehr in allen Einzelheiten verständlich war) nennt die „vom Berserksgang Ergriffenen“ ausdrücklich „durch Zauber behext“, galnir sem hundar eða vargar („toll wie Hunde oder Wölfe“).¹²⁹ Auch von den Söhnen Sywaldus weiß Saxo Grammaticus zu berichten, dass sie so sehr in Zauberei kundig gewesen seien, dass sie sich in ähnlich rasende, unverwundbare Kämpfer zu verwandeln vermochten.¹³⁰
„Berserkergang is a Norse pagan battle-trance tradition, the latest descendent of an Indo-European ecstatic warrior cult represented in the Rig Veda, the Iliad, and Assyrian and Roman sources […]“ (Wade 2016, S. 23). Vgl. Wade 2016, S. 23 (mit Bezug auf Speidel 2004, S. 1). Siehe etwa von See 1981a; Hiltmann 2011. Höfler 1934; Hultgård und Sundqvist 2004. Samson 2020, S. 70. Samson 2020, S. 71. Vgl. Höfler 1975, S. 300. Hic septem filios habebat tanto veneficiorum usu callentes, ut saepe subitis furoris viribus instincti solerent ore torvum infremere, scuta morsibus attrectare, torridas fauce prunas absumere, exstructa quaevis incendia penetrare, nec posset conceptus dementiae motus alio remedii genere quam aut vinculorum iniuriis aut caedis humanae piaculo temperari (Gest.Dan. 7.2). („Er hatte sieben Söhne, die sich dermassen auf Zauberei verstanden, dass sie oft in plötzlichen Wutanfällen schrecklich zu brüllen
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Im mythologischen Kontext der Vǫlsunga saga (Kap. 8) vermag allein der Überwurf eines zauberisch aufgeladenen Wolffells diese existenzielle Transformation, die Tierverwandlung bei Sigmund und Sinfjǫtli plausibel zu machen. Im ikonographischen Darstellungskatalog scheinen visuelle Tierelemente ähnlichen, prototypischen Symbolwert zu besitzen,¹³¹ nicht nur hier scheint also das Wolfsgewand, úlfheðinn („Wolfspelz“), die beste Zeigefunktion zu haben, um die „nach einer Verwandlung angenommene Form“ des Tierkriegers zu medialisieren.¹³² Ähnlich die lykophoren bahuvrîhi-Namen, die Anders Hultgård und Olof Sundqvist auf einer Gruppe von Runensteinen des 6. und 7. Jhs. (Blekinge, Listerlandet) als mutmaßliche Kultnamen einer männerbündischen Vereinigung identifizieren.¹³³ Nun scheint schon die gemeinsame Erwähnung von Wolfshäuten und Berserkern in der frühesten Belegstelle der Haraldskvæði (900) eine wie auch immer geartete Affinität, wenn nicht Identität beider Begrifflichkeiten wahrscheinlich zu machen: [G]renjuðu berserkir / guðr vas þeim á sinnum / emjuðu ulfheðnar / ok ísǫrn dúðu (Haraldskvæði 8, 5 – 8): („[E]s brüllten die Berserker, / der Kampf war im Gang […], es heulten die Wolfspelze / und schüttelten die Eisen“). In der Vatnsdœla saga (Kap. 9) scheinen berserkir und ulfheðnar bereits synonym verstanden¹³⁴: Þeir berserkir, er ulfheðnar váru kallaðir, und eher redundant, wenn nicht widersprüchlich wird hinzugefügt, þeir hǫfðu vargstakka fyrir brynju, die ‚Bärenhemden‘ hätten „Wämse aus Wolfsfell statt Brünnen“ getragen. Tatsächlich versteht Snorri selbst berserkr als brynjulausir, „brünnelos“.¹³⁵ Wahrscheinlich müsse man hier von volksetymologischen Ummotivierungen ausgehen, so mutmaßt die moderne Forschung, Snorri, den Sagaschreibern sei offenbar die ursprüngliche Bedeutung, die inzwischen nach allgemeiner Übereinkunft als „Bärenhemd“ angenommen wird, nicht mehr bekannt gewesen.¹³⁶ Noch für die Haraldskvæði-Strophe des 9. Jhs. sei dies indes anzunehmen,
anfingen, in die Schilde bissen, glühende Kohlen verschluckten, durch alle möglichen noch so hohen Feuer schritten, und dass ihre Wahnsinnserregung durch kein anderes Mittel gestillt werden konnte, als durch scharfe Fesseln oder durch Menschenblut als Sühne“). Siehe die vier Matrizen von Torslunda aus der Vendelzeit, auf denen ein Mensch in Verkleidung eines Wolfes dargestellt wird, daneben ein (Schau)kampf mit bärenartigen Wesen. In diesen Motivkomplex gehören auch die Schwertscheide von Gutenstein und ein metallernes Fundstück eines Merowinger-Friedhofs von Obrigheim. Vgl. Samson 2020, S. 44, Anm. 6. Siehe Haþuwulfʀ, Hariwulfʀ, Heruwulfiʀ (vgl. Hultgård und Sundqvist 2004, S. 583). „By relating them to a religious ritual background of warrior confraternities or young men initiations coupled with ideas of lycanthropy, we suggest an interpretation, which seeks to give a more precise ideological context for the name-giving […]“ (Hultgård und Sundqvist 2004, S. 584). Vgl. Hultgård und Sundqvist 2004, S. 588 f. Ynglinga saga (Kap. 6). Siehe ber-serkr: ber- < berr „nackt“, „entblößt“ (vgl. engl. bare) bzw. ber- < *berr/beri „Bär“, serkr, „Hemd“ oder „Wams“ (vgl. an. etym. Wb 1962, „berserkr“); Cleasby/Vigf. 1874, „berserkr“. Cleasby/ Vigfusson halten die Etymologie ber- < berr „nackt“, „entblößt“ schon formal für nicht möglich, „inadmissible, because ,serkrʻ is a subst. not an adj.“, ähnlich de Vries (an. etym.Wb 1962, „berserkr“). Außerdem werde in den Namen Bjarnhéðinn, Úlfhéðinn, (héðinn, pellis) eindeutig auf Tierfelle ver-
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wie der Parallelismus im Ausdruck (grenjuðu / emjuðu) schließlich zeige.¹³⁷ Tatsächlich möchte Samson in dem Wortpaar den semantischen Unterschied der Lautäußerungen von Bären und Wölfen erkennen, wobei das Verb emja das „Heulen“ eines Wolfes meine, grenja hingegen das „Brummen“ eines Bären.¹³⁸ Freilich geben die Wörterbücher gerade diese Bedeutungsnuance nicht unbedingt so vor: Cleasby/Vigf. geben grenja mit „to howl, to bellow“ wieder,¹³⁹ de Vries nennt ebenso ausdrücklich als erste Bedeutung „heulen“ und stellt das Verb etwa zu ahd. grennan, „die Zähne fletschen“, mhd. grinnen „toben, knirschen“,¹⁴⁰ worin wir nicht nur die Drohgebärde eines Kaniden erkennen, sondern auch und gerade den apotropäischen Gestus. Das ‚Schildbeißen‘ als stereotypes Element des Berserkergangs (häufig zusammen mit dem ‚Zähneknirschen‘ und ‚Zungeherausstrecken‘) ist schließlich nichts anderes als die ritualisierte Visualisierung dieser Drohgebärde.¹⁴¹ Auch die weiteren an. Belegstellen geben nur letztere Bedeutung vor, ob in der Vatnsdœla saga, Grettis saga oder der lateinischen Gest. Dan. 5.6,¹⁴² stets sind es ausdrücklich Hunde (oder Wölfe), denen diese Art von Lautäußerung zugeschrieben wird, bzw. Menschen, die entsprechend als solche agieren. Und es bleibt doch immerhin auffallend, nachdem die
wiesen. In allen Fällen scheint schließlich gerade der Akt des Überstülpens, des Überziehens, die Kontamination mit dem Animalischen, die transformatio zu bewirken und nicht das Gegenteil, die Entledigung der menschlichen Kleidung. Daneben gibt es aber zahlreiche Beispiele in den altnordischen Quellen, in denen Nacktheit im Kampf erwähnt wird, siehe schon Tacitus, der von der nordischen Kampfweise nudis corporibus (Hist. 2, 22) spricht, wenn auch nicht ganz klar ist, welcher Grad der Nacktheit damit konkret gemeint ist, letztendlich aber wahrscheinlich „Krieger ohne Rüstung“, ohne Schutzwaffen (vgl. Samson 2020, S. 51 f.). Allerdings ist diese Nacktheit keineswegs exklusiv für die Berserker reserviert, nicht jeder nackt Kämpfende tut das in Berserker-Manier. Für andere scheint noch nichts entschieden: „Berserkr kann also sowohl mit ‚Bärenhemdʻ als auch mit ‚barhemdigʻ übersetzt werden“ (Hiltmann 2011, S. 98 f.). Vgl. Samson 2020, S. 55. Vgl. Samson 2020, S.55. Cleasby/Vigf. 1874, „grenja“. An. etym. Wb 1962, „grenja“. Siehe ähnlich Müller 1970, S. 217: „Awn. grenia ‚heulen‘ bezeichnete vor allem Tierlaute (von Wolf und Hund) und das Toben der Tier-Krieger.“ Das Heulen ist also gerade nicht nur Vorstufe bzw. (möglichst überzeugendes) Element der tierischen Mimikry, vielmehr bereits (magische) Kampfhandlung selbst, ein aggressiver Akt zur Abwehr und Vertreibung des (natürlichen wie insbesondere übernatürlichen) Gegners. Friedlose, Verbannte, also für die Gemeinschaft besonders gefährliche Miasmen müssen mit Lärm, ausdrücklich Hundegebell oder Wolfsgeheul verstoßen bzw. verfolgt werden, „met wapengeruchte, met hantgeslagh, met hondegebaffe ende roepen“ (siehe eine diesbezügliche mittelalterliche Bestimmung der niederländischen Stadt Heusden), ähnlich im Bacharacher Blutrecht, wo „mit wofingeschrei“ der Übeltäter gejagt werden müsse (vgl. Koschorreck 2010 [1952], S. 55; Grimm 1828, S. 878 f.). Aus den angeführten Quellen werde deutlich, so Walter Koschorreck, „dass das Geschrei und der übrige Lärm die eigentliche Verfolgung während ihrer ganzen Dauer begleitet“ (Koschorreck 2010 [1952], S. 56), also kaum zu lediglich „Alarmierungszweck[en]“ eingesetzt worden sein dürfte. Hund und Wolf „als mythische Geschöpfe“ würden damit zur Abwehr gegen eben jene Gefahren eingesetzt, die von „ihresgleichen“ (damit meint er etwa den Verbrecher als Wolf) ausgingen (vgl. Koschorreck 2010 [1952], S. 57). Siehe weitere Belege Samson 2020, S. 197 f.
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Bedeutung gebenden Bestandteile von ulfheðnar noch im Mittelalter problemlos etymologisierbar sind, dies für berserkir, trotz der offensichtlich engen, kontextuellen Bezogenheit, einfach nicht gelingen mag. Selbst Samson, der die Etymologisierung des Begriffs als ‚Bärenhemd‘ in jeder Hinsicht unterstützt, betont ausdrücklich, dass in den Isländersagas wohl einige Male von Verwandlungen von Menschen in Bären gesprochen werde, diese Transformation allerdings niemals als Berserkergang bezeichnet werde. Auch die in diesem Zusammenhang so häufig zitierte Verwandlung des Helden Bǫðvarr Bjarki (Hrólfs saga kraki) in einen Bären, der in dieser Gestalt die Kampfhandlungen für den König entscheiden kann, stelle wohl eine gut bekannte schamanistische Praxis dar, sei aber gerade nicht eine Berserkerverwandlung.¹⁴³ Auch Egon Wamers geht davon aus, dass wohl relativ sicher schamanistische Vorstellungen in der Hrólfs saga kraki literarisch verarbeitet worden seien,¹⁴⁴ aber auch er gibt dabei zu bedenken, dass der schamanistische Bärenkult wohl durchgehend mit dem „archaischen Jägertum“, aber keinesfalls mit einem „ekstatischen Kriegerethos“ verbunden sei.¹⁴⁵ Es spricht also nicht wenig dafür, dass hier tatsächlich ganz unterschiedliche Traditionen vermischt worden sind, unter anderem „die unterschiedlichste[n] Überlieferungen zu Bärenvorstellungen und zum Bärenkult“.¹⁴⁶ Zu Recht drängt Wamers darauf, „die verschiedenen Stränge der antiken, altgermanischen und ethnologischschamanistischen Überlieferungen sowie der archäologischen Befunde soweit wie möglich gesondert darzustellen.“¹⁴⁷ Und auch er vermisst eine „generelle quellenkritische, insbesondere literarhistorische Differenzierung der verschiedenen Belege und ihrer möglichen gegenseitigen Abhängigkeiten.“¹⁴⁸ Nun scheint die Fixierung auf einen besonderen Bekleidungszustand, eine Verkleidung in diesem kultisch rituellen Zusammenhang wenig hilfreich. Im unmittelbaren Kampfgeschehen erweist sich das Bärenfell ohnehin kaum recht praktisch. Das alte Argument von Erik Noreen hat in seiner Pragmatik immer noch viel für sich, dass sich ein Bärenpelz für Kampfhandlungen gänzlich ungeeignet erweise¹⁴⁹ (von den Beschaffungsmöglichkeiten für Hunderte von Kriegern ganz zu schweigen). Für Wolfspelze scheint dies immerhin wahrscheinlicher, aber ausdrücklich möchte auch Samson das symbolische Evokationspotenzial des Tierpelzes im Vordergrund sehen,
Vgl. Samson 2020, S. 144. Vgl. Wamers 2009, S. 19. Vgl. Wamers 2009, S. 20. Wamers 2009, S. 2. Wamers 2009, S. 2. Wamers 2009, S. 5. „[A]lle Textbelege zu ,Berserker‘ werden gleichwertig als historische und nicht primär als literarische Quellen behandelt, also für bare historische Münze genommen, die über einen Zeitraum von knapp 1500 Jahren hinweg von kontinuierlich wirkenden bündischen Kriegertraditionen zeugen sollen“ (Wamers 2009, S. 5 f.). Vgl. Noreen 1932, S. 251 f.
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entsprechend vielleicht nur gewisse Teile davon getragen worden seien.¹⁵⁰ Schwerer wiegt freilich in diesem Zusammenhang, dass in zahlreichen, wenn nicht überwiegenden Fällen in der Überlieferung von Berserkertum von Fellen überhaupt nicht die Rede ist. In den Isländersagas genügte es offenbar gerade nicht, sich einfach ein Fell überzuziehen, ein „physical animal hide als prerequisite“,¹⁵¹ um in den BerserkerZustand zu verfallen, wie andererseits, auch wenn die späteren Rechtsquellen ausdrücklich das Praktizieren von Berserkergang verbieten, das Tragen von Pelzen keineswegs unter Verbot stand.¹⁵² Was also macht den Krieger zum Tierkrieger, zum richtigen, ‚eigentlichen‘ Berserker? Es ist ein Zustand, der jedenfalls nichts mit Besessenheit zu tun hat – etwa durch eine übernatürliche Macht. Er wird nicht bewirkt durch psychogene Stoffe (von denen wir ohnehin keinerlei Anhaltspunkte im germanischen Bereich haben), nicht einmal durch genetische, psychische, psychotische, krankhafte Veranlagung, wenn man auch an die in diesem Zusammenhang so häufig zitierte, durchaus einschlägige Verwandtschaft des Egill der Egils saga Skallagrímssonar denken muss, an das merkwürdig somnambule, ,scheue‘, ,wölfische‘ Verhalten seines Vorfahren Kveld-Úlfr, das diesen jeden Abend überkommt (Egils saga, Kap. 1). Darüber hinaus gilt er ausdrücklich als mjǫk hamrammr, „sehr fähig zum Gestaltwandel“ (Egils saga, Kap. 1). Noch einschlägiger scheinen die buchstäblich mörderischen Wutanfälle seines Sohnes Skalla-Grímr, die unversehens in ganz gewöhnlichen Alltagshandlungen, im Wettkampf, bei einem Ballspiel auftreten (Egils saga, Kap. 40). Die „Tieraffinität“ der ganzen Sippe ist schließlich augenscheinlich, Kveld-Úlfs Vater ist Bjálfi, der „Pelz“, der Mutterbruder trägt den Beinamen Hallbjörn hálftroll, und noch ein weiterer ‚Wolf‘ existiert: Úlfr inn óargi (Úlfr „der Unfeige“) (Egils saga, Kap. 1).¹⁵³ Allerdings werden auch hier, wichtig genug, diese Zustände gerade nicht als Berserkertum bezeichnet. Man habe vielmehr, so Rebecca Merkelbach, nachgerade den Eindruck, dass die Saga „carefully avoids the term berserkr in relation to them“,¹⁵⁴ was wiederum in der Tat ihre berechtigte Frage aufwirft, ob wirklich „all characters who hamask (,shift‘), or are eigi einhamr (,not of one shape‘), or hamrammr (,shape-strong‘), and/or who fight duels are berserkir“.¹⁵⁵ Tatsächlich scheinen die Vorfahren Egills ja in keinem Fall (Zauber)techniken anzuwenden (zumindest werden sie nicht als solche beschrieben), was aber nicht bedeutet, dass hier nichts Außernatürliches, Unnatürliches vor sich Vgl. Samson 2020, S. 58. Ganz unwahrscheinlich ist dann allerdings ein Ersatz durch das „leichtere“ Ziegenfell, wie er vorschlägt. Die „innerste, wilde Natur“ des Kämpfers dürfte darin wohl keine adäquate Entsprechung finden. Grundsätzlich aber sieht Samson in den Texten ohnehin in weitaus stärkerem Maße „die Wildheit und die Raserei der Tierkrieger“ betont als deren „Ausrüstung“. Die Männer unterschieden sich gerade nicht durch ihre Kleidung, vielmehr „durch ihr einzigartiges Verhalten“ (Samson 2020, S. 66). Grundy 1998, S. 117. Vgl. Grundy 1998, S. 116 f. Vgl. Hiltmann 2009, S. 185. Merkelbach, S. 84. Merkelbach, S. 84.
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geht: Die Mitglieder der Egill-Sippe sind in der Tat Grenzgänger par excellence, als solche erscheinen sie auch funktionalisiert in der Saga, als die großen Gegenspieler König Haralds.¹⁵⁶ Sie sind primordiale Gründergestalten, an der Grenze zur Sozialität, zum buchstäblichen Menschsein. Und wohl scheint Egill selbst (wie üblich in Gründungsnarrativen) allein durch die Generationenfolge schon ein Stück weit von der wesenhaften Devianz, ja Perversion dieser ,Ersten‘ entfernt zu sein, aber Anteil hat er doch noch daran, und sei es nur oder gerade durch den nunmehr gezielten und gekonnten Einsatz zauberischer Mittel: Das hochaggressiv aufgeladene Aufeinandertreffen des erbosten Egill und König Aðalsteins (Egils saga, Kap. 55) ist dafür bezeichnend. In der Tat wirkt das bizarre „Spiel mit den Augenbrauen“,¹⁵⁷ das Egill hier vollführt, wie ein eigenartiges Schauspiel,¹⁵⁸ und zu Recht mag Hiltmann hier auf die Ähnlichkeiten zu tierischen Rangkämpfen, das gezielte, drohende Starren, das für Wölfe typische Element arteigenen Imponiergehabes, verweisen. Dennoch aber ist die Szene wohl gerade nicht (lediglich) absichtsvoll nachgeahmte wölfische Drohgebärde.¹⁵⁹ Vom mittelalterlichen Menschen (und sehr wahrscheinlich bereits Jahrhunderte zuvor) wird dieses Verhalten als magische Ausdrucksform gewertet. Das ist der Grund, warum der Wolf das ganze Mittelalter hindurch als der prototypische Vertreter des Bösen Blicks gilt. Das heißt, Egill ahmt hier nicht einen Wolf nach, der einem ranghöheren Männchen seinen Platz streitig machen will, er wendet wie dieser die magische Technik des Bösen Blicks an. Entsprechend wird hier wohl kaum ein „exemplarische[s]“, gar positives „Männlichkeitsbild[ ]“ entworfen,¹⁶⁰ wie Hiltmann vermuten möchte, so wenig wie wir im Beinamen des Úlfr inn óargi (des ‚Nichtperversen‘) einen besonderen Ausweis der Männlichkeit lesen wollen.¹⁶¹ Anders Hiltmann: Der Wolf (úlfr) selbst habe „als ein besonders mutiges Tier“ gegolten, Úlfr inn óargi könne entsprechend mit „der mutige Wolf“ wiedergegeben werden¹⁶²: Der wolfgleiche Mut galt dem Verfasser der Saga demnach als eine vorbildliche maskuline Eigenschaft, die sich von Úlfr auf dessen Nachfahren übertragen haben und besonders gut am Verhalten Egils erkennbar gewesen sein soll.¹⁶³
Vgl. Hiltmann 2009, S. 457– 459. Hiltmann 2009, S. 187. Egils saga, Kap. 55: þá hleypði hann annarri brúninni ofan á kinnina, en annarri upp í hárrætr; Egill var svarteygr ok skolbrúnn. Ekki vildi hann drekka, þó at honum væri borit, en ýmsum hleypði hann brúnunum ofan eða upp. („[D]a bewegte er eine Augenbraue herunter auf die Wange und die andere hinauf zu den Haarwurzeln; Egill war dunkeläugig und hatte schräge Augenbrauen. Er wollte nicht trinken, obwohl es ihm angetragen worden war, aber abwechselnd hob und senkte er die Augenbrauen“). Siehe Hiltmann 2011, S. 189 – 191. Siehe Hiltmann 2009, S. 189. Vgl. Hiltmann 2011, S. 194. Vgl. Hiltmann 2011, S. 194. Hiltmann 2009, S. 189.
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Aber die Saga beschreibt sämtliche Mitglieder der Familie kaum als ,mutig‘, vielmehr als grausam, unberechenbar, bestialisch, jenseits sozialer Hierarchien wie legislativer Ordnung. Dass der Begriff argr überhaupt in diesem Diskurs auftaucht, muss bereits misstrauisch machen, ähnlich wird man die Bezeichnung des Verwandten Hallbjörn als lediglich „halber Troll“ (hálftroll) ja kaum als Zugeständnis lesen können. Es ist vielmehr eine übliche Technik des Sprachtabus, indem das Eingeschränkte oder Verneinte gerade das eigentlich Gemeinte, das Erwartbare darstellt.¹⁶⁴ Es ist dieselbe Vermeidungsstrategie, die sich auch im Ausdruck inn óargi zeigt. Zweifelsohne muss hier die literarische, hagiographische hit óarga dýr-Tradition (in der der Löwe mit diesem Ausdruck bezeichnet wird) mitgedacht werden,¹⁶⁵ aber man kann davon ausgehen, dass die Bezeichnung óarga dýr zunächst weder für den Löwen reserviert war, noch eine ad hoc-Erfindung für exotische, in Skandinavien unbekannte Tiere gewesen sein dürfte. Vielmehr hat das Benennungskonzept schon zuvor oder neben dieser Tradition existiert (zumal für den Löwen durchaus eine eigene altnordische Bezeichnung, léo(n), existierte), um eben gefährliche und keineswegs per se positiv konnotierte Raubtiere aller Art zu bezeichnen.¹⁶⁶ Fjodor Uspenskij möchte entsprechend den altnordischen Ausdruck óarga dýr zu einem ganz ähnlich konzipierten altruss. ljutyj zver’ „fierce, wild beast“ stellen, wie er etwa in einer Aufzählung von Jagdtieren des Kiever Rus-Fürsten Vladimir Monomach im 11. Jahrhundert erscheint, und mit dem vermutlich ebenso (in tabuisierender Absicht) der Wolf gemeint ist.¹⁶⁷ Auch er liest in diesem Zusammenhang gerade die Verneinung des nordischen Adjektivsausdrucks als Euphemismus für den Wolf selbst.¹⁶⁸ Daneben verweist er auf die graphische wie phonetische Ähnlichkeit des Wortes óargr (úargr) zu vargr, so wie es auch tatsächlich in den geschriebenen Texten einige Male erscheine.¹⁶⁹ Schließlich werde auch der Fürst Vseslav des altrussischen Igorlieds mit dem Ausdruck ljutyj zver’ belegt, und dieser gelte bereits seit seiner magisch konnotierten Geburt (mit einer Eihaut auf dem Kopf, einer Hülle, die er von da an nicht mehr ablegt) als nahezu werwolfgleich, „pitiless in bloodshed“.¹⁷⁰
Ármann Jakobsson möchte die beiden Ausdrücke ohnehin für synonym halten, zumindest konzeptionell eng verbunden: „I would argue that it is possible that ergi is naturally entwined with trollskapr in descriptions of magic, as both terms refer to an essential part of it. Like troll, ergi refers to something abnormal, magical, negative and anti-social. However, whereas troll is not a sexual word, ergi is used in relation to sexuality and gender roles, for any deviation from the normal“ (Ármann Jakobsson 2013, S. 118). Auch die einzige Erwähnung des Wortes troll in der eddischen Dichtung, in der Vǫluspá (40), erscheint bezeichnenderweise in einer Zusammensetzung, die das Wesen eines Wolfes, eines Nachkommen des Fenriswolfes meint: tungls tiúgari í trollz hami („moon-snatcher in troll’s shape“) (vgl. Ármann Jakobsson 2013, S. 97 f.). Vgl. Beck 1972. Vgl. Uspenskij 2012, S. 163. Vgl. Uspenskij 2012, S. 162 f. Uspenskij 2012, S. 165. Vgl. Uspenskij 2012, S. 165. Vgl. Uspenskij 2012, S. 167.
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Aber erst wenn diese conditio willentlich abgerufen, künstlich hergestellt werden kann, vor einer Kampfhandlung, wird aus dem Gestaltenwandler ein Berserker: Die berüchtigte Berserkerwut oder Raserei, das Heulen, Zähnefletschen, sind Teil ritualpraktischen Handelns, gerade um in jenen Zustand zu verfallen, den die Gründerfamilie Egills noch generationenlang wesenhaft in sich trägt, der dieser ‒ wie dem russischen Fürsten ‒ in die Wiege gelegt ist. Siehe ähnlich Roderick Dale: All of the scholars discussed above have presumed that howling, shield-biting and the other iconic elements of berserksgangr are symptoms. None appears to have considered that these apparent symptoms are part of berserksgangr, and that berserksgangr is a means to work up aggression before battle. […]. As such, it seems likely that scholars are confusing cause and effect [kurs. d. Verf.]. The fact that no scholars have examined the etymology and meaning of berserksgangr in detail is likely to have enhanced this confusion. Neither of the elements of berserksgangr indicates frenzy or fury. Such interpretation derives from Snorri’s Heimskringla and from the interpretation of howling and shield-biting as a berserk fit, but berserksgangr could simply mean the ,way of berserkrʻ or the ,movements of the berserkrʻ, being simply a set of pre-battle activities that they undertook.¹⁷¹
Auch Hiltmann sieht zunächst einmal keinerlei Anzeichen für eine Art „tiergleiche, wilde und unkontrollierte Form der Raserei“.¹⁷² Der Begriff ,Berserkerwutʻ suggeriere wohl eine passive Rolle desjenigen, den diese Wut überkommen habe. Odin sei seinen Feinden „grimmig erschienen“ (sýndisk han grimmligr sínum óvinum), so heiße es in der in diesem Zusammenhang am häufigsten zitierten Stelle der Ynglinga saga (Kap. 6), aber das hier verwendete mediopassive Verb sýnask deute eher darauf hin, „dass der Verfasser der Saga diese Grimmigkeit auf eine Form der bewussten Inszenierung [kursiv d. Verf.] oder Demonstration zurückführte.“¹⁷³ Hiltmann wie Dale möchten entsprechend diese Dramaturgie als „Kampftechnik“¹⁷⁴ begreifen, wohl eine „typische Form der Bewegung“, die der Sagaautor aber als erlernbare und „bewusst anwendbare kriegerische Fertigkeit darstellte.“¹⁷⁵ In dieser Einschätzung eines absichtsvollen, gezielten Vorgehens muss beiden unbedingt zugestimmt werden, aber es geht wohl nicht lediglich um eine raffinierte Technik zur Herstellung eines möglichst überzeugenden tierähnlichen Gebarens, um Imponiergehabe ohne jegliche religiös magische Implikationen.¹⁷⁶ Unter den Eigennamen, die mit einem Wolfselement zusammengesetzt sind, fällt eine Sondergruppe auf, deren prototypisches, bedeutungsgebendes Merkmal ausgerechnet auf die Art der Bewegung, das Gehen eines Wolfes referiert. Neben der wölfischen Gestalt, neben dem Heulen, der spezifischen Lautäußerung des Wolfes, gehört Dale 2014, S. 96 f. Hiltmann 2011, S. 146. Hiltmann 2011, S. 147. Hiltmann 2011, S. 148. Hiltmann 2011, S. 149. Vgl. Samson 2020, S. 134, der z. B. das Verhalten des Kämpfers Ljótr hinn bleiki (Egils saga, Kap. 64), der ausdrücklich als Berserker beschrieben wird, auf diese Weise verstanden wissen will.
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ganz offensichtlich zur Prototypik des richtigen, eigentlichen Wolfes sein Gang. Siehe die alemannischen Eigennamen Wolf-gang, Wolf-dregi(l), Wolfthregi, daneben Gangulf und Ähnliches, einer der im ‚Wolfsgang geht‘.¹⁷⁷ Tatsächlich scheint auch in den frühesten Darstellungskonventionen der Tierkrieger (neben der zeichenhaften animalischen Verkleidung) eine spezifische Körpersymbolik der Extremitäten, der ,Kniegang‘, auf eine besondere, ritualisierte Art der Bewegung zu verweisen, besonders augenscheinlich beim Waffentänzer auf der Matrize von Torslunda. Siehe auch den so genannten gotischen Tanz (τὸ Γοτθικόν), den zwei Gruppen vermummter germanischer Krieger vor dem byzantinischen Kaiser zur jól-Zeit zum Vortrag bringen, wie Konstantin Porphyrogennetos (De cerimoniis aulae Byzantinae, Kap. 92) berichtet.¹⁷⁸
Vgl. Müller 1970, S. 212 f.; Samson 2020, S. 44. Bezüglich der Gangart hat der Wolf einige biologische Eigenarten, die ihn etwa vom Hund unterscheiden. Siehe den so genannten ,geschnürten Trab‘: In einer schnurgeraden Spur tritt das Tier exakt mit den Hinterpfoten in die Abdrücke der Vorderpfoten, bei mehreren Tieren, im Rudel, auch die darauf folgenden, ein typischer ‚Wolfsgang‘, mit dem die Tiere weite Strecken effizient und energiesparend zurücklegen (vgl. Kaczensky 2011, S. 15). Auch im Passgang bewegt sich der Wolf im Gegensatz zum Hund häufig, was nicht nur eine weitere Besonderheit seines Ganges ausmacht (es entsteht der Eindruck eines merkwürdig schaukelnden, schwankenden Bewegungsablaufs), auch die Anatomie seiner Gehwerkzeuge selbst ist danach ausgerichtet: Der Wolf gilt ausdrücklich, wiederum im Gegensatz zum Hund, als ‚hochbeinig‘. Vgl. eine uralische (Tabu)bezeichnung für den Wolf: ŏwər kŭrəp, eigentlich „etwas Langbeiniges“ (vgl. Knüppel 2017, S. 606). Man beachte die Beinamen Harald Schönhaars ungeliebter ‚finnischer‘ Söhne: Hálfdan háleggr, Rǫgnvaldr réttilbeini, Sigurðr hrísi, Guðrǫðr ljómi, die wir bereits unter dem (allgemeineren) Aspekt des Zauberischen, Verhängnisvollen, Monströsen gedeutet haben. Háleggr bedeutet expressis verbis „hochbeinig“, hier könnte mit einigen guten Gründen auch die Hochbeinigkeit des Wolfes gemeint sein. Im Übrigen gilt auch „Bastard“ (hrísi) als typischer Wolfsnamen (vgl. Peuckert 1938/41, Sp. 728). Siehe auch Heinrich Fleischers Hinweis bezüglich des bedeutungsgebenden Konzepts des Wolfsnamens in den semitischen Sprachen: „Der allen semitischen Sprachen gemeinschaftliche Namen des Wolfes di’b, z’êbh, dîbh, bedeutet nach sicherer Ableitung ursprünglich den Vertriebenen, Gescheuchten, Flüchtling,“ und er vermutet, dass „sein scheues und unstätes Wesen, sein Umherstreifen, besonders zur Nachtzeit, seine Raubsucht und Gefräßigkeit“, insbesondere aber sein „schwankender, gleichsam hinkender Gang“ auch hier Grundlage für seine zahlreichen weiteren Beinamen geworden sei (vgl. Fleischer 1846 – 48, S. 430 f.). In diesem spezifischen Detail der Gangart ist der Wolf auch im Mitteleuropa sprichwörtlich geworden: „[M]archer à pas de loup“ („[t]o sneak along is to walk with the step of a wolf, Lopez 1978, S. 220). „Man kennt den Wolf am Gang, / Die Glock am Klang, / Den Franziscaner am Strang, / Den Bauer an der Gabel, / Den Advocaten am Schnabel“ (Simrock 1846, S. 562 f.). Bekanntlich sieht Otto Höfler (in der Tradition von Weiser-Aall 1927) solche „Waffentänze“ bzw. „Kampfspiele“, ja überhaupt Berserkertum, die ‚Kriegerekstase‘ als männerbündisches Phänomen. Noch die neuzeitlichen Maskenumzüge, Tiervermummungen junger Männer zur Weihnachts- und Fastnachtszeit gehörten nach Höfler als Inszenierung wie Ritualisierung eines mythischen Pendants des Totenheeres, der so genannten ‚Wilden Jagd‘ hierher (vgl. Höfler 1934, S. 1 ff., Höfler 1934, S. 154 ff.). In der Einschätzung eines Ritualcharakters dieser Handlungen im größeren Kontext männerbündischer Organisationsformen wird man Höfler grundsätzlich zustimmen können. Die Tanzdarbietungen im obigen Fall scheinen offiziellen Charakter zu haben, möglicherweise sind sie Teil des byzantinischen Hofzeremoniells (vgl. Samson 2020, S. 181). Die Umtriebe der Jungmannschaften Europas (von
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Hans Kuhn wollte die Berserker bekanntlich als nordische Version der römischen Gladiatoren verstehen, darauf aufbauend hielt auch er das Konzept der Nacktheit für diese namengebend (,im bloßen Hemdʻ, ‚ohne Brünne kämpfend‘), ähnlich den leicht gegürteten Gladiatoren der römischen Arenen.¹⁷⁹ Nach Ausweis der Dinge wird man gerade Letzterem kaum mehr so zustimmen können, insbesondere weil auch durch diesen Interpretationsansatz das Berserkertum auf ein gänzlich ‚profanes‘ kampf-
Skandinavien bis in die Alpenregionen), auf die er sich in gleicher Weise bezieht, sind indes ihrem Wesen nach (vorläufig noch unabhängig von der Kontinuitätsproblematik) hochtransgressiv, am weitesten entfernt von sozialer Normativität. Es gehört wohl zu Höflers nachhaltigsten wissenschaftlichen Irrtümern (und gegebenenfalls zu einem nicht geringen Teil seiner nationalistischen politischen Gesinnung geschuldet), diese jungen Männer als (zeitweilige) Vertreter des Liminalen für die eigentliche ‚Keimzelle‘, Struktur bildend wie fundierend für eine präsumtive ‚germanische‘ Gesellschaft zu halten, die „religiöse[ ] Ekstase“, „den dämonischen Totenkult[ ]“ für die „Grundfeste[ ] des germanischen Gemeinschaftslebens“ (Höfler 1934, S. 1). Siehe Courtney M. Burrell: „Höfler’s emphasis on the political and historical strength of this social unit (its ‚historisch-politische Kräfte‘) and its role at the centre of society to create order and stability endorsed a nationalistic view of German-Germanic culture. Finally, Höfler’s research paints a highly exclusive image of ancient Germanic society. According to Höfler, it was the men’s bands that served as the pulsating life force of Germanic civilisation. Other members or aspects of society are excluded or subordinated in relation to the cult band. For example, women are absent from Höfler’s research, and only those select men who performed initiation rituals became part of the sacred men’s bands. Hence, Höfler’s concept of Germanic culture glorifies a very specific group of men and is underlined by a nationalistic agenda that argues for the historical continuity of Germanic tradition. And it is these elements of his Männerbund theory that offer a significant explanation as to why his research could attract attention from not only modern populist groups but also misogynist, antifeminist groups and individuals […]“ (Burrell 2020, S. 246). Das Gegenteil ist also der Fall, es ist weltweit gerade das Ghettoisieren und Ausschließen dieses (männlichen) destabilisierenden Potentials, das (diskursive wie lokale wie temporale) Wegrücken bis an die äußersten Grenzen bis hin zur Berührung mit dem Außersystemischen, Unnatürlichen, Übernatürlichen, das Gesellschaften stabil hält. Zweifelsohne übernimmt der Männerbund gerade in dieser Position symbolische wie reale Sicherungsfunktionen, eine Art „Membranen- oder Filterfunktion“ (Fleischer 1996, S. 37). Hier ist der Ort, wo entschieden wird, unter welchen Bedingungen, „Einflüsse von Außen in das System gelangen können und welche nicht“ (Fleischer 1996, S. 37). Dazu gehört das ‚In Schach halten‘ äußerer Feinde ebenso wie das Disziplinieren, ‚Rügen‘ innerer, in ganz besonderem Maße aber Austausch und Kommunikation mit den Toten. Und stets bleibt der Männerbund dabei negative Projektionsfläche, die als solche gerade nicht in die Gesellschaft integriert werden kann. Zweifelsohne gelingt es Höfler nicht immer, zwischen weltanschaulich ideologischer Innenperspektive (dem Sonderbewusstsein und Selbstlegitimierung eines Männerbundes, an dem er offenbar auf welche Weise auch immer Anteil zu haben scheint) und der Außenperspektive auf diese Bedingtheiten des Untersuchungsgegenstandes klar zu trennen. Dennoch aber bleibt sein Forschungsansatz in weiten Teilen gültig. Siehe zur Validität wie Problematik Höflers Männerbundforschung ausführlich Heizmann 2002b. Die Germanen hätten die Kampfspiele der Gladiatoren kennengelernt und viele seien darin ausgebildet worden. Isidor von Sevilla verwende zu Beginn des 7. Jhs. den Ausdruck campiones (campio), woraus sich lautgesetzlich an. kappi oder kempa > nhd. kämpe entwickelt habe. Dennoch möchte auch Kuhn davon ausgehen, dass sich „das Amt der germanischen Kämpen“ grundsätzlich von dem des lateinischen Gladiators unterschieden habe (vgl. Kuhn 1968, S. 219).
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technisches Phänomen eingeschränkt würde.¹⁸⁰ Allerdings verweist Kuhn in diesem Zusammenhang auf eine Belegstelle im Friesischen, eine möglicherweise verderbte Stelle, so der erste Eindruck, in der die Nacktheit doch wiederum eine Rolle zu spielen scheint: Der Name [Berserker, d. Verf.] erinnert an das berskinze, das in den altfriesischen Gesetzen von den Kämpen gebraucht wird, bei ihrer Aufzeichnung aber offensichtlich veraltet war und daher entstellt sein kann. Es scheint dasselbe wie mhd. bar-schinke (und mnh. bar-schinket) ,barschenkligʻ zu sein und muß ebenfalls auf eine vorgeschriebene leichte Körperbedeckung der Kämpen gehen, wie sie bei Zweikämpfen, die nach festen Regeln ausgefochten werden und allen die gleiche Chance geben sollen, fast selbstverständlich ist (vgl. oben campio cinctus und gyrded cempa, die vielleicht dasselbe sagen). Daß die nordischen Berserker offenkundig etwas mehr am Leibe trugen, als den Kämpen im wärmeren Deutschland (oder gar den römischen Gladiatoren) erlaubt war, ist natürlich.¹⁸¹
Die adjektivische Bildung ber-serkr sei damit an formal ähnliche Bildungen anzuschließen wie ber-beinn „bar-beinig“ und ber-leggr „bar-schenklig“.¹⁸² Nun gibt von See zu Recht zu bedenken, dass -serkr und -skinze schließlich ganz unterschiedliche Etymologien besäßen, auch seien die friesischen Gerichtskämpfe wohl nicht mit den nordischen ekstatischen Zuständen zu vergleichen,¹⁸³ auffallend bleibt aber, dass auch hier die Bezeichnung gänzlich isoliert bleibt und auf keine Weise semantisch anschließbar scheint. Nichts wissen die Friesen von Bären oder von Nacktheit, aber nun scheinen Körperextremitäten ins Spiel zu kommen, Schenkel oder Schienbeine, die für den vorliegenden Zusammenhang wiederum so einschlägig sind, dass sie nicht übergangen werden sollten. So ließe sich immerhin spekulieren, ob nicht ganz im Gegenteil dieser Ausdruck womöglich tatsächlich eine ältere Vorstellung fasste, den Hinweis auf eine spezielle Eigenschaft von Beinen, auf eine Bewegung, ein Wissensrahmen, der nachgerade am gewöhnlichsten erscheint in der (konventionalisierten) Namensgebung des germanischen Kriegers. Vielleicht kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen und auch für das Erstglied ber/bar dieses Körperwissen in Erwägung ziehen, auf das wir bereits im mythischen Zusammenhang, etwa bei Odins Epitheton býleistr („der im Schritt schwankt“) oder bei Hœnirs Beiname fet-Meili („Schritt-Töpel“) gestoßen sind. So ließe sich etwa an eine Bezeichnung denken, die gerade im Kontext des (früh)mittelalterlichen Kriegertums eine bekannte Größe ist:
Siehe auch Samson 2020, S. 34 f. Kuhn 1968, S. 222. Siehe „berschinse Kempa“ im Altfriesischen Landrecht (vgl.Wiarda 1805, S. 161): Das plattdeutsche Asega-Buch habe die Stelle „sa wesere enes berskinzes campa“ indes schon komplett missverstanden, es übersetze: „[S]o wyse (zeige) mhen eynes bharren Kyndes (geborenen Kindes) kamp.“ Man habe dieser „schiefen Übersetzung“ getraut und so erscheine an anderer Stelle: „bharen Kynd significat cognatum de familia vel genere, qui pro eo pugnat.“ Berskinz oder berschine sei indes zusammengesetzt aus: „ber, baar, nackend und skin oder schin Schiene, Schienbein. So wie baarfuß bloßen Fuß bedeutet, so heißt baar-Schien, das bloße, nackende Bein,“ also berskinze campa, der „bloßbeinige[ ] Kampf“. Vgl. von See 1981a, S. 314.
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baro, nhd. „Baron“,¹⁸⁴ ein kaum weniger schwieriges Wort, gerade was seine Bedeutungsentwicklung anbelangt. Irritierend ambivalent umfasst es ein Konzept von Männlichkeit, das Kuhn einerseits beschreibt als „verächtliche Bezeichnung dessen, der zwar stark, aber dumm, oder der in einer Sache Laie“ sei, andererseits als „ein ehrenvolles Wort in der Bedeutung ‚Mann, Krieger, Heldʻ und dgl.“ erscheine.¹⁸⁵ Bei Kluge/Seebold wird auf einen möglichen Anschluss an lat. vāro, bāro „grobschlächtige Person“ verwiesen, das sich wiederum zu lat. vārus „verwachsen, x-beinig“ stellen lasse.¹⁸⁶ Kuhn vermutet sowohl für das deutsche wie das lateinische Wort einen (inzwischen wieder für eher unwahrscheinlich angenommenen)¹⁸⁷ keltischen Begriff. So oder so aber müsse ursprünglich eine verächtliche Grundbedeutung im Vordergrund gestanden haben, der Tölpel, der „Dörfler“, der von der Provinz in die Stadt Rom gekommen sei, und dann eben als „der Grobe und Dumme“ verstanden worden sei. Ob wurzelgleich oder nicht scheint auch das lat. bardus „langsam und schwer von Begriff, stumpfsinnig, dumm“¹⁸⁸ mitgewirkt zu haben. Hier zeigt sich nun das tertium comparationis, das etwa nhd. Barre „Schranke“ (mhd. barre < afrz. barre „(Quer‐)Stange“; < vor-rom. barra „Querbalken“) zu lat. vārus im Sinne von „entgegengesetzt“, spl. vāra „quer“ mit dem Baron und im Weiteren mit dem Berserker verbindet: Es ist jene Vorstellung von Asymmetrie, von Schiefheit, von Quere des Beines, auf die wir bereits auf jeder Symbolisierungsebene gestoßen sind, der ,schiefeʻ, ,schrägeʻ, ,tölpelhafteʻ Schenkel bzw. Schenkel oder Beine, die auf diese Art bewegt werden, und, wichtig genug, diesen Effekt haben.¹⁸⁹ Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Baron“: „Freiherr“ (mhd. barūn < franz. Baron ‚freier Mann, Lehensmannʻ, „meist von höherem Rang“). „Die Herkunft des französischen Wortes ist umstritten. Seine früheste Bezeugung im 6./7. Jh. weist auf ,Söldner, Lehensmannʻ.“ Gabriele von Olberg geht davon aus, dass in der Zeit vom 6. bis zum 9. Jh. die Bedeutung des Wortes wohl nicht mehr (bzw. noch nicht) eindeutig festgelegt gewesen sei, und entsprechend mit einer Vielzahl von Bedeutungen zu rechnen sei (vgl. von Olberg 1991, S. 97), sowohl im Sinne „bedeutungsmäßige[r] Einengung“ wie „Aufwertung“ (von Olberg 1991, S. 102). Erst im 16./17. Jahrhundert erhält der Baron die heutige Bedeutung ‚Freiherr‘ (vgl. von Olberg 1991, S. 97 f.). Kuhn 1971, S. 464. Vgl. Kluge/Seebold 2002, „Baron“. Siehe dazu Walde/Hofm. 1965 – 1972, „varo“: „Tölpel“; Walde/ Hofm. 1965 – 1972, „baro“: 1. „Tölpel, ,Mensch mit einseitiger Ausbildung“ („Schurke“); 2. „frei geborener Mann“. Dazu Walde/Hofm. 1965 – 1972, „varus“: „auseinandergebogen, auswärts gebogen“, „dachsbeinig; entgegengesetzt“, varo, -are „messe ein Flußbett oder andere unzugängliche Stelle aus (d. h. „übergrätsche“), vāra „gabelförmige Stange“, „Querholz“, varicus „mit ausgestreckten Beinen, grätschend“, praevaricor „gehe in die Quere, mache Winkelzüge“. „Mit dem hauptsächlich von den Schenkeln gebrauchten varus berührt sich auch suffixal besonders nahe ai. ū-rú-h ‚Schenkel, Lendeʻ, ferner lett. sāwari ‚Querstangen (bei der Egge)ʻ.“ Das gleiche Bedeutungsverhältnis sei auch bei vă-tius, va-tax „einwärts gebogen, krumm (von Beinen)“ und ahd. wado „sura, suffrago“, nhd. Wade, aisl. vǫðui „dicker Muskel bes. an Beinen und Armen“ zu sehen (mit Verweis auf σκέλος: σκολιός). Vgl. von Olberg 1991, S. 103 f., mit Literaturhinweisen. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „2. bardus“. Das bedeutungsgebende Konzept von nhd. Schenkel ist seinerseits ,Schiefheitʻ, ,Schrägheitʻ, ein Konzept, das nahezu immer ins Pejorative umschlägt. Bis in jüngere Zeit scheint diese Vorstellung des ,Verdrehtenʻ, ,Unnatürlichenʻ, ,nicht Richtigenʻ in dieser Bezeichnung im Sprachgefühl noch wach
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Es passt zu der Vorstellung eines besonderen, rituellen Bewegungsablaufs, vielleicht ,Tanzschrittʻ, sei es einbeinig, hinkend, schleppend. Der Schamane bringt sich damit in einen Trance-Zustand (siehe etwa der ,Schritt des Yü‘, der Schamanentanz, der hinkend oder hüpfend auf einem Bein ausgeführt wurde), z. B. um auf diese Weise Kontakt mit der Anderwelt aufzunehmen, sei es als grenzüberschreitender ,Bräutigamʻ einer Anderweltfrau oder zur Totenkommunikation. Der geschulte (und/oder initiierte) Krieger sprengt damit die Kampfkraft des feindlichen Heeres,¹⁹⁰ der hólmgangsmaðr macht soziale Ordnungen und Besitzverhältnisse hinfällig.¹⁹¹ In den Gest.Dan. (6.7) tritt der Held Starcatherus anstelle des Helgo gegen neun Herzogsöhne an (als Vorbedingung für die Hochzeit mit Helga, der Tochter Frothos). Dabei kommt es in der Halle Ingells bereits im Vorfeld zu einem bezeichnenden Aufeinandertreffen der Gegner: Als hier Starkather wie ein Diener an den mit Gästen besetzten Tischen vorüberschritt, da stiessen die obenerwähnten Neun mit hässlichen Gebärden wilde Töne aus und sprachen sich, wie Schauspieler hin und herlaufend, gegenseitig Mut zu für den Kampf. Einige erzählen, dass sie den kommenden Kämpen wie wütende Hunde angebellt hätten. Starkather schalt sie, dass sie sich durch Entstellung ihres Antlitzes ein lächerliches Aussehen gäben und Unfug trieben mit aufgeblasenen Backen und aufgesperrten Mäulern; denn so führe liederliche Weichlichkeit von Leuten, die zu Weibern geworden wären, ihre ausschweifende Zügellosigkeit zur Schau.¹⁹²
gewesen zu sein: So nennt das Preußische Wörterbuch noch Ausdrücke wie „Schinkenschwager“: „derjenige, der mit der Frau eines anderen geschlechtlichen Verkehr hat. In Friedl. Ostpr. Schinkenbruder.“ „Schinkenschwester“: „Konkubine“; „Schinkenvetter“: „derjenige, der statt eines andern die Patenstelle vertritt“, „derjenige, dessen Ehefrau bei jemand die Patenstelle vertreten [sic]“ (Frischbier 1882, S. 274). Dale vergleicht damit die speziellen Vorbereitungen neuseeländischer Rugbyteams vor jedem Spiel. Die Spieler tanzen den haka, einen Kriegstanz, den die Maori-Krieger vor kriegerischen Auseinandersetzungen zu tanzen pflegten (vgl. Dale 2014, S. 97). Hermann Pálsson und Stephanie Würth verweisen in ihrer Untersuchung zu den isländischen hólmgǫngur auf die ungewöhnliche Häufigkeit von Beinwunden, die aus diesen Ritual-Kämpfen davongetragen würden. Manche Sagas erweckten dabei gar den Eindruck, „als sei es bei Zweikämpfen mit Berserkern allgemein üblich gewesen, dem Gegner das Bein oberhalb des Knies abzuschlagen“, die Erwähnung der immer gleichen Art von Verwundungen möchten sie entsprechend kaum als Zufall, vielmehr als konventionalisiertes literarisches Motiv sehen (vgl. Hermann Pálsson und Würth 1995, S. 62, zit. n. Wetzler 2014, S. 361). Nun mag diese Art von Verletzungen durchaus auch realistischen Kampfbedingtheiten entsprechen (vgl. Wetzler 2014, S. 361, der auf die grundsätzliche Ungedecktheit der Beine und damit empfindlichstes Ziel hinweist), gerade hier darf aber wohl das beschädigte, ja fehlende Bein in seiner magisch religiösen Zeigefunktion kaum unterschätzt werden. Ubi cum Starcatherus ministrorum more mensas convivis obsitas praeteriret, praememorati novem plenis deformitatis gestibus torvos ore fremitus dantes ac more scaenico decursantes in pugnam se mutua adhortatione firmabant. Sunt qui eos venienti athletae saevientium canum exemplo oblatrasse perhibeant. Quibus Starcatherus increpatis, quod adulterino oris habitu ridiculam sibi formam consciscerent patulisque buccarum rictibus lascivirent, taliter effeminatorum dissolutam mollitiem intemperantiae suae luxum deducere praedicabat (Gest.Dan. 6.7).
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Als der Kampf schließlich beginnt, lässt Starcatherus endgültig keinen Zweifel mehr an der eigentlichen Natur seiner Gegner: Er fragte ihn, ob er der sei, der den Kampf durchzufechten sich anheischig gemacht habe, und als Starkather sagte, er wäre der, da kamen auch die andern hinzu und fragten, ob er sie alle zusammen oder jeden einzeln bestehen wolle. Er aber sagte: „Wenn mich ein Rudel Hunde zudringlich ankläfft, so pflege ich sie alle zusammen, nicht einzeln, fortzujagen.“¹⁹³
In deren Gebaren zeigen sich ja sämtliche Elemente des apotropäischen Zaubers, wie sie zuvor beschrieben wurden, Heulen, Bellen, Zähnefletschen, ein gewisser ‚einstudierter‘ Lauf, eben jener Katalog an war magic-Elementen, die aus einer Gruppe von Männern „ein Rudel Hunde“ macht.¹⁹⁴ Es mag wohl stimmen, zu irgendeinem Zeitpunkt mochte die Erzeugung, das ‚Vorspielen‘ dieser ekstatischen, tierischen Zustände dem besonders guten Techniker oder Schauspieler zugeschrieben worden sein, ja wirkte gegebenenfalls in seiner Unverständlichkeit bizarr bis hin zur Lächerlichkeit,¹⁹⁵ zunächst aber und für lange Zeit vermochte sich nur der Zauberkundige, der Ritualkundige, der Initiierte in diesen Zustand zu bringen. Ein Anachronismus ohnehin, denn der vormoderne, magisch denkende Mensch zieht hier keine Grenzlinien: Der Schauspieler und Gaukler gilt in kaum geringerem Maße als trickreicher Wirklichkeitsverdreher, Wirklichkeitsmanipulator, mit nämlichen unguten, betrügerischen, zauberischen Effekten, und wiederum keineswegs für die Gutgläubigen oder zumindest Beeindruckbaren ausschließlich dieser Welt, gerade gegen Anderweltwesen, allem voran im Totenkult ist man in besonderem Maße auf diese Grenzgänger angewiesen. Es mag entsprechend Percontatur itaque, an is sit, qui prommissas pugnae partes agere debeat. Cumque se hunc esse Starcatherus astrueret, supervenientes ceteri, pariterne omnes an singillatim excipere statuisset, interrogant. At ille: „Quoties mihi“, inquit, „triste canum agmen oblatrat, simul, non vicissim, eos abigere soleo“ (Gest.Dan. 6.7). Dabei geriert sich Starcatherus selbst nach Berserkerart: Nicht nur vertritt er den Freier Helgo im Zweikampf, er zeigt dabei auch typische Berserker-Qualitäten. Unmittelbar vor dem Kampf entledigt er sich seiner Kleidung und gibt sich „Hagelkörner[n]“, „den Winden und Schneeflocken preis“, bis er schließlich „bis zu den Schultern von dem fallenden Schnee bedeckt [ist]“ (Gest.Dan. 6.7). Selbst als ihm nach dem Kampf die Eingeweide aus dem Bauch quellen, ist er in kürzester Zeit wiederhergestellt, Waffen können ihm also nichts anhaben. Darüber hinaus scheint in der Erzählung ein (wenn auch nurmehr schwach erkennbares) ius primae noctis-Motiv durch. Dieses Motiv ist (wie der Frauenraub überhaupt) notorisch mit Berserkernarrativen verbunden: Starcatherus ‚wacht‘ über die Hochzeitsnacht, wie es heißt, er hält freiwillig Wache vor dem Brautgemach und verschließt die Tür mit dem Schwert, ein Element, das im hochritualisierten Kontext der Brautnacht die Bedeutung eines symbolum castitatis evoziert. Tatsächlich folgt am nächsten Tag ein wüster Schlagabtausch im Schlafzimmer zwischen allen dreien (von Saxo kaum plausibel erklärlich gemacht), und Starcatherus kann sich vor einem tödlichen Schlag des Bräutigams nur durch das Dazwischentreten der Braut retten (Gest.Dan. 6.7). So lässt sich offenbar auch Grettir kaum mehr beeindrucken von der ‚Beserker-Darbietung‘ seines Gegners Snækollr und unterbricht diese kurzerhand, indem er ihm durch einen gezielten Fußtritt den Kiefer ausrenkt (Grettis saga, Kap. 40).
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nicht einmal Zufall sein, wenn in der letzten Strophe des Haraldskvæði (23), jener frühesten literarischen Quelle des Berserkertums im Norden, ausgerechnet Gaukler und Schauspieler erscheinen – unmittelbar nach der Beschreibung der Berserker an König Haralds Hof, ein Umstand, der in der mitunter komplizierten Diskussion um Struktur und Aufbau des Gedichtes bisher kaum einmal näher thematisiert wurde. Den einzigartigen Wert des Gedichtes für die Berserker-Überlieferung sehen bekanntermaßen nicht alle. Klaus von See sieht die infrage kommenden Strophen (um 900) „gänzlich isoliert“ dastehen, auffallend sei die Überlieferungslücke bis zur durchgehenden, stereotypen Beleglage in den Sagas des 12. bis 14. Jahrhunderts.¹⁹⁶ Entsprechend möchte er in der Beschreibung der Berserker als vorgebliche Elitekrieger des Königs kaum mehr als ein literarisches Konstrukt des 12. Jahrhunderts sehen, in Wirklichkeit habe es keine Berserker gegeben, womit er freilich weniger jene letztendlich indoeuropäische Tradition ekstatischer Tierkrieger infrage stellen möchte als vielmehr die konkrete Vorstellung eines „Kriegertypus, der die technische Bezeichnung ‚Berserker‘ führte“.¹⁹⁷ Nun ist die Heterogenität des Gedichtes unbestritten, bekanntermaßen ist es erst im 19. Jh. aus unterschiedlichen Teilen womöglich unterschiedlicher Autoren zusammengefügt worden. Die Redundanzen, die von See als unauthentisch in der Beschreibung der Berserker kritisiert, relativieren sich entsprechend. Sie geben, jeweils auf ihre Weise, Einblick in die sehr unterschiedlichen Aufgabenbereiche dieser spezifischen Gruppierung, möglicherweise, wenn wir im zweiten Teil tatsächlich einen späten Zusatz des 12. Jahrhunderts sehen wollen, den Endpunkt einer semantischen wie pragmatischen Entwicklung. Im unmittelbaren Kampfgeschehen im Hafrsfjord (siehe Haraldskvæði 8) gehen Tierkrieger vor dem König her,¹⁹⁸ stehen am vordersten Steven als gewissermaßen apotropäischer Schutzschild, als magische Abwehr, ähnlich den Drachenköpfen, die dort zum selben Zweck angebracht sind.¹⁹⁹ Am königli „Die Überschau ergibt, daß das berserkr-Zeugnis des Haraldskvæði am Ende des 9. Jh.s gänzlich isoliert dasteht, daß nahezu 250 Jahre das Wort berserkr völlig fehlt, dann aber vom 12. Jh. an im eddisch-skaldischen Bereich mehrfach vorkommt. Vom 12. Jh. an erscheint das Wort auch ziemlich häufig in der isländischen Prosaliteratur. Die Isolation des Harkv. wird noch auffälliger, wenn man bedenkt, daß das Wort berserkr auf Runeninschriften völlig fehlt. Gelegenheiten zu solchen Inschriften hätte es immerhin gegeben […]“ (von See 1981a, S. 313). von See 1981a, S. 316. Siehe ähnlich Þórir hundr, der ‚letzte Berserker‘ und seine Wolfskrieger: ‚Hunde‘, die in der Schlacht von Stiklastaðir (1030) gegen Olaf den Heiligen (Óláfs saga helga) vor dem Heer Aufstellung nehmen und damit nämliche, vorrangig apotropäische und erst an zweiter Stelle martialische Funktion ausüben. Auch an den ägyptischen Gott Wep-wawet („Wegöffner“) könnte gedacht werden, der entweder als (stehender) Mensch mit Hundekopf dargestellt wurde oder lediglich symbolhaft als oder auf einer Standarte, die ausdrücklich dem König vorangetragen wurde. Hans W. Helck mutmaßt, dass ursprünglich ein „echtes Tier ‒ Jagdhund ‒ im Gefolge des vorgeschichtl[ichen] Häuptlings“ Vorbild gewesen sein könnte (vgl. Helck 1979, Sp. 1367). Auf noch ursprünglichere Weise scheint allerdings die Bedeutung des Namens selbst auf dessen (rituelle) Funktion zu verweisen: ein magisch apotropäisches ,Wegebahnen‘.
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chen Hof (Haraldskvæði 20, 21) demonstrieren sie auf gleiche Weise diese Fähigkeit,²⁰⁰ offenbar gerade Fremden, Hallen-Eindringlingen gegenüber, später oder gleichzeitig, ähnlich dem byzantinischen Hofzeremoniell, nehmen sie repräsentative, zeremonielle Aufgaben wahr, offensichtlich bereits an der buchstäblichen Grenze zur Belustigung und Persiflage (Haraldskvæði 23).²⁰¹ Immerhin scheint es doch auffallend, dass ausgerechnet ein ‚ohrenloser Hund‘ bei diesem Gauklerspiel im Vordergrund steht, daneben, was indes bisher in der Übersetzung ungelöst blieb, eine Art Feuerakrobatik, die die Spaßmacher vorführen oder über sich ergehen lassen müssen, noch schwieriger die ganz enigmatische Schlusszeile, in der wir allerdings aus dem bisherigen Zusammenhang schließen können, dass wohl ein Tanz beschrieben wird.²⁰² Aber doch scheinen selbst in dieser offensichtlich zur reinen Burleske abgesunkenen Darbietung von Schauspielern²⁰³ noch die Ritualelemente eines ursprünglichen BerserkerWandlungszaubers durch. Nun sind solche Art (persiflierende) Aufführungen von ‚Hundekriegern‘ nicht einmal einzigartig, insbesondere verlieren sie, wichtig genug, durch den präsumtiv komischen Charakter nicht ihre Bedeutsamkeit, vielmehr verstärkt sich deren liminaler, transgressiver, inverser Aspekt und damit ihre Wirksamkeit gegenüber Anderweltwesen aller Art: In bedeutsamer Übereinstimmung kennt auch das japanische mittelalterliche Yamato-Kaiserhaus so genannte Hunde-Menschen, deren Herkunft wie Funktion indes auch hier in den Quellen des 6./7. Jhs. kaum mehr authentisch wiedergegeben sein dürfte. Die Hayato, mutmaßlich die letzten Vertreter einer ur-
Þeir heita ulfheðnar, es bera blóðgar randir í orrostu; rjóða vigrar, es koma til vígs; þar es þeim sist saman. Þar, hygg ek, felisk sá inn skilvísi skyli undir einum áræðismǫnnum, þeim es hǫggva í skjǫld (Haraldskvæði 21). („They are called wolf-skins, who bear bloody shields in combat; they redden spears when they come to war; there [at Haraldr’s court] they are seated together. There, I believe, he, the sovereign wise in understanding, may entrust himself to men of courage alone, those who hew into a shield“ [Fulk (Hg.) 2012c]). Andaðr elskar at eyrnalausum hundi ok drýgir heimsku ok hlœgir jǫfur. Hinir eru ok aðrir, es skulu bera brennanda spôn of eld; hældræpir halir hafa drepit logǫndum húfum und linda sér (Haraldskvæði 23). („Andaðr fondles an earless dog, and he plays the fool and makes the king laugh. There are also others whose practice is to pass a burning wood-chip across a fire; those men who deserve kicking have tucked blazing caps under their belts“ [Fulk (Hg.) 2012c]). „The exact nature of the entertainment is disputed“ (Fulk 2012c, S. 116): Die Vorschläge gehen vom Tragen ‚brennender Holzspäne‘ über ‚phallischen Exhibitionismus‘ der Darsteller, noch schwieriger der Ausdruck hældræpir, der wohl schwerlich „[men] who deserve kicking“ oder „heel-strikable, worthy to be struck with the heel“ bedeuten dürfte, vielmehr „one who hops or dances on his heels“ oder einfach „skipping“, also eine Art Hüpfen, eine (lustige) Tanzbewegung (vgl. Fulk 2012c, S. 116). Auch der Ausdruck leikari „Spielmann“ erscheint hier in der nordischen Überlieferung zum ersten Mal, „[d]as älteste und auf lange Zeit einsame Zeugnis für Spielleute im germanischen Norden“, so Andreas Heusler (Genzmer und Heusler 1920, S. 194, zit. n. von See 1981b, S. 303). Das semantische Spektrum von an. leikr umfasst indes bekanntlich weit mehr als lediglich eine Vorstellung von ‚(Schau)spiel‘. Der Ausdruck meint die Wirklichkeitssimulation schlechthin, er bezeichnet Abkopplungsprozesse kognitiver wie handlungspraktischer Art, gerade auch die religiös magische Ritualpraxis. Entsprechend kann leikr synonym für seiðr stehen (vgl. Gunnell 1995, S. 27 f.).
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sprünglichen Fremdethnie im Süden Japans (Kyushu),²⁰⁴ hatten neben Wachdiensten hauptsächlich rituelle Aufgaben am Kaiserhof zu erfüllen, in bizarrer Übereinstimmung mit den ‚wilden Hunden‘ des skandinavischen Hofs: Zuvorderst umfassten ihre Pflichten als Leibgarde des Kaisers die Teilnahme an der Neujahrs- und Krönungszeremonie, also typischerweise jene Ereignisse, die Passagerituale zwingend erforderlich machten.²⁰⁵ In genau abgezählten Gruppierungen mussten sie vor dem Palasttor Aufstellung nehmen und das Bellen von Hunden nachahmen, wenn die kaiserliche Hofgesellschaft an ihnen vorbei defilierte. Daneben brachten sie zum Amüsement des Publikums verschiedene Spiele und Tänze zur Darbietung,²⁰⁶ deren Natur kaum mehr klar scheint, aber wohl von eher lächerlicher, despektierlicher Art war.²⁰⁷ Einen wichtigen Part spielten die Hayato beim Begräbnis des Herrschers.
Die so genannten ‚Hayato-Barbaren‘ zettelten mehrere Aufstände gegen die Yamoto-Herrschaft im 8. Jh. an. Sie wurden beschuldigt mit den Mongolen, mit „foreign brigands“ gemeinsame Sache zu machen (vgl. Grapard 1986, S. 43). Um 800 werden sie schließlich endgültig niedergeschlagen und befriedet. Danach werden sie als Palastwachen und Schauspieler am Hof beschäftigt (vgl. Grapard 1986, S. 31, Anm. 39), was eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Karriere ausgerechnet für notorische Unruhestifter und Banditen darstellt. Im Grunde genommen entspricht es freilich der gleichermaßen auffallenden Diskrepanz in der Überlieferung des skandinavischen Berserkertums zwischen Elitekriegertum, Wegelagererei und Folklorespektakel. Das so genannte „Great New Food Festival of the Enthronement“ (ōnie [or ōname] no matsuri or senso daijōsai) war mit der „Pacification of the August Imperial Spirits“, einem Sühneritual für die Ahnen und das Kaiserpaar verbunden, „in which the spirits of the new emperor and empress were, according to ancient belief, summoned from wandering and brought to harmonious rest“ (Bock 1990, S. 307). Das Fest ist mit einer Fülle von Ritualvorschriften und Tabus belegt ähnlich den griechischen Anthesterien bzw. dem damit verbundenen ,Fest des neuen Weins‘, im Rahmen dessen ebenso der Ahnen und Toten gedacht werden musste. Alexander Slawik vermutet hier eine „ganz bestimmte[ ], durch schwankende Bewegungen charakterisierte[ ] Schauspielart“, die sich auch in der Etymologie des Namens Hayato selbst widerspiegeln könnte. In Betracht kämen mehrere Wortgruppen mit der Grundbedeutung „schweben, schwanken“ (vgl. uraustr. lajaŋ „schweben“, javan. wayang „Schattenspiel“), „spielen“ (vgl. uraustr. ’ajam „spielen“) und „schaukeln“ (vgl. melan. sa’a ‘esu‘ „nicht stabil sein“, ‘esu / esu‘ „Erdbeben“). Zu vergleichen sei dazu jap. ayador/u, ayatsur/u „(Puppe, Ding) tanzen lassen, steuern, lenken“, ayas/u „liebkosen, tanzen lassen, unterhalten, tändeln“, und ayug/u, ayog/u „schaukeln, schwanken“, vielleicht auch ayum/u „zu Fuß gehen, treten, stampfen, schreiten“ (vgl. Slawik 1952, S. 220). Das Aition dieses Tanzes wird mit dem genealogischen Mythos von ,Prinz Bergglück und Prinz Meerglück‘ in Verbindung gebracht (siehe Kap. 7.7.1). Darin wird der ältere Bruder Hoderi von seinem jüngeren Bruder Howori überlistet und muss ihm fortan untertan sein. Howori wird so zum Gründer des japanischen Herrscherhauses, Hoderi aber wird zum Stammvater der Hayato, der Hunde-Menschen, er wird zum waza-oki („actor/dancer“), zum „Possenreißer“, ein „Ersatz für ‚bellende Hunde‘“ (Naumann 1996b, S. 246). Mit magischen Mitteln vermag der Jüngere nach Belieben die Meeresflut steigen und sinken zu lassen und der Bruder droht zu ertrinken. Fortan verspricht dieser die Aufführung einer „Pantomime des Ertrinkens (vgl. Naumann 1996b, S. 246 f.): „Also hob er die Füße und ging stampfend einher und ahmte die Qual des Ertrinkens nach. Zunächst, als die Flut die Füße berührte, machte er die Fuß-Divination; als sie bis zu den Knien reichte, hob er die Füße; als sie die Schenkel erreichte, lief er rundum; als sie die Hüften erreichte, faßte er diese mit den Händen; als sie die Achseln erreichte, legte er die Hände auf die Brust; als sie den Hals erreichte, hob er die Hände
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Mehrere Tage lang führten sie dann am kaiserlichen Begräbnishügel ihre Tänze und Gesänge auf, „hielten Tag und Nacht Trauerklage und ,starben des Hungers‘, d. h. wohl: folgten ihrem Herrn in den Tod.“²⁰⁸ Als geübte Transgressoren leisten die Hayato also auch endgültige, tödliche Passagehilfe. „It is clear from a number of these notices that the rulers regarded the Hayatō as beings living partly in the physical and partly in the spiritual world.“²⁰⁹ Die starke Jenseitsaffinität, ja dass der übliche Aufenthaltsort der Wolfs- bzw. Hundekrieger selbst nachgerade nicht von dieser Welt ist, wird auch im Norden an mehreren Stellen deutlich: So ist Guðmundr, der gottähnliche Herrscher über die Anderwelt Glæsisvellir, nicht nur der Sohn des Úlfheðinn, sondern ebenso Vater des Heiðrekr Úlfhamr (Þorsteins þáttr bæjarmagns, Kap. 5; Kap. 12).²¹⁰ Diese mythische Gestalt wurde bereits in Verbindung mit einem Holzgötzen gleichen Namens beschrieben und als zum Toten- und Ahnenkult gehörig vermutet (siehe Kap. 4.1).²¹¹
empor und schüttelte die Handflächen“ (Nihongi, Variante IV, Naumann 1996b, S. 241). Die Hundenatur, die (zeitweilige) Hundeverwandlung ist mit diesem Ritus freilich am wenigsten erklärt. Die Erzählung stellt ganz offensichtlich eine spätere Neumotivierung für die nicht mehr verstandenen rituellen Funktionen einer möglicherweise männerbündischen Gruppierung dar. Slawik 1952, S. 219 Knutsen 2011, S. 71. Auch der ägyptische ,Hund‘ Wep-wawet steht in engem rituellem Zusammenhang mit den (jährlichen) Begräbniszeremonien für Osiris. Der Mumiengott gilt als dessen „tote[r] Vorgänger[ ]“, Wep-wawet selbst als „myth[isches] Bild des Thronfolgers (Helck 1979, Sp. 1367). Vgl. Samson 2020, S. 151; Höfler 1934, S. 172. Höfler sieht Guðmundr darüber hinaus nicht nur im Zentrum eines lokalen Familienkults, vielmehr als Vertreter des (überregionalen) Totenkults schlechthin, zumal ein Guðmundr auch als Anführer des Oskoreiden erscheint, einer norwegischen Version des ‚Wilden Heeres‘. Ähnlich dem ‚hölzernen Guðmundr‘ gibt es ein weiteres „primitive[s]“ Kultbild, das, obschon anthropomorph, ebenso einen Tiernamen, einen Pferdenamen trägt: Fakse („der mit der Mähne“) (Höfler 1934, S. 174). Der Name Freyfaxi ist wiederum als Bezeichnung eines Kultpferdes, wenn nicht Verkörperung des Ahnengottes Freyr selbst bekannt. Höfler vermutet entsprechend in Guðmundr die Wolfs- wie Pferdegestaltigkeit des Totenherrschers bzw. seiner rituellen Vertreter. Eine Bestätigung scheint diese Überlegung in einem weiteren mysteriösen Guðmundr zu finden, der sich im Eddalied Helgakviða Hundingsbana I mit Sinfjǫtli eine senna, eine der ‚Kerndisziplinen‘ von Männerbünden, liefert. Die gegenseitigen Beleidigungen referierten dabei auffallend auf zwei tierische Bedeutungskomplexe: Wölfe und Pferde (vgl. Höfler 1934, S. 176 ff.). Diese keineswegs selbstredende Motivverbindung von übergriffigen, gewalttätigen, aber ausdrücklich jugendlichen Kriegern, außernatürlichen Pferde- und Hundewesen wie Jenseitsorten findet sich auch in den Gesta Danorum. So weiß Saxo von zwölf BärenBrüdern zu berichten (alle tragen theriophore Bärennamen), die mordend und brandschatzend durchs Land ziehen. Sehr ausführlich beschreibt er die burgähnlich befestigte Flussinsel, auf die sich die Bande nach ihren Raubzügen zurückzieht. Durch die tosenden Strudel des Flusses, der nahezu unsichtbar, tief verborgen durch die Bergwelt strömt, und eine kunstvoll ausgetüftelte Zugbrücke ist die Insel uneinnehmbar, nur ein riesenhaftes, übernatürliches Pferd, das im Besitz des Anführers ist, vermag als einziges lebendes Wesen den Strom zu durchschwimmen. Neben dem (Zauber)pferd besitzt der Anführer Biorn aber auch einen „ungemein wilden Hund, ein äusserst bissiges Tier und für Menschen im Verkehre gefährlich, der oft allein zwölf Männer niedergerissen hat“ (Gest.Dan. 6.2). Nicht nur sehen wir also neben der Bärennatur der Zwölf eine Gleichsetzung mit ‚tollen Hunden‘, hier zeigen sich auch die stereotypen Beschreibungsmodi einer Jenseitstopographie: die uneinnehmbare
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Auf diese Weise wird auch der Berserker-Auftritt beim Balderbegräbnis verständlich. Auch die nordischen ‚Hunde-Menschen‘ stehen immer in der ersten Reihe, immer in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Außersystemischen, und bezeichnenderweise ist es hier die Riesin Hyrrokkin, die Hündin (siehe Kap. 13.2), und ihr Reittier, ein monströser Wolf, die sie in Schach halten müssen. Aber dieses Verwendungswissen ging verloren: „The Vikings’ contemporaries had lost all memory of berserkers’ identity“.²¹² In der Sagawelt des 13. Jhs. weiß man davon nichts mehr, nichts mehr von Zauberhandlungen, nichts mehr vom berserksgangr als magischer Bewegungsablauf. Berserker erscheinen nurmehr als asoziale, gewalttätige outlaws, ein Bedeutungswandel (besser Einengung), der so gravierend schien, dass man jedenfalls diesen Berserkern ,richtigesʻ Berserkertum kurzerhand absprach: No evidence supports Snorri’s statement that ancient berserks were ever looked upon as Odin’s associates. The berserks of the family sagas resembled the berserks of old only in name, and nothing in their behavior can be used for reconstructing the institutions of the past. At no time did berserks form unions, and, to become a berserk, no initiation was required. The way from elite troops to gangs can be demonstrated with some confidence. All the rest (cultic leagues, eating poisonous mushrooms, and so forth) is (science) fiction.²¹³
Festung inmitten einer unüberwindbaren aquatischen Landschaft, die außergewöhnliche Brücke, das magische Transportmittel. Dem jungen Fridlevus gelingt es (bezeichnenderweise kurz vor seiner eigentlichen Amtseinsetzung als König), sich Zutritt auf die Insel zu verschaffen und dem Treiben der Räuberbande ein Ende zu setzen. Kaum vermag Saxo allerdings den ursprünglich mythischen bzw. rituellen Referenzrahmen narrativ plausibel umzusetzen: Vom Zauberpferd lässt sich Fridlevus auf die Insel tragen, zuvor aber erschlägt er am Ufer des Flusses seinen einzigen Begleiter und Helfer und tauscht mit diesem die Kleider, so dass dessen Leiche, als sie vom Fluss angeschwemmt wird, von seinen Leuten für ihn selbst gehalten wird. Darüber hinaus hat er sein Pferd blutig geschunden, um letzte Zweifel an seinem Tod auszuräumen. Der einzige Sinn dieser Aktion scheint dabei, die eigenen Männer zu überlisten und zum Kampf aufzustacheln, die aber bereits zuvor durchaus motiviert waren durch die in Aussicht gestellte Belohnung. Wenn überhaupt müssten die Berserker vom Tod des Fridlevus überzeugt werden, diese aber waren bereits in diesem Glauben, nachdem sie das Wunderpferd auf der Insel reiterlos entdeckt hatten. Entsprechend sorglos öffnen sie die Pforten, führen das Pferd in ihre Festung, „voller Freude […] gleichsam als einen Boten von dem Tode des Königs“ (Gest.Dan. 6.2). Der aber hat sich bereits Zugang zur Festung verschafft, er lässt die Zugbrücke herab und die Insel wird eingenommen. Nur tot oder todesähnlich gelingt also der Zugang in die Welt der Berserker, das tödliche Transportmittel, das Totenpferd, die List des ‚Trojanischen Pferds‘ klingt noch an, bleibt aber im Weiteren ein blindes Motiv. Schließlich aber gibt es eine Rückkehr aus der Welt der Toten. Wohl werden die Berserker allesamt getötet ‒ bis auf ihren Anführer. Und ausgerechnet dieser erhält nun ein bemerkenswertes Angebot: Das grausame Wüten ist offenbar vergessen, Fridlevus lässt ihn vielmehr „sorgsam von den erhaltenen Wunden heilen und nahm ihn unter der Bürgschaft eines heiligen Eides in seine Gefolgschaft auf; er hielt es für geratener, dessen Kraft zu benutzen, als sich seines Falles zu rühmen; er erklärte es auch für unwürdig, dass einer solchen Tapferkeit Blüte, in der ersten Jugend abgepflückt, in unzeitigem Tode verkomme“ (Gest.Dan. 6.2). Beide jungen Männer erscheinen nunmehr als Initiierte, erfahren eine Reintegration in die Gesellschaft und nehmen dort ihren Platz als Krieger, gar als König ein. Liberman 2012, S. 98. Liberman 2005, S. 411.
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Die psychogenen Pilze wollen auch wir ins Reich der Fabeln verweisen, aber es ist gewiss nicht so, dass das Gewalttätige, das Übergriffige, das Asoziale als Vorstellung oder Eigenschaften der Berserker zuvor nicht da gewesen wäre, dieses Verhalten wurde aber in unterschiedlichen Wissensrahmen, Symbolsystemen plausibilisiert: Es sind nicht einmal spezifisch militärische, martialische Riten, die hier zur Anwendung kommen, aber sie erscheinen in einem spezifisch martialischen Kontext und/oder im Zusammenhang mit einem Personenkreis, der diesen Ritus dort üblicherweise ausführte (bzw. in der Lage war, diesen auszuführen). Eine lange erbitterte Diskussion wird seit vielen Jahrzehnten geführt um diesen ohne jeden Zweifel liminalen Personenkreis, um Krieger, Kämpen, kappar, um Männerbünde und Initiationsriten. An dieser Stelle soll nur insofern dazu beigetragen werden, als dass Libermans so dezidiert vorgetragenes Resüme: „They [die Berserker, d. Verf.] had nothing to do with religious cults“²¹⁴ wohl ins schiere Gegenteil gewendet werden muss. Der Berserkergang ‒ von seinem Ursprung! ‒ hat alles und ausschließlich zu tun mit einem magisch religiösen Kult, er hat alles zu tun mit Odin, mit Hœnir, mit Loki, den primordialen, mythischen Vagabunden wie Kultmeistern. Der Berserkergang war ein Schadenszauber, er konnte von einer einzelnen Person wie von einem Personenkreis ausgeübt werden, temporär, aber ebenso gewohnheitsmäßig, gewissermaßen berufsmäßig. Und bei einem Zauberritus muss von einer Ritualdramaturgie ausgegangen werden, einem Austausch dieses Wissens, das gegebenenfalls tatsächlich Geheimwissen war, Initiationswissen. Dafür müssen Kommunikationsräume und -gruppen existiert haben, in einem militärischen Umfeld ist ein wie auch immer gearteter Kriegerbund die nächstliegende (wenn auch nicht ausschließliche) Wahl. Aber ähnlich wie bei ihren mythischen Vorbildern (und ihren realhistorischen, menschlichen Landstreicher-Pendants der isländischen Gesellschaft) entsteht die zerstörerische Kraft der Berserker wie kappar aus ihrem Lebenswandel selbst, ihrem schwankenden, schwer definierbaren Status, dem Aufenthalt an den Rändern, sie sind berufsmäßige Landstreicher, Wanderer, Heimatlose, in einer lebenslangen, nicht nur temporären communitas. Ab irgendeinem Zeitpunkt geht es wohl gar nicht mehr unbedingt um einen konkret ausgeführten Zauberritus, tatsächlich hören wir wohl von einem berserks-gangr aber nicht von einem *kappa-gangr,²¹⁵ die Grenzen verschwimmen, sie sind ohnehin bestenfalls graduell, nicht dass das Merkmal des Schadenszaubers verschwunden wäre, aber es gehört nicht mehr zu den key features des Konzepts. Es ist indes nicht der christliche Diskurs, zumindest nicht primär, in dem magische Kampfrituale immer weniger geduldet wurden. Erinnert sei an die große Erleichterung der Bevölkerung, als Harald dem schrecklichen Zaubertreiben seines eigenen Sohnes ein Ende setzte (immerhin mit achtzig weiteren ,Zauberernʻ, wir wissen darüber nichts weiters, aber man wird sich diese Gemeinschaft wohl als Männergemeinschaft, als ,Männerbundʻ vorstellen müssen). Liminalität mit all ihren
Liberman 2012, S. 101. Vgl. Kuhn 1968, S. 225.
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Möglichkeiten der magischen Einflussnahme war auch im paganen Diskurs höchst zwiespältig betrachtet worden und nur insofern gelitten, als eben der Zweck die Mittel heiligt. Aber der kappi wie der berserkr bleibt ‒ wie Odin ‒ der vagus, der Umherschweifende, der Unstete, der Ungebundene, Teil einer antisozialen, marginalen, männlichen Organisationsform. Was aber ist mit jenen so genannten ,Elitekriegernʻ? Die Helden und Kämpen eines Hrólfr kraki agieren nicht anders als die verabscheuten, gefürchteten outlaws des isländischen Mittelalters, sie tun, was eben Männerbünde gemeinhin tun, schon immer getan haben, die Welt auf den Kopf stellen, ins Chaos stürzen, soziale, militärische Ordnungen zum Einsturz bringen, menschliche wie zwischenmenschliche Verbindungen kappen, an denen sie selbst (und sei es nur temporär als Kriegerinitiand) keinen Anteil haben. Der Weg vom psychotischen Trancetänzer, von Nekromantie und Totenzauber, vom in jeder Hinsicht asozialen Anarchismus zur Elitetruppe des Königs scheint dann so unendlich weit nicht. Die Ursachen für diese erstaunlichen Verschiebungen sind indes pragmatischer Natur, sie liegen in der lebensweltlichen Wirklichkeit ihrer Kultträger. Krieg ist das Hauptgeschäft von militärischen Männerbünden, und es sind gerade kriegerische Auseinandersetzungen, die Heiko Steuer als „wesentlichen Faktor“, als „Katalysator bei der Bildung höher organisierter, politischer Gemeinschaftsformen“²¹⁶ nennt. Man kann beobachten, wie sich aus den germanischen Kriegergefolgschaften, den Männerbünden der späten römischen Kaiserzeit und frühen Völkerwanderungszeit (kaum ,geheimʻ oder exklusiv, aber gewiss mit Sonderbewusstsein) Eliten zu formieren beginnen, römische Lebensart wurde übernommen, nachgeahmt und mit ureigenen Vorstellungen verschmolzen, Zentren bilden sich, Stammesnamen erscheinen, aber diese Formationen sind zunächst noch weit entfernt von der Vorstellung einer „bäuerliche[n] Gesellschaft aus Familien mit Frauen und Kindern“,²¹⁷ so
Steuer 2003, S. 831. Als andere Grundkondition für die Entstehung gesellschaftlicher Ordnungssysteme nennt Steuer den Fernhandel. Zunächst aber seien „‚Krieg, Handel und Piraterieʻ“ (Steuer 2003, S. 825) überhaupt nicht als Widerspruch verstanden worden. Im frühmittelalterlichen Denken sind es gewissermaßen austauschbare Elemente der Kategorie ,Erwerb von Besitzʻ. Aber auch hier ändert sich die Prototypik dieser Kategorie, sie passt sich den veränderten lebensweltlichen Umständen an. Und mit der Veränderung der Sache verändert sich nicht zwangsläufig das Wort, aber die Bedeutung des Wortes. Der ‚Kaufmannʻ kann im Nordischen der ,Gastʻ sein, aber auch die Kämpen, die ‚Gefolgschaft des Königsʻ sind die gestir. Im Norden sei man sich der impliziten Ambiguität dieses Begriffs immer bewusst gewesen, ähnlich wie im Lateinischen eben der Gast (lat. hostis) als ,der Fremdeʻ aber auch der ,Feindʻ verstanden werden könne. So werde auch in den eddischen Hávamál jener „schmale[ ] Grat zwischen Freundschaft und Feindschaft“ besonders deutlich (vgl. Beck 1999a, S. 151). Beck vermutet das „vorübergehende Gästeverhältnis“ mit „Siegesschmaus“ und „Beuteverteilung“ als gemeinsames Benennungsmotiv von Kaufmann und Kämpe (vgl. Beck 1999a, S. 154). Eher scheint aber auch hier die (wenn auch nur gegebenenfalls temporäre) Heimatlosigkeit das typischere, relevante Merkmal dieser Vorstellung auszumachen: Der Gast ist zuallererst, genauso wie die Gefolgschaft des Königs, der Landfahrer, der Bindungslose mit all seinen unguten Konnotationen. Steuer 2003, S. 829.
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Steuer weiter, die Sueben oder Heruler, die Langobarden oder Cherusker sind ausschließlich „warrior bands“,²¹⁸ Männer, Männerbünde. Was bezeichneten die „Stammes“-Namen in antiken Quellen? Ich meine, Kriegerscharen, nicht eine mehr oder weniger große Gruppe von Dörfern und ihre Bewohner. Namen hingen an beweglichen Personenverbänden, nicht an Territorien. Das machte es antiken und modernen Historikern so schwer, diese Namen (für Stämme) in der Landschaft zu lokalisieren, weil das vom Kern der Sache her nicht möglich war. „Völkerwanderungen“ waren nach diesem Bild also keine Wanderungen von Völkern und Stämmen, sondern waren Kriegszüge.²¹⁹
Nachdem sich die Kriegerverbände zum Teil vollständig von ihren alten Stammesstrukturen abgelöst hatten, beginnen sie gewissermaßen „freischwebend“²²⁰ durch die Lande zu ziehen, „mobile[ ] und multiethnisch zusammengesetzte[ ] Gefolgschaftsverbände“,²²¹ die tatsächlich oftmals kaum anderes waren als „Räuberbanden“.²²² Die etablierten Herrschaftskomplexe versuchen sie wiederum (nicht zuletzt aus der Not geboren) für ihre Zwecke einzuspannen, etwa über Sold und Verträge, das mochte gelingen, zeitweilig oder nicht, aber offenbar immer mehr: Krieg ist ein Lebensstil, verbunden mit einer kennzeichnenden Mentalität der Krieger. Das ist ein Verhalten, das den Krieg als Lebensform und Daseinsbewältigung akzeptiert (abgesetzt vom bäuerlichen Leben), wodurch sich eine Krieger- oder Adelskaste herausbildet.²²³
In dem Maße wie also diese marodierenden Truppen aus ihrer liminalen Randständigkeit hinein ins Zentrum der Macht rückten und zu Mitgliedern der gesellschaftlichen Mitte avancierten, über eine Reihe unterschiedlicher „Mobilitätsstadien“²²⁴ schließlich ihren unsteten, schwankenden Lebenswandel aufgaben, konnte ihr unberechenbares, grenzüberschreitendes Handeln nicht mehr Teil der Prototypik ihres Gruppenverständnisses sein. Schon die kappar hatten ihr Zauberwissen verloren, in Island war es wohl tatsächlich ab irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr als „old and spread rumors“, „verbal paraphernalia“, „worn-out formula[s]“,²²⁵ Worthülsen, die kaum mehr hinterfragt wurden. Ähnlich wie die notorischen Beinverstümmelungen ausgerechnet im Holmgang eben zu selbstredenden, literarischen Konventionen wurden.
Steuer 2003, S. 831. Steuer 2003, S. 833. Steuer 2003, S. 834. Steuer 2003, S. 833. Steuer 2003, S. 824. Steuer 2003, S. 835. Steuer 2003, S. 847. Liberman 2005, S. 411: „By the epoch of Thorbjorn, to say nothing of Snorri, the phrase á þá bitu engi járn ‚no iron could ,biteʻ themʻ had become a worn-out formula. The berserks of the eleventh and twelfth centuries inherited the verbal paraphernalia of old and spread rumors that they could dull swords with their eye.“
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Und die berserkir und kappar, die Kriegerbanden des Mittelalters haben ihre Reise in ein ‚seriösesʻ Leben nicht allein gemacht: Religiöse (mythische, magische) Konzepte korrespondieren stets mit Vorstellungen, Konzepten der sozialen Wirklichkeit, sie bestätigen und legitimieren sich gegenseitig, sie sind Interpretationsgrundlagen für Verhaltenscodices, für ,richtigesʻ Verhalten u. ä. Mit einem Mal bekommen jene „männerbündischen Bestrebungen“ über das unmittelbare Ziel der persönlichen Bereicherung hinaus eine Ausrichtung auf „soziale und politische Ziele“, nach wie vor aber habe wohl die Kriegergefolgschaft zu ihrem (weltlichen wie ,geistigenʻ) Führer in einem engen persönlichen Verhältnis gestanden, so de Vries,²²⁶ entsprechend ist die nämliche Entwicklung in der überweltlichen, spirituellen Welt der Götter ‒ der Götter der Kriegerverbände ‒ zu beobachten. Nirgendwo dringender war eine Neumotivierung, eine Aktualisierung notwendig geworden: Odin, der heimtückische, ruhelose, deviante Schadenszauberer und Totenbeschwörer, Hœnir, der Tote und Loki ohnehin alles zusammen und vieles mehr, konnten keine Götter mittelalterlicher Eliten, stabilen verlässlichen Herrschertums sein, und so beginnt, ähnlich der lebensweltlichen Ausdifferenzierung, eine Bedeutungsverschiebung auf mythischer Ebene. Die merkwürdige Mythenlosigkeit Odins, der doch so zentralen Figur des germanischen Glaubenssystems, ist früh aufgefallen,²²⁷ der Odinskult müsse wohl erst spät allgemeine Geltung erlangt haben.²²⁸ In den wenigen bewahrten Mythen wiederum steche gerade „das moralisch Zweifelhafte [seines] Auftretens“ hervor.²²⁹ Aber das „moralisch Zweifelhafte“ ist ja die Asozialität des Männerbundes, das Maliziöse, das Sinistre, Misogyne, das „[N]eurotische“,²³⁰ das Odin niemals vollständig abzuschütteln vermochte, trotz seiner bemerkenswerten Karriere (und die seiner Anhänger). Es sind allesamt Eigenschaften und Zuschreibungen, die zum Berserkertum gehören und mit denen man sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte nicht mehr identifizieren konnte und wollte.
12.2.2 Monosandalos In die Symbolik wirkmächtiger Körperextremitäten – Beine – gehört nun ebenso die nicht minder starke (aber gewiss noch mehr verkannte) Zeigefunktion von Klei Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 99. Vgl. Ström 1956, S. 84. „Der Umstand, daß der Odinskult erst später zu allgemeiner Geltung gelangte, braucht noch nicht zu bedeuten, daß er fremden Einflüssen zuzuschreiben wäre […], sondern kann vielmehr darauf hinweisen, daß gewisse Stämme, Gesellschaftsschichten oder Kultverbände erst allmählich zu maßgebendem Einfluss in religiösen Dingen gelangt sind“ (de Vries 1956 – 1957, II, S. 90). Odins Eigenschaften als Kriegsgott oder als Gott der Dichtkunst dürften damit kaum ursprünglich als vielmehr Folge einer natürlichen Entwicklung sein, „daß dieser Gott durch seine Verehrung in gewissen gesellschaftlichen Kreisen in solche Sondergebiete hineingewachsen ist“ (de Vries 1956– 1957, II, S. 93). Ström 1956, S. 85. de Vries 1956– 1957, II, S. 94.
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dungsstücken, die mit dem dermaßen zu Bekleidenden aufs engste, buchstäblich kontagiös verbunden sind. Es geht nicht um Wolfspelze oder (unwahrscheinlich genug) Bärenpelze, sie mögen realiter existiert haben oder nicht, sie mögen dann in ihrer Plakativität und Exotik durchaus beeindruckend gewesen sein, von weitaus nachhaltigerem Eindruck und weitaus verhängnisvollerer Effizienz waren indes ganz andere Kleidungsstücke, gar nicht grimmig martialische, Alltagsbekleidung, für den modernen Betrachter womöglich enttäuschend unspektakulär. Gemeint ist tatsächlich das Beinkleid, die Hosen, und im Besonderen der Schuh. Die Mythenforschung kennt seit langem einen in dieser Hinsicht einschlägigen Typus, die so genannten Monosandalos-Gestalten, ein merkwürdig heterogener Personenkreis im antiken Mythos wie in der mittelalterlichen oder frühen neuzeitlichen Literatur und Ikonographie mit einer indes bis heute nicht ausreichend geklärten Auffälligkeit in ihrer Bekleidung: das Tragen nur eines Schuhs. Tatsächlich ist diese Vorstellung aufs engste mit der Berserker-Idee verbunden: Die Herstellung einer körperlichen Asymmetrie auf symbolische Weise. Der Ethnologe Laszlo Vajda hat sich mit dem Phänomen der Einschuhigkeit sehr ausführlich auseinandergesetzt, er sammelte eine Fülle von Beispielen über den europäischen bis hin zum iranischen Raum, seine Ergebnisse werden am wenigsten überraschen: Die Einschuhigkeit scheint ausnahmslos negativ konnotiert gewesen zu sein. Sie sei wohl als etwas Gefährliches, Unheimliches, ja Tödliches betrachtet worden, was sich auch in zahllosen Redewendungen und Sprichwörtern zeige.²³¹ Vajda konstatiert jedenfalls eine irgendwie geartete „Todesnähe von MonosandalosGestalten“,²³² die in griechischen wie außergriechischen Beispielen stets spürbar sei.²³³ Aber auch ihn stellt die große Uneinheitlichkeit dieses Personenkreises, obwohl bester Kenner dieses Phänomens, vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Letztendlich wisse man nicht, warum etwa ein Jason zum Monosandalos geworden sei.²³⁴ Ihm fehlt das gemeinsame tertium comparationis, der gemeinsame Denkraum, in dem der Argonautenführer Jason,²³⁵ ein gallischer Merkur,²³⁶ ein mittelalterlicher Bettler,²³⁷ Landsknechte und Söldner, die Folterknechte von Jesus, der Planetengott Saturn,
Vgl. Vajda 1999, S. 415. Vajda1999, S. 418. Vgl. Vajda 1999, S. 418. So berichte Vergil von der zum Selbstmord entschlossenen Königin Dido, „[a]n der Grenze zwischen Leben und Tod“ (Vajda 1999, S. 418), wie sie vor den Altar der Götter trete, um diese ein letztes Mal anzurufen. Und dazu sei sie ungegürtet und mit nur einem Schuh erschienen (vgl. Vajda 1999, S. 418). (Siehe Aen. 4, 518). Vgl. Vajda 1999, S. 418. Vgl. Vajda 1999, S. 416. Vajda verweist auf die noch erste, vorhomerische Fassung dieser Erzählung. Darin geht es um Thronstreitigkeiten der thessalischen Stadt Iolkos. Der rechtmäßige Thronprätendent Aison vermag seinen Sohn Iason nur zu retten, indem er ihn nach seiner Geburt für tot erklären lässt. Zahlreiche, ursprünglich von dieser Sage ganz unabhängige Stammes- und Gründungshelden werden im Lauf der Zeit in die Argonautensage inkorporiert. Vgl. Vajda 1999, S. 423. Vgl. Vajda 1999, S. 427.
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nicht zuletzt der schweigsame Víðarr (der altnordische Monosandalos-Vertreter) vergleichbar und übersetzbar sein könnten. Als mögliche Erklärung und Ursprung sieht er ein „äußerst einfallsreich zusammen gebraute[s] Denksystem“²³⁸ aus antiker Planetenlehre, Alchimie und Humoralbiologie, das von dort Eingang in die Folklore gefunden habe. Aber er stellt selbst fest, dass damit wohl manche, aber gewiss nicht alle Elemente oder Charakteristika dieser Erscheinungen gefasst werden können. So rätselt er, warum etwa noch Pablo Picasso ausgerechnet ein Gauklermädchen mit nur einem Schuh dargestellt habe, wo dieser doch wohl nichts von antiker Planetenlehre gewusst haben könne.²³⁹ Nun, der Maler übernahm eine sehr alte Darstellungskonvention, die Symbolfunktion hat sich im Grunde nicht geändert: Die Bettler und Spielleute im Mittelalter werden stereotyp mit einem Schuh dargestellt, nicht um diese als etwa buchstäblich zu arm für zwei Schuhe zu kennzeichnen (was erwogen wurde), sondern vielmehr um die Effekte wie Voraussetzungen dieser Armut darzustellen, eine heimatlose, schwankende Existenz. Und gerade die Gestalt des Bettlers ist in jeder Hinsicht aufschlussreich, sie ist ein sehr altes, schwer bebürdetes Wissensmodell für Liminalität und versammelt nahezu die ganze Palette an Grenzsymboliken, die bisher aufgezeigt wurden. Die Gefährdung allerdings, die von dermaßen liminalen, randständigen Wesen ausgeht, ist durchaus real und ehrlich empfunden, eines der vielen, eklatanten Missverständnisse René Girards, ein Missverständnis, das aber bekanntlich zu den Grundfesten seiner Sündenbock-Theorie geworden ist: Dermaßen unbedeutende, harmlose und unschuldige Randfiguren würden, eben weil sie aufgrund ihrer Armseligkeit ungerächt bleiben würden, von der Gesellschaft zu Sündenböcken gemacht. Zum Beweis führt er eine Erzählung Philostratos (2./3. Jh.) an,²⁴⁰ in der ein unschuldiger Bettler zum Sündenbock würde: Als in Ephesus die Pest ausbricht, befiehlt der berühmte Lehrer Apollonius von Tyana, um die Epidemie abzuwenden, einen alten Bettler zu steinigen. Nach anfänglichem Zögern führen die Epheser seinen Befehl aus. Tatsächlich entpuppt sich post mortem der Bettler als entsetzliches Monster, das nun für alle offenbar für die verheerende Seuche verantwortlich war. Der Philosoph Apollonios wird ob seiner Weitsicht und Klugheit gerühmt. Girard interpretiert diese Szene als typische Sündenbockszene: Die Steinigung sei als Abreagieren einer gewaltbereiten Stadtbevölkerung zu sehen, letztendlich sei es lediglich um soziale Spannungen gegangen, um eine Störung der sozialen Beziehungen, es sei der fälschliche Gedanke einer Epidemie aufgekommen, der „findige Wundertäter“²⁴¹ Apollonios habe sich diesbezüglich gewiss – „mit diabolischem Geschick“²⁴² – vorher informiert. Schließlich, so Girard, hätte bei einer ,richtigenʻ, ,eigentlichenʻ, eben „bakteriellen“²⁴³ Epidemie der
Vajda 1999, S. 430. Vgl. Vajda 1999, S. 435, Anm. 66. Vgl. Vita Apollonii 4, 10 (Conybeare [Hg.] 1912). Girard 2002, S. 72. Girard 2002, S. 74. Girard 2002, S. 72.
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Tod eines Bettlers gar nichts ausrichten können. Aber über diesen Mechanismus habe Apollonios selbst sehr wohl, die Epheser zumindest unbewusst Bescheid gewusst.²⁴⁴ Eine Interpretation, die freilich an anachronistischer Fehllesung kaum zu überbieten ist. Mochte der Wissensstand einer späteren Zeit als eigentlichen Auslöser einer Epidemie einen unsichtbaren Keim ausmachen, so war es bis dato durchaus legitim, ihn mit der unberechenbaren, zerstörerischen Macht liminaler Gestalten in Verbindung zu bringen. Selbstverständlich konnte sich ein alter Bettler im antiken Griechenland – und nicht nur dort – als gefährlicher Pestdämon entpuppen, eben das galt als sicheres Wissen über Bettler. Darüber hinaus habe er seine bösen Absichten, so Philostratos, durch eine gewisse Eigenheit ausgewiesen, er habe es verstanden, „kunstfertig mit den Augen zu blinzeln.“²⁴⁵ Girard versteht diesen Hinweis nicht, er hält es für eine Art ‚berufsbedingtenʻ, harmlosen Taschenspielertrick.²⁴⁶ Die Auffälligkeit des Blicks ist das unmissverständliche Kennzeichen des Bösen Blicks, zusammen mit der Devianz in der Bewegung (die Nichtsesshaftigkeit) eine hochgefährliche – odingleiche – Mischung, die gleichwohl der vormoderne Rezipient problemlos dechiffrieren kann. Vom epistemischen Standpunkt der jeweiligen Kulturen aus sind das folgerichtige, auf keine Weise verdrängungswürdige Vorstellungen. Aus diesem Grund zieht der älteste Vertreter der Monosandalos-Gruppe, der griechische Argonautenheld Iason, einschuhig in seine Vaterstadt Iolkos ein, einschuhig nimmt er ausgerechnet an einem Ritual am Poseidonfest teil, auch von späteren Schriftstellern wird er als monokrêpis, monopedilos, oiopedilos beschrieben,²⁴⁷ selbst wenn der eigentliche Sinn dieser Symbolik längst verloren gegangen ist. Aber nun wird klar, es ist ein Affront, ein ritueller Frevel ohnegleichen. Es ist unverkennbarer Hinweis auf Jasons unheilvolle, verkehrte, umstürzlerische Absichten. Jason ist zum Tyrannenmord bereit, er möchte nichts weniger als die Herrschaft stürzen: Jason pervertiert durch die Einschuhigkeit das Ritual und wendet es ins schiere Gegenteil. Ein Aition besagt, er habe den Schuh bei der Überquerung des Flusses Anauros („windlos“) verloren.²⁴⁸ Wenn auch hier erst als Ergebnis gefasst, so ist doch die Einschuhigkeit beides, Voraussetzung wie Effekt des unerhörten, existenziellen Grenzübertritts. In Thukydides Bericht über den Ausbruch einer Gruppe Krieger bei der Belagerung von Palataiai im Peloponnesischen Krieg (Der Peloponnesische Krieg III, 22) treffen wir auf nämliches, in unserem Sinne nun einschlägiges Detail. Nur am linken Fuß mit einem Schuh bekleidet, der andere nackt, so sollen die Krieger den Ausfall gewagt haben, mit der ganz unwahrscheinlichen Begründung, um auf dem schlammigen Boden besseren Halt zu finden. Zu Recht wertet Vajda dies als im Nachhinein
Vgl. Girard 2002, S. 71 f. Girard 2002, S. 69. Vgl. Girard 2002, S. 82. Vgl. Vajda 1999, S. 417. Vgl.Vajda 1999, S. 417. Siehe dieselben Jenseitsassoziationen beim „windstillen“ Hain (oder Insel) Freyrs, lundr lognfara (Skr 39).
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rationalisierende Erklärungen,²⁴⁹ natürlich, hier zeigt sich ja gleichermaßen der unerhörte, beispiellose Grenzübertritt, hergestellt, ritualisiert nach schierer BerserkerManier. Die Einschuhigkeit ist Symbol wie Effekt: eine schwankende Wirklichkeit bzw. eine Wirklichkeit zum Schwanken gebracht. Im fían, dem altkeltischen ‚Junggesellenverband‘, Kriegerbund,²⁵⁰ spielt die Einschuhigkeit (überhaupt die körperliche Asymmetrie) auf merkwürdig ähnliche Weise eine besondere Rolle. Auffallend häufig erschienen einäugige, einarmige und einbeinige Figuren in diesem Zusammenhang, so Kim McCone, mit durchgehend „verhängnisvolle[n] Assoziationen“.²⁵¹ Er sieht zunächst das Kriegermilieu im Vordergrund, die Verstümmelungen könnten wohl mit dem risikoreichen Kriegerleben zusammenhängen, so zunächst seine (rationalisierende) Vermutung, aber auch er verweist in diesem Kontext auf den stets tödlichen corrguinecht, den ,schiefen Tanz‘ oder besser ‚Zauberschritt‘, den der irische Lug vor dem Kampf aufführt,²⁵² und im Weiteren auf den Zusammenhang mit dem klassischen Monosandalos-Motiv.²⁵³ Besonders einschlägig sei etwa Vergils Bericht über den Gründer der Stadt Praeneste, Caeculus (,der Einäugige‘), der von einer mit Wolfsfellen bekleideten ‚wilden‘ Truppe umgeben sei, deren linker Fuß nackt, unbekleidet, schuhlos sei.²⁵⁴ Man denke sofort an die „wilde[n], mit Wolfspelz bekleidete[n] Berserker“ unter der Führung ihres einäugigen Gottes Odin oder an den „zyklopischen Balor“,²⁵⁵ dessen fomorische Krieger nur einen Arm und ein Bein besessen hätten. Den Schluss, den er daraus zieht: „Der rituelle Reflex dieses mythischen Motivs im Alltagsleben scheint der mit bloß einem Schuh versehene Krieger gewesen zu sein,“²⁵⁶ ist Vgl. Vajda 1999, S. 418. Auch im weiteren antiken Kampfgeschehen scheint die Einschuhigkeit gezielt eingesetzt worden zu sein.Vajda berichtet von gewissen italischen Stämmen, die mit nur einem Schuh in den Kampf gezogen seien, und auch hier mit dem Versuch einer pragmatischen Erklärung, „man könne so nämlich besser laufen (?) oder beim Nahkampf dem Gegner in die Leiste treten (?)“ (Vajda 1999, S. 418). Vgl. McCone 2002, S. 43. Die Mitglieder, die so genannten féindidi, sind besitzlose, ‚sippenlose‘, (häufig aristokratische) junge Männer, die durch kriegerische Handlungen, Raub und Diebstahl, Freibeuterei (díberg) ihr Leben außerhalb der Gesellschaft in der Wildnis fristen (vgl. McCone 2002, S. 45). Dieser Lebensstil ist Teil ihrer Mannwerdung, nach diversen Mannbarkeitsproben gelten sie als initiiert und werden reintegriert in die Gesellschaft. Ausdrücklich werden auch diese mit Wölfen oder Hunden gleichgesetzt, als „Wolfsbesessene“ gesehen (vgl. McCone 2002, S. 50) und auch diese scheinen, trotz oder gerade wegen ihrer Asozialität, gewisse Wächter- und ‚Polizei‘-Funktionen übernommen zu haben. McCone 2002, S. 58. Dabei weist McCone die Drei-Funktionen-Theorie Dumézils zurück, die zum Teil auf diesen Körperdefizienzen aufbaut (siehe Kap. 12.1) (vgl. McCone 2002, S. 55 ff.). Siehe ähnlich die tänzerischen Darbietungen, die ‚schiefen‘ Tanzschritte der japanischen Hayato-Krieger mit ihrem fremdartigen Hundegebaren. Vgl. McCone 2002, S. 58. Siehe Aen. 7, 688 – 690: „Sie tragen das Haupt mit bräunlichem Pelzhut / Aus Wolfsfellen bedeckt. Halb barfuß gehen sie, der linke / Fuß ist nackt; doch den rechten umschließt rohledernes Schuhwerk.“ McCone 2002, S. 58. McCone 2002, S. 59.
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in jeder Hinsicht plausibel, auch wenn man hier wohl weniger von einem üblichen Kriegeralltag sprechen sollte als vielmehr vom spezifisch magisch präparierten Männerbündler. Gerade auf diese Weise könnte der berschinse oder berskinze kempa, der „bloßbeinige“, genauer mit „[nur, d. Verf.] einem nackten Schienbein“ stattfindende Kampf der friesischen Gesetzbücher²⁵⁷ seine buchstäblichste Entsprechung finden.²⁵⁸ Ganz folgerichtig fällt dem nordischen Víðarr eine ähnliche Rolle im mythischen Endzeitgeschehen zu. Snorri berichtet von ihm, er habe sich auf ganz besondere Weise für seinen apokalyptischen Monsterkampf präpariert: Mit einem speziell gefertigten Schuh, aber eben nur mit einem Schuh, tritt er den Kiefer des Fenris-Wolfs auseinander. Und die Kenntnis seiner Einschuhigkeit scheint zum allgemeinen Wissensvorrat dieser Zeit gehört zu haben. Snorri flicht manche volkstümlichen Informationen dieser Art mit ein, das sind keine gelehrten astronomischen oder astrologischen Spekulationen. Und wenn er also erklärt, man dürfe die Abschnitte der Lederstücke bei der Schuhherstellung eben aus jenem Grund nicht aufheben, sondern müsse sie wegwerfen, um für diesen besonderen Schuh am Ende aller Tage vorzusorgen (Gylf 51), dann ist das alltägliches Verwendungswissen über die Möglichkeiten wie Notwendigkeiten zur Herstellung von Körperasymmetrien. Noch in mittelalterlichen Heiligenlegenden findet sich ein Motiv der (weiblichen!) Einschuhigkeit, siehe St. Kümmernis, ‚die bärtige Jungfrauʻ, eine fiktive Heilige, die niemals kanonischen Status erlangte. Als sogenannte Volksheilige wurde sie indes in weiten Teilen West- und Mitteleuropas, insbesondere im Alpenraum verehrt: Um der ungeliebten Heirat mit einem Heiden zu entgehen, bittet die fromme Christin Gott, ihr einen Bart wachsen zu lassen. Der Vater, erbost über die vorsätzliche Entstellung seiner Tochter, lässt sie zur Strafe ans Kreuz schlagen. Die drei Tage ihres Sterbens erleichtert ihr ein vorbeiziehender armer Spielmann, indem er auf seiner Geige musiziert. Zum Dank lässt die Kümmernis einen goldenen Schuh vom Fuß in seinen Schoß gleiten. Der Ursprung des Kultes wurde lange Zeit auf ein Missverständnis zurückgeführt. Die Volto Santo-Darstellung in Lucca (Toskana), eine (bärtige) Christus Triumphator-Gestalt am Kreuz im knöchellangen Gewand, sei irrtümlich für eine Frau gehalten worden.²⁵⁹ Diese These wird aber heute zumindest nicht mehr in dieser Ausschließlichkeit vertreten.²⁶⁰ Der Kult scheint vielmehr seinen Ausgang genommen zu haben in den Niederlanden, in frühesten Nennungen erscheint die Heilige dort als
Vgl. Wiarda 1805, S. 161. McCone kann hier auf Abbildungen in einer nahezu zeitgleichen kymrischen Handschrift (13. Jh.) verweisen mit eindeutig erkennbaren, einschuhigen, (einseitig) bloßbeinigen Kämpfern (vgl. McCone 2002, S. 59). Vgl. Schnürer und Ritz 1934. „Sie käme – wenn überhaupt – lediglich für die Übernahme des Kultes im oberdeutschen Raum in Betracht, nicht jedoch für die Entstehung des Kultes in Flandern, da die ältesten bildlichen Darstellungen keine ikonographischen Gemeinsamkeiten mit dem Volto-Santo aufweisen“ (Boll 2011, S. 162). Siehe auch Schweizer-Vüllers 1997.
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Wilgefortis (virgo fortis) (um 1360) und Ontkommer ,die vom Kummer Befreiendeʻ (1400).²⁶¹ Nun brauchen an dieser Stelle weder die regen gendertheoretischen Diskussionen noch theologischen Reflexionen, die sich an diese seltene zweigeschlechtliche Heiligendarstellung anknüpfen, zu interessieren, viel eher, warum ausgerechnet das Element der Einschuhigkeit, das so genannte ‚Schuhwunderʻ (und seine Verbindung mit dem Spielmann, dem Geigenspieler) den Weg in die Legende gefunden hat (dieses Motiv findet sich tatsächlich auch im Volto Santo-Komplex und lässt sich dort bereits im 12. Jh. nachweisen). Es sind allesamt bildgebende Konzepte des Übergangs, der Transgression, der Ambiguität. Es sind Symbole, die die Auflösung einer wie auch immer gearteten Ordnung ebenso anzeigen wie bewirken. Die gegebenenfalls zunächst voneinander unabhängig entstandenen Motive treffen sich in diesem semantischen Feld. Und auch der Ausgangspunkt des Kultes ist in dieser Hinsicht einschlägig. Das Gebiet um Gent, Flandern, Nordfrankreich galt als Sammelbecken aller möglichen galloromanischer wie germanischer ,Synkretismenʻ, wie insbesondere der Vita des Hl. Eligius entnommen werden kann, des „entschiedenen Kämpfers gegen pagane oder krypto-pagane superstitiones“ im Norden des Frankenreiches.²⁶² So hebt auch Wolfgang Haubrichs „[d]ie Zähigkeit des paganen Brauchtums und der ererbten Glaubensvorstellungen“ dieser Region hervor.²⁶³ Es spricht also einiges dafür, hier pagane Vorstellungen im Gewand christlicher Denkmodelle zu vermuten.²⁶⁴
12.2.3 Loki, Loðbrók und die Rollatn Lotter Ein weiteres, in vieler Hinsicht noch befremdlicheres Kleidungsstück, das gleichwohl wie beim griechischen Argonautenführer Jason epithetisch mit seinem Träger verbunden ist, ist bereits angegesprochen worden, es ist das merkwürdig präparierte, ‚zottigeʻ Beinkleid des Wikingers Ragnarr loðbrók, das, wenn auch gleichermaßen kaum erklärlich nach Art und Funktion, doch stets ebenso und ausdrücklich im Zusammenhang mit einer Monsterbekämpfung, einem Drachenkampf zum Einsatz kommt. Auf noch enigmatischere Weise findet es noch einmal Erwähnung, im letzten Kapitel der Ragnars saga (im Kap. 20 der so genannten Y-Version), das wie ein An-
Vgl. Boll 2011, S. 162. Vgl. Rohmann 2013, S. 331. Vgl. Haubrichs 1981, S. 523. „Paganes Brauchtum hielt sich, mit konservativen und antiromanischen Zügen ausgestattet, vor allem im N[orden] und O[sten] des Merowingerreiches. Eligius ist dieser heidnischen Brauchtumsopposition im 7. Jh. im Raume von Noyon begegnet, als er seine Zuhörer in einem Dorf am Tage des hl. Petrus dazu überreden wollte, die ererbten Festtänze, Festbräuche, die Sitte, Amulette zu tragen, aufzugeben“ (Haubrichs 1981, S. 523). So ließe sich überlegen, ob in der geschlechtsunentschiedenen Gestalt am Kreuz nicht das pagane Vorbild des gehenkten (oder hängenden) Odins, des Geiguðr am vindga meiði (Hav 138) (bzw. eines Kultanhängers) zu vermuten wäre.
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hängsel, ein Postscriptum zu den vorherigen Wikingerabenteuern wirkt. Aber gerade hier erscheint es in einem durchaus einschlägigen Zusammenhang (und offenbar ebenso für den Schreiber der Saga selbst): Ein gigantischer trémaðr, ein Holzgötze, berichtet in eigenen Worten von seiner Errichtung durch gewisse synir Loðbrókar auf der Insel Sámsey.²⁶⁵ Als Synonym zu dieser Personengruppe erscheint im Lied die Bezeichnung sverðmerðlingar,²⁶⁶ aber dieser Begriff ist mit kaum weniger semantischen Unsicherheiten verbunden. Gutenbrunner vermutet darin als bedeutungsgebendes Merkmal (ähnlich wie in loðbrók) ein Fell, explizit ein Marderfell etwa als Trachtmerkmal, und *Svarðmǫrðr sei eben einer, der sich auf diese Art kleide. McTurk versteht darunter indes ganz im Gegenteil (und darin werden wir ihm unbedingt zustimmen wollen) eine kultische Ausstaffierung. Er denkt an „hair-trap-wearers“, „wearer of hair-dresses“,²⁶⁷ eine spezifische Kultkleidung, allerdings für eine weibliche Gestalt, eine (seiner Vermutung nach) Fruchtbarkeitsgöttin mit dem (Noa)namen Lóðkona/Lóðbróka.²⁶⁸ Entsprechend müsse man sich diese Kopfbedeckung floral, etwa aus Blumen und Blättern u. ä. gefertigt vorstellen. An dieser Stelle kann kaum entschieden werden, ob ein Männerkult für eine Frühlingsgottheit auf diese Weise vorstellbar wäre, aber der Kult der synir Loðbrókar oder sverðmerðlingar hat damit ohnehin nichts zu tun. Der Ausdruck Mǫrðr erscheint nahezu ausschließlich als Eigenname, am häufigsten in der Verwandtschaft eines berühmten Gesetzesgebers, dessen Beiname bereits auf eine Vorstellung von ‚Schiefheitʻ und ‚Schwankenʻ verweist: Mǫrðr gígja.²⁶⁹ Þvít settu mik / sverðmerðlingar / suðr hjá salti / synir Loðbrókar; / þá vark blótinn / til bana mǫnnum / í Sámseyju / sunnanverðri (Ragn 39, 9 [McTurk (Hg.) 2017]). („Und da setzten / An den Strand mich / Die seemächt’gen / Söhne Lodbroks, / Und Blutopfer mir gebracht ward / Um Mord, südwärts / Hier auf Samsey“ [Ragnar-Lodbroks-Saga, 24. Kap., Übers. von der Hagen 1828]). Als Realtopographie wird hier üblicherweise die Insel Samsø im dänischen Kattegatt angenommen. Die besondere östliche Färbung des Stoffes macht indes eine östlichere Verortung, das Samland, wesentlich wahrscheinlicher. Vgl. Gutenbrunner 1937, S. 140 f. Der erste Namensbestandteil kann dabei sicher zu an. svǫrðr („Haut, Schwarte“) gestellt werden, also „die Haut samt den Haaren“. Im zweiten Teil wird eine Ableitung zu an. mǫrðr „Marder“ vermutet. Das Suffix -ling kann Zugehörigkeit von Individuen zu einer Person dieses Namens ausdrücken, aber, wichtig genug, auch zu einem Konzept (also ‚Männer nach Art vonʻ). McTurk 1991, S. 22. Vgl. McTurk 1991, S. 23 – 25. Die synir Loðbrókar seien also Söhne einer Priesterin, die wiederum ihrerseits den Namen dieser Fruchtbarkeitsgöttin angenommen habe (vgl. McTurk 1991, S. 26). Expressis verbis denkt McTurk an die germanische ‚Frühlingsgöttinʻ Nerthus und den ‚Fruchtbarkeitsgottʻ Freyr (vgl. McTurk 1991, S. 27 f.). Der Beiname selbst (üblicherweise wird er als ,Geige‘ verstanden) ebenso wie die exponierte Stelle gleich im allerersten Satz der Njáls saga hat nicht wenige Fragen aufgeworfen. Mǫrðr scheint nachgerade die ‚Inkarnationʻ des Gesetzes selbst zu sein, „the greatest lawman in Iceland. (The saga claims that sentences are valid only if Mǫrðr is present)“ (Ármann Jakobsson 2004, S. 47). Dazu scheint aber sein Beiname am wenigsten zu passen: „Mǫrðr a powerful chieftain and the finest lawman is, implausibly, nicknamed gigja (‚fiddleʻ)“ (Ármann Jakobsson 2004, S. 47). Der Spitzname grenze ans Lächerliche, er evoziere in einem mittelalterlichen Verständnis die Vorstellung eines ‚Clownsʻ, der vor gemeinem Publikum seine Künste zum Besten geben müsse, so Ármann Jakobsson. Der Sagaschreiber
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Gutenbrunner vermutet die Motivierung des Namens in der Herkunft der Familie aus dem nördlichsten Teil Norwegens, Halogaland, das für seine Fellexporte, also wohl auch Marderfelle, bekannt gewesen sei.²⁷⁰ Wesentlich bedeutsamer dürften allerdings in diesem Zusammenhang die Zuschreibungen Halogalands als berüchtigtes mythisches Grenzland, als Totenland, Land der Ahnen sein. Auch die Holzfrau Þorgerðr Hǫlgabrúðr und ihr Vater Hǫlgi haben dort ihre ,Wohnstatt‘, sprich Grabhügel. In der Njáls saga spielt ein weiteres Mitglied dieser Familie, Mǫrðr Valgarðsson, eine bedeutsame, und in jedem Sinne einschlägige Rolle. Cochrane definiert sein Wesen kurz und bezeichnend: „He is the villain of the story. Indeed, he may be the worst (or the best) villain in the entire corpus of ĺslendingasǫgur.“²⁷¹ In der Saga selbst werde er durchgehend beschrieben als slœgr maðr í skapferðum („cunning by nature“), illgjarn í raðum („malicious in councel“) (Nj, Kap. 25),²⁷² ein in jeder Hinsicht „disruptive element in society“.²⁷³ Wie auch immer wir die Verbindungen hier im Weiteren noch beurteilen wollen, es fällt schwer, sich eine Personengruppe, die mit diesen Konnotationen in Zusammenhang stehen könnte, mit blumengeschmücktem Haar als Verehrer einer Frühlingsgöttin vorzustellen.²⁷⁴ Aber dieser Wissensrahmen bzw. dessen prototypischer Vertreter in der nordischen Götterwelt ist schließlich bekannt genug, es ist kein geringerer als Loki selbst, der nahezu durchgehend auf diese Weise erscheint. In Snorris Charakterisierung ist Loki der böswilligste Schadensbringer, von üblem Charakter und unberechenbarem Benehmen, er ist hinn slœgi Áss, „der verschlagene Ase“ (Skáldsk 16), der Unstete, der Unberechenbare, der Gestaltenwandler.²⁷⁵ Lokis Rang als paradigmatische Instanz für
müsse sich aber wohl dieser Ambiguität bewusst gewesen sein, schließlich habe er dessen Namen sehr bewusst ganz zu Anfang platziert: „Mǫrðr’s nickname makes his character ambiguous: the fiddle and the law would not be expected to mix, but in this one name – and by implication in the man – they do“ (Ármann Jakobsson 2004, S. 47). Freilich hat der Beiname mit Musizieren (zumindest zu ‚Unterhaltungszweckenʻ) gar nichts zu tun. Es ist ein Berserkername, ein Odinsname, mit all jenen unguten Implikationen, wie sie bereits ausführlich dargelegt wurden. In diesem Sinne ist er zunächst lediglich Verdeutlichung des Hauptnamens, er meint das Unsichere, das gerade nicht Festgelegte, aber auch das Übergriffige, das Verletzende. Der Name verweist auf das Paradoxon des ,Anfängers‘, auf eine gesetzlose, chaotische Anfangssituation, die wohl mit dem Gesetzgeber ein Ende findet – wovon er andererseits aber noch Teil ist. Wenn wir indes den Beinamen doch als Musikinstrument verstehen wollen, dann im Sinne des zauberischen, transgressiven, ,grenzenerweichenden‘ Saitenspiels. Auch in der Gestalt des Hǫðr cytharista, des trickreichen Harfenspielers Hotherus, wird sich diese ganz besondere, magische Fähigkeit zeigen (siehe Kap. 12.6.1), aber auch in der Ragnar saga selbst ist diese enge, ja nachgerade kontagiöse Verbindung zwischen Saiteninstrument und (im weitesten Sinn) ‚kleinem Lebewesenʻ, wenn auch kaum mehr motiviert, erkennbar (siehe Kap. 12.2.3). Vgl. Gutenbrunner 1937, S. 141. Cochrane 2017, S. 117. Cochrane 2017, S. 124. Cochrane 2017, S. 140. So aber McTurk 1991, S. 26 f. Vgl. Gylf 33: Sa er enn talðr með Ásum er sumir kalla rógbera Ásanna ok frumkveða flærðanna ok vǫmm allra goða ok manna. Sá er nefndr Loki eða Loptr, sonr Fárbauta jǫtuns. Móðir hans er Laufey eða
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Arglist sei damit (nahezu) unbestritten, so Kevin Wanner, wenn er auch gewisse Einschränkungen machen muss: „[W]e find when looking at the stories that are told about each that almost every activity and trait that make Loki a model of cunning apply also to Óðinn.“²⁷⁶ Das passt zu den vorhergegangenen Überlegungen: Odin hat eine Erhöhung erfahren innerhalb der religiösen Strukturen, er ist aufgestiegen in der Hierarchie. Man sehe das unablässige Bemühen des Skalden, so Ström, „sein notorisches Falsch zu erklären“.²⁷⁷ Loki aber scheint, wenn man so will, zur ‚bad bankʻ der Mythologie geworden zu sein, ab einem bestimmten Punkt der Geschichte zieht er nur noch den negativen Mythenschatz auf sich. Am (vorläufigen) Ende dieser Entwicklung steht im Spätpaganismus neben Odin, dem respektablen, fürsorglichen Allvater, Loki als dessen bitterböser, gehässiger Antagonist (und ein zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkener, nahezu vergessener Hœnir). Loki ist kein hypostasierter Odin, keine „sekundäre Odinsfigur“, wie Ström dann wohl zu weit in diese Richtung denkt,²⁷⁸ aber sie sind ursprünglich konzeptionell ähnlich angelegt. Deren Auftritt als Götter-Triade ahmt auf mythischer Ebene die männerbündische Vereinigung ihrer Kultanhänger nach (in der Dreizahl als prototypisches Bild der Ganzheit). Sie sind egalitär, gleichberechtigt, noch keine Rede von einer späteren Vorherrschaft oder Antagonismus Odins. Sie mögen unter unterschiedlichen Namen auftreten, aber sie sind nicht nur strukturell, sondern auch wesenhaft identisch. Ob nun in der Snorra Edda (Skáldsk 1) als Odin, Loki und Hœnir, in der Vǫluspá (18) Odin, Hœnir, Loðurr, als „Burs Söhne“ Óðinn, Víli, Vé (Gylf 6),²⁷⁹ und auch die drei Namen, die auf der Nordendorfer Fibel (7. Jh.) erscheinen, logaþore, wodan und wigiþonar, werden dazugehören.
Nál. Brœðr hans eru þeir Býleistr ok Helblindi. Loki er fríðr ok fagr sýnum, illr í skaplyndi, mjǫk fjǫlbreytinn at háttum. Hann hafði þá speki um fram aðra menn er slœgð heitir, ok vælar til allra hluta. Hann kom Ásum jafnan í fullt vandræði ok opt leysti hann þá með vælræðum. („Zu den Asen wird auch derjenige gezählt, den manche Verleumder der Asen, Urheber der Hinterlist und Schande aller Götter und Menschen nennen. So wird Loki oder Lopt genannt, der Sohn des Riesen Farbauti. Seine Mutter heißt Laufey oder Nal. Seine Brüder sind Byleist und Helblindi. Loki ist hübsch und von gefälligem Äußeren, hat jedoch einen schlechten Charakter und ist in seinem Benehmen unberechenbar. An Verschlagenheit ist er anderen weit voraus; er betrügt in allen Dingen. Er bereitete den Asen fortwährend Schwierigkeiten, aber oft löste er sie mit List“). Wanner 2009, S. 218. „Indeed, if Loki is the most disparaged of the gods, Óðinn runs a close second. In sources poetic and prose, pre- and postconversion, vernacular and Latin, Óðinn is routinely described as deceitful, capricious, and engaging in dishonorable and shameful behavior“ (Wanner 2009, S. 221). Vgl. Ström 1956, S. 85. Siehe Ström 1956, S. 85: „In seiner Eigenschaft als sekundäre Odinsfigur ist Loki mit einem Schatz anstößiger Mythen begabt worden, die, hätte es sich um Odin gehandelt, das religiöse Gefühl verletzt hätten in dem Augenblick, wo er seine Stellung als Göttervater erreicht hatte.“ Letzere Göttternamen sind wohl nicht mit „Wille“ und „Heiligtum“ zu etymologisieren. Schon de Vries vermutet, dass aufgrund des hohen Alters des Mythos die Namen in ihrem ursprünglichen Sinn nicht mehr durchsichtig gewesen seien. Auch die unterschiedliche Quantität des Stammvokals in Víli weise in diese Richtung (vgl. de Vries 1956– 1957, II, S. 280 f.). Odin und seine Brüder Vili (Víli) und Vé sind die Mörder/Zerstückeler des Urzeitriesen Ymir. Sie sind lediglich eine andere Version jener pri-
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Im Folgenden soll nun versucht werden, die Gestalt Lóðurr (hinter der schon durch deren analoge Stellung im Mythos Loki vermutet werden kann) im gleichen bedeutungsgegenden Wissenrahmen wie den Namen (oder Epitheton) loðbrók plausibel zu machen.²⁸⁰ Die Etymologisierungsversuche zu Loki sind gewiss Legion,²⁸¹ gleichermaßen die Versuche, seine Beinamen im Rahmen eines einheitlichen Konzepts, gegebenenfalls als Ableitungen des Namens Loki selbst, unterzubringen. Liberman schließt einen Weg von Lóðurr zu Loki aus, es sei ein Name mit letztendlich ungeklärter Etymologie, der ohnehin nur ein einziges Mal erscheine (freilich im Kontext eines ganz besonderen Schöpfungsauftrags, einer Anthropogenese). Ebenso hält er Verbindungen zu Loptr (< lopt/loft „Luft“), ein weiterer Beiname Lokis (der sich, rätselhaft genug, bis in die jüngste Zeit als durchaus geläufiger Eigenname findet) für nicht haltbar.²⁸² Nun ist es auch gar nicht notwendig, eine lautliche Identität anzunehmen, es sind jeweils unterschiedliche Epitheta, die sich aber in eine gemeinsame mythische Vorstellung einordnen lassen. Unter den zahlreichen Vorschlägen, die Liberman diskutiert, möchte er letztendlich einer Ableitung des Namens Loki vom Verb lúka („schließen, öffnen, einhemordialen ‚Killer-Konstellation‘ Odin, Loki und Hœnir (oder Odin, Hœnir, Loðurr). Víli wird entsprechend eher zu altengl. wīl „Bedrängnis, Kümmernis“ zu stellen sein. In diese Richtung denkt auch Edith Marold, wenn sie die vílmegir („elende Knechte“) aus dem Totenreich der Skirnismál (35) im Zusammenhang mit Víli sehen möchte. Weniger wahrscheinlich indes ihre Vermutung, dass Vé in diesem durchgehend negativen, schadenbringenden Bedeutungsspektrum als einziger „positive[r] Pol“ eine Ausnahme machen sollte (vgl. Marold 2000, S. 300). Der Mythos liefert dafür ohnehin keinen Hinweis. Vé wird entsprechend (nahezu synonym zu Víli) als „Weh, Elend“ verstanden werden müssen. Siehe das analoge Wortpaar eymd edr ue (Stj. 1, 39, 21), lat. sive calamitas sive vae, „or calamity or woe“ (Isid. Etym.VII 6, 5). Isidor wie auch andere mittelalterliche Bibelkommentatoren erklären damit den Namen Eva, den Adam seiner Frau bezeichnenderweise erst nach der Vertreibung aus dem Paradies gibt. Im mittelalterlichen christlichen Verständnis wird diese Neubenennung zum Symbol der Transgression wie des Beginns menschlicher Genealogien (im Übrigen wird in Gen. 3, 20 Eva in der Bedeutung ,Leben‘ erklärt. Vgl. Edwards und Spector 1991, S. 159 f.). Wahrscheinlich gehört auch die Alliteration vargr í véum hierher, mit der in der Vǫlsunga saga (1) der Erzahne Sigi bezeichnet wird, nachdem er heimlich einen Knecht erschlagen hat. Auch hier ist die Ausgangssituation ähnlich, „an account of the first stages of genealogy“, „a form of primeval state“ (Raudvere 2007, S. 120). Sigis Totschlag zeigt sich in unübersehbarer Ähnlichkeit zur Neidtat des Kain an seinem Bruder Abel, weil dieser ihn als Opferer übertrifft. Und obschon „bad looser“ (Raudvere 2007, S. 121) wird Sigi wie Kain, der ‚ewig Ruhelose‘, zum Gründer schlechthin. Entsprechend wird mit dem Ausdruck wohl nicht der ,Wolf an der Weihestätte‘ gemeint sein, vielmehr, ganz im Sinne des weiteren Erzählverlaufs (vgl. Raudvere 2007, S. 121 f.), der verstoßene, ruhelose Outcast, der ,Wolf im Elend‘. Anders Deichl, auch wenn er auf die Ungewöhnlichkeit des Ausdrucks „in der Weihestätte“ in diesem Zusammenhang hinweist (vgl. Deichl 2019, S. 108 f.). Auch McTurk stellt diese Verknüpfung her, allerdings wiederum unter dem Vorzeichen der Fruchtbarkeitsgöttin Loþkona. Lóðurr müsse entsprechend als ursprüngliches *loþverr gelesen werden, „with its second element meaning ‚manʻ or ‚husbandʻ“, also als „male counterpart to Loþkona“ (McTurk 1991, S. 39). Siehe die detaillierte Auflistung bei Liberman 1992, S. 124– 147. Siehe Liberman 1992, S. 130 f.: „There is almost no path from Lóðurr to Loki […].“ „In my opinion both etymologies – Loki < Lóðurr and Loki < Loptr – are untenable.“
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gen“) den Vorzug geben.²⁸³ Loki sei also „a person who/an object that locks“ oder noch konkreter, Loki als „delimited space, enclosure“.²⁸⁴ Am ursprünglichsten trete Loki schließlich als chthonische Gottheit, als primitive Gottheit der Unterwelt auf, er sei grundsätzlich identisch mit Útgarðaloki, „a personified enclosure and lock or threshold separating the world of the living from the world of the dead.“²⁸⁵ Und dieses Todesimage behält Loki, wenn auch gewissermaßen literarisch verfeinert.Wenig passt dazu indes, dass er ganz offensichtlich in seiner archaischsten Ausgestaltung ein Wanderer zu sein scheint, Mitglied einer Männerreisegesellschaft, eines Männerbunds, Reisegefährte Thors, der sich gerade nicht durch stationäre Abgeschlossenheit und Immobilität auszeichnet. Einige Forschungsansätze tragen dem immerhin insofern Rechnung, dass sie die geistige Abweichung, das Betrügerische, das Heimtückische, das Maliziöse in Lokis Wesen als zentral in der Bedeutungsgebung sehen. Der Begriff logaþore der Nordendorfer Fibel passt genau in dieses Bedeutungsspektrum (siehe die altenglischen Glossenwörter logeþer, logðor, logþor, logþer „arglistig“, „plotting mischief, wily, crafty“ für lat. Cacomicanus „Ränkeschmied“ und Marsius „Zauberer“).²⁸⁶ Allein schon die eindeutige Gleichsetzung des Begriffes mit (gefürchteten) magischen Praktiken im Altenglischen macht eine potentielle Wurzel *lug-/*luh- „Lohe, Flamme“ ganz unwahrscheinlich, hingegen die alternativ diskutierte Anknüpfung an die Wurzel *leug-/* lug- „Lüge“ (i-St. lugī bzw. o-St. lug, luc, nhd. „Lug“)²⁸⁷ umso mehr. Es ist die nämliche, von der auch Liberman ausgehen möchte, allerdings verstellt er sich sämtliche semantische Möglichkeiten in diese Richtung, indem er im Weiteren nur noch die Entwicklung zur Spezialbedeutung „schließen, verschließen“ berücksichtigt. Aber hier liegt wohl der Vorstellungskomplex des Trugs, der Tücke zu Grunde, er gleicht der Wortsippe um meiða, das ,Schlecht machen (oder sein)ʻ, ,das Schädlich machenʻ durch ,Verdrehenʻ, ,Verbiegenʻ, ,aus der Geraden bringenʻ, ,das Deformierenʻ, ,aus der Façon bringenʻ. Die Wurzel *leug- „bend“ (vgl. λυγίζω „biegen, drehen“) entspricht lat. luxus ²⁸⁸ „verrenkt“, „verbogen“.²⁸⁹ Es sind wiederum allesamt Konzepte, die nahezu immer eine bedeutungsverschlechternde Entwicklung durchmachen: Das Biegsame wird zum Standpunktlosen, zum Unberechenbaren, zum Zersetzerischen. Lóka bedeutet nisl. ebenso wie schw. dial. „schlaff herabhängen lassen“ (entsprechend nisl. lókur „Penis“), norw. dial. „zaudern, lang-
Vgl. Liberman 1992, S. 136. Liberman 1992, S. 141. Liberman 1992, S. 157. Vgl. Marquardt 1940, S. 75.Vgl. auch Düwel 1982; Düwel 2008, S. 63 f. Düwel geht formal von einem Plural aus und übersetzt: „Zauberer (oder: lügnerisch) [sind] Wodan und Weihe- (oder: Kampf-) Donar“, womit allerdings die gut etablierte Dreiheit zu einer Zweiheit würde. Vgl. Marquardt 1940, S. 75. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „luxus“. Vgl. auch Frisk 1960 – 1972, „λοξός“: „Seitwärts gebogen, schief, schräg“, auch im übertragenen Sinn „zweideutig“. Λοξίας ist Beiname des Apollon „als weissagende Gottheit“, der doppelsinnige, in Rätseln sprechende Gott. Dazu gehört λέχριος „schräg, quer, schief“, λικριφίς „quer, seitwärts, mit einem Seitensprung“.
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sam umherschlendern“, jenes nicht zielgerichtete, standpunktlose Gehen, geschlechtsspezifisch konnotiert als die weibliche sexuelle Abweichung, Promiskuität. Es ist die Bewegung des isländischen Landstreichers, des flǫkkunarmaðr, die Bedeutungsentwicklung zum lókr, „Stümper“, „fauler Kerl“ absehbar. Die nämliche Semantik zeigt sich auch im Namen Lóðurr. Die Ähnlichkeit zum altengl. loddere („Bettler“) ist durchaus gesehen worden,²⁹⁰ aber man konnte sich keinen Reim darauf machen, was das ,Bettlerhafteʻ an Loki sein sollte. Tatsächlich ist im Deutschen das namengebende Konzept das Erbetteln (von Almosen), hier aber erscheint ein ganz anderes Charakteristikum als prototypisches (und damit namengebendes) Merkmal: loddere ²⁹¹ ist verwandt mit nhd. ,liederlichʻ.²⁹² Der deutsche ,Loddelʻ ist der „Zuhälter“ (loddeln, loddern „müßiggehen, schwanken, wackeln“), dazu gehört ,schleudernʻ (schludern), insbesondere ,lotternʻ. Auch auf die Gefahr der Wiederholung können wir nichts anderes feststellen: Alle diese Begriffe teilen sich die Vorstellung des ,Schwankensʻ, des ,ungelenkten, chaotischen Hin und Herʻ. Lóðurr ist mit Loki nicht wurzelverwandt, aber die Bedeutung ist dieselbe, es ist die Welt der Devianzen, der devianten Körperfunktionen. Möglicherweise gehört auch eine ganz besondere Gruppe (neuzeitlicher) karnevalesker Gestalten in diesen Zusammenhang: Sie stehen im Mittelpunkt eines gerade durch seine „verhältnismäßige Armut und Einfachheit“²⁹³ mutmaßlich hocharchaischen Fasnachtsbrauchtums,²⁹⁴ das sich in der deutschen Sprachinsel Pladen in Karnien (Osttiroler Pustertal) erhalten hat: die so genannten Rollatn Lotter. Maria Hornung verweist in ihrer Beschreibung des Brauchs ausdrücklich darauf, dass das „Rollat g(i)ean, oder „Loutr laafn“ (,Lotterlaufenʻ) keineswegs als „Scherz oder eine Lustbarkeit“ betrachtet werde, vielmehr als „eine Sache von Wichtigkeit, deren Ausübung allgemeines Gedeihen“ verheiße.²⁹⁵ Zunächst müsse eine genau festgelegte Kleiderordnung eingehalten werden: eine holzgeschnitzte Maske, Pelzumhang und Kapuze.²⁹⁶ Insbesondere aber gehörten dazu horizontal gestreifte Hosen aus Leinen und brauner Wolle, die extra für diesen Anlass gewebt und genäht würden und danach wieder aufgetrennt werden müssten. Dazu kommt ein spezifisch ,louterischesʻ Benehmen, ein eigentümlicher, ‚tänzelnderʻ Gang bzw. „Laufschritt“.²⁹⁷ Mit „ver-
Vgl. Liberman 1992, S. 129. Vgl. OED online, „lodder, adj.“: „Connected with Old English loddere beggar, poor wretch. Compare Old High German lotar adjective, vain, idle (Middle High German lotar adjective, loose, unsteady, loter, lotter noun, mountebank, rogue, modern German dialect lotter, loose, exhausted; also in modern German lotterbube blackguard, and in other compounds: see Grimm).“ Vgl. Kluge/Seebold 2002, „liederlich“: spmhd. liederlich „liederlich, schlecht, boshaft“, wohl Ableitung aus ahd. lūdara, as. lūthara „Lumpen, Fetzen“, also etwa „zerlumpt, verwahrlost, lumpig“. Vgl. Hornung 1968, S. 269. Vgl. Hornung 1968, S. 268 f. Vgl. Hornung 1968, S. 266. Vgl. Hornung 1968, S. 266. Hornung 1968, S. 267.
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stellter hohler, hoch ansetzender Stimme“²⁹⁸ werden stereotype Fragen gestellt. Und obwohl die Lotter sich durchaus roh und ungehörig (gerade gegenüber Kindern und jungen Frauen) verhielten, sei doch ihr Besuch an jedem Hof sehnlichst erwartet.²⁹⁹ Ein eigenartiger, zwielichtiger Nimbus scheint sie zu umwittern. Auch im Bayerischen (bis Kärnten und Tirol) umfasst der Begriff ,lotterʻ neben „Knabe, „Knecht“, „Kerl“ auf gleiche Weise „männl[iches] Glied; Fremder, Bettler, Vogelscheuche, Schreckgestalt“.³⁰⁰ In Rechtsquellen des frühen 14. Jhs. erscheint ,loterʻ als persona inhonesta, im Bayerischen ist der ,Platzlotterʻ der „herumziehende Possenreißer, Gaukler“.³⁰¹ Besonders einschlägig ist dabei die ahd. lotarsprahha „Lottersprache“: „nenias vanitates, mendacia seu mortiferos cantus…. loterspracha“.³⁰² Diese „Lottersprache“ wird also bereits im 11. Jh. als „Totenklage“ ebenso wie als „lügenhafte oder todbringende [kurs. d. Verf.] Gesänge“ verstanden. Das „lottrische Gerede“³⁰³ in Falsett-Stimme (ebenso wie der ,lottrische Gangʻ und die auffallende Beinbekleidung) dürften damit in der Tat weit über einen neuzeitlichen Fasnachtsbrauch hinausweisen. Wie auch immer geartete Toten- oder Ahnenassoziationen scheinen durchaus plausibel.³⁰⁴ Ob wir hier mit Hornung (in der Nachfolge Otto Höflers) an männerbündisches, rituelles Handeln denken wollen, muss letztendlich dahingestellt bleiben,³⁰⁵ aber einiges weist
Hornung 1968, S. 267. Vgl. Hornung 1968, S. 267. Hornung 1968, S. 268. Hornung 1968, S. 268. von Steinmeyer und Sievers 1879, S. 299. Vgl. Hornung 1968, S. 268. Hornung 1968, S. 268 Vgl. Hornung 1968, S. 270. Bei den scheinbar redundanten, vordergründig sinnlosen Fragen ließe sich überlegen, ob dies nicht zu einem weltweit üblichen, geheimbündischen Verhaltenskodex gehören könnte, um Zugehörigkeit, Eingeweihtheit zur in group zu überprüfen. So dürfen sich etwa die Mitglieder des afrikanischen poro-Bundes (Elfenbeinküste) während der Initiationsphase nur untereinander unterhalten, dies geschieht in einer Art Geheimsprache, einem „Kauderwelsch“, das für Außenstehende unverständlich ist. Nur bei Begräbnissen kommt die yarajo-Maske, „[die] Maske, ‚die Bla-Bla spricht‘“ (Förster 1990, S. 315), zum Einsatz und wird auch für Frauen und Kinder sichtbar (vgl. Förster 1990, S. 315). Dann „spricht [der Maskenträger] die Passanten an und stellt ihnen scheinbar absurde Fragen […]“ (Förster 1990, S. 320). Aber dieses Verhalten habe einen ernsthaften Hintergrund: „Die den Nichtinitiierten so absurd klingenden Fragen sind in Wirklichkeit Losungen, die alle Mitglieder des Bundes mit entsprechenden, gleichfalls unsinnig scheinenden Antworten erwidern. So erfährt der Träger der yarajo unbemerkt, wer Initiierter ist und den geheimen rituellen Handlungen beiwohnen darf und wer nicht“ (Förster 1990, S. 320 f.). Auch die älteren Mitglieder stellen die Initianden immer wieder auf die Probe: „Sie fragten in der geheimen Sprache des Bundes nach Losungen und freuten sich, wenn ihre ‚jüngeren Brüder‘ die korrekten Antworten gaben“ (Förster 1990, S. 315). Siehe ähnlich das erstaunlich glimpfliche Aufeinandertreffen eines schwäbischen Handwerksburschen mit dem ‚Wilden Heer‘. Meier 1852, S. 133: „Einst traf das Mutesheer auf seiner Straße einen Handwerksburschen, und weil derselbe nicht auswich, noch sich mit dem Gesicht zur Erde warf [was im Grunde die einzige Möglichkeit ist, dem sicheren Tod zu entkommen, d.Verf.], wollte es ihn mitnehmen. Der Handwerksbursch aber begann ein Gespräch mit dem Anführer und wußte diesem so gut zu antworten, daß er keine Macht über ihn bekam. Dabei kam es namentlich auf ein einziges Wort an, das der Handwerksbursch wußte und
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in diese Richtung: Die gestreifte, ‚gestromteʻ Beinbekleidung ist verdächtig, nicht nur im Aussehen rückt sie nahe an das ‚zottigeʻ Beinkleid des Ragnarr loðbrók. Auch beim Tiroler Kleidungsstück scheint versucht worden zu sein, eine Art kontaguöse Fellähnlichkeit herzustellen: Die so genannten „Hiilhouzen“ („Hüllhosen“) seien ursprünglich ausschließlich aus „Hiiln“ genäht worden, grobe Leinendecken, die „zum Einhüllen erhitzter Zugtiere (Ochsen)“ dienten.³⁰⁶ Hier ist in jedem Fall der magisch apotropäische Effekt, das buchstäbliche Einnähen in eine Ochsenhaut, aber ebenso eine generelle, tierhafte Anähnelung mitzudenken. Auch unter dem Spitznamen des Ragnarr loðbrók ist ein schützendes Kleidungsstück verstanden worden, aber fraglich ist tatsächlich, ob damit dessen spezifisch materialhafte, textile Undurchdringlichkeit gemeint war, ja wie man sich überhaupt wohl zunächst zu sehr auf die Bedeutung ,Fell‘, ,Haare‘ im Sinne einer (haptischen) Materialität für den ersten Namensbestandteil eingeschränkt hat.³⁰⁷ Die germanischen Vergleichsmöglichkeiten lassen vermuten, dass möglicherweise grundsätzlicher von einem Konzept des ‚Lose baumelndenʻ, ‚Abgerissenenʻ, ‚Fetzenhaftenʻ ausgegangen werden muss. So bedeutet ahd. lūdara, as. lūthara wörtlich „Lumpen, Fetzen“. In den meisten Fällen wird es indes ohnehin metaphorisch gebraucht und referiert auf eine Befindlichkeit, ein Charakteristikum, liederlich, schlecht, boshaft. Ausdrücklich subsummiert auch das Englische unter dem Begriff lither einerseits „persons, their actions, dispositions, etc.: Bad, wicked; base, rascally unjust“, ebenso aber meint es auch konkret körperhafte Defizienzen, „chiefly physical […] ill-conditioned“, schließlich „withered, paralysed, impotent.“³⁰⁸ Im Zweitglied brók scheint eine ähnliche semantische Ambivalenz bzw. Erweiterung angelegt zu sein, wie sie bereits im Begriff leistr aufscheint: zunächst das konkrete Körperteil, siehe etwa ae. læst(e) „the sole or lower part of the foot“,³⁰⁹ dann das Kleidungsstück, das damit unmittelbar im Kontakt steht, an. leistr „Hosenbein, aussprach, worauf das Heer fortzog.“ Bezeichnend ebenso, dass es zum Schluss der Sage heißt, die Erzählerin habe den Inhalt des Gesprächs nicht mehr wiedergeben können. Hornung 1968, S. 266. McTurk diskutiert dazu unterschiedliche Forschungsansätze, unter anderem sei ein ähnlicher Name auch als Toponym bekannt, andere gehen von einer „poetic appellation for the Viking leaders“ (McTurk 1991, S. 9) aus oder einer ursprünglich weiblichen Trägerin des Namens. Auch in der Ikonographie könnte das Kleidungsstück eine Referenz gefunden haben. So wird auf einer der Helmplatten von Torslunda ganz offensichtlich ein Krieger im Kampf mit einem Ungetüm mit fellartigen Beinkleidern dargestellt (vgl. McTurk 1991, S. 9 f.). Wohl verweist McTurk darauf, dass gar nicht immer ausdrücklich nur Hosen als Schutzmaßnahmen im narrativen Kontext erschienen (unabhängig davon, dass schließlich nicht nur die unteren Körperextremitäten in einem Monsterkampf geschützt werden müssten (vgl. McTurk 1991, S. 11), dennoch bleibt es auffallend, dass offensichtlich dieses Kleidungsstück prototypisch gewählt wurde. Das merkwürdige Motiv der gefrorenen Eiskleidung, wie es Saxo als Erklärung nutzt, erscheint ebenso in einer Tataren-Legende. Schließlich berichtet die angelsächsische Gesta Herwardi, wie die Bewohner von Scaldemariland (Seeland) für den Kampf Fellund Lederkleider mit Pech und Stacheln präpariert hätten (vgl. McTurk 1991, S. 12 f.). OED online, „lither, adj. and adv.“. OED online, „last“, n.
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Strumpf“, schließlich die Funktionsweise wie der Effekt daraus, „Schritt“, altfries. lāst/lēst „footprint“, ae. læst(e) „Fußspur“.³¹⁰ Erinnert sei an den zusammengesetzten Beinamen Odins, býleistr, dessen Erstglied bil- wir bereits als Verdeutlichung oder Verstärkung des Grundworts leistr verstanden haben (siehe Kap. 12.1). Nichts anderes bedeutet wohl loðbrók. Brók ist im Altnordischen nurmehr in der Bedeutung „Beinkleider“ bekannt, aber ein Anschluss an lat. suffrāginēs f. „Hinterbug der Tiere“, eigentl. „Biegung, Knick“, urgerm. *brōk- „podex“, ags. brēc, engl. breech „Hintere“ ist ebenso erwogen worden.³¹¹ Auch hier zeigt sich also wiederum austauschbar Bekleidetes wie Bekleidendes. Loðbrók wäre damit nahezu synonym als der ‚Schwankende, der Abweichende im Schrittʻ zu verstehen, auch und gerade im Sinne einer rituellen bzw. ritualisierten Bewegung. Eine besondere Art kultischer Kleidung oder Präparierung verdeutlicht dies. Wir werden also von nämlichen Bedingungen ausgehen müssen, wie wir sie bereits bei den Monosandalos-Gestalten kennengelernt haben: Kleidungsstücke, die mit den unteren Körperextremitäten verbunden sind, führen fort oder verstärken die Effekte, die üblicherweise oder zunächst mit den Körperteilen selbst erzeugt werden: eine natürliche (angeborene) wie gegebenenfalls künstlich erzeugte, rituell hergestellte Körperasymmetrie. Aber die Vorstellung einer Asymmetrie (bzw. deren Erzeugung) kann noch genauer gefasst werden: Die ominösen sverðmerðlingar sind wohl im genauen Wortsinn nicht ‚Männer, die mit Marderfellen bekleidet sindʻ, sondern eher ‚Männer, die in ihrer Art Marder(fellen) gleichenʻ, sich ,marderartigʻ verhalten. Nicht nur der besonders unangenehme Namensträger aus der Sagawelt lässt ahnen, in welchem mythischen Denkraum diese Devianz mutmaßlich verortet werden muss, sondern gerade die Konzeptualisierung eines wohl noch berühmteren nordischen, mythischen (Anti)helden: Sinfjǫtli, der inzestuös gezeugte, durch und durch asoziale Held der Vǫlsunga saga, gewohnheitsmäßiger Totschläger, nicht zuletzt zweifacher Kindsmörder, dessen Lebensweise Teichert so treffend als „zutiefst soziopathische Existenzform“ beschreibt, „die das Ideal vorbildhafter Heroik ad absurdum“ führe.³¹² Sinfjǫtlis Name wird üblicherweise zu ahd. Sintarvizzilo (burg. Sindrafitils) gestellt, siehe mhd. vizzel „Fessel“, as. fitilvēh, ahd. fizzilvēh „mit weißgefleckten Beinen“, langob. fetila „gestiefelt“, eig. „mit einem weißen Vorder- und Hinterfuß“.³¹³ Im ersten Namensbestandteil sinter mochte man ein Farbwort sehen, also „der mit der sinterfarbigen Fessel“. Damit sei es zum dänischen Tabuwort für Wolf guldfot („Goldfuß“) zu stellen. Sinfjǫtli sei also letztendlich ein „Deckname für den Wolf“.³¹⁴ Nun meint aber das ahd. fizzilvēh oder langob. fetila im genauen Wortsinn ,die Fellzeichnung der Fußfesseln des Pferdes‘ in unterschiedlichster Qualität. Das Denotat von fetila konnte insofern variieren, dass das Spezifikum einer einzigen (an
Vgl. an. etym. Wb 1962, „leistr“. Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „brāca“. Teichert 2014, S. 155. an. etym. Wb 1962, „Sinfjǫtli“. Much 1929, S. 22 f.
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dersfarbigen) Fessel gemeint sein konnte bis hin zu allen vieren, lateral, diagonal angeordnet, „mit einem weißen Vorder- und einem weißen Hinterfuß über Kreuz [kurs. d. Verf.]“³¹⁵ und vermutlich noch einige Kombinationsmöglichkeiten mehr. Und jede einzelne Spielart dieser angeborenen Farbgebung war im vormodernen, mittelalterlichen (und bis weit ins neuzeitliche) Denken keineswegs nur mit dem äußeren Erscheinungsbild des Pferdes verbunden, sondern ebenso mit dessen Physis und auf ganz besondere Weise mit dessen charakterlichen Eigenarten. Damit ist also nicht nur „die mehrfarbigkeit als kennzeichen der verderbten rasse“³¹⁶ gemeint, wie Sievers immerhin schon früh in diese Richtung überlegt, vielmehr galten ,gestiefelteʻ Pferde aufgrund ihrer asymmetrischen Fußzeichnung als tückisch, unzuverlässig, ja sogar gefährlich.³¹⁷ „[I]m Falle der höchsten Not (au grand besoin)“³¹⁸ ließen die Tiere ihren Reiter im Stich und stürzten diesen ins Verderben.³¹⁹ Und dieses tief in der mittelalterlichen Kultur verankerte Pferdewissen konnte ebenso idiomatisch in der Beschreibung menschlicher (Charakter)eigenschaften erscheinen: Die Wendung „avoir les pieds blancs“³²⁰ konnte dann auch beim Menschen ein boshaftes, betrügerisches Wesen meinen, „avoir l’apparence trompeuse“,³²¹ der seine Kameraden ins Unheil stürzt („laisser dans l’embarras“).³²² Dem Pferd mit vier weißen Fußfesseln (einem so genannte „cheval balzan“)³²³ werden wiederum, in scheinbarem Gegensatz, besondere Freiheiten zugestanden: Dessen Reiter sei vom Wegzoll befreit gewesen und habe überall passieren dürfen.³²⁴ Diese Zuschreibungen sind zeitlich wie kulturell durchaus Veränderungen unterworfen (insbesondere die arabische Pferdelehre scheint hier großen Einfluss genommen zu haben),³²⁵ durchgehend aber zeigt sich, welchen zentralen Stellenwert man ausgerechnet der Fellzeichnung des Pferdefußes in der mittelalterlichen Alltagskultur einräumte: „Als ‚Königsbalzanʻ wird ein P[ferd] bezeichnet, dessen Hinterfüße und ein Vorderfuß, am liebsten der linke, gestiefelt sind; es galt als glückbringende Schönheit. Hochgestiefelte Stuten sollen vorzugsweise fruchtbar sein. Auch Hermelinfüße [kurs. d. Verf.], d. h. solche mit weißen Flecken in der Haut, gehen noch an. Kreuzfüße, d. h. P[ferd]e mit einem weißen Vorder- und ei-
Steller 1935, Sp. 1603. Sievers 1892, S. 365. Vgl. Minis 1981, S. 156. Fourquet 1952, S. 1. Vgl. Fourquet 1952, S. 1. Roques 1949, S. 95. Roques 1949, S. 96. Roques 1949, S. 96. Roques 1949, S. 96. Vgl. Roques 1949, S. 96 f. Wohl wurde gemutmaßt, dass dadurch der Seltenheit der Fellzeichnung Anerkennung gezollt wurde, der Verdacht liegt aber nahe, dass auch hier eher die Scheu vor der gegebenenfalls gefährlichen Unberechenbarkeit des Tieres (bzw. des Reiters) im Vordergrund stand, der man sich nicht aussetzen wollte. Vgl. Roques 1949, S. 103.
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nem weißen Hinterfuß über Kreuz, aber bezeichnen ein gefährliches Tier; es fand noch im 30jährigen Krieg keinen frommen Reiter.“³²⁶
Von einer auffallenden Erscheinungsform der Pigmentierung, von einer gegebenenfalls formalen Asymmetrie wird auf eine körperliche Defizienz und damit Devianz im Charakter (eines Tieres!) geschlossen. Es wird selbstredend zur ins Magische erweiterten Fähigkeit, die auch solches zu bewirken vermag.³²⁷ Die Fellzeichnung selbst vermag dann Chaos heraufzubeschwören, Angelegenheiten zum Schlechten zu wenden. Und es ist gewiss kein Zufall, dass hier auch „Hermelinfüße“ ihren Platz finden: Sinfjǫtli wie die sverðmerðlingar wie die synir Loðbrókar verkörpern in ihren Namen und damit an sich die Heimtücke und Unberechenbarkeit des ,asymmetrisch geblessten Tiers‘. Sinfjǫtli besitzt Marderfüße, Hermelinfüße, eine bösartige, todbringende Geschecktheit.³²⁸
Steller 1935, Sp. 1603. „Mit der Gestalt und dem Aussehen, vor allem mit der Farbe des P[ferd]es werden eine Reihe von Vorstellungen abergläubischer Art verknüpft“ (Steller 1935, Sp. 1602). In der gewissermaßen initiatorischen Schlüsselszene der Vǫlsunga saga (Vs. 8), die die Reintegration des Probanden Sinfjǫtli (als Abschluss seiner männerbündischen rites de passage) thematisiert, erscheint entsprechend der Marder/das Wiesel (hreysikǫttr) als eben jenes hochambige, schillernde Grenzwesen, Todbringer, aber auch Lebensretter. Nachdem Sigmund in einem Wutanfall seinem Zögling Sinfjǫtli (beide in Wolfsgestalt) die Kehle durchgebissen hat, beobachtet er bei zwei Mardern die nämliche Aktion, aber auch eine übernatürliche Heilung: Durch ein Blatt, das der Täter herbeizubringen weiß und auf die Wunde des toten Tieres legt, kehrt dieses wieder zurück ins Leben. Zweifelsohne ein Wandermotiv (vgl. Heizmann 2007a) mit unterschiedlichen, aber keineswegs zufällig ausgewählten Tieren besetzt: So erscheint am frühesten die Schlange als typischerweise Verkörperung wie Wissensträgerin von Unsterblichkeit, etwa in der antiken Erzählung Polyeidos und Glaukos. Im altfr. Eliduc der Marie de France übernimmt diese Rolle wiederum der Marder bzw. das Wiesel. In all diesen Episoden geht es um existenzielle Übergänge (Adoleszenz, Heirat, Klostereintritt) und deren erfolgreiche Bewältigung. Im ossetischen Heldenepos ist es der Narte Soslan, der seine Braut Bedocha wieder zurück ins Leben bringt, indem er eine Schlange in ihrer Gruft beobachtet, die dies mithilfe einer Perle an einer anderen Schlange vollbringt (vgl. Sikojev [Übers.] 2005, S. 104). Besonders interessant für den vorliegenden Zusammenhang sind zwei Todesheilungen, die mit dem Erzählkomplex des kabardinischen Helden Badynoko verbunden sind: Wie in der nordischen Sage geht es um die Ausbildung eines Heranwachsenden, Schuscheh. Dafür muss sich der Junge auf eine Art Jenseitsreise begeben (buchstäblich angezeigt durch die blutig gerittenen Fesseln (!) seines Pferdes). Er beobachtet, wie zwei Hunde ihren todwunden Herrn nach einem Kampf mit einer Zauberpflanze heilen, und nahezu in unmittelbarer Entsprechung zur Völsungenheilung erscheinen ebenso zwei Adler, die Lebenswasser auf den Helden träufeln. Er springt auf, gibt sich als der Recke Badynoko zu erkennen und ruft: „Laß uns gemeinsam des Wegs ziehen, junger Reiter! Möge aus dir ein richtiger Mann werden und aus deinem Pferd ein richtiger Renner!“ (Grossman und Stürmer 1958, S. 165). Nachdem der junge Schuscheh nun sogar auf seinen tot geglaubten und, auf einer mythostrukturalen Ebene gelesen, wohl tatsächlich toten Vater trifft, wird dem nunmehr auf allen Stufen Initiierten die Todesheilung selbst zuteil: Tödlich verletzt durch den Kampf mit einem Riesen, wird er von einer alten Frau wiederhergestellt: Von einer „kleine[n] Wiese […], auf der viele Kräuter wuchsen“, holt sie ein Heilkraut, das sie auf seine Wunden legt, danach wird ihm Quellwasser verabreicht (vgl. Grossman und Stürmer [Übers.] 1958, S. 191 f.).
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Es ist exakt diese Vorstellung, die sich auch in der Namengebung der bizarren Monsterkuh Sebelja der Ragnars saga wiederfindet. Auch hier findet diese Idee eine längst nicht mehr erkannte, wenn auch konsequent ,mytho-logische‘ Entsprechung. Aus gutem Grund vermag dieses Ungeheuer einzig und allein der beinlose Ragnarrsohn Ívarr zu bezwingen (siehe Ragnars saga, Kap. 8 – 12).³²⁹ Schon Felix Liebrecht kann dazu überzeugende Parallelen (über das Altpersische) ins Altindische aufzeigen³³⁰: Auch hier erscheint das Motiv eines ‚Kuh-Ungeheuersʻ, einer ‚göttlichen Kuhʻ. Und in deren Namen, Śabalā, sieht Liebrecht eine genaue Entsprechung zum nordischen Pendant. Die Wunderkuh wird im Bālakāṇḍa, dem ersten Buch des altindischen, nachvedischen Nationalepos Rāmāyaṇa beschrieben. Dort vermag sie durch ihr übermächtiges Gebrüll die Feinde in die Flucht zu schlagen, in anderer Version, noch auffälliger, erzeugt sie erst durch dieses Gebrüll Soldaten, die diese bezwingen.³³¹ Die von Liebrecht vorgeschlagenen Übertragungswege und Verbindungen sind neuerdings auch von Rosa Ronzitti wieder aufgegriffen und mit weiteren Belegen unterstützt worden: „A transmigration of themes from India to Western Countries through Iranian intermediation is actually more than likely.“³³² Und auch hier erscheint das Reitervolk der Alanen als mögliche Mittelsmänner, gut bekannt deren frühe, intensive Kontakte zu den germanischen Stämmen, insbesondere den Goten am Schwarzen Meer und im Baltikum.³³³ Und auch der altindische Kuhname Śabalā kann relativ sicher zu einem gleichnamigen Adjektiv in der Bedeutung „variegated, brindled, spotted“³³⁴ gestellt werden. Śabalā sei also etwa als „the spotted cow“³³⁵ zu verstehen. Eine Namengebung, die in moderner Lesung kaum beeindruckt, die fürchterliche Wirkmacht, die damit gefasst ist, zeigt sich indes in deren mutmaßlicher etymologischer Verbindung zum mediterranen Höllenhund Kerberos (siehe die vieräugigen Wachhunde des altindischen Totengottes Yama śabálau, Rg.Ved. 10, 14, 10).³³⁶ Ronzitti vermutet das tertium comparationis im sternenübersäten Nachthimmel.³³⁷ Dem werden wir nach Ausweis der Dinge nicht zustimmen können, vielmehr: Mons Diese monströse, unvollständige Materialisierung des ‚Ersten‘ findet ihre Entsprechung nicht nur in den knochenlosen erstgeborenen Söhnen der nixenähnlichen Nivaši-Töchter (siehe Kap. 11.5.3), sondern ebenso in der dämonischen Gestalt des Mulo („tot“, „Geist eines Verstorbenen“, vgl. Berger 1984, S. 801), „ein vampyr-artiges Wesen, das aus totgeborenen Kindern entsteht“ und knochenlos sei (vgl. von Wlislocki 1891, S. 35). In slavischen mythologischen Vorstellungen erscheint der Wiedergänger als knochenloses Wesen. Siehe poln. bezkosty („knochenlos“) = „Vampir“ (vgl. Dukova 1997, S. 82). Und schon der altindische preta, „eine neue Daseinsform des Körpers“ nach dem Tod, behalte zwar „seine bekannte und vertraute Gestalt“, nur seine Knochen habe er „durch die „,knochenloseʻ Melodie eines Opferhymnus abegeschüttelt“ (vgl. Malinar 2002, S. 769 f.). Vgl. Liebrecht 1879. Vgl. Liebrecht 1879, S. 71; Ronzitti 2007, S. 142. Ronzitti 2007, S. 149. Vgl. Ronzitti 2007, S. 149, Anm. 35. Ronzitti 2007, S. 139. Ronzitti 2007, S. 139. Vgl. Ronzitti 2007, S. 139. Vgl. Ronzitti 2007, S. 139 f.
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tröse Wesenheit, Monsterqualitäten finden ihren Ausdruck in einer unregelmäßigen, fleckigen Fellzeichnung. Ausdrücklich gehört zu dieser Wurzel auch russ. sobol’ „Zobel“. An der Kuh Sebelja drückt sich also eine gefährliche, irrisierende Uneindeutigkeit durch ihr zobelähnliches, marderähnliches Fell aus.³³⁸ Nun besitzt im Grunde genommen bereits das einfache Adjektiv, das Grundwort *fetila diese oben entworfene „volle technische Bedeutung“,³³⁹ und damit stellt sich im Weiteren die Frage nach der Semantik in der Zusammensetzung mit sintar („Sinter“, „Schlacke“, die geschmolzenen, ‚zusammengebackenenʻ Reste bei der Metallherstellung). Es ist wohl nicht die Farbeigenschaft die hier zum Tragen kommt. Eher dürften in diesem Bild die ‚Zauberbeineʻ tatsächlich als Hosen verstanden worden sein, die letztendlich wie ‚gesintertʻ erscheinen, gehärtet in einer erstarrten Schlackenmischung aus Teer und Sand. Und vielleicht kommt hier noch eine weitere Idiomatik ins Spiel, die Roques zunächst noch für die Erklärung der pieds blanc verwirft³⁴⁰: „[P]ieds poudreux“, „avoir poudreux les talons“, „avoir les pieds gris“³⁴¹ sind allesamt Ausdrücke, die sich auf die Staubigkeit der Füße oder der Fersen beziehen, bezeichnenderweise verwendet im Mittelalter auf landfahrendes Volk, fliegende Händler, Deserteure. Diese Konzipierung von gefährlichen Außenseitern könnte also in der Ragnars saga im Motiv des ,Wälzens im Sand vor dem Drachenkampf‘ aufgegriffen worden sein. Aber selbst dann meint diese letztendlich Neumotivierung der Beschaffenheit eines Kleidungsstücks wohl weniger die Defensivmaßnahme, vielmehr eine Art gezielte Monster-Angleichung. So sieht Teichert diese dermaßen präparierten Textilien wohl zunächst durchaus in ihrer Funktion als „eine Art mechanische Schutzhülle“, diese seien aber „dem schwer durchdringbaren geschuppten Drachenpanzer ebenso als Komplementärmotiv zuzuordnen […] wie Sîvrits durch das Bad im Drachenblut erworbene Hornhaut im Nibelungenlied.“³⁴² Die Vorzeitsaga tendiere dazu, so auch die Beobachtung Thomas Kleins, die „Attribute der bezwungenen übernatürlichen Gegner auch auf den Helden zu übertragen“,³⁴³ was im gleichen Atemzug dazu führen könne, dass der Vorzeitheld seinerseits die übernatürlichen Eigenschaften seines außermenschlichen Gegners, dessen „monströse Färbung“ annehmen könne.³⁴⁴ Tatsächlich können wir diese Überlegungen noch weiterführen:
Ganz folgerichtig entspricht norw. broka „buntes tier“, schwed. dial. brok „buntes pferd“, schwed. brokig, dän. broget „scheckig“ (an. etym. Wb 1962, „bróka“) einem an. brokkari „traber, pferd“, nisl. brokkur „pferd mit ungleicher gangart“ (an. etym.Wb 1962, „brokkari“). Der gemeinsame Denkraum ist der unerwartete, unberechenbare Wechsel in der Erscheinung wie in der Bewegung, ein Konzept, wie es sich ähnlich zeigt in nhd. schillern (< schielen), die schnelle, abweichende, asymmetrische Bewegung (der Augen), aber auch „spielen (von den Farben)“ (Kluge/Seebold 2002, „schillern“). Fourquet 1952, S. 2. Vgl. Roques 1949, S. 96. Roques 1949, S. 96. Teichert 2014, S. 156. Klein 1988, S. 136. Vgl. Klein 1988, S. 136. Sowenig ist es Zufall, dass ursprünglich ausgerechnet das Marderfell (auf gleiche Weise wie das Wolfs- bzw. Hundefell) als geeignetstes Material für Schutzhelme im Kampf
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Nicht nur die Monsterbekämpfer der Ragnars saga scheinen die gleichen Qualitäten zu besitzen, ja selbst deren vorgebliche Opfer, Verfolgte, Protagonisten wie Antagonisten, alle scheinen in dieser eigenartigen Weise aufeinander bezogen.³⁴⁵ Siehe den Drachenkampf, der für Ragnarr zur Vorbedingung für die Heirat mit Þóra, seiner ersten Frau, wird. Þóra wird auf wunderliche Weise Besitzerin eines Drachens, der wohl die Goldschätze, auf denen er liegt, zu mehren weiß, aber mehr und mehr zur Bedrohung wie Belastung für den ganzen Königshof wird. Als reizenden, winzigen lyngormr erhält sie ihn als Geschenk von ihrem Vater, sie bettet ihn auf Gold, verbirgt ihn in einer Schachtel, die der Drache indes rasch sprengt. Schließlich wächst er ins Monströse.³⁴⁶ Wie die Midgard-Schlange umschlingt er schließlich der Königstochter ,Zwinger‘, ihr Frauengemach, eine merkwürdig befestigte Wohnstatt,
betrachtet wurde und entsprechend namengebend wurde: Der griechische Name für Helm, κυνέη („Hundsfell[kappe]“), ebenso die lateinische Bezeichnung für Helm, galea (griech. γαλῆ „Wiesel“), wird schwerlich etwas mit den tatsächlichen Materialeigenschaften des Tierfelles zu tun gehabt haben, etwa eine besondere Undurchdringlichkeit oder Zähigkeit, vielmehr geht es um die magisch mythischen Eigenschaften eines wirkmächtigen Tiers. Bei Homer (Il. 10, 335, 458) erscheinen beide Konzepte kombiniert und damit gewissermaßen potenziert: κτιδέη κυνέη (siehe griech. ἴκτις „Marder“) (vgl. Alföldi 1974, S. 38). In diesem Zusammenhang verweist Alfödi auf den nächstgrößeren Verwandten des Marders, den Vielfraß (galo galo), berüchtigt für seine Unersättlichkeit und Blutgier, der es auch mit großen Beutetieren, mit Elchen oder Hirschen aufnehmen kann. In der Mythologie der nördlichen altaischen Bevölkerung habe dieser eine große Rolle gespielt. Das Motiv der Verfolgung und Überwältigung einer Hirsch- oder Elenkuh durch den Vielfraß erscheine hier in einer Reihe von (kosmogonischen) Gründungssagen (vgl. Alföldi 1974, S. 38–41), ja die „Ursprungstradition der Hunnen selbst“ (Alföldi 1974, S. 40) referiere darauf. Auch in der indoiranischen Ikonographie finde sich die Verfolgung eines Cerviden durch ein wieselartiges Tier (vgl. Alföldi 1974, S. 41). Eine auffallend ähnliche Präparierung für einen bevorstehenden Monsterkampf nimmt der so genannte ‚namenlose Sohn‘ des Narten-Führers Uryzmæg nicht an sich selbst, sondern an seinem Pferd vor: „Da wusch der Junge sein Pferd, bestrich es mit Leim und ließ es sich im Steinschutt wälzen. Danach bestrich er es noch einmal und ließ es sich diesmal im Sand des Strandes wälzen. Es stand wieder auf, einem Berg gleich“ (Sikojev [Übers.] 1985, S. 48). Auch die so enigmatischen Gruben im Kampf Sigurds gegen den Drachen Fáfnir (Vǫlsunga saga, Kap. 18) erscheinen im Weiteren, hier noch logisch in den Erzählfortgang eingefügt (wo die germanische Heldensaga schon heftig mit deren Neuaktualisierung ringt): Es gehört zu den überlebensnotwendigen Vorbereitungen in einer wahrhaft endzeitlich anmutenden Auseinandersetzung. Der Knabe (der sich im späteren Erzählverlauf als Uryzmægs verstorbener (!) Sohn zu erkennen gibt) rät, zwei Gruben auszuheben zum Schutz vor dem Feuersturm, den die kämpfenden Pferde auslösen. Dennoch verliert der Alte ein Stück seines Bartes (das ihm wegen seines ,Vorwitzes‘ versengt wird) und zu guter Letzt gar seine Schädeldecke. Bereits Herodot (IV, 64 f.) weiß zu berichten, wie die Skythen nach der Schlacht den gefallenen gegnerischen Kriegern die Schädeldecke abgesägt und daraus Trinkgefäße gefertigt hätten (vgl. Sikojev 1985, S. 49, Anm.). Im Bartverlust lässt sich gleichermaßen der als typisch skythisch beschriebene Brauch der Skalpierung des besiegten toten Gegners (vgl. Riedlberger 1901, S. 53) vermuten. An dem Alten wird also Leichenfledderei vollzogen, die sein Sohn auf wunderbare Weise rückgängig zu machen weiß. Siehe das persische Nationalepos Schah Nameh des Abū’l-Qāsim Firdausī (940 – 1020): Hier erscheint das identische Motiv des winzigen Drachenwurms, der zunächst von einer Jungfrau in einem Kästchen verborgen und aufgepäppelt wird, und ebenso, schließlich übermächtig geworden, vom Helden Ardschir (Ardašīr) mit List getötet werden muss (vgl. Liebrecht 1879, S. 67– 72).
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die der Vater eigens für sie anfertigen ließ und wohin er täglich allerlei Aufmerksamkeiten zu bringen gewohnt war.³⁴⁷ Der Art gerade dieser Beziehung zwischen Vater und Tochter wurde dabei freilich noch weniger Interesse geschenkt als dem Verhältnis der Jungfrau zu ihrem seltsamen Haustier. Ohnehin lag der Fokus eher auf der Heldentat als solcher, den Befindlichkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten des Helden („hero versus the dragon“).³⁴⁸ Immerhin Carolyne Larrington unternimmt den Versuch, aus dieser (männerorientierten) Perspektive herauszutreten und diese eigenartige Allianz entwicklungs- bzw. sexualpsychologisch zu interpretieren. Sie kommt zum Ergebnis, der Drache fungiere hier als eine Art Keuschheitsschutz einer adoleszenten, jungen Frau, deren Transformation zur Ehefrau und Mutter letztendlich durch den Drachenkämpfer ebenso initiiert wie abgeschlossen werde³⁴⁹: Þóra’s oscillation between attraction and repulsion, though adequately motivated by Ragnarr’s unusual appearance, emphasises that she too is undergoing a rite of passage, just as much as the hero of the dragon-fight, making the transition from the protected, self-sufficient condition of girlhood to the desiring socially mature state of female adult-hood.³⁵⁰
Diese Ebene der Interpretationsmöglichkeit, die Überwindung des Drachen als weibliches Initiationserlebnis, soll nicht ganz in Abrede gestellt werden, aber die meisten Ungereimtheiten bleiben: Interessant genug findet der Drachenkampf, obschon mitten auf dem Hofgelände, unbemerkt statt, alle Bewohner schlafen, lediglich Þóra erwacht vom Getöse, registriert die wunderliche, ja monströse Erscheinung des Ragnarr in seiner verpichten Hose ebenso wie den Tod des Drachens – und fällt ihrerseits sogleich wieder in Schlaf: „Whether from the shock of seeing this monster-like teenager or not, she then goes into her hut and promptly falls asleep (ok snýr hún inn í skemmuna ok sofnar).“³⁵¹ So oder so eine denkbar eigenartige, zumindest unerwartete Reaktion einem Befreier gegenüber. Nun hat es mit den Ehefrauen Ragnars durchaus eine besondere Bewandtnis, eine Verbindung zwischen diesen, Þóra und Áslaug sowie einer gewissen walkürenähnlichen Lathgertha, von der indes nur Saxo zu berichten weiß (gleichermaßen aber Áslaug nicht zu kennen scheint), ist lange erwogen worden. Die Schlangen-Motivik ist wohl mit allen auf den unterschiedlichsten symbolischen Ebenen verknüpft. Áslaug gebiert als fünften Sohn Sigurðr ormr-í-auga, eben jenen letzten, perfekten Sohn mit
Hann lét gera henni eina skemmu skammt frá hǫll konungs, ok um þá skemmu var skíðgarðr. Þat lagði jarl í vanda sinn at senda dóttur sinni hvern dag nokkut til skemmtanar, en þat mælti hann, at því mundi hann fram halda (Kap. 2). („[E]r ließ ihr einen Zwinger bauen, nicht fern von dem Königs-Saale, und dieser Zwinger war mit einem Zaun umgeben. Der Jarl hatte die Gewohnheit, seiner Tochter jeden Tag etwas zur Ergötzung zu senden, und er gelobte, solches fortwährend zu thun“ [Übers. von der Hagen 1828, S. 4]). Larrington 2010, S. 58. Vgl. Larrington 2010, S. 58 f. Larrington 2010, S. 60. Ármann Jakobsson 2010, S. 40.
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dem untrüglichen Zeichen der Völsungen, dem ‚Schlangenblickʻ im Auge. Dennoch sieht Larrington diese Motivik grundsätzlich ganz verschieden in den beiden nordischen Frauengestalten angelegt: „The serpent symbolism activated in the context of Áslaug’s role in the saga is quite different from the dragon’s role as guardian of Þóra’s chastity and symbol of danger“.³⁵² Aber betrachten wir uns die Beschreibung des entzückenden kleinen Drachen einmal näher, wie er zunächst Teil der notwendigen, täglichen, offenbar ritualisierten Praxis des Vaters der Þóra gegenüber wird, um sie, ja, wir müssen es annehmen, bei guter Laune zu halten.Wird nicht ganz Ähnliches von der kleinen Sigurðr-Tochter berichtet? Ihr Ziehvater Heimir verbirgt Áslaug in einem hölzernen Kästchen (hier mit der Begründung, um sie vor Verfolgung zu schützen) – in einem Harfenkasten! Und auf eben jener Harfe pflegt der Ziehvater zu spielen, um das Kind zu beruhigen, wenn es zu weinen droht, auch seien ihm aus diesem Grund Gold und schöne Kleider hineingegeben worden, als Nahrung habe es nichts anderes als Knoblauch erhalten – ein merkwürdiges Arrangement, aber doch ausdrücklich deshalb, um das Mädchen in ihrem hölzernen Gefängnis, das es auf keinen Fall verlassen durfte, in geneigter Stimmung zu halten und ihr die Traurigkeit zu vertreiben. Aber Þóra wirkt ja selbst wie eingesperrt in ihrem ‚Häuschenʻ mit dem hohen Palisadenzaun darum, das sie selbst offenbar kaum verlässt und in dem sie, dermaßen begütigt und beruhigt, nur schläfrig ihre Tage verbringt. So mochte auf der reinen Handlungsebene ein Drache durch die bizarre Ausrüstung Ragnars besiegt worden sein, er bewirkt aber auf identische Weise die ‚schockartigeʻ Machtlosigkeit der Þóra. Der Drache ist damit in einem mythischen (und weniger psychologischen) Sinn das Alter Ego, die eigentliche Identität der Þóra ‒ wie der Áslaug. Er lässt sich schließlich durch keine noch so großen Goldgaben mehr besänftigen (auch wenn er diese in der Erzählung vorgeblich selbst produziert), so wie auch der gewiefteste, in altnordischen Kontexten stets zauberkundige Harfen-Spieler das Drachenkind im Kasten (auch hier nur vorläufig befriedet mit Gold und kostbaren Kleidern) nicht mehr halten kann.³⁵³ Es wird mit Lauch ‚gestärktʻ, die potenteste magische Kraftspeise, die der Norden kennt, aber gerade deshalb keineswegs nur für die Lebenden, sondern auch für die Bedürftigen par excellence, die Toten. Man wird hier auch an die nachweislich fäulnishemmende Wirkung des Lauchs denken müssen. Leichenteile werden dadurch von der Verwesung abgehalten, seien es die abgeschlagenen Füße des Gǫngu Hrólfr, der Pferdepenis Vǫlsi oder der Kopf des Mímir.³⁵⁴ Der arabische Gesandte Ibn Faḍlān
Larrington 2010, S. 60. Im nordischen Kontext erscheint das Motiv des Harfenkastens in unterschiedlichen Variationen, etwa wird die Harfe an Land geschwemmt, bereits mit der kleinen Áslaugr als Insassin. Diese Motivverbindung erinnert an die Aussetzung der Danae mit ihrem Söhnchen Perseus. Sie sind beide Gefangene in einer hölzernen Kiste, hilflos sind sie darin der stürmischen See ausgeliefert. Zur Beruhigung singt sie dem Kind ein gleichermaßen mit starken Todesassoziationen versehenes Schlaflied vor: „Danaë’s lullaby to Baby Perseus evokes images of corpses, coffins, and death“ (Pache 2004, S. 110). Vgl. Heizmann 1992, S. 380 f.
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beschreibt ausdrücklich in seinem Reisebericht zu den Varägern Zwiebeln (allium) als Opfergaben an Holzidole wie als Gaben an die Toten.³⁵⁵ Die Harfe bzw. die Verbindung Heimirs als Harfenspieler mit dem Versteck in der Harfe ist jedenfalls kaum ursprünglich. McTurk mutmaßt, dass dieses Element („the idea of a musical instrument being used as a portable hiding-place for a living being“)³⁵⁶ aus der Tristrams saga ok Ísöndar ³⁵⁷ stammt, der norwegischen Übersetzung der Tristan-Sage des Thomas de Bretagne (um 1170), das sich wiederum mit einem Mosesmotiv, jener so typischen Aussetzungsgeschichte von Gründergestalten verbunden habe.³⁵⁸ Dass diese Verbindungen aber bei weitem tiefer gehen müssen, zeigt ein nun durchaus einschlägiges Detail der Tristansage: der Motivkomplex des ‚Wunderhündchensʻ Petitcreiu, einer winzigen Kreatur nach Art eines Schoßhündchen, das dessen ursprünglichem Besitzer Herzog Gilan so viel wert ist wie sein halbes Reich und seine schöne Schwester dazu.³⁵⁹ Ausdrücklich stammt es nicht von dieser Welt, sondern ist daz vremede werc von Avalûn (Tristan, V. 15838),³⁶⁰ also aus Avalon. Das Hauptkennzeichen dieses Wundertiers ist dessen paradoxe Widersprüchlichkeit, dessen unbeschreibbare Kategorienlosigkeit, die sich zuvorderst in seiner Fellbeschaffenheit zeigt: In allen und doch keiner Farbe changiert es, es oszilliert, regenbogengleich, mit einem gleichsam fantastischen Effekt: Es strahlt eine betäubende, betörende Wirkung auf Tristan aus und macht seinen tiefsten Kummer, seine Rastlosigkeit, sein Sehnen nach Isolde zumindest für kurze Zeit vergessen. Diese Betörung schafft das Hündchen indes nicht nur durch seine buchstäblich unfassbare, visuelle Ausstrahlung, sondern ebenso durch eine akustische. Ein Glöckchen um seinen Hals verstärkt den magischen Effekt des heilsamen Vergessens. Und eben dieses Hündchen sendet Tristan, seinerseits ein begnadeter Harfenspieler und Sänger – ausgerechnet in einem Harfenkasten verborgen – seiner schmachtenden Geliebten. Aber auch hier ist die Wirkung begrenzt. Isolde selbst, durchaus unmutig über den nachgerade betrügerischen Versuch der Gefühlsmanipulation, zerstört den Effekt eigenmächtig und setzt dem ein abruptes und unwiderrufliches Ende. Sie reißt Petitcreiu das Glöckchen vom Hals und beraubt es damit seiner Zauberkraft. Nach Kropik könne das Hündchen etwa verstanden werden als Marker literarischer Künstlichkeit, ein „mise en abyme“, eine „verkleinerte Abbildung der Dichtung“ selbst, die Gottfried damit gezielt offenlege und reflektiere.³⁶¹ Wichtiger für vorliegenden Zusammenhang ist indes ihr Hinweis, es wirke gleichsam wie ein „sakrales Objekt“, das seinerseits in einem Schrein, in einem huselîn verborgen werde.³⁶² Ebenso erscheine in Chrétiens Beschreibung des
Vgl. Heizmann 2007b, S. 970. McTurk 1991, S. 185. Tristrams saga ok Ísöndar (Jorgensen [Hg.] 1999). Vgl. McTurk 1991, S. 185. Vgl. Philipowski 1998, S. 32. Gottfried von Straßburg: Tristan (Krohn [Hg.] 1980). Vgl. Kropik 2018, S. 315. Vgl. Kropik 2018, S. 316.
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Krönungsmantels des Erec der Pelz eines Tieres mit der nämlichen Fellqualität. Es ist anzunehmen von einem hermelinartigen Tier, aber auch hier wohl kaum als „missgestaltet“ (contrefetes betes, V. 6732– 39) zu verstehen,³⁶³ vielmehr als ‚täuschend schimmerndʻ, ‚irisierendʻ. Nun gibt der norwegische Übersetzer, Bruder Robert (dessen Name gegebenenfalls auf angelsächsische Herkunft verweisen könnte),³⁶⁴ dort wo die Textvorlage Gottfrieds von Avalon als Herkunftsort des Hündchens spricht, den Begriff mit álfheimar wieder, was gewiss eine korrekte nordische Wiedergabe der keltischen Totenoder Ahnenweltvorstellung darstellt. Von besonderem Interesse ist indes, dass Bruder Robert den Besitzer Gilan in Pólisríki (Kap. 61) verortet, also in Polen, und einige Zeilen weiter expressis verbis auch die Herkunft des Hundes: Hann kom ór ey þeiri, er Pólin heitir („Er kam von der Insel, die Polin heißt“).³⁶⁵ Der norwegische Mönch sieht also Avalûn, álfheimar und eine mysteriöse Insel Pólin als Synonyme. Der Ort jener kultischen Umtriebe der Marderleute, der sverðmerðlingar, ist die Insel Sámsey (die bis dato meist im dänischen Kattegatt vermutet wurde). Spätestens jetzt spricht allerdings einiges mehr dafür, dass es sich dabei um das baltische Samland handelt, in dem wir bereits an anderer Stelle ein mythisches Analogon zur walisischen ‚Schilfstadt‘ Avalon vermutet haben, ein Jenseitsort, ein Ort der Toten. Die synir Loðbrókar errichten hier einen Holzmann (oder Holzfrau) als letzte und endgültige Transformationsstufe der Ahnen. Die rituellen Aufwartungen, der unmittelbare Kontakt mit den Toten, das Herstellen und Arrangieren ihrer letzten, endgültigen Hinterlassenschaften konnte nur (wahrscheinlich ausschließlich) eine eigens dafür präparierte Gruppe von Kultspezialisten ausführen. Im Mittelpunkt der Tristan-Forschung mag die literarische Bearbeitung des Schicksals weltlicher Liebender stehen, die Art der Bewältigung ihres Liebesleids, ihre qualvollen Erinnerungen, ihr letztendliches Scheitern. Aber es ist wohl nicht nur die berühmteste Liebesbeziehung des europäischen Mittelalters – sie ist zugleich die ungewöhnlichste. Die Gründe dafür könnten sich hier andeuten: Funerale, sepulkrale Elemente, einem ursprünglich paganen Bestattungskontext oder Ahnenpflege entnommen, wurden aktualisiert und neu arrangiert in einer diesseitigen Liebesgeschichte. Ritualkonzepte einer Totenhochzeit hätten auf diese Weise (wie sich gezeigt hat, nicht zum ersten Mal) den Weg in die Literatur gefunden, wären literarisiert worden. Aber kaum einmal gelingt das ohne Brüche. Eine genauere Betrachtung dieses Motivkomplexes sprengt den Rahmen vorliegender Untersuchung bei weitem, so kann nur auf die auffallende Häufigkeit, die strukturale Ubiquität sepulkraler Assoziationen im Tristankomplex verwiesen werden. Die ‚Marderhaftigkeitʻ als mythisches wie rituelles Wissenskonzept zur Erzeugung von trügerischer Fiktion (narrativ umgesetzt in Gestalt des ,Marder-Hündchens‘ Petitcreiu) ist nur ein Element
Vgl. Kropik 2018, S. 316, Anm. 385. Vgl. Uecker (Hg.) 2008, S. 8. Uecker (Hg.) 2008, S. 85.
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daraus. Ob im Kult oder in der mittelalterlichen Liebesgeschichte, es lindert die unstillbare Traurigkeit, den existenziellen Mangel, die Frustration der Toten oder der Todgeweihten und macht einen Umgang zumindest auf Zeit möglich. Denn kein Zweifel, die Ragnarr-Frauen sind Drachen-Frauen, merkwürdige Mischwesen, in letzter Konsequenz Bewohnerinnen einer Jenseitswelt, Ahnfrauen, die Toten selbst. Nora Chadwick sieht die Þóra-Gestalt der Ragnars saga entsprechend identisch mit der berühmten Halogerahnfrau Þorgerðr Hǫlgabruðr. Diese wiederum sei gleichzustellen mit eben jener genderuntypischen, kampferprobten Lathgertha, die (ausschließlich) Saxo zur ersten Ehefrau Ragnars macht.³⁶⁶ Die mystische Union, die friedliche Koexistenz mit der Ahnin wird also auch hier im Bild der Totenhochzeit gefasst, die Beherrschbarkeit bis hin zur Abweisung der (allzu) fordernden, unersättlichen im Drachenkampf. Für die Überwindung der Áslaugr (und der Lathgertha) wäre dies dann zusammengeschmolzen auf ein kurzes Scharmützel mit offenbar zunächst durchaus diesseitigen, realen Tierwesen, Bären, Hunden.³⁶⁷ Es sind nicht zufällig die Tiere, die mit dem Berserker-Komplex am wesenhaftesten und ursprünglichsten verbunden sind.
12.3 Der Linkshänder Es würde sich ungewöhnlich ausnehmen, wenn eine nicht seltene Bezeichnung Lokis, Loptr (gemeinhin als ,der Luftigeʻ verstanden), als Einziges von diesem sehr fest etablierten negativen Bedeutungsspektrum eine Ausnahme machen würde. Loki fliegt wohl, was bedenkenswert ist, aber er erscheint nicht als Luftgott in der nordischen Mythologie, auch nicht als Blitzgott (< leiptr „Blitz“) so wenig wie als Feuergott. Aufgrund der vollkommenen Abwesenheit einer kultischen Verehrung des Gottes Loki/Loptr bei gleichzeitiger Beliebtheit und Häufigkeit des Namens im alltäglichen Umfeld ist hier zunächst wohl an eine volksetymologische Angleichung zu denken, an den Anschluss eines nicht mehr verständlichen Konzepts an mittelalterliche Namenskonventionen. Schließlich hat es selbst der in jeder Hinsicht aufgewertete Odin kaum in die Namensgebung seiner Anhänger geschafft (ganz im Gegensatz
Siehe Chadwick 1950, S. 414. Chadwick leitet den Namen von Hlað(a)-Gerðr ab. Saxo nennt ihr Zuhause Gaulardalr, das Snorri wiederum als Heim von Jarl Hákons Ehefrau Þóra kennt. In der Ragnars saga (Kap. 4) ist es ein bissiger Hund, der Áslaugs/Krákas (tödlich gefährliche) Anderweltlichkeit als ganz abgeschwächte Reminiszenz noch deutlich macht, bei Saxo Grammaticus ein Bär und ein Hund, angebunden vor der ‚Kammerʻ der spröden Jungfrau. Siehe Gest.Dan. 9.4: Illa, legatione tacite spreta, consensum simulat. Cumque datis fallaciter responsis anhelanti proco potiendi voti fiduciam attulisset, adiectum urso canem in aedis suae vestibulo religari praecepit, contra omne amatoris studium per obiectas beluas proprium tutatura conclave. („Sie verachtete zwar im Herzen die Werbung, stimmte aber zum Scheine zu. Als sie durch ihre trugvolle Antwort den verliebten Freier hatte glauben lassen, dass sein Wunsch erfüllt würde, da liess sie im Vorhofe ihres Palastes einen Bären mit einem Hunde zusammen anbinden, um durch diese wilden Tiere ihr jungfräuliches Gemach gegen alles Ungestüm des Liebhabers zu schützen“).
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zu Thor). Nicht anders dürfte es dem dezidierten Unheilsbringer und Schadenstifter Loki ergangen sein.Vielleicht also sollten unsere Überlegungen von einer Parallelform des Namens Loptr ihren Ausgang nehmen: Loft. Aus den Mittelenglischen sind eine Reihe sehr ähnlicher Wörter bekannt, leoft, luft, lift(e), lyft(e), fries. (niederl.) luf oder loof, niederdeutsch luchter, lucht, luft, alles Varianten von engl. left „links“.³⁶⁸ Die tief pejorativen Konnotationen der Linkshändigkeit und damit der linken Seite überhaupt als die notorisch ungünstige, schadenbringende, ja widernatürliche steht außer Frage, sie lassen sich (wie die meisten embodiments) kulturübergreifend vergleichen. Überall übersteigt das Bedeutungsspektrum die konkrete Körperlichkeit des ,Linkischenʻ, ,Schwachenʻ,³⁶⁹ ,Gekrümmtenʻ,³⁷⁰ stets verweist die Linksseitigkeit auch auf das Verkehrte, Pervertierte, Unnormale, Abzuweisende im übertragenen Sinne. A wikked luft bedeutet „an evil person“.³⁷¹ Und stets können Handlungen, die auf diese Weise ausgeführt werden (wiederum unabhängig davon, ob temporär, gezielt oder qua Anlage) die eigentliche, die richtige, die bestehende Wirklichkeit und Ordnung ins Wanken bringen, ins Gegenteil verkehren (siehe etwa idiomatisch blessing with the [left] honde, „a curse“; loken (blishen) over [left] shulder, „to look with ill fortune, see misfortune“).³⁷² Das semantische Spektrum der Linkshändigkeit geht damit vollkommen auf im Bedeutungsfeld der schadenbringenden Asymmetrie und Asynchronie, vieles spricht also dafür, dass mit Loptr ursprünglich gar nicht ,der Luftigeʻ gemeint ist, vielmehr ,der Linkeʻ mit all seinen magisch religiösen Konnotationen.³⁷³
Das OED nimmt ein (wenn auch unbelegtes) ae. *lyft an, weitere Verbindungen werden zum westfries. leaf „worn out“ vermutet, nordfries. (Sylt) -lof (siehe aurlof „weary, tired“), mittelniederl. geloof, gelōve „tired, exhausted“. Schließlich zu mittelniederl., niederl. lubben, mittelniederd. lübben „to castrate“: „These proposals are based on the assumption that the sense ‚leftʻ may have developed from a sense ‚weak, uselessʻ“, die linke Hand also grundsätzlich als die schwächere, unnützere betrachtet worden sei (ähnlich vielleicht ae. lyft-ādl „paralysis“) (vgl. OED online, „left, adj.1, n., and adv.“). Siehe Kluge/Seebold 2002, „link“: Eine ursprüngliche Bedeutung sei wohl „ungeschickt“; generell sei festzustellen, dass Bezeichnungen für ‚linksʻ „immer wieder aus diesem Bedeutungsbereich erneuert“ würden. Siehe auch lat. laevus „links“, griech. λαιός „link“, altbulg. lěvь „link“ (ursprünglich „gekrümmt“) (Walde/Hofm. 1965 – 1972, „laevus“). Siehe Lewis 1952– 2001, „lift, adj“: „Wronge was a wikked luft [vr. lift] and wrouȝte moche sorwe“ oder: „Hys wyf, that cursyd lyfte, Brewed the childys deth that nyght.“ Lewis 1952– 2001, „lift, adj“. Diese ursprüngliche Vorstellung könnte auch einem (weiblichen) Eigennamen der Gríms saga loðinkinna (Rafn [Hg.] 1829b-1830) zu Grunde liegen. Hier macht sich der Held Grímr auf die Suche nach seiner verschwundenen Braut mit dem eigenartigen Namen Lopthæna. Von ihrer bösen Sami-Stiefmutter verzaubert, muss sie in abstoßend hässlicher Trollgestalt ausharren, bis sie schließlich von Grímr erlöst wird durch einen (von Seiten der Frau erzwungenen) Beischlaf. Die ausführliche Genealogie, die sich an den Schluss der Saga anschließt, gibt Hinweis darauf, dass hier die Thematik von Abstammung und Ursprung bedeutsam ist. Die augenfällige Devianz des Elternpaares markiert diese als ‚Anfängerʻ. Wenn auch die merkwürdig einseitige Gesichtsbehaarung des männlichen Helden noch als natürlich, von Geburt an, erklärt wird, so ist das Liminale, Monströse der Heldin direktes Ergebnis eines bösen Schadenszaubers. Siehe aber eine ähnliche Art der Körperbeharrung einer der Lusignan-
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In den Gründungsmythen dieser Welt ist der Linkshänder ein häufiger Gast. Wir wollen fürs Nächste noch einmal in die römische Gründerzeit zurückkehren: Erinnert sei an die Heldentat des hinkenden Horatius Cocles, seine Verteidigung der jungen Republik gegen ein übermächtiges etruskisches Heer. Aber dieser Tat folgt nun eine weitere: Das Etruskerheer beginnt mit der Belagerung der Stadt, und dies ist die Stunde des Gaius Mucius Scaevola, der eine in mancher Hinsicht noch wunderlichere Tat vollbringt, eben jene Heldentat, die auf merkwürdige Weise an die Aktion Týrs, seine Hand als Pfand im Rachen des Fenriswolfs, erinnern muss: Mucius dringt unerkannt in das Lager der Etrusker ein mit der Absicht, den König zu ermorden, aber er tötet (aufgrund einer Verwechslung) nur den Sekretär des Porsenna. Er wird gefangen genommen, und um die eigene wie Roms moralische wie militärische Überlegenheit zu demonstrieren, wie es heißt, legt er seine rechte Hand ins Feuer und lässt sie vor den Augen aller verbrennen. Fortan ist er Scaevola der ,Linkshänderʻ. Die Etrusker zeigen sich tief beeindruckt und sind nun bereit zu Friedensverhandlungen. Eine rätselhafte Aktion, als militärische Strategie jedenfalls wertlos, trotzdem ist eine wie auch immer geartete Ähnlichkeit zum Týrmythos immer wieder erwogen worden. Von See möchte die römische Episode als typische Heldensage sehen, weder Mythisches noch „Juristisches“³⁷⁴ sei hier im Spiel, keine Rede von einem Eid oder einem Pfand, auch wenn Dionys von Halikarnass in seiner Version der Erzählung von einem Meineid berichte mit dem Mucius den Etruskerkönig betrogen habe. Aber gerade hier sei von einem Verlust der Hand gar nicht die Rede (siehe Ant. Rom.V, 28).³⁷⁵ Und hätte dies nicht bedeutet, dass, wenn dieser vor aller Augen die Strafe für den Meineid, den Verlust der Hand auf sich genommen hätte, er öffentlich seinen Betrug demonstriert hätte?³⁷⁶ Und so fragt von See zu Recht: „Wozu dann überhaupt der Eid?“³⁷⁷ Logische Brüche und Unstimmigkeiten allerorten, sie passen nicht zu einer Heldensage – eher zu einer nicht ganz geglückten Umformung zu einer Heldensage. Aber auch Dumézil, der ganz im Gegenteil im besonderen Maße die Vergleichbarkeit des römischen Mythos zum nordischen Týrmythos hervorhebt (und in diesem Punkt ist ihm unbedingt zuzustimmen), hat seine liebe Not damit, den sinistren, betrügerischen Aspekt beider Aktionen einschließlich der daraus resultierenden schmählichen Körperdevianz positiv darzustellen. Und so wird aus dem nordischen
Sprösslinge. Er besitzt einen „Wolfshaarfleck“ (Kellner 2004, S. 443). In diesem Umfeld von Zauberei und Gestaltenwandel werden wir dann kaum der Erklärung folgen wollen (und auch von de Vries als sehr unsicher abgetan): „Kosewort für Mädchen“, „Huhn, das sich im Schlafgemach herumtreibt“ (an. etym. Wb 1962, „Lopthæna“), vielmehr wird darin eine ähnliche gedankliche Konzeption wie im Namen des Hühner-Thorir der Hœnsa-Þóris saga gesehen werden müssen. So könnte im Erstglied Loptdas Linke, Verkehrte, Unheilbringende vermutet werden, im Zweitglied g. *hanhō, ae. hō(h) „Ferse, Wade“, also die ‚Linksfüßigeʻ, bzw. die ‚Pervertierteʻ (als Ergebnis einer solchen ‚linksfüßigenʻ Zauberhandlung). von See 1999b, S. 131. Cary (Hg.) 1953. Vgl. von See 1999b, S. 131 f. von See 1999b, S. 132.
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Betrug, aus einem Meineid ein typischer, charakteristischer, legitimierender Akt des indogermanischen ‚Rechtsgottesʻ Týr, „precisely of the kind appropriate to a juristgod.“³⁷⁸ Von See sieht darin indes am wenigsten uralte indogermanische Rechtsvorstellungen gefasst, das Motiv des geöffneten Rachens des Fenriswolfs und einer Hand, die darin platziert werde, habe seinen Ursprung vielmehr in einem bekannten volkstümlichen, literarischen Motiv des Mittelalters: Zur Erprobung der Wahrheit eines Eides musste ein Eidableister seine Hand in eine Götterstatue oder in eine Steinplatte in Gestalt eines Gesichtes mit ausgemeißeltem Mund stecken, die bis heute berühmte bocca della verità („Mund der Wahrheit“).³⁷⁹ Später wurde die Überlieferung (wahrscheinlich eine sehr alte römische Stadtsage) erweitert um das populäre Motiv der Keuschheitsprobe³⁸⁰: Ehefrauen seien dieser Praxis ausgesetzt worden, wenn sie des Ehebruchs verdächtigt wurden. War diese unschuldig, blieb die Hand unversehrt. Andernfalls drohte die Verstümmelung.³⁸¹ Das Motiv erscheint hier eher anekdotenhaft, amüsant (insbesondere steht hier im Mittelpunkt die trickreiche Umgehung dieser drohenden Konsequenzen). Aber wir kennen ähnliche Praktiken aus dem Mittelalter als gültigen Rechtsakt, als Gottesurteil. Eine übergeordnete Macht, Gott selbst, verbürgt sich, die Meineidigen zu Fall zu bringen.³⁸² Auch von Sees Hinweis auf die biblischen Endzeitmonster Behemoth und Leviathan, die im Buch Hiob in ähnlichem Zusammenhang erscheinen, ist bedenkenswert. So heißt es dort: Niemand wäre wohl so vermessen, eines dieser Ungeheuer fangen zu wollen, ihm zwischen die Zähne greifen zu wollen,³⁸³ natürlich mit der Implikation, dass dies das Ende, den sicheren Tod bedeuten würde (zumindest aber den Verlust der Hand); ein Unmöglichkeitsmotiv, das besonders häufig in magischen Sprechakten, in Zaubersprüchen anzutreffen ist. Die Unwahrscheinlichkeit des einen bedingt, ,erzwingtʻ die Unwahrscheinlichkeit des anderen als erwünschten magischen Effekt. Unmöglichkeitsmotive dieser Art markieren Grenzsituationen aller Art, Anfangszeiten, Endzeiten, Kippmomente, dann nämlich, wenn das, was bisher für unmöglich, undenkbar gehalten wurde, sich ereignet oder getan wird.
„It is a serious mark of the legend’s authenticity, it is scarcely necessary for me to stress, that Tyr’s action is precisely of the kind appropriate to a jurist-god. An entrapping pact must be concluded with the enemy, one that entails a pledge forfeit in advance, and Tyr, alone among all the Ases, offers that pledge. The enemy is foolish enough to accept the contractual risk of an exchange in which the mere mutilation of one god is offered as compensation for utter defeat, Tyr, the heroic legal expert, seizes his opportunity. And with his sacrifice he not only procures the salvation of the gods but also regularizes it: he renders legal that which, without him, would have been pure fraud“ (Dumézil 1988 [1940], S. 142). Vgl. von See 1999b, S. 132. Vgl. Riessner und Ranke 1979, S. 543 f. Romreisende können sich übrigens bis heute diesem „antiken Lügendetektor“ (Sehenswürdigkeiten online: Städte-Reiseführer [Rast]) aussetzen: Das Steinrelief befindet sich jetzt in der Vorhalle der Kirche Santa Maria in Cosmedin. Vgl. von See 1999b, S. 132. Vgl. Steinbauer 2014, S. 419. Vgl. von See 1999b, S. 134 f.
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In diesem Zusammenhang ist der zwingende magische Umkehrschluss dieses Denkmodells am bedeutsamsten: Einarmige, Linkshänder sind Lügner und Meineidige, sie gehören in die Kategorie des mythischen Abweichlers. Damit sind sie, zumal magisches Denken stets handlungspraktisch orientiert ist, prädestiniert, treulose Taten, unerhörte Grenzüberschreitungen, Vertragsbrüche auszuführen. Und so muss auch von Sees Resümee in jedem Punkt widersprochen werden: Da die Einäugigkeit des Horatius und die Einhändigkeit des Mucius Scaevola in keinem strukturellen Zusammenhang zueinander stehen, gibt es keinen Anlaß, allein von irgendeiner mythischen Struktur her einen Zusammenhang zwischen der Einäugigkeit Odins und der Einhändigkeit Týrs vorauszusetzen. R. I. Page erklärt richtig, daß Begründung und Funktion des Verlustes von Auge und Hand auch im altnordischen Mythos, in der Odin- und in der Týr-Episode, gar nicht parallelisierbar seien, denn 1. dient nur der Verlust des Auges dem Erwerb magischer Fähigkeiten, und 2. schwächt nur der Verlust des Armes die Kampfkraft der Götter bei ihrem letzten Kampf […].³⁸⁴
Noch mehr als bei der so genannten ersten Heldentat scheint offenkundig, dass der Wert der Erzählung zunächst einmal in der Tradierung des Motivs als solches liegt: die Zerstörung einer herrschenden Ordnung als Voraussetzung für einen neuen Anfang. Der Einarmige ist der Rechtsbrecher, der Entzweier, der Zerstörer dieser Ordnung, seine prototypische Aktion der Tyrannenmord. Auch die Bibel kennt den linkshändigen Attentäter. Im Buch der Richter (3, 17; 3, 22) wird vom feisten Tyrannen Eglon, dem König von Moab berichtet, dem die Israeliten 18 Jahre lang tributpflichtig sein mussten. Die Rettung erfolgte in Gestalt des Ehud, ’ṭr jad jāmîn (Ri 3, 15) („an der rechten Hand gelähmt“), also „Linkshänder“, der den Tyrannen mit einem Dolch (den er von rechts ziehen konnte) ermordete. Die Bibelerzählung ist ihrerseits sehr heterogen konstruiert, mit „vielen Unebenheiten und Merkwürdigkeiten“,³⁸⁵ und wahrscheinlich im Lauf der Zeit mit unterhaltsamen Elementen angereichert worden. Insbesondere auffallend sind die (sonst seltenen) Skatologien. Die Diener des Tyrannen wähnen ihren Herrn beim Stuhlgang, weswegen das Attentat unbemerkt gelingen kann. Auch den Fluchtweg selbst interpretieren manche, wenn auch sehr unsicher, als Toilettenschacht, als Kloake, durch den sich Ehud in Sicherheit gebracht habe.³⁸⁶ Aber vielleicht müssen darin tatsächlich weniger humorvolle Elemente gesehen werden als vielmehr das semantische Feld, in dem die linke Hand häufig genug erscheint. So wird in manchen Kulturen bis heute bei den alltäglichen Verrichtungen der Körperhygiene der linken Hand das Abzuweisende, Auszuscheidende zugewiesen,³⁸⁷ Konnotationen, die bezeichnenderweise auch bei einer weiteren (fiktiven) rö von See 1999b, S. 135. Scherer 2009. Vgl. Scherer 2009. Lincoln möchte in seiner Untersuchung zur Semantik von Linkshändigkeit in der Indogermania dieses alttestamentarische Motiv unbedingt zu den nordischen, keltischen und damit indogermanischen Quellen stellen. Nicht zustimmen werden wir indes Lincoln können, wenn er innerhalb der unterschiedlichen indoeuropäischen Sprachen keine speziell pejorative Assoziation hinsichtlich der
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mischen Gründungsgestalt, wenn auch narrativ kaum mehr plausibel, mitzulaufen scheinen.
12.4 Venus Cloacina Die narrative Bedeutungslosigkeit der römischen Gründungsmythologeme wird vielleicht am deutlichsten in einer dritten Tat, denn das vorgebliche Herrscherpaar (das Dumézil bekanntlich ausschließlich in dieser Formation als indogermanische Souveräne ansetzen möchte) ist im Grunde genommen gar keins. Dumézil übersieht geflissentlich eine dritte Gestalt, die in diesem Zusammenhang mindestens genauso bedeutsam ist: Es ist die Tat einer Heldin, die der jungen Patrizierin Cloelia, die sich nun aber gegen jegliche Vernunft und Sinn (in jedem Falle kontraproduktiv für die sich anschließenden Friedensverhandlungen) verhält. Als Voraussetzung für den Truppenabzug verlangt der König Prosenna von Rom, Geiseln zu stellen. Cloelia ist eine von diesen. Sie flieht allerdings, die Quellen sind sich darüber nicht einig, indem sie sich schwimmend, unter einem Geschosshagel, auf einem Pferd, über den Tiber rettet.³⁸⁸ Ihr Vater scheint über ihre Flucht alles andere als erfreut, realistisch betrachtet ist die Tat ja nichts anderes als ein Vertragsbruch, und schickt sie zurück.³⁸⁹ Nun aber ist Porsenna vom Mut und der Stärke des Mädchens dermaßen beeindruckt, dass er ihr die Freiheit schenkt und ihr gestattet, einen Teil der Geiseln mitzunehmen. Sie wählt Kinder und junge Frauen, die sie sicher über den Fluss zurückführt. Auch diese Tat soll durch die Aufstellung einer Statue geehrt worden sein, in diesem Fall, außergewöhnlich genug für eine Frau, durch ein Reiterstandbild. Und auch diese Erzählung erscheint in vielfachen Variationen und Abwandlungen, was darauf hindeutet, dass über den eigentlichen Ursprung und Kern der Begebenheit den Römern
linken Hand sieht, sie würde doch sogar eher als „better choice“ (griech. aristerós, avest. vairyastāra), „friendlier“ (ahd. winistar, an. vinstri, ae. winestra), „more winning“ (lat. sinister) bezeichnet im Gegensatz zur rechten Hand, die zweifelsohne „more skillful“ sei (vgl. Lincoln 1991a, S. 256, Anm. 21). Hier ist aber wohl ein apotropäischer Euphemismus zu vermuten, das gerade Gefürchtete und/oder Verabscheute wird mit einem positiven Hüllwort vermieden. „The figure of Cloelia is only slightly less resonant than Horatius in Roman culture, to judge by her textual trace: there are about a half dozen extended narratives of her deed, and another dozen or so sparer narratives or mere references. These accounts present numerous variations: she seized a fortuitous opportunity to escape, or actively tricked her guards; she escaped alone, or with other hostages; she crossed the Tiber by day with many observers watching, or invisibly by night; in a few accounts she does not swim but crosses on horseback“ (Roller 2004, S. 30). Die offenkundige ,Unlogikʻ scheint der Popularität dieser Ursprungsgeschichten keinen Abbruch getan zu haben: „I know more than thirty narratives of or references to this deed in Roman literature. Sometimes, as here, there is a full-scale narrative, while other times his [Horatius Cocles, d.Verf.] name is mentioned in passing, with the expectation that the reader can supply, from his preexisting knowledge of the narrative, whatever details are pertinent to the context“ (Roller 2004, S. 2).
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gar nichts mehr bekannt war,³⁹⁰ dass womöglich das ungewöhnliche Reiterinnenstandbild selbst den Ursprung einer aitiologischen Sage begründete. Allerdings hätte die Gedächtnisstatue einer „Heldin des Porsenna-Krieges“³⁹¹ gewiss nicht so in Vergessenheit geraten können, entsprechend wurde gemutmaßt, es müsse sich wohl um die Figur einer Göttin zu Pferde gehandelt haben. Die Venus equestris könnte infrage kommen, eher aber, dem ungewöhnlichen Ort der Errichtung geschuldet, Venus Cloacina (Cluilia), „die Reinigende“.³⁹² Tatsächlich steht diese Göttin in engem Bezug zur Cloaca Maxima, dem ältesten Abwasserkanal in Rom, durch den die sumpfigen Niederungen aus Roms Urzeit erst bewohnbar gemacht werden konnten: The sanctuary’s proximity to the Cloaca is a clear physical connection between the two structures, and the homonymous and linguistic ties between Venus’ epithet, Cloacina, and the word cloaca reveals an undeniable association.³⁹³
Der Beginn des Baus gehört wohl noch in die vorrepublikanische Zeit des 6. Jhs., nachdem zunächst ein natürlicher Wasserlauf reguliert und für Abflusszwecke mit Steinen und Holz befestigt wurde, zunächst offen, später überbrückt und schließlich ganz abgedeckt. Südlich vom Comitium trat der Kanal ins Forum ein, und diese Stelle wurde nun durch den Tempel der Venus Cloacina ebenso markiert wie konsekriert.³⁹⁴ Cloacina gilt somit als „die Göttin der römischen cloaca maxima“.³⁹⁵ Plinius (nat. hist. 15, 119) schreibt, wie er selbst hinzufügt, „der Etymologie zu Liebe“ Cluacina (cluere enim antiqui purgare dicebant), siehe auch Servius, Aen. I, 720 (Cloacina quia veteres cloare purgare dixerunt).³⁹⁶ Die Etymologie des Namens war also noch durchsichtig. Sie wurde korrekt mit fließendem Wasser, einem ,Spülprozessʻ in Verbindung gebracht. Roms Cloaca maxima, ein bautechnisches Meisterwerk der römischen Frühzeit, ist nun aber bedeutsam weit über ihre rein entsorgungstechnischen Aspekte hinaus. Nur in ihrem pragmatischsten Sinne ist die cloaca ,Abflusskanalʻ. Sie gilt vielmehr als eines der ältesten und wichtigsten Erinnerungsobjekte der Ursprünge der Stadt, der hervorragenden Leistungen ihrer Gründerväter.³⁹⁷ So wurde der natürliche Gewässerlauf des ursprünglichen Fließgewässers bewusst beibehalten, merkwürdig mean-
Die Ähnlichkeit zur ‚Großtatʻ des Horatius ist indes auch in der römischen Tradition bewusst. In der römischen Erinnerungskultur wird diese Ähnlichkeit entsprechend als gezielte, absichtsvolle imitatio plausibel gemacht (vgl. Roller 2004, S. 28 f.). Sehlmeyer 1999, S. 100. Vgl. Sehlmeyer 1999, S. 100. Hopkins 2012, S. 96. Vgl. Hopkins 2012, S. 96. Wissowa 1900, Sp. 60. Vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „cluō“: zur Wurzel *kleu- griech. κλύζω, „spüle“, κλύδων „Wogenschlag“, (κατα)-κλυσμός „Plätschern“, got. hlutrs, nhd. lauter, altn. hlér „Meer“. Siehe die ursprüngliche Bedeutung „bespülen“. Vgl. Hopkins 2012, S. 87– 89.
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dernd, entgegen jeder Ingenieurskunst, wie es scheint, zieht er sich durchs Forum. Diese bautechnische Eigenart ist der rituellen Funktion des Ortes zugeschrieben worden. Nicht gewöhnliches Wasser, gar ,Schmutzwasserʻ wurde hier kanalisiert, sondern „sacred water“,³⁹⁸ die Cloaca maxima müsse nachgerade als „sacred stream“ der Stadt betrachtet werden.³⁹⁹ Im Venusheiligtum wurde dieses Wasser zu rituellen Reinigungszwecken benutzt, eine Funktion, die in der historischen Entsühnung des Romulus und Titus Tatius bestätigt ist.⁴⁰⁰ In jedem Fall scheint es ein Ort von hoher Symbolkraft, eine Art „Friedensort der Völker“.⁴⁰¹ Hier wird vom Waffenstillstand der verfeindeten Römer und Sabiner berichtet: Nach den Kampfhandlungen und dem fürchterlichen (mythischen) Tabubruch einer Massenvergewaltigung (der ,Raub der Sabinerinnen‘) wurde an diesem Ort ein Reinigungskult vollzogen. Realhistorisch werden wir an einen Zusammenschluss zweier Grenzgebiete denken müssen, ein „Synoikismos“ als „eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Gründung der Stadt Rom.“⁴⁰² Vielleicht ist es dann auch kein Zufall, dass wir ausgerechnet in diesem Kontext der ,Purifikationʻ, der ,Ausscheidungʻ, der ,Spülungʻ wieder auf unsere Bocca della Verità, den „Mund der Wahrheit“, stoßen, dessen ursprüngliche Funktion tatsächlich im städtischen Abwassersystem gewesen sein muss: Inzwischen wird er relativ sicher als Abdeckung eines Abflussschachtes auf dem Forum interpretiert. Blankgespült durch das abfließende Schmutz- wie Regenwasser, ist die Abbildung auf dem Deckel noch als Wassergottheit Oceanus zu erkennen, sein Mund, dem die Volkssage später die Hände von Meineidigen, Lügnern und Betrügerinnen überantwortete, befreite, ,entsorgteʻ schon von der ersten Stunde an die Stadt von ihrem Schmutz und Unrat, und dabei ist ein religiös apotropäischer Aspekt ausdrücklich mitgedacht. Das mythische Wirken der Cloelia bezieht sich dann vielleicht sogar weniger auf den Fluss Tiber selbst als vielmehr auf die ,heiligen Abwässerʻ des Forums, eine auch historisch geschichtsträchtige Grenze. Der Reinigungsritus, die friedliche Festlegung eines Status quo, die Stadtgründung wird – wie im nordischen Göttermythos – mit einem Geiselaustausch verbunden. Und der ‚Mund der Wahrheitʻ als nachgerade Symbol par excellence ritueller Ausscheidung, wird zu irgendeinem Zeitpunkt mit dem identischen Evokationspotenzial der Linkshändigkeit bzw. Einhändigkeit in Verbindung gebracht.
Hopkins 2012, S. 96. „Rome’s main sewer was not merely a waste receptacle nor was its impressive vaulted construction of sole importance. The attention paid to the monument, its waters, its path and its outlet reveal a broader sense of respect, appreciation and veneration. Thus, like many polluted aspects of ancient and non-Western culture, the Cloaca Maxima held multivalent meanings for Romans who lived and built around it. Its waters were undoubtedly polluted, soiled; they were not hygienic and were apparently foul enough to demand a cover in the middle Republic. But by the same token, they remained inherently tied both to the natural sacred stream that continues to flush the drain even today, and to the vaunted history of earliest Rome“ (Hopkins 2012, S. 102). Vgl. Hopkins 2012, S. 97. Freyberger 2012, S. 57. Freyberger 2012, S. 57.
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12.5 Bileygr: der blinde Schütze 12.5.1 Hǫðr blinda Ás So fehlt schließlich nur noch der Dritte im Bunde der nordischen Systemauflöser: Die Welt der Schiefen, Devianten, Defizienten, der Abweichler, der Zentrumslosen, der Vagabunden ist auch Hǫðrs Welt: Hǫðr, blinda Ás,⁴⁰³ der „blinde Ase“, der zum eigentlichen Mörder Balders wird. In einem mythischen Wissensrahmen gehört die Blindheit in die Kategorie der fatalen (Seh)abweichungen, auf keine Weise wird sie hier als Funktionslosigkeit des Auges wahrgenommen. Hǫðrs Devianz mag vordergründig in schierer Diametrie zur gleißenden Helläugigkeit seines Opfers stehen, deren Effekte sind es nicht. Auch der Blinde vermag buchstäblich „Schreckliches“ zu blicken, mit seinem Blick zu erschaffen,⁴⁰⁴ er bewirkt Asymmetrie und Umsturz, Finsternis und Tod auf gleiche Weise wie der Scharfäugige, der Scheelblickende, der Einäugige. Wie diese steht er außerhalb sozialer, moralischer Konventionen. Und so steht auch Hǫðr am Rande der Thingversammlung, aber wir ahnen jetzt, gewiss nicht „isolated and helpless“,⁴⁰⁵ wie offenbar Snorri in tiefer Verkennung der Situation vermutet.⁴⁰⁶ Schon qua rechtlicher Bestimmungen kann er nicht (wie die ,unmündigeʻ Mistel und die Frauen) am Thing teilnehmen. Auch Loki steht außerhalb, auch er beobachtet – wie der blinde (!) Hǫðr – das Spielgeschehen, auch er spielt nicht mit, aber nicht, weil er nicht darf, sondern weil er eine andere Aufgabe im Spiel hat. Er gehört zu jenen Beobachtern der zweiten Ordnung (wie Odin und Frigg), die entsprechend auch die systemische Außenseite, das ,Nicht-Spielʻ erfassen können. Loki weiß also buchstäblich mehr,⁴⁰⁷ und irgendetwas missfällt ihm ab einem gewissen Punkt, irgendetwas läuft nicht (mehr) nach seinen Vorstellungen, irgendetwas zwingt ihn zu handeln. Längst haben wir das ,Spielʻ als Teil eines Bestattungsrituals identifiziert, längst gilt es, dieses zu einem Abschluss zu bringen. Das Kultpersonal entspricht in diesem Sinne dem mythologischen Inventar für solche Aufgaben des un-
Hǫðr heitir einn Ássinn. Hann er blindr. Œrit er hann styrkr. En vilja mundu goðin at þenna Ás þyrfti eigi at nefna, þvíat hans handaverk munu lengi vera hǫfð at minnum með goðum ok mǫnnum (Gylf 28). („Höd heißt ein anderer Ase. Er ist blind und überaus stark. Aber die Götter wollten nicht, daß dieser Ase genannt wird, weil seine Taten bei Göttern und Menschen lange in Erinnerung bleiben werden“). Hvernig skal kenna Hǫð? Svá at kalla hann blinda Ás, Baldrs bana, skjótanda mistilteins, *son Óðins, Heljar sinna, Vála dólg (Skáldsk 13). („Wie soll man Höd umschreiben? – Indem man ihn den blinden Asen nennt, Balders Töter, Werfer des Mistelzweigs, Sohn Odins, Hels Gefährte und Walis Gegner“). Vgl. Rakoczy 1996, S. 42 f. Libermann 2004, S. 24. Vgl. Libermann 2004, S. 24. Wie im Übrigen auch Odin längst weiß, wie es um die Dinge steht, er hat von Anfang an alle notwendigen Informationen, er weiß um die bitteren Konsequenzen: En Óðinn bar þeim mun verst þenna skaða sem hann kunni mesta skyn hversu mikil aftaka ok missa Ásunum var í fráfalli Baldrs (Gylf 49). („Aber Odin erlitt diesen Verlust am übelsten unter ihnen, denn er wusste am meisten davon, welch großer Schaden und Verlust den Asen durch Balders Tod entstanden war“).
12.5 Bileygr: der blinde Schütze
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glaublichen Bruchs: Odin der Einäugige und Lahme, Loki der Linkshänder und Hǫðr der Blinde sind dafür die ideale Besetzung. Hǫðrs Name scheint mit dem altnord. hǫð „Kampf“ zusammenzuhängen, siehe etwa nhd. ,Haderʻ („Groll, Hass, Zwist“),⁴⁰⁸ was auf eine Art tiefe Entzweiung, Zerrissenheit, Gegnerschaft, gerade auch in rechtlichen Angelegenheiten hinweisen könnte. Allerdings ist diese Bedeutung keineswegs so sicher: We do not know the exact meaning of hǫð, but it is characteristic that its modern German cognate Hader means ‚discontent, discordʻ. A rather safe Old Slavic cognate of hǫð and Hader is kotora ‚quarrelʻ (its modern reflexes also mean ‚quarrel, feud, insult; pugnaciousʻ, etc.); less reliable is Sanskrit śátru ‚enemyʻ […]. OI hǫðr is an archaic word whose semantic range is beyond reconstruction, but when it was in active use, it may, like Hader and kotora, have referred more to enmity than to struggle, so that Hǫðr may have been understood as ‚the contentious oneʻ, with negative rather than heroic connotations.⁴⁰⁹
Es fehlen also die heroischen Bezüge bei der Art von Auseinandersetzung, die Hǫðr führt, wie zunächst eine präsumtive Kampfeigenschaft ohnehin in einem tiefen, unüberbrückbaren Gegensatz zu Hǫðrs Defizienz gesehen wurde, so sehr, dass die Forschung eher geneigt war, an Snorris Überlieferungstreue zu zweifeln und Hǫðrs Körperbehinderung kurzum zu streichen, eben als spät, christlich, abzutun. Schließlich sei es doch ,unlogischʻ, dass ein Gott, der sogar explizit als ,der Kämpferʻ benannt werde, blind sein soll und darüber hinaus, als zweifelsohne gewichtigeres Argument, scheint ja Saxo diese Behinderung bei Hotherus gar nicht zu kennen. Genau genommen ,kämpftʻ freilich Hǫðr in den isländischen Quellen so wenig wie Balder, selbst in Saxos Erzählversion scheint Hotherus Kampfbereitschaft keineswegs seine vorzüglichste Eigenschaft. Aber all diese Überlegungen gehen ohnehin an der grundsätzlichen Problematik vorbei: Es geht nicht darum, ob Hǫðr ,eigentlichʻ, wirklich, ursprünglich blind war oder nicht, eine der vielen Fragen, die die Balder-Forschung in der Tat umtreibt seit Anbeginn, vielmehr wie das Konzept Blindheit ,eigentlichʻ (will heißen kontextgebunden) verstanden worden ist⁴¹⁰ und was dann mithilfe dieses Modells an Hǫðr verständlich gemacht werden sollte. Allein die Tatsache, dass es offenbar in der mythischen wie religiösen Welt wimmelt von blinden Schützen, die alle erstaunlich zielgenau ihre Opfer auszuschalten vermögen, hätte weitaus mehr aufmerken lassen müssen. In keinem einzigen Fall haben wir es dabei mit tumben, hilflosen Behinderten zu tun, die bestenfalls ahnungslos das Opfer einer Intrige wurden. Gewiss, gerade Snorri scheint diese Vorstellung zu unterstützen, indem er die in der germanischen Heldendichtung wie überhaupt in der gesamten mittelalterlichen Vgl. an. etym. Wb 1962, „hǫð“, „kampf“, ae. headu-, as. hathu, ahd. hathu-, hadu. Vgl. Kluge/ Seebold 2002, „Hader“: dazu ai. śatru- „Feind“, asl. kotora „Streit“, gr. kótos „Groll, Haß“. Liberman 2004, S. 23. So möchte Liberman an eine Art ‚maulwurfartigeʻ Blindheit denken: „If Hǫðr started his career as a chthonic deity, his blindness is that of the mole, of an enemy of light“ (Liberman 2004, S. 22).
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Literatur, Märchen wie Heiligenlegenden gut bekannte Gestalt des ráðbani, des ,bösen Ratgebersʻ einführt. Loki ist der planende, Hǫðr entsprechend der handbani, der ,ausführende Mörderʻ. Aber wohl gerade nicht deshalb, weil ein Blinder womöglich gar nicht in der Lage sein könnte, ein solches Verbrechen auszuführen: Nichts könnte ferner liegen, zumal dieses Konzept auch dann verwendet wird, wenn das Mörderduett ganz offenbar die Rollen getauscht hat, der ,böse Ratgeberʻ selbst der Blinde ist und die vorgebliche Blindheit gerade die Logik des Geschehens durchkreuzt.⁴¹¹ Es mag aber auch ein Hinweis darauf sein, dass die Mordtat an Balder wohl von Anfang an nicht als Werk eines Einzeltäters gedacht war. Das gewichtigste Argument aber ist der nordische Göttervater selbst, Odin. Durchgehend erscheint dieser nicht nur als der wohl berühmteste ,Einäugigeʻ, sondern ebenso als tviblindi, biblindi (üblicherweise mit „doppelt blind“, „ganz blind“ wiedergegeben), hár („blind“), Gestumblindi („der blinde Gast“), wenn auch ein Umstand, der zunächst eher irritierte, denn buchstäblich aufhellend wirkte: De Vries scheinen gleich „zwei Götter mit Augenmangel“ im nordischen Pantheon ohnehin entschieden „des Guten zu viel“,⁴¹² er behilft sich entsprechend mit dem Konzept der Hypostasierung, kein anderer als Odin selbst sei Hǫðr.⁴¹³ Das brauchen wir heute nicht mehr zu überlegen, aber de Vries hat wohl durchaus in die richtige Richtung gedacht, verschiedene Götter können ein gemeinsames Funktionsprinzip verkörpern, entsprechend hat er den ,odinischenʻ Charakter des Baldermords gewiss richtig vermutet.⁴¹⁴ Und auch Detter dachte an Odin als ursprünglichen Anstifter.⁴¹⁵ In der Vergangenheit mochte man immer wieder darauf bedacht gewesen sein, Odins und Hǫðrs Körperdefizienzen voneinander getrennt zu halten,⁴¹⁶ aber man wird mit Sicherheit davon ausgehen können, dass sie in den gleichen Denkraum gehören. Es sind my-
Vgl. Höfler 1952, S. 41, Anm. 164. Nicht wenig Schwierigkeiten bereitet Höfler der blinde Widersacher Helgis der Helgakviða Hundingsbana II. Es sei wohl ein „alte[r], aber kompositorisch nur schwer begreifliche[r] Bestand der Helgitradition“ (Höfler 1952, S. 41, Anm. 164). Ein so genannter Blindr inn bǫlvísi verfolgt den Helden Helgi, dieser ,erkenntʻ ihn zwar nicht (allerdings ausschließlich wegen seiner Frauenverkleidung!), ,siehtʻ aber seine Augen aufblitzen. Mit diesem lässt sich die Gestalt des Bolwisus (Bǫlvíss) in der Hagbarthus-Episode des Saxo Grammaticus (Gest.Dan. 7) vergleichen. Er spielt (explizit als captus luminibus, also ‚blindʻ beschrieben) wohl die gleiche Rolle wie jener Blindr inn bǫlvísi des Heldenlieds (vgl. Komm.Edd. Helgakviða Hundingsbana II, von See et al. 2004, S. 607). Und auch Detter betont ausdrücklich: „Der blinde verführte steht dagegen ganz vereinzelt in der nordischen sage da, und man ist gezwungen, mit Bugge ausserhalb des nordens nach einer entsprechung zu suchen“ (Detter 1894, S. 503). de Vries 1955, S. 48. Vgl. de Vries 1955, S. 48 f. Siehe auch Lindow 1997, S. 59: „Loki’s behavour is indeed Odinic in the Baldr myth.“ Ursprünglich sei Óðínn und nicht Loki „der böse geist im Baldermythos“ (Detter 1894, S. 504), zumal „Óðínn oder ein blinder mann als anstifter und böser ratgeber […] eine der nord. sage wol vertraute gestalt“ sei (Detter 1894, S. 503). So etwa Lindow 1997, S. 62: „Óðinn’s and Hoðr’s defects are incompatible“, insofern könnten sie auch durchaus zusammen innerhalb eines religiösen Systems auftreten: „Óðinn’s loss of an eye is a typical case of ritual mutilation“, im Gegensatz dazu sei aber Hǫðr „blind by nature“.
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thisch magische embodiments, deren hochverdichtetes Symbolinventar bereits ausführlich dargestellt wurde. Insofern genügen nur noch einige Hinweise: Zu Recht konstatiert Richard Cole ‚Blindheitʻ als Teil einer mittelalterlichen „anti-Jewish typology“.⁴¹⁷ Dem ganzen Volk der Juden (den prototypischen (Glaubens)abweichlern im Mittelalter) wurde jenes spezifische körperliche Gebrechen zugeschrieben, ein eigenartiger Umstand, der bis in jüngste Zeit in diesem Zusammenhang kaum einmal bemerkt wurde. Eine Ausnahme macht etwa Arthur Mosher, der auf eine mittelalterliche allegorische Darstellungsform der jüdischen Nation verweist: die in Gestalt eines jungen Mädchens erscheinende Synagoge, deren Augen verbunden sind, „to indicate her failure to recognize the Messiah.“⁴¹⁸ Ganz ablehnend dazu Liberman, er sieht in dieser Aneinanderrückung kaum mehr als die typischen Auswüchse des komparativen Verfahrens in der Mythenanalyse: „This is comparative religion, with its penchant for uncontrollable associations, at its weakest.“⁴¹⁹ Allerdings führt auch Mosher diese Gemeinsamkeit zur Unterstützung seiner These an, der Baldermythos insgesamt sei als eine nach christlichen Vorgaben geschaffene Allegorese zu verstehen, „a heathen type of the story of the crucifixion“.⁴²⁰ Ob oder ob nicht Hǫðr in Island damit in Verbindung gebracht wurde, ist schwer zu sagen, keineswegs ausgeschlossen, gewiss aber ist in der Gestalt Hǫðrs weit mehr gefasst als eine literarische Verkörperung eines allerorten grassierenden, mittelalterlichen Antisemitismus. Eindringlich müssen wir uns wohl nochmals ins Gedächtnis rufen: Auf mythische Wissensrahmen von Körperfunktionen bzw. Einschränkungen können keine modernen Vorstellungen verwendet werden, keine modernen medizinischen, nicht einmal moderne common sense-Vorstellungen, das, was heutzutage ‚alle Weltʻ über Blinde, über die Kategorie Blindheit zu wissen glaubt. So bemerkt Liberman über Odins Beinamen hár, dass dieser zwar zu lat. caecus „blind“ gestellt werden könne, aber „his faculties seem to be intact.“⁴²¹ Innerhalb seines (also eines modernen) Verständnisrahmens gehört Behinderung zur Prototypik von Blindheit. Aber nun lässt sich daraus genauso wenig folgern, als weiteres gängiges Missverständnis, dass der in unserem Sinne deviante Körper in einem vormodernen, vorchristlichen Verständnis dann doch wohl gar keiner war, dass also eine Art selbstverständliche Inklusion gelebt wurde, von der die moderne Gesellschaft bis heute noch weit entfernt ist. Durchgehend in diesem Sinne argumentiert aber Lois Bragg, die grundsätzlich keinerlei negative Konnotationen von Körperdevianz in der Indogermania sieht, „any inconsistancy here is of modern manufacture.“⁴²² Mit anderen Worten, der „aberrant body“, der ,abnormeʻ Körper (und dazu zählt sie zu Recht nicht nur körperliche Abweichungen aller Art,
Cole 2017, S. 248. Mosher 1983, S. 313. Meist an prominenter Stelle angebracht, an Kircheneingängen. Siehe etwa die bekannten Steinmetzarbeiten an der Cathédrale Notre-Dame in Straßburg. Liberman 2004, S. 24. Mosher 1983, S. 313. Liberman 2004, S. 24. Bragg 2004, S. 77.
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sondern auch von der Norm abweichendes, asoziales sexuelles Verhalten) sei in den altisländischen Mythen und Sagas – ganz entgegen moderner Interpretationsfolien von Behinderung – grundsätzlich positiv konnotiert gewesen: A further premise is not widely assumed in disability studies, though it should be, and will be argued here throughout: that human societies, while perforce selecting their outcasts in the process of defining their norms, may regard those misfits not with fear, scorn, or impatience, as we do, but with awe.⁴²³
Entsprechend müssten defizitäre Körperkonzepte in der Vergangenheit nicht einmal im Widerspruch zur Vorstellung eines schönen Körpers gestanden haben, der deviante Körper konnte also durchaus ein schöner Körper sein.⁴²⁴ Nur in einem ganz spezifischen Kontext, den sie als Kontext „of social interaction through refined language forms (skaldic poetry)“ bezeichnet, sei „physical markedness […] accompanied by underclass status and social maladjustment.“⁴²⁵ So habe z. B. nicht nur Snorri, sondern mit ihm auch die moderne Leserschaft den alten Gefjon-Gylfi-Mythenkomplex gründlich missverstanden, als Variation on the motif of deceit by outlanders, aliens, or racial others, many of whom cross sex boundaries and are associated with bodily monstrosity. […]. Modern readers are also sensitive to the motif of payment for sex, and regard, or think that heathen Icelanders regarded, Gefjun as a whore.⁴²⁶
Aber die heidnischen Nordleute hätten Gefjon als Kulturbringerin geliebt und geschätzt, „evidently loved and were grateful to Gefjun“, sie keineswegs als Hure verachtet, „the lake and the island were Gefjun’s double endowment to the Swedes and the Danes“,⁴²⁷ ihre „male-style sexuality“⁴²⁸ sei jedenfalls erst später als Abweichung betrachtet worden. Eine ähnliche Wertschätzung sei Odin und Týr entgegengebracht worden, deren Einäugigkeit bzw. Einarmigkeit seien zunächst als typische Veteranenverletzungen aufgefasst worden, „the proud tokens of their properly reckless battle conduct.“⁴²⁹ Es sei wohl schwierig, sich einen einäugigen Zeus oder Jupiter vorzustellen, das liege
Bragg 2004, S. 11. Auch hierfür führt Bragg als Paradebeispiel Odin an, der schließlich keineswegs, wie Carolyne Larrington ihn fälschlicherweise beschreibe, als „a ,sinister, one-eyed old man ‒ repulsive to the women whom he tries to seduceʻ“ gegolten habe, sondern ganz im Gegenteil nachgerade als besonderer Frauenliebling, als „‚Frigg’s honeysuckleʻ (angantyr Friggjar, Vsp 52)“ (Bragg 2004, S. 78). Die Referenz in Hávamál, in der Odin vorgeblich von einer Billingsmaid zurückgewiesen werde, sei zu obskur, und der intolerante, misogyne Saxo Grammaticus habe wohl ohnehin Odins aggressive Werbung um Rindr (Gest.Dan. 3) erfunden (vgl. Bragg 2004, S. 78; Anm. 19). Bragg 2004, S. 278. Bragg 2004, S. 58 f. Bragg 2004, S. 59. Bragg 2004, S. 60. Bragg 2004, S. 92.
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aber an der Ausnahmestellung der Griechen und Römer, „because the Greeks and Romans, uniquely among Indo-Europeans, valorized the normative body.“⁴³⁰ Im Norden habe man aber ganz problemlos Odins Sehbehinderung mit der Rolle eines Allvaters zusammenbringen können. Und so müsse die Blindheit des Hǫðr, der ohnehin schon qua seines Namens als ,Gott des Kampfesʻ ausgewiesen sei, als eine Art „battle blindness“ betrachtet werden, die den guten Soldaten stets auszeichnen müsse: „A good soldier is one who can transport himself to a mental state in which he does not process what he sees, does not recognize his victims, but rather kills indiscriminately everything that is in his path.“⁴³¹ Hǫðr sei damit eher in einer vorteilhaften Lage, er sei nahezu permanent in einem Zustand, in den sich andere Krieger erst mehr oder weniger mühsam versetzen müssten, eine Art ,Dauertranceʻ – kurzum: „Höd’s blindness is an integral, traditional, and in no way pejorative part of the story of the Death of Baldur.“⁴³² Es gibt wenig, in dem wir Lois Bragg in ihrer Einschätzung vormoderner Wissensmodelle des ,aberrant bodyʻ zustimmen können. Gewiss ist ihr Hinweis auf die unterschiedlichsten Konzepte von Normalität innerhalb unterschiedlicher kultureller Kontexte berechtigt,⁴³³ ein nachgerade kulturwissenschaftlicher Gemeinplatz. Es stimmt auch, dass Hǫðr nicht trotz seiner Blindheit als gefürchteter Kämpfer verstanden wurde, vielmehr wegen, und in der Tat dürften vormoderne Gesellschaften am weitesten entfernt gewesen sein von der Art von ,victimizationʻ wie sie in modernen westlichen Gesellschaften vielleicht bis heute gegenüber Menschen mit Behinderung betrieben wird – es gab keinen Grund dafür. Die eigentlichen ‚Opferʻ, die eigentlich Bedauernswerten waren schließlich die Menschen in deren Umfeld. Körperliche (sexuelle, soziale) Devianzen, Aberrationen, wenn sie denn einmal als solches gesellschaftlich festgelegt waren, galten im vorchristlichen Norden wie in der christlichen (jüdischen) Tradition des Abendlandes und, vieles spricht dafür, überkulturell, als verfemt, tabuisiert, ein discrimen in seiner ureigensten Bedeutung. „[T]he typical smear tactic of implying that a physical disfigurement derives from or is a sign of a moral disfigurement, that is, that Týr lost his hand because he was no peacemaker“,⁴³⁴ ist nicht nur typische Verleumdungstaktik eines gehässigen Loki,⁴³⁵ es ist magischlogisches Denken par excellence: Der unheile Körper ist Zeichen der Heillosigkeit und er bewirkt diese, er wirkt stets systemschädigend. Eine mögliche Ambivalenz ergibt sich ausschließlich aus der Einschätzung der Art und Wertigkeit des Systems, das geschädigt wird bzw., ob man Teil davon ist oder außerhalb steht. Natürlich wird diese Potenz grundsätzlich anders beurteilt werden, wenn sie für einen Tyrannenmord eingesetzt wird, für einen Feindesbetrug und Ähnliches, aber nur vom Ergebnis her,
Bragg 2004, S. 77. Bragg 2004, S. 117. Bragg 2004, S. 123. Vgl. Bragg 2004, S. 10. Bragg 2004, S. 91. Vgl. Bragg 2004, S. 91.
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niemals per se. Denn so oder so, der Mord muss von einem Mörder ausgeführt werden, der Betrug von einem Betrüger, Ungeheuerlichkeiten von einem Ungeheuer, similia similibus. Die Devianzen der Götter Odin wie Týr können, wenn überhaupt, schwer, nur mit künstlich übergestülpten Begründungsmodellen (,das Körperteil als Pfandʻ) positiv anschlussfähig gemacht werden. Was Bragg hauptsächlich zu bedauern scheint, dass mit Beginn einer wissenschaftlichen medizinischen Forschungsgeschichte magisch mythische Vorstellungen von Krankheit und Behinderung mehr und mehr verschwinden und im Rahmen dieses Entmystifizierungsprozesses, dieser Entzauberung, wenn man so will, natürlich auch ihre Potenz verlieren. Mit anderen Worten, ab irgendeinem Zeitpunkt taugte Behinderung nicht mehr zur Kennzeichnung von machtvoller, magisch wirksamer Liminalität, die Liminalität, die Randständigkeit als solche, die Absonderlichkeit aber blieb noch lange bestehen.⁴³⁶ Ähnlich verlief der Prozess bei der Umkodierung weiblicher Promiskuität. Der mittelalterliche Mensch liebte keine Huren, so wenig wie er Scharfrichter, Bettler oder Landstreicher liebte. Ödipus ist ein ebenso grässlicher Tabubrecher wie Þórólfr bægifótr, Vǫlundr oder die Berserker, in nichts liebenswert, gefährlich zweifelsohne, aber wohl kaum betrachtet „with awe“, jenem positiv konnotierten, ehrfurchtsvollen Respekt, den Bragg expressis verbis „fear“ gegenüberstellt. Gerade die Blindheit musste also bei der gründlichen Neukodierung Saxos im Mythos als Erstes fallen (wenn sie denn jemals vorhanden war), ähnlich wie bei der Umgestaltung Odins zum Göttervater.
12.5.2 Lamech In der Diskussion um den Ursprung der nordischen Blindheit findet Sophus Bugge das Vorbild, erwartbar, in einer christlichen, apokryphen Gestalt. In mittelalterlichen
Bezeichnenderweise sind gerade die ersten (staatlichen) Fürsorgemaßnahmen für Blinde zunächst weniger einem Akt der Barmherzigkeit bzw. Erleichterung und Unterstützung im Alltag zuzuschreiben, es sind vielmehr Vorsichtsmaßnahmen für deren Mitmenschen. Ohne Zweifel ist die Gründung des ersten Blindenhospizes in Europa, das Hospice des Quinze-Vingts in Paris (1256 durch Louis IX) ein „watershed moment“ (Wheatley 2010, S. 42) in der Geschichte der Blindheit. Immerhin werden Blinde nun mehr und mehr als soziales denn als religiöses Problem betrachtet, aber die allmähliche medizinische Erkenntnis ihrer ‚Ungefährlichkeitʻ weicht nur schwer einem tiefen und nachhaltigen Misstrauen. Blindenanstalten erscheinen entsprechend zunächst eher als Ghettos, Kasernierungsanlagen: „[T]he goal of these institutions to discipline and control their residents made the sites more similar in nature to walled Jewish ghettos, meant to segregate certain members of the population“ (Wheatley 2010, S. 74). Tatsächlich unterscheidet sich auch die Kennzeichnungspflicht der Blinden durch spezielle Abzeichen (um ihren Sonderstatus als Mündel des Königs anzuzeigen) in nichts von der anderer mutmaßlich systemschädigender Bevölkerungsgruppen, allen voran der Juden. Die gemeinsame Farbe Gelb verband sie unmissverständlich miteinander, spätestens seit dem 14. Jh. war sie „the color of bile, lies, prostitutes, Jews, and criminals“ (Gauthier 1984, S. 109, zit. n. Wheatley 2010, S. 74).
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Christus-Legenden erscheint ein blinder Centurio Longinus, der den Gottessohn am Kreuz mit einem Lanzenstrich durchbohrt und damit letztendlich ums Leben bringt. Das Blut, das dabei aus der Wunde Jesu tritt, heilt Longinus von seiner Blindheit und bekehrt ihn. Hier erscheint ein weiteres neues, aktualisiertes Wissensmuster dieser Zeit: Blindheit nunmehr verstanden als körperlich erkennbares Kennzeichen einer inneren Verstocktheit, der Verblendung und Unwissenheit des Ungläubigen.⁴³⁷ Nun mochte die Legende seinerzeit auch durchaus einen gewissen Bekanntheitsgrad genossen haben, aber Longinus galt keineswegs als der notorische Mörder von Christus. Warum also sollten sich das (Spät)heidentum oder aber auch möglicherweise lediglich Snorri in seinem literarischen Schaffen von einer eher randständigen, legendenhaften Gestalt dermaßen beeindruckt zeigen und sie zum Vorbild eines GottesMörders par excellence stilisieren? Noch häufiger erscheint in dieser Diskussion indes die volkstümlich legendäre Ausgestaltung einer biblischen Figur: der blinde Lamech.⁴³⁸ Die alttestamentarische Tradition kennt Lamech als Vater des Noah, aber nur in seiner außerbiblischen, apokryphen Fassung ist er blind und der Töter des Brudermörders Kain. In dieser Form besaß die Legende freilich das ganze christliche Mittelalter hindurch einen (heute vergessenen) nahezu kanonischen Status. Und der Tod des Kain, verursacht durch einen Jagdunfall des blinden Schützen Lamech, schien vielen nun auffallend ähnlich zum absichtslosen, buchstäblich ebenso blind ausgeführten Mord an Balder. Entsprechend wurde Entlehnung aus diesen christlich/jüdischen Vorstellungen angenommen. Schließlich, so Heather O’Donoghue, zeige allein schon die Popularität dieser Erzählung (an der die gelehrte Oberschicht des mittelalterlichen Nordens keinesfalls hätte vorbeikommen können), dass es Snorri gewesen sein müsse, der daraus Anleihen für seine Balder-Konzeptualisierung entnommen habe (wohingegen die Vǫluspá, das narrative Gerüst Snorris, davon gar nichts zu berichten wisse): I think that Snorri turned to contemporary scholarship, as he had certainly done in writing his prologue, and found not age-old narrative strategies for explaining how Baldr, the gods’ favourite […], was killed – in particular how the divinely intended inviolability was circumvented – but a narrative motif newly popular, even topical, amongst learned people in the thirteenth century, in Iceland.⁴³⁹
Die gleichermaßen postulierte Verbindung zu einer Episode aus dem angelsächsischen Beowulf, dem unglückseligen, tödlichen Schuss des jungen Adeligen Hæðcyn auf seinen Bruder Herebeald, möchte O’Donoghue dabei ausdrücklich fernhalten. Hier habe man es wohl lediglich mit einem tragischen Unfall zweier skandinavischer Aristokraten zu tun, schließlich üblich und ganz natürlich zu dieser Zeit.⁴⁴⁰ Gleichwohl muss sie selbst einräumen, dass dieser so genannte ,alltäglicheʻ Unfall ausge
Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 37. Siehe insbesondere O’Donoghue 2003. O’Donoghue 2003, S. 98 f. Ähnlich Klaeber 1923, S. XII.
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rechnet mit einer gar nicht alltäglichen, exotischen, wohl den skandinavischen Quellen unbekannten Waffe, einem hornboga ausgeführt worden sei, was wiederum gerade nicht narrativer Praxis entspreche. Merkwürdig genug – „paradoxically“⁴⁴¹ – sei also ein (ihrer Einschätzung nach) ganz gewöhnliches Ereignis mit einem fiktiven Motiv auf besondere, herausgehobene Weise markiert worden.⁴⁴² Aber letztendlich will sie diesem, wenn auch auffallenden Einzelmotiv keine weitere Bedeutung beimessen.⁴⁴³ Nun soll nicht einmal in Abrede gestellt werden, dass Snorri Anleihen aus populärem jüdischem Apokryphenmaterial gemacht haben könnte, einiges deutet auch an anderer Stelle darauf hin, aber ohne bereits vorhandene Wissensrahmen und Vorstellungskomplexe hätte dieses Motiv gewiss keine dermaßen hohe Popularität und Beliebtheit im Norden entwickeln können. Für eine Erklärung des blinden Baldermörders wird der Hinweis auf die Lamech-Tradition entsprechend kaum genügen, wir werden uns Frogs Vermutung anschließen und von einem weitaus größeren, überkulturellen Vorstellungsrahmen ausgehen müssen: Rather than viewing all of these traditions as disseminations and adaptations of the over-arcing [sic] influence of the Lamech legend, it seems more reasonable to consider these traditions to be diverse manifestations of a much more widespread and dynamic tradition with a history extending far beyond the scope of the present study.⁴⁴⁴
Nun ist die Blindheit des Lamech auch in der kanonischen, biblischen Tradition keineswegs ursprünglich, wie überhaupt die ganze Mordepisode an Kain diesem erst sekundär zugeschrieben wird.⁴⁴⁵ Damit stellt sich zunächst die Frage, welcher Denk O’Donoghue 2003, S. 83. Vgl. O’Donoghue 2003, S. 83. Raymond W. Chambers erwähnt das Scheitern der Freier Penelopes an nämlicher Waffe. Der Beowulf-Autor habe damit wohl auf die praktischen Schwierigkeiten dieser Waffe als Erklärung für den Unfall hinweisen wollen (vgl. Chambers 1959, S. 361, zit. n. O’Donoghue 2003, S. 99, Anm. 7). Freilich ist gerade der homerische Schießwettbewerb keineswegs ein sportliches, alltägliches Kräftemessen, vielmehr Auftakt zu einem Blutbad, das Odysseus unter den Freiern anrichtet. Vgl. O’Donoghue 2003, S. 83 f. Frog 2010, S. 305. Die Erwähnung der Ermordung Kains durch den blinden Schützen Lamech erscheint zum ersten Mal in einer Sammlung apokrypher, syrischer Schriften des 4. (oder 6.) nachchristlichen Jahrhunderts (vgl. Bragg 2004, S. 118). „Und in den Tagen des Enos, in seinem achthundertundzwanzigsten Jahre, tödete [sic] Lamech, ‚der Blindeʻ, den Mörder Cain im Gefilde von Nod. Und also war sein Tod: Es stützte sich Lamech auf seinen Sohn, einen kleinen Knaben, und dieser Knabe lenkte ihm seinen Arm gegen das Wild, so oft er welches sah. Und er hörte die Stimme Cain’s, der im Wald umherstreifte, da er nirgends einen Rast- und Ruheort fand. Und Lamech, der Blinde, hielt ihn für ein Tier, das im Walde umherjage; und erhob seinen Arm, hielt seinen Bogen bereit, spannte ihn und schoss gegen den Ort und traf Cain zwischen die Augen, da fiel dieser hin und starb. Und Lamech glaubte, er habe ein Wild getroffen und sprach zu dem Knaben: ‚Geh hin, damit wir das Wild sehen, das wir getroffen haben!ʻ Und als sie hinkamen und nachsahen, da sprach zu ihm der Knabe, auf den er sich stützte: ‚Ach wehe, mein Herr! du hast Cain getödetʻ. Und er winkte und schlug die Hände zusammen, traf den Knaben und
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raum diese Verknüpfung hatte plausibel machen können. Die Ursprünge apokrypher Erzählungen liegen bekanntlich im vermeintlichen Mangel, einer Lücke an Information in den kanonischen Bibeltexten. Eine solche Lücke wurde insbesondere bei der populären Gestalt des Brudermörders Kain empfunden, über dessen eigenen Tod in der Bibel nichts berichtet wird. In einem kurzen, enigmatischen Hinweis in der Gen. 4 (hier erscheint Lamech in der Genealogie der Nachfahren Kains) hat diese Verbindung vermutlich ihren Ursprung: Kains Abkömmlinge (einschließlich Kain selbst), Lamech und seine Söhne werden als Städtegründer und Erfinder wichtiger Kulturgüter, des Metallhandwerks, des Zeltes, der Musikinstrumente beschrieben. Lamech erweist sich aber darüber hinaus nicht nur als der erste Bigamist der Bibel, er scheint sich auch seinen beiden Frauen gegenüber des Totschlags an einem Mann und an einem Jungen zu rühmen.⁴⁴⁶ Damit tut er sich als moralisch Verdorbenster in dieser Reihe hervor, gerade für die mittelalterlichen Exegeten, ein Heiratsschwindler und Doppelmörder⁴⁴⁷: „Lamech’s character culminates the murderous trait characteristic of this line, originally exhibited by Cain in the narrative which precedes the genealogy.“⁴⁴⁸ Aber Lamech erscheint noch als Mitglied einer anderen Genealogie. In Gen. 5 ist er ein Nachfahre Seths und Vater des Noah. Diese Doppelrolle in biblischen Ahnenreihen ist auffallend, es zeigt ihn „as one who brings Cain’s line to an end and who sees the beginning of new lines in his own offspring.“⁴⁴⁹ Er setzt einer Generationsfolge ein Ende, indem er deren Gründer ebenso wie deren jüngsten und vorläufig letzten Spross (beide namensgleich, Kain, Tubal-Kain) tötet: „From the perspective of the poetic parallelism, Lamech is a new Cain.“⁴⁵⁰ Mit der Zeugung Noahs, dem Sintfluthelden, dem Archegeten, setzt seinerseits eine neue, nachsintflutliche Dynastie ein. Lamech ist also schon in biblischer Tradition das End- wie Bindeglied, „the transitional figure“,⁴⁵¹ und schon allein dadurch eine ambivalente, liminale Gestalt. Und damit finden wir Antwort auf eben jene Frage, die auch für den nordischen Kontext bedeutsam ist: tödete ihn“ (Bezold 1883, S. 11 f.). Die Lamech-Erzählung fand im Nahen Osten, dann im gesamten spätantiken und christlich europäischen Raum rasch Verbreitung, in der gelehrten Literatur der Kirchenväter, als Illustrationen in der biblia pauperum und schließlich in den spätmittelalterlichen Mysterienspielen (vgl. Bragg 2004, S. 118): „It seems that everyone knew the story, and it would be unreasonable to suppose that somehow Snorri did not“ (Bragg 2004, S. 118 f.). Dieses ,Geständnisʻ wird inzwischen als Übersetzungsfehler gewertet, „slightly mistranslated; for their perfective form ought really not to be rendered […] as if past tense, ,I have killed a man,ʻ but rather in the present, or even conditionally, ,I would kill a man for [i. e. to avenge] a wound, indeed, I would kill a[n innocent] boy for [i. e. to avenge] a bruiseʻ“ (Kugel 1990, S. 93). Vgl. Dean 1982, S. 557: „Lamech was an innovator with respect to marital relations and sexuality. He was the first bigamist or ‚spousebrecheʻ. […]. It is more likely that commentators regard Lamech as the ‚worstʻ in the Cainite line because he killed two men (Gen. 4. 23). The first bigamist was also the first ‚twin-manslagtʻ.“ Hess 1991, S. 22. Hess 1991, S. 21. Hess 1991, S. 22. Hess 1991, S. 22.
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Why should an exegete have gone to all the trouble of dreaming up the improbable circumstances whereby Lamech is both blind and yet also a hunter, so that he can end up killing Cain in a blind hunting accident? Surely there is no mention in the Genesis text of Lamech being blind, and no necessity for him to be blind in order to kill Cain and Tubal-Cain.⁴⁵²
Lamech wird mit Attributen, Motiven und nicht zuletzt ganzen Narrativen bestückt, die diese paradoxe Liminalität, diese tief ambivalente Gründertätigkeit am besten mit Bedeutung versehen können. Bereits hier ist das blind-shooter-Motiv eine Verbindung eingegangen mit dem Unabsichtlichkeitsmotiv des Spiels oder der Jagd (was keineswegs zwingend ist, wenn wir den finnischen Kontext betrachten). Und gerade das anschließende Gebaren des verzweifelten Lamech, das Zusammenklatschen der Hände, womit er, unwahrscheinlich genug (aufs Neue versehentlich), seinen eigenen Sohn getötet haben soll, verweist in eben jenen Kontext, der blind-shooter-Gestalten offenbar notorisch anzuziehen scheint: Es ist Fluchgestus wie Trauergestus im Bestattungsritus.
12.5.3 Adrastos Auch die Antike kennt, merkwürdig ähnlich, den missglückten Schuss, den verhängnisvollen Jagdunfall. Neben dem durch griechische und römische Vermittlung nahezu ausschließlich maßgeblich gewordenen Mythos der Kastration steht der Mythos eines tödlichen Jagdunfalls des Attis bzw. eines historisierten Atys durch einen verfehlten Schuss auf einen Eber (oder durch den Eber selbst). Entsprechend dieser Todesarten wird seit Hugo Hepding⁴⁵³ unterschieden zwischen einem lydischen und einem phrygischen Attis,⁴⁵⁴ wobei durchaus nicht klar scheint, welchen Stellenwert man den Todesarten im Einzelnen zusprechen soll. Zweifelsohne ist die Kastration die spektakulärere, bildgewaltigere, aber sie scheint gerade nicht zwangsläufig mit dem Attismythos verbunden. Dennoch ließ man sich bei der Interpretation des Mythos vorrangig von dieser Version und der Vorstellung des Talionsprinzips leiten, d. h., als Erklärungsprinzip für den Verlust des Geschlechtsteils und den (oft anschließenden) Tod wurde eine Verfehlung im sexuellen Bereich mythisch narrativ wie forschungsgeschichtlich plausibel gemacht. (Attis betrügt in unterschiedlichen Versionen die μεγάλη μήτηρ, die „Große Mutter“, Kybele (Agdistis), der er in keuscher Liebe zugetan gewesen sein soll. Dafür wird er am verbrecherischen ,Werkzeugʻ selbst, dem Phallos bestraft mit Impotenz und Tod (sei es, dass er selbst in einem Anflug von Wahnsinn seine eigene Kastration unternimmt oder aber die betrogene Göttin).⁴⁵⁵ Nun erleidet
Kugel 1990, S. 95. Hepding 1903. Vgl. Lancellotti 2002, S. 1. Vgl. Casadio 2003, S. 232. Casadio sieht im Zentrum des Mythos (ähnlich wie im Mythos des Adonis und des Osiris) einen Fehler oder eine Irregularität im sexuellen Verhalten der Helden, das die
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keineswegs nur Attis dieses Schicksal. Die göttliche Liebhaberin selbst muss diese grausame Verstümmelung erfahren. Sie ist zunächst ebenso eher Opfer denn Täterin, sie entsteht – durch Kastration – aus Agdistis, einem androgynen, zwitterhaften, ,unzivilisiertenʻ Urwesen. Manches Mal vermutet geht es in der Tat nicht um die Kastration als solches,⁴⁵⁶ es ist ein Bild, wenngleich ein starkes, unter vielen. In einem ,diagnostischen Strom an Symbolenʻ⁴⁵⁷ werden Formationen wie Transformationen veranschaulicht und diese erscheinen allesamt in Gestalt von perversen, unnatürlichen, unbiologischen, ,wunderbarenʻ Zeugungsakten: das abgerissene Geschlechtsteil, das zum Baum wird, das Entstehen, die Geburt aus einem mit männlichem Samen ,befruchtetenʻ Stein, die Frucht, eine Mandel oder Granatapfel, die ihren Weg in den Mutterleib findet und sich dort zum Menschen entwickelt. Die wichtigste Heilstat im Mithrasmythos ist die Tötung des Stiers durch Mithras. Aus den Gliedern des sterbenden Stieres wachsen Bäume, Pflanzen, aus dem Schwanz oder aus dem zu Boden tropfenden Blut entstehen Getreideähren. Der Samen des Stiers wird auf den Mond gebracht, dadurch wächst dieser an Licht und Potenz, das er zyklisch, wiederum zum Heil aller, der Natur wie der Menschen, abgeben kann.⁴⁵⁸ Gerade diese Großtat ist begleitet von einer Kastration. Während Mithras den Himmelsstier, den Urstier tödlich verwundet und zu Fall bringt, tun sich (ikonographisch hundertfach dargestellt) Hund und Schlange an dessen Blut gütlich, ein Skorpion ergreift die Genitalien des Stieres mit seinen Zangen. Mit dieser Aktion steht er auf gleicher Ebene wie Mithras selbst, er führt die Zerstückelung gewissermaßen metonymisch fort, es ist der Hoden, der zum Behältnis und Ursprung aller Dinge, zur Schöpfungsmacht schlechthin wird. Und auch hier geht es entgegen Casadios Auffassung gerade nicht um den Entmannungsakt als solchen,⁴⁵⁹ vielmehr darum, an den kostbaren Inhalt, an das Zeugungs- bzw. Transformationspotenzial zu gelangen. Im ikonographischen Material des Mithrasmythos (literarische Quellen sind ohnehin spärlich) finden sich allesamt jene Metamorphosen wieder, wie wir sie auch im Attis-
daran beteiligte Frauenfigur (direkt oder indirekt) verursacht habe. Letztendlich bedeute dies eine passive Unterwerfung unter das andere Geschlecht, eine gezähmte Männlichkeit gegenüber einer dominanten weiblichen Natur, kurz, „they [Attis, Adonis, Osiris, d. Verf.] play the colourless role of fading gigolos, of partners without clout“ (Casadio 2003, S. 248). Vgl. Lancellotti 2002, S. 11 f. Lancellotti vermutet, dass die jüngste, aktuellste Version des Mythos ein Aition für die Ritualpraxis der Kastration der Galli-Priester, der Priester-Eunuchen der Großen Mutter darstelle, der Mythos in dieser Form also eine Hellenisierung, eine griechische Erfindung sei: „[A]ll the allusions to the ritual practises recorded by the first Greek witnesses would only be creations a posteriori“ (Lancellotti 2002, S. 12). Auch Hugo Hepding betont den sekundären Charakter der Attismythen, ihr Erklärungswert werde entsprechend eher überschätzt. Er geht davon aus, dass ein bestehender Ritus oder eine Institution nicht mehr verstanden worden sei und gewisse bekannte, narrative Modelle um der aitiologischen Erklärung willen gewählt worden seien (vgl. Hepding 1903, S. 98 f.). Vgl. Geertz 1987c, S. 63f. Vgl. Merkelbach 1984, S. 193 ff. Vgl. Casadio 2003, S. 264 f.
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Mythos in unterschiedlichsten Versionen aufgerufen sehen. Der Demiurg Mithras wird selbst aus einem Stein geboren, ist dreigestaltig in einem Baum verkörpert. Und im Mithras-Mythos wird augenscheinlich, dass die Verstümmelung des Stieres nicht aufgrund einer sexuellen Verfehlung erfolgt, ausschließlich geht es um die Festsetzung und Gründung einer Ordnung, einer kosmischen Ordnung.⁴⁶⁰ Aber welchen Anfang sollte dann Attis markieren, wenn dessen Vergöttlichung wohl erst auf griechischem (und römischem) Boden stattgefunden hat, er zunächst wohl auch noch gar nichts mit der Priestereunuchenklasse der Galli zu tun hatte, sein Mythos also erst spät an kosmische Vorstellungen angesippt wurde und ebenso spät (wenn überhaupt) an christliche Auferstehungsvorstellungen? Ganz offensichtlich trägt er diese Anfangs- oder Gründungspotenz ursprünglich in sich als Mensch, und es ist gerade sein weniger populärer, alternativer ,Unfalltodʻ, der darin eine bedeutsame Rolle spielt. Wenngleich manche diese Mythenversion als hoffnungslos kontaminiert sehen mit dem Adonismythos und deshalb als nahezu unbrauchbar betrachten wollen,⁴⁶¹ haben wir doch gerade in dieser Form am frühesten Nachricht von Attis. So berichtet Herodot im ersten Buch seiner Historien (1, 34–43) über die lydische Königsdynastie der Mermnaden, die zwischen 680 und 547 v. Chr das Land regierten. Hier findet sich der erste literarische Hinweis für Attis oder Atys als (menschlicher) Sohn des Königs Kroisos. Der älteste Attis/Atys hat also seinen Platz in einer königlichen Genealogie, er ist ein königlicher Würdenträger, und Lancellotti wundert sich zu Recht: „[W]hy was a castrated god – if Attis was already considered a god in Phrygia, or a eunuch priest, if the ,god Attisʻ is a later invention – given a key role in the royal genealogy of Lydia?“ ⁴⁶² Es ist derselbe Grund, warum diese Rolle die kastrierten Götter Osiris, Freyr und nicht zuletzt Balder bekommen haben: Das Besondere, das Charakteristische, das über Attis mitgeteilt werden sollte, ist nicht jener unglückliche Jagdunfall, noch viel weniger ein blutiges Beziehungsdrama, es sind in der Tat stereotype, narrative Muster, die für sich kaum aussagefähig sind. Die Schilderung des Ereignisses bei Herodot (1, 34– 45) macht seinerseits den Eindruck einer bricolage, viele lose Enden, blinde Motive, die Herodot wohl nach bestem Wissen in einen linearen Erzählverlauf zu bringen versuchte. Es sind eben jene Stereotype, wie sie sich allesamt im nordischen Erzählraum wiederfinden.⁴⁶³ Im Traum wird dem König Kroisos der Tod seines Sohnes Atys durch eine Eisenspitze (αἰχμῇ σιδηρέῃ) prophezeit. Sogleich trifft er alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen, um seinen Sohn vor diesem schrecklichen Schicksal zu bewahren: Er lässt alle spitzen Gegenstände aus seinem Umfeld entfernen und – offenbar gleichermaßen als wirksames Antidot empfunden – verheiratet ihn. Nun wird
Vgl. Alvar Ezquerra 2008, S. 35. Vgl. Alvar Ezquerra 2008, S. 64: „hopelessly contaminated“. Lancellotti 2002, S. 26. Nach Lancellotti kann man davon ausgehen, dass diese Listen auf noch frühere Modelle zurückgehen, entsprechend müsse man in den Atyaden die (gegebenenfalls auch fiktiven) mythischen, phrygischen Vorfahren einer Herrschermonarchie in Lydien sehen. Vgl. Neckel 1920, S. 142 f.
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zu Anfang der Geschichte auch ein zweiter Sohn eingeführt, „stumpf“, „stumm“ (κωφός) (1, 34), offenbar behindert, wenig vielversprechend wird er beschrieben im Gegensatz zu seinem in jeder Hinsicht herausragenden Bruder.⁴⁶⁴ Es ist das gut bekannte Erzählmuster der beiden ungleichen Brüder, ein Wissensrahmen der Konflikt, Spannungen, gegebenenfalls tödlichen Streit an dieser Stelle wohl evoziert, aber nicht weiterführt. Anstatt dessen macht die Erzählung eine Kehrtwendung. Das tödliche Versehen, das häufig genug der Unfähigkeit eines Außenseiters zugeschrieben wird, wird auf einen Neuankömmling übertragen. Nicht recht geglückt scheint dies indes. Dem Neuankömmling Adrastos, einem phrygischen Prinzen, wird ja bereits das nämliche Verbrechen, Brudermord, angelastet, weswegen er sein Land verlassen musste. „Wider Willen“, ἀέκων (1, 35), habe er diesen erschlagen⁴⁶⁵ – eine merkwürdige Umschreibung eines Brudermords (nicht etwa ,versehentlichʻ oder ,unbedachtʻ), und gleicht damit auffallend der notorischen Charakterisierung des mithräischen Stieropfers, das Mithras ebenso ,widerwillig‘ ausgeführt habe.⁴⁶⁶ Der König Kroisos nimmt ihn aber in allen Ehren auf, entsühnt ihn von seinem Verbrechen und betreut ihn mit dem Schutz seines eigenen Sohnes. Und selbst als dieser durch den verhängnisvollen Fehlschuss auf der Eberjagd Atys zu Tode bringt, sieht er in Adrastos bestenfalls das Werkzeug, aber nicht den Verschulder seines Todes. Bei oder nach den Leichenfeierlichkeiten begeht Adrastos schließlich Selbstmord auf dem Grabhügel. Hepding möchte Adrastos, den ‚versehentlichenʻ Totschläger (seiner Bedeutung nach der „Unentrinnbare“) ursprünglicher als eine Art „Totengott“ sehen.⁴⁶⁷ Eher aber macht er den Eindruck eines menschlichen Funktionsträgers im Totenritual. Er mag der rituell geforderte ,Bruderʻ sein, der dem Toten in den Grabhügel nachfolgt und diesen dort endgültig befriedet (als eben jene Art von male suttee, „männliche Witwennachfolge“), um den rituellen coup de grâce, den Abschlussritus im Begräbniskult auszuführen. Und auch im Herodotmythos scheint die Besonderheit des Materials (Eisen) bereits einen Hinweis auf die Eigenschaft des Opfers zu geben, es ist jedenfalls kein Mensch mehr (der mit jeder anderen Art von Waffe überwältigt werden könnte) – kein lebender. Sein Name (einschließlich Varianten) erscheint in Phrygien (also vor seiner Vergöttlichung auf griechischem Boden) nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit der königlichen Familie, Lancellotti hält es entsprechend für wahrscheinlich, dass „the funerary lament, present both in the mythical and in the cultic traditions about Attis, could have an antecedent in the royal funeral.“⁴⁶⁸ Was also vom frühesten Attis
Vgl. Neckel 1920, S. 143. Vgl. Neckel 1920, S. 143. Mithras ist trotz seiner schöpferischen Großtat bestürzt über sein Handeln und wendet sich beim Tötungsakt „schmerzerfüllt“ von seinem Opfer ab. Siehe Porphyrios, De antro nympharum 18: ὁ τὴν γένεσιν λεληθότως δακρύων („Im Geheimen beweint der Gott die Entstehung des Lebens“). (Vgl. Merkelbach 1984, S. 198). Vgl. Hepding 1903, S. 101. Lancellotti 2002, S. 12.
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zu berichten ist, ist sein Tod, die Begräbnisfeierlichkeiten, der etablierte Kult, seine rituellen, handlungspraktischen Elementen, kaum anders als wir es von Balder kennen. Hier finden wir in der Tat eine grundsätzliche und nachhaltige Übereinstimmung der beiden mythischen Gestalten. Das macht Attis Wesenheit, seine Bedeutung wie Bedeutsamkeit aus, genau so erscheint er schon im frühesten historischen Kontext, als der Tote, der Ahne, der Gründer, der Anfänger, der Πάπας, „the earliest and prototypical king, yet at the same time, he also has a special role as the father of Lydos, the eponym of the Lydians.“⁴⁶⁹ Und diese sehr alte, ursprüngliche ,Vaternaturʻ hat Attis immerhin im Namenmaterial behalten. Namen wie Beinamen sind Lallwörter und diese gehören zunächst einmal in den Bereich der primitivsten Wortschöpfungen der Kindersprache. Ihre Hauptcharakteristik ist ein recht überschaubarer Vorrat an einfachen, phonetisch leicht zu bildenden Sprecheinheiten, Silben, sehr häufig durch Verdoppelung, Repetition erweitert.⁴⁷⁰ Es ist ein Fundus an phonetischem Rohmaterial, das sich weltweit relativ gleichförmig zeigt und ‒ zunächst einmal ‒ bezüglich seiner Denotationen begrenzt ist: Lallwörter bezeichnen zuallererst die „nächste Umgebung und die primitivsten Lebenstätigkeiten des Kindes“,⁴⁷¹ Personen, Dinge, Aktionen, die in dessen Leben vorläufig noch die bedeutsamste Rolle spielen, insofern kann gerade bei lautlichen Übereinstimmungen in diesem Bereich nicht ohne weiteres auf historisch genetische Verwandtschaft geschlossen werden.⁴⁷² Typischerweise erfahren Lallwörter indes Bedeutungserweiterungen, häufig genug finden sie, über diesen engen Bereich hinaus, ihren Weg gewissermaßen in die Welt der Erwachsenen: So werde aus atta (‚Vaterʻ oder ‚Großvaterʻ) die Ehrenanrede für jeden Greis („Atta […] seni cuilibet dicimus“), ähnlich amma, avva für die ‚Mutterʻ, ‚Großmutterʻ, ‚ältere Frauʻ, nana für die ,Großmutterʻ, ,Dameʻ.⁴⁷³ Das namensgebende Konzept beziehe sich zunächst auf das Alter,⁴⁷⁴ so Wilhelm Oehl, im Weiteren könne das Lallwort indes „zur Bezeichnung eines sozialen Ranges“, zum „generalisierenden Ehrenname[n]“ wer-
Lancellotti 2002, S. 30. Vgl. Oehl 1933. Die grundlegendsten Formen sind: mama, papa, nana, tata, kaka, yaya, lala, sasa (mit entsprechenden vokalischen Varianten). Oehl 1933, S. 6. So schon im Sumerischen und Altbabylonischen (circa 3000 v.Chr.), vgl. Oehl 1933, S. 5. Neben phonetischen Schwankungen seien insbesondere die Bedeutungsschwankungen, „die Mehrdeutigkeit, ja Vieldeutigkeit“ des Lallworts bezeichnend, so können sämtliche Frauen in der Umgebung des Kindes, Großmutter, Tante, die Amme wie Hebamme mit dem gleichen Namen belegt werden ebenso wie männliche Bezugspersonen. Es ist zunächst, „naturgemäß“, „die einfache Begriffswelt der Kinderstube“ (Oehl 1933, S. 7). Siehe etwa νάννος, νέννος „Oheim“, νάννη, νέννη „Tante“, nana „Wiegenlied“, nana „Hausfrau“, niño „Kind“, nunnia „Ammenliedchen“, ñañaros „Puppenspiel“ (Oehl 1933, S. 15 – 21). Vgl. Oehl 1933, S. 14 f. Wie überhaupt das Lallwort dann die sekundäre Bedeutung „alt“ übernehmen könne, vgl. bulg. neni „der Ältere“, rumän. nene „Herr, Anrede an ältere Brüder oder Männer“ (Oehl 1933, S. 16 f.).
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den. Dann erscheine es in der Bedeutung ,Herrʻ, ,Gebieterʻ,⁴⁷⁵ ,Fürstʻ, ,Königʻ (bzw. ,Herrinʻ, ,Gebieterinʻ, ,Dameʻ) oder, in eine „religiös-hierarchische Sphäre“ gehoben, als „geistiger Vater, Priester, Abt, Papst“ bzw. „geistliche Mutter, Nonne, Äbtissin“.⁴⁷⁶ „Sehr häufig“ – und damit in jeder Hinsicht einschlägig – vermerkt Oehl die Bedeutung ,Ahneʻ oder ,Vorfahrʻ.⁴⁷⁷ Siehe z. B. assyr. abu „Vater“, „Ahne“, „Vorfahr“, tschech. děd „Großvater, Ahne“, ähnlich an. afe „Großvater“ und griech. πάππος „Großvater“.⁴⁷⁸ In der Tat, Attis Πάπας (sein üblicher Beinname) ist kein Greis, ja nicht einmal biologischer Vater. Hier ist seine ursprüngliche Position als Spitzenahn, Genealogiengründer und König gefasst, Eigenschaften freilich, die schon beim orientalischen Attis in einem nahezu unvereinbaren Widerspruch zu der späteren mythischen Gestalt stehen.⁴⁷⁹ Wir stoßen im Norden auf sehr ähnliche Vorstellungen. Wenn auch lediglich als Sekundärmotivation, finden wir diesen Bedeutungskontext etwa im Namen von Balders Frau Nanna. Ein „near-universal sound complex designating woman“ ist hier bereits vermutet worden,⁴⁸⁰ eben ein Lallwort, das Liberman gerade aufgrund seiner Universalität als kaum ergiebig einschätzten möchte. Allerdings stellt er sich dabei nicht die Frage, warum dann ausgerechnet die Frau Balders (wenn nicht als einzige, dann doch nahezu ausschließlich) mit einem Namen aus der Kindersprache belegt würde. Tatsächlich aber findet sich das Benennungsmotiv des orientalischen AttisNamens auf gleiche Weise im Namen des nordischen Balder sowie im Namen seiner ihm nächst verwandten Figur Freyr. Diese tragen keine Lallwortnamen, aber die Semantik ist identisch: Balder und Freyr sind die einzigen Götter des Nordens, die mit ‚Herrʻ bezeichnet werden. Für Freyr (und damit für Freyja) kann die Ableitung von altn. „Herr“ bzw. „Herrin“ als gesichert gelten,⁴⁸¹ wenn auch für Balder die Bedeutung „Herr, Herrscher, Anführer“ (vgl ae. bealdor, an. -baldr „Herr, Fürst“) nicht ganz so eindeutig scheint.⁴⁸² Schon Jacob Grimm und später Franz R. Schröder und Hans Kuhn sehen in Balders Namen die idg. Wurzel *bhel- „weiß, glänzend“ (so etwa lit. baltas „weiß“, gr. φαλός „weiß“), was entsprechend seine Lichtgottnatur, aber auch eine Ähnlichkeit zu Christus für lange Zeit aufs Natürlichste zu stützen schien.⁴⁸³ Schröder möchte mit der gleichen Wurzel arbeiten, allerdings semantisch vordergründig abweichend, im Sinne von „aufschwellen, strotzen, sprießen“, und nimmt also die Be-
Siehe ähnlich hebr. ’ădonāj (< ’ādôn „Herr“), griech. κύριος („Herr“) als Anrede oder Titel bzw. Ersatzname für Gott. Auch hier wird eine Herkunft aus ugaritisch ad als Lallname für „Vater“ oder ugaritisch adn „Herr“ vermutet (vgl. de Vos 2006, ausführlich dazu Rösel 2000, S. 17– 54). Oehl 1933, S. 14 f. Vielleicht geht das Wort ,Ahneʻ selbst auf das mhd./ahd. Lallwort an(e), ano zurück. Oehl 1933, S. 15. Vgl. Lancellotti 2002, S. 31. Liberman 2004, S. 25. Siehe an. etym. Wb 1962, „Nanna“. Vgl. Polomé 1995, S. 587: got. frauja „Herr“ < germ. *fraujaz, ae. frīega, as. frōio, ahd. frō (< germ. frawa). Siehe Kuhn 1951. Vgl. Schier 1975, S. 2.
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deutung „geschwollen“, „zeugungskräftig“, „stark“ an (got. *balþs, an. baldr, baldinn, ahd. bald usw. „kühn, tapfer“), Balder „der Strotzende“ (aus einer germ. Grundform *bal-đra-m n. „Kraft“ > *bal-đraz m.).⁴⁸⁴ Diese Etymologie schien wiederum gut zu passen zu seiner Vorstellung Balders als Fruchtbarkeitsgott. Aber vielleicht muss man in diesen unterschiedlichen Ansätzen nicht einmal von einem unüberbrückbaren semantischen Widerspruch ausgehen. Es ist vielmehr das Bild für Kraftkonzepte aller Art: der mächtige Herr, der Anführer ist der bis zum Bersten angefüllte Container, „der Angeschwollene“, wie auf gleiche Weise die (Bei)namen Freyrs wahrscheinlich machen, sei es ,Fróðiʻ, ,Yngviʻ oder þroskr („Reife, männliche Kraft, Potenz“). Sexuelle, phallische Assoziationen sind dabei erwartbar, aber sie müssen keineswegs darauf reduziert werden. Den ,Inhaltʻ des Auges stellte man sich schließlich auf gleiche Weise als Licht-, Energie-, Sehstrahlen vor. In einem mythisch magischen Sinn ist Balder entsprechend austauschbar ,der Strahlendeʻ wie ,der Strotzendeʻ, und Freyr besitzt die nämlichen Epitheta. Unabhängig davon aber, ob bei Balder die für seinen Namen bedeutungsgebenden Vorstellungen noch bewusst waren, galt er doch zunächst und vorrangig als ,Herrʻ.⁴⁸⁵ Die Fragestellung, die sich hieraus ergibt, ist dieselbe: Wie mochten ausgerechnet diese Götter zu ihrer Benennung gekommen sein? Balder tritt auf keine Weise als mächtiger Anführer in Aktion, so wenig wie Freyr. Beide sind in der mythologischen Überlieferung das schiere Gegenteil des wirkmächtigen, souveränen Herrn. Noch dazu stellt sich im nordischen kulturellen Kontext ein weiteres Problem: Gerade hier scheint diese Anrede mit einem befremdlichen und durchaus pejorativen Abhängigkeitsverhältnis konnotiert gewesen zu sein. Neckel stört „das Gefühl der Unterordnung und der Abhängigkeit, der demütige Aufblick“,⁴⁸⁶ die diese Anrede für ihn impliziert. Die nordgermanischen Götter zeichneten sich eben gerade nicht durch Herrschsucht und Eifersucht aus wie ihre östlichen, griechischen, insbesondere jüdisch alttestamentarischen Entsprechungen. Man sei bestenfalls Freund des Gottes, jedenfalls auf Augenhöhe. Entsprechend kann er in dieser Herrscheranrede nur „Nichtgermanische[s]“,⁴⁸⁷ Semitisches sehen.⁴⁸⁸ Ähnlich wie der Name ,Adonisʻ als die ins Griechische übernommene Anrufung „Adonai!“ („mein Herr!“) verstanden werden müsse, müsse auch die Bezeichnung ,Balderʻ oder ,Freyrʻ aufgefasst werden, eine „unterwürfige Anrede mit einem Worte, das der unfreie Kriegsgefangene oder
Schröder 1953, S. 168. Neckel möchte die genannten Alternativetymologien entsprechend bestenfalls als Möglichkeit sehen, die hinter dem Quellenbefund zurückstehen müssten (vgl. Neckel 1920, S. 133, Anm. 2). „Jedenfalls mußte der Name des Gottes Baldr in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung als ‚der Herrscherʻ oder ‚der Anführerʻ verstanden werden. Vermutlich ist er dadurch aufgekommen, daß man den Gott im Kulte als den ‚Herrscherʻ anrief“ (Neckel 1920, S. 133). Neckel 1920, S. 134. Neckel 1920, S. 135. Das Gegenbeispiel, das Neckel dafür anführen möchte, der ‚Freyrpriesterʻ Hrafnkell (vgl. Neckel 1920, S. 134), zeigt allerdings ganz im Gegenteil aufs Augenscheinlichste jene merkwürdige, von ihm so verpönte Unterwürfigkeit, eine für nordgermanische Verhältnisse nicht gekannte schmeichlerische Zuwendung ausgerechnet zum Freyr-Pferd Freyfaxi (siehe Hrafnkels saga Freysgoða).
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gekaufte Knecht dem Gewalthaber gegenüber gebraucht.“⁴⁸⁹ Auch wenn wir Neckels Einschätzung in diesem Punkt vielleicht in mancher Hinsicht seiner weltanschaulichen Einstellung geschuldet sehen müssen, einschließlich seiner falschen Schlussfolgerung bezüglich der Herkunft („[n]ichtgermanische Lippen haben ihnen diese Formeln vorgesprochen“), hat er dennoch richtig beobachtet: Solche Selbsterniedrigung, mag sie religiös oder sozial sein – das auch von den Griechen so verabscheute προσκυνεῖν im weiteren Sinne – ist ungermanisch; es paßt in die altgermanische Kultur schlechterdings nicht hinein, wäre dort psychologisch ein Unding. Es ist denn auch gewiß nicht viel gewesen, was die Germanen vor ihrer Bekehrung zum Christentum aus abergläubischer Furcht und unter dem Eindruck der reicheren Kultur des Südens davon übernommen haben. Zu dem Wenigen gehören die Götternamen Baldr und Freyr. Sie sind Übersetzungen, aber getreu konnten sie nicht sein: Baldr klang nicht wie ,Väterchenʻ und auch nicht wie ,Herrʻ, sondern etwa wie ,starker Anführerʻ.⁴⁹⁰
So oder so, Herrscherbezeichnungen, sei es in der Gestalt von Lallwortkonzeptionen (dann ohnehin mit dem Konnotat emotionaler Zugewandtheit, enger familiärer Vertrautheit), aber auch in anderer sprachlicher Form, rufen jenen eklatanten Unterschied in der sozialen Hierarchie auf, der Neckel so missfällt. In der Tat passt solche „Selbsterniedrigung“ nicht zur germanischen Götterverehrung, Götterkommunikation sieht im Norden anders aus. Aber nach allem, was wir bisher über Totenkult und -fürsorge in Erfahrung bringen konnten, passt es gut zur Ahnenverehrung. Es ist der Ahnenstatus, den Attis wie Adonis, Balder wie Freyr, auf gleiche Weise wie deren weibliche Pendants Nanna und Freyja bereits im Namen ausgewiesen haben. Sie alle teilen sich das gleiche Benennungsmotiv. Aber das sind keine Entlehnungskonzepte, die, unwahrscheinlich genug, ausgerechnet nur Balder und Freyr/Freyja und Nanna erfahren haben sollten, es sind transkulturelle, sprachliche Unterwerfungsgesten, sprachliche Zeigegesten der Degradierung, die im Norden (im Gegensatz zum Osten) nur für den Toten- und Ahnenkult infrage kommen. Es sind Hüllwörter, sprachliche Surrogate für diejenigen, deren wahres Wesen besser ungenannt bleibt: die Toten. Die Kultteilnehmer reduzieren sich auf die Bedürftigkeit und Abhängigkeit eines Kleinkindes. Sprachlich ausgespart bleibt damit also nicht nur die Furcht vor der Potenz und Wirkmacht eines lebenden Herrschers, sondern insbesondere eines toten.⁴⁹¹
Neckel 1920, S. 135. Neckel 1920, S. 137. Dazu passt der Bedeutungskomplex des Lallworts nenia, der bereits in der antiken Tradition changiert zwischen „Kinderlied“, „Unsinn“, „Possen“ (bis hin zu „Schwanzstück, Eingeweide“), „magische Beschwörung“ und schließlich „Leichenlied“ (vgl. Walde/Hofm. 1965 – 1972, „nenia“). Im Germanischen wird nenia mit „selenleich, dottengesang“, aber auch „wigenlyet“ wiedergegeben, das germanische sisu(a) oder sise-sang mit nenia, funebria carmina, carmen lugubre glossiert. Für sisesang möchte man eher von einem Schallwort ausgehen, wobei sich Schallwort und Lallwort in einer frühkindlichen Stufe ohnehin überlappen als primitive Lautnachahmungen akustischer Eindrücke (vgl. Oehl 1933, S. 1 f.). Ehrismann sieht „sisu von dem geheimnisvollen flüsternden, raunenden Vortrag der Zaubersprüche jeglicher Art entnommen, mit besonderer Hinsicht auf einen feierlichen Totenzauber,
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Der orientalische Attismythos kann also, wenngleich lange Zeit verpönt, wieder mit guten Gründen an den nordischen Baldermythos angeknüpft werden – nun aber unter ganz neuen Vorzeichen: Der früheste Attis ist nicht Fruchtbarkeitsgott, ja nicht einmal Gott, eine lange Entwicklung von Neu- und Sekundärmotivierungen macht ihn dazu, bis er schließlich in einer letzten Stufe zum Mysteriengott, zum soter avanciert. Aber ein Körper, der nicht verwest, Haare, die wachsen, und ein Fingerglied, das noch beweglich bleibt, können kaum als Auferstehung beeindrucken. Sie stehen eher in der Tradition eines unverweslichen, für die Ewigkeit geschaffenen Mumienkörpers eines Osiris (in gleicher Weise wie die unzerfallenen, duftenden Leiber der späteren christlichen Heiligen), es zeigt die Exzellenz, die Besonderheit des Toten – es ist das genaue Gegenteil einer Auferstehung, wie auch Lancellotti betont: The death of Attis is the very nucleus of the cult itself: he must die and his death guarantees him relocation to the other dimension from which, though transformed and indeed precisely because he is transformed, he can no longer return. References to him as a dead person sui generis, with an incorruptible body that is granted minimal movements, are evidence for his effective permanence in the Netherworld.⁴⁹²
Attis als kosmische Figur, ja als Alter Ego von Christus ist spät, gewissermaßen als ‚letztes Bollwerkʻ gegen das aufsteigende Christentum, und doch scheint Attis, gerade durch diese letzte erbitterte Phase christlicher Abwehr dieser bedrohlich ähnlichen Götterkonzepte, etwas von seinem ursprünglichen Wesen zurückzugewinnen: „Paradoxically, it is in defeat itself that Attis was to regain his own more authentic dimension: a person destined to die.“⁴⁹³ Von dieser frühen, authentischen Dimension wollen wir ausgehen, sie rückt Attis – nach wie vor – am nächsten zum nordischen Balder. Und sie wirft gleichermaßen ein bedeutsames genealogisches wie ‚funeralesʻ Licht auf ein anderes tödliches Versehen im germanischen Kulturkreis, das immer wieder mit Balders wie Attis Schicksal in Verbindung gebracht wurde: Der Held Beowulf, bekanntlich mit dem bevorstehenden Drachenkampf sein eigenes Ende vor Augen, lässt seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen, zu den Anfängen, seinen Anfängen, wie er als Siebenjähriger vom Gautenkönig Hreðel adoptiert und in dessen Familie aufgenommen wird. Unmittelbar damit verbindet Beowulf den wohl finstersten Punkt der Chronik seiner (neuen) Familie, den Jagdunfall, den Tod des Herebeald, verschuldet durch dessen Bruder Hæðcyn (Beowulf V. 2435 – 40). O’Donoghue wie Liberman können hier keine Verbindungen sehen, weder zu den nordischen noch den antiken Traditionen:
wie die Hellirunen“ (Ehrismann 1954, S. 44 f.). Aber hier wie überall werden wir wohl eher den umgekehrten Weg annehmen müssen, dass der Flüsterton zunächst seine primitive, beruhigende Wirkung im Kleinkind-Milieu erwiesen hat („sûsen summen, leise singen, wie beim Einschläfern, (einsusen) der Kinder […]“ [Ehrismann 1954, S. 44]) und von dort seinen Übertragungsweg in andere prekäre, außernatürliche Kommunikationssituationen gefunden hat. Lancellotti 2002, S. 153 f. Lancellotti 2002, S. 164.
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Although the names are similar, the situations are not. Saxo’s and Snorri’s versions of the myth share more (much more) than names, but what does a hunt and an accidental death, despite an association with the myth of Adonis, have in common with Loki’s or Hoðr’s hatred of Baldr (endowed with magical invulnerability) and premeditated murder (Snorri) or the defeat of a bitter enemy in battle (Saxo)?⁴⁹⁴
Das Vergleichsmoment findet sich nicht auf der narrativen Oberfläche, es geht um eine strukturelle, eine funktionale Ähnlichkeit: Der Waffengebrauch bei der Jagd wie beim Sport oder Spiel impliziert eine konsequenzenlose, ohne Tötungsabsicht und -risiko (jedenfalls nicht für Menschen) vollzogene Betätigung von Waffen. Das tertium comparationis ist der Kippmoment, das Scheitern dieses Settings. Durch den Kunstgriff des Rückblicks erscheint im Beowulf das Unglück sowohl zu Beginn einer dynastischen Ordnung, als hochfragiler, in jeder Hinsicht schwankender, gefährdeter Anfang einer Sippengenealogie, ebenso aber als Markierung der Jetztzeit in einem eschatologischen, endzeitlichen Kontext. Der Drachenkampf ist Beowulfs eigenes Ende. Er ist auf nämliche Weise gestaltet wie Thors tödlicher Monsterkampf mit der Midgard-Schlange und auf nämliche Weise steht in der Snorra Edda der Baldertod als Zeichen des Beginns wie Auslösers des Untergangs. Aber Balder ist auch selbst Gründer eines Königsgeschlechts, und gerade die angelsächsischen Quellen wissen das gut.
12.5.4 Lugaid Dalléces Auch im keltischen Kulturbereich erscheint der tödliche blinde Schütze. Der Held Fergus mac Róich fällt ihm zum Opfer (siehe Aided Fergusa maic Róich), er verliert sein Leben durch den Schuss des blinden Lugaid Dalléces, sein Kamerad und Ziehbruder, unbeabsichtigt seinerseits, ja gezielt irregeführt, und wird gerade dadurch auf besondere Weise in die Nähe der Todesumstände Balders gerückt. Es scheint zunächst ein Totschlag aus Eifersucht, Ailill, König und rechtmäßiger Ehemann der Medb (ganz entgegen seiner sprichwörtlichen Eifersuchtslosigkeit!), erträgt die Brüskierungen seiner Ehefrau plötzlich nicht mehr. In aller Öffentlichkeit macht sie ihrem Liebhaber Fergus unverhohlene sexuelle Avancen. Beim ausgelassenen Schwimmen in einem See hat sie mit ihm Geschlechtsverkehr, umklammert ihn mit ihren Schenkeln so heftig, dass Steine und Geröll aufgewirbelt werden. Ailill, der dies mit steigendem Missfallen beobachtet, belügt den blinden Lugaid und gibt vor, im Wasser tummelten sich zwei Hirsche im Liebesspiel. Daraufhin lässt sich dieser von ihm die Richtung deuten, schießt und trifft Fergus tödlich.⁴⁹⁵ Wohl sind die Unterschiede zu Balders Todesszene beträchtlich, andererseits sind gewisse Übereinstimmungen so auffallend, dass sie kaum übergangen werden können. Schließlich erinnern die Kernerzählelemente frappant an die Todesumstände jener bereits beschriebenen, anderen
Liberman 2004, S. 21. Meyer (Hg.) 1906, S. 32– 35.
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tödlichen ,Jagdunfälleʻ. Und auch wenn im Einzelfall gegebenenfalls kaum unterschieden werden kann zwischen letztendlich historischen oder typologischen Abhängigkeiten, ,Wandermotivenʻ – zufällig sind sie gewiss nicht.⁴⁹⁶ Auch diese Episode gehört in den übergeordneten Motivkomplex des blind shooter. Darüber hinaus finden sich in der weiteren Sagentradition des Fergus genau jene Motivkombinationen, wie sie in der Tradition des Attis in einer heterogenen Entwicklung als ,phrygischʻ oder ,lydischʻ identifiziert werden konnten, aber ebenso in der nordischen Tradition: Hier sind sie auf die Göttergestalten Freyr und Balder aufgeteilt. Denn Fergus stirbt nicht nur einen Tod bei ,Spiel und Spaßʻ wie Balder, wir finden bei ihm auch jenes grundlegende Element der Kastration, was im mythischen Zusammenhang stets Tod bedeutet, und beides auf Ailills Veranlassung. Ailill stiehlt Fergus berühmtes Schwert Caladbolg, das, ähnlich wie Thors Hammer, ganze Landschaften zu formen vermag, und lässt es durch ein Holzschwert ersetzen. Und es ist ausgerechnet der Geschlechtsverkehr mit Königin Medb, der dies ermöglicht. In einer anderen Version ist es dessen Wagenlenker, der ihm das Schwert entwendet.⁴⁹⁷ Dieser merkwürdige Tausch mag sich zunächst burlesk anzüglich ausnehmen, wie auch auf Fergus ‚Wunderschwertʻ gewiss nicht zu Unrecht manch „Freudian interpretation“⁴⁹⁸ verwendet wurde. Interessant aber scheint gerade die Analyse John Kochs, der das See-Abenteuer mit Medb lediglich am Ende einer langen Reihe vorangegangener Degradierungen sieht, „from his status as king to senior nobleman, to tribeless warrior/gigolo, and ultimately to a beast in the wild, hunted down as a beast.“⁴⁹⁹ Fergus strebt gerade durch seine sexuellen Vereinigungen Schritt für Schritt einer Entmenschlichung entgegen, die im Tod endet. Als Fergus den Verlust seines Schwertes (nach dem Geschlechtsverkehr) bemerkt, schwört er einen bemerkenswerten Eid, wofür er dieses Schwert einsetzen würde, wenn es erst wieder in seinem Besitz wäre. Dieser Schwur geht nun aber weit über den Fluch eines erbosten Bestohlenen hinaus, ist weit mehr als lediglich „a rhetorical flourish“,⁵⁰⁰ als das er manches Mal betrachtet wurde. Hier wird die Zerteilung eines menschlichen Körpers in seine kleinsten, anatomischen Bestandteile beschworen, ein
Dagegen Egeler 2013, S. 57 f.: Das isländische und irische Tötungs-Szenario beurteilt er als „fundamentally different“ (Egeler 2013, S. 57). Die Übereinstimmungen hätten sich auch zufällig, jedenfalls unabhängig voneinander entwickeln können, sie seien entsprechend von eher geringem Wert für die Mythenanalyse. Die vorgeblichen irischen Parallelen könnten jedenfalls wenig beitragen „to actually deepening our understanding of Balder’s death in the Gylfaginning“ (Egeler 2013, S. 58). „[…] Ailill came unawares upon Fergus and Medb as they slept, and he took away Fergus’s sword and gave it into the keeping of his charioteer, and a wooden sword was put into his scabbard“ (Übers. O’Rahilly 2001 [1976]). Koch 2006a, S. 740. Koch 2006a, S. 740. Sayers 1985, S. 35.
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magischer, um absolute Vollständigkeit bemühter Sprechakt,⁵⁰¹ unübersehbar die „specific cosmogonic overtones“⁵⁰²: The conscious, comprehensive ordering and naming, thus re-creation, of body parts in an oath sworn by a tribal tutelary figure or culture hero is a litany suggestive of a ritual dismemberment of a sacrificial human victim with „the sword that cuts men’s flesh.“ As such, it has specific cosmogonic overtones. Classical writers such as Posidonius have testified to the practice of human sacrifice among the Continental Celts. This Irish evidence for ritual dismemberment, even if admitted only on the conceptual level and not as an actual practice, is matched by a complementary vision of the reassembly of the human body. Indian and Norse traditions, as found in the Rigveda and Eddas, offer striking parallels to the Irish account.⁵⁰³
Aber Fergus erscheint ebenso in einer sehr alten Tradition als Stammvater mehrerer bedeutsamer Genealogien: Earlier is the tradition found in the genealogical corpus and later used by Keating, that Fergus begot three sons (Keating: triplets) on Medb, named Cíar, Corcc, and Conmac, and that from these sons are descended various branches of the Ciarraige in Munster and Connacht, the Corc Modruad in North Munster, and various branches of the Conmaicne in Connacht and Meath.[…] Two facts seem to have contributed substantially to cast Fergus in the role of supernaturally virile hero in which he appears in some of the later texts: his role as ancestor of a growing number of peoples, and the interpretation of his name as „man’s strength“ in the sense of „virile strength“.⁵⁰⁴
Diese Funktion als sowohl primordialer Schöpfer wie Stammvater ist bei Fergus evident genug, in der Forschung scheint sie indes bei weitem weniger Beachtung gefunden zu haben als seine Ausgestaltung als „paragon of sexuality“,⁵⁰⁵ als seine ans Absurde grenzende Sexualität. Der Name Fergus wird mit „virile strength“, also männliche sexuelle Potenz wiedergegeben, wenn auch nicht ganz unumstritten, aber er scheint so verstanden worden zu sein: Sein Penis ist kolossal, die Bezeichnung „Sohn des Róich“ (Ro-Ech „great horse“) wird mit ähnlicher Assoziation gedeutet, bod Fhergais „Fergus’ penis“ ist der Spitzname des Inthronisationssteins auf dem Hügel von Tara,⁵⁰⁶ was wiederum, neben einer rein äußeren, phallischen Ähnlichkeit,
„Then Fergus swore this oath: ‚I swear by my people’s oath, that I would strike men’s jawbones from their necks, men’s necks from their shoulders, men’s shoulders from elbows, men’s elbows from forearms, men’s forearms and their fists, men’s fists and their fingers, men’s fingers and their nails, men’s nails and the crowns of their heads, men’s crowns and their trunks, men’s trunks and their thighs, men’s thighs and their knees, men’s knees and their calves, men’s calves and their feet, men’s feet and their toes, men’s toes and their nails. Their headless necks would sound in the air (?) like a bee flying to and fro on a day of fine weather.ʻ Then Ailill said to his charioteer: ‚Bring me the sword that cuts men’s fleshʻ“ (Übers. O’Rahilly 2001 [1976]). Sayers 1985, S. 35 Sayers 2015, S. 478. Edel 1997, S. 160 f. Koch 2006a, S. 740 Vgl. Irslinger 2017, S. 9.
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ebenso eine Assoziation mit Gründung und Etablierung von politischer Macht wahrscheinlich macht. Fergus ist also wie der germanische Vǫlsung („Sohn des Penis“) zunächst einmal Dynastiegründer, auch wenn sich die narrative Tradition mehr und mehr auf die groteske Hypertrophie seines Geschlechtsteils und seiner selbstredend damit verbundenen sexuellen Bedürfnisse zu kaprizieren scheint. Er gleicht darin der Königin Medb, die für ihre sexuelle Exorbitanz ebenso berühmt wie berüchtigt ist: So wie Medb schließlich 30 Männer am Tag zur Lustbefriedigung bedarf, so benötigt er entsprechend sieben Frauen. Fraglich in der Tat wie ursprünglich diese Anlagen waren, gegebenenfalls kaum mehr als populärer Gegenstand einer mittelalterlichen „culture of laughter“⁵⁰⁷: „[T]he motiv of insatiable sexuality becomes more prominent for both Medb and Fergus only later, i. e. between the 13th and 14th centuries.“⁵⁰⁸ Edel möchte zwar auch diese frühe Rolle Fergus als Ahn und Stammvater nicht unbedingt als gesichert und möglicherweise ebenso spät sehen (trotz der frühen Nennung im Gedicht Conailla Medb Michuru des 7. Jhs.), aber auch im außerkeltischen Vergleichsmaterial zeigt sich diese Funktion ebenso durchgehend wie früh. Attis, Adonis oder Tammuz-Dumuzi sind auf gleiche Weise tragisch und grausam zu Tode Gekommene in ihrer Eigenschaft als ,Liebhaber der Göttinʻ. Balderus ruht in den Armen Proserpinas/Nannas, Freyr in denen Gerðrs. Nicht aber eine Verfehlung bzw. Bestrafung wollen diese Mythen erzählen, vielmehr markiert die Kombination göttlicher Liebhaber/Tod diese als ‚erste Verstorbeneʻ: Ahnen, Gründerväter, Anfänger von Stammes-, Familien- oder Herrschergenealogien sterben diese Tode. In der Gestalt des Fergus findet sich also ebenso jene Gleichschaltung von Makrokosmos und Mikrokosmos, von kosmogonischem Schöpfungsakt und Sippengründung. Direkt oder indirekt bewirkt der Geschlechtsakt Schwertverlust (d. h. Kastration) wie Schöpfungsakt. Selbst das Bild des Aufwirbelns von Stein- und Geröllmassen im See, das ausdrücklich mit dem Liebesakt von Medb und Fergus einhergeht, ist nicht nur pittoreskes Beiwerk, es evoziert Vorstellungen eines chaotischen, primordialen, kreativen, landschaftsschaffenden Prozesses, wie es schließlich auf gleiche Weise sein Schwert vermag.⁵⁰⁹ Und auch darin gleicht ihm Medb in ihrer Ausgestaltung als Königin Medb of Connacht (bzw. ihre ‚Dubletteʻ Medb Lethderg).⁵¹⁰ Nach allgemeiner
Edel 1997, S. 166. Irslinger 2017, S. 9. Ein ähnliches Motiv findet sich in der Drohrede Ezechiels gegen den Pharao von Ägypten. Diese ist in der formalen Gestalt eines Leichenlieds gehalten (der drohende Untergang, der Tod ist zwar noch nicht eingetreten, wird aber als wie eingetreten behandelt): „Löwe der Völker, jetzt bist du verstummt. Und doch warst du wie ein Krokodil in den Seen, hast die Flüsse aufgepeitscht, das Wasser mit deinen Füßen verschmutzt und die Fluten aufgewühlt“ (Ez. 32). Diese Verbindung Medbs mit einer hypertrophen Sexualität erscheint in zahlreichen Ortsnamen, etwa Ballypitmave (ir. Baile phite Méabha „townland of Medb’s vulva“) oder Sawel Pitmave (ir. Samhail Phite Meadhbea „likeness of Medb’s vulva“). Zunächst steht also hier nicht das Ausmaß sexueller Bedürfnisse im Vordergrund, vielmehr eine kosmische Potenz und Schaffenskraft, die durch diese Körperfunktionen medialisiert wird. So weiß die Überlieferung (TBC 4830 – 4832) ebenso zu berichten,
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Übereinkunft setzt sie ein früheres mythisches Göttinnenkonzept fort und ähnelt darin den ,göttlichen Prostituiertenʻ des Ostens, aber auch den so genannten ,Liebesgöttinnenʻ des europäischen Kulturraums (Venus, Aphrodite). Die Königin zeichnet sich wie ihre östlichen Schwestern, Inanna, Ishtar, durch einen unersättlichen sexuellen Appetit aus ebenso besitzt sie ein durch und durch martialisches Wesen. Schon für Thurneysen scheinen deren Verbindungen in den Nahen Osten explizit (vorläufig immer noch unentschieden ob historisch oder typologisch). Dabei stelle Medb (mit Rückgriff auf Tómas Ó Máille) „the sovereignity of Ireland“, eine „Personifikation der Herrschaft“ dar, nur durch eine „mystische Verbindung“ mit ihr konnte die Königswürde in Irland erlangt werden.⁵¹¹ Der rechtmäßige König war stets auch der Ehemann von Medb. Entsprechend ist in ihrem Namen („mead-woman“) etwa ein „gottgewollter Rauschzustand“ vermutet worden, in dem die rituelle Vereinigung mit dem König erfolgt sein könnte⁵¹²: „The picture of Medb that arises from these texts is that of a both markedly sexual and warlike figure which is deeply connected with the symbolism of sovereignty and whose many lovers tend to come to a dire end.“⁵¹³ Die promiskuitive Gattenwahl der Königin Medb (so bei Ishtar/Inanna oder der griechischen Aphrodite) scheint gerade in dieser Hinsicht berüchtigt. Durchaus nicht immer hat sie erwünschte, günstige Folgen für die dermaßen Erwählten (allen voran die Königswürde), nicht selten verlieren die Liebhaber ihr Leben, eine Liebesvereinigung mit Medb, ihre berüchtigte „‚friendship of her thighsʻ“ (comaid dom sliasaid-sea) bedeutete den Tod. Gewiss für ihren berühmtesten Liebhaber Fergus Mac Róich, aber auch ihr Ehemann Ailill verliert durch sie sein Leben, weil er ihr untreu geworden ist.⁵¹⁴ Auch Gro Steinsland versucht zu zeigen, dass Freyr als mythischer Vertreter eines nordischen sakralen Königtums aufzufassen sei und seine Hochzeit mit Gerðr entsprechend als Königsinauguration zu verstehen sei. Sie verweist auf die wichtige
dass sie mithilfe ihres „blutigen Urins“ (fúal fola) ganze Landschaften formte und gestaltete (vgl. Irslinger 2017, S. 6). Thurneysen möchte diese Idee nicht lediglich „allegorisch“ sehen (wozu indes inzwischen die Orientalistik tendiert), sondern als konkret ausgeführtes Ritual (vgl. Thurneysen 1930, S. 110). Wohl erscheint diese Funktion als Königsmacherin explizit erst im berühmten „pillow talk“ des Táin Bó Cuailnge des 12. Jhs., dennoch möchte Egeler diese Vorstellung als wesentlich älter betrachten. So werde der Begriff „royal inauguration“ selbst mit banais wiedergegeben, i. e. ban-ḟeis, was in wörtlicher Bedeutung „the spending of the night with a woman“ bedeute (banais rígh „wedding of kingship“, siehe Irslinger 2017, S. 2; Egeler 2012, S. 74). So Thurneysen 1930, S. 110. Siehe dazu auch Egeler 2012, S. 68, der Medh-w-ā weniger als „die Betrunkene“, sondern als „mead-woman“ lesen möchte, also die Personifikation eines „intoxicating liquor“, entsprechend der Gleichsetzung im Cormac’s Glossary (9./10. Jh.), wo „sovereignity“ als „good ale“ flaith .i. fo-laith. Laith .i. cuirm. erscheint (dagegen die neuerdings wieder aufgegriffene alternative Etymologie *Medwā „the ruler“, vgl. Irslinger 2017, S. 2). Egeler 2012, S. 76. Einschlägig in diesem Sinne ist auch ihre Verbindung zur Höhle von Crúachan (Oweynagat). Medbs Vulva sei wohl als Eingang zur Unterwelt betrachtet worden, so Irslinger 2017, S. 6, was im übertragenen wie buchstäblichen Sinn zum fatalen Schicksal ihrer Liebhaber passt, der Geschlechtsakt wird zum Eintritt bzw. Aufnahme in die Unterwelt.
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Funktion seines Schwertes ebenso auf das Motiv des Hochsitzes und die spezifischen Requisiten wie Apfel, Stab und Ring, die dabei eine zentrale Rolle spielten. Das Gedicht Skírnismál selbst sei „et uttrykk for den nordiske herskermyten par excellence.“⁵¹⁵ Als „insignia of royality“⁵¹⁶ (gerade in einem explizit christlichen Verständnis) kodierten sie Freyrs mythische, pagane Königswürde: Er nehme Platz auf dem Hochsitz in einem Akt der buchstäblichen Inthronisation; der Bote Skírnir liefere ihm dazu die königlichen Regalien Globus, Zepter und Ring.⁵¹⁷ Das bemerkenswerte Element der Gewalt und des Zwangs, dem die mythische Partnerin, die Anderweltfrau Gerðr unterworfen sei, unterstützt nach Steinsland Lesung diesen Inaugurationsakt, als Verkörperung des Landes selbst werde Gerðr zum Objekt des Willens des Souveräns.⁵¹⁸ Nun klingt tatsächlich im Schwertraub des irischen Wagenlenkers die Aktion des Dieners Skírnir noch an. Aber am wenigsten erkennen wir hier Machtvermehrung, Inauguration, vielmehr Degradierung, Schwächung, in letzter Konsequenz Kastration. Fergus wie Freyr erhalten Ersatz in Form eines Holzschwerts bzw. Hirschgeweihs, das ist apotropäischer, ritueller Ersatz, keine Verleihung der Königswürde. Insbesondere beruft sich Steinsland bei ihrer Interpretation gerade auf altorientalische, mesopotamische Konzepte der ,Heiligen Hochzeitʻ. Aber wie ließe sich der eklatanteste Unterschied zum nordischen Szenario erklärlich machen? Niemals erfolgt in Mesopotamien diese Verbindung unter Zwang oder gar Androhung von Gewalt dem weiblichen Part, der Göttin gegenüber, im Gegenteil, es ist Ishtar, Innana, die ,göttliche Prostituierteʻ, die erwählt, die diese Gunst erteilt, dem menschlichen Liebhaber und/oder König gewährt. Die Übereinstimmungen zur germanischen ,Liebesgöttinʻ Freyja sind eher einschlägig, wohl auch zur Ahnenbraut Þorgerðr Hǫlgabrúðr (die ihre Heiratswilligkeit ja schon so augenscheinlich im Namen trägt). Wohl versteht sich Hákon als ihr Liebhaber, aber er muss sich ihre Gunst erkaufen, er muss tränenreich darum bitten. Auch die Riesin Skaði wählt sich ihren Bräutigam selbst, vollkommen ohne Zwang, und sie hätte sich, bezeichnenderweise, nichts lieber als den Gott Balder zum Ehemann gewünscht. Allerdings, wie wir bereits gesehen haben, es sind Tote, Todgeweihte unter denen sie ihren Bräutigam wählt. Das Konzept der ,Heiligen Hochzeitʻ scheint hier zunächst einmal ganz allgemein als Schlüsselmetapher des Austausches entworfen, als „close communication between the gods and the king“.⁵¹⁹ Es ist die existenzielle, überlebenswichtige Interaktion des Königs (einschließlich seiner Priester und Kultspezialisten) mit einer Göttin zum Zwecke der Sicherung und Erhaltung sozialer wie kosmischer Hierarchien und Ordnungssysteme;⁵²⁰ auch in der Nahostforschung ein schwieriger, umstrittener Begriff, für lange Zeit wohl einer der meist diskutierten, unter dem alles beherrschenden
Steinsland 1994, S. 627. Steinsland 1991, S. 348. Vgl. Steinsland 1991, S. 348. Vgl. Steinsland 1991, S. 348 f. Pongratz-Leisten 2008, S. 44. Vgl. Pongratz-Leisten 2008, S. 43 f.
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Eindruck Frazer’scher Vegetationskonzepte wurde auch die ,Heilige Hochzeitʻ zunächst als fruchtbarkeitsfördernde Maßnahme interpretiert. Inzwischen kaum mehr unterstützt, wird in der zeitgenössischen Forschung diese rituelle Verbindung als „coronation of the king“ favorisiert,⁵²¹ was insbesondere deren politische Dimension in den Mittelpunkt stellt, eine Inthronisation durch göttliche Legitimation. Es geht also darum, Autorität, Macht und Prestige des Königs zu etablieren, indem ein gleichberechtigter Status zum göttlichen Partner demonstriert wird (ähnlich in anderen politischen Bereichen im Begriff aḫḫūtu „brotherhood“ ausgedrückt, womit eine vertrauensvolle, innige Beziehung zu Vertragspartnern gemeint ist, aber keineswegs ein verwandtschaftliches Verhältnis). Ebenso fasst die hochsexualisierte, erotische Sprache wohl eine Vorstellung von diesen engen, intimen Allianzen, aber „had little, if anything, to do with actual carnal sexuality.“⁵²² Eine tatsächliche, kultische wie lebensweltliche Realisierung dieser Vorstellung wird inzwischen (wenn auch lange Zeit im Mittelpunkt des Interesses) als eher unwahrscheinlich betrachtet. Es sind Sprachbilder des intimsten, erotischen Umgangs, zum Ausdruck der Segnung des Königs durch die Göttinnen, durch Inanna, durch Ishtar, auch das Metaphernkonzept der Aufzucht und Ernährung des Königs durch diese findet hier Platz. Die ‚Schenkelfreundschaftʻ der Göttin Medb, die ‚heilige Hochzeitʻ der östlichen Göttinnen war irdische Grenzen überwindendes Kommunikationsmittel, aber in dieser Eigenschaft durchaus zweideutig: Wohl kommuniziert (allein) der König schon zu Lebzeiten mit der Götterwelt, legitimiert sich, hat engen Austausch und Kontakt, nach seinem Tod, als Ahne ist er Teil davon. So steigt Ishtar in die Unterwelt, um mit dem toten Dumuzi Kontakt aufzunehmen, aber nicht um dessen Auferstehung zu bewirken, der Kontext des Mythos scheint vielmehr darauf hinzuweisen, dass er eingebunden ist in ein Totenfest, in die rituelle Ahnenpflege. Dabei geht es hier wie überall lediglich um ein zeitlich begrenztes Erscheinen der Toten, eine zeitlich begrenzte Teilhabe an der Welt der Lebenden. Das akkadische Verb ellānî, das in diesem Zusammenhang verwendet wird, ist in dieser Hinsicht bezeichnend, es erscheint auch in der Benennung eines (rituellen) Totenbeschwörers, mušēlû eṭemmi/ṣilli, „one who makes the ghost/shade ascend“.⁵²³ Entsprechend wäre in diesem Sinne zu überlegen, ob nicht die Bezeichnung selbst, ,Ehemannʻ der Medb, „geliebter Gatte (dam) der
Pongratz-Leisten 2008, S. 48 f. Pongratz-Leisten 2008, S. 52. „Finally, it may be assumed that Dumuzi was regarded as returning from the realm of death, but the form that Dumuzi’s resurrection from the underworld takes is unknown. At the end of Ishtar’s Descent to the Netherworld, Ishtar refers to the day when Dumuzi (Tammuz) ,comes up to me‘ (ellānî). The verb points not to Dumuzi’s ,resurrectionʻ, but to his participation in a ritual in which the dead were invoked and then temporarily manifest. Indeed, the context at the end of Ishtar’s Descent to the Underworld explicitly connects the day of Dumuzi’s ascent and the ascent of the dead. Akkadian elû also corresponds to the title of necromancers, mušēlû eṭemmi/ṣilli, ,one who makes the ghost/shade ascendʻ“ (Smith 2001, S. 112).
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Innina“, „der ausersehene Gatte“, „der geziemende Gatte“⁵²⁴ in Gestalt eines Hüllworts, als Euphemismus auf den Status des toten Königs, des (vergöttlichten) Ahnen verwiese.⁵²⁵ Nicht zuletzt trägt ja der rechtmäßige Ehemann Medbs selbst einen durchaus einschlägigen Namen, Ailill, der übereinstimmend zum walis. ellyll gestellt wird und als „ghost“, „spectre“ gedeutet wird. Ailill ist ein ‚Gespenstʻ. Nun sind diese starken Jenseitsassoziationen der Familienmitglieder Medbs durchaus bemerkt worden,⁵²⁶ ihre Tochter trägt in vollkommener Übereinstimmung dazu den Namen Findabair, der von protokelt. *ṷindo- „white“ und *sibar- „Gespenst, Erscheinung“ abgeleitet wird, also etwa „white magician“ oder „white phantom“ bedeuten könnte.⁵²⁷ Das sind keine göttlichen Attribute, es sind Totenattribute. Der Name Ailill scheint sich vom Nomen appellativum zur Bezeichnung einer Totenseele zum Nomen proprium des Verstorbenen schlechthin, des ,Ehemanns der Medbʻ, entwickelt zu haben, ähnlich wie im nordischen Kontext der Begriff álfr, wiederum in semantischer wie funktioneller Übereinstimmung, „der Weiße“, „der Verblichene“ ist, zur Kennzeichnung des individuellen Toten, des Ahnen. Hier wie da sind wohl noch die etymologischen Wurzeln im Namenmaterial erkennbar, aber der Mythos hat Schritt für Schritt diese ursprüngliche Todesbezogenheit narrativ verwandelt.⁵²⁸ Im christlichen Verständnis mittelalterlicher Geschichts- und Mythenschreiber sind handelnde, sprechende Ahnenwesen ohnehin nicht (mehr) denkbar. Fraglich, ob man für Findabair überhaupt einen eigenen Status als selbstständige mythische Figur beanspruchen darf oder ob sie nicht vielmehr eine Erweiterung von Medbs Wesen ist, wie manches Mal vermutet, sei es buchstäblich in der Rolle der ,sexuellen Belohnungʻ,⁵²⁹ aber auch als die weibliche Tote schlechthin. Durchaus passt dazu die Beobachtung, dass ihr Namenskonzept übereinstimmt mit dem der walisischen Gwenhwyfar, der Ehefrau des legendären Königs Arthur. Deren Name wird ebenso als „weißes Gespenst“ gedeutet. So oder so ein merkwürdiges Namenskonzept Thurneysen 1933, S. 352. Thurneysen verweist auf sumerische Inschriften des 3. Jts. v.Chr., in denen eine Reihe von Königen als Gatten von Göttinnen erscheinen: „Eannatum, König von Lagas […] geliebter Freund des Lugaluru, geliebter Gatte (dam) der Innina“, „König Gudea spricht: ‚[…] Gatumdug, die Gute, die Weise, lag mir bei in der Nachtʻ“ (Thurneysen 1933, S. 352). Siehe Smith 2001, S. 113: „Behind the picture of Dumuzi’s death may lie the influence of royal funeral cult. The evidence from festivals points to the intertwining of funerary practices for human kings and the presentation of Dumuzi as the disappearing god. The composition known as ‚In the Dessert by the Early Grassʻ explicitly links the death of Dumuzi with the cult of the Ur III dynasty. The link between divine and human kings goes further. In both the Old Babylonian and Ur III periods, Ur attests rituals for the disappearing god, Ninazu, in conjunction with rituals for the deceased king.“ Siehe dazu auch Cohen 1993, S. 465. Siehe Egeler 2012, S. 70; Irslinger 2017, S. 7. Irslinger 2017, S. 7. Siehe Irslinger 2017, S. 7: „The presumed otherworldly connections of Medb’s husband Ailill and her daughter Findabair are based purely on the etymologies of their names, as there are no traditions or tales where they appear in an otherworldly environment.“ Vgl. Bowen 1975, S. 28, zit. n. Irslinger 2017, S. 7: „[N]othing more than an extension of Medb herself, a variant on the promise of friendly thighs.“
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für eine Königin. Aber auch bei ihr sind wir bereits auf explizite Jenseitsassoziationen gestoßen. Eine ursprüngliche Funktion als eine der „sovereignty goddesses of the Welsh tradition“ (und in diesem Sinne ähnlich der irischen Medb) scheint auch bei ihr sehr wahrscheinlich.⁵³⁰ Und damit wäre sie ebenso ,Königmacherinʻ wie ,Ahnenbrautʻ.⁵³¹ Nicht zuletzt ist die Namengebung der Göttin selbst als ‚alkoholisches Getränkʻ bezeichnend. Als spiritus, als jenseitiges Seelenkonzept wie Abstraktum von Schöpferkraft und Herrschertum ist es in ganz ähnlicher Ausgestaltung im Japanischen bekannt. Zu denken ist an die ,transzendenteʻ, körperlose Daseinsform, in der Sukunabikona aus dem Land der Toten wieder zurückkehrt, was gleichzeitig als eine Art Alter Ego des Herrschers Ōkuninushi selbst verstanden wird, als seine eigene geistige Wesenheit,⁵³² „Manifestation der Kraft selbst“.⁵³³ Und so wie der kleine Sukunabikona und der große Omonononushi „Herr[en] des kushi“, Herren des Alkohols sind, ist Medb die ‚Frau Alkoholʻ. Mit einer Königsinauguration, wie sie Steinsland verstehen möchte, mit einer Einsetzung eines (wenn auch mythischen) Königs hat Freyr also so wenig zu tun wie Fergus (oder Arthus!). Es geht nicht um die Etablierung einer Königsherrschaft eines Lebenden, sondern um seine Legitimation als Ahnherr, als Toter.
12.5.5 Heiðrekr Und schließlich kennt auch die nordische Sagawelt wenn nicht einen blinden Schützen, so doch ‚den blinden Schussʻ. Tatsächlich kann sich, wenn überhaupt, O’Donoghue nur hier eine skandinavische Parallele zur Beowulf-Episode vorstellen: in der Hervarar saga ok Heiðreks.⁵³⁴ Hier tötet der Antiheld Heiðrekr auf kaum weniger bizarre Weise seinen Bruder Angantýr (in unterschiedlichen, aber offenbar unentschiedenen Versionen einmal durch einen ,blindenʻ Steinwurf, ein anderes Mal mit dem Wunderschwert Tyrfingr). Die Autorin möchte hier jedenfalls bei weitem mehr Übereinstimmungen sehen als zum Baldermythos, etwa „the Swedish setting“, die untröstliche Reaktion des Vaters Hǫfunðr („originator“), daneben seien Hreþel wie Hǫfundr „dynastic ancestors“, die Geaten selbst würden ja im Beowulf Hreðlingas
Vgl. Irslinger 2017, S. 7; Koch 2006b. Erinnert sei an das einschlägige Konzept von Laszivität und Promiskuität (vgl. Rhys 1891, S. 50), das traditionell der walisischen Gwenhwyfar anzuhängen scheint. Auch ihre so genannte ‚Entführungʻ durch den mutmaßlichen Jenseits-Prinzen Melwas auf die ‚Glasinselʻ Glastonbury und ihre Rettung durch den dadurch in jeder Hinsicht degradierten Ritter Lanzelot haben wir bereits in diese Richtung interpretiert. Vgl.Antoni 1988, S. 88. Antoni 1988, S. 90. Jón Helgason (Hg.) 1924.
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genannt nach ihrem eponymen Gründer.⁵³⁵ Nun wird aber zu zeigen sein, dass gerade zwischen der Heiðreks saga und dem Baldermythos eine tiefe, strukturelle Ähnlichkeit besteht. Alle Elemente, die O’Donoghue nur typisch sieht für die Heiðreks saga, erscheinen auch im Baldermythos, wie auch schon Much davon überzeugt ist, dass gerade die Heiðreks saga zu jenen Erzählungen zu rechnen sei, die nachgerade als „Nebenformen“ oder „Ableger“ des Baldermythos gelten könnten. Ja, mitunter habe sich hier ein einzelnes Motiv in seiner neuen Verbindung „reiner“ erhalten als in seinem ursprünglichen mythischen Kontext.⁵³⁶ Der Bruderkampf der Saga steht in einer langen Reihe ähnlicher, existenzieller Bruderkämpfe, siehe insbesondere den letztendlich kosmogonischen Bruderstreit der Grímnismál. Hier ist der Vater des Brüderpaars König Hraudungr, in direkter Entsprechung zum angelsächsischen Hreþel, dem Vater des gleichermaßen (hier indes auf vorgeblich unabsichtliche Weise) beiseitegeschafften Bruders Herebeald. Aber genau genommen haben wir es in keinem einzigen dieser Fälle mit einem Streit zu tun (der darüber hinaus mit legalen, fairen Mitteln ausgefochten würde), vielmehr mit einem unerklärlich missgünstigen, gedankenlosen und/oder gewalttätigen Menschen oder Gott, der seinen Bruder auf ebenso groteske wie skrupellose Weise zu Tode bringt; ein Tod, der nicht einmal besondere Konsequenzen nach sich zieht, bestenfalls halbherzige, selbst im Mythos scheint der Gedanke nach Rache ob dieser empörenden Tat nur pflichtschuldig, aber ohne Verve eingeführt. Eine ganz andere Bedeutsamkeit scheint im Mittelpunkt zu stehen. Eine der Besonderheiten der Hervarar saga ok Heiðreks konungs ist ihre Überfülle an volkstümlich religiösen, offenbar gerade in der mündlichen Überlieferung lebendigen, gleichermaßen aber sehr alten Jenseitsmotive. Hier erscheint zu Beginn jene berühmte Schilderung der Glæsisvellir mit seinen Herrschern Guðmundr und Hǫfunðr als die mythischen Ahnen der Familie. In ihrer Charakterisierung haben wir bereits Balders Eigenschaften wiedererkannt und die seines Sohnes Forseti,⁵³⁷ in den Glæsisvellir Balders Göttersitz Breiðablik. Aber die Übereinstimmungen erschöpfen sich darin nicht. Die Saga erscheint vielmehr selbst über weite Strecken strukturell dem Baldermythos nachgebildet. Tatsächlich geht es ja auf der inhaltlich erzählerischen Ebene um den fortlaufenden Kontakt und Austausch mit der Jenseitswelt, der Welt der Ahnen. Auf jener subkutanen, mythischen Ebene finden sich zahlreiche Elemente, die ganz offensichtlich aus Bestattungskulten eingeflossen sind, die also ,sepulkrales Wissenʻ verarbeiten. Es wird wahrscheinlich auch hier der Hauptgrund sein, weswegen sich die Saga auf der sichtbaren, der narrativen Ebene so unstimmig und heterogen zeigt,⁵³⁸ als „Sammelbecken verschiedenster Überlieferungen“.⁵³⁹ Bezeichnend der krasse Übergang zwischen zwei ganz unterschiedlichen Erzählteilen, der Hervǫr
Vgl. O’Donoghue 2003, S. 100, Anm.12. Vgl. Much 1924, S. 97. Vgl. Much 1924, S. 99 f. Vgl. Reifegerste 1989, S. 158 ff. Reifegerste 1989, S. 211.
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Erzählung und der darauf folgenden Heiðrek-Geschichte, der unerklärliche, nicht nur Charakterwandel,⁵⁴⁰ sondern nachgerade ,Geschlechterwandelʻ des gewalttätigen Mannweibs Hervarð/Hervǫr: Der Wikingerfahrten leid, beginnt sie urplötzlich mit Handarbeiten und wird zur sittsamen und schönen Ehefrau Hǫfunðs.⁵⁴¹ Aus dem tückischen, grausamen Heiðrekr wird – ebenso übergangslos – der abgeklärte, weise Herrscher und Regent.⁵⁴² Und auch hier erscheint dieser liminale, transformative Raum als Spiel, als Rätselwettstreit entworfen. Es ist der berühmte Rätselwettstreit des Heiðrekr mit Odin (Gestumblindi). Und es ist ausgerechnet die Frage nach Odins letzten Worten in Balders Ohr, die im Spiel wie im Ritual die tödliche τροπή einleitet. Das geheim Gewusste führt im Moment der Enthüllung zum Bruch, zur endgültigen Trennung. In der Saga treffen wir auf beide mythischen Tötungsarten des Balder, die blinde Steinigung und den Tod durch ein magisches Schwert. Im Baldermythos sind die beiden Versionen auf zwei unterschiedliche Autoren, in der Hervarar saga auf zwei Handschriften-Versionen verteilt: The slaying of Angantýr by his brother Heiðrekr exhibits an intertextual application of narrative power. The two manuscripts of the narrative diverge from one another to offer separate accounts of the slaying. Heiðreks R presents the „blind shooter“ killing; Heiðreks H prefers a magic sword. ⁵⁴³
Vielleicht waren sie ursprünglich im Ritualkontext tatsächlich kombiniert, nachdem dieser Kontext aber verloren gegangen ist, haben sich die weiteren Traditionen aufgespalten. In jedem Fall zeigt sich der Brudermord in der Saga unmotiviert: Heiðrekr ermordet seinen Bruder Angantýr, indem er grundlos einen großen Felsbrocken in der Dunkelheit in eine Gruppe von Männern wirft und dabei ,zufälligʻ, ,blindʻ seinen Bruder tödlich trifft (Version R).⁵⁴⁴ In anderer Version (H, U) zieht er das Familienschwert Tyrfingr, das die Eigenschaft (oder Fluch) besitzt, wenn es einmal gezogen ist, auch töten muss.⁵⁴⁵ Much sieht die Etymologie jenes berühmten Wunderschwertes in einem Baumkonzept verankert: *Terwingaz < germ. *terwa- „Baum, Holz, Wald“, „das aus dem
Vgl. Reifegerste 1989, S. 155. Siehe Reifegerste 1989, S. 48 ff. Siehe Reifegerste 1989, S. 169. Frog 2010, S. 272 f. Vgl. Reifegerste 1989, S. 54: „Danach gingen Heiðrekr und Angantýr, sein Bruder, hinaus und auf den Hof, und dort trennten sie sich. Als Heiðrekr eine kleine Weile von dem Gehöft weggegangen war, besann er sich, daß er dort zu wenig Böses angestellt habe; er geht zur Halle zurück, nahm einen großen Stein auf und warf ihn dorthin, wo er einige Männer in der Dunkelheit miteinander reden hörte. Er fand, daß der Stein den Mann nicht verfehlt haben könne, und er ging hinzu und fand einen toten Mann und erkannte Angantýr, seinen Bruder“ (Hs. R, Kap. 4). „Dann zog er das Schwert, und es leuchtete sehr und sprühte Funken; er tobte sehr und war nahe am Berserkergang. Weil nun die Brüder allein waren und Tyrfing jedes Mal, wenn er gezogen wurde, einem Mann den Tod brachte, versetzte er seinem Bruder den Todesstreich“ (Hs. H).
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Walde, vom Baume oder vom Holze stammende“,⁵⁴⁶ das „Holzschwert“. Hier sind gegebenenfalls Assoziationen zum hölzernen Ersatz des Wunderschwertes des Fergus Mac Róich denkbar, das auf diese Weise freilich dann weniger wertloses Substitut wäre als vielmehr seine Wirkmacht gerade aus der hölzernen Qualität zöge (ähnlich der beinernen Ersatzwaffe Freyrs). Letztendlich kann wiederum ein großer Bogen geschlagen werden zum Balder’schen ,Pflanzenschwertʻ mistilteinn mit all seinen kosmogonischen wie apokalyptischen Implikationen des gestürzten Weltenbaums, aus dessen zerborstenen Teilen, Splittern ‚Zauberdingeʻ verfertigt werden, gute wie böse, schädliche wie heilbringende, von devianten, defizitären Schadenswesen wie Rettern (durchaus nicht immer entscheidbar) zum Einsatz gebracht. Es ist eine genaue Entsprechung zum namenlosen Schwert des Mimingus, des Waldschrats, des Waldbewohners, eine letzte Erinnerung an Mimameiðr, den ‚bösen Baumʻ der ersten Schöpfungstage. Das an. tyrvi „Kienholz“ meint gerade nicht die Pflanze, das Holz des lebenden Baums mit seinen biologischen Funktionen, ausdrücklich das bearbeitete, ‚lebloseʻ Holz, siehe schwed. tyre, töre „trockenes Holz“, das wiederum im Finnischen in der Bedeutung „Zauberkugel“ (lpN. dirri) erscheint.⁵⁴⁷ Es sind die ‚Holzscheitchenʻ des Wunderschiffs Skíðblaðnir ebenso wie die enigmatischen Ullar hylli (Grm 42), die ‚Brettchenʻ Ullrs. Narrativ expliziert stammt das Schwert indes vom legendären Saga-Schauplatz Sámsey, Kampf- wie Begräbnisort von zwölf Berserker-Brüdern (Kap. 3, R, U). Hervǫrs Vater Angantýr ist einer der im Kampf gefallenen Berserker. Unerschrocken begibt sie sich an dessen Grabhügel und fordert das Schwert Tyrfingr. Die schwedische Insel Samsø (wenn auch oft erwogen) wird allerdings auch hier als Ort der Ereignisse kaum infrage kommen, ohnehin stünde dies im expliziten Widerspruch zu den geographischen Angaben der Saga selbst, die von einer Reise nach Osten berichtet. Entsprechend vertritt auch Reifegerste die Ansicht, dass damit eher das Baltikum und wiederum gerade das Samland infrage käme, zumal hier noch eine Fülle von weiteren Ortsnamen mit diesem Namensbestandteil nachweisbar seien, der Name Sámsey im Nordischen aber keine überzeugende Etymologie habe.⁵⁴⁸ In der Tat spricht viel für diese östliche Verortung: Das Samland (von Peter von Dusburg in seiner Cronicon terre Prussie, 1326, als Sambia erwähnt)⁵⁴⁹ ist eine sandige, eher dürftig bewachsene Halbinsel in der Ostsee. Seit dem 8. Jh. befand sie sich offenbar in regem Kultur- und Handelsaustausch mit Skandinavien, aber auch von
Siehe Much 1924, S. 97. Auch die Alternativetymologie, Tyrfingr als das „tervingische, westgotische Schwert“, würde letztendlich über den Stammesnamen Tervingi als die „Waldleute“ (siehe das gleiche Benennungsprinzip der russischen Derevljane als „Waldleute“) zur gleichen Grundlage führen (vgl. Much 1902, S. 321 f.). Vgl. an. etym.Wb 1962, „tyrvi“. Nhd. ‚Kienʻ wird zu ae. cīnan „aufspringen, rissig werden“ gestellt: „Die Kienspäne wurden von größeren Holzstücken abgespalten, später auch abgehobelt, so daß sich der Bedeutungszusammenhang leicht erklärt“ (Kluge/Seebold 2002, „Kien“). Vgl. Reifegerste 1989, S. 152 f. Vgl. Schmid 1975, S. 16.
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kriegerischen Aufeinandertreffen, insbesondere mit Dänemark, wird berichtet. Interessant genug wird auf diesen stark skandinavischen Einschlag des Samlands immer wieder verwiesen, indes ist es bis heute nicht gelungen, eine dort vermutete Handelsmetropole ausfindig zu machen, was in einem merkwürdigen Widerspruch zu stehen scheint zur ausgeprägten Bestattungskultur, die dort einige Jahrhunderte betrieben wurde. Am hervorragendsten gewiss das etwa 500 Grabhügel (und eine unbekannte Anzahl von Flachgräbern) umfassende nordsamländische Gräberfeld von Wiskiauten, eine nachgerade „Nekropole“, eine Totenstadt, wie es Wojciech Wróblewski ausdrücklich bezeichnet.⁵⁵⁰ Nach den demographischen Berechnungen müsste sich die Einwohnerzahl einer dazugehörenden Siedlung auf etwa 150 – 267 Personen belaufen, was für den zeitlichen, kulturellen Kontext eine nicht unerhebliche Bevölkerungsgröße darstellte⁵⁵¹: „Eine Niederlassung mit einer durchgehend besiedelten Fläche von 5 – 6 ha dürfte vor diesem Hintergrund zumindest im einheimischen, prussischen Milieu extrem groß gewesen sein.“⁵⁵² Wohl wird auf den „erstaunlich hohe[n] Anteil vermutlich skandinavischer Frauen oder skandinavisch beeinflusster Frauentrachten in den Hügelgräbern Wiskiautens“⁵⁵³ verwiesen, was insofern als Hinweis für die Größe und Dauerhaftigkeit der Siedlung gelten könne, andererseits aber sei ein eklatantes Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Bestattungen zu vermerken (bedeutend mehr männliche Bestattungen), was wiederum entsprechend schlecht zur demographischen Zusammensetzung einer üblichen Siedlung passe. So wollte man, dem hohen Männeranteil geschuldet, eher von einer ursprünglichen „Kriegerkolonie“ oder „Garnison“ ausgehen.⁵⁵⁴ Als Ausgangspunkt einer solchen wie auch immer gearteten Kolonie kann jedenfalls aufgrund der Grabfunde sicher genug die skandinavische Mälarseeregion um Birka angenommen werden in einem Zeitraum vom 9. – 11. Jh.⁵⁵⁵ Freilich, von den Lebenden kaum eine Spur. Trotz ausgiebiger archäologischer Nachforschungen blieb die Suche nach der Zentralsiedlung bislang erfolglos. Und so wurde in jüngster Zeit begonnen, die frühe Besiedlung der einheimischen Bevölkerung, die der mutmaßlichen Wikingerbesiedlung vorangegangen sein musste wie parallel lief, in die Überlegungen miteinzubeziehen.⁵⁵⁶ Tatsächlich gibt es zahlreiche Siedlungsspuren der einheimischen Pruzzen vom 11., 12., 13. Jahrhundert, aber bereits in dieser Zeit wurde das Gräberfeld nicht mehr belegt.⁵⁵⁷ Letztendlich kann die Archäologie bis heute lediglich darüber spekulieren, wie dieser merkwürdige Befund zu erklären sei, etwa dass sich die skandinavischen
Vgl. Wróblewski 2007, S. 140. Vgl. Ibsen 2009, S. 143. Ibsen 2009, S. 144. Ibsen 2009, S. 144. Vgl. Ibsen 2009, S. 347. Vgl. Ibsen 2009, S. 145. Vgl. Ibsen 2009, S. 149. Vgl. Ibsen 2009, S. 151.
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Neuankömmlinge in Windeseile an die einheimische Bevölkerung, die zweifellos existierte, anpasste, ihre ethnische Eigenart ganz und gar aufgegeben hätten, „wenn auch die genauen Vorgänge bislang im Dunkeln bleiben“,⁵⁵⁸ eine Art „aktive Integration“ der Skandinavier, die schließlich auch handelstechnische Vorteile hätte bringen können.⁵⁵⁹ Aber auch von typischen skandinavischen Alltagsgegenständen (die so zahlreich im Gräberfeld vorhanden sind) findet sich im Siedlungsmaterial keine Spur. So bleibt bis dahin das Resümee: Diskussionen schließlich, ob Wiskiauten als Zentralort, als Seehandelsplatz oder als kleine Handelsniederlassung verstanden werden kann und in welchem Ausmaß die vermutete Siedlung in das Handelsnetzwerk der Wikingerzeit eingebettet gewesen sein mag, sind bislang weiterhin nur auf theoretischer Basis möglich.⁵⁶⁰ […]. Immer noch ist die genaue Position der vermuteten skandinavischen Niederlassung unbekannt.⁵⁶¹
Dennoch bleibt die Archäologie optimistisch: „Eine Niederlassung, die Prussen und Skandinavier zumindest zwischen der Mitte des 9. und der Mitte des 11. Jahrhunderts gemeinsam bewohnten, muss als wahrscheinlichste Variante angesehen werden,“⁵⁶² das Auffinden einer Siedlung also nur noch eine Frage der Zeit.⁵⁶³ Wir wollen an dieser Stelle kaum Prognosen wagen, aber es ist wenig wahrscheinlich, dass die Archäologen noch fündig werden. Wiskiauten auf Samland (der einheimische Flurnamen lautet im Übrigen Kaup, der zu lit. kapas „Grab“ gestellt wird)⁵⁶⁴ war niemals ein Ort der Lebenden, stets der Ort der Toten. Das preußische Samland konnte auf gleiche Weise wie die Hvanndalir im fernen Island (sogar ursprünglicher) das mythische Konzept einer Paradiesinsel auf sich ziehen. Noch heute gilt das Samland im Volksmund als das ,Preußische Paradiesʻ, was die Folkloristen des späten 18. und 19. Jhs. (wie beim isländischen Pendant) mit einiger Verwunderung registrierten: Jene Gegend nämlich, welche bis auf den heutigen Tag im Munde des Volkes also genannt wird, liegt […] „im Samlande“, – auf einer Landzunge, gewöhnlich die „Pillauer“ genannt, – zugleich aber in einer Gegend, die kaum ein spärliches Gras hervorbringt und nichts weniger als üppig
Ibsen 2009, S. 351. Vgl. Ibsen 2009, S. 315. Ibsen 2009, S. 151. Vgl. Ibsen 2009, S. 363. Genauso wenig gelingt es offenbar, Wiskiauten in schriftlichen Quellen zu identifizieren, wobei alle größeren skandinavischen Niederlassungen an der südlichen Ostseeküste als solche schriftlich fixiert sind (vgl. Ibsen 2009, S. 42). Ibsen 2009, S. 353. Auch in einer neueren Arbeit zum Gräberfeld von Wiskiauten scheint sich an diesem Desiderat nichts geändert zu haben. So kann auch Nina Dworschak in ihrem Untersuchungsresümee nur einer Hoffnung Ausdruck verleihen, „dass die in den nächsten Jahrzehnten im Samland zu erwartenden wikingerzeitlichen Siedlungsbefunde den Kenntnisstand auch in dieser Hinsicht beträchtlich erweitern dürften“ (Dworschak 2018, S. 245). Vgl. Wróblewski 2007, S. 142.
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genannt werden kann! […] – Hierher also – in diese freudenlose Gegend verlegt jener neuere Gelehrte sowohl, wie die allgemeine Volksbenennung „das (preußische) Paradies?!“ [orig. fett].⁵⁶⁵
Auch hier ist vom Volksmund, mündlicher Überlieferung die Rede und genauso scheint das Samland gerade deswegen zum Gegenstand gelehrter Spekulation geworden zu sein. So weiß auch Saxo (Gest.Dan. 10.5) durchaus Bedenkenswertes und in unserem Sinne Einschlägiges über diesen Landstrich zu berichten: Haquinus (Hákon), der Sohn Harald Blauzahns, lässt in einem kriegerischen Konflikt mit den Samben sämtliche Schiffe verbrennen, damit seine Männer, wenn sie alle Gedanken an Flucht aufgeben müssten, umso mutiger kämpfen würden. Tatsächlich sind die Dänen siegreich, da ihnen nun aber der Rückweg unmöglich ist, töten sie alle Männer und verbinden sich mit den einheimischen Frauen. Sie seien von so großer Liebe zu diesen ergriffen worden, dass sie ihre Ehefrauen in der Heimat vergessen hätten, und den Wunsch zur Rückkehr verloren hätten.⁵⁶⁶ Gerade diesen Hinweis Saxos wollte man als sicheren historischen Beleg für skandinavische, insbesondere dänische Siedlungsbzw. Handelstätigkeit im südlichen Ostseeraum werten,⁵⁶⁷ aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Saxo hier auf Stereotype zurückgreift, mit denen wir im Zusammenhang mit Jenseitswelten, Anderwelten schon hinreichend vertraut geworden sind: Im Zentrum der Erzählung steht die radikale Aktion der Schiffsverbrennung, bei Saxo wohl als Kriegstaktik motiviert,⁵⁶⁸ aber eine funerale Referenz läuft dabei kaum verhohlen mit. Im symbolischen wie realen Akt der Schiffsverbrennung ist damit das stärkste Zeichen zur Verhinderung von Rückkehr gesetzt, das unumstößliche Festsetzen an einem Ort, ein Aspekt, der bei den historischen Schiffsbestattungen selten genug mitgedacht wird.⁵⁶⁹ Insbesondere macht Saxo das Samland zu einer ,Insel der Frauenʻ, deren verführerische Reize lassen die Männer ihr altes Leben
Zschokke 1845, S. 217 f. Gemeint ist wohl der Theologe und Orientalist Johann G. Hasse (siehe Hasse 1799). Vgl. Gest.Dan. 10.5: Potiti enim Sembia Dani, necatis maribus, feminas sibi nubere coegerunt, rescissaque domesticorum matrimoniorum fide, externis avidius inhaerentes, suam cum hoste fortunam communi nuptiarum vinculo partiti sunt. Nec immerito Sembi sanguinis sui contextum a Danicae gentis familia numerant. Adeo enim captivarum amor victorum animos cepit, ut, omissa redeundi cupiditate, barbariem pro patria colerent, alienis quam suis coniugiis propiores. („Once the Danes had conquered Samland, they slaughtered the males, but forced the women to marry them; in this way they severed loyalty to their marriages at home and engaged eagerly enough in foreign unions, so that they shared their blessings with the foe through the common bond of wedlock. The Samlanders are therefore quite right to count themselves as having a direct blood-relationship with the Danish race. So much did love for their captives seize the hearts of these victors that they abandoned their desire to return home and settled in uncivilized region in preference to their native land, feeling more akin to other men’s wives than their own“). Vgl. von zur Mühlen 1975, S. 57, zit. n. Ibsen 2009, S. 36. Es ist ein gut bekanntes Motiv schon in der antiken Geschichtsschreibung. So setzten die Frauen von Troja, der Heimatlosigkeit überdrüssig, auf der Insel Sizilien die Schiffe ihrer Männer in Brand, um eine Weiterfahrt zu verunmöglichen (Aen. 5, 659 – 666). Siehe aber Lindow 1997, S. 80 f.: „As a rule, then, funeral ships did not move.“
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vergessen, was gleichermaßen ihr Schicksal besiegelt, eine Rückkehr ebenso verunmöglicht. Auch Saxo setzt diesen Erzählrahmen gezielt ein, um Abstammungsverhältnisse zwischen Dänen und Preußen aufzuzeigen, es geht ihm um die Konstruktion einer Genealogie und damit Ursprung, und letztendlich scheint auch für ihn das Samland das Evokationspotenzial eines Ortes ‚of no returnʻ zu haben. Zu diesen mythisch religiösen Wissensrahmen passt, dass sich die gegenwärtige Geographie, Fauna und Flora der Halbinsel, ähnlich den isländischen Hvanndalir, wenig genug mit Paradieshaftem assoziieren ließ und auch hier offenbar nur die relative Unzugänglichkeit einer Halbinsel und die Abgeschlossenheit durch dichte Wälder zum Festland hin eine solche Verbindung ermöglichte. Was nun aber gerade diese Örtlichkeit einzigartig macht: Hier treffen wir tatsächlich realiter auf jene geologische Besonderheit, in der immer wieder die Referenz für ein prototypisches Charakteristikum nordischer paganer Paradieswelten gesehen wurde. Das Samland ist seit der Antike (und bis heute) bekannt durch seine Bernsteinvorkommen. Durch Vermittlung der Saga nach Island, so Reifegerste, sei diese ursprüngliche Örtlichkeit wie überhaupt die ursprünglich gotische Tradition in Vergessenheit geraten und eben durch westnordische Vorstellungen ersetzt worden. Gewiss gehöre dazu die ganz nördliche, skandinavische Verortung der sagenhaften Glæsisvellir. Aber auch Saxo müsse wohl mit diesen ostnordischen Sagentraditionen noch auf irgendeine Weise vertraut gewesen sein.⁵⁷⁰ In seiner größten Ausdehnung habe das Gotenreich von der südlichen Ostsee bis zum Schwarzen Meer gereicht, nach dem Hunnensturm habe immerhin noch der Nordteil des Reiches bis ins 7. Jh. Bestand gehabt, als dessen Mittelpunkt man das spätere ostpreußische Samland ansehen müsse. So könne vermutet werden, dass gerade hier, möglicherweise durch schwedische Vermittlung, die Übernahme des Liedstoffes nach Skandinavien erfolgte.⁵⁷¹ Die Toteninsel Sámsey, das ,preußische Paradiesʻ und Bernsteininsel Samland ebenso wie die ,glänzenden Gefildeʻ Glæsisvellir wären damit ein und dieselbe realhistorische wie mythische wie rituelle Örtlichkeit.⁵⁷² Und gerade auf diese Weise rückt die mythische Eingangserzählung noch näher an die folgenden Ereignisse der Binnenerzählung. Heiðrekr wird als übelwollend, heimtückisch, aus reiner Bosheit schadenstiftend beschrieben und dennoch wird er in seiner Skrupellosigkeit und Bösartigkeit unterstützt von seiner Mutter Hervǫr, narrativ kaum plausibel, was aber wiederum sein Gegenstück findet in den Grímnismál, in der gleichermaßen Anstiftung wie Unterstützung Geirrøðrs durch seinen Ziehvater Odin. Gerade der moralische Aspekt, die
Vgl. Reifegerste 1989, S. 203 f. Vgl. Reifegerste 1989, S. 203. In diesem Sinne scheinen die Bestattungen im Kaup zu Wiskiauten eher Prestigebegräbnisse gewesen zu sein, an einem privilegierten Ort, für einen gewissen, eingeschränkten Benutzerkreis. In dieses ‚Funeral-Gewerbeʻ könnte auch die einheimische Bevölkerung eingebunden gewesen sein mit unterschiedlichsten Gewerken. Aber die Beerdigungsgesellschaften verließen den Ort der Toten wieder, womit sich gerade der Mangel an lebensweltlichen Hinterlassenschaften erklären ließe.
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Rechtmäßigkeit der Tat wird hier wie da ausgeblendet. Es geht um die Durchsetzung eines Machtanspruches, wofür jedes Mittel recht ist. Der Brudermord ereignet sich auf einem Fest, wo Heiðrekr (wiederum nur mühsam oder gar nicht begründet) der ,ungeladene Gastʻ ist,⁵⁷³ kaum verwunderlich, dass der Handlungsablauf im Folgenden in weiten Teilen mit dem der Lokasenna identisch ist, wie überhaupt Heiðrekr seinerseits ganz offensichtlich ,lokieskeʻ Eigenschaften zugeschrieben bekommt. Beim Fest des Vaters nutzt er die Abwesenheit seines friedliebenden Bruders, um durch gezielte Beleidigungen und Schmähungen die Männer gegeneinander aufzubringen, „und er brachte seine Rede so vor, daß sie uneins wurden, und der eine redete schlecht über den anderen.“⁵⁷⁴ Nach zwei weiteren Malen sind die Männer schließlich so gereizt, dass ein Mann den andern erschlägt: Heiðrekr’s verbal incitements are directly comparable to Loki’s in Lokasenna, Loki’s general characterization by Snorri (Faulkes 1982:26 – 27), and the kenning Baldrs ráðbani, „Baldr’s slayer by counsel“ (Faulkes 1998:20). Angantýr’s repeated and transient resolutions of the conflict warrant comparison with Snorri’s perplexing statements that Baldr is fegrst talaðr, „most beautifully spoken“, líknsamastr, „most merciful“, en sú náttúra fylgir honum at eingi má haldask dómr hans, „and that nature is attached to him that no judgement of his can hold“ (Faulkes 1982:23).⁵⁷⁵
In der Tat findet hier die Aussage über Balder, er könne kein Urteil halten, eine erstmals logische Entsprechung, eine narrative Plausibilität. Sämtliche Schlichtungsversuche des nahezu übermenschlich versöhnlichen Angantýr scheinen ähnlich hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Aber Angantýr wie Balder (und wie der auf seine Weise gleichermaßen vollkommen passive, unfähige Agnarr der Grímnismál) verhalten sich hier gerade nicht nach einem allseits angestrebten Männerideal. Angantýr ist zweifelsohne in jeder Hinsicht der Antagonist, das Gegenteil seines Bruders: Jeder, so heißt es, habe ihn geliebt, in dieser Ausschließlichkeit kennen wir das tatsächlich nur vom Götterliebling Balder. Ein Habitus, der freilich in der mittelalterlichen Männerwelt nichts als Unverständnis geweckt haben dürfte, bei weitem weniger Verständnis jedenfalls als der unberechenbare, gewalttätige Jähzorn Heiðreks. Nur im Ritual, im Totenritual sind diese Konzepte verständlich: Denn hier wie da sind es Euphemismen, Hüllkonstruktionen für das, was besser ungenannt bleibt: Angantýr, Agnarr, Balder sind die gefürchteten Toten, ihre übermenschliche Versöhnlichkeit und Duldsamkeit ist ja gerade der innigste Wunsch an die Toten, im Totenritual in vielfacher Variation vorgetragen, gerade nicht rachsüchtig zu sein, gerade nicht (gegebenenfalls allzu berechtigten) Zorn oder Missgunst zu äußern, ruhig zu halten gegenüber den Lebenden.
Vgl. Frog 2010, S. 283. Heiðreks saga, Kap. 4. Frog 2010, S. 273 f.
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Es gibt noch einen weiteren, etymologischen Hinweis auf die Totennatur Angantýrs. Much sieht einen Zusammenhang zwischen dem Namensbestandteil anganund der Vǫluspá-Stelle æ var hon angan illrar brúðar (Vsp 22). Hier wird bekanntlich der ,Hexeʻ Gullveig, der ,ersten Vaninʻ, dieses mysteriöse Attribut zugeschrieben.⁵⁷⁶ Es bedeutet aber wohl nicht „die Freude schlechter Frauen“, wie manches Mal übersetzt wird, wohl auch nicht eine Vorstellung von „Wonne“ oder „Lust“, ein „Begriff des Lieblings“, wie Much vermuten möchte.⁵⁷⁷ Sie ist der böse Geist der Frauen, es sind die von Gullveig Besessenen, die auf diese Art seiðr ausüben können, Totenzauber: angan, angi ist der „Duft“, „Aroma“, „Essenz“ (< idg. *an- „hauchen“, „atmen“, vgl. arm. anjn „Seele, Wesen“⁵⁷⁸). Das heißt, hier zeigt sich genau jene Art von paganem Seelenkonzept, wie es auch in Gestalt des alkoholischen Getränks, der alkoholischen Transformation medialisiert wird. An Gullveig wird eine pagane Vorstellung von Seelenwanderung oder Wiedergeburt oder Körperwechsel durchexerziert, ein Konzept, das in der Hervarar saga ebenso extensiv thematisiert und durchgespielt wird.
Heiði hana héto, hvars til húsa kom, / vǫlo velspá, vitti hon ganda; / seið hon, hvars hon kunni, seið hon hug leikinn, / æ var hon angan illrar brúðar (Vsp 22). („Heid hießen sie sie, wo sie ins Haus kam, / die wohl weissagende Seherin, sie trieb Zauber; / sie zauberte, wo sie konnte, sie zauberte besinnungslos, / stets war sie die Freude schlechter Frauen“). Siehe Much 1902, S. 314 f. Vgl. an. etym. Wb 1962, „angan“; „angi 1“. Siehe auch schwed. ånga „dampf, dunst, luft“; dän. ange „feuchter dampf“. Auch der Name des biblischen Abel, der ‚erste Erschlageneʻ, ebenso Opfer eines Brudermords, gehört hierher; hævæl ist in seiner Grundbedeutung „(verwehter) Hauch/Lufthauch“, ein Begriff, der nur hier als Eigenname erscheint, sonst als metaphorische Umschreibung von ‚Vergänglichkeitʻ, als ‚Eitelkeitʻ oder ‚Nichtigkeitʻ. Die Semantik sei zunächst ohne moralischen oder wertenden Aspekt, so Alexander Fischer, was (auch moderne) Bibelübersetzungen mitunter vor Probleme gestellt habe. Entsprechend blieben manche Übersetzer lieber „streng wörtlich bei der Bildaussage“, etwa ἀτμóς ‚Dampf/Dunstʻ (vgl. Fischer 2010). Es ist zu vermuten, dass auch der mysteriöse Gustr der Reginsmál (5), der nur an dieser Stelle als Vorbesitzer des Drachenhortes genannt wird und ansonsten nirgendwo mehr erwähnt wird, in diesen Bedeutungskreis gehört. Höfler verweist auf das abweichende Versmaß, was die Strophe „deutlich als Fremdkörper, aus anderer [orig. gesperrt] Quelle stammend“, aus älterer, kennzeichne (vgl. Höfler 1978, S. 97). Allerdings werden wir keineswegs davon ausgehen wollen, dass hier eine Verballhornung von Augustus, dem römischen Kaiser, vorliegt (vgl. Höfler 1978, S. 98 f.), womit Höfler bekanntlich seine These der historischen Grundlage der Siegfriedsage in der siegreichen Varus-Schlacht des Arminius 9 n.Chr. im Teutoburger Wald untermauern möchte (siehe auch Höfler 1961). Gustr ist in engster Verbindung, vielleicht als Vorfahr des monströsen „Umschlinger[s]“ Fáfnir (vgl. Höfler 1978, S. 98) zu denken, des Drachenmanns, des Toten in seinem Grabhügel, der eifersüchtig seinen Grabschatz hütet. Sein Name bedeutet, und darin stimmen EddaKommentatoren und etymologische Wörterbücher überein, „luftning“, „windpust“ (Finnur Jónsson 1913 – 16, S. 209). „Als appellativum bedeutet das wort ,windhauch‘, auch ,übelriechender wind, gestank“ (Gering und Sijmons 1931, S. 167, zit. n. Höfler 1978, S. 98, Anm. 100), wenngleich Gering in diesem Zusammenhang an das Wirkungsfeld eines Schmiedes denkt. Finnur Jónsson möchte indes sogar noch darüber hinausgehen und in Gustr ein Synonym für Andvari selbst sehen: „sikkert identisk med Andvari selv“ (Finnur Jónsson 1913 – 16, S. 209). Das Vorderglied des Zwergennamens (< andi) bedeutet seinerseits „atem, wind, geist“, auch und gerade mit der pejorativen Sonderbedeutung „gestank“ (vgl. an. etym. Wb 1962, „andi“).
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Gullveig ist der „Goldtrunk“, Alkohol, wie beim Vanen Kvasir erscheint ihre magische Transformation im Bild der alkoholischen Gärung. Auch der Name der irischen Medb (Medh-w-ā) ist bereits in diese Richtung aufgefasst worden als „Göttlichkeit in der Form eines Rauschzustandes“. Und auch Medb ist ja weder die ,Betrunkeneʻ noch diejenige, ,die betrunken machtʻ, vielmehr die Personifikation, die abstrakte Vorstellung von Macht („sovereignty“ als „intoxicating liquor“ oder „good ale“⁵⁷⁹). Irslinger (die allerdings diese Herleitung letztendlich ablehnt) verweist dabei auf ein interessantes etymologisches Detail: The name Medb is assumed to be cognate with Celtic *medu- ,meadʻ from PIE médhu n. ,mead, honeyʻ, continued by Old Irish mid, Old Welsh meth, Welsh medd and Breton mez. The adjective medw-o/ā- is derived from this noun and underlies old Irish medb, strong, intoxicatingʻ, Welsh meddw, Breton mezv ,drunkʻ. […]. A further derived noun is attested in Middle Ir. Medbán, the name of some edible plant […] and in Modern Irish meadhbhá(i)n ,megrim, whirling in the head, intoxication; a stimulating sea-breeze; an esculent wild plant that causes intoxication; an edible seaweed dried and seasonedʻ.⁵⁸⁰
‚Seetangʻ ist ebenso auffallende rituelle Speise in einem nordischen Beerdigungskontext: Egill wird von seiner Tochter Þorgerðr mit Seetang gefüttert,⁵⁸¹ um ihn (rituell) vor dem Hungertod zu bewahren, aber in diesem Sinne vielleicht auch darüber hinaus, um durch gegebenenfalls psychogene Stoffe eine rauschhafte, totenähnliche Gleichschaltung herzustellen. Bis heute wird für körperlose, abstrakte Präsenzen das gleiche Wort wie für ein alkoholisches Getränk verwendet: Spiritus. Auch im christlich religiösen Denken ist der Spiritus Sanctus eine Erscheinungsform Gottes (der ,Heilige Geistʻ) und immerhin so handlungsfähig gedacht, dass er in dieser Form sogar ein Kind zeugen kann. Es ließe sich spekulieren, ob der Ausdruck angan Freyju (Vsp 53) für Freyjas Geliebten Óðr nicht ebenso in diese Richtung weisen könnte, eine Art ,Geistliebhaberʻ. Und einen ,Geistliebhaberʻ scheint ja auch Medb in Gestalt ihres Ehemanns Ailill („Gespenst“) zu besitzen. Aber es zeigt sich auch der Gedankenraum der Herrschaft, der Souveränität, die in immer wieder neuen Verkörperungen von Generation zu Generation weitergegeben wird, unsterblich bzw. stetig erneuerungsfähig. Much vermutet, dass Heiðrekr ein *Hǫðrekr fortgeführt haben könnte,⁵⁸² so auch Frog: „The first component of Heiðrekr’s name, Heið-, exhibits a striking phonetic similarity to the name Höðr […], and the etymology of Höðr’s name […] corresponds to Heiðrekr’s disruptive activity,“⁵⁸³ was insbesondere zum dänischen Hotherus-Entwurf gut passen würde. Aber auch hier ließe sich überlegen, ob der Namensbestandteil Heið- nicht in den gleichen Denkraum gehörte wie Heiðr, ein Name mit dem Gullveig
Vgl. Egeler 2012, S. 68. Vgl. Irslinger 2017, S. 2. Egils saga, Kap. 78. Siehe Much 1902, S. 315. Frog 2010, S. 273, Anm. 388.
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in der Vsp 22 offenbar austauschbar belegt werden kann. Vom Epitheton wird er mehr und mehr zum formelhaften Beinamen, als stereotype Bezeichnung von Zauberinnen und Seherinnen erscheint er wiederholt in nordischen Quellen.⁵⁸⁴ Dazu gehört die ,Jenseitsziegeʻ Heiðrun, die in Walhall die Blätter des Weltenbaums frisst und – wenn wir dieses digestive Motiv in diesem Sinne fortführen wollen – die Blätter zu jenem Met transformiert, der aus ihrem Euter den toten Einheriern zufließt (und damit funktionell der Milchspenderin Iðunn – zur immerwährenden Erneuerung – gliche). Nicht leicht verständlich dabei, dass das Konzept heiðr gleichzeitig einen tief pejorativen Charakter zu besitzen scheint, nicht nur Gullveig auch Freyja wird als ,Heiðrunʻ oder ,Heiðrʻ beschimpft. Kaum passt dieses Konnotat zur lebensspendenden, Toten erweckenden Ziege; noch weniger zur gut belegten Bedeutung „heiter, klar, strahlend“, vgl. an. heiðr oder an. heið „heiterer Himmel, klares Wetter“. Eine Semantik von ‚strahlender Helligkeitʻ scheint doch am wenigsten geeignet die finsteren, heimtückischen Machenschaften, den Schadenszauber, die nekromantischen Umtriebe der Vǫlven zu fassen. Nun scheinen in diesem Lexem mehrere voneinander unabhängige Wurzeln zusammengefallen zu sein:⁵⁸⁵ Das got. haiþn (entlehnt aus griech. neutestamentl. τὰ ἔθνη „die Heiden“, eigentlich zunächst „die (ungläubigen) Völker“), an. heiðinn wird zu irgendeinem Zeitpunkt mit got. haiþi „Feld, Acker“ volksetymologisch in Verbindung gebracht, was in der Folge den ‚Ungläubigenʻ, den ‚Heidenʻ verständlich erscheinen ließ als „zum fremden (nichtchristlichen) Volk gehörig, auf dem freien, unbebauten Lande lebend“.⁵⁸⁶ In dieser Bedeutung etwa möchte McKinnell den Beinamen der Seherinnen verstehen, als „heath“ (‚Heide/inʻ), „one of a group of singleelement vǫlva-names connected with wild nature.“⁵⁸⁷ Man mag oder mag nicht diesen Interpretationsansatz unterstützen, die anderen Bedeutungsrichtungen haben jedenfalls mit dieser Vorstellung nichts zu tun, hier geht es weder um ein Konzept von ‚Wildheitʻ noch ‚Unchristlichkeitʻ. Das nhd. ‚heiterʻ stellt sich zu einer Wurzel, die auch im (nhd. lediglich als Suffix erhaltenen) Lexem ‚-heitʻ angesetzt wird. Siehe ahd., mhd. heit „Gestalt, Person, Stand, Rang, Wesen, Art und Weise“, got. haidus „Art und Weise“, ähnlich anord. heiðr. Dazu gehört ai. kētúḥ „Helle, Licht, Bild, Gestalt“, citráḥ „hervorragend, hell, bunt“, caelum „Himmel“, russ. čístyj „rein, klar“ (ie. *(s)kāi„hell, leuchtend“). Die Ausgangsbedeutung eines germ. *haiðu- (*haiði‐) wäre dann etwa „lichte Erscheinung“. Es ist das nämliche Benennungskonzept der ‚Tochterʻ Medbs, Findabair < protokelt. *ṷindo- „white“ und *sibar- „Gespenst, Erscheinung“ und der Anderwelt-Ehefrau Arthurs, Gwenhwyfar „weißes Gespenst“. Es geht also auch hier um ein Konzept von ephemerer Flüchtigkeit, Substanzlosigkeit, Luftigkeit u. ä. Gut passt dazu, dass diese Vorstellung bis hinein in die grammatikalischen Strukturen reicht, zunächst erscheint das Lexem in Verbindung mit Personenbe Vgl. Lex.Simek 2006, „Heidr (1); (2)“, S. 174. Vgl. an. etym. Wb 1962, „heiðr 1; 2; 3“. Siehe heiðr 1 „ehre; rang; lohn, gabe“. heiðr 2 „ebener auf dem gebirgsrücken gelegener teil der gemeinen mark, hochebene.“ Pfeiffer 1993, „Heide 1; 2“. McKinnell 2014c, S. 53.
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zeichnungen, um daraus Abstrakta oder Kollektivbegriffe zu bilden (vgl. ae. mægdenhād, ahd. magadheit „Mädchenstand, Jungfräulichkeit“; ahd. mennischeit „Menschheit“).⁵⁸⁸ Auch in der altnordischen Sprache geht es um eine abstrakte Idee, eine Idee von Körperlosigkeit, Substanzlosigkeit, die ebenso (neben anderen) als „mythische Flüssigkeit“⁵⁸⁹ gefasst wird. Im Vorwurf der Hyndla an Freyja wäre dann weniger das ,ziegenhaftʻ Exzessive als vielmehr das Exzessive der ,alkoholischen Intoxikationʻ, die voodoogleiche Sexbesessenheit, die ,(negative) Beseelungʻ gemeint,⁵⁹⁰ von der schließlich auch Odin-Hroptr durch die Tropfen des mysteriösen Schädels Heiðdraupnir (Sigrdrífumál 13) ergriffen wird.
12.6 Personae inhonestae 12.6.1 Hǫðr cytharista Nun besitzt auch der dänische Hotherus, obwohl ausdrücklich nicht blind und in einem ganz anderen Aktanten- wie Erzählschema verortet, eine Reihe recht eigentümlicher Eigenschaften, die gleichermaßen nur erklärlich werden in einem ähnlichen Wissensrahmen von (gefährlichem) Grenzgängertum, von Ambivalenz und Zauberischem. Das muss vermuten lassen, dass auch Saxo bereits eine Tradition vorgefunden hat, in der die Gestalt des Balder-Töters keineswegs in dieser positiven Eindeutigkeit (wie er uns zumindest glauben machen will) festgelegt war. Nahezu unbemerkt läuft hier noch ein zweiter, älterer Diskurs mit, subkutan, auf struktureller wie Motivebene, dessen Spuren Saxo wohl sorgfältig versucht hat zu verwischen, aber der dennoch noch manches Mal ‚zwischen den Zeilenʻ zu uns spricht. Saxos Erzählstruktur macht ohnehin wenig den Eindruck, organisch mit dem Baldermythos verbunden zu sein. Vermeintlich wichtige Elemente, etwa der Erwerb des Zauberschwerts, mithilfe dessen allein Balder getötet werden könne, werden von ihm wohl in die Erzählung eingeführt, ausführlich wird berichtet, auf welche Weise es mehr oder weniger mühevoll erworben werden muss, es spielt aber dann im Erzählfortgang überhaupt keine Rolle mehr, nicht einmal bei der Tötung Balders selbst, dem ausdrücklich Unverwundbaren.⁵⁹¹ Auch die Liebesgeschichte zwischen Hotherus und
Vgl. Pfeifer 1993, „-heit“. Vgl. de Vries 1956 – 1957, II, S. 384. Rannt at Oði ey þreyiandi, / scutuz þér fleiri und fyrirscyrto; / hleypr þú, eðlvina, úti á náttom, / sem með hǫfrom Heiðrún fari (Hdl 47). („Du ranntest Od nach immer schmachtend, / mehrere schlüpften dir unter die Schürze; / du springst, Beischlaffreundin, draußen in den Nächten, / wie mit Böcken Heidrun zieht“). Siehe Bugge 2012 [1889], S. 105; Kauffmann 1902, S. 64. Siehe auch Dumézil 1962, S. 263 f.: „[O]n doit certes penser que, dans cette dernière circonstance, c’est bien l’épée conquise sur Mimingus qui a
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Nanna, ja überhaupt Nanna als eigentlicher casus belli findet mit der Hochzeit einen abrupten Abschluss, danach ist sie vergessen. Aber die Informationen, wie wir sie aus der Gylfaginning kennen, scheinen doch ,irgendwieʻ vorhanden, zumindest zum großen Teil, freilich, wenn man so will, bis zur Unkenntlichkeit narrativ verstümmelt, durchsetzt mit Erzählelementen, die den Eindruck machen, einer anderen als der nordischen Tradition zu entstammen. In heutigen Augen vielleicht unsäglich brachial, für die Zeitgenossen aber wohl elegant oder originell, hat Saxo einen anderen Erzählplot darüber geschweißt: Vor langer Zeit hat Sophus Bugge die Idee entwickelt, das sei der Erzählstoff der mittelalterlichen Antiken-Romane, der Troja-Romane, etwa der Sagensstoff eines Dictys Cretensis (Ephemeris belli Trojani, 4. Jh.)⁵⁹² oder des etwas späteren Dares Phrygius (De excidio belli Troiani).⁵⁹³ Der Fall Trojas und seine Konsequenzen gilt als der westeuropäische Gründungsmythos schlechthin und das nicht erst seit dem Mittelalter. Entsprechend zeigte sich Europa durch und durch trojafreundlich. Dares Phrygius, der bei der Schilderung der Geschehnisse die Partei für die Trojaner ergriff und diese in ein positives Licht stellte, war somit der bevorzugte Autor. Und so habe nun eben, laut Bugge, Saxo seine Helden Hotherus und Balderus den trojanischen bzw. griechischen Helden Paris und Achill nachgebildet, was nun gerade zu dieser gewaltsamen Änderung in der Figurenkonstellation geführt habe: Aber der ganze Aufbau bei Saxo zeigt, dass es nicht erst christlicher Einfluss ist, was den Hotherus zum Helden der Sage macht, und wir dürfen hier wohl zugleich eine Nachwirkung griechischrömischer Autoren aus dem späten Altertum und dem frühen Mittelalter vermuten, welche den Paris zum Mittelpunkt einer umfangreichen Sagensammlung machen und ihn mit günstigeren Augen ansehen als Homer, während Achilles in ein minder glänzendes Licht gestellt wird. Dares Phrygius erzählt den Trojanerkrieg vom trojanischen Standpunkt aus und schildert Paris als einen der trefflichsten Helden; und in spätgriechischen Erzählungen von Achilles findet sich, wie ich im Folgenden zeigen will, der Zug wieder, der als hässlichster Flecken am Bilde des Balderus bei Saxo erscheint.⁵⁹⁴
Somit werde der Mord an Balder als positive Heldentat geschildert, die Sympathien und positiven Eigenschaften eben dem Mörder, Hotherus (wie Paris) zuteil, Balderus indes so unangenehm wie Achill, der in dieser Tradition als unsympathischer, hochfahrender, rothaariger Gegenspieler entworfen wird, dem seine hemmungslosen Leidenschaften zum Verhängnis werden. Er verfällt gleichermaßen einer Frau, Poly-
réussi à blesser Balderus, puisqu’elle seule en était capable, mais Saxo néglige de rappeler ce détail essentiel et, visiblement, ne s’en soucie plus.“ Eisenhut (Hg.) 1958; Übers. Hradský 2005. Meister (Hg.) 1873. Übers. Hradský 2005. Beide Werke sind als Augenzeugenberichte angelegt. Dares Stil ist dabei bewusst einfach und schmucklos gehalten, was inzwischen nicht mehr dem Unvermögen des Autors, vielmehr einer gezielten stilistischen Ausgestaltung zugeschrieben wird, gerade um als vorgeblicher Augenzeuge und Kriegsberichterstatter glaubhaft zu wirken (vgl. Würth 1996, S. 305 f.). Bugge 2012 [1889], S. 93.
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xena (in späterer Tradition gar Helena selbst), was letztendlich sein Schicksal besiegelt. Diese Idee hat ihm Spott und Hohn eingebracht. Vernichtend äußert sich schon Müllenhoff: [D]ie meinung aber dass die ältere, bei Saxo zu grunde liegende gestalt des mythus aus der homerischen sage heraus gebildet sei, fällt völlig ins bodenlose, ja in den bereich des lächerlichen […]. hr. Bugge hat sich eben für ein poetisches ganze, für religiöses glauben und dichten, für die genesis und geschichte von mythen und sagen schlechterdings kein verständnis erworben.⁵⁹⁵
Auch Kauffmann sieht den Versuch Bugges, „einen dänischen Bericht auf Anleihen aus der Trojasage zu basieren, ad absurdum geführt“.⁵⁹⁶ Aber wir wollen an dieser Stelle Bugges Idee für am wenigsten unplausibel halten und seine Argumente im Einzelnen noch einmal betrachten. In der ältesten Auffassung des Mythos, also Saxos Version, ist in der Tat von Christlichem noch keine Spur, er beruft sich auf andere, ältere Wurzeln.⁵⁹⁷ Insofern scheint es zumindest legitim, nach diesen Wurzeln Ausschau zu halten. Warum nicht in gut eingeführten, mittelalterlichen, gelehrten Erzählkonventionen? Snorri selbst (oder zumindest einer seiner Zeitgenossen) bediente sich im Prolog seiner Edda dieses ungemein populären Sagenstoffes (siehe die Trójumanna saga, die im 13. Jh. im Auftrag des norwegischen Königs Hákon entstanden sein könnte).⁵⁹⁸ Natürlich, Snorri ist moderner, er hat das Konzept von literarischer Fiktion, von Literatur als neues Symbolsystem schon besser verstanden. Er gibt seiner Erzählung eine Rahmung, Rezeptionshinweise für sein Kunstprodukt, dafür kann er dann in der Binnenerzählung wesentlich freier, authentischer (im Sinne eines ursprünglicheren Paganismus) agieren. Saxo löst das Rezeptionsproblem religiöser Fiktionalität, dessen (mittelalterliche) Gültigkeitszuschreibungen anders. Man kann wohl annehmen, dass gerade Saxo als gelehrter Lateiner eine der zahlreichen Handschriften des Dares Phrygius zur Hand hatte, die er darüber hinaus gut kannte und perfekt lesen konnte (was im Fall von Snorri zumindest nicht eindeutig geklärt ist). Auf diese Weise konnte er seinen nordischen Stoff (womit noch nichts über dessen ,eigentlicheʻ Herkunft gesagt ist) mit einem immerhin noch paganen, aber bereits popularisierten, konventionalisierten Erzählgerüst ausstatten: der Meistererzählung vom Fall Trojas. Trotz des ganz abschlägigen Urteils zu Beginn seiner Untersuchung kommt Kauffmann im weiteren Verlauf Bugge mehr und mehr entgegen, dass wohl gewisse stilistische Beeinflussungen aus dem zeitgenössischen Antikenroman denkbar seien,
Müllenhoff 1883, S. 60. Kauffmann 1902, S. 18. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 84. Vgl.Würth 1996, S. 309: „Da sich auch Snorri Sturluson, dessen Lateinkenntnisse umstritten sind, in seiner Snorra Edda […] auf Ereignisse des Trojanischen Krieges bezieht, muss es spätestens zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine isländische Fassung der Trojanersage gegeben haben.“
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gewisse ,Färbungenʻ, aber sie seien nur für den „persönlichen Stil Saxos fruchtbar geworden“, unbedingt unterschieden werden müssten indes diese „stilistische[n] [original gesperrt] Motive“ von den eigentlichen „Sagenmotiven“.⁵⁹⁹ Gewisse Einzelzüge der antiken Romanhelden Achilles und dessen Gegenspieler Paris könnten wohl Balderus und Hotherus angenommen haben, aber: „Bugges verdienstliche Nachweise würden entwertet werden, wenn wir mit ihm die Helden und die Motive des antiken Romans für die Vorbilder der bei Saxo erhaltenen Sage ausgeben wollten.“⁶⁰⁰ Gerade die „konstitutiven Elemente“⁶⁰¹ im nordischen Stoff habe Bugge im Antikenroman nicht ausfindig machen können. Er sei jedenfalls nicht zu einer einheitlichen Quelle gelangt, sondern habe auf verschiedene lateinische wie griechische Quellen zurückgreifen müssen, und daraus sei entsprechend zu folgern, „daß es sich um Stilgemeinschaft und um stilistische Anleihen handelt, welche über die ganze litterarische Gattung des antiken Romans sich verbreiten.“⁶⁰² Es ist also das „lateinische[ ] Kostüm“,⁶⁰³ das Kaufmann gerne anerkennen will, aber keinesfalls, was in der Tat Bugge in letzter Konsequenz einfordert, einen eigentlichen Ursprung des nordischen Mythos in der antiken Sagenwelt, also eine Identität, die er nicht zuletzt durch seine am wenigsten überzeugenden Etymologisierungsversuche des Namenmaterials nachweisen will. Damit blieben die „konstituierenden Elemente“⁶⁰⁴ nordisch, die „persönlichen Eigenschaften“, gerade „die Kunstfertigkeiten“ eines Hotherus eher literarischer, romanhafter Natur.⁶⁰⁵ Balderus Ausgestaltung gliche also dem (nachantiken, nicht homerischen) literarischen Konstrukt eines Achill, die Charakterisierung seines tödlichen Gegenspielers Hotherus wäre dann mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vorgegeben. Nach allem aber, was wir bisher über die eigentliche Natur, die Totennatur des Balder in Erfahrung bringen konnten, scheint diese Änderung dann doch keineswegs so radikal wie bisher angenommen, ja fraglich, ob es sich hier überhaupt um eine Änderung handelt. Und sollten wir dann nicht ohnehin zuallererst von der anderen Seite her fragen: Wie wird eigentlich aus einem Achill eben jener „zudringliche, wollüstige, schmachtende Liebhaber“⁶⁰⁶ als den ihn die nachantike Tradition – ausschließlich – zu kennen scheint? Tatsächlich sind schon im Achill des Homer gewisse, wenn nicht alle Aspekte seines scheinbar erst späteren, so schwer erträglichen Wesens angedacht oder angelegt. Grundsätzlich mag er hier zwar noch als „durchaus positive[r]“, wenn auch schon „ambivalente[r] Charakter“ erscheinen: „aggressiv und mild, zornig und mit-
Kauffmann 1902, S. 67. Kauffmann 1902, S. 67. Kauffmann 1902, S. 67. Kauffmann 1902, S. 67. Kauffmann 1902, S. 69. Kauffmann 1902, S. 69. Vgl. Kauffmann 1902, S. 67 f., Anm. 1. Bugge 2012 [1889], S. 92 f.
12.6 Personae inhonestae
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leidlos, das Alter und die Götter respektierend, ein treuer Freund und vor allem aber der stärkste Kämpfer vor Troja.“⁶⁰⁷ Aber bereits bei Vergil stehen ausschließlich seine aggressiven, grausamen Eigenschaften im Vordergrund, der furor des Achill, sein hochfahrender, grenzenloser, ja unmenschlicher Zorn. Nicht nur Hektors Leiche schändet er, indem er sie vor den entsetzten Augen der Trojaner hinter seinem Wagen her schleift, auch dem Knaben Troilus, dem jüngsten Priamussohn widerfährt das gleiche Schicksal. Nachdem er den in jeder Hinsicht Unterlegenen gleichfalls im Zweikampf besiegt hat, bindet er diesen lebend an seinem Kampfwagen fest und schleift ihn zu Tode (Aen. 1, 475).⁶⁰⁸ In den Metamorphosen des Ovid scheint aus Achill ein nurmehr Zerrbild seiner selbst geworden, der noch post mortem von einer unstillbaren Gier nach Ruhm und Ehre besessen ist: Er erscheint den Griechen nach seinem Tod am Grab, um dieses Andenken nachdrücklich einzufordern, aber auch mit einer anderen Forderung, einer grausam archaischen (wenn auch nicht unerwarteten): Der Totengeist Achills verlangt Kompensation nicht nur in ideeller Form als ewiges Andenken, sondern auch in einer sehr konkret körperhaften: Er fordert ein Menschenopfer, Polyxena, die jüngste Tochter des Priamos⁶⁰⁹ (als die sie indes Homer noch nicht kennt). Den Griechen bleibt nun nichts anderes übrig, als den Wunsch des Toten zu erfüllen, zumal er ihre Flotte daran hindert auszulaufen. Der Sohn Neoptolemos führt die Tötung eigenhändig aus. Bei Seneca (Troades 360 – 64) wird Polyxene ausdrücklich ‚wie eine Brautʻ ans Grab geführt, ihr Blut nach der Ermordung gierig verschlungen vom Grabe des toten ‚Bräutigamsʻ Achill (Troades 1162– 64).⁶¹⁰ Die beachtlichste und gewiss folgenschwerste narrative Wende erfolgt freilich schon in hellenistischer Zeit: Jetzt erscheinen Mythologeme, die ein Treffen zwischen dem lebenden Achill und der Polyxene versuchen nachzukonstruieren.⁶¹¹ So soll Achill Polyxene an einer Quelle vor Troja aus einem Hinterhalt überrascht haben zusammen mit ihrem Bruder Troilos, der dort die Rosse tränkte. Sie kann sich zwar durch Flucht retten, den Bruder erschlägt Achill. Aber auch wenn nun mehr und mehr das erzählerische Motiv eines Liebesverhältnisses zwischen den beiden in den Vordergrund tritt und zum bevorzugten Thema der Dichtung wird, so fehlt doch auf keiner bildlichen Darstellung dieser Begegnungsszene am Brunnen der zerbrochene Krug als gewissermaßen Inversion des prototypischen Symbols der griechischen Hochzeit. Nach wie vor bezeichnet es die Hochzeit mit einem Totengeist (dessen Zorn zunächst den Bruder trifft). Dictys Cretensis (3, 2) entwirft die Szene eines erstmaligen Aufeinandertreffens im Apollotempel zu Thymbra.⁶¹² Auf den ersten Blick verliebt sich Achill, seine Liebesqualen scheinen ins Unermessliche zu steigen, denen er alles zu opfern bereit ist, er denkt sogar an Verrat und Auslieferung des griechischen Heeres an
Ziegler 2012, S. 9. Siehe Ziegler 2012, S. 12. Vgl. Eurip. Hec. 3 – 40, Hygin. 90, Apollod. bibl. 3, 12, 5, 6. Siehe Türk 1909. Fitch (Hg.) 2018. Vgl. Knaack 1893, Sp. 241; von Geisau 1979a, Sp. 1013. Vgl. Türk 1909, Sp. 2721.
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Hektor. Schließlich kommt es zur Ermordung des arglosen Achill am Ort der ersten Begegnung (4, 11), in inniger freundschaftlicher Umarmung des Komplizen Deiphobus trifft ihn der Schwerthieb Alexanders (Paris). Seminex „halbtot“ lassen sie ihn zurück, sterbend fordert er Polyxene zur Frau.⁶¹³ Polyxene ist die kultische Braut des toten Achill, seine unbändigen, bis in die Unvernunft gesteigerten sexuellen Begierden sind nicht die eines menschlichen Liebhabers, als solche erscheinen sie viel später, wohl erst in nachchristlicher Zeit, in ihrer Unverständlichkeit als Krankheit, als ‚Liebeskrankheitʻ bezeichnet.Wir erkennen darin alle Elemente der nordischen Totenhochzeit des Freyr und der Gerðr wieder, zumindest angedeutet zwischen Balderus und Nanna, es ist die conditio des unbefriedeten, rituell unversorgten Toten. Es sind Bestandteile eines Bestattungsritus, eines Ahnenkults, die früh umfunktioniert wurden, neu plausibilisiert wurden als unverständlich exorbitante, entsprechend verhängnisvolle Gefühlslage eines Lebenden. Die sexuelle Maßlosigkeit findet eine unmittelbare Entsprechung in der Exorbitanz eines maßlosen Zorns, eines Grolls, der bereits aus der Natur des homerischen Achill nicht wegzudenken ist, ja die ganze Ilias, so Michael Janda im Vorwort zu seiner Achilles-Untersuchung, handle „nur vordergründig von Ilius-Troia und vom Kampf um die Stadt, […]. Eigentliches Thema der Ilias ist der Zorn des Achilleus, […].“⁶¹⁴ Der zentrale Stellenwert dieser Wesensart eines Protagonisten sei von der Forschung in wichtigen Aspekten unberücksichtigt geblieben,⁶¹⁵ eine ganz grundsätzliche Frage sei letztendlich unbeantwortet geblieben: „Worauf genau richtet sich der Zorn des Achilleus, seine μῆνις?“⁶¹⁶ Wohl werde bereits bei Homer eine Begründung versucht gerade durch das Motiv der Versagung einer Frau, Briseis, eines Ehrengeschenks, einer Kriegsbeute, aber, so Janda, dies sei nur die „halbe Wahrheit“.⁶¹⁷ Denn gerade der Begriff μῆνις zeichne sich durch eine auffallende Gebrauchspraxis aus: „Kein anderer Sterblicher besitzt in der Ilias je μῆνις.“⁶¹⁸ Ob in der Odyssee, bei Hesiod oder in den Hymnen, die Belege bezögen sich „ausschließlich auf Götter“.⁶¹⁹ Allerdings kommt später eine weitere Gruppe hinzu: „Die dritte Gruppe, die als Träger von μῆνις erscheint, bilden in nachhomerischer Zeit die Toten.“⁶²⁰ In der Forschungsgeschichte wurde ein möglicher Zusammenhang eher zurückhaltend beurteilt, insbesondere der Versuch, eine Verwandtschaft zwischen den lateinischen Totengeistern, den mānēs, sing. *mānis und μῆνις auf etymologischem Weg herzustellen, etwa als die ‚zürnenden Seelen der Abgeschiedenen‘.⁶²¹ Die Zweifel an diesen sprachhistorischen Anknüp-
Vgl. Ziegler 2012, S. 62 f. Janda 2018, S. 1. Vgl. Janda 2018, S. 1. Janda 2018, S. 35. Vgl. Janda 2018, S. 35. Janda 2018, S. 44. Vgl. Janda 2018, S. 44. Janda 2018, S. 45. Siehe Janda 2018, S. 46, mit Verweis auf Hugo Ehrlich (Ehrlich 1907, S. 294 f.).
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fungsmöglichkeiten mögen begründet sein oder nicht, aber der religionsgeschichtliche Zusammenhang, gerade die rituelle Behandlungsbedürftigkeit jener negativen Gefühlslagen des Zorns, des Grolls, der tiefen Verdrossenheit der Toten den Lebenden gegenüber ist unbestritten. Zumindest bis zu diesem Punkt kann der Beurteilung Walter Porzigs uneingeschränkt zugestimmt werden: Ein Mensch als solcher verfügt über gar keine μῆνις. Mῆνις ist die Haltung von Göttern, Toten, Blutsverwandten, Fremdlingen und Schutzflehenden gegen den, der ihre sittlich begründeten Vorrechte frevelhaft verletzt. Das sind die Rechte, die unter dem Schutz der Erinyen stehen und die geschichtlich gesehen alle Ableitungen aus der dem Toten geschuldeten Ehrerbietung sind. In hervorragender Weise ist Träger der μῆνις der tote Heros. Die μῆνις ᾿Aχιλλῆος hing ursprünglich gewiß zusammen mit dem Grab des Heros in der Troas, an dem er früher, wie man erzählte, sogar Menschenopfer gefordert haben sollte. Noch einen Schritt weiter zurück führt uns das lateinische Wort: es zeigt, daß *mānis zunächst der Tote selbst war, insofern er Opfer und Verehrung forderte.⁶²²
Nicht zuletzt wird auch in der Achillesgeliebten Polyxene selbst eine Gestalt der chthonischen Sphäre vermutet. Ihr Name Πολυξένη müsse zu Πολύξενος („der Gästereiche“) gestellt werden, so Wüst, ein Kultname, ein Euphemismus für Hades, „de[r] gastliche[ ] Wirt vieler Seelen von Abgeschiedenen,“ demnach sei Polyxene „die Gattin des Fürsten der Toten.“⁶²³ Es passt zum starken Heroenkult, der sich um den toten Helden Achill im griechischen Altertum entsponnen hat (die Mutter Thetis entreißt ihn bekanntlich dem Scheiterhaufen und entrückt ihn auf die Insel Leuke an der Donaumündung im Schwarzen Meer, einer der zahlreichen ,Inseln der Seligenʻ, die die griechische Antike kennt mit dem bezeichnenden Namen „die Weiße“).⁶²⁴ Damit scheint die beachtliche narrative Wende der hellenistischen Zeit, die mythisches Erzählen samt seiner Motive und Plausibilisierungskonzepte von einem toten Helden auf einen lebenden verschiebt, also nicht einmal die erste zu sein in der langen Karriere des Erzhelden: Seine Gestalt gehört von Anfang an, ja wohl schon in vorhomerischer Zeit in die Welt der Toten, ins Totenritual. Sein tief darin gegründetes Wesen hat Achill niemals verloren, vielmehr scheinen sich dessen chthonische Aspekte, dessen Totennatur mit einer gewissen Regelmäßigkeit, immer wieder aufs Neue, aktualisiert,
Porzig 1942, S. 352. Siehe Janda 2018, S. 48. Wüst 1949, S. 210. „Polyxene ist eine chthonische Gestalt, sei es nun die Totenkönigin selbst oder eine ihr untertane, den Erinyen über- oder beigeordnete oder gar wesensgleiche Gottheit“ (Wüst 1949, S. 211). Und er zieht einen interessanten Vergleich zur nordischen Götterwelt: „Man kann sie mit Freia, der die halbe Wal, die Hälfte der schlachttoten Männer, gehörte, vergleichen oder mit der Walkyre, wenn man nach Parallelen in der nordischen Sage sucht“ (Wüst 1949, S. 211). Entsprechend möchte er die Brunnenszene genau andersherum interpretieren. Achill habe die Todesgöttin in die Flucht schlagen wollen, damit sie nicht ihres Amtes walten könne (vgl. Wüst 1949, S. 211 f.). Freilich ergäbe dann das Motiv der Opferung am Grabe keinen Sinn. Aber vielleicht muss auch hier eine Vermischung beider Vorstellungen in Erwägung gezogen werden ähnlich wie im Baldermythos, wo Proserpina (oder Hel), die dezidierte Totengöttin, und Nanna, die Totenbraut, zumindest funktionell zusammenfallen. Vgl. von Geisau 1979a, Sp. 49.
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reorganisiert und, erst einmal losgelöst vom Kult, literarisiert zu haben. Auffallend genug zeige sich Achill ohnehin kaum organisch mit dem Troja-Stoff verbunden: „Achilleus ist weder mit Anfang noch Ende der Troia-Geschichte verbunden. Er gehört […] nicht zu Helenas Freiern, die sich dazu verpflichteten, dem Auserwählten beizustehen. Als die Stadt fällt, ist er bereits tot.“⁶²⁵ Mit Martin L. West⁶²⁶ und Heinrich Pestalozzi⁶²⁷ möchte Janda entsprechend davon ausgehen, dass Achill erst sekundär in die Dichtung aufgenommen worden sei, eine mythische Wesenheit, die wohl schon vor der Ilias und unabhängig von dieser existiert habe.⁶²⁸ Ja manches deute darauf hin, einschließlich des Namens selbst, dass Achill einst kein menschlicher Toter, vielmehr der Totengott selbst gewesen sein müsse.⁶²⁹ Ein Interpretationsansatz, der im Übrigen auch für eine andere homerische Textstelle, die berühmte Begegnung des greisen Vaters Priamos im feindlichen Lager des Achill, immer wieder erwogen wurde (siehe Kap. 12.6.1). Die schrittweise Aufwertung seines Antagonisten und Bezwingers geht damit einher, wenn auch die nachhomerische Funktion des Paris als letztendlich Beschließer eines Übergangsrituals, der dem Totengeist Einhalt gebietet und bannt, längst vergessen war ebenso wie die nämliche Rolle der Polyxene. Aber die Ambivalenz des Grenzgängers, die dafür notwendig ist, ist auch bei Saxo noch vorhanden, so auch manche Elemente des Bestattungsritus, auch wenn Saxo versucht, sie durchaus rigoros vom Baldergeschehen getrennt zu halten. Die aufwändige Schiffsbestattung eines Gelderus etwa ist früh als unmotiviert und ganz isoliert von der eigentlichen Tradition erkannt worden.⁶³⁰ Es zeigt, wie unbefangen, ja skrupellos Saxo Erzähleinheiten kappt, andere einführt und neu kombiniert. Bugge und Kauffmann führen zahlreiche Beispiele auf, die nachweislich aus spätantiker oder frühmittelalterlicher Erzähltradition stammen, andere wiederum, gerade aufgrund ihrer Isoliertheit und Inkonsistenz, scheinen aus jener ursprünglichen, dänischen Quelle zu stammen, die Saxo wohl als Vorlage hatte. So erhält Hotherus zunächst einen um Vollständigkeit
Janda 2018, S. 75. Vgl. West 2011, S. 42 f. Vgl. Pestalozzi 1945, S. 46. Vgl. Janda 2018, S. 76. So könne das Vorderglied des Namens, ᾿Aχι, kaum von ἄχος „Schmerz“ getrennt werden. Dessen Verwendung in der Ilias beziehe sich in über der Hälfte der Belege „direkt auf den Schmerz um einen Verstorbenen“ (vgl. Janda 2018, S. 78). Auch im Namen von Achills Heimat Φθίη wird seit Paul Kretschmer das „Land des Dahinschwindens“ (Janda 2018, S. 83), also das Land der Toten, der φθίμενοι, vermutet: „Der ‚Schmerzreiche‘ oder ‚Trauervolle‘ herrscht über die ‚Toten‘: der Frühverstorbene ist danach als Herrscher im Schattenreich gedacht, oder wenn der Gott, als der Achill in Epirus galt, älter als der Heros ist, so ist aus dem Herrscher über die Toten erst der Heros entstanden, wie der gleichfalls thessalische Heros Admetos aus dem ‚unbezwinglichen‘ Gott des Todes. Phthia war alsdann keine wirkliche, sondern nur eine mythische, lediglich in der Phantasie bestehende Örtlichkeit“ (Kretschmer 1913, S. 308). Vgl. Kauffmann 1902, S. 85.
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bemühten Katalog an mittelalterlichen, höfisch heroischen Eigenschaften,⁶³¹ die den Helden auszuzeichnen haben: Als Jüngling überragte er seine Milchbrüder und Altersgenossen weit an Körperkraft; auch seinen Geist schmückten viele Fertigkeiten: er war stark im Schwimmen, in der Handhabung des Bogens und im Faustkampfe, auch in körperlicher Gewandtheit, soweit das sein Alter zuliess; Kraft verlieh ihm eifrige Übung ebenso wie seine Naturanlage. Die Schranken seines Alters durchbrach er durch seine reichen Geistesgaben.⁶³²
Saxo weiß aber eine hinzuzufügen – die Kunst des Harfespielens. Wohl soll auch schon der homerische Paris sich im Lautenspiel ausgezeichnet haben (was übrigens auch dem Achill dort bereits zugeschrieben wird), freilich scheint Hotherus Meisterschaft weit über eine menschliche, natürliche hinauszugehen: Niemand war geschickter als er auf der Harfe und Leier; auf dem Tamburin und der Laute und jedem Saitenspiel war er Meister. Durch seine mannigfachen Weisen wusste er das menschliche Gemüt zu jeder von ihm gewollten Erregung fortzureissen: in Freude und Trauer, in Mitleid und Hass wusste er die Menschen zu versetzen. Die Herzen pflegte er mit süsser Lust oder mit Schauer durch das Ohr zu erfüllen.⁶³³
Durch diese besondere Begabung gewinnt er letztendlich nicht nur das Herz der schönen Nanna, er vermag auch erfolgreich in einer anderen schwierigen Heiratsangelegenheit zu vermitteln: Helgo, der König von Halogia, möchte um die Tochter des Finnenkönigs Cuso (Guso), Thora, freien, allerdings ist er „mit einem erheblichen Fehler der Zunge behaftet“ (hic tanto oris vitio obsitus erat), er leidet offenbar an einem Sprachfehler, und so „beschwor“ er ausdrücklich den Hother (obsecrabat), „den er als äusserst gewandten Sprecher kannte, für seine Wünsche einzutreten.“⁶³⁴ Dieser rüstet nun eine Flotte und ist offenbar auch bereit, sein Anliegen mit Gewalt durchzusetzen. Aber es gelingt ihm, nicht nur den Vater der (zukünftigen) Braut, sondern die Braut selbst „mit gewinnendsten Worten“ (per summam eloquii suavitatem) für sein (bzw. König Helgos) Anliegen zu gewinnen: „So öffnete Hother die verschlossenen Ohren
Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 89. Gest.Dan. 3.2: Adolescens collacteis ac coaevis summa corporis firmitate praestabat. Ceterum ingenium eius crebrae dotaverant artes. Quippe natationis, arcus caestuumque peritia nec non, quantamcumque ea aetas capere poterat, agilitate pollebat, haud minus exercitio quam viribus potens. Immaturam adhuc aetatem uberrimis animi beneficiis transscendebat. Gest.Dan. 3.2: Nemo illo chelis aut lyrae scientior fuerat. Praeterea sistro ac barbito omnique fidium modulatione callebat. Ad quoscumque volebat motus, variis modorum generibus humanos impellebat affectus: gaudio, maestitia, miseratione vel odio mortales afficere noverat. Ita aurium voluptate aut horrore animos implicare solebat. Gest.Dan. 3.2: Quod audiens Helgo Høtherum, quem politioris facundiae noverat, suis favere studiis obsecrabat, alacriter se, quicquid is imperasset, exsecuturum pollicitus. („Als Helgo diese Antwort erhielt, beschwor er den Hother, den er als äusserst gewandten Sprecher kannte, für seine Wünsche einzutreten; er versprach dagegen mit Eifer auszuführen, was er dafür verlange“).
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des Cuso für Erhörung seiner Bitte durch den Zauber seiner abgerundeten und gewandten Beredsamkeit.“⁶³⁵ Und tatsächlich gelingt es Hotherus zu guter Letzt, nach mehreren frustrierenden Niederlagen, gerade in Verkleidung eines Harfenspielers in das feindliche Lager des Balderus einzudringen und die entscheidende Information zur Vernichtung seines Feindes zu erhalten. Er erfährt von der Zauberspeise, die Balderus von drei Nymphen erhält, präpariert mit Schlangengift, die ihm zu seiner übermenschlichen Stärke verhelfen. Und es gelingt ihm, eine Kostprobe davon zu erhalten, indem er seine eigentliche Identität verschweigt, aber gerade auch, weil er offensichtlich als Harfenspieler nicht nur menschliche, sondern auch übermenschliche Wesen betören kann. Tatsächlich erscheint in Saxos Schilderung der Tötung Balderus dieselbe Wortwahl wie im mittelalterlichen Setting des Achilles-Todes: Auf dem Rückweg ins Lager (gestärkt durch die Zauberspeise der drei Nymphen) trifft Hotherus urplötzlich, zufällig, wie es scheint, auf Balderus, er streckt ihn ohne Vorwarnung mit einem Schwerthieb nieder und lässt ihn – wie Achill – „halbtot“ (seminecem) zurück: „Als er nun seinen früheren Weg auf demselben Steige, auf dem er gekommen, zurückging, da bohrte er dem ihm begegnenden Balder sein Schwert in die Seite und streckte ihn halbtot nieder.“⁶³⁶ Das heimtückische Niederstechen des in jeder Hinsicht unvorbereiteten Balderus gleicht dem Tod des ahnungslosen und waffenlosen Achill, hier wie da ein ,unheroischerʻ, ja kläglicher Tod und keine Rede mehr (auf beiden Seiten!) von deren mythischer Unverwundbarkeit. Und auch die Reaktionen der Mörder gleichen sich: Alexander/Paris und Deiphobus ergreifen überstürzt, ja angsterfüllt die Flucht, ohne sich noch einmal des Zustands des Niedergestreckten zu versichern. Ähnlich beurteilt Frog das Verhalten Hotherus: „There is no indication of resistance on the part of Balderus, and the immediate departure of Høtherus may reflect fleeing the scene.“⁶³⁷ ,Halbtotʻ wird Balder die nächsten Tage aufs Schlachtfeld tragen und er ,träumtʻ – wie all die anderen niedergestreckten Helden – von der Totengöttin: „In der folgenden Nacht erschien ihm Proserpina (Hel) im Traume und verkündete ihm, dass sie des nächsten Tages in seinen Armen ruhen werde.“⁶³⁸ Dann erst stirbt er ,richtigʻ und wird in einem Grabhügel bestattet. Die Mitteilungen des Saxo sind in mancher Hinsicht bedenkenswert: Die antike wie mittelalterliche Tradition kennt das Motiv des listigen Harfenspielers gut, „Disguise as musician to enter enemy’s camp“,⁶³⁹ „a sort of musical Trojan horse for which
Gest.Dan. 3.2: Igitur Hoetherus obseratas Gusonis aures ad ea, quae precabatur, exaudienda rotundae volubilisque facundiae dulcedine patefecit. Gest.Dan. 3.3: Qui cum pristinum iter remetiendo calle, quo venerat, repedaret, obvii sibi Balderi latus hausit eumque seminecem prostravit. Frog 2010, S. 295. Gest.Dan. 3.3: Postera nocte eidem Proserpina per quietem astare perspecta post triduum se eius complexu usuram denuntiat. Schultz 2007, S. 2.
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the enemy’s closely guarded gates swing open in welcome,“⁶⁴⁰ so nennt es Jerrianne D. Schultz. In ihrer Untersuchung hat sie nicht weniger als 23 Episoden des ,betrügerischen Harfenspielersʻ zwischen dem 12. und 14. Jh. im Norden gezählt, die sie darüber hinaus in enger Verbindung mit dem Motiv „noble fosterling excels in music“⁶⁴¹ sehen möchte. Schon hier erkennen wir die Hauptcharakteristiken von Saxos Hotherus, ausdrücklich aber führt Schultz noch eine weitere Eigenschaft der so genannten „harper king tradition“ an: „Each of these disguise-heroes also uses what appears to be a form of human magic combining trickery, technical skill, and music or spoken words, all of which traditionally have magical connotations.“⁶⁴² In der Tat werden wir in Hotherus „abgerundete[r] und gewandte[r] Beredsamkeit“, in seiner „einschmeichelnden Wohlredenheit und Überredungsgabe“⁶⁴³ weit mehr erkennen müssen als bloßes höfisches Gebaren, ein Talent für schöne Worte, es scheinen ja magische Sprechakte, Zaubersprüche, eine fast unheimliche Potenz, mit der er nicht nur Menschen nach seinen Wünschen zu manipulieren vermag. Schultz fasst diese ‚Kunstʻ als typischerweise „Hermean characteristics“: [T]hese episodes generally contain a cunning, higher-ranking/noble hero who is a soldier and a talented performer in the northern minstrelsy tradition, with a substantial problem. The trick also represents five distinctive Hermean characteristics: border-crossing, disguise, trickery, music/the bard, and paradox. […] Although cunning can be a dangerous trait, these heroes or their tricks are generally portrayed positively, as the welcome resolution to a seemingly insurmountable problem, most often performing a positive function in these episodes and highlighting the value in medieval society of leaders with creative ingenuity.⁶⁴⁴
Gefährlich nahe steht aber die bloße Verkleidung dem zauberischen Gestaltenwandel, der bewegende Gesang der zauberischen Betörung, und es ist diese Nähe von mimischem wie magischem Trugbild, die ganz im Gegensatz dazu in der christlichen Tradition den Mimen, den Schauspieler, den Spielmann besonders verhasst und gefürchtet macht. Und insbesondere die cytharistae scheinen sich als ,Sondergruppeʻ über die Jahrhunderte erhalten zu haben. Sie sind nachgerade namengebend geworden für eine ganze Kategorie einer mittelalterlichen ,Unterhaltungsindustrieʻ. Isidor von Sevillas Einschätzung (die in jeder Hinsicht der offiziellen Position der Kirche entspricht) ist dabei eindeutig: „This sort of spectacle you should hate, Christian, since you hate its authors.“⁶⁴⁵ Es sind Gestalten, die früh in der mittelalterlichen Ikonographie, der Buchmalerei (Anfang 9. Jh.) erscheinen, bezeichnend genug, stets nur in den Randstreifen, in den Randillustrationen von Handschriften⁶⁴⁶:
Schultz 2007, S. 1. Schultz 2007, S. I. Vgl. auch Bugge 2012 [1889], S. 121– 123. Schultz 2007, S. II. Bugge 2012 [1889], S. 87. Schultz 2007, S. II. Ogilvy 1963, S. 605. Vgl. Müller 2005, S. 179 f.
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Spielleute und Gaukler, Jongleure, Sänger, nicht selten in obszön skurrilen, ja derb skatologischen Darstellungen. Sie sind Teil einer theologischen Sondersemiotik, theologisch intendierter Gegenentwurf, admonitio, ad verbum-Illustrationen zu den ,wirklichenʻ, den religiösen Texten und damit ,eigentlichenʻ Wahrheiten⁶⁴⁷: Sie sind Verbildlichungen einer mittelalterlichen Peripherie, angesiedelt in einem magischen wie medialen Denkraum der Grenzwertigkeit (der wiederum häufig genug korrespondierte mit den Realtopographien mittelalterlichen städtischen Raums). Hier wie da hausen schließlich auch all die anderen Randbewohner, von denen wir schon die meisten kennen gelernt haben, „außer den an den Rändern der Erde vorgestellten Fabel- und Monstervölkern auch die verschiedenen sozialen Randgruppen – die Verbannten, Vagabunden, Gaukler, Bettler, Huren, Kriminellen, Leprösen, Häretiker und Juden.“⁶⁴⁸ Der christliche Gelehrte Saxo weiß um diese Konnotationen, mit jeder einzelnen Zuschreibung ist er vertraut – warum verwendet er sie für Hǫðr/Hotherus? Es sind eben jene hermestypischen Eigenschaften des „border-crossing“,⁶⁴⁹ von denen Schultz spricht, der Harfen-Spieler überwindet nicht nur diskursive Grenzen, sondern auch reale wie übernatürliche, magische. So wie es ausnahmslos allen diesen peripheren Randbewohnern und Grenzgängern unterstellt wird, ob Schauspieler, Mimen,Verkrüppelte oder sexuelle Abweichler/innen: die Fähigkeit zur Schaffung von Fiktionen, sjónhverfingar („Sinnestäuschungen“). Hotherus besitzt damit zweifelsohne die typischen Eigenschaften des Tricksters, und ausdrücklich schreibt Saxo ihm eine Aktion (bzw. deren Ergebnis) zu, von der wir zufällig genau wissen, dass sie das Werk des nordischen Tricksters Loki ist. Er schlägt ein Stück vom Schaft von Thors Hammer ab und macht ihn damit unvollständig, in seiner Eigenschaft als Vorzeitheld natürlich im Kampf und nicht als heimtückische Störaktion (wie wir sie von Loki kennen).⁶⁵⁰ Vielleicht ist hier der verschwundene Loki aus der isländischen Tradition abgeblieben: Saxo lässt kurzerhand beide Gestalten zusammenfallen. Es lässt sich aber gerade auch der umgekehrte Weg denken: This split between trickster and noble fosterling echoes what researchers have identified as the trickster’s general move toward dichotomy to meet changing societal needs in which the traditionally dual-natured trickster develops into either a good or evil figure.⁶⁵¹
Die ,Trickster-Eigenschaftenʻ werden nur in einer ganz bestimmten Situation, in einer Kultsituation benötigt. Hotherus agiert als der große Gegenspieler Balderus, aber letztendlich ist es seine rituelle Rolle im Totenkult, zu der er wie der mittelalterliche Paris stilisiert wurde. Nachhaltig am zerstörerischsten für die Logik des Erzählfort-
Vgl. Müller 2005, S. 180. Klein 2007, S. 179. Schultz 2007, S. II. Loki sticht (in Gestalt einer Fliege) dem Schmiedehelfer bei der Herstellung Mjǫllnirs zwischen die Augenbrauen (Skáldsk 35). Schultz 2007, S. 270.
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gangs ist dabei, wie Saxo diese Kultelemente ausmerzt bzw. bis zur Unkenntlichkeit neu formiert. Denn erinnert sei, wofür Hotherus sein außergewöhnliches Rednertalent noch einsetzt. Saxos ‚Entritualisierungsstrategieʻ muss auch in der Episode um König Helgo (rex Halogiae) vermutet werden, in der vordergründig die schwierige Verbindung mit der finnischen Prinzessin Thora zustande gebracht werden soll. Es ist das Erzahnenpaar Hǫlgi und Þorgerðr Hǫlgabrúðr. Bei Snorri (Skáldsk 45) erscheinen sie immerhin noch als (tote) Kultempfänger, sie erhalten typischerweise Goldgaben, Opfergeld, das direkt mit dem Grabhügel vermengt wird, wenn auch andere, übernatürliche, ,göttlicheʻ Details auch bei ihm gezielt vermieden werden. Der christliche Horror vor der paganen Orthopraxie bewirkt auch bei ihm eine gewisse vorsichtige Zurückhaltung. Darüber hinaus findet der chthonische Ahnenkult bekanntlich ohnehin wenig Platz in seinem asischen Götterhimmel, noch weniger in Saxos Heroenwelt. Aber Saxo beschreibt (bzw. euhemerisiert) hier eine Kultsequenz der Totenhochzeit. Hotherus übernimmt die Rolle des Skírnir. Er hat die Aufgabe für den sprachlosen Toten zu sprechen, durch gegebenenfalls magische Sprechakte, Flüche wie Liebeszauber, ja körperliche Gewalt (vorsorglich tritt er mit einer ganzen Kriegsflotte die Werbefahrt an), um die Braut geneigt zu machen. Vielleicht muss sogar an ein reales Menschenopfer gedacht werden (nach Art der Polyxene), aber auch an Witwennachfolge, wie wir sie für Nanna im isländischen Kontext ausgestaltet sehen. Ihre Geneigtheit ist die Geneigtheit dem Toten gegenüber, dem stummen Helgo, dem schwächlichen Freyr, dem zornigen Balderus. Man wird in Thora aber auch die Ahnenbraut selbst sehen können nach Art der Þorgerðr Hǫlgabrúðr oder der Þóra/Áslaug der Ragnars saga. Und auch hier ist schließlich (neben üppigen Goldgaben) das zauberische Harfenspiel wichtigstes Instrument für deren wohlwollendes Ausharren. Ebenso dem Bestattungskult entnommen ist Hotherus merkwürdig unmotivierte Untröstlichkeit, seine Tränenaufgelöstheit, sein Umherirren in der Wildnis, ja seine ausdrückliche körperliche Vernachlässigung, seine „schmutzige Verkommenheit“ (illuvies ac squalor).⁶⁵² Es sind Elemente, wie wir sie etwa in den irischen Bestattungsbräuchen (aber wohl schon Jahrtausende zuvor) dokumentiert sehen, freilich
Gest.Dan. 3.3: Ibi magnatibus accersitis, ob infelices rerum cursus, quibus ipsum Balderus bis victor afflixerat, lucis ac vitae pigere se dixit. Deinde, consalutatis omnibus, difficilia aditu loca devio calle sectatus expertes humani cultus indagines perlustrabat. Fit enim, ut, quibus insolabilis animi dolor inciderit, obscuros externosque secessus quasi quoddam pellendae tristitiae remedium captent nec magnitudinem maeroris inter humanos queant tolerare convictus. Adeo plerumque amica est aegritudini solitudo. Praecipue enim illuvies ac squalor delectant, quos adversa animi valetudo concusserit. („Dort berief er die Grossen des Reichs und eröffnete ihnen, er sei wegen der unglücklichen Entscheidungen, in denen ihn Balder zweimal als Sieger zu Boden geworfen, des Lichtes und des Lebens überdrüssig. Er verabschiedete sich bei allen, suchte schwer zugängliche Orte auf unwegsamem Pfade und durchwanderte öde, menschenverlassene Wälder.Wen untröstlicher Herzensschmerz ergriffen hat, der sucht wohl versteckte und entlegene Winkel als ein Heilmittel für seine Traurigkeit und kann den grossen Kummer mitten im Verkehr mit Menschen nicht tragen. Einsamkeit ist in der Regel des Kummers beste Freundin, denn Vernachlässigung des äussern Menschen ist denen ein Genuss, denen eine Krankheit der Seele den Halt genommen“).
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hier meist als das exorbitante, buchstäblich ,verrückteʻ Trauerverhalten der Frau, die barfuß, verwahrlost, mit zerrissener Kleidung, weite Strecken durch die Wildnis rennt, die schließlich als äußerste Klimax der Gleichschaltung mit dem Toten gar dessen Blut trinkt.⁶⁵³ Das ist eben jener „deathlike state“, den Frog (mit Verweis auf Dumézil) meint: Dumézil […] argues that the transfer of motifs and motif-complexes associated with Baldr to Höðr led Saxo to attribute Høtherus with a „death“. […]. Following his second defeat by the armies of Balderus, Høtherus withdraws from the society of men and goes alone into a remote wilderness, corresponding to Saxo’s translation of otherworld journeys into his historical framework.⁶⁵⁴
In den gleichen Kontext gehört die weitere Erwähnung Saxos: „Früher hatte Hother auf dem Gipfel eines hohen Berges seinem Volke auf seine Anfragen Bescheid erteilt; deshalb schalt jetzt, wer dahin kam, des Königs Trägheit, der sich verkroch, und mit den heftigsten Klagen wurde er von allen geschmäht, weil er sich fern hielt.“⁶⁵⁵
Vielleicht aber gilt die Schelte tatsächlich weniger Hotherus (allein) als seinen jenseitigen ,Gesprächspartnernʻ, den Toten, dem toten Balder. Noch ist die Ahnentransformation nicht abgeschlossen, noch scheint keine Kommunikation mit dem Totenreich möglich zu sein, nichts anderes ist ja das ,Sitzen auf dem Bergʻ, das sitja yfir. Der Ahnenkult verlangt Kommunion und Kommunikation, wie bei König Yngi oder König Gautrekr oder Jarl Þorgnýr eine demonstrative, räumliche Nähe zu den Toten, bedingungslose Solidarisierung. Auch die totenähnliche Besinnungslosigkeit durch Alkoholisierung gehört dazu (nicht zufällig berichtet Saxo kurz zuvor vom unrühmlichen Tod des Bruders von Hotherus, Atisl, der ausgerechnet bei der Totenfeier des Königs Rolf durch übermäßigen Alkoholgenuss ums Leben kommt). In diesem Sinne wird auch Balders ,Lagerʻ verstanden werden müssen, das Hotherus aufsucht, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Er folgt dem Toten in den Grabhügel, um den rituellen Todesstoß als Abschlussritus der Bestattung auszuführen. Indem er Balders Totenspeise wie tödliche Speise isst,⁶⁵⁶ macht er sich mit ihm
Siehe Holst-Warhaft 2000, S. 39. Frog 2010, S. 291 f. Gest.Dan. 3.3: Consueverat autem in editi montis vertice consulenti populo scita depromere. Quamobrem venientes occultantis se regis inertiam causabantur, absentiaque eius gravissimis omnium querelis lacerata est. Indra selbst verfällt nach dem Totschlag am gefürchteten ‚Wasserzurückhalterʻ Vṛtra in einen todesähnlichen, desolaten Zustand: Von Scham und Trauer ergriffen hält er sich verborgen in der Wildnis, ‚bewusstlosʻ, am Ende der Welt. Ausdrücklich durch sein Verhalten stürzt er die Welt in die Katastrophe, macht sie öd und führerlos (vgl. Mahābhārata 5, 10). Auf den Euphemismus in Saxos Beschriebung, inusitatae cuiusdam suavitatis edulium („edible things of a rare variety of sweetness“ (Gest.Dan. 3.3) ist bereits verwiesen worden, was Paul Herrmann wohl allzu frei als „Speise von ganz ungemeiner Zauberkraft“ übersetzt. Schlangengift ist indes keine Nahrung für die Lebenden: „There is no corresponding use of serpent venom as a positive or delicious
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gemein. Frog verweist in diesem Zusammenhang auf andere magische Speisen, die außergewöhnliche Fähigkeiten verleihen, etwa die Sprache der Tiere zu verstehen, dichterische Inspiration: Saxo […] emphasizes the acquisition of exceptional eloquence by Ericus „the Wisely-Spoken“ by eating this food, which invites comparison with the Mead of Poetry and Ægir’s mead […]. It corresponds closely to the Serpent-Beer in LV [Lemminkäinen virsi], which (like Germanic heroes) Lemminkäinen must overcome in order to enjoy. Saxo may be generating a fusion of the venomdripping serpents, the heart of Fáfnir and the Mead of Poetry/Ægirʻs mead, filling the scene with loaded motifs […].⁶⁵⁷
Konnotationen, die wohl nicht von der Hand zu weisen sind, aber wir müssen auch an die ätzend scharfe ,Tränennahrungʻ der Hinterbliebenen, der Kultteilnehmer denken, die den Toten nicht zur Ruhe kommen lassen, ihm über die Maßen immer weiter, ab einem gewissen Zeitpunkt durchaus unerwünscht, ja gefährlich die Lebenskraft und Wachheit erhalten. Bei Saxo sind es Nymphen, die Balderus diese Gabe verabreichen, der Schlangengeifer, der qualvoll auf den todgeweihten Loki tropft, wird ebenso von weiblichen mythischen Wasserwesen arrangiert (Gylf 50). Vielleicht ist auch an die Tränen der Wellen-Mädchen in Baldrs draumar zu denken, die ebenso sprichwörtlich genug sind, um eine Rätselfrage daraus zu konstruieren. Hotherus ist nicht der Kämpfer, er ist der raffinierte, versierte Kultmeister. In vielen Punkten gleicht er hier tatsächlich dem Loki des Nordens in seiner Funktion im Balderkult. Deshalb werden wir auch in seinem Namen ein ähnliches Benennungsmotiv vermuten können: Hǫðr ist ein ‚Lotterbubeʻ, ein ,Hader-Lumpʻ. In dieser Zusammensetzung ist das Erstglied Hader- Verdeutlichung, aber nicht in der Bedeutung „Streit, Zwist“, sondern tatsächlich im Sinne eines abgerissenen Fetzens, eines Lumpens, es ist das nämliche semantische Feld, in dem wir Loki verortet haben, das Lose, das Unstete, das Lockere, das nicht Festgemachte.⁶⁵⁸ Er ist die persona inhonesta, der Possenreißer und Gaukler. Und, wichtig genug, Hotherus beherrscht die lotarspraha,
substance or ingredient in the medieval Norse corpus, nor is ‚venomʻ ever a power-giving substance“ (Frog 2010, S. 293). Frog 2010, S. 294. Vgl. DWb, „hader“: „[I]n zwei hauptbedeutungen. 1) streit, und zwar a) schwerer streit, solcher der in bitterer, tötlicher feindschaft entbrennt, kampf, fehde, krieg.“ „Die andere hauptbedeutung von hader ist 2, a) abgerissenes oder abgeschnittenes stück zeug, fetzen, lumpen, vielfach von kleidungsstücken gesagt, die vor alter in stücken zerfallen; mhd. hader […]; hader und alte cleider, exuvie […]; hader, lumpe.“„hader“, „hader als schimpfwort für einen nichtswerten menschen, vgl. lump: ein schlechter kerl! nein! gar kein kerl! ein lump ist er, ein hadder!“ (Gegebenenfalls in obszöner Bedeutung als männliches Glied). Grimm möchte bei beiden Bedeutungen eine gemeinsame Wurzel annehmen, es vergleiche sich ai. çâtayâmi „haue, haue nieder, schlage, fälle“, ir. cath „Niederlage, Schlacht“, ags. heaðu „Kampf, Schlacht“, ahd. hadu (in Eigennamen), griech. κότος „Groll, Hass, Zorn“. Aus der Vorstellung des Abhauens, Trennens sei die Bezeichnung eines „abgetrennten stückes der kleidung“ entstanden (vgl. lat. cento „Lappen, Lumpen“). Damit sei der Bedeutungsakzent auf dem „von der hauptkleidung abgetrennte[n], isolierte[n] (kurs. d. Verf.).“
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die „Lottersprache“, die zauberische Beschwörung der Toten, die Totenkommunikation.
12.6.2 Der verwahrloste Váli Tatsächlich erscheint in Snorris Baldersage weder ein Bous noch ein Váli,⁶⁵⁹ und das, obwohl Snorri nicht nur die Gestalt des Váli, sondern auch den eddischen Mythos dahinter gekannt haben muss, er wusste um dessen Mutter Rindr (Rindr, móðir Vála, Gylf 36) ebenso um seine Funktion als Rächer und Gegenspieler Hǫðrs.⁶⁶⁰ Umso merkwürdiger nimmt es sich aus, dass nichts von alledem in Snorris Ausführungen erscheint. Lincoln sieht das Schweigen Snorris politisch motiviert, es sei die allzu offensichtliche Ähnlichkeit des ungekämmten und ungewaschenen Gottes Váli mit dem Eroberer-König und Gründervater Norwegens, Haraldr hárfagr, die er mit allen Mitteln vermeiden wollte. Harald hatte bekanntlich einen Eid geschworen, jenen berühmten ,Haareidʻ, sich erst dann sein Haar wieder schneiden zu lassen, wenn Norwegen unter seiner Hand vereint sei,⁶⁶¹ was ihm zunächst den Spitznamen Haraldr lufa, „shaggy Harald“⁶⁶² eingebracht hat. Lincoln vermutet, dass es genau diese formalen Ähnlichkeiten waren, die Snorri auf keine Weise explizit machen wollte, um dem unbändigen Eroberungswillen des Norwegerkönigs nicht auch noch mythische Legitimierung zu verschaffen: In all of Old Norse literature, the Váli myth offers far the closest analogue to the oath sworn by Harald Fairhair. Given that both these data were familiar to Snorri and of keen interest to him, it would have been easy for an author of his skill to establish an intertextual connection between them, working parallel phrases and imagery into descriptions of Váli in the Edda and Harald in the Heimskringla. In this manner, he could have subtly associated the king with the god, representing the oath sworn by the former, through which he founded both kingship and nation, as a repetition of divine precedent. Further, he could have constituted the campaign of military violence through which Harald raised himself to the throne as a sacred mission like that undertaken by Váli: righteous vengeance, the restoration of proper order, and/or a salvific action that averted cosmic disaster. Presumably, such themes and subtexts would have been welcome to the Norwegian kings who were Snorri’s patrons and traced their descent from Harald. It is thus
Siehe Neckel 1920, S. 55. Vgl. Skáldsk 12: Hvernig skal kenna Vala? Svá, at kalla hann son Óðins ok Rindar, stjúp Friggjar, bróður Ásanna, hefni-Ás Baldr‹s›, dólg Haðar ok bana hans, byggvanda fǫðurtopta („Wie soll man Wali bezeichnen? – Indem man ihn Sohn Odins und der Rind nennt, Stiefsohn der Frigg, Bruder der Asen, Rache-Asen Balders, Feind Höds und sein Totschläger, Besiedler des Vaterlandes“). Skáldsk 13: Hvemig skal kenna Hǫðr? Svá at kalla hann blinda Ás, Baldrsbana, skjótanda mistilteins, *son Óðins, Heljar sinna, Vála dólg („Wie soll man Höd umschreiben? – Indem man ihn den blinden Asen nennt, Balders Töter, Werfer des Mistelzweigs, Sohn Odins, Hels Gefährte und Walis Gegner“). [A]ldri skal skera hár mitt né kemba, fyrr en ek hefi eignazk allan Nóreg („[I]ch werde mein Haar nicht schneiden oder kämmen, bis ich Besitz von ganz Norwegen genommen habe“ [þáttr Haralds hárfagra, Kap. 4]). Egils saga, Kap. 3; þáttr Haralds hárfagra, Kap. 3. Vgl. Lincoln 2001, S. 485.
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somewhat surprising that one finds nothing of the sort. On the contrary, in the Gylfaginning, Snorri radically reorganized the information available to him about events subsequent to Baldr’s death, beginning with his description of the gods’ reaction to that catastrophe.⁶⁶³
Wie schwerwiegend auch immer wir diese politischen Implikationen beurteilen wollen – der Rachegedanken hat in Haralds Reichsgründungsgeschehen so wenig Platz wie in der Balder-Erzählung. Im Übrigen passt er nicht einmal sehr gut in die narrative Logik der Vǫluspá. Auch hier ist es ein empfindlicher logischer Bruch, den potentiellen Rächer bereits nach einem Tag zu einem ausgewachsenen Mann werden zu lassen, der tötet,⁶⁶⁴ andererseits auf eine Vernachlässigung der Körperpflege zu verweisen, die, um überhaupt wirksam werden zu können, wohl auf eine längere Zeitspanne als eine Nacht referieren muss.⁶⁶⁵ Die Transformationszeit, die Zeit, die Harald benötigte zur Reichseinigung, zur Gründung einer Nation, wurde ähnlich lange angesetzt wie Othinus Exil, zehn Jahre, in der er sich nicht nur äußerlich (durch seine abnorme Haartracht) als zur Gesellschaft nicht zugehörig kennzeichnete, sondern wohl auch ähnlich rücksichtslos und transgressiv seine Eroberungspläne umsetzte. Klar scheint indes, Snorri steuert seine Balder-Geschichte unabwendbar auf den Untergang, das Weltenende hin, wo Haralds politisches wie militärisches Handeln gerade am Anfang einer Erfolgsgeschichte steht, insofern würden Motiv-Assoziationen nicht nur die Plausibilität seines eigenen Erzählaufbaus wenig stützen, ja sie wären in der Tat politisch eher unangebracht, wenn nicht gar kontraproduktiv: Untergangsprophezeiungen für ein prosperierendes Herrscherhaus wären gewiss alles andere als erwünscht. Nun ist Harald Schönhaar die positiv besetzte Gründungs- und Identifikationsgestalt in der norwegischen Reichsbildung, entsprechend zieht er eine Unmenge an Gründungs-/Ursprungs-/Anfangssymbolen auf seine Person, darin ist er, wenn man so will, ein unerschöpfliches Reservoir. Die Umstände, in denen Harald seinen Haareid getätigt haben soll, werden also auch und gerade unter diesem Aspekt betrachten werden müssen. Der Haareid ist zunächst weder ,Gründungs-Symbolʻ noch ,RacheSymbolʻ noch ,Initiations-Symbolʻ per se, er ist überhaupt nicht explizit reserviert für einen ganz bestimmten Objektkreis oder Kontexte, er hat vielmehr im Rahmen einer allgemeinen Ritualgrammatik seine spezifische Funktion: Er fungiert als formaler Marker des Beginns oder des Endes einer liminalen Phase. Er zeigt auf einer sehr basalen, körperhaften Ebene einen Zustandswandel an. Und zu dieser Semiotisierung des Anfangs, des Übergangs gehören mit einer gewissen Zwangsläufigkeit abstoßende Lincoln 2001, S. 489. Auch im ossetischen Heldenepos gehört das wunderbar schnelle Heranwachsen und Erstarken ‚über Nacht‘ zum Heldenstereotyp, hier allerdings nahezu ausschließlich mit dem dezidierten Ziel zur Rache verknüpft. Baldrs bróðir var of borinn snemma, / sá nam Óðins sonr einnættr vega („Balders Bruder war schnell geboren, / Odins Sohn begann eine Nacht alt zu töten“ [Vsp 32]). Þó hann æva hendr né hǫfuð kembði, / áðr á bál um bar Baldrs andscota; („Er wusch nicht die Hände und kämmte nicht das Haar, / eh er zum Scheiterhaufen trug Balders Feindschützen“ [Vsp 33]).
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und abzustoßende Elemente, die entweder in der Gestalt des Gründers selbst, in seinen Aktionen erscheinen (was dann narrativ am schwierigsten zu plausibilisieren ist) oder aber gewissermaßen entäußert in seinem unmittelbaren Umfeld. So kann diese zermürbende, gleichwohl unumgängliche Ambiguität zumindest narrativ aufgelöst oder geglättet werden. Der Sprechakt setzt den Anfang für eine Phase der Verwahrlosung, der Selbsterniedrigung. Wenn auch aus den unterschiedlichsten Gründen, ist es doch immer Angleichung, ein ,sich gemein Machenʻ mit dem Außersystemischen, Liminalen. Nach Erfüllung des Gelobten setzt die Haarschur dann den Endpunkt, ist Purifikationsakt, Reinigungsakt, Distanzierung wie Separierung. Bezeichnenderweise ist auch in Haralds Fall die Zurückweisung einer Frau der Auslöser für den Bruch, der ihn (ähnlich wie Odin/Othinus) in eine zehn Jahre währende liminality bringt, in ein asoziales, unstetes Kriegerleben. Er möchte Gyda, die schöne Tochter eines norwegischen Kleinkönigs als seine Geliebte gewinnen, und es ist ihre hochmütige Absage, sie wolle ihr Bett nicht mit einem bedeutungslosen Gaukönig teilen, die ihn den Schwur tätigen lässt. Vielleicht mochte die Geschichtsschreibung Harald, der in jeder Hinsicht positiv besetzten Gründergestalt Norwegens, nicht ein gleichermaßen ehrloses Handeln wie dem (heidnischen) Odin (oder Skírnir/ Freyr oder Balderus) zumuten, entsprechend wird Gyda auch kein Gewaltopfer, auch wenn die königlichen Werbungshelfer immerhin mit dem Gedanken spielen.Vielmehr kommt der König nach seinem zehnjährigen erfolgreichen Eroberungsfeldzug auf sein Anliegen zurück und leitet damit die Wiedereingliederungsphase, die letzte Phase des Transformationsprozesses mit einer nunmehr legitimen Heirat ein. Die Haarschur folgt als äußeres Zeichen, mit der Neubenennung von Haraldr lufa zu Haraldr hárfagr ist die körperliche wie gesellschaftliche (wie moralische!) Wandlung vollendet. Auch in diesem Falle hat man gerätselt, was zu der seltsamen Weigerung der Prinzessin geführt haben mag. An ihr ist schließlich nichts Außersystemisches, ,Riesischesʻ, es drohte keine extreme Exogamie, in Steinsland Theorie immerhin jene unhintergehbare Grundvoraussetzung der nordischen Königsideologie. Entsprechend kommt die Verbindung mit Gyda in ihrer Argumentation gerade nicht vor. Aber hier zeigen sich die Variationsmöglichkeiten ein und desselben mythischen Gedankenkonzepts: Gyda nimmt strukturell den gleichen Platz ein wie ihre riesischen, exotischen Kolleginnen, aber sie fällt nicht ihrem Wesen nach aus der Norm, sie verhält sich vielmehr fremd, nicht normengerecht. Sie schlägt das Angebot eines Königs nicht nur ab, sondern demütigt ihn auch und macht ihn damit ehrlos. Sie schafft damit eine Situation, die, für alle augenscheinlich, der Normalisierung, der Kompensation bedarf. Es gibt noch eine andere Version über die Umstände, in der Harald diesen Spruch getätigt haben soll, und hier kommt ein Element hinzu, das für die Kennzeichnung einer Grenzsituation, einer Ausnahmesituation im altnordischen Bereich wiederum notorisch ist: das ,Samenelementʻ. Als Harald sich für einen Samen, einen Outcast, einsetzt, dem sein Vater Hálfdan einen mysteriösen Speisediebstahl vorwirft (und sich in der Folge aufgrund dieses Vorfalls mit ihm überwirft) nimmt dieser den Knaben mit sich und versorgt ihn. In einer anderen Tradition ist es der Riese Dofri, der eponyme,
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mythische Bewohner des Dovre-Gebirges, jener sagenhaften norwegischen Urlandschaft, der ihn in bekannter Eisen-Hans-Motivik⁶⁶⁶ mit in die Wildnis nimmt, aufzieht und erzieht, bis er schließlich seinen Platz als legitimer Nachfolger seines Vaters einnehmen kann.⁶⁶⁷ Hier stellt sich der Tabubruch als Loyalitätsbruch dar (das Überwerfen mit dem Vater). Das Brechen dieser gesellschaftlichen Konventionen zeigt sich nun tatsächlich in einer räumlichen Distanzierung, im ,sich Einlassen‘ mit außerhalb der Gesellschaft stehenden, asozialen Figuren. Der Tod des Vaters durch den zauberischen Einfluss eines zwielichtigen Finnen mag dabei eine abgemilderte Version eines Vatermordmotivs sein, das wiederum dem Gründer selbst nicht zugemutet werden sollte oder durfte. Es ist also bezeichnend, dass die Haarsymbolik mit jenem Samen- oder Finnenstereotyp kombiniert erscheint. Und es zeigt aufs Neue, mythische Gründungsmodelle sind niemals Integrationsmodelle. Sie zeigen immer den Ort des Bruches, den Kipppunkt, und der lässt sich nicht integrieren, ja nicht einmal definieren, sondern nur abweisen. Die makabren Bestattungsumstände von Haralds Ehefrau Snæfriðr haben wir schon angesprochen, sie mögen bereits polemisch überschrieben sein, letztendlich aber zeigen sich darin nicht mehr verstandene Elemente einer Sekundärbestattung. Und diese sind wiederum symptomatisch für das mittelalterliche, nordische Verständnis der Beziehung zweier Kulturen: Es ist eine morbide, ungute Verbindung, die nur durch Hexerei und Verblendung zustande kommt. Hier bleibt kein Raum für Gemeinsames. Der verwesende Leichnam wird drastisch umfunktioniert zur Kennzeichnung einer Systemdestabilisierung. Er verkörpert an sich die Gefährdung der Ordnung, die vom Herrscher-Geschlecht der Ynglingar repräsentiert wird.⁶⁶⁸ Im Sinne der Systembildung, der strukturordnenden Kräfte müssen diese negativen Potenzen, die Harald nicht zuletzt selbst in seinem eigenen Körper, in seinem Haar, im liminalen Raum bzw. Zeit in sich aufgenommen hat, abgewiesen werden.⁶⁶⁹ Vális Haarsymbolik gehört in den gleichen Rahmen eines Übergangsrituals, hier einer Bestattung.⁶⁷⁰ Kompromisslos und unwiederbringlich läuft dieses Ritual auf eine
Siehe Böldl 2009, S. 139. Bödl hält das Samenmotiv hier nicht für ursprünglich. Es ist ganz offenbar austauschbar betrachtet worden mit anderen liminalen Motiven, die gezielt um Haralds Herrschaftsantritt, den Herrschaftsanfang versammelt werden. Der Vorwurf des Speisediebstahls (des verschwundenen Essens) findet möglicherweise eine ferne Reminiszenz im Geiz des Gastgebers Geirrøðr in den Grímnismál. Auch hier wird ein ungebetener Gast, der ,Fremdeʻ par excellence, Odin, gequält (vgl. Böldl 2009, S. 139). Und hier wie da ist es Ausweis der rechtmäßigen Nachfolgerschaft, des Gelingens von Nachfolgerschaft überhaupt, Kommunikation und Austausch zu suchen mit den Vertretern des Liminalen, Ausgeschlossenen, sich – für den Anfang – mit diesen zu solidarisieren. Vgl. Böldl 2009, S. 133. Anders Böldl 2009, S. 146. So werden Haaropfer (ähnlich wie Körperflüssigkeiten) in diesem Zusammenhang auch als Vitalopfer interpretiert für die Toten, als Kompensation für ihre verlorengegangene Lebenskraft. Achilles
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Separierung von Lebenden und Toten hin. Bezeichnenderweise finden auch die abscheulichen Freveltaten, mit denen der japanische ,lokieskeʻ Sturmgott Susanoo seine Schwester, die Sonnengöttin Amaterasu, tyrannisiert (und die zu gleichermaßen chaotischen, apokalyptischen Zuständen führen), ihr Ende ausgerechnet in einem Haar- und Fingernägelopfer, das dem Tunichtgut von der Göttergemeinschaft auferlegt wird. Der Gott selbst wird damit endgültig ausgeschlossen und in die Unterwelt verbannt.⁶⁷¹ Ob nun Bous, Váli (oder Fjǫlnir) – sie werden nicht gezeugt, um den Tod ihres Vaters zu rächen, sie sind so wenig Fruchtbarkeitsdämonen oder -götter wie ihre Väter, sie sind die Nachkommen schlechthin. Im Namen Fjǫlnir haben wir schon eine buchstäbliche spirituelle Transformation in Gestalt des Alkohols vermutet, Bous wird manches Mal zu búi „Bewohner, Bauer“ (far. búgvi, nnorw. bue, ahd. būwo „Bebauer“) gestellt oder zu an. bófi „lad“ (mit Bedeutungsverschlechterung „rogue, rascal“).⁶⁷² In unserem Sinne lässt er sich indes zwanglos zu den ,Beowsʻ der angelsächsischen Ahnenreihen stellen, die lautlichen Verbindungen zum finnischen Pekko wie zu Byggvir sind offenbar. Saxo müsse Bōi mit Balder bereits verbunden vorgefunden haben, vermutet Neckel. Das volkstümliche Brauchtum soll einen Bovi, eine Strohpuppe als „Popanz“ der Kinderstuben gekannt haben, der die Geburt erleichtern sollte.⁶⁷³ Die finnischen Setukesen wiederum hätten ihren Gerstengott Pekko sehr ähnlich in Gestalt einer Strohpuppe verehrt. Aufgrund der spärlichen Informationen über den Inhalt dieses Brauchtums lässt sich hier eine mögliche Verbindung schwer beurteilen, fraglich ist allerdings, ob diese beiden Ritualsituationen über die rein äußerlichen Elemente der Strohpuppe und des Namensanklangs überhaupt eine Gemeinsamkeit haben. Aber ein Fruchtbarkeitsritual ist in den Kinderstuben gewiss
opfert dem erschlagenen Patroklos sein Haar, eine Sitte, die über den ganzen Erdball bezeugt ist, bis in jüngste Zeit in Griechenland, Serbien, Neuseeland (vgl. Jahnow 1923, S. 15). „Darauf wiesen alle Götter dem Susa no Wo no mikoto die Schuld zu, sie erlegten ihm [eine Buße von] tausend Tischen besetzt [mit Bußgaben] auf und zogen ihn schließlich streng zur Rechenschaft. Sie rissen ihm die Haare aus und ließen ihn seine Schuld wieder gutmachen. Es heißt auch, daß sie zur Wiedergutmachung die Nägel seiner Hände und Füße ausrissen. Danach verjagten sie ihn endlich nach unten.“ (Nihongi). In einer anderen Variante heißt es, „[…] und sie machten seine Fingernägel zu guten wegzuwerfenden Dingen, seine Fußnägel zu schlechten wegzuwerfenden Dingen. Ame no Koyane no mikoto aber ließen sie sein Großes Ritualgebet der Reinigung handhaben und rezitieren. Dies ist der Grund, weshalb die Menschen die eigenen Nägel sorgfältig aufbewahren. Danach tadelten alle Götter Susa no Wo no mikoto und sagten: ,Dein Betragen war äußerst ungebührlich. Du kannst daher nicht im Himmel wohnen, du kannst auch nicht im Mittelland der Schilfgefilde wohnen. Begib dich schnellstens in das Boden-Wurzelland!ʻ Mit diesen Worten trieben sie ihn gemeinsam von dannen“ (Naumann 1996b, S. 128). Vgl. McKinnell 2005, S. 160. Vgl. Neckel 1920, S. 211 f. So beschrieben im Liber exemplorum ad usum predicantium, eine anonyme Exempelsammlung des 13. Jhs. eines britischen Franziskanermönchs (siehe Little [Hg.] 1908, S. 110 f.). Als Gewährsmann wird ein Bruder Peter angegeben, dessen Heimatland Dacia (Dänemark) gewesen sein soll.
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nicht zugange, vielmehr ein Geburtsritual, ein Übergangsritual.⁶⁷⁴ Die schon von Sievers aufgestellte Etymologie für den Namen Váli als *Wanula, *Wanila „der kleine Wane“⁶⁷⁵ würde die eingangs gestellte Annahme gut unterstützen. Beide Namen würden dann inhaltlich das gleiche fassen: der Nachkomme, der Enkel, ,der kleine Ahneʻ, ein Vaningi (Skm 37) wie Freyr. Und wenn mit guten Gründen in der körperlichen Vernachlässigung Vális eine rituelle Vorschrift im Totenkult vermutet werden kann, so kann gegebenenfalls auch dessen übermenschlich rasche Geburt wie Heranwachsen als Teil der Rituallogik selbst betrachtet werden. Wie bereits gezeigt werden konnte, kommt es innerhalb des Ritualgeschehens zu juristisch abgesicherten Neubindungen, Hochzeiten, aber auch Adoptionsverfahren. Erinnert sei an den Schoßwurf Lokis, der Zeigegestus eines förmlichen Adoptionsverfahrens, mit dem er sich der Ahnfrau Skaði ansippt. LéviStrauss verweist auf ein besonderes Element der Bestattungsriten der nordamerikanischen Algonkin- und Fox-Indianer. Ihre vornehmlichste Sorge habe (kaum anders als in der mittelalterlichen isländischen Sagawelt) der Entledigung der verbitterten, rachsüchtigen Verstorbenen gegolten. Hier wie da forderten diese, wenn ihnen nicht Einhalt geboten wurde, einen Platz unter den Lebenden ein.⁶⁷⁶ Um nun diesen schwierigen Ablösungsprozess, die Abreise ins Jenseits zu forcieren, ja überhaupt zu ermöglichen, galt es, den Verstorbenen möglichst schnell durch einen Lebenden zu ersetzen.⁶⁷⁷ Und so gehörte zu den indianischen Beerdigungsriten stets ein Adoptionsritus, der allerdings auf die andere Zielgruppe, auf die Lebenden ausgerichtet war.⁶⁷⁸ So wurde also dem Hinterbliebenen geraten: Jetzt mußt du folgendes tun; du und der Verstorbene, ihr müßt voneinander Abschied nehmen (mithilfe eines Adoptionsfestes). Dann wird die Seele des Verstorbenen sich sicher und schnell
Vgl. McKinnell 2005, S. 160. Die Erzählung des Fraters könnte eine Entsprechung finden im skandinavischen Brauchtum des so genannten Konebarsel oder Kvindegilde. Nach einer Geburt versammeln sich die Frauen und verhalten sich in jeder Hinsicht transgressiv. Sie betrinken sich, zwingen Männer auf offener Straße, mit ihnen zu tanzen, werden ihnen gegenüber sexuell übergriffig, berauben sie ihrer Kleidungsstücke (Hosen, später in gewissermaßen abgeschwächter Version, Hüte). Sie brechen damit sämtliche (weibliche) Verhaltenscodices, was gut passt zu einem Übergangsritual. Eine Strohpuppe scheint aber zunächst einmal nicht bekannt in diesem Kontext. Andrew Little könnte sich aber vorstellen, dass diese später die männlichen ‚Opferʻ im Sinne eines Strohmanns vertritt (vgl. Little 1908, S. 153 f.), ähnlich wie die Kopfbedeckung Ersatz für die Bedeckung der Schamregion wird. Sievers 1894, S. 583. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 46. „[D]ie Lebenden machen den Toten begreiflich, daß sie nichts verloren haben, denn sie werden regelmäßig Opfergaben von Tabak und Nahrungsmitteln erhalten; dagegen wird von ihnen erwartet, daß sie den Lebenden als Ausgleich für diesen Tod, dessen Wirklichkeit sie ihnen ins Gedächtnis rufen, und als Ausgleich für den Kummer, den sie ihnen durch ihr Hinscheiden verursachen, ein langes Leben, Kleider und Essen garantieren: ,Von nun an bringen die Toten den Überflußʻ, kommentiert der eingeborene Informant, ,sie (die Indianer) müssen sie zu diesem Zweck betören (coax them)ʻ“ (LéviStrauss 1973, S. 46). (Vgl. Michelson 1918–1919, S. 369). Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 45 f.
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entfernen. Du mußt jemand adoptieren; und du mußt ihm gegenüber genau dieselben Gefühle hegen wie gegenüber deinem toten Verwandten, und du wirst dem Adoptierten gegenüber in genau derselben Verwandtschaftsbeziehung stehen. Das ist das einzige Mittel, damit die Seele deines Verwandten sich sicher und schnell entfernt.⁶⁷⁹
Adoptionsriten seien damit unerlässlich, „um die Seele des Toten zu veranlassen, das Jenseits endgültig aufzusuchen und seine Rolle als Schutzgeist auf sich zu nehmen.“⁶⁸⁰ Der quasi über Nacht geschaffene Ersatz, Váli, mag auch im Norden dieser adoptierte Sohn sein, der rituelle Ersatz des Toten. Interessant genug werden im nordamerikanischen Kontext diese Adoptionszeremonien von Spielen begleitet, von „sportlichen Veranstaltungen, Geschicklichkeits- und Glücksspielen“⁶⁸¹ zwischen zwei Parteien, die sich wohl vorgeblich ,spontanʻ gebildet hätten, so Lévi-Strauss, im ,eigentlichenʻ, wiederum rituellen Sinne indes die Lebenden den Toten gegenüberstellten.⁶⁸² Der Ausgang des Spiels sei dabei festgelegt – stets seien die Toten die Gewinner: Indem man immer den Sieg des Lagers der Toten vorschreibt, gibt man diesen also die Illusion, daß sie die wahren Lebenden sind und daß ihre Gegner tot sind, da sie sie „töten“. Unter dem Vorwand, mit den Toten zu spielen, spielt man sie aus und bindet sie.⁶⁸³
Natürlich mag man einwenden, dass schließlich im Balder-Spiel das schiere Gegenteil eingetroffen sei,⁶⁸⁴ aber auch hier wird der sportliche Wettkampf, das Spiel funktionalisiert, ähnlich wie bei den nordamerikanischen Stämmen, um den Tod wie den Toten einzubinden, zu „usurpier[en]“, letztendlich zu „überlist[en]“, um ihm Handlungsfähigkeit zuzuweisen, die er längst nicht mehr besitzt.⁶⁸⁵ Aber gleichgültig ob im Spiel oder in der Rechtsgebärde oder in der Haarschur, in jedem Fall ist es die handlungspraktische Verkörperung einer endgültigen Lossagung.
Michelson 1918–1919, S. 411, zit. n. Lévi-Strauss 1973, S. 232, Anm. Lévi-Strauss 1973, S. 46. Lévi-Strauss 1973, S. 46. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 46. Lévi-Strauss 1973, S. 47. Ohnehin kommt Michael J. Zogry in seiner Untersuchung zum Cherokee Ballspiel Anetso zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Keineswegs sei der Spielausgang hier stets vorgegeben, wie Lévi-Strauss behauptete, von einem stets angestrebten Gleichstand, Ausgleich oder gar Vorzug einer vorgeblichen Totenmannschaft keine Spur, wenn er auch dessen grundsätzliche rituelle Funktion nicht infrage stellen will (vgl. Zogry 2010, S. 206 ff.). Insofern scheint also hier wie anderswo nicht unbedingt das Ergebnis, sondern das Spiel als solches zur gezielten Markierung einer (rituellen) Übergangsphase im Zentrum zu stehen. Vgl. Lévi-Strauss 1973, S. 46.
12.6 Personae inhonestae
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12.6.3 Der skrupellose Hermóðr Die auffallende Spärlichkeit der Váli-Überlieferung macht Snorri wieder wett mit einer in mancher Hinsicht noch auffallenderen Ausführlichkeit des Hermóðr-Mythos: Hermóðrs Helfahrt. Nun ist dessen Unterweltreise einerseits so gewöhnlich in den religiösen, mythologischen wie rituellen Kontexten dieser Welt (keineswegs nur in christlichen), andererseits aber im Baldermythos ohne jegliche direkte poetische Vorlage, so dass auch in diesem Fall die Frage nach Snorris Quellen besonders dringlich scheint.⁶⁸⁶ Christopher Abram denkt bekanntlich sogar an eine „invention“, Snorri habe die Geschichte erfunden, freilich nicht im Sinne einer ‚ex nihilo-Konstruktion‘, vielmehr einer Kombination erzählerischer Elemente aus unterschiedlichsten Quellen, insbesondere der zu seiner Zeit so populären, christlichen Visionsliteratur.⁶⁸⁷ Bis hinein in die stilistische Ebene ließen sich diese Elemente verfolgen, etwa im Gebrauch von Alliterationen. Möglicherweise habe sich Snorri, wenn auch nicht als direkte Quelle, die Visio Tnugdali (12. Jh.) zum Vorbild genommen,⁶⁸⁸ die er auf seiner ersten Norwegenreise (1218 – 1220) bereits in Übersetzung kennengelernt haben könnte.⁶⁸⁹ Insgesamt sieht es also Abram am wahrscheinlichsten an, that the episode in Gylfaginning is an integrative synthesis of ideas and motifs that were circulating contemporaneously in Norse literature, both Christian and ‚nativeʻ, but which are more significantly present in the former.⁶⁹⁰
Eine wie auch immer geartete christliche Beeinflussung wird wohl anzunehmen sein, aber gerade hier gilt: Die Reise zu den Toten, die Kommunikation mit den Toten, das Verhandeln mit den Mächten des Todes ist keinesfalls christlichen Ursprungs. Das Christentum nimmt seinerseits diese Elemente auf, bezeichnenderweise gerade in apokrypher Form (allen voran das so genannte Nikodemus-Evangelium bzw. die darin
Siehe Abram 2011, S. 217: „But Hermóðr’s ride to Hel, which is so important to Snorri’s version of events, is simply not mentioned by pagan skalds. Even if Snorri’s own specific source had been lost, we might reasonable assume that some poet, somewhere, would have preserved traces of this story in one of his kennings.“ „I hope here to preserve the tension between the two meanings of ‚inventionʻ, as I ask how much of Hermóðr’s helreið Snorri has created ex nihilo, what elements of the narrative pre-existed the story in Gylfaginning, and where, and in what form, Snorri may have discovered them“ (Abram 2006, S. 22). Vgl. Abram 2006, S. 24 f. Vgl. Abram 2006, S. 26. Abram 2006, S. 29. Die Ähnlichkeit zur mittelalterlichen Visionsliteratur ist unübersehbar, zahlreiche Einzelmotive, die Snorri in seiner Beschreibung verwendet, sind nachgerade Gemeinplätze dieses mittelalterlichen religiösen Genres: „A mélange of motifs drawn from classical and Christian texts gradually came together to form a set of distinctive stereotyped images that were almost endlessly repeated and varied across the genre“ (Abram 2006, S. 27). Die Idee, dass Snorri hier eine (sehr genaue) Übertragung eines verlorengegangenen Gedichtes verwenden könnte, verwirft Abram. Auch wenn gewisse Alliterationen, etwa døkkva dala ok djúpa, für eine literarische Vorlage sprechen könnten, so bringe Snorri keinerlei Belegstellen dafür (siehe aber Lindow 1997, S. 117 f.).
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integrierte Schrift Descensus Christi ad Inferos⁶⁹¹). Gewisse native Elemente will Abram immerhin zugestehen, ohne freilich Genaueres darüber zu sagen. Welchen Platz aber findet nun darin die Gestalt des Hermóðr? Snorri berichtet vom ansonsten wenig bekannten Hermóðr als einem Bruder Balders.⁶⁹² Die angelsächsischen Königslisten kennen den Namen Heremōd, er zählt zu den Vorfahren Wodens als Vater des Scyld, des Stammvaters der dänischen Scyldinge. Ein dänischer König mit Namen Heremōd erscheint im Beowulf-Epos. Hermóðrs Helfahrt scheint in jedem Fall eng angelehnt an die Odins-Reise in die Unterwelt, auch die Ähnlichkeit zur Anderweltfahrt des Skírnir ist unübersehbar. Wo indessen bei letzteren göttliche Akteure im Mittelpunkt stehen, scheint Hermóðr ein menschlicher Held. Als „rein literarische Gestalt“ und darüber hinaus (lediglich) „menschliche[r] Sagenheld[ ]“ dürfe entsprechend seine mythische Bedeutsamkeit (bzw. die seiner Unterweltreise) wohl nicht zu hoch angesetzt werden,⁶⁹³ so nicht nur Simeks Einschätzung, auch Neckel möchte in ihm einen „verhältnismäßig junge[n] Emporkömmling“ sehen, nirgendwo werde er „Ase“ oder „Gott“ genannt. Die Gylfaginning-Episode sei somit wahrscheinlich eine Art „Umdichtung einer Vorstufe“, ein verlorengegangenes Eddalied vielleicht, das jedenfalls „reicher an eigenem dramatischem Gehalt“ gewesen sein müsse.⁶⁹⁴ Als nicht recht ergiebige Gestalt sieht ihn denn auch Abram. Hermóðr sei „an obscure figure who is neither quite divine nor wholly human“,⁶⁹⁵ im Grunde genommen spiele er eine nahezu identische Rolle wie Odin in Baldrs draumar, letztendlich könne man beide als analoge Figuren sehen bzw. in analoger Funktion.⁶⁹⁶ Einer funktionellen Analogie kann wohl uneingeschränkt zugestimmt werden, aber am wenigsten erhält Hermóðr dadurch „a Christ-like aspect“,⁶⁹⁷ schließlich scheitern Odin wie Hermóðr in ihrer Mission der Totenerlösung (oder scheinen zu scheitern), wo Christus geradezu triumphiert. Es ist aber gerade dieses vorgebliche Scheitern, das beide zu pagan plausibilisierten Höllenreitern macht. Die Jenseitsreisen der Mythen dieser Welt ‚misslingenʻ stets und immer an diesem Punkt, es ist das Wissen um diese absolute Grenze, die für Tote unüberbrückbar bleiben muss. Die Ähnlichkeit zum Eddalied Baldrs draumar ist dabei ebenso bedenkenswert wie letztendlich erwartbar. Entsprechend sind auch bei Hermóðrs helreið balladeske, mündliche Traditionen als Grundlage zu überlegen. So wäre etwa an den Motivschatz des vorchristlichen Leichenlieds zu denken, der zu irgendeinem Zeitpunkt seinen religiös kultischen Wissensrahmen verloren hat und zu einem volkstümlich literarischen wurde (mit entsprechend anderen Gültigkeiten). Das Málsháttakvæði gibt davon beredtes Zeugnis.
Siehe Hennecke und Schneemelcher [Hg.] 1959. Im Norden erscheint diese als Niðrstigningar saga (Unger [Hg.] 1877). Vgl. Abram 2006, S. 27. Das Hdl 2 kennt einen gleichnamigen Helden, aber nicht die Vǫluspá. Vgl. Lex.Simek 2006, „Hermóðs Helritt“, S. 186. Vgl. Neckel 1920, S. 60. Abram 2006, S. 27. Vgl. Abram 2006, S. 28. Abram 2006, S. 28.
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Dieses Gedicht referiert ja gerade nicht auf religiös motivierte Texte (mit religiöser Gültigkeit und Verbindlichkeit), sondern auf eine volkstümliche Unterhaltungsliteratur. Nun ist eine vermutete (ehemalige) Menschlichkeit ohnehin ein schlechter Gradmesser für eine vermeintlich geringe Bedeutsamkeit im Mythos. Der Gott Freyr selbst führt ja dieses ‚Doppelleben‘, der veraldar goð, der „Gott dieser Welt“, einerseits als göttlicher Vane wie menschlicher Vorfahre (etwa in der Gestalt des Königs Fróði). Nicht die Diskrepanz oder Ambivalenz in Hermóðrs Wesen als Mensch bzw. göttlicher Ase scheint insofern von besonderer Bedeutung als vielmehr die durchgehend negativen Konnotationen, die die angelsächsische Überlieferung mit Heremōd verbindet und von dem im Nordischen keine Spur zu finden ist. In den Hákonarmál kann er zusammen mit Bragi, seinerseits eine durch und durch positiv konzipierte, vergöttlichte Ahnengestalt, den gefallenen König Hákon in Walhall empfangen (Str. 14– 17). Dieses Gedicht stützt sich in weiten Teilen auf die älteren Eiríksmál (ca. 954), hier nehmen die Helden Sigmund und Sinfjǫtli König Eirík auf Geheiß Odins in Empfang.⁶⁹⁸ Und diese erscheinen gerade wegen oder in ihrer Konzeptionierung als (funeral)kultische Grenzgänger hochambig. Aber diese Verbindung zwischen Heremōd und Sigmund scheint alt. Im BeowulfEpos werden beide Helden in einem Atemzug besungen, freilich, rätselhaft genug, Heremōd nachgerade als Gegenentwurf, als Antipode zum ruhmreichen Drachentöter Sigmund (eine Heldentat, die in kontinentaler und nordischer Tradition bekanntlich seinem Nachkommen Siegfried/Sigurðr zufällt).⁶⁹⁹ Beowulf wird aufgefordert, ja beschworen, sich Sigmund zum Vorbild zu nehmen, fast als indirekte Warnung stellt
Beide Gedichte sind Totenpreisgedichte. Der Verfasser der Hákonarmál ist der Skalde Eyvindr skáldaspillir (um 960) (Fulk [Hg.] 2012b). Das anonym überlieferte Gedicht Eiríksmál (nach 954) ist eine Totenklage auf den König Eiríkr blóðøx (Fulk [Hg.] 2012a). Vgl. Beow. V. 884– 89: Sigemunde gesprong / æfter déaðdæge dóm unlýtel / syþðan wíges heard wyrm ácwealde / hordes hyrde. hé under hárne stán / æþelinges bearn ána genéðde / frécne daéde ne waés him Fitela mid. („Sigmunds Ruhm / Wuchs ständig noch nach dem Sterbetage / Da der wehrhafte Recke den Wurm getötet / Den Hüter des Hortes: der Heldensprößling / Wagte ganz allein unterm grauen Felsen / Den furchtbaren Streit – nicht war Fitela bei ihm.“) Beow. V. 901– 15: [S]iððan Heremódes hild sweðrode, / earfoð ond ellen. he mid eotenum wearð / on féonda geweald forð forlácen / snúde forsended. hine sorhwylmas / lemede tó lange. hé his léodum wearð /eallum æþellingum tó aldorceare. / swylce oft bemearn aérran maélum / swíðferhþes síð snotor ceorl monig / sé þe him bealwa tó bóte gelýfde / þæt þæt ðéodnes bearn geþéon scolde, / fæderæþelum onfón, folc gehealdan / hord ond hléoburh hæleþa ríce / éðel Scyldinga. hé þaér eallum wearð / maég Higeláces manna cynne / fréondum gefægra hine fyren onwód. („Seit bei Heremod hinschwand der hitzige Mut, / Die rüstige Kraft. In der Riesen Hände / Jagt’ ihn Verrat und jähes Todes / Fuhr er zur Hölle: mit harter Plage / Hatt’ er lange schon die Leute bedrückt, / Das Leben den Edlingen allen verleidet. / So verwünschte schon oft manch wackerer Mann / Die Fahrten des Helden in früheren Tagen, / Von dem man Hilfe erhofft in der Not, / Wenn das Königskind zum kräftigen Manne / Gereift einst wäre, das Reich zu beherrschen, / Zu schirmen sein Volk, den Schatz und die Burg, / Das Erbe der Scyldinge. – Edlerer Ruhm / Ward Hygelacs Neffen im Heldenkreise; / Den andern umstrickte arger Frevel“).
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Hroðgar in „eine[r] lange[n] moralisierende[n] Rede“⁷⁰⁰ Heremōd als „abschreckendes Beispiel eines Herrschers“ dar, der sich von einem „vorbildlichen Helden“ in einen „gehaßten Tyrannen“ verwandelt habe.⁷⁰¹ Nun sind die Informationen des angelsächsischen Epos bis heute am wenigsten klar. Dunkel scheint das, was über Heremōds Wesen wie Taten berichtet wird, mid eotenum (V. 902) soll er bei einer rätselhaften Fahrt geraten sein, aber es macht ja durchaus einen Unterschied, ob wir diesen Ausdruck als „unter Riesen“ lesen wollen oder „bei den Jüten“, als dann gegebenenfalls lediglich „Exil in Jütland“.⁷⁰² In Angst und Schrecken soll er seine Hallengenossen versetzt haben, habgierig, nicht als freizügiger Ringeverteiler habe er sich gezeigt, sondern als Mörder. Dafür aber habe ihn „grimmige Vergeltung“ getroffen. Aber sehen wir zunächst, was die Gylfaginning über ihn zu berichten weiß: Es ist der Moment, als die Götter, starr vor Entsetzen, sich um den toten Balder scharen: Als die Götter wieder zur Besinnung kamen, da sprach Frigg und fragte, wer unter den Asen sei, der alle ihre Zuneigung und Gunst gewinnen wolle, indem er auf dem Helweg reite und versuche, Balder zu finden und Hel ein Lösegeld zu bieten, wenn sie Balder heim nach Asgard ziehen lasse.⁷⁰³
Hermóðr bietet sich an, aber tatsächlich warten die Asen in der Folge nun gar nicht das Ergebnis seiner Mission ab, vielmehr ,schiebtʻ Snorri nun Balders Schiffsbegräbnis dazwischen, was für sich betrachtet schon ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass Hermóðs Fahrt offenbar als Teil dieser rituellen Handlung verstanden wurde, dass also die Effizienz seines Handelns, das Ziel, auch wenn es narrativ so ausgearbeitet erscheint, gar nicht die Rückholung Balders sein konnte. Seine Reisezeit von ausdrücklich neun Nächten ist in diesem Zusammenhang bezeichnend genug: Im Begräbniskontext entspricht diese Zeitspanne üblicherweise der Vorbereitungszeit für
Lehnert 2004, S. 105. Vgl. Honegger 1999, S. 414. Siehe Beow. V. 1709 – 1722: [N]e wearð heremod (swa) / eaforum ecgwelan ar-scyldingum. /(Ne) geweox he him to willan ac to wælfeal(le) / 7 to deaðcwalum deniga leodum / breat (bo)lgenmod beodgeneatas / eaxlge(ste)allan oþ þ he ana hwearf / mære þeo(d)en. mondreamum from / ðeah þe hine (mi)htig god mægenes wynnum / eafeþum (ste)pte ofer ealle men / forð gefreme(d)e hwæþere him on ferhþe greow / breost(h)ord blodreow nallas beagas geaf. / denum æfter dome dreamleas gebád / þhe þæs gewinnes w(æ)rc þrowade / leodbea(l)o longsum. („An den adligen Scyldingen, Ecgwelas Sprossen, / Hat Heremod einst anders gehandelt: / Zur Freude nicht, zum Fluche wuchs er, / Zum Verderben heran für der Dänen Volk; / Er tötet’ im Zorne die Tischgenossen, / Die eig’nen Höflinge – einsam drum / Mußt’ flieh’n aus der Menschen Gemeinschaft der Fürst. / Auch ihm lieh Stärke der ewige Gott / Und hob ihn empor vor den Helden allen / Durch gewalt’ge Kraft, doch ihm wohnt’ im Busen / Der Trieb nach Mord; er verteilte nicht Ringe / Der Sitte gemäß: den Unsel’gen drum / Traf grimme Rache, sein grausamer Hang / Bracht’ ihm langes Leid“). Honegger 1999, S. 415. En er goðin vitkuðusk þá mælir Frigg ok spurði hverr sá væri með Ásum er eignask vildi allar ástir hennar ok hylli ok vili hann ríða á Helveg ok freista ef hann fái fundit Baldr ok bjóða Helju útlausn ef hon vill láta fara Baldr heim í Ásgarði (Gylf 49).
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die endgültige Bestattung. Hermóðr trifft also Balder und Nanna bereits an ihrer endgültigen Destination an, im Begräbnishügel: Aber von Hermod ist zu erzählen, daß er neun Nächte lang durch dunkle und tiefe Täler ritt, so daß er nichts sah, bis er zu dem Fluss Gjöll kam und auf die Gjöllbrücke ritt. Sie ist mit leuchtendem Gold gedeckt. Modgud wird die Jungfrau genannt, die die Brücke bewacht. Sie fragte ihn nach seinem Namen und nach seiner Herkunft und sagte, am Tag vorher seien fünf Scharen toter Männer über die Brücke geritten. ‚Aber unter dir allein tönt die Brücke nicht weniger, und du hast nicht das Aussehen toter Männer. Warum reitest du hier auf dem Helweg?ʻ Er antwortete: ‚Ich will zu Hel reiten, um Balder zu suchen, oder hast du ihn vielleicht auf dem Helweg gesehen?ʻ Sie sagte, er sei hier über die Gjöllbrücke geritten. ‚Und hinunter nach Norden verläuft der Helweg.ʻ Da ritt Hermod, bis er zum Helgitter kam. Dann stieg er vom Pferd und zog den Sattelgurt fest, stieg wieder auf und gab ihm die Sporen. Aber das Pferd sprang so kräftig über das Gitter, daß er ihm nirgends näher kam. Darauf ritt Hermod zu der Halle hin, stieg ab und ging hinein. Er sah dort Balder, seinen Bruder, auf einem Ehrenplatz sitzen, und bei ihm blieb er die ganze Nacht. Aber beim Morgengrauen verlangte Hermod von Hel, Balder solle mit ihm heimreiten, und er sagte, wie groß die Trauer unter den Asen sei. Hel meinte, daß man prüfen solle, ob Balder so beliebt war. ‚Wie man es erzählt. Und wenn alle lebenden und toten Dinge in der Welt um ihn weinen, dann soll er zu den Asen zurückkehren. Er bleibt jedoch bei Hel, sobald irgend jemand Einspruch erhebt oder ihn nicht beweinen will.ʻ Da erhob sich Hermod, und Balder geleitete ihn aus der Halle. Er nahm den Ring Draupnir und sandte ihn Odin als Erinnerung, aber Nanna schickte Frigg ein Tuch und noch andere Gaben, der Fulla einen Fingerring aus Gold. Danach ritt Hermod seinen Weg zurück, kam nach Asgard und erzählte alle Begebenheiten, die er gesehen und gehört hatte (Gylf 49).⁷⁰⁴
Der Hermóðr der Gylfaginning ist jedenfalls am wenigsten ein unberechenbarer, frevelhafter Menschenschlächter, er übernimmt auf inniges Drängen der Mutter Balders, Frigg, die ungewisse Fahrt, verhandelt diplomatisch mit keiner geringeren als Hel selbst – und bringt Geschenke: Balders wertvollsten Besitz, Draupnir, dazu einen weiteren Ring, ein Tuch. So stellt sich mit einigem Recht die Frage, ob diese beiden
En þat er at segja frá Hermóði, at hann reið níu nætr døkkva dala ok djúpa, svá at hann sá ekki, fyrr en hann kom til árinnar Gjallar ok reið á Gjallar brúna. Hon er þǫkð lýsigulli. Móðguðr er nefnd mær sú er gætir brúarinnar. Hon spurði hann at nafni eða at ætt ok sagði, at hinn fyrra dag riðu um brúna fimm fylki dauðra manna – „En eigi dynr brúin minnr undir einum þér, ok eigi hefir þú lit dauðra manna. Hví ríðr þú hér á helveg?“ Hann svarar, at „ek skal ríða til Heljar at leita Baldrs. Eða hvárt hefir þú nakkvat sét Baldr á Helvegi?“ En hon sagði, at Baldr hafði þar riðit um Gjallar brú, „en niðr ok norðr liggr Helvegr.“ Þá reið Hermóðr, þar til er hann kom at Helgrindum. Þá sté hann af hestinum ok gyrði hann fast, steig upp ok keyrði hann sporum. En hestrinn hljóp svá hart ok yfir grindina, at hann kom hvergi nær. Þá reið Hermóðr heim til hallarinnar ok steig af hesti, gekk inn í hǫllina, sá þar sitja í ǫndugi, Baldr bróður sinn, ok dvalðisk Hermóðr þar um nóttina. En at morni þá beiddisk Hermóðr af Helju, at Baldr skyldi ríða heim með honum ok sagði hversu mikill grátr var með Ásum. En Hel sagði at þat skyldi svá reyna hvárt Baldr var svá ástsæll sem sagt er. „Ok ef allir hlutir í heiminum, kykvir ok dauðir, gráta hann, þá skal hann fara til Ása aptr, en haldask með Helju ef nakkvarr mælir við eða vill eigi gráta.“ Þá stóð Hermóðr upp, en Baldr leiðir hann út ór hǫllinni ok tók hringinn Draupni ok sendi Óðni til minja, en Nanna sendi Frigg ripti ok enn fleiri gjafar. Fullu fingrgull. Þá reið Hermóðr aptr leið sína ok kom í Ásgarð ok sagði ǫll tíðindi þau er hann hafði sét ok heyrt.
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Charaktere, die nicht unterschiedlicher sein könnten, wirklich als ein und dieselbe mythische Gestalt zu sehen sind. Von einer eigentlichen Identität der beiden, so Honegger, könne jedenfalls kaum gesprochen werden.⁷⁰⁵ Auf eine Verbannung scheint beim angelsächsischen Heremōd angespielt, und auf „weite Fahrten“, die er offenbar unternehmen musste,⁷⁰⁶ aber wenn wir uns überhaupt auf einen Vergleich einlassen wollen, dann müssen wir mit Neckel zunächst davon ausgehen, dass diese angelsächsischen Angaben lediglich dann einen „leidlich befriedigenden Sinn“ liefern können, „wenn wir unter jener frevelhaften Fahrt eine Reise ins Totenreich verstehn.“⁷⁰⁷ Darin könnte auch der Anknüpfungspunkt zu Sigmund liegen, der sich schließlich ebenso „allein unter den grauen Stein“⁷⁰⁸ gewagt habe, also in die Unterwelt, um dort einen Drachen zu töten.⁷⁰⁹ Aber auch dessen Taten erscheinen gar nicht unbedingt uneingeschränkt positiv (zumindest aus Sicht des christlichen Schreibers). Auch von Untaten Sigmunds ist die Rede, im angelsächsischen Zusammenhang nur angedeutet als „mörd’rische Greuel“ (Beowulf, V. 878), in die nur Fitela (Sinfjǫtli) eingeweiht gewesen sei. Aber er habe schließlich über den Drachenhort verfügen können und sein Schiff mit der kostbaren Fracht beladen können. Die „antizipatorische Funktion“ dieser Stelle ist wohl bemerkt worden, eine Vorausschau auf den Drachenkampf Beowulfs, der seinem Leben ein Ende bereitet.⁷¹⁰ Freilich machen die Umstände dieses Aufeinandertreffens keineswegs den Eindruck eines ‚normalenʻ, heroischen Drachenkampfs, das zeigt bereits die große Uneinheitlichkeit und narrative Inkongruenz dieser Episode: Der Drache ,findetʻ bei seinen nächtlichen Ausflügen den Goldschatz, der wiederum einem so genannten „Last Survivor“ zugeschrieben wird, dem letzten Vertreter eines untergegangenen Volkes. Als dieser stirbt, übernimmt der Drache den Hort und setzt sich dort zur Ruhe. Als ein flüchtiger Sklave einen Becher davon entwendet, nimmt das Unheil seinen Lauf, der Drache gerät in Unfrieden und fängt an, das Geatenreich zu verwüsten, und gerade darin scheint er dem unbändigen, zerstörerischen Heremōd zu gleichen: The dragon’s obsessive hoarding is linked to […] the theft of a goblet (II. 2280b–2283a) as sufficient motivation for the dragon’s fury and the subsequent devastation of the country and perhaps also to […] allusions to other ungenerous and hoarding figures in the poem, such as Heremod (II. 1719b–1720a).⁷¹¹
Vgl. Honegger 1999, S. 415. Vgl. Lex.Simek 2006, „Hermóðr“, S. 186. Neckel 1920, S. 58. [H]é under hárne stán / æþelinges bearn ána genéðde / frécne daéde ne waés him Fitela mid. („[D]er Heldensprößling / wagte ganz allein unterm grauen Felsen / Den furchtbaren Streit – nicht war Fitela bei ihm“ [V. 887– 889]). Vgl. Neckel 1920, S. 58. Siehe Griffith 1995, S. 13. Rauer 2000, S. 35.
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Aber zu denken ist auch an die Gestalt des nordischen Königs Fróði, dem Ruhelosen, Goldgierigen, bei ihm sind es die unermüdlichen Goldmädchen Fenja und Menja, die das Gold zur Verfügung stellen. Und auch Saxo weiß von Frotho, dem Sohn des Hadingus zu berichten, dass dieser, um seine eigenen, zur Neige gehenden Goldreserven aufzustocken, einen Drachen getötet habe (Gest.Dan. 2.1). Nun wird der Drachenhort zu Beowulfs eigenem Grabschatz: Der Drachenkampf Beowulfs ist sein Todeskampf, es ist die mythische Fassung seines Todes. So wie also Sigmund sein Schiff mit einem Drachenhort beladen konnte, so vermag jetzt Beowulf sein Schiff zu beladen – sein Bestattungsschiff! Und wie der Drache Ruhe gibt, besänftigt und befriedet durch all das Gold, auf dem er ruht, so soll auch Beowulf auf ewig zur Ruhe gebettet sein. Der schlafende Drache ist damit das Idealbild des befriedeten Toten, des Ahnen, so wie der aufgestörte, zürnende dem ruhelosen Toten entspricht. Und in diesem Zusammenhang nimmt die rückblickende Schilderung von Heremōds Schicksal nämliche vorausweisende Funktion ein. Hier sehen wir einen Anknüpfungspunkt, eine Ähnlichkeit, die freilich die Diskrepanz zwischen dem altenglischen Heremōd und dem altnordischen Hermóðr keineswegs verringert, sondern eher ins Unüberwindliche zu steigern droht: Die Schilderung von Heremōds Gebaren, wie er der adeligen Gesellschaft mit seinen Attacken die Hallenfreuden verleidet, diese in Angst und Schrecken versetzt, gleicht in Manchem den schrecklichen Heimsuchungen des Untoten Grendel. Ja, wir müssen fast davon ausgehen, Heremōd ist ein Untoter, ein Wiedergänger wie Grendel, wie der Drache.⁷¹² Er selbst ist die Kontrastfolie, das Schreckensbild des rituell unbehandelten, vernachlässigten Toten. Möglicherweise wird dieser Kontrast, die Konsequenzen einer geglückten Sorge wie mangelnder Sorgfalt in der Ahnenpflege im Beowulf-Epos besonders forciert, aber er ist auch im Nordischen bereits angelegt. So tyrannisiert schließlich auf ähnliche Weise König Fróði seine Mannen, er bedroht sie mit dem Leben, der Schlafbedürftige, der vor jeglichem Lärm verschont werden muss,⁷¹³ wie Grendel, den das fröhliche Feiern, die
Raymond P. Tripp prägte für diese Transformation der besonderen Art den Ausdruck „DragonKing“ (siehe etwa Tripp 2011, S. 59). „Obviously, to read Hrothgar’s sermon we need to know what ‚became ofʻ Heremod. […]. Few agree about his final fate or what exactly led up to it, especially after ana hwearf, mære ϸeoden, mondreamum from (1714b–15), ‚the great prince alone turned away from the happy life of men.ʻ It is agreed, however, that Heremod misbehaved badly, killing his own people oϸ ϸæt (1714a), ‚untilʻ, he is out of the picture. The text does not say that he was only driven away, which he was, but that he also exiled himself“ (Tripp 2011, S. 66).Weiter heißt es über ihn, „that he nallas beagas geaf (1719b), „did not give rings“, and dreamleas gebad (1720b), „lived without social joys“, was Tripp als „his subsequent barrow life as a Dragon-King“ (Tripp 2011, S. 67) lesen möchte. Er sei gewiss mehr als lediglich ein „sociopath“, „a murderous bully“, durchgehend werde er mit Begriffen wie „wonder“ u. ä. verbunden: „Criticism must move from Heremod’s merely natural vices to the supernatural provenance with which the poet locates them“ (Tripp 2011, S. 70). Der ‚schlafende Zustandʻ sei nachgerade Kennzeichen des Dragon-King, es sei der tiefe Schlaf „of ‚false immortalityʻ“ (Tripp 2005, S. 17).
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Hallenherrlichkeit immer wieder aus seinem finsteren Versteck, seinem Grab lockt,⁷¹⁴ und wie der Drache, den auch nur die geringste Einschränkung seiner Überfülle an Goldgaben zu einem wutschnaubenden Monster macht ‒ Drachen und Tote teilen nicht gern. Heremōd, der ,böse Ahneʻ, soll sich als ausgesprochen geiziger Ringeverteiler erwiesen haben, die inständige Bitte Hroðgars an Beowulf ist gegebenenfalls die Bitte an den zukünftigen Ahnen, sich großzügiger zu erweisen. Aber auch dem todwunden Beowulf steht sein einziger Sinn nach dem Drachengold, mit eigenen Worten weist er noch seinen Begleiter Wiglaf (in unserem Sinne der male suttee aus nordischem Kontext) in seine rituellen Aufgaben ein: Schnell nun gehe / Zu dem glänzenden Hort in dem grauen Steine, / Mein teurer Wiglaf! da tot der Wurm / Im Blute nun liegt, der die Beute besessen. / Beeile dich, Freund! daß die alten Geräte / Ich bald erblicke, die bunten Steine, / Das schimmernde Gold: wenn ich schauen darf, / Was mein Arm errang, / wird der Abschied leichter / Von Leben und Thron, die ich lange behauptet.⁷¹⁵
In der Tat ist Eile geboten, das Gebaren des heimatlosen, goldgierigen Drachens verweist anschaulich auf die Gefahren, die vom toten, nunmehr auf gleiche Weise ruhelosen, bedürftigen Beowulf ausgehen könnten. Das Ringen mit dem monströsen Untoten im Grab ist in der nordischen Sagawelt ein gut bekannter Wissensrahmen, nicht immer, aber oft gerade deshalb, weil der Tote durchaus nicht bereit ist, von seinen Schätzen abzugeben. Im Angelsächsischen ist es also der goldgierige Drache, der diesen Platz einnimmt, als Analogie, aber auch im direkten Bild der Transformation des Menschen in einen Drachen. Auch das ist ein Bild, das im Nordischen gut bekannt ist: Der berühmteste ,Manndracheʻ ist ja zweifelsohne Fáfnir, einstmals Mensch, dann schatzhütender Drache, dem Sigurðr in dieser Verwandlung (ohne dass er seine menschlichen, kognitiven Fähigkeiten, etwa das Sprechen verloren hätte) den Garaus macht (vgl. Skáldsk 40; Fáfnismál, Vǫlsunga saga). Es ist entsprechend die natürlichste Erklärung, die Raymond Tripp und Hilda R. Ellis Davidson (ähnlich Geoffrey Smithers)⁷¹⁶ für die Drachenepisode im Beowulf-Epos vorgelegt haben, dass dieser ein ursprünglicher Mensch gewesen sein müsse,⁷¹⁷ der sich nach seinem Tod in einen Drachen verwandelt habe.⁷¹⁸
Und auch Grendel wird ausdrücklich als æϸelinges bearn (V. 888a) „son of a prince“ bezeichnet, „gone bad like that other ϸeodnes bearn Heremod (910a)“ (Tripp 2005, S. 18). V. 2743 – 51: ‚Nú ðú lungre geong / hord scéawian under hárne stán, / Wígláf léofa, nú se wyrm ligeð, / swefeð sáre wund since beréafod / bío nú on ofoste þæt ic aérwelan / goldaéht ongite. gearo scéawige / swegle searogimmas þæt ic ðý séft mæge / æfter máððumwelan mín álaétan / líf ond léodscipe þone ic longe héold.ʻ Vgl. Smithers 1961. „The account suggests that this is a rationalization of the idea (which would be repugnant to a Christian audience) that the dead man himself became a dragon. It is a familiar idea in Old Norse literature: Fafnir himself only turned into a dragon when he had gained possession of Andvari’s treasure, whereupon he retired to a lair on Gnitaheath, which as described in a note to Fafnismál
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Von den ‚Drachen-Ladysʻ Þóra und Áslaug, ebenso schlafbedürftig wie goldgierig, die gleichfalls nur durch ihren speziell ausstaffierten ‚Bräutigamʻ Ragnarr loðbrók oder den Musikanten und ‚Ziehvaterʻ Heimir bezwungen bzw. in Schach gehalten werden können, haben wir ohnehin bereits Ähnliches vermutet. Schließlich erscheint selbst der so positiv gezeichnete, väterliche Freund Beowulfs, Hygelac, gleichwohl eine der wenigen Gestalten im Beowulf mit historischer Referenz (der Dänenkönig Chlochilaicius der Historia Francorum III, 5), in späterer, fantastischer Tradition (Liber monstrorum) als monstergleicher Urahn, dessen gewaltiger Leichnam auf einer Rheininsel beigesetzt wurde.⁷¹⁹ Auf diese außernatürliche, gefährliche, jenseitige Natur verweist aber gerade auch sein Name. Hygelac (ae. hyge „Gedanken, Herz, Seele“ und ae. lac „Spiel, Kampf,Verwirrung“) sei wohl kein fiktiver Name, so Corinne Susanek, aber dennoch müsse man von einer wie auch immer gearteten „meinungstragende[n] Bedeutung“ ausgehen, der Hygelacs geschildertem Charakter entspreche.⁷²⁰ Aber gerade Verbindungen mit -lac ebenso mit hyge erscheinen meist in pejorativer Bedeutung, etwa als Abstraktum, das eine negative Gesinnung beschreibe (siehe an. hugleikin „sinnverwirrt“). So sei der Name vielleicht als „Gedankenspiel/ Gemütskampf“ oder „Fehlen des Gewissens“ zu deuten;⁷²¹ ein beachtlicher Widerspruch zumindest zu dessen literarischer Ausgestaltung. Gleichermaßen bemerkenswert ist auch der Name seiner Gattin Hygd, der als Motivdoppelung erscheint (siehe hyge „Gedanken“).⁷²² Die nordische Ynglinga saga weiß indes wiederum von einem Hugleikr, ausgerechnet in jenem pejorativen Sinn, wie er sich im angelsächsischen Namen, wenn auch ganz unmotiviert, andeutet. Snorri schildert diesen als einerseits sehr reich, aber geizig und insbesondere mit einer merkwürdigen Leidenschaft: „Er hatte oft an seinem Hof allerhand Spielleute, Harfner, Geiger und Fiedler. Auch Zauberer hatte er um sich und mancherlei wahrsagendes Volk“ (Ynglinga saga, Kap. 22). Auf bemerkenswert ähnlich negative Weise erscheint Hugletus/Huglecus bei Saxo als König von Irland. Wohl habe dieser eine „reichgefüllte Schatzkammer“ besessen, er sei aber „Sklave des Geizes“ gewesen. Er habe sich mit „Schauspielern und Gauklern“ umgeben, und nur diesen sei er auf ‚schmeichlerischeʻ, ja unnatürliche Weise zugetan gewesen. Darüber hinaus verknüpft Saxo mit Huglecus eine prima facie
suggests a burial mound, and in one of the Icelandic Sagas several members of a strange family become dragons and lie on chests of gold behind a waterfall“ (Davidson 1950, S. 181). Rauer verweist auf die „exeptionally hostile response from other commentators“ (Rauer 2000, S. 39) auf diesen Interpretationsansatz. Aber auch wenn diese Überlegungen keine direkte Grundlage im überlieferten Text hätten, so müsse man doch mit Tripp darin übereinstimmen, dass die Episode „a very disjointed and convoluted impression“ hinterlasse, „these include the disposal of the treasure by the unnamed and mysterious ,last survivorʻ, his solitary death, the somewhat surprising emergence of a treasure-seeking dragon at the cave, and the equally unexpected appearance of a lost fugitive, who stumbles on the treasure and the dragon some 300 years later (II. 2267– 2282a)“ (Rauer 2000, S. 40). Vgl. Susanek 2000, S. 299 f. Vgl. Susanek 2000, S. 300. Vgl. Susanek 2000, S. 300. Vgl. Susanek 2000, S. 300.
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noch befremdlichere ‚Schuh-Episodeʻ: Hugletus habe (bedingt durch seinen Geiz, wie Saxo annehmen möchte) Schuhe weiterverschenkt, die er zuvor durch die Herausnahme der Schuhriemen unbrauchbar gemacht habe (Gest.Dan. 6.5). Aber dieser Motivkomplex ist nun für diesen Kontext in jeder Hinsicht einschlägig: Gerade in Letzterem zeigt sich zweifelsfrei der apotropäische Begräbnisbrauch. Es sind ja die helskó, die „Helschuhe“ der Gísla saga (Kap. 14). Indem beim Begräbnis an den Schuhen die Schnürsenkel entfernt oder zusammengebunden werden, soll der Tote am Wiedergängertum gehindert werden. Auch das Gaukler- und Harfner-Motiv ist an dieser Stelle durchsichtig genug. Die Schauspieler und Musikanten sind weniger zu lasziven Unterhaltungszwecken eines Lebenden als vielmehr zu kultischen Zwecken, zur (monströsen) Totenkommunikation abgestellt. Es sind die praestigiae, „die Gaukeleien, die Blendwerke“ des Beerdigungskults. Wie überhaupt die Semantik der Namen des Erzahnenpaars Hygelac und Hygd weder etwas mit ‚unernsterʻ noch (wie im letzteren Fall manches Mal vermutet) „weisen und klugen“⁷²³ Gesinnung der Träger zu tun hat. Es sind Bezeichnungen für Geistwesen, Ahnenwesen. Sie gehören zum gleichen Bedeutungsspektrum wie das ahd., mhd. heit „Gestalt, Wesen, Art und Weise“, anord. heiðr und Ähnliches, gleichermaßen hochpejorativ wie ambig. Eine Vorstellung von Substanzlosigkeit, eine abstrakte Idee von Postmortalität soll hier gefasst werden. Von einigem Interesse mag ebenso sein, dass zum ersten Mal ein Sänger das Lied von Heremōd und Sigmund bei der Rückkehr vom Pfuhl Grendels anstimmt, als sich Dänen wie Geaten der (vermeintlich) endgültigen Überwindung der Heimsuchungen ihres unbefriedeten Toten versichert haben. Abwechselnd in Gesang und Wettreiten zu Pferde gleichen sie nun einer Beerdigungsgesellschaft in ihren rituellen Maßnahmen.⁷²⁴ Im Strukturaufbau des Epos gehört die Heremōd-Episode zu einer so genannten Disgression, eine narrative Abweichung von mehreren, die längst nicht mehr als womöglich störende Unterbrechungen betrachtet werden, vielmehr als gezielt vom Autor eingefügt, um den Rezipienten wichtige Informationen über den Helden selbst zu liefern.⁷²⁵ So beginnt das Epos bereits mit einem langen Exkurs über den Beginn der dänischen Ahnenreihe der Scyldingen, über den ersten Dänen Scyld Scéfing. Beowulf verbindet mit diesem gerade sein eigenes spektakuläres Schiffsbegräbnis, mit dem die Erzählung wiederum endet. Dabei weist Scylds Bestattung nachgerade in die Zukunft, wohingegen Beowulfs Tod als Anfang vom Ende, als Auslöser für den Untergang des geatischen Volkes stilisiert wird.⁷²⁶ Die endzeitliche, elegische Stimmung muss als (notwendiger) Teil einer Bestattungsrhetorik gesehen werden, so wie sie sich auch
Vgl. Susanek 2000, S. 300, im Sinne eines „Sapientia versus Fortitudo“-Gegensatzes. Auch Beowulfs eigene Beerdigung wird auf diese Weise geschildert (vgl. V. 3169 – 3173), ähnlich Jordanes Schilderung des Attila-Begräbnisses, wie zu diesem Anlass Reiterspiele veranstaltet worden seien und in Leichengesängen dessen Taten verherrlicht worden seien (Get. Kap. 49). Vgl. Urbanowicz 2013, S. 213 f. Siehe auch Bonjour 1950, S. 46 – 53. Vgl. Urbanowicz 2013, S. 214 f.
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ganz ähnlich in den Hákonarmál zeigt.⁷²⁷ Aus gutem Grund finden wir also an dieser Stelle jene Episode aus Beowulfs Vergangenheit erinnert, die am offensichtlichsten mit dem nordischen Baldermythos in Verbindung steht, der unabsichtliche, tödliche Schuss Hæðcyns auf seinen Bruder Herebeald, der das Königshaus in eine schwere dynastische Krise stürzt. Allein die gezielte Platzierung dieses Narrativs als elegischer Rückblick in der Todesstunde des Beowulf macht schon von formal struktureller Seite die Einordnung der Erzählung als wenngleich tragisches, aber eben zufälliges, ja alltägliches Unglück kaum wahrscheinlich.⁷²⁸ Hermóðr scheint eine bekannte Größe in Bestattungskontexten gewesen zu sein, und es ist nicht anzunehmen, dass Snorri diesen lediglich aus Verlegenheit gewählt hat, um vom ,Váli-Problemʻ abzulenken. Die extrem negative Einschätzung des Altenglischen erscheint im Nordischen nicht, Hermóðr ist kein draugr, eher Kultspezialist, seine Kenntnisse der Jenseitstopographie sind ebenso beeindruckend wie seine Verhandlungsfähigkeiten mit den Jenseitsbewohnern. In dieser Funktion wirkt er schamanengleich,⁷²⁹ in der Tat ein Seelenführer, allerdings niemals mit der Absicht, Balder zurückzubringen, vielmehr um für ein sicheres Geleit und sichere Bleibe dort zu sorgen. Und so ist auch die merkwürdige Form, in der Frigg ihr Anliegen vorträgt, die rituelle Form eines Sprechakts im Kultkontext. Aus diesem Grund wirkt die Art der Frage (hverr sá væri með Ásum er eignask vildi allar ástir hennar ok hylli) auch zunächst eher irritierend: It is perhaps a bit alarming that Frigg offers ástir, since when used in the plural, as here, this noun often refers to love that includes sexual congress. Even if such an offer seems fitting from the point of view of older religious conceptions of Frigg, it does not seem quite wholly consistent with her role as concerned mother. The second noun, hylli, however, has no such sense, and although it rescues the entire offer from the realm of sexual politics, it has the unfortunate characteristic of agreeing with the audacious request for dowry made by Þrymr’s wretched sister to the cross dressed Thor.⁷³⁰
In den letzten beiden Strophen wird auch hier das Bild einer Endzeit entworfen: Mun óbundinn / á ýta sjǫt / Fenrisulfr fara, / áðr jafngóðr / á auða trǫð / konungmaðr komi (Eyv. Hák. 20). („Eh’ fährt los / Auf der Leute Heim / Fessellos der Fenrir, / Eh’ ausfüll’nd / Den öden Platz / Kommt ein gleicher König“). Es muss darin nicht unbedingt eine (direkte) Referenz zu Balder gesehen werden, wohl aber wird ein Unmöglichkeitsmotiv verwendet, das typischerweise mit Balder verbunden ist: So wenig wie dieser zurückkehren wird (weil er als Ahne in die Welt der Toten gehört), so wenig wird sich der Fenriswolf losreißen (weil dieser als mythischer Verursacher von Sonnen- bzw. Mondfinsternissen direktes Kennzeichen des Außersystemischen, des Weltenendes ist). In der letzten Strophe kommt zum rhetorischen Stilmittel der Unvergleichlichkeit das Konzept der Unersetzlichkeit dazu, kombiniert mit dem gleichfalls gut bekannten Klagemotiv der Verelendung und Verwahrlosung der Trauernden: Deyr fé, / deyja frændr, / eyðisk land ok láð, / síz Hôkun fór / með heiðin goð; / mǫrg es þjóð of þéuð (Eyv. Hák. 21). („Habe stirbt, / Es stirbt die Sippe, / Leut’ und Land vergehen, / Seit Hakon ging / Zu den heidnischen Göttern, / Litt man viel im Volke“). So aber O’Donoghue 2003, S. 83 f. Vgl. Lindow 1997, S. 115. Siehe Lindow 1997, S. 101 f.
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Wohl zu Recht beschleicht Lindow hier ein gewisses Unbehagen, und nicht nur ihn, auch das mittelalterliche Publikum kennt diese Art der Gesprächsführung, und es kennt die Kontexte, in denen diese eingesetzt wird. Diese äußerste Form der Liebenswürdigkeit, ja schmeichlerische Unterwürfigkeit (eine fast erotisch gefärbte Aufforderung Friggs an die Männer, in ihrem Sinne weiter zu verfahren) korrespondiert mit der Impertinenz oder Ungeheuerlichkeit der Bitte. Es sind Vorsichtsmaßnahmen für die schwer abzuschätzenden Folgen einer unberechenbaren, kritischen Situation. Eine unheilvolle Eskalation der Ereignisse schwingt für die Zuhörerschaft gleichsam immer mit. In der Þrymskviða kostet die Fehleinschätzung einer solchen Situation die Riesen-Schwester das Leben, freilich als allzu unberechenbar und unvorhersehbar entpuppt sich da ihre vermeintliche Gesprächspartnerin als der leibhafte Donnergott Thor. Wir kennen dieses Verhalten schwierigen, gefährlichen, in der Hierarchie höherstehenden Verhandlungspartnern gegenüber als jene rituell geforderte Unterwürfigkeit der Lebenden den Toten gegenüber, es ist rituell gebotenes Trauerverhalten der Hinterbliebenen. Auf eine sehr ähnliche Ausgangssituation treffen wir in der Njáls saga. Es ist das Zusammentreffen zwischen Hildigunnr und Flosi (Kap. 115), das Carol Clover gewiss zu Recht als „one of the most vividly emotional scenes in all of saga literature“⁷³¹ beschreibt: Flosi hat erfahren, dass Hǫskuldr Hvítanessgoði, der Ehemann seiner Nichte Hildigunnr, erschlagen wurde, bei einer Rundreise durch den Distrikt macht er an ihrem Gehöft halt, um bei ihr zu essen. Aber Hildigunnr ist nicht unvorbereitet. Sie arrangiert für ihren Onkel einen Empfang, der bis ins Kleinste durchkomponiert ist, ein ritualisiertes Szenario, in dem sie als typische ,Hetzerinʻ erscheint. Sie nimmt also jene Rolle im Fehdegeschehen ein, die die mittelalterliche isländische Gesellschaft der Frau zugedacht hat. Allerdings ist die Rache (bzw. die Aufforderung dazu) keineswegs Selbstzweck, keineswegs exzessives, tiefes, wenn auch gegebenenfalls (zumindest aus heutiger Sicht) fehlgeleitetes Empfinden und Reagieren auf einen Verlust. Sie ist Teil der Totenkultvorschriften.⁷³² Die Hetze ist die rituell geforderte Haltung der Frau im nordischen Trauerkontext und aus diesem Grund lange Zeit alternativlos. Die Unerbittlichkeit und Unausweichlichkeit dieser Forderung mag oder mag nicht einem persönlichen, individuellen Gefühlserlebnis entspringen, aber grundsätzlich sind sämtliche Gefühlsäußerungen in diesem Rahmen kontrolliert und manipuliert: Hildigunnr macht sich hier also zum Anwalt des Toten, ihres Ehemanns, um damit der Unerbittlichkeit seiner Forderungen zuvorzukommen.⁷³³ Schon in der Begrüßung fällt die Diskrepanz zwischen Hildigunnrs ausgesuchtester Freundlichkeit und der
Clover 2002, S. 15. Vgl. Clover 2002, S. 40: „[T]he hvǫt of Islandic literature has its roots in a tradition of death lament.“ Vgl. Clover 2002, S. 40: „This may be a woman seeking revenge, but it is at the same time a woman paying her dues to the dead – indeed speaking for the dead. […]. As his lamentor, Hildigunnr is the medium through which Hǫskuldr’s wounded corpse demands revenge.“
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Barschheit im Ton des Flosi auf,⁷³⁴ aber dessen Zurückhaltung und Unwilligkeit ist ebenso Teil des rituellen Erfordernisses.⁷³⁵ Das mühsame Überreden, ja nachgerade Nötigen zur Bluttat hat weniger (zumindest nicht ausschließlich) mit gesundem Menschenverstand und Einsicht (der Männer) zu tun,⁷³⁶ es geht vielmehr darum, dem erzürnten Totengeist die besondere Schwierigkeit des Unterfangens, die Hürden in der Ausführung klarzumachen. In der Logik der Rachedramaturgie müsste nun auch im Balderdrama die weibliche Hetze und Aufstachelung folgen, aber der Mythos scheint gerade davon nichts zu wissen, weder ,hetztʻ Frigg, noch muss Hermóðr sonderlich überredet werden. Wenn wir freilich genauer hinsehen, entdecken wir sämtliche Requisiten, die Hildigunnr für ihre Inszenierung der besonderen Art eingesetzt hat, auch in der Balder-Geschichte. Man kann die Begegnung des Flosi und der Hildigunnr als mythisches Aufeinandertreffen lesen. Der Ritt des Flosi auf das Gehöft des Toten und seiner Frau entspricht dabei dem Ritt des Hermóðr auf das Gehöft des toten Balder und seiner Frau. Im Mythos ist diese erste Begegnung ebenso inszeniert, dass Hermóðr nicht etwa sogleich auf Hel trifft, er trifft auf Balder, an seinem angestammten Platz, auf dem Hochstuhl, wie er die Gastgeberfunktion wahrnimmt. Auch in der Saga spielt der Hochstuhl des Toten die erste wichtige Rolle, das Angebot der Hildigunnr an ihren Onkel, darauf Platz zu nehmen, ist ja die erste Ungeheuerlichkeit, ein Affront, dadurch wird die Anwesenheit des ,eigentlichenʻ Besitzers und Gastgebers aufs schmerzlichste und unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt.⁷³⁷ Zunächst nun verläuft die Begegnung ruhig und ohne weitere Zwischenfälle, man nimmt an der Tafel Platz und rüstet
„Hildigunnr sneri at honum ok mælti: ,Kom heill ok sæll, frændi, ok er nú fegit hjarta mitt tilkvámu þinni.ʻ Flosi mælti: ,Hér skulu vér eta dagverð ok ríða síðan.ʻ“ Vgl. Clover 2002, S. 37: „The tension between Flosi and Hildigunnr is palpable in the first words they exchange, even before Flosi dismounts. Her greeting is too warm (,Welcome kinsman; my heart rejoices at your arrivalʻ) and his response too cool (,We’ll be eating here and riding onʻ).“ Wir können dieses Verhalten mit dem ebenso im Trauerritus gegründeten (und geforderten, weniger individuellen) Verhalten des Egill vergleichen, wie er überredet, ja nachgerade getäuscht werden muss, um wieder Nahrung zu sich zu nehmen, bezeichnenderweise übernimmt auch hier diese Aufgabe eine Frau, seine Tochter. Kompensation und Ausgleich auf unblutigem Weg – („,I will follow up thy suitʻ, said Flosi, ,to the utmost limit of the law, or strive for that atonement which good men and true shall say that we ought to have as full amendsʻ“ [Übers. Dasent 1900]) – gehört bestenfalls zu den abgewiesenen Alternativen, als eben nur zweitbeste Lösung, ähnlich bis in die jüngste Zeit in den typischen Rachegesellschaften des Mittelmeerraums. Siehe Clover 2002, S. 35: „Like the Icelanders, the Albanians regarded monetary compensation with suspicion (,We don’t sell blood for moneyʻ) and those who accepted it with contempt […].“ „Flosi gekk inn í stofuna ok settisk niðr ok kastaði í pallinn hásætinu undan sér ok mælti: ,Hvárki em ek konungr né jarl, ok þarf ekki at gera hásæti undir mér, ok þarf ekki at spotta mik.ʻ Hildigunnr var nær stǫdd ok mælti svá: ,Þat er illa ef þér mislíkar, því at þetta gerðum vér af heilum hug.ʻ“ („Flosi went into the sitting-room and sat him down, and spurned the high-seat away from him on the dais, and said – ,I am neither king nor earl, and there is no need to make a high-seat for me to sit on, nor is there any need to make a mock of me.ʻ – Hildigunna was standing close by, and said – ,It is ill if it mislikes thee, for this we did with a whole heartʻ“ (Übers. Dasent 1900).
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sich zum Essen, doch das nächste ,Minidramaʻ, sorgfältig von Hildigunnr inszeniert, folgt auf dem Fuß. Es ist ausgerechnet ein Stück Stoff, nur ein Stück Stoff, das jetzt die Hauptrolle spielt, aber an der angewiderten Reaktion Flosis ist zu erkennen, dass er ihr Symbolarrangement unmissverständlich gedeutet hat: After that the board was laid, and Flosi and his band washed their hands. Flosi looked hard at the towel and saw that it was all in rags, and had one end torn off. He threw it down on the bench and would not wipe himself with it, but tore off a piece of the table-cloth, and wiped himself with that, and then threw it to his men.⁷³⁸
Zerrissene Kleidung gehört in die Symbolsprache von Bestattungen, von Trauerritualen, sei es als Teil einer Inszenierung der Verwahrlosung, als Demonstration und Verbildlichung unbändiger Emotionen, die die Trauernden buchstäblich ,zerreißenʻ, sei es als Lebensband oder Faden, der zerrissen ist, nicht zuletzt ist es namengebendes Konzept des Baldermörders selbst, Hǫðr. Es ist die Antipode im Wissensrahmen des Gewebten, des Hergestellten par excellence.⁷³⁹ Nun reagiert Flosi seinerseits darauf mit einer destruktiven Geste und verstärkt damit bewusst oder unbewusst das Bild der Lücke, des Risses, das Hildigunnr vorgegeben hat. Es findet seine letzte Steigerung in einem nunmehr nicht nur zerrissenen, sondern explizit blutbefleckten Stoffstück, einem Kleidungsstück, dem Mantel, in dem Hǫskuldr ermordet wurde. Hildigunnr wirft ihn über Flosi, so dass sein ganzer Körper bedeckt, kontaminiert wird, miteinbezogen wird in die Befleckung des Todes. Wieder ein Mantel, wieder ein Kleidungsstück, durch dessen ,Schüttelnʻ die Welt im Chaos versinken wird! Als „bloody token“ möchte Clover dieses Symbol lesen, als Beweis wie Erinnerung an die Untat, aber auch gleichzeitig Handlungsaufforderung, als Bringschuld, „physical mnemonics of the victim’s death as a way of keeping alive the idea of an outstanding social debt.“⁷⁴⁰ Es ist die übliche Praxis in Fehde-Gesellschaften, in der isländischen Literatur ist das Motiv des blutbefleckten Kleidungsstücks ein gängiges Stereotyp. Auch in der Jenseitszusammenkunft überreicht eine Ehefrau, Nanna, einem Mann, einem Gast, ein Stück Stoff: Rifti (in anderer Version faldr), ript oder ripti bedeutet ganz allgemein „Tuch, Zeug“, aber auch „Brautschleier“ oder Tuch, das an Begräbnissen getragen wird.⁷⁴¹ Anita Sauckel verweist auf die starke Zeichenhaftigkeit der speziell präparierten, blutbefleckten, zerrissenen Kleidungsstücke im isländi-
Übers. Dasent 1900. Síðan váru borð tekin, en Flosi tók laugar ok lið hans. Flosi hugði at handklæðinu, ok var þat raufar einar ok numit til annars endans; hann kastaði í bekkinn ok vildi eigi þerra sér á ok reist af borðdúkinum ok þerrði sér þar á ok kastaði til manna sinna. Vgl. Clover 2002, S. 38. Clover 2002, S. 39. Zu rifa „(zer)reißen“ (an. etym.Wb 1962, „rifa“): ript poet. „brautschleier“, dial. rift „langes weißes leinentuch, das weiber bei einem begräbnis um den hals tragen“, faldr in einem ähnlichen semantischen Feld als „hoher, weiblicher kopfputz“ (an. etym.Wb 1962, „ript“), ein Stoffstück also zunächst in seiner Grundform als eher formloses Stück Tuch, im Weiteren aber auch verarbeitet zu einem Kleidungsstück.
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schen Rachediskurs. Sie hätten mitunter „größere Aussagekraft [besessen] als aufreizende Worte“,⁷⁴² ja Gudrun könne sich sogar ihren Söhnen gegenüber allein auf die Verweisfunktion der Kleidungsstücke ihres ermordeten Mannes Bolli verlassen (vgl. Laxdœla saga, Kap. 60), ganz ohne „scharfe Worte und Drohgebärden. Sie lässt allein die Kleidung sprechen, die ihrer Meinung nach genügend Aussagekraft besitzt, um ihren jungen Söhnen die Pflicht der Vaterrache vor Augen zu führen.“⁷⁴³ Aber noch ein anderes ‚Geschenkʻ macht es deutlicher: Balder schickt den Ring Draupnir expressis verbis „als Erinnerung“ (til minja) an Odin,⁷⁴⁴ so wie Nanna an Fulla einen Fingerring sendet, wahrscheinlich aus dem gleichen Grund.⁷⁴⁵ Es sind Geschenke die aus dem Reich des Todes stammen, von Toten als Kommunikationsmittel zu den Lebenden. Hier sind es die Toten selbst, die sich ihrer bedienen, sie brauchen keinen Stellvertreter, bestenfalls einen Übermittler: Hermóðr. Aber sollten sie den gleichen Zweck erfüllen wie den, den Hildigunnr anstrebt? Das würde bedeuten, dass Hermóðr mit dem Auftrag zur Rache aus der Totenwelt zurückkehrte und dann tatsächlich jener rachsüchtige Wiedergänger wäre, als den ihn die angelsächsische Tradition ausschließlich zu kennen scheint. Dann freilich wären bei Snorri die Rachegelüste der nordischen Toten geglättet bis zur Unkenntlichkeit, zusammengeschmolzen zu bestenfalls diplomatischen goodwill-Bekundungen und höflichem Geschenkeaustausch.
Sauckel 2013, S. 102. Sauckel 2013, S. 103. Siehe dazu North 2013. Jürg Glauser verweist auf den speziell präparierten Ring Gudruns als „nicht-schriftliches, nichtsprachliches Zeichen“ (Glauser 2016, S. 17), das sie ihren Brüdern schickt als Warnung vor den Mordabsichten ihres Ehemanns, des Hunnen Atli (siehe Atlaqviða in gronlenzca, Str. 8). Die Brüder können das (eher uneindeutige) Zeichen richtig deuten, denn der Ring ist zusätzlich mit Wolfshaar umwickelt. In der Vǫlsunga saga erscheinen als Medium der Wahl geritzte Runen (die indes von einem Diener gefälscht werden), der Wolfsring tritt aber hinzu, und so bleibt die ursprüngliche Bedeutung trotz allem erhalten (vgl. Glauser 2016, S. 16 f.). Es geht also um die spezifische Kombination oder Ergänzung von Zeichen, einerseits der Ring als Medium, als Gedächtnisspeicher schlechthin, der in Kombination mit dem Wolfshaar (bzw. Runen) eindeutig wird. So erhält der Ring Balders gegebenenfalls erst in Verbindung mit dem Stoff(fetzen) seine spezifische, unmissverständliche Bedeutung.
13 Rituelles Handeln: Der Leichenbrand 13.1 Der Weihe-Thor Aber die Asen nahmen den Leichnam Balders und brachten ihn zum Meer. Hringhorni hieß sein Schiff, es war das größte aller Schiffe. Die Götter wollten es zu Wasser lassen und darauf Balder verbrennen, aber das Schiff rührte sich nicht. Darauf wurde nach Riesenheim zu der Riesin gesandt, die Hyrrokkin hieß. Als sie kam, ritt sie auf einem Wolf und hatte Giftschlangen als Zügel. Sie stieg von ihrem Reittier, und Odin rief nach vier Berserkern, die darauf aufpassen sollten. Aber sie konnten es nicht eher halten, bis sie es niederwarfen. Derweil ging Hyrrokkin zum Vordersteven des Schiffes und stieß es mit dem ersten Ruck so an, daß Feuer von den Schiffsrollen schoß und das ganze Land bebte. Das erzürnte Thor, er griff nach dem Hammer und hätte ihr den Schädel gespalten, hätten nicht alle Götter um Frieden für sie gebeten. Danach wurde Balders Leichnam auf das Schiff getragen. Als dies aber seine Frau sah, Nanna, Neps Tochter, brach ihr vor Kummer das Herz und sie starb. Sie wurde auf den Scheiterhaufen gebracht, und den entzündete man. Thor stand davor und weihte ihn mit Mjöllnir. Aber ein Zwerg, der Lit genannt wird, lief ihm vor die Füße. Thor trat mit seinem Fuß nach ihm und stieß ihn ins Feuer, wo er verbrannte.¹
Beim unmittelbaren Bestattungsritual Balders erscheint Thor, der zuvor auf keine Weise in Erscheinung getreten ist (nicht einmal beim Leichentrunk in der Ægir-Halle), in einer Hauptrolle und zweifelsohne Paraderolle. Nur mühsam kann er davon abgehalten werden, einer Riesin, Hyrrokkin, den Schädel einzuschlagen. Aber die Asen bitten um Schonung, schließlich wurde sie eigens ,einbestelltʻ, wie es heißt, um Balders Schiff Hringhorni, auf dem er verbrannt werden soll, zu Wasser zu lassen. Das monströse Reittier der Riesin, ein Wolf mit Schlangenzügeln, hat offenbar weniger Glück, es wird von den Berserkern Odins gefällt, also wohl getötet.Was anderes sollten wir (und Snorri) auch vom Riesenhasser Thor in dieser Situation erwarten? Snorri beschreibt die Szene durchaus anschaulich, aber vieles erscheint daran ungereimt: Ein leichtes wäre es doch gerade Thor gewesen, das Schiff ins Wasser zu stemmen, hat er doch bei seinem Fischzug bewiesen, dass er problemlos ein ganzes Schiff mit Mann
En Æsirnir tóku lík Baldrs ok fluttu til sævar. Hringhorni hét skip Baldrs. Hann var allra skipa mestr. Hann vildu goðin fram setja ok gera ϸar á bálfǫr Baldrs. En skipit gekk hvergi fram. Þá var sent í Jǫtunheima eptir gýgi ϸeiri er Hyrrokkin hét. En er hon kom ok reið vargi ok hafði hǫggorm at taumum ϸá hljóp hon af hestinum, en Óðinn kallaði til berserki fjóra at gæta hestsins, ok fengu ϸeir eigi haldit nema ϸeir feldi hann. Þá gekk Hyrrokkin á framstafn nǫkkvans ok hratt fram í fyrsta viðbragði svá at eldr hraut ór hlunnunum ok lǫnd ǫll skulfu. Þá varð Þórr reiðr ok greip hamarinn ok myndi ϸá brjóta hǫfuð hennar áðr en goðin ǫll báðu henni friðar. Þá var borit út á skipit lík Baldrs, ok er ϸat sá kona hans Nanna Nepsdóttir ϸá sprakk hon af harmi ok dó. Var hon borin á bálit ok slegit í eldi. Þá stóð Þórr at ok vígði bálit með Mjǫllni. En fyrir fótum hans rann dvergr nokkurr. Sá er Litr nefndr. En Þórr spyrndi fœti sínum á hann ok hratt honum í eldinn ok brann hann (Gylf 49). https://doi.org/10.1515/9783110789140-014
13.1 Der Weihe-Thor
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und Maus, „samt Schöpfwasser“ und „samt Rudern“ aus dem Wasser zu heben vermag.² Dann ‚weihtʻ Thor den Scheiterhaufen (Þá stóð Þór at ok vígði bálit), auf dem der tote Balder und seine Frau Nanna liegen (soeben geradewegs ,vor Kummer zersprungenʻ).³ Hier stellen wir uns, wenn auch zunächst wohl eher einem christlichen Vorverständnis des Wortes ‚weihenʻ folgend, eine Szene vor von einer gewissen Würde und erhabenem Ernst. Und da stolpert ausgerechnet der Zwerg Litr über Thors Füße, schnell ist offenbar die feierliche Stimmung verflogen, wieder außer sich vor Wut stößt Thor den Zwerg ins Feuer, wo er verbrennt. Für ein grundsätzliches Verständnis der Szene gilt es zunächst, die enigmatische Ritualhandlung Thors genauer zu betrachten. Wohl am wenigsten selbstredend wird sie mit einer christlich religiösen Semantik zusammengebracht werden können, aber ebenso nicht unbedingt selbstverständlich erscheint dieses Tun in einem paganen Begräbniskontext. So stellt sich etwa die Frage, auf welche Weise die ‚Weiheʻ hier überhaupt (strukturell wie funktionell) zu Thors mythischem Aufgabenbereich passen könnte. Thor ist nicht nur ein nimmermüder Riesenschläger, ebenso ist er ein Reisender. So reist Thor etwa mit einer gemischten Reisegesellschaft von Menschen und Göttern (wie so häufig ist auch Loki mit von der Partie) zum Riesen Útgarðaloki, ,Loki von Útgarðrʻ, an die äußersten Grenzen der Welt (Gylf 46, 47) und darüber hinaus: Útgarðr ist „the outer city (world)“, „the world beyond the closure“.⁴ Bei Saxo ist es der menschliche Held Thorkillus, der eine Expedition zu U(t)garthilocus unternimmt (Gest.Dan. 8.4). Man kann annehmen, dass die Figuren identisch sind, ihre Charakterisierungen allerdings ebenso die Szenerien, in die die beiden Autoren die Abenteuer ihrer vermenschlichten wie göttlichen Helden legen, könnten kaum unterschiedlicher sein. Snorri beschreibt Útgarðr als gut gesicherte Burg, indes ohne jeglichen „makabren Aspekt“, so Liberman: „The scene is humorous rather than sinister.“⁵ Es kommt zu einem mehr oder weniger sportlichen Kräftemessen, zu dem Thor und seine Gefährten aufgefordert werden – ohne zu ahnen, mit wem sie es eigentlich zu tun haben. Sie kämpfen mit Wesen und Wesenheiten, bei denen sie al-
Vgl. Hym 27: Gecc Hlórriði, greip á stafni, / vatt með austri up lǫgfáki; / einn með árom oc með austscoto / bar hann til boiar brimsvín iotuns / oc holtriða hver í gegnom. („Hlorridi ging, ergriff den Steven, / hob samt Schöpfwasser das Meerross hoch; / allein samt Rudern und samt Schöpfgefäß / trug er des Riesen Brandungsschwein zum Hof / und durch die Schlucht der Waldberge“). Der Körper vermag die überbordenden Gefühle (als substantielle Elemente, die entsprechend Platz beanspruchen) nicht mehr zu fassen und platzt. Solche transkulturellen, metaphorischen Übertragungen abstrakter, emotionaler Zustände und Ideen haben wir schon für das Konzept ,Wut‘ beschrieben (siehe óðr als konkret körperhafte Vorstellung von Aktivität). Ähnlich gedacht wird es auch in der Vorstellung vom Kraft strotzenden Helden, der zum Bersten voll ist mit ,Kühnheitssubstanzʻ. Meist sind es indes Frauen, die vor Kummer um ihren Ehemann oder nahen Verwandten ‚zerspringenʻ, springa. (Vgl. Mills 2013, S. 170, mit einer Reihe von Beispielen, siehe auch Mills 2013, S. 139 f.; Mills 2013, S. 169f.). Liberman 1992, S. 99 Liberman 1992, S. 100.
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13 Rituelles Handeln: Der Leichenbrand
lesamt buchstäblich an ihre Grenzen geraten: das ,Alterʻ, die ,Gedankenʻ, das ,Feuerʻ, das ,Meerʻ und nicht zuletzt die Midgard-Schlange als paradoxe Verkörperung der Grenze selbst. Alle, einschließlich Thor, scheinen an ihren Aufgaben zu scheitern. Erst ganz zum Schluss klärt Útgarðaloki, nicht ohne Häme, die Gefährten über die eigentlichen Umstände auf, indes, selten bemerkt, gleichermaßen tief beeindruckt, ja nachgerade bestürzt über Thors Fähigkeiten: Nun will ich dir die Wahrheit sagen, wo du aus der Burg heraus bist. Wenn ich lebe und zu bestimmen vermag, sollst du niemals wieder in sie hineinkommen, und ich weiß gewiß, daß du sie niemals betreten hättest, wenn ich vorher gewußt hätte, wie groß deine Kraft ist. Du hättest uns damit fast in eine sehr gefährliche Lage gebracht.⁶
Nicht nur Thor, auch Útgarðaloki ist an seine Grenzen geraten. Es ist kein Fluch, den er an dieser Stelle ausspricht, aber seine Abschiedsworte gleichen denen der toten Vǫlva, der Odin einen Besuch abgestattet hat.⁷ Auch sie messen ihre Kräfte im (Wissens)spiel, und hier wie dort ist das Treffen einmalig, nicht mehr wiederholbar, die Trennung endgültig.⁸ Gescheitert ist indes Thor nicht an seinen Aufgaben, auch wenn Snorris ,Kunstfigurʻ Gylfi (und damit wohl er selbst) es so verstanden haben mag. Thor selbst ist ja unzufrieden mit seinem vorgeblichen Versagen – aber: Wer vermag die MidgardSchlange, die Verkörperung der Grenze schlechthin, auch nur ansatzweise aus ihrer Position zu verschieben, was nichts anderes bedeutet als die Grenzen zwischen Sein und Nichtsein zu erschüttern? Wer vermag aus dem Meer so viel zu trinken, dass Ebbe und Flut entsteht? Und wer lässt sich vom Alter (vielleicht sogar vom Tod selbst, wie Liberman sich vorstellen könnte) bestenfalls in die Knie zwingen, aber nicht umwerfen? Lindow möchte die Wettkämpfe ähnlich beurteilen, keinesfalls als Niederlage, dennoch sieht er eine Unterlegenheit Thors. Er scheitere an jenen berüchtigten sjónhverfingar, den „Verwirrungen der Sinne“, die offenbar auch Útgarðaloki zu erzeugen in der Lage ist. Das Thor-Abenteuer sei eine Þórsginning, eine „Täuschung“ Thors und damit in starker Übereinstimmung zur Rahmenerzählung der Gylfaginning, der „Täuschung“ des Gylfi. Ganz ähnlich wie die drei Odinsgestalten Hárr, Jafnhárr
„Nu skal segja ϸér it sanna er ϸú ert út kominn ór borginni, at ef ek lifi ok megak ráða ϸá skaltu aldri optar í hana koma. Ok ϸat veit trúa mín at aldri hefðir ϸú í hana komit ef ek hefða vitat áðr at ϸú hefðir svá mikinn krapt með ϸér, ok ϸú hafðir svá nær haft oss mikilli ófœru“ (Gylf 47). „Ok er nú ϸat satt at segja at vér munum skiljask, ok mun ϸá betr hvárratveggju handar at ϸér komið eigi optar mik at hitta. Ek mun enn annat sinn verja borg mína með ϸvílíkum vælum eða ǫðrum svá at ekki vald munuð ϸér á mér fá“ (Gylf 47). („‚Aber nun ist wahrlich zu sagen, daß wir uns trennen müssen, und es wird für beide Seiten besser sein, wenn ihr mir nicht mehr begegnet. Ich werde auch ein zweites Mal meine Burg mit solchen und anderen Täuschungen verbergen, so daß ihr keine Gewalt über mich bekommtʻ“). „Heim ríð þú, Óðinn, oc ver hróðigr! / Svá komit manna meirr aptr á vit, / er lauss Loki líðr ór bǫndom / oc ragna rǫc riúfendr koma“ (Bdr 14). („Reite nun heim, Odin, und sei stolz! / So komme kein Wesen mehr wieder zu uns, / bis Loki loskommt aus den Fesseln / und Ragnarök zerstörend kommt“).
13.1 Der Weihe-Thor
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und Þriði Gylfi täuschten, werde Thor getäuscht durch Útgarðaloki, „a figure with Odinic characteristics“.⁹ Damit scheitere Thor im Machtbereich Odins, das sei die Wirkmacht der Worte, und damit sei letztendlich auch die hierarchische Überlegenheit Odins über Thor in diesem Bereich festgelegt.¹⁰ Tatsächlich aber sind jene „Sinnestäuschungen“, „alterations of visual perception“¹¹ unvermeidbarer Bestandteil von Thors Welt. Es sind seine Grenzmarker von Wirklichkeit: Wahrnehmungen, denen man (noch) nicht oder nicht mehr trauen kann, Wirklichkeiten, die (noch) nicht oder nicht mehr eindeutig sind, zeigen jene Grenze, jene liminale Zone, jenes Oszillieren zwischen Sein und Nichtsein auf, am Rande derer Thor sich üblicherweise bewegt. Wenn überhaupt, dann kann sich nur ein Thor darin zurechtfinden. Es ist auch der Grund für jenen schmalen Grat zwischen Komik, Peinlichkeit und brachialer Gewalt, denen Thor in all seinen Mythenabenteuern immer wieder ausgesetzt zu sein scheint. Das komische Moment seiner Abenteuer mag später nur allzu gern zu schwankhaften Episoden ausgebaut worden sein, aber in diesen Randzonen von Raum und Zeit, in diesen Grenzgebieten des Verstehens ist sogar die Burleske Programm, sie ist Teil ihrer instabilen Wirlichkeitsentwürfe: Thor ist der Grenzpatrouilleur, er sichert und bestätigt diese Entwürfe oder verwirft sie. Er verweist die Midgard-Schlange auf ihren Platz, aber tötet sie nicht, er kann sie nicht töten, sie ist die buchstäbliche Verkörperung des Paradoxons: Fällt die Grenze, fällt das System. Deshalb die Bestürzung der Riesen, wenn Thor ihr zu nahe kommt und sie buchstäblich zu derangieren droht. Nicht nur Útgarðaloki ist entsetzt, auch der Riese Hymir weiß sich bei ihrem gemeinsamen Fischzug in seinem Schrecken nicht anders zu helfen, als die Leine der gefangenen Weltenschlange zu kappen. Und gerade deshalb ist Loki (noch) an Thors Seite, oft genug mit Befremden vermerkt. Aber nichts anderes als das personifizierte Schwanken, Oszillieren ist Loki, noch wechselt er ständig Seiten wie Identitäten, zwischen Ásaloki und Útgarðaloki, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Tod und Leben, und noch lässt Thor ihn gewähren. Diese mythische Konzeptionierung müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir Thors Auftreten im sakralen, rituellen Handlungskontext der Balder-Bestattung beurteilen wollen. Hier und woanders agiert er wohl als prototypischer ,Haudraufʻ, aber Thor schwingt den Hammer nicht immer in eindeutiger Tötungsabsicht, er ist auch der wigiþonar, der „Weihe-Thor“, ja, so Marold, Thor sei überhaupt der einzige der germanischen Götter, der eine solche Aktion ‒ eine Weihung ‒ unternehme.¹² Und so weiht er also den Scheiterhaufen Balders, er weiht die Knochen seiner verzehrten Böcke, er weiht (in folkloristischer Tradition) Bräute und er weiht in zahllosen Inschriften (bzw. wird dazu aufgefordert), allen voran schon auf der berühmten Nor-
Lindow 2000, S. 181. Vgl. Lindow 2000, S. 181 f. Lindow 2000, S. 183. Vgl. Marold 1974, S. 204.
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13 Rituelles Handeln: Der Leichenbrand
dendorfer Fibel I (7. Jh.) als Teil einer Götter-Dreiheit: logaþore, wodan, wigiþonar.¹³ Dänische wie schwedische Runensteine des 10. Jhs. tragen die literarische Formel „Thor weihe diese Runen“ bzw. als ausschließlich ikonographisch metonymischen Verweis den Thorshammer allein.¹⁴ Simek hält dennoch die Interpretation des Gottes als einen Weihe-Gott (gegen Marold)¹⁵ grundsätzlich für falsch. Es seien lediglich formale Züge, die durch das Christentum hervorgerufen worden seien, eben als „eine Antwort des Heidentums auf das vordringende Christentum“.¹⁶ Nun mag man solche Symbolhäufungen und -verstärkungen als bekannte Abwehr- bzw. Legitimationsstrategien konkurrierender Religionssysteme durchaus nicht in Abrede stellen, aber auch hier ist wieder Teil des Problems die Beurteilung einer rituellen Handlung vom Standpunkt eines anderen religiösen Systems aus. Der Weg vom (Tot)schlag mit dem Hammer zur christlichen Segnungsgeste mit Kreuz ist weit, warum sollte Snorri oder seine Zeitgenossen einen hammerschwingenden Thor dermaßen verstanden haben? Warum sollte Snorri ausgerechnet eine „Zauberhandlung“¹⁷ über den Knochen seiner Böcke (die zerteilt und gekocht als Mahlzeit dienten) als Weihung interpretieren, „wo von einer Weihe [in einem christlichen Sinn, d. Verf.] auch schon gar nicht die Rede sein kann“?¹⁸ Nun ist die Frage ihrerseits eng verbunden mit der forschungsgeschichtlich hochbelasteten Idee von ,Heiligkeitʻ. Dazu zählt das (offenbar bis heute anhaltende) Bedürfnis, pagane und christliche Vorstellungen diesbezüglich auseinander zu halten, heidnische und christliche ,Heiligkeitʻ (und in dieser Konsequenz ,Weihungʻ als ,Heilig machenʻ) als etwas grundsätzlich Unterschiedliches zu betrachten. Baetke verweist auf eine Stelle im Hervǫrlied, wo expressis verbis tote Männer zum Verfaulen im Grab ,geweihtʻ werden: Ek vígi svá / virða dauða / at þér skuluð / allir liggja / dauðir með draugum / í dys fúnir (Hervararkviða 19). („Ich weihe [banne, verzaubere] so die toten Männer [ihre Brüder], daß ihr alle sollt tot liegen bei Unholden, im Hügel verfault“), ebenso auf zwei Zwerge, die ‚geweihtʻ werden mit dem Schwert zum Zwecke ihrer Bannung (Hervarar saga, Kap. 1).¹⁹ In der angelsächsischen Canterbury-Formel soll Thor den bösen Krankheitsdämon Gyrill buchstäblich zum Teufel
Vgl. Lex.Simek 2006, „Nordendorfer Fibel I“, S. 304 f. Die Interpretation der Namen ist (mit Ausnahme des Namens Wodan) umstritten. Simek möchte lieber „Kampf-Thor“ (vingþor) lesen. Vgl. Lex.Simek 2006, „Thor“, S. 420 f. Marold 1974. Lex.Simek 2006, „Thor“, S. 421. Marold 1974, S. 208. Marold 1974, S. 209. Siehe Baetke 1942, S. 106 f.; Marold 1974, S. 202. Freilich versucht Baetke seinerseits einen religiös begründeten Ursprung für *wīhaz wie *hailagaz plausibel zu machen und ebenso eine komplementäre Semantik. Es liege in diesem Wortpaar eine Art „Kontrastharmonie des abwehrenden und des anziehenden Moments […] der germanischen Religion […]“ (Baetke 1942, S. 216). Bernhard Maier verweist indes zu Recht auf die problematische Abhängigkeit dieser Vorstellungen zu den ausschließlich theologisch begründeten Theorien zum ‚Heiligen‘. So mache die altnordische Verwendungspraxis des Wortes „heilig“ gerade in der Rechtssphäre (auf die auch v. See mit Nachdruck verweist) die Idee eines ursprünglich religiösen Konzepts „zweifelhaft“ (vgl. Maier 1999, S. 167).
13.2 Hyrrokkin
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jagen – mit einer ,Weihungʻ (Þōr wīgi þik),²⁰ nicht zuletzt hört man sogar von ,heiligenʻ Schweinen und ,heiligemʻ Heu in der altnordischen Rechtssprache. Das germ. *hailagaz („heilig“) bezeichnet also zunächst einmal, durchaus unentschieden, eine konkrete Unantastbarkeit, Unverletzlichkeit, auch wenn immer mehr die religiös gegründete Unantastbarkeit gemeint ist.²¹ Das christliche ,Weihenʻ referiert (nahezu) ausschließlich auf den positiv konnotierten Sprechakt des ,benedicereʻ, den sakralen Akt der Segnung, die positive Sonderung, eine Aufladung mit Heil und Heiligkeit. Die pagane Verwendungspraxis ist auch und gerade apotropäisch, gleichermaßen eine Sonderung, wenn auch der Fokus des rituellen Handelns damit eher auf die Bannung negativer, schädlicher Mächte gerichtet ist.²² Weihung ist die symbolische, abstrakte, ,gedachteʻ Grenzziehung, Entzweiung, Absonderung.²³ Es ist das prototypische Handeln des ,Trennersʻ, auch des kosmischen, der zerschlägt, entzweit, auseinanderstemmt, was nicht (mehr) zusammengehören soll und darf. Dieser Handlungsablauf bedeutet bzw. bewirkt gleichzeitig das Schließen, das Heilmachen und -halten, die Bestätigung der Grenze. Kein anderer als Thor, der wigiþonar, kann an Balders Begräbnis diese Funktion übernehmen.
13.2 Hyrrokkin Für die Schilderung der Bestattung Balders verwendet Snorri bekanntlich das Gedicht Húsdrápa des Skalden Úlfr Uggason, eine poetische Umsetzung dreier Bildszenen aus der Festhalle des Isländers Ólafr pá. Neben der bereits erwähnten Angelung der Midgard-Schlange und dem Urkampf Heimdallrs und Lokis erscheint als drittes der großartige Leichenzug Balders festgehalten. Es lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob Snorri mehr über diese Darstellungen wusste, was er an Informationen dem
Vgl. Naumann 2014. Vgl. Von See 1999a, S. 111. Siehe auch von See 1999a, S. 114: „Es ist ja eine bekannte Tatsache der Semasiologie, daß ein Wort, das immer wieder in occasionellen Verbindungen mit Wörtern eines bestimmten Bedeutungsbereichs verwendet wird, sich allmählich mit semantischen Elementen dieses Bereichs sozusagen auflädt.“ Ganz ähnlich verhalte es sich etwa mit dem Wort „fromm“, das zunächst die vollkommen neutrale Bedeutung „tüchtig, rechtschaffen“ besessen habe und erst nach und nach eine spezifisch religiöse Bedeutungsverengung erfahren habe. Siehe Marold 1974, S. 204: „Wenn wir uns dann vor Augen halten, daß man sich grundsätzlich zwei Aspekte der Weihe denken kann – 1) den Göttern anheimgegeben, und damit der Verfügbarkeit der Menschen entziehen (sacrificare), 2) mit Heil oder magischen Eigenschaften erfüllen (benedicere) –, können wir vermuten, daß […] das germanische *wihjan beide Bedeutungsnuancen decken konnte […].“ Dazu passt auch die vermutete Etymologie, vgl. Maier 1999, S. 165: „Dem dt. Adj. ,heiligʻ entsprach im Germ. zum einen *wīhaz, zum anderen *hailagaz […]. Etym. gehört germ. *wīhaz wohl zu idg. *ṷeikin aind. vinákti ,siebt, sichtet, sondert, trenntʻ, weniger wahrscheinlich zu lat. vinciō mit einer Bedeutung, (relig.) gebunden, gefesseltʻ […].“
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uns unbekannten Rest des Gedichtes entnommen hat und was er selbst aus eigenem Kenntnisstand, mündlicher Überlieferung, vielleicht sogar aus eigener, persönlicher Anschauung hinzugefügt hat. Sicher ist, dass die Húsdrápa ein rares Stück noch rein paganer mythologischer Dichtkunst ist. Freilich beschreibt Úlfr eine statische Szene, eine Bildkomposition: der Zug der Götter zu Balders Begräbnis, zu seinem Scheiterhaufen.²⁴ Nicht geht es um die Umstände und die Ereignisse, nicht um die Beweggründe und Handlungen, die dazu geführt haben und die folgen werden, nicht um die merkwürdige Zusammensetzung der Teilnehmerzahl,²⁵ ausgerechnet Berg- und Reifriesen erscheinen, die erklärten Feinde der Asen, nicht um die merkwürdigen Attribute der Vanengötter – alles eingefroren zu lediglich einer Momentaufnahme, „snapshots of different mythological beings“.²⁶ Woher kommen aber alle diese Informationen? Offenbar nicht aus der Skaldendichtung: „This story does not seem to have captured the imagination of many skalds, but Úlfr’s poem confirms that the myth was in circulation in late tenth-century Iceland.“²⁷ Meiden die Skalden etwa den Mythos? Auch stellt sich die Frage nach den Vorbildern der Bildgestalter selbst. Man muss wohl davon ausgehen, dass Dichter wie Bildhauer aus dem gleichen kulturellen Wissenspool schöpften, von großen interpretatorischen Missverständnissen oder Diskrepanzen werden wir hier nicht ausgehen
Siehe die Strophen 9 – 11: Ríðr á bǫrg til borgar / bǫðfróðr sonar Óðins / Freyr ok fólkum stýrir / fyrst ok gulli byrstum (Húsdr 8). („Rides in first place, and on a boar with bristles of gold, / Battle-wise Freyr to the fortress of Óðinn’s son and he guides the people“). Kostigr ríðr at kesti kynfróðs þeim er goð hlóðu / hrafnfreistaðar hesti Heimdallr at mǫg fallinn (Húsdr 9). („Heimdallr rides splendid on his horse to the pyre which the gods / Have loaded for the fallen son of the strangely-wise tester of ravens“). Ríðr at vilgi víðu víðfrægr (en mér líða) / Hropta-týr (of hvapta hróðrmál) sonar báli. / Þar hykk sigrunni svinnum sylgs valkyrjur fylgja / heilags tafns ok hrafna. Hlaut innan svá minnum (Húsdr 10). („Rides to his son’s exceedingly wide bonfire (while words of glory / Flow over my jaws) the god of Secrets widely renowned. / There I think come valkyries and ravens following the wise-at-swallowing victory-tree / To the holy sacrifice. He got it from Norway with images like this“). Fullǫflug lét fjalla fram haf-Sleipni þramma / Hildr, en Hropts of gildar hjálmelda mar feldu (Húsdr. 11). („The fully-endowed mountain-Hildr made the ocean-Sleipnir / Trundle forwards while Óðinn’s helmet-fire empowerers felled her steed.“) (Übers. North et al. 2011, S. 586). Siehe dazu Snorris Schilderung: En at ϸessi brennu sótti margs konar ϸjóð: fyrst at segja frá Óðni, at með honum fór Frigg ok valkyrjur ok hrafnar hans, en Freyr ók í kerru með gelti ϸeim er Gullinbursti heitir eða Slíðrugtanni. En Heimdallr reið hesti ϸeim er Gulltoppr heitir, en Freyja kǫttum sínum. Þar kømr ok mikit fólk hrímϸursa ok bergrisar. Óðinn lagði á bálit gullhring ϸann er Draupnir heitir. Honum fylgði síðan sú náttúra at hina níundu hverja nótt drupu af honum átta gullhringar jafnhǫfgir. Hestr Baldrs var leiddr á bálit með ǫllu reiði (Gylf 49). („Zu dieser Feuerbestattung kam Volk aus vielen Geschlechtern: Zuerst ist von Odin zu erzählen, daß mit ihm Frigg kam und Walküren wie seine Raben. Freyr kam in seinem Wagen mit dem Eber, der Gullinborsti oder Slidrugtanni heißt. Heimdall ritt auf dem Pferd namens Gulltop, und Freyja fuhr mit ihrem Katzengespann. Dorthin kamen auch viele Reif- und Bergriesen. Odin legte den Goldring auf den Stapel, der Draupnir heißt. Der besaß die Eigenschaft, daß jede neunte Nacht acht gleichschwere Goldringe von ihm tropften. Balders Pferd wurde mit seinem ganzen Zaumzeug auf den Holzstapel geführt“). Abram 2011, S. 185. Abram 2011, S. 184 f.
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müssen. Aber wie steht es um Snorri? Was konnte bei ihm als (noch) bekannt vorausgesetzt werden, was musste er neu motivieren, gar dazu erfinden? In der Tat kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass hier Motive aneinander gereiht werden, die „episch sinnlos scheinen“,²⁸ noch weitere Ungereimtheiten werden folgen, und so vermutet Höfler, dass wohl nicht einmal Snorri selbst sie verstanden habe, sie teilweise als unerklärte blinde Motive habe stehen lassen müssen oder aber eine für ihn, seine Zeit, plausible Erklärung versucht habe.²⁹ Snorri benutzt die Húsdrápa unzweifelhaft als eine seiner Hauptquellen, gut erkennbar als vermeintlich unorganischer Einschub, als Unterbrechung seines ansonsten klar verlaufenden Erzählflusses. Aber warum gibt Snorri der Riesin den Namen Hyrrokkin? Úlfr kennt sie nur als eine „Hild der Berge“,³⁰ und weitere Unstimmigkeiten folgen: Nur Snorri beschreibt Hyrrokkins Reittier als gigantischen Wolf. Hat der Dichter Úlfr das nicht auch gesehen? Freyja soll in einem Katzengespann an der Prozession teilgenommen haben, indes etwas komplett Unbekanntes im nordischen Raum, Freyr ebenso im Wagen, was mehrmals von ihm berichtet wird, allerdings von einem Eber gezogen, wovon die Quellen sonst nichts wissen. Úlfr schreibt indes, er sei auf seinem Eber geritten, aber auch das keinesfalls ein gewöhnliches Bild: das Reiten auf einem Tier, das kein Pferd war – Hexen und Trolle taten dies. Fast macht es den Eindruck, als wolle Snorri diese merkwürdig negativen Assoziationen zweier vanischer Hauptgötter etwas entschärfen. Nun hat die Gestalt der Hyrrokkin, die Snorri mit jenem monströsen Reittier ausrüstet, bekannte bildliche Parallelen (siehe Hunnestad Monument DR 284). An dieser Stelle soll eine weitere literarische, eine eddische Quelle als Vorlage plausibel gemacht werden. Mit Begräbnisriten, überhaupt mit einem wie auch immer gearteten sepulkralen Hintergrund ist diese freilich noch nicht in Verbindung gebracht worden, sie wird gemeinhin genealogisch genannt, mit manchen skurrilen, nicht recht verständlichen Einzelheiten, einer obskuren Rahmenhandlung, gar schon als Werk eines „verständnislosen ,Pfuscher[s]“³¹ verschrien: Gemeint ist das Hyndlalied (Hyndluljóð). Erst spät in der Flateyjarbók des 14. Jhs. überliefert, scheint es vordergründig in der Rahmenhandlung um einen Rechtsstreit, um Erbstreitigkeiten zu gehen zwischen einem Protégé Freyjas, Óttarr heimski (üblicherweise mit „Unwissender“ oder „Törichter“ übersetzt) und dessen Widersacher Angantýr. Er braucht dafür genealogisches Wissen, um das allerdings nur die Riesin Hyndla weiß. Warum er dafür ausgerechnet in ein Schwein verwandelt werden muss, in den Eber Hildisvíni, den wiederum Freyja ihrerseits als Reittier benutzt, um zur Riesin in ihre Höhle zu gelangen (und wieder zurück), wird nicht klar. Genauso wenig wie die Wut der Riesin, die, nachdem sie ausführlich Auskunft gegeben hat, ja mehr als nötig für einen gewöhnlichen Rechtsstreit, sich aus irgendeinem Grund betrogen fühlt und den not
Höfler 1951, S. 344. Vgl. Höfler 1951, S. 344. Vgl. Höfler 1951, S. 351. Boer 1906, S. 253. Siehe Cöllen 2015, S. 179.
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wendigen Gedächtnistrank, das minnisǫl, zumindest in dieser Form verweigern möchte. Die darauffolgenden bösen Beschimpfungen gleichen denen der Lokasenna,³² aber noch mehr der Schlussszene in Baldrs draumar, hier wie da als absoluter Kommunikationsabbruch kodiert, der inhaltlich nicht motiviert, sondern mutmaßlich ausschließlich rituell funktionalisiert ist. Der mühsam gezimmerte Erzählrahmen vermag jedenfalls kaum Erklärungen für die vielen Widersprüchlichkeiten zu liefern: Was sollte ein Rechtsstreit mit Ragnarǫk zu tun haben, dem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang, der so eindeutig von Freyja gleich zu Beginn des Aufeinandertreffens bezeichnet wird (nú er rǫcr rǫcra)?³³ Warum müssen sich Göttin und Riesin auf den „Walweg“ (í valsinni) begeben, den Weg der gefallenen Krieger reiten, also in eine jenseitige Welt? McKinnell verweist mit einigem Recht auf diesen merkwürdigen Umstand, schließlich sei doch der Schützling Óttarr im Rahmen eines Rechtsstreits wohl als „a living man“ zu betrachten. Ebenso sei von Anfang an nicht recht nachvollziehbar, wie Freyja („deceitful, lustful, foolish“) Ehre und Renommee, ja, juristische Glaubwürdigkeit hier auf irgendeine Weise fördern könnte.³⁴ Nicht weniger seltsam sei das Beharren Freyjas der Riesin gegenüber (auch wenn diese längst über die eigentliche Identität Bescheid wisse), dass der menschliche Óttarr ein Schwein sei. McKinnell sieht in diesem für ihn ohne Zweifel sexuellen Verhältnis zwischen Göttin und menschlichem Verehrer starke Parallelen zur Verehrung der Þorgerðr Hǫlgabrúðr (insbesondere mit ihrem letzten großen Verehrer Jarl Hákon). Auch diese Verbindung werde mit stark sexualisierten, erotischen Untertönen dargestellt.³⁵ Der Schluss bleibt offen, Feuer wird gelegt, aber ob von Hyndla gegen Freyja oder geradewegs umgekehrt, wird nicht recht klar, wessen Leben bedroht ist, wer am Wegkommen gehindert werden soll und vor allen Dingen wo. Denn wohin hat sie überhaupt der Ritt ‚auf dem Walwegʻ geführt?³⁶ Nicht einmal auf „a simple‚ happy endingʻ“ für Óttarr, das Schwein, mag McKinnell hoffen³⁷: Hyndla behauptet schließlich, dass Óttarr giftiges,
Vgl. Lex.Simek 2006, „Hyndluljóð“, S. 214. ‚Vaki, mær meyia, vaki, mín vina, / Hyndla systir, er í helli býr! / nú er rǫcr rǫcra, ríða við scolom / til Valhallar oc til vés heilagsʻ (Hdl 1). („Erwach, Mädchen der Mädchen, erwach, meine Freundin, / Schwester Hyndla, die in einer Höhle wohnt! / Nun ist die Dunkelheit der Dunkelheiten, reiten müssen wir / nach Walhall und zur heiligen Stätte“). Vgl. McKinnell 2014d, S. 274. Vgl. McKinnell 2014d, S. 274. ‚Ec slæ eldi of íviðio, / svá at þú eigi kemz á burt heðanʻ (Hdl 48). („Ich schlag Feuer um die Waldbewohnerin, / damit du nicht fortkommst von hier“). ‚Hyr sé ec brenna, enn hauðr loga, / verða flestir fiorlausn þola; / ber þú Óttari biór at hendi, / eitri blandinn mioc, illo heili!ʻ (Hdl 49). („Feuer seh ich brennen, und die Erde lodern, / die meisten müssen Lebenslösung dulden; / bringt zu Ottarr das Bier, mit Gift sehr gemischt, zum Unheil!“). Siehe McKinnell 2014d, S. 278.
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tödliches Bier verabreicht würde. Aber nochmals greift Freyja beschwichtigend ein und versichert, ganz im Gegenteil werde Óttarr „treffliche Getränke“ trinken.³⁸ Nun teilt die Riesin Hyndla mit jener Hyrrokkin der Balderbestattung mehrere Gemeinsamkeiten: Auch Hyndla reitet einen Wolf und bezeichnenderweise fürchtet gerade sie um ihr „treffliches Pferd“ (vil ec ei mar minn mætan hloða), dass es „belastet“ werde und ihm wohl ein Leid zustoßen könne (Hdl 5), ja sie zögert überhaupt, Freyjas Aufforderung zu folgen, obwohl diese sie als ihre liebe „Freundin“ und „Schwester“ (mær meyia, mín vina, Hyndla systir) anspricht und ihr ausdrücklich zusichert, sie werde bei Odin um „guten Sinn“ (í hugom sitia), also um Wohlwollen ihr gegenüber bitten. Sie wolle versuchen, Thor für sich einzunehmen und Treue (über einen möglicherweise geschlossenen Eid) einfordern (Hdl 4).³⁹ Und wie berechtigt solche Vorsichtsmaßnahmen sind, sehen wir schließlich gerade am Beispiel der Hyrrokkin. Dann aber machen sie sich doch auf den Weg und Hyndla beginnt mit ihrer genealogischen Wissensschau. Aber was hier geschieht, ist wohl kein Initiationsritual, auch kein Inthronisationsritual, wie manches Mal vermutet, das ist die Vorgeschichte, die Literarisierung und Mythologisierung eines Begräbnisritus: Óttars Begräbnis. Verhandlungen, die komplett aus dem Ruder laufen, in Todesandrohungen enden, ein ,Rechtsstreitʻ in der äußeren Form, im hochritualisierten Handeln ebenso in der Abgegrenztheit, der ,Heiligkeitʻ des Ortes Balders casus ähnlich, und auch hier scheint bereits längst entschieden, wenn auch von Freyja in eigensinniger Umständlichkeit verheimlicht: Ihr Schützling, das Schwein, befindet sich auf dem Helweg – er ist tot. Es gehört zu den üblichen tabuisierenden Strategien im Begräbniskontext, den Toten in gutem Glauben zu lassen, nichts habe sich den Lebenden gegenüber geändert, selbstverständlich gehört er noch in diese Welt, Óttarr heimski.⁴⁰ Und selbstverständlich muss Freyja entsprechend die versuchten Enthüllungen der Riesin abwehren. Er ist ein goldglänzender Eber, nichts anderes – warum nur ist er ausgerechnet von den Zwergen Dáinn („the Dead“) und Nabbi („Mound“) geschaffen?⁴¹ McKinnell hält das für eine implizite Warnung Hyndlas an Óttarr, „that she [Freyja, d. Verf.] will claim him, when he is slain.“⁴² Tatsächlich aber ist er das wohl bereits. Óttarr befindet sich in seinem tödlichen, rituell unterstützten Übergangssta-
‚Orðheill þín scal engo ráða, / þóttu, brúðr iotuns, bǫlvi heitir; / hann scal drecca dýrar veigar, / bið ec Óttari ǫll goð dugaʻ (Hdl 50). („Deine Verwünschung wird nichts bewirken, / auch wenn du, Braut des Riesen, Schaden verheißt; / er wird trinken treffliche Getränke, ich bitt alle Götter, Ottarr zu helfen“). Þór mun hon blóta, þess mun hon biðia, / at hann æ við þic einart láti; / þó er honom ótítt við iotuns (Hdl 4). („Dem Thor wird sie opfern, das wird sie erbitten, / dass er sich stets gegen dich treu verhalte; / obwohl er unfreundlich ist gegen die Bräute des Riesen“). So könnte das Attribut auch in diesem eher neutralen Sinn verstanden werden, „heimisch“, „von dieser Welt“, ganz ohne den zweifellos im Altnordischen vorhandenen abfälligen Nebensinn – oder aber, im Grunde noch wahrscheinlicher, von der Riesin in bewusster Zweideutigkeit offengelassen. Nicht zuletzt trägt ja der Ahnengott Freyr ein auffallend ähnliches Attribut: veraldar goð, „Gott dieser Welt“ (Yngl., Kap. 13). Vgl. McKinnell 2014d, S. 275. Vgl. McKinnell 2014d, S. 275.
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13 Rituelles Handeln: Der Leichenbrand
dium. Jener merkwürdige „Erinnerungstrunk“, minnisǫl, ist doch nichts anderes als das erfiǫl, das erfi, „eine mit Essen bzw. Trinken verbundene Zusammenkunft zu Ehren eines Verstorbenen“.⁴³ Eitri blandinn mioc, illo heili (Hdl 49), Todesgetränk bleibt es doch, Balderus buchstäblichem Schlangenfraß gleich. Und auch das spricht Hyndla offen aus. Das erfiǫl ist eine rituelle Maßnahme, die unhintergehbare Voraussetzung für den Erbnehmer, sein Erbe antreten zu können, ein rechtlich legitimierender Akt. Die Besitzstände und Eigentumsrechte, die hier verhandelt werden, der vorgebliche ,Rechtsstreitʻ ist doch nicht der eines Lebenden, es geht vielmehr um Erbe und Nachfolgerschaft eines Toten. Und im Austausch dafür erhält Óttarr den Gedächtnistrunk, minnisǫl. Auch McKinnell verweist auf diese „more sinister meaning of the word“, es könne doch gerade auch verstanden werden „as a toast drunk to the dead.“⁴⁴ Freilich möchte er in seiner Interpretation kaum weiter gehen: Óttarr will successfully assert his rights, but in due course Hyndla’s course will have its effect, and he will become actually Freyja’s ver… í valsinni (st. 7,3 – 4) ,lover on the road of the slainʻ. He is a ,sacred fool‘, at the mercy of powers he can influence but not control.⁴⁵
Óttarr müsse eben für spezielle Gefallen, die er von der Göttin erhalten habe, bezahlen, sexuelle Erfüllung und die Zeugung von Erben sei letztendlich nichts anderes als der „prologue to one’s own mortality“. Die Quintessenz des Liedes sei entsprechend die (männliche) Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit „and cooperate with the female principle in making the best of it.“⁴⁶ Man wird an dieser Stelle indes weit mehr dahinter vermuten müssen.
13.3 Von Schweinen und Hunden In ihrem ganzen Habitus und Verhalten gleicht die Riesin Hyndla der toten Vǫlva, aus ihrem Todesschlaf geweckt, genauso unwillig zur Kontaktaufnahme und Kommunikation mit den Lebenden. Freyja, die liminale Vanen-Göttin, unerbittliche Todesgöttin wie exzessive Sexgöttin, steht ihr in diesen Extremen zweifellos am nächsten, es war wohl auch sie, die für Balders notwendigen Übergang zu ihrer ,Freundinʻ gesandt wurde und so den Göttern deren unverzichtbare Unterstützung sicherte. Und so wie Freyja ihr im Vorfeld Friedenszusicherungen leistet, war dies ja offenbar auch für Hyrrokkin geschehen. Schließlich scheint auch das Ensemble der Hauptpersonen in Snorris Beschreibung mit denen des Hyndlalieds übereinzustimmen: Freyja, Hyrrokkin/Hyndla, Odin, Thor. Freyr scheint zu fehlen, aber er reitet vorneweg auf einem Schwein, seinem
Beck 1989, S. 428. McKinnell 2014d, S. 277. McKinnell 2014d, S. 278. McKinnell 2014d, S. 279.
13.3 Von Schweinen und Hunden
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Schwein Gullinborsti, auf nämliche Weise wie Freyja im Hyndluljǫð Óttarr/Hildisvíni reitet. Das tief pejorative, demütigende Evokationspotenzial dieses Bildes, das Schwein als Reittier, als ebenso obszönes wie „skatologisches Schandbild“,⁴⁷ ist das ganze Mittelalter hindurch gut bekannt.⁴⁸ Aber die Verbindung der Vanengötter zum Schwein ist alt und hat darin nicht ihren Ursprung. Bereits die Dema-Götter, die vergöttlichten Ahnen der neolithischen Pflanzerkulturen, erscheinen nicht nur verkörpert als Kulturpflanze, sondern ebenso in Schweinegestalt. Bei den Kiwai (Neuguinea) wird das große Totenhaus selbst mit einem Schwein identifiziert, an dessen Eingang wird der Oberkiefer und der Unterkiefer eines Wildschweines angebracht, so dass das Maul des Schweines zur Pforte in die (rituelle) Totenwelt wird.⁴⁹ Wohl die berühmteste Zauberin und Nekromantin der homerischen Odyssee ist Kirke, und tatsächlich dürfte es auch hier kein Zufall sein, dass sie Odysseus Gefährten ausgerechnet in Schweine verwandelt. Sie werden in den συφειός „Schweinestall“ oder κευθμών „Schlupfwinkel, Loch, Kofen der Schweine“ (Od. 10, 283) gesperrt, was mehrmals ausdrücklich hervorgehoben wird, ihren menschlichen Verstand und Wahrnehmungsgabe behalten sie allerdings: Und sie setzte die Männer auf prächtige Sessel und Throne, / Mengte geriebenen Käse mit Mehl und gelblichem Honig / Unter pramnischen Wein, und mischte betörende Säfte / In das Gericht, damit sie der Heimat gänzlich vergäßen. / Als sie dieses empfangen und ausgeleeret, da rührte / Kirke sie mit der Rute, und sperrte sie dann in die Köfen. / Denn sie hatten von Schweinen die Köpfe, Stimmen und Leiber, / Auch die Borsten; allein ihr Verstand blieb völlig, wie vormals (Od. 10, 233 – 4).
Der Hinweis auf den Gedächtnisverlust durch die Aufnahme verzauberter Nahrung bleibt an dieser Stelle ein blindes Motiv.⁵⁰ Die Gefährten, obwohl nun in Gestalt von Schweinen, verlieren ja keineswegs ihr Gedächtnis. Es ist indes gut bekanntes Element von Jenseitstypologien (auch dem Schwein Óttarr droht Gedächtnisverlust!). Und schöner, jünger und klüger als zuvor erscheinen sie schließlich nach ihrer Rückverwandlung (Od. 10, 395 – 96),⁵¹ was wiederum wohl das spezifischste Charakteristikum
Rohrbacher und Schmidt 1991, S. 161. Es gehört zu den Standardelementen antijüdischer Diffamie. Bis in die Chorgestühle und Wandfriese mittelalterlicher Kirchen finden Darstellungen „eines Schweins, an dem sich die Juden zu schaffen machen“ (Rohrbacher und Schmidt 1991, S. 157) ihren Weg, bizarre Mischwesen zwischen Schwein und Mensch, aber auch Juden, die das Schwein als Reittier nutzen (vgl. Rohrbacher und Schmidt 1991, S. 161– 63). Vgl. Jensen 1966, S. 40. Vgl. Gill 2016, S. 9. „Sie ging, in der Hand die magische Rute, / Aus dem Gemach, und öffnete schnell die Türe des Kofens, / Und trieb jene heraus, in Gestalt neunjähriger Eber. / Alle stellten sich jetzt vor die mächtige Kirke, und diese / Ging umher, und bestrich jedweden mit heilendem Safte. / Siehe da sanken herab von den Gliedern die scheußlichen Borsten / Jenes vergifteten Tranks, den ihnen die Zauberin eingab. / Männer wurden sie schnell, und jüngere Männer, denn vormals, / Auch weit schönerer Bildung und weit erhabneres Wuchses“ (Od. 10, 387– 396).
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13 Rituelles Handeln: Der Leichenbrand
einer Totenerweckung ist: Kirke bestreicht die Schweine-Gefährten mit einer „Salbe“ oder „Saft“ (φάρμακον), aber dieses Heilverfahren kommt nicht nur Lebenden zugute, sondern auf gleiche Weise auch dem Leichnam, etwa im Bestattungskontext, um die Verwesung zu verhindern (siehe etwa die Einbalsamierung des toten Patroklos durch Thetis). Nun hat die Kirke-Episode der Odyssee in der Homerforschung ihrerseits durchaus nicht geringe Probleme bereitet. Ein Jahr verbringt Odysseus mit seinen (nunmehr rückverwandelten) Gefährten bei der Zauberin in paradiesischen Verhältnissen, ums leibliche Wohlergehen ist in jeder Hinsicht gesorgt, unterbrochen indes durch eine Jenseitsfahrt, die berühmte Nekyja. Freilich will die Reise zu den Toten gerade an dieser Stelle nicht recht motiviert erscheinen. Der vorgebliche Zweck der Hadesfahrt, die Informationen, die Odysseus und seine Kameraden vom blinden Teiresias in Erfahrung bringen sollen und für die Heimfahrt benötigen, scheint ja ebenso ein blindes Motiv, beim Treffen in der Unterwelt keine Rede davon, erst nach ihrer Rückkehr stellt Kirke dieses Wissen selbst zur Verfügung, was schon früh als empfindlicher Bruch in der Erzähllogik bemerkt wurde.⁵² Aber noch viele weitere Ungereimtheiten zeigen sich, so dass die Homer-Forschung insgesamt davon ausgeht, dass für die Kirke-Erzählung ganz offenbar ein „vorbildhaftes Muster“⁵³ existiert habe, das, nicht einmal besonders geschickt, hier verarbeitet worden sei. Ein „schematische[s] Strukturplagiat“⁵⁴ nennt es Götz Beck unmissverständlich. Für die Ausgestaltung der Kirke selbst sei ganz offenbar die Nymphe Kalypso Vorbild gewesen, „wenig passend übertragen“, „mit neuen, ihrem ursprünglichen Wesen fremden Zügen ausgestattet“.⁵⁵ In der Verzauberung (wie Entzauberung) der Schweinegefährten mochte man entsprechend kaum mehr sehen als ein „altes Märchenmotiv“.⁵⁶ So oder so aber war die Rolle des Odysseus und seiner Gefährten darin wohl nicht die ursprüngliche.⁵⁷ Am auffallendsten und gleichermaßen irritierendsten freilich erscheint das ununterbrochene Klagen und Weinen der Griechen an diesem Ort. Es herrsche eine „tödliche Nieder-
Vgl. Beck 1965, S. 22. Beck 1965, S. 1. Beck 1965, S. 14. Groeger 1900, S. 235. Groeger 1900, S. 229. Siehe dazu aber die schöne Untersuchung von Christian Zgoll (Zgoll 2020). Hier wird Kirkes vorgebliche Hexenhaftigkeit, die Märchenhaftigkeit des Stoffes mit Recht endgültig zurückgewiesen (vgl. Zgoll 2020, S. 392– 396). So sieht auch Zgoll ein ganz grundsätzliches Problem darin, „dass das Gros der Quellen, die unsere Auffassung von dem, was märchenhaft ist, wesentlich prägen, nicht vor, sondern nach der Entstehungszeit der Odyssee datiert“ (Zgoll 2020, S. 395). Tatsächlich dürfte ein Interpretationsansatz, der ein erst im Laufe des 19. Jahrhunderts konventionalisiertes Symbolinventar (die ‚Hexe‘ des europäischen romantischen Großbürgertums) in toto (!) auf Jahrtausende frühere Überlieferungen überträgt, von vorneherein anachronistisch und damit hinfällig sein. Vgl. Groeger 1900, S. 236.
13.3 Von Schweinen und Hunden
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geschlagenheit“,⁵⁸ so Beck, die in nichts zu den Umständen passe, ja überhaupt unvergleichlich sei in der Odyssee: Nun muß doch aber jeder Unvoreingenommene fragen, warum der meiste Jammer in der Odyssee gerade auf κ konzentriert werde, wo die Leiden der Irrfahrt für ein ganzes Jahr friedlichen Glücks und Genusses unterbrochen werden und aller anfängliche Harm sich so schnell auflöste?⁵⁹
Selbst dann werde ununterbrochen geweint, wenn die Stimmung entsprechend der Erzähllogik, eigentlich das Gegenteil erfordern würde: „Aber nein: Man weint, daß das Haus dröhnt.“⁶⁰ „Langweilig“ sei der permanente Jammer,⁶¹ der „larmoyante[ ] Ton“, „häufig bis an die Grenze des Komischen“.⁶² Aber Beck gibt dafür eine ebenso überraschende wie ansprechende Erklärung: Die ganze Kirke-Episode stelle sich als ein „Imitat“ der Ἕκτορος λύτρα („Hektors Lösung“) der Ilias (Il. 24) dar. Weniger in direkten sprachlichen Übernahmen, aber im ganzen Aufbau und Struktur entspreche die Rolle des Odysseus „in jeder Hinsicht“ der des alten Priamos im feindlichen Lager des Achill. Dieser hatte bekanntlich einen ebenso schweren wie gefährlichen Gang dorthin zu tun, für die unumgänglich notwendigen Begräbniszeremonien musste er versuchen, den Leichnam seines Sohnes Hektor auszulösen. Zahlreiche (motivliche wie formale) Übereinstimmungen kann Beck nachweisen und so die Nachahmung gut plausibel machen. In beiden Szenerien spielt der verkleidete Hermes eine wichtige Rolle als Wegbegleiter wie -bereiter, nur unter dem Schutz dieses Gottes bleibt Priamos überhaupt am Leben und fällt nicht sogleich der ‚unbändigen Wutʻ des Achill zum Opfer (für Odysseus erfüllt bekanntlich das Zauberkraut Moly, von Hermes zur Verfügung gestellt, diese Schutzfunktion. Das Kraut verhindert die Verwandlung). Und so wie Priamos zum Essen genötigt wird von einem nunmehr versöhnlichen, ja nachgerade empathischen Achill, so auch Odysseus von Kirke. Beide wehren indes ungeduldig ab, wie könnten sie dies im Angesicht des Schicksals ihrer Freunde bzw. Sohnes. Merkwürdig genug, erscheinen diese dadurch gleichgestellt: der rituell unbehandelte Leichnam des Hektor und die schweinegestaltigen Gefährten. Achill lässt sich also bewegen, die ersten rituellen Maßnahmen für den Verstorbenen (etwa die Leichenwäsche) zuzulassen, und um nicht weiteren Ärger heraufzubeschwören, aber auch weil der König vorerst beruhigt ist, lässt er sich mit Achill zum Mahl nieder und übernachtet sogar im feindlichen Lager. Der Grund seiner Anwesenheit ist jedenfalls klar, es geht, nach der „eigentlichen Lösung des Hektor“, um die Begräbnisformalitäten. Und also werden ausgehandelt ein elftägiger Waffenstillstand, die Rückkehr(möglichkeit) des Priamos, das rituelle Klagen, die eigentliche Bestattung.⁶³
Beck 1965, S. 5. Beck 1965, S. 6. Beck 1965, S. 21. Vgl. Groeger 1900, S. 231. Beck 1965, S. 21. Vgl. Beck 1965, S. 18.
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Dieser Aufschub der Ereignisse findet in der Kirke-Erzählung seine Entsprechung: Wohl sind die Freunde nun gleichermaßen erlöst, es folgt aber eine einjährige Unterbrechung in Eintracht und Wohlleben. Und eben dafür sei gar keine vernünftige Erklärung zu finden, „man fragt sich vergebens, was denn der folgende Stillstand der Ereignisse, die auf ein Jahr befristete Suspendierung des weiteren Fortganges der Irrfahrten bedeuten solle,“⁶⁴ klar aber sei jedenfalls, so wie der Waffenstillstand, freilich in der Logik der nun folgenden Begräbnisvorbereitungen ganz und gar folgerichtig, mit Klagen und Tränen ausgefüllt gewesen sei, so sei es auch der „Irrfahrtenstillstand“, hier indes störend unpassend.⁶⁵ Der Sinn einer Bestattung sei die rituelle Unterstützung, „dem Toten zu ermöglichen, durch die Tore des Hades zu schreiten“,⁶⁶ aber ebenso werde Odysseus von Kirke dazu genötigt. Und wiederum führt diese Ankündigung „zu einem wahrhaft panikartigen Jammer.“⁶⁷ „Warum an dieser Stelle, danach haben schon die alten Kritiker gefragt, und man weiß bis heute darauf keine Antwort.“⁶⁸ Aber da eben die Hektor-Episode mit der Bestattung schließe, man aber Odysseus schlecht ebenso habe bestatten können, habe der Dichter der Odyssee eine Bestattungsmöglichkeit arrangieren müssen. Es ist der junge Elpenor, der einen tragisch-komischen Tod stirbt, in bizarrer Ähnlichkeit zum Tod des ersten Ynglingar-Fürsten Fjǫlnir: Betrunken auf dem Palastdach der Kirke eingeschlafen, erwacht er durch den Aufbruchslärm der Freunde und stürzt sich, desorientiert, zu Tode (vgl. Od. 10, 551– 60). Beck glaubt hier „Spuren von Parodie und Karikatur“⁶⁹ zu erkennen, aber wie könnte dazu die erstaunliche „Aufwertung“ passen, die eben jener Elpenor⁷⁰ im Anschluss erfährt? Merkwürdig sei immerhin „die Breite und Wichtigkeit“, mit der nunmehr dessen Bestattung, überhaupt die ganze Totenmemoria in Szene gesetzt werde.⁷¹ Schließlich kommt es zur κατάβασις, der Kontaktaufnahme und Austausch mit den Hadesbewohnern, von den meisten als größter Fremdkörper im Kirke-Szenario betrachtet, als dessen unorganischster Einschub. Aber auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen bei den Strukturvorgaben Beck 1965, S. 18. Vgl. Beck 1965, S. 18 f. Beck 1965, S. 22. Beck 1996, S. 22. Beck 1965, S. 22. Beck 1965, S. 24. Der Name Ἐλπήνορ wird üblicherweise als „sprechender Name“ betrachtet (vgl. Janda 2014, S. 418 f.). Das Zweitglied -ηνορ gehört wohl sicher zu ἀνήρ „Mann, Krieger“, das Erstglied wurde bis dato zur Wurzel *ἐλπι-, ἔλπομαι „hoffen“ gestellt. Die Vorschläge, die sich daraus ergeben haben, z. B. „auf den die Männer hoffen“ bzw. „der auf Manneskraft hofft“, möchte Janda indes nicht unterstützen. Auszugehen sei vielmehr vom aktiven Verb ἔλπω „meinen machen“, „wähnen machen“ und dem dazugehörigen Substantiv ἐλπίς „Wahrscheinlichkeit“, „Annahme“ (vgl. Janda 2014, S. 420). Die Wurzel *ṷelp- (indoir. *ṷarp‐) entspreche somit vedisch várpas- „Gestalt, Erscheinung, verstelltes, angenommenes Aussehen, Scheingestalt, List, Kunstgriff“ (vgl. Janda 2014, S. 423 f.). In Jandas Lesung ist Elpenor also einer, der „in den Männern […] eine Vorstellung erzeugt“ (Janda 2014, S. 427): Er ist der ‚Schattenmann‘, das Trugbild, der Totengeist. Vgl. Beck 1965, S. 24.
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des Vorbildes: Mit der Frage, die Beck diesbezüglich stellt, gibt er sich selbst bereits die Antwort: „Sollte Ω ebenfalls κατάβασις-Elemente enthalten, die auch hier gleichsam katalysatorisch wirken konnten?“⁷² In der Tat, der Auszug Priamos zu Achill ist ja seinerseits als endgültiger Weggang, als „Gang zum Tode“⁷³ konzipiert, begleitet von den untröstlichen Klagen der Daheimgebliebenen, der Lebenden (Il. 24, 327 f.). Auch wenn die Mission des Priamos auf der handlungspraktischen Ebene nur bedeutet, einen Leichnam für die Begräbnisfeierlichkeiten heimzuholen, so geht Priamos auf gleiche Weise einen symbolischen Gang⁷⁴: „[T]he Trojans bewail him [Priamos, d. Verf.] ‚as one going to his deathʻ, and from here on the journey takes a strange turn. It takes the form of the journey to the dead, motifs from the familiar folk tale entering one by one.“⁷⁵ Hermes nimmt ihn in Empfang am Jenseitsfluss Skamander/ Xanthos. Geschändet (und doch auf wunderbare Weise unversehrt dank des Zaubertuchs Aigis) liegt der Leichnam Hektors im Lager der Feinde, rituell unversorgt, „in one sense“,⁷⁶ unerlöst, aufgehalten in seiner Transformation befindet er sich damit aber auch im Land der Toten, besser einer Zwischenwelt. Es ist Achills Hofstatt, die explizit auf diese Weise erscheint ‒ als eine Totenstadt: „[F]or Hector lies in the camp in one sense, but he also lies in the land of the dead, and so does Achilles. Hence a double image evolves; the Scamander, which they must cross, becomes the river of folk tale between the living and dead, and the heavily barred doors of Achilles’ courtyard, of which no mention has ever previously been made, doubtless arise from the forbidding triple walls of the city of the dead. So too, the beautiful god-like master of that walled court then fills the role of the king of the dead, an image which is again applied to him in the Underworld scene of the Odyssey.“⁷⁷
Bereits hier erscheint also Achill als der Bewohner und Herrscher über eine Jenseitswelt, eine Rolle, die weiter konsequent ausgebaut wird, im Mittelalter wird sie seine einzige sein. In der Ilias wird ein funerales Ritualgeschehen beschrieben, die notwendigen Erfordernisse, symbolisch wie handlungspraktisch miteingewoben, die Referenz auf einen mythischen Übergang wohl allerorten spürbar, aber niemals narrativ explizit gemacht. Fernad Robert könnte sich noch eine dritte Ebene vorstellen, die in der ‚Lösung Hektorsʻ wirksam wird, die des rituellen Sprechakts: „N’aurait-on pas, à
Beck 1965, S. 28. Beck 1965, S. 29. Vgl. Beck 1965, S. 28. Whitman 1958, S. 217 f. „Hermes, the escort, does not appear at once; Priam and his herald meet him in the darkness by the tomb of Ilus, a sort of terminus between the two worlds. After a cryptic conversation, in which Hermes reveals more knowledge than a stranger should have, Hermes agrees to be their guide, and boasts that they could have no better one. But he is also the Guide of the Dead, Necropompus.“ Whitman 1958, S. 217. Whitman 1958, S. 217 f.
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l’entour du tombeau d’Hector, raconté en poèmes rituels quelque descente de Priam aux Enfers pour racheter son fils par une négotiation avec le roi des ombres?“,⁷⁸ ein Leichenlied, das die sepulkrale Praxis begleitete und kommentierte. Die Kirke-Episode wird auf gleiche Weise verstanden werden müssen. Auf narrativer Ebene in nichts ähnlich der Hektor-Bestattung, Schauplatz wie Akteure andere, und doch dient sie als Schablone, hier expressis verbis mit einer ‚richtigenʻ Jenseitsfahrt (nicht immer ganz geschickt) in Verbindung gebracht wie mit einer ‚richtigenʻ Bestattung, gleichermaßen flüchtig eingeführt, wie es scheint, aber als Referenzpunkt offenbar notwendig. Damit verdichten sich aber die Hinweise, dass auch Odysseus die Fahrt zu den Toten womöglich niemals in einem realen Raum vorgenommen hat, „at one level, never actually left Circe’s island during it.“⁷⁹ Kirke agiere wohl durchgehend als „guiding expert“,⁸⁰ „[s]he tells Odysseus he must consult Tiresias by necromancy, gives him detailed instructions as to how to perform the rite,“⁸¹ nach seiner ‚Rückkehr‘ sei sie indes bereits bestens informiert über die Worte des Toten, was eine irgendwie geartete Anwesenheit der Kirke bei diesem Treffen voraussetze.⁸² Christian Zgoll verweist auf weitere, vordergründig rein narrative Elemente, die er als ursprüngliche Kultelemente, Elemente rituellen Handelns lesen möchte. Und diese träten gerade nicht lediglich „in einzelnen, verstreuten Hinweisen“ hervor, vielmehr sei darin eine tiefer liegende, strukturelle Vorgabe zu sehen, die die Kirke-Episode auf besondere Weise mit der Nekyia, der Jenseitsfahrt, verbinde.⁸³ Entsprechend sei der „wichtige Bereich der religiösen Praxis“ nachgerade als „Klammer“ zu betrachten, „durch die die verarbeiteten mythischen Stoffe zusammengehalten und sogar eng aufeinander bezogen werden.“⁸⁴ Diese religiöse Praxis, als deren Spezialistin sich Kirke erweist, ist das Totenorakel, die Befragung der Toten.⁸⁵ Ogden mutmaßt gar, dass Kirke selbst Elpenors Tod verschuldet habe, um überhaupt Nekromantie betreiben zu können, zumal diese in der griechischen Literatur durchgehend mit dem Motiv der Bestattungspflicht verbunden sei.⁸⁶ Und tatsächlich erfährt Odysseus nach dem Erzählverlauf erst im Totenreich von Elpenors Unglück und wird dort vom dessen Totengeist auf die Pflicht zur ordnungsgemäßen Bestattung hingewiesen. Aber aus demselben Grund ist schließlich auch Priamos gezwungen, die Reise ins Totenreich, zu Achill anzutreten, ähnlich Odins Reise zur toten Vǫlva im Rahmen der Balder-Bestattung (siehe Baldrs draumar). Das heißt, im Vordergrund dieser nekromantischen Praxis steht die Pflicht der Lebenden, Informationen über den Willen der Toten in Erfahrung zu
Robert 1950, S. 202 f., zit. n. Beck 1965, S. 29. Ogden 2004, S. 140. Ogden 2004, S. 139. Ogden 2004, S. 140. Vgl. Ogden 2004, S. 140. Vgl. Zgoll 2020, S. 396. Zgoll 2020, S. 402. Vgl. Zgoll 2020, S. 403. Vgl. Ogden 2004, S. 140.
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bringen. Letztendlich aber setzen beide Kultpraktiken, Nekromantie wie Bestattung, den mythischen Wissensrahmen einer ‚Reise zu den Toten‘ voraus, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Entsprechend handle es sich also in der Odyssee, so Beck, nicht um lediglich gedankenlos übernommenes, traditionelles Klage-Versgut, das für den Zusammenhang im κ nur nicht so gut passen will.Vielmehr verfährt der Dichter überlegt, und man bekommt den Eindruck, als wolle er den γόος so viel wie möglich irgendwie in den Handlungsverlauf hineinzwängen […].“⁸⁷
Diese strukturellen Übereinstimmungen vermögen nachhaltig den Eindruck zu unterstützen, dass der Zustand des ‚Schweinseinsʻ mit dem Tod der Gefährten gleichgesetzt ist. Es ist der Beginn einer Transformation und erst deren Ende, die endgültige Verwandlung, macht die Reise in die Unterwelt möglich.⁸⁸ Die eigenartige Diskrepanz zwischen todbringendem und lebenspendendem Trank (ausdrücklich durch Kirkes φάρμακον οὐλόμενον, ihren „verderblichen, todbringenden Saft“, sind die Gefährten schließlich in diesen Zustand geraten) erscheint auch im Norden, eine ambivalente Wirkung, um die auch im Hyndlalied zäh verhandelt wird. Mochte also Kirke zu irgendeinem Zeitpunkt nur mehr als ‚Märchenhexeʻ verstanden worden sein, die heimtückisch mit Zaubertränken hantiert, hier ist ihre ursprüngliche Funktion der Seelengeleiterin, der Transformatorin noch erkennbar. Für die nordischen Schweine hat diese Konzeptionierung Konsequenzen in mehrerer Hinsicht. Im Norden tragen Schwein wie Freyr den gleichen (poetischen) Namen, vaningi „Abkömmling der Vanen“ („Vanr-born one“),⁸⁹ aber auf keine Weise zeigt sich das Schwein in der (religiösen) Weltsicht des Nordens als Fruchtbarkeitssymbol.⁹⁰ Wir haben bereits daraus geschlossen: Vanen wie Schweine sind Inkarnationen der Verstorbenen, der Ahnen. Freyjas Schweineaffinität ist entsprechend wohl weniger als Ausdruck ihres devianten Sexualverhaltens zu verstehen als vielmehr ihrer kirkegleichen Herrschaft über die Toten. Und wiederum darf auch im Norden in diesem enigmatischen Ensemble der Aufenthaltsort der Schweine, der svínabæli (der ausdrücklich auch Freyrs ist) nicht fehlen. Jarl Hákons buchstäblich ,letzte Ruhestätteʻ ist ein Schweinestall. Als abgerückter Ort der Traumschau scheint er noch auf in der Hálfdanar saga svarta (Kap. 71), als letzter Zipfel eines kaum mehr plausiblen, mythischen Wissenskonzepts einer Anderwelt, einer Totenwelt. Auch in nhd. Kofen (Koben) „Schweinestall“ (mhd. kobe < g. *kubōn „Gemach, Stall“), an. kofi „Hüte, Beck 1965, S. 21. Auch die Bibel kennt Schweine als Verweil- oder Bannungsort von (Toten)geistern. Im Neuen Testament (Mk 5, 1– 17; Lk 8, 26 – 37; Mt 8, 28 – 34) lässt der ,Magier‘ Jesus die Dämonen zweier Besessener (die ihrerseits in Grabhöhlen ,leben‘) in Schweine fahren: „Als Jesus an das andere Ufer kam, in das Gebiet von Gadara, liefen ihm aus den Grabhöhlen zwei Besessene entgegen. Sie waren so gefährlich, daß niemand den Weg benutzen konnte, der dort vorbeiführte.“ Gade und Marold 2017, S. 900. Vgl. Kovárová 2011, S. 211.
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Verschlag“ klingt diese eigenartige Doppeldeutigkeit noch an, vgl. griech. gýpē „unterirdische Wohnung“, aksl. župište „Grab“,⁹¹ natürlich der samländische Kaup, die ‚Totenstadtʻ der Wikinger. Und noch weitere Aufenthaltsorte von Schweinen (einschließlich deren Hüter oder Herr(inn)en) sind bezüglich ihrer Jenseits-Affinität einschlägig. Im griechischen Epos ist es nicht nur die Insel Αἶα, auf der sich Odysseus unversehens mit Schweinen, Schweineställen wie Schweinehirten konfrontiert sieht, noch eine weitere kaum weniger gefährliche Begegnung mit dem Schweinemetier steht ihm noch bevor. Zu guter Letzt glücklich auf seiner Heimatinsel Ithaka angekommen, trifft Odysseus als Erstes (noch bevor er den Palast betritt und damit die eigentliche menschliche Sozietät) auf seinen alten Schweinehirten Eumaios. Inkognito, von Athene in einen alten, abgerissenen Bettler verwandelt, und kurz davor, von den Hunden des Hirten zerfleischt zu werden, beginnt nun ein seltsames Katz-undMaus-Spiel, ein vorsichtiges Herantasten zwischen Erkennen und Zurückweisung, zwischen Verheimlichen und Offenbaren. Nicht nur die eigentliche Identität des Odysseus bleibt dabei zunächst, wie es scheint, für den Schweinehirten im Unklaren, es ist im Gegenteil Eumaios, der dabei seltsam zwielichtig, unentschieden für die Leserschaft bleibt. Über dessen auffallend widersprüchliche Konzeption ist viel gerätselt worden und kann an dieser Stelle kaum einmal angeschnitten werden. Sicher ist aber, dass hier der Poet das riesige Evokationspotenzial des Symbolkomplexes des mythischen Schweinehirten gezielt einsetzt, um einen Übergang der besonderen Art darzustellen. Denn keineswegs zufällig wird Eumaios durchgehend als der „göttliche Schweinehirt“ (δίος ὑφορβός), mit dem (sonst ausschließlich für eine heroische Klientel vorgesehenen) Epitheton „Anführer der Männer“ (ὄρχαμος ἀνδρῶν) bezeichnet.⁹² Freyr, der nordische Schweineaffine par excellence (und dabei gleichermaßen gänzlich Unheroische) trägt den nämlichen Beinamen: fólkvaldi goða („Anführer der Heerscharen der Götter“, Skm 3). Nicht zufällig gleichen die Schweinestallungen, die Eumaios ,heimlich‘ errichtet hat, der Jenseits-Festung des Achill, gesichert wie ein Gefängnis mit schweren Steinen, Dornengestrüpp und Eichenbohlen (Od. 14, 10 – 12). Insbesondere wird eine ganz besondere Personengruppe von ihm persönlich mit dessen ,Insassen‘, den Schweinen, eifrig, täglich versorgt ‒ bis sie schließlich ihrerseits den Zustand des Schweinseins in unserem verhängnisvollen, mythischen Sinne erreicht hat: Es sind die Freier der Penelope, die mit dieser Einverleibung ihre tödliche Transformation selbst vorantreiben, und schließlich durch Odysseus (mithilfe Eumaios) in der verschlossenen Festhalle ihren blutigen Abschluss findet: ihre Schlachtung. Dazu passt, dass der Name Eumaios euphemistisch („nach dem Guten strebend“) zu Ζεὺς Εὐβουλεύς („der gut Beratende“ = Hades) gestellt wird, also als Unterweltgott zu verstehen ist.⁹³ Damit wäre auch die merkwürdig vorsichtige Annäherung, die κερδοσύνη („listige Klugheit“) erklärt, die Odysseus (bekanntlich nie
Kluge/Seebold 2002, „Koben“. Siehe ausführlich Skempis 2010, S. 106 – 117. Vgl. Mühlestein 1984, S. 149.
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ohne Grund) ihm gegenüber anwendet.⁹⁴ Bei einem anderen Hirten und Helfer, dem Kuhhirten Philoetius, scheint sie nicht vonnöten, ein Umstand, der gleichermaßen Fragen aufgeworfen hat.⁹⁵ Natürlich, es ist die ratsame Vorsicht den Jenseitigen, den Toten(göttern) gegenüber. Dazu passt weiters, dass auf der ‚anderen Seite‘, der Seite der Lebenden, ausgerechnet die alte Amme Odysseus, Eurykleia, noch beinahe ebenso zu seinem Verhängnis geworden wäre, da sie ihn nun tatsächlich an einer Narbe, beigebracht am Fuß von einem Eber (!), erkannt hatte. Schweinehirt und Amme sind das (auch im narrativen Verlauf durchaus ambige) liminale Torwächterpaar, das mythische Ahnenpaar als Begleiter von Odysseus letzter Etappe, seiner Rückkehr in die Welt der Lebenden, seiner ureigensten rite de passage. Bei unseren nordischen Passagehelfern verläuft der Weg gerade andersherum, es ist der Weg in den Tod. Und wenn wir nun von einer starken Affinität, wenn nicht Identität Hyrrokkins und Hyndlas ausgehen wollen als mythische Wesenheiten wie in ihrer Kultfunktion, so spräche doch einiges dafür, dass dies auch im Namen sichtbar würde. Der Name Hyrrokkin hat keine gesicherte Etymologie, er wird etwa als „die vom Feuer Geschrumpfte“ wiedergegeben, wobei dafür keine mythische Referenz vorhanden ist. Hyndla kann wohl zweifelsfrei mit einer Diminutivform von „Hund“, „kleiner, junger Hund“, „Hündlein“ wiedergegeben werden, eine Bezeichnung, die wiederum für eine griesgrämige Riesin auf einem monströsen Reittier keineswegs selbstredend ist. Sie scheint ein Jenseitswesen, auf dessen Wissen und Hilfe Menschen (wie Götter) angewiesen sind. Freyja benötigt sie als Begleitung wie mentale Unterstützung in einer Übergangssituation, für den tödlichen Übergang, den Helweg. Es ist diese Aufgabe der Seelenführerin, die in der östlichen Religionsgeschichte die Göttin Hekate innehat (eine Affinität, die im Übrigen auch für Kirke immer wieder vermutet wurde). Sie gilt wohl als eine chthonische Göttin, aber, so Rohde, sie finde „leichter als andere Unterirdische den Weg zu den lebenden Menschen.“⁹⁶ Entsprechend sei ihr Platz „bei Leichenbegängnissen“ als „Herrin der noch an die Oberwelt gebundenen Seelen“⁹⁷ (eine ähnliche Funktion wie sie auch der andere ‚große Begleiterʻ, Hermes, besitzt): Nicht nur das „unmittelbare Ein- und Austreten“ hatte Hekate zu begleiten, sondern insbesondere „den weiteren Weg [kurs. d. Verf.], den der Ein- oder Austretende vor sich hatte.“⁹⁸ Und schon früh und fest erscheint sie mit einem ganz besonderen Tier verbunden: „Hekate wird selbst (ohne Zweifel nach ältester Vorstellung) als hundeköpfig gedacht“: „Geradezu als Hündin wird sie angerufen κυρία Ἑκάτη εἰνοδία, κύων μέλαινα im Pariser Zauberbuch […]; eben darum sind ihr Hunde heilig und werden ihr geopfert […].“⁹⁹
Vgl. Ahl und Roisman 1996, S. 168. Vgl. Ahl und Roisman 1996, S. 167 f. Rohde 1894, S. 369. Rohde 1894, S. 369 f. Seiffert 2006, S. 129. Rohde 1894, S. 375.
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Man hat im nordischen Kontext das nahezu ausschließlich pejorative Element des ,Hündischenʻ wiederum meist nur in Zusammenhang mit den exzessiven sexuellen Ausschweifungen einer ,Liebesgöttinʻ gesehen (siehe Freyja, die an anderer Stelle als Hündin bezeichnet wird), aber auch hier steht wohl eher die Vorstellung des Hundes als ein Schwellenwesen im Vordergrund, als ein in diesem Sinne unreines, kontagiöses Tier, das den Zusammenhang gestiftet hat: Der Hund, ausdrücklich junge Hunde, sind die bevorzugten Opfertiere der Hekate. Sie sind stets chthonische, reinigende Opfer, sie werden an dem Ort, der gereinigt werden soll, geopfert und dann an Kreuzwegen deponiert. Als menschliche Opfermahlzeiten waren diese ohnehin nie gedacht. Wie auch immer das Erstglied des Namens zu verstehen ist, sei es tatsächlich als hyrr „Feuer“¹⁰⁰ oder doch eher als hýrr „lieblich, sanft, geheuer“,¹⁰¹ das Zweitglied lässt sich jedenfalls wesentlich besser zu rakki „Hund“ stellen (vgl. shetl. rakki „Tabuwort für ,Hundʻ, lpN. rakka, rakē „kleiner Hund“, S. rāko „Hündin“).¹⁰² Damit wäre es Synonym zu hyndla.¹⁰³ Und schließlich kann man sich gerade beim Zwerg Litr kaum des Eindrucks des ,Hündischenʻ erwehren. Thor erschlägt ihn nicht als gleichberechtigten Gegner (wie üblicherweise Riesen, Monster und, indes selten genug, Zwerge) mit seinem Hammer. Er läuft ihm zwischen die Füße, und Thor tritt nach ihm, das ist nicht einmal die Behandlung eines verhassten Feindes, so tritt man nach einem Hund, den man kaum einmal berühren möchte.¹⁰⁴ Vielleicht wäre also an ein Hundeopfer zu denken, dass der Scheiterhaufen Balders auf diese Weise gereinigt, für den Übergang vorbereitet würde. Damit wäre jedenfalls für Balders Bestattung jene chthonische Opferpraxis komplettiert, wie sie so gut bekannt ist aus Uppsala und Lejre. Hier dürfen Hunde (neben Menschen und Pferden) nicht fehlen.¹⁰⁵
Neben dem (jungen) Hund gehört die Fackel, Feuer, Rauch in die Symbolsprache der Göttin (vgl. Seiffert 2006, S. 130 – 32). Vgl. an. etym. Wb 1962, „hýrr“. Vgl. Nedoma 2000, S. 213; an. etym. Wb 1962, „rakki“. So wird auch das hundelîn Petitcreiu der Tristansage in der nordischen Übersetzung mit rakki wiedergegeben, was auch McTurk als „,little dogʻ or ,puppyʻ“ (McTurk 1991, S. 236) versteht. Dazu könnte sogar eine Verbindung passen, die Lindow, wenn auch zögerlich, vorschlägt: Der Skalde Þorbjǫrn dísarskáld führt Hyrrokkin und vielleicht den Zwerg Litr in einer langen Reihe von Totschlagopfern Thors an. Snorri zitiert sie am Ende seiner Thors-Kenningar in Skáldsk 4 (siehe Lindow 1988, S. 119 f.). Hier heißt es: aðr drapt Lút ok Leiða („bevor du Lut und Leidi erschlugst“) ebenso wie Hyrrokkin dó fyrri („Hyrrokkin war schon eher tot“). In der Handschrift U erscheinen diese Namen als Litr und Loði (Lóði). Lindow könnte sich hier eine Verbindung zum Litr der Balder-Erzählung vorstellen, bei Loði denkt er an Loðurr/Loki (vgl. Lindow 1988, S. 124). Aber ebenso ließe sich doch bei letzterem an das Fell eines Tieres denken, siehe an. loddi „a shaggy dog“ (Cleasby/Vigf. 1874, „loddi“). Höfler sieht das Schnitzwerk in der mittelalterlichen Festhalle als Fortsetzung bzw. in einer Motivtradition kultischer Schiffsumzüge, wie sie in bronzezeitlichen Felsritzungen dargestellt sein könnten (vgl. Höfler 1951, S. 346 – 48). In Litr möchte er entsprechend einen vorzeitlichen Kultteilnehmer sehen, einen sogenannten „Voltigeur“ (Höfler 1951, S. 357), der als Teil des Rituals dieser Umzüge akrobatische Sprünge vollführte. Neben der Darstellung einer Gestalt mit einem Hammer (,Thorʻ) habe dies für den ungeschulten Betrachter den Eindruck eines Zusammenhangs, eines Ursa-
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Die Kenntnis von Abstammung und Ursprung sind in realen, lebensweltlichen Beerdigungskontexten ein unverzichtbares Element: In einer etwas anderen medialen Form erscheinen genealogische Informationen auf wikingerzeitlichen Runensteinen, errichtet als Erinnerung oder Gedächtnis für einen Toten, auch und gerade um ganz reale diesseitige Erbansprüche durchzusetzen.¹⁰⁶ In Óttars Bestattung scheint dieses Wissen darüber hinaus in pseudohistorisches, mythisch kosmologisches Wissen erweitert. Dies mag in einem realen Rechtsstreit unnötig, ja möglicherweise kontraproduktiv erscheinen, hier indes gehört dieses Spezialwissen zur religiös mythischen Legitimation. In der römischen Begräbnisprozession ist die männliche Trauerrolle ausdrücklich die, „to maintain the continuity of the community and the status of the family within the community“.¹⁰⁷ Und dies geschieht, ganz im Gegensatz zur exzessiv zur Schau gestellten Emotionalität der Begräbnisteilnehmerinnen, in der Dramaturgie einer Art Ahnenprozession, einer „procession of ancestral portraits“, wie es etwa Polybios im zweiten vorchristlichen Jahrhundert beschreibt¹⁰⁸: „The spectacle of the procession, in which individuals impersonate the hallowed ancestors of the deceased, visually enacts the past and the present stature of the family“¹⁰⁹: Auch in Klageliedern (siehe etwa die baskischen eresiac) erscheinen Genealogien und Erzählungen über die Vorfahren.¹¹⁰ Vielleicht können wir auch für den Balder-Mythos diesen Schritt gehen: Damit wären die merkwürdigen Trauergäste, das „Volk aus vielen Geschlechtern“ (Gylf 49), die Reifriesen, die sich nicht recht motiviert bei Balders Beerdigung einfinden, lediglich die bildliche Umsetzung eines solch genealogischen Beerdigungsliedes che-Wirkungsverhältnisses erwecken können, ,Thorʻ müsse diese Gestalt gestoßen haben (vgl. Höfler 1951, S. 357 f.). Höfler könnte sich vorstellen, dass zu Snorris Zeiten bereits große Teile des Bildwerks verderbt und kaum mehr akkurat zu erkennen waren, Snorris Schilderung also Irrtümer visueller Natur enthalten könnte, aber im Weiteren eben „auch konkrete Details, die über die Húsdrápa hinausgehen“ (Höfler 1951, S. 361). Wenn auch ganz offenbar nicht alle Runensteine diese Funktion erfüllen (siehe Köster 2014), so geht es im Falle der tatsächlichen „Totenmemoria“ (neben Verwandtschaftsverhältnissen und Todesart des in der Ferne Verstorbenen) auch um die „Dokumentation über Besitz oder Erbfolge“ (Düwel 2003, S. 596). Kaum vermögen wir indes Joseph Harris so weit zu folgen, in der Inschrift des Rök-Steins (Ög 136) ein balderanaloges Geschehen, ja möglicherweise eine der ältesten Quellen für den Baldermythos überhaupt zu sehen (vgl. Harris 2009, S. 467), wenn auch die Funktion einer „funeral or memorial inscription“ wohl gewiss scheint: „The dedicatory lines tell us unambiguously that the stone was raised and the runes cut by Varinn, a father in memory of his ‚deathdoomedʻ (faigian, i. e., feigr) son Vámóðr“ (Harris 2009, S. 470). Die folgenden bis dato noch ganz enigmatischen (mythologischen) Rätsel und Wortspiele nach Art einer greppa-minni, „a skaldic routine or game“ (Harris 2009, S. 470), scheinen indes eher ‚spielerischeʻ Sprechakte des Bestattungskultes selbst festzuhalten, Rätselspiele, wie sie etwa als typisches Element nicht nur in den irischen wake amusements bis in jüngste Zeit bekannt waren. Die Spiele haben dabei bekanntlich eine wichtige rituelle Funktion, die Herstellung wie Markierung einer Übergangssituation, die dem ‚Todgeweihtenʻ ermöglicht, seine Transformation zum ‚richtigʻ Verstorbenen abzuschließen. Corbeill 2004, S. 69. Vgl. Corbeill 2004, S. 69. Corbeill 2004, S. 70. Siehe Jahnow 1923, S. 201; Böckel 1906, S. 114.
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(oder Ritualelements), das eben zum Inhalt die lange Ahnenreihe Balders hätte, die zweifelsohne bis zu den Reifriesen reicht. Und vielleicht wären dann auch die Umstände, unter denen das Hyndluljóð ebenso dramatisch wie unentschieden endet, genauer bestimmbar.¹¹¹ Immerhin ließe sich spekulieren, ob mit der „Lebenslösung“ (Hdl 48), die erduldet werden muss, überhaupt der Tod einer der beiden Protagonistinnen gemeint sein muss und nicht vielmehr der endgültige Übergang Óttars selbst. Damit würde das Feuer für ihn, an ihm gelegt werden, an seinem Bestattungsort, wohin schließlich auch der giftige Trank gebracht werden sollte. Das schwierige íviðio (von Krause und anderen mit „Waldbewohnerin“ oder „Riesin“ übersetzt) wäre dann nicht als Person zu verstehen, sondern in seiner Grundbedeutung „windschief“ (< g. *wenda „schief, gewunden“, gt. inwinds „verkehrt“).¹¹² In einem ganz buchstäblichen Sinne wäre damit das ‚krumm gewachsene, windschiefe Holzʻ gemeint, die Spanten, das so genannte ‚Knieholzʻ, das im Schiffsbau begehrtes Werkmaterial für den Schiffsrumpf ist.¹¹³ Siehe dazu etwa die (umstrittene) Vǫluspa-Stelle (2), in der gleichermaßen von nío íviði die Rede ist, womit (gerade im Zusammenhang mit dem Weltenbaum, auf den sich dieser Ausdruck bezieht) wohl ‚krummes Holzʻ, also Wurzelholz unter der Erde gemeint ist.¹¹⁴ Hyndla legt also an den Schiffsrumpf Feuer, an die Spanten des Begräbnisschiffes Óttarrs (Ec slæ eldi of íviðio, Hdl 48). In der Balder-Bestattung glaubt Snorri (aus eigener Anschauung?) Feuer am Schiffsrumpf von Balders Bestattungsschiff zu erkennen. Die Erklärung, die er dafür gibt, mag seine eigene sein, dass der Stoß der Hyrrokkin dermaßen heftig ausgefallen sei, dass Feuer aus den Schiffsrollen geschossen sei. Das konkrete, rituelle Handeln an sämtlichen Bestattungsschiffen der historischen Zeit aber war ausschließlich das Feuerlegen und niemals das ,zu Wasser Lassen‘ als der eigentliche Höhepunkt wie Abschluss des Rituals.
Vgl. Hdl 48: ‚Ec slæ eldi of íviðio, / svá at þú eigi kemz á burt heðanʻ. („Ich schlag Feuer um die Waldbewohnerin, / damit du nicht fortkommst von hier“). Hdl 49: ‚Hyr sé ec brenna, enn hauðr loga, / verða flestir fiorlausn þola; / ber þú Óttari biór at hendi, / eitri blandinn mioc, illo heili!ʻ . („Feuer seh ich brennen, und die Erde lodern, die meisten müssen Lebenslösung dulden; / bring zu Ottarr das Bier, / mit Gift sehr gemischt, zum Unheil!“). Hdl 50: ‚Orðheill þín scal engo ráða, / þóttu, brúðr iotuns, bǫlvi heitir; / hann scal drecca dýrar veigar, / bið ec Óttari ǫll goð duga.ʻ („Deine Verwünschung wird nichts bewirken, / auch wenn du, Braut des Riesen, Schaden verheißt; / er wird trinken treffliche Getränke, / ich bitt alle Götter, Ottarr zu helfen“). Ein Bedeutungskomplex, aus dem wiederum im übertragenen Sinne die Bedeutungsrichtung „Bosheit“, „Heimtücke“, „Hexe“ entstehen kann. Siehe DWb, „knieholz“: „1) knieförmig gebognes oder gewachsnes holz. […] namentlich im schiffbau, […] die krummgewachsenen eichen werden unter dem namen knieholz von den schiffbaumeistern sehr gesucht und theuer bezahlt […]. 2) die kleine alpenkiefer, der krummholzbaum. […] weil die äste knieförmig wachsen, oder weil es oft nur kniehoch wächst, ‚weil es gleichsam auf der erde knietʻ […] vgl. knickholz.“ Ähnlich ‚Spantʻ (DWb, „spant“): „im schiffsbau die aus starken krummhölzern zusammengesetzte schiffsrippe.“ Vgl. Haugen 2007, S. 123, mit Verweis auf Hans Kuhn (Neckel und Kuhn 1968, S. 115), der ein Lemma íviðir (Pl.) ansetzt in der Bedeutung „‚innenhölzerʻ, spanten, sparren“.
13.4 Friðþjófr inn frækni
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Die Jenseitsreise des Hermóðr ist immer wieder als Fremdkörper in der narrativen Abfolge der Ereignisse aufgefallen, die Art wie Snorri diese scheinbar unvermittelt in den Erzählfortgang einschiebt, um gleich danach wieder am Ritualablauf anzuschließen. Aber es ist doch die nämliche „,kultische Klammer‘“, wie sie Zgoll um die homerische Nekyja angelegt sieht.¹¹⁵ Auch in den (offenen wie verschütteten) Bestattungskontexten der Ilias oder Odyssee wird versucht, diese unterschiedlichen Rezeptionsebenen, rituelle, mythische wie narrative Wirklichkeiten zu koordinieren, und auch hier mit mehr oder weniger Erfolg (zumindest mit empfindlichen Katachresen). Es ist der Leichnam des Hektor, der noch nicht ausgelöst im Staub des Lagers liegt, es sind die Schweinegefährten, unerlöst, im Dreck des Schweinekofens, das Schwein Óttarr heimski (noch) „von dieser Welt“, Balder auf seinem Schiff, das durch keine Macht dieser Welt bewegt werden kann, allesamt abfahrbereit, will heißen transformationsbereit, müssen sie gleichwohl auf erfolgreiche Verhandlungen der Lebenden mit den Mächten der Unterwelt hoffen – mit identischem Ziel.
13.4 Friðþjófr inn frækni Aus der Welt der Mythen kehren wir zuletzt noch einmal in die Welt der Sagas zurück, zur einzigen Saga, in der Balder, wenn überhaupt, expressis verbis eine nennenswerte Rolle spielt, in der (späten) Fornaldarsaga Friðþjófs saga frækna.¹¹⁶ Tatsächlich galt die Saga im 19. Jh. als eine der berühmtesten Sagas Europas, „a veritable Friðþjófrfever raged in large parts of Europe“,¹¹⁷ heute indes „almost sunk into oblivion“,¹¹⁸ weder zu Unterhaltungszwecken noch aus Forschungsinteresse gelesen.¹¹⁹ Die ungewöhnlich große Popularität des Stoffes verdankt die Saga ohnehin erst einer Neudichtung des Bischofs Esaias Tegnér im 19. Jh. (Frithiofs saga, 1820 – 25). Aber schon bezüglich der Originalfassung war sich die Forschung im Grunde genommen einig: Sie mache einen eher unskandinavischen Eindruck, inhaltlich stehe sie einzigartig da und lasse sich mit keiner der bekannten Vorzeitsagas vergleichen,¹²⁰ was vermuten lasse, dass es sich um eine Neuschöpfung handle. Die genaue und harmonische Durchkomposition des Stoffes sei in solcher Art „vortrefflich“,¹²¹ wie es nicht möglich gewesen wäre, wenn der Verfasser bereits eine Stoffvorlage zu bearbeiten gehabt hätte.¹²² Insgesamt zeige sich indes der Schreiber wenig einfallsreich, vielmehr werde
Vgl. Zgoll 2020, S. 408. Larsson (Hg.) 1901. Lassen 2018, S. 86. Lassen 2018, S. 85. Vgl. Lassen 2018, S. 85. Vgl. Gould 1922, S. 219 f.; ähnlich Larsson 1901, S. VI. Larsson 1901, S. XIX. Vgl. Larsson 1901, S. XIX. Die Saga erscheint in zwei Redaktionen, einer älteren, kürzeren, die in Island (Ende 13./Anfang 14. Jh.) entstand, und einer längeren des 15. Jhs., was aber nicht unbedingt
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ausgiebig von stereotypen Motiven und Ausdrücken zeitgleicher Sagas wie christlicher Vorstellungen Gebrauch gemacht.¹²³ So wundert es kaum, dass man bis heute der Saga kaum mythologischen Quellenwert zusprechen mochte, am wenigsten für den Baldermythos selbst. Ausgerechnet hier erscheint nun aber zum ersten und einzigen Mal die Beschreibung eines Kultes wie ein Ort der Verehrung Balders: Baldrshagi am norwegischen Sognefjord.¹²⁴ Dort beginnt eine „bitter-süße Liebesgeschichte“¹²⁵ zwischen dem Bauernsohn Friðþjófr und der Königstochter Ingibjǫrg, die sich seit Kindheit zugetan sind. Der Konflikt freilich ist vorprogrammiert: Deren hochmütige Brüder Helgi und Hálfdan hassen Friðþjófr, nicht zuletzt weil er ihnen trotz seines niederen Bauernstandes körperlich wie geistig in jeder Hinsicht überlegen ist. Und obgleich deren Väter, der alte König Beli und der Großbauer Þorstein in so inniger Freundschaft verbunden waren, dass sie sich sogar in gegenüberliegenden Grabhügeln am Fjord bestatten lassen, lehnen die Königssöhne Friðþjófs Werbung um ihre Schwester ab. Daraufhin kündigt Friðþjófr diesen seine Unterstützung auf. Diese Aufkündigung ist nun aber im Eigentlichen der Grund, warum sich die Brüder auf Kriegszug begeben müssen. Ihr Gegner ist der wohl hochbetagte, aber sehr mächtige König Hringr. Nachdem dieser von der Weigerung Friðþjófs erfährt, scheint es ihm nun ein Leichtes, von den Königssöhnen Tribut zu fordern. Ob seiner militärischen Überlegenheit geben sich die Königssöhne denn auch kampflos geschlagen, was umso demütigender für die beiden ist, da sie sich zunächst überaus verächtlich geäußert hatten über dessen Gebrechlichkeit und Altersschwäche: Then fared those brethren south to Jadar, and met King Ring in Sokn-Sound. Now, herewith was King Ring most of all wroth that the brothers had said that they accounted it a shame to fight with a man so old that he might not get a horseback unholpen.¹²⁶
heißt, dass das Ergänzungsmaterial der längeren Fassung jüngerer Natur sein muss. Auch hier könnte es sich um ursprüngliches, originales Material handeln (vgl. Simek 1987, „Friðþjófs saga frækna“, S. 94). Vgl. Larsson 1901, S. XXI. Þar gekk strǫnd nǫkkyr fyrir vestan fjǫrðinn. Þar var bœr stórr. Sá bœrr var kallaðr í Baldrshaga. Þar var griðastaðr ok hof mikit ok skíðgarðr mikill um. Þar váru mǫrg goð, ϸó vár af Baldr mest haltit. Þar var svá mikit vandlæti gert af heiðnum mǫnnum, at ϸar skyldi engu grand gera, hvártki fé né mǫnnum. Engi viðskipti skyldu karla við konur eiga ϸar (Friðþjófs saga ins frækna, Kap. 1). („Nun war dort ein Strand, der erstreckte sich westlich in den Meerbusen hinein, darauf stand eine grosse Besitzung, die war genannt Baldurshain; darin war eine Friedensstatt und ein grosser Hof, und ein grosses Gehege darum; darin waren viele Götterbilder, doch Baldur wurde am meisten verehrt; und ihm wurde so eifrig von den heidnischen Männern gedient, dass ihm kein Schaden geschehen durfte, weder an Einkünften noch seinen Dienern; und kein Umgang durfte da zwischen Männern und Weibern stattfinden“ (Übers. Calaminus 1863). Simek und Pálsson 1987, S. 94, „Friðþjófs saga frækna“. Übers. Eiríkr Magnússon und Morris 1901, S. 6. En þeir brœðr fóru suðr til Jaðars ok fundr Hring konung í Soknarsundi. Því hafði Hringr konungr mest reiz, at ϸeir brœðr hǫfðu ϸat mælt, at ϸeim ϸœtti skǫmm at berjaz við svá gamlan mann, at eigi kœmiz á bak nema með stuðningi (Frið, Kap. 3). Calaminus übersetzt (Calaminus 1863): „Daraufhin fuhren die Brüder südlich nach Jadar und fanden den König Ring in Soknasund. Denn König Ring war sehr erzürnt, dass die Brüder gesagt hatten, es dünke ihnen
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Damit aber nicht etwa während ihrer Abwesenheit eine unstandesgemäße Verbindung Friðþjófs mit ihrer Schwester zu Stande käme, verbergen sie Ingibjǫrg im Heiligtum Balders, im Vertrauen auf das grið, die Unantastbarkeit des Ortes.¹²⁷ Ungewöhnlich genug soll im Heiligtum neben einem Gewaltverbot auch das Verbot sexuellen Umgangs geherrscht haben.¹²⁸ Friðþjófr freilich – inn frækni „der Freche“, „der Kühne“¹²⁹ – bricht dieses sogleich gezielt und rücksichtslos, sobald die Brüder abgezogen sind, verbringt er mit all seinen Männern dort mehrere Tage und vergnügt sich mit Ingibjǫrg und ihren Freundinnen: Straightway whenas the kings were gone away Frithiof took his raiment of state and set the goodly gold ring on his arm; then went the foster-brethren down to the sea and launched Ellidi. Then said Biorn: „Whither away, foster brother?“ „To Baldur’s Meads,“ said Frithiof, „to be glad with Ingibiorg.“ Biorn said: „A thing unmeet to do, to make the gods wroth with us.“ „Well, it shall be risked this time,“ said Frithiof; „and withal, more to me is Ingibiorg’s grace than Baldur’s grame.“¹³⁰
Aber merkwürdigerweise kommt Friðþjófr erstaunlich glimpflich davon, weder der „Hausherr“ (bóndi) Balder, noch die Brüder scheinen ihm sein unerhörtes Verhalten sonderlich zum Vorwurf zu machen,¹³¹ aber um weitere Annäherungen zu verhindern,
eine Schande, mit einem so alten Mann zu kämpfen, der nur mit einer Krücke wieder zurückkehren könne“. Aber auch Larsson versteht „á baki d. h. hests bak“ (Larsson 1901, S. 10). Lindow verweist auf die relative Seltenheit des Ausdrucks. Im norwegischen Landslag werde eine Reihe von Situationen (und Zeiten) aufgelistet, wo grið gewährt werden müsse, dazu gehörten Versammlungen, Gerichtsituationen, Hochzeiten und gewisse (christliche) Feiertage. Er vermutet, dass die Friðþjófs saga frækna hier vom ,Thing-Ereignisʻ der Gylfaginning (þar var svá mikill griðastaðr) beeinflusst ist (vgl. Lindow 1997, S. 131). Der Ausdruck erscheint indes auch in der Lokasenna, dort wird er auf das Götterfest des Ægir verwendet (Þar var griðastaðr mikill [Ls 12]). Darin haben wir bereits ein rituelles Arrangement als Teil der Begräbnisfeierlichkeiten Balders vermutet. Larsson hält dieses Gebot für eine „lex in casu“, da in Göttertempeln wohl ein Verbot von Zerstörung herrschte, vom Verbot eines geschlechtlichen Umgangs aber nie die Rede sei, im Gegenteil werde ausdrücklich von Adam von Bremen auf derlei Ausschreitungen im Zusammenhang mit den Freyr-Feierlichkeiten in Uppsala hingewiesen (vgl. Larsson 1901, S. 2). Das Adjektiv frækn (an. etym. Wb 1962, „frækn“) ist eine Ableitung von frekr, vgl. Freki, eigentlich „der Gierige“, „der Gefräßige“ als Name einer der Wölfe Odins. Die Vǫluspá bezeichnet damit den Fenriswolf. Wenn auch schon vielfach konventionalisiert, könnte doch hier schon im Namen der Tabubruch, die rücksichtslose Grenzüberschreitung angelegt sein. Þegar konungar váru í brott ϸá tók Friðþófr tignarklæði sín ok lét gullhringinn goða á hǫnd sér. Síðan gengu ϸeir fóstrbrœðr til sjóvar ok settu fram Elliða. Bjǫrn mælti: „Hvert skal nú halda, fóstbróðir?“ Friðþófr mælti: „Til Baldrshaga ok skemta sér við Ingibjǫrgu.“ Bjǫrn mælti: „Þat er eigi geranda at gremja goð at sér.“ Friðþófr svarar: „Þar skal nú á hætta, enda virði ek meira hylli Ingibjargar en reiði Baldrs“ (Frið, Kap. 4). „Vel hafu ϸér oss veitt ok fagrliga. Hefir Baldr bóndi ekki við oss ýfz“ (Frið, Kap. 5). („‚Sweetly and well have ye done to us, neither has goodman Baldur been wroth with us;ʻ“). Wenngleich die Brüder sich darüber verwundert zeigen, dass Balder sich diese „Schmach“ antun lässt: „Undr ϸykki mér, at Baldr skal ϸola ϸeim Friðþjófi hverja skǫmm“ (Frið, Kap. 5). („‚Ein Wunder dünkt es mich, wenn Baldur von Frithjof jede Schmach dulden soll […].ʻ“
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schicken die Königssöhne Friðþjófr auf eine Fahrt zu den Orkneys, um Steuern einzutreiben. Mit knapper Not entkommt er dem Unwetterzauber zweier Hexen (die wiederum angestiftet wurden durch die Königssöhne selbst), mithilfe seines Schiffes Elliði bricht er ihnen das Rückgrat. Nach seiner Rückkehr muss Friðþófr erkennen, dass sein Besitz niedergebrannt und Ingibjǫrg aus politisch taktischen Gründen mit eben jenem greisen König Hringr verheiratet wurde. Die Brüder hatten dem König „Sühne“ (sættir) angeboten, Kompensation, so „dass Friede werden sollte“ (at engi úfriðr gerðiz), und dieser fordert neben einem Drittel ihres Hab und Guts deren Schwester zur Frau (Frið, Kap. 5). Und wieder wird das Balder-Heiligtum zum Hauptschauplatz der Ereignisse, jetzt kommt es tatsächlich zur Eskalation, noch dazu während einer Kultfeierlichkeit, die als dísablót bezeichnet wird. Und hier erscheint zum ersten und einzigen Mal ein Ritual, das an Balder und weiteren Göttern ausgeübt wird: Then went Frithiof in, and saw but few folk in the Hall of the Goddesses; there were the kings at their blood-offering, sitting and drinking; a fire was there on the floor, and the wives of the kings sat thereby, and warming the gods, while others anointed them, and wiped them with napkins.¹³²
Die Frauen wärmen also mehrere hölzerne Götterstatuen am Feuer, begießen sie mit Öl und trocknen sie mit Tüchern. Das dísablót haben wir bereits als Totenfest identifizieren können, d. h., an einem Ort, der ausdrücklich mit Balder in Verbindung steht, wird Kommunikation mit den Ahnen betrieben. Es ist doch anzunehmen, dass diese Verbindung elementar ist. Die Forschung möchte den Quellenwert dieser Beschreibung als gering erachten, die Art der Darstellung des Balderkults sei „anachronistisch“ und habe keinerlei Bezug zur Realität, so etwa Simek/Pálsson,¹³³ eine Einschätzung allerdings, die kaum nachvollziehbar ist: Ähnliche Behandlungen und Interaktionen mit Holzstatuen sind gut bekannt aus den Þorgerðr-Episoden, nicht zu vergessen das Aufeinandertreffen des Gunnar Helming mit einer hölzernen FreyrStatue. Es geht ja ganz offensichtlich um alle Arten der menschlichen Bedürfnisbefriedigung, wozu die äußere Ausrüstung als Zeichen der Hoheit, Kleidung und Schmuck als Erstes gehört. Es ist soziales, zwischenmenschliches Handeln, das an den Statuen ausagiert wird, das An- und Ausziehen, das Warmhalten, das Nähren bis hin zur Erfüllung sexueller Bedürfnisse, auch darin ist die Episode des Gunnar Helming keineswegs beispiellos. Es sind rituelle act-as-if-Handlungen, die an der (hölzernen) Verkörperung des Ahnengottes vollzogen werden bzw. der Mensch erscheint als rituell agierendes Substitut. Auf einer ersten, primitiven, konkreten Stufe der Totenkommunikation gelten diese Aktionen allesamt der Leiche selbst, sei es beim unmittelbaren Bestattungskult, bei der Sekundärbestattung, aber auch der daraus
Síðan gekk Friðþjófr inn ok sá, at fátt fólk var í dísarsalnum. Váru kongungar ϸá at dísarblóti ok sátu at drykkju. Eldr vár á gólfinu, ok sátu konur ϸeira við eldinn ok bǫkuðu goðu, en sumar smurðu ok ϸerðu með dúkum (Frið, Kap. 9). Vgl. Simek und Pálsson, 1987, S. 95, „Friðþjófs saga frækna“.
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folgenden Ahnenpflege, wie wir so oder so ähnlich der ethnographischen Berichterstattung entnehmen können: Neben den Überbleibsel des Toten wird ein Feuer unterhalten, das gleichzeitig die bösen Einflüsse auf Abstand hält, die ruhelose Seele wärmen soll und eine wohltuende Wirkung auf den Körper ausübt, man umgibt den Toten mit wohlriechendem Rauch und reibt ihn mit aromatischen Salben ein.¹³⁴
Hier steht also zunächst die eindrucksvolle, rituelle Pflege der Ahnenpflöcke im Vordergrund, dann aber kommt es zu einem erneuten Bruch des grið. Friðþófr bricht das Gebot der Gewaltlosigkeit: Wütend schleudert er dem König Helgi den Geldsack mit den Steuergeldern ins Gesicht, zwei Zähne schlägt er ihm aus, bewusstlos sinkt dieser vom Stuhl und droht ins Feuer zu stürzen und nimmt damit buchstäblich die hässliche Szene vorweg, die nun auf dem Fuße folgt: [S]o Frithiof went out straightway along the floor, and beheld therewith that goodly ring of his on the arm of Helgi’s wife as she warmed Baldur at the fire; so he took hold of the ring, but it was fast to her arm, and he dragged her by it over the pavement toward the door, and Baldur fell from her into the fire; then Halfdan’s wife caught hastily at Baldur, whereby the god that she was warming fell likewise into the fire, and the fire caught both the gods, for they had been anointed, and ran up thence into the roof, so that the house was all ablaze: but Frithiof got the ring to him ere he came out.¹³⁵
Friðþjófr erkennt an der Königin jenen wertvollen Ring, den er Ingibjǫrg einst zum Verlobungsgeschenk gemacht hat. Mit Gewalt versucht er ihn abzuziehen, dann überstürzen sich die Ereignisse. Balders Götterbild fängt Feuer ebenso wie die anderen Holzstatuen, schließlich der ganze Tempel (hier unterscheiden sich die einzelnen Versionen in ihrer Ausführlichkeit) und Friðþjófr ergreift die Flucht. Der Versuch Friðþjófs, der Königin einen Ring abzustreifen, provoziert also den spektakulären Eklat: Weder ist diese gewillt, noch scheint es überhaupt zu gelingen. Vor unserem geistigen Auge entsteht die rüde Szene, wie Friðþjófr die Königin auf dem Boden entlang schleift bis zur Türe – und fühlen uns unmittelbar erinnert an die gleichermaßen rohe Behandlung der Holzstatue der Þorgerðr, die Olaf ans Pferd bindet, hinter sich her schleift und schließlich als Sexualobjekt anbietet. Das Ringegewähren ist zentrales und bedeutsames Element der (Ahnen)kommunikation,¹³⁶ die Verweigerung oder Fehlschlag Zeichen eines radikalen Abbruchs dieser Kommunikation. Auf ir Hertz 2007 [1907], S. 88 f. En ϸegar Friðþjófr gekk útar eptir gólfinu, sá hann hring inn góða á hǫnd konu Helga, er honn bakaði Baldr við eldinn. Friðþjófr greip til hringsins, en hann var fastr á hǫndinni, ok dró hann hana útar eptir gólfinu at durunum. En Baldr fell út á eldinn. Kona Hálfdanar greip til hennar skjótt. Fell þá þat goðit út á eldinn, sem hon hafði bakat. Lýstr nú eldinum í bæði goðin, en þau váru áðr smurð, ok svá upp í ræfrit, svá at logaði húsit. Friðþjófr náði hringnum, áðr hann gekk út (Frið, Kap. 9). Siehe Lindow 1997, S. 83: „[R]ings are also particularly connected with kings, who dispense them to their followers.“ Siehe auch Schmidt 2018.
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gendeine Weise aber scheint dieser spektakuläre Abbruch stets im Ritual mitgedacht. Auch Nanna und Balder senden aus ihrem Jenseitsort ‚den Ringʻ, ‚das Tuchʻ in die Welt der Lebenden, als Totenmemoria, ja vielleicht sogar Handlungsauforderung. VígaHrappr raubt der Þorgerðr Hǫlgabrúðr, der Spitzenahnin, in ihrem Heiligtum ausgerechnet Ring (gullhringr) und Leinenhaube (faldr) (Nj, Kap. 88), auch die beiden anderen Gottheiten Irpa und Thor beraubt er ihrer Goldringe und Kleidung, die Götterbildnisse schleppt er hinaus, dann legt er Feuer an den Tempel.¹³⁷ Hier erscheint die nämliche (Ritual)dramaturgie. Eine Freveltat, die in der Erzählung als Racheakt an Jarl Hákon motiviert wird, aber die Verbrennung der hölzernen Götterstatuen (wenngleich in diesem Zusammenhang nur des Tempels) kommt, wie wir bereits gesehen haben, zu häufig gerade in paganen Kontexten vor, als dass lediglich schiere Zerstörungswut, christliche Polemik oder unglücklicher Zufall als Grundlage dieses Motivs gesehen werden könnte. McKinnell vermutet eine Art „ritual cremation“,¹³⁸ ein rituelles Szenario, ein im Erzählkontext der Saga längst nicht mehr verstandener kultischer Akt. Das Eindringen in das Heiligtum, in das Ahnengrab, die Ahnenstätte ist mit Referenz auf eine mythische Interpretationsfolie die Jenseitsreise, die Reise zu den Toten. Faldr und Ring werden nun von den göttlichen Ahnen freiwillig zur Verfügung gestellt, als Geschenke, so etwa dem mythischen Hermóðr oder Jarl Hákon (wenn auch erst nach einer tränenreichen Selbstinszenierung), aber auch erst nach Einsatz von Gewalt, durch Beraubung, Abziehen der Ringe, Zerreißen der Gewänder und Schleier. Bei Hrappr, aber auch bei König Olaf (nicht zuletzt bei Friðþjófr selbst) erscheint dieses Handeln als Freveltat. In der Njáls saga nutzt Hildigunnr auf eben solche Weise ein Zeichen, ja präpariert es gezielt in diese Richtung als ,das zerrissene Tuchʻ, um ihrer rituellen Rolle in der Totenfürsorge gerecht zu werden (vgl. Nj, Kap. 115/116). In jedem Fall ist es Auftakt zu einem Eklat, zu einem fulminanten Potlatch. Auch die Verbrennung der hölzernen Kultstatuen des griechischen HeraFestes wird als Racheakt motiviert, die die notorisch ,rachsüchtigeʻ, eifersüchtige Hera inszeniert haben soll. Der mythische Balder und seine Frau werden auf dem Scheiterhaufen, auf dem Balderschiff Hringhorni verbrannt, analog dazu ereignet sich in der Saga die Verbrennung ihrer Wohnstatt mit deren hölzernen Verkörperungen. Beides sind Freveltaten und auf gleiche Weise so sehr tabuisiert, dass sie nicht von
Þá fór Hákon jarl á veizlu til Guðbrands. Um nóttina fór Víga-Hrappr til goðahúss þeira jarls ok Guðbrands, ok gekk inn í húsit. Hann sá Þorgerði hǫldabrúði sitja ok var hon svá mikil sem maðr roskinn. Hon hafði mikinn gullhring á hendi ok fald á hǫfði. Hann sviptir faldinum hennar ok tekr af henni gullhringinn. Þá sér hann kerru Þórs og tekr af honum annan hring. Hann tók inn þriðja af Irpu ok dró þau ǫll út ok tók af þeim allan búninginn. Síðan lagði hann eld í goðahúsit ok brenndi upp. (Nj, Kap. 88). („Um diese Zeit erschien Jarl Hákon zu einem Gastmahl bei Guðbrand. In der Nacht schlich sich TotschlagsHrapp zum Tempel der beiden. Drinnen sah er die Þorgerð Höldabrúð sitzen, groß wie ein erwachsener Mann; sie trug eine Leinenhaube und einen goldenen Ring. Hrapp zog ihr Haube und Ring ab. Dann sah er den Wagen Thors und nahm auch ihm einen Ring, vom Bildnis der Irpa einen dritten. Er schleppte alle drei Standbilder aus dem Tempel und entkleidete sie, dann legte er Feuer, und das Götterhaus ging in Flammen auf“ [Übers. Böldl et al. 2011]). McKinnell 2014d, S. 279.
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einem in group-Mitglied ausgeführt werden können. Der Brand im Baldershag fügt sich damit ein in all die anderen paganen Verbrennungsaktionen, in die rituellen Hallenverbrennungen, wie sie etwa in Lejre und Uppåkra vermutet werden müssen. Tatsächlich ist die Saga wohl zunächst einmal eine Aneinanderreihung von mythischen Zitaten,¹³⁹ ein Konstrukt, das gerade dadurch den Eindruck der Künstlichkeit, des Flachen und Unorganischen hervorruft. Dennoch ist diese Zusammenstellung nicht willkürlich, sie folgt einem subkutanen Diskurs, einer strukturalen Ordnung, in der wiederum zuvorderst eine Ritualordnung vermutet werden muss. Es geht also nicht nur um ein, zwei Balder-Motive, die, wie so viele andere, ihren Weg in die (späte) Saga gefunden haben, vielmehr ist die gesamte Erzählung, Schauplätze wie Personenkonstellationen auf diese spezifische ‚Balder-Agendaʻ ausgerichtet. Sie spiegelt sehr genau diese ursprüngliche, mythische Konzeption wie Funktion wider. Auch hier wird also rituelles Wissen in narratives Wissen transformiert. Und Friðþjófs Rolle darin ist – zunächst – die des Transgressors par excellence. Er ist jedenfalls keineswegs der Gutmensch als der er üblicherweise in der Literatur erscheint, als plakativer, aber doch sehr eindimensionaler Vertreter der ,guten Seiteʻ: Es hat dem verfasser an schöpferischer dichtkraft gefehlt, um seinen gestalten wirkliches leben zu verleihen. Sie sind nicht hinlänglich scharf individualisiert. Entweder sie sind böse oder gut, beides ohne wahre menschliche beschränkung. Die königssöhne sind böse und nur böse. […]. Ebenso gut sind dagegen alle die übrigen gestalten, in erster linie Friðþjófr. Er ist der inbegriff alles guten und trefflichen. […].¹⁴⁰
Aber eins ums andere begeht Friðþjófr moralische wie rituelle Tabubrüche, und Ingibjǫrg steht ihm dabei kaum nach. Ihre übliche Einschätzung in der Forschungsliteratur ist ohnehin kaum schmeichelhafter:
So könnte der Wurf des schweren Silberbeutels, die Zähne, die Helgi dabei verliert, als eine Anzitation des kosmogonischen Zerstückelungstodes des Urriesen Ymir gelesen werden, wenn diesem die Zähne ausgeschlagen, der Kopf zersplittert, der Leib zerteilt wird, gegebenenfalls auch als ferne Reminiszenz an die Geirrøðr-Episode, wenn Thor auf ähnlich brachiale Weise dem Riesen ein glühendes Eisenstück entgegenschleudert. Im Mythos geht dieser Episode der Kampf Thors mit den Geirrøðr-Töchtern voraus, er bricht ihnen das Rückgrat, ein Motiv, das sich seinerseits anlehnt an ein kosmogonisches Trennungs-Mythologem. Nicht zufällig erleiden die Zauberinnen, die im Auftrag der Könige Friðþjófs Untergang bewirken sollen, den nämlichen grausamen Tod. Wie die Geirrøðr-Töchter mit dem Stab Gríðarvǫlr werden sie mit der Spitze des Buges des Zauberschiffes Elliði aufgespießt und zerquetscht. Friðþjófr beschwört in einer darüber gesungenen Strophe ein primordiales Szenario: Heill Elliði! / Hlauptu á báru, / Brjóttu í trǫllkonum / tennr ok enni, kinnr ok kjálka / í konu vándri, / fót eða báða / í flagði þessu (Frið. Lausavísur 15). („Ellidi, hail! / Leap high o’er the billows! / Break of the troll wives / Brow or teeth now! / Break cheek or jaw / Of the cursed woman, / One foot or twain / Of the ogress filthy“). Larsson 1901, S. XX.
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Ingibjǫrg ist nur der mechanische mittelpunkt, um den sich die erzählung dreht; sie ist ganz apathisch und übt keinen einfluss auf die entwicklung der saga aus. Am lebhaftesten tritt sie bei dem an das parodische streifende gezänk mit ihrem gatten (c. 11, 13 – 15) hervor.“¹⁴¹
Allzu nachgiebig,verführbar, aber auch ihrerseits verführerisch erscheint sie, ohne die „grandeur“ früherer Heldinnen, „flirtatious“,¹⁴² bestenfalls „a precious chattel“.¹⁴³ Die sexuellen Ausschweifungen im Balder-Heiligtum bleiben dabei unerklärt, das „Sextabu“ ohnehin, das schließlich an keinem weiteren Schauplatz in der nordischen Sagawelt mehr erscheint.¹⁴⁴ Aber was passiert mit diesem koketten, willenlosen, offenbar ausschließlich lustgesteuerten Wesen nach der Hochzeit? In jeder Hinsicht erscheint die Königstochter wie ausgewechselt: Nun verlagern sich die Geschehnisse an König Hringrs Hof á Upplǫnd. Friðþjófr sucht diesen schließlich allein, in Gestalt eines Bettlers, eines „Salzsieders“, saltbrennur, auf (Frið, Kap. 11). Hier nun wird Ingibjǫrg zur spröden, ablehnenden, ja unhöflichen Hausherrin, die immer wieder vom König selbst auf ihre Pflichten als Gastgeberin hingewiesen werden muss. Der König hingegen ist auf merkwürdige Weise von Anfang an Friðþjófr zugetan. Bei seiner Ankunft unterhält er sich sogleich aufgeräumt und wohlwollend mit einem freilich wenig vertrauenserweckenden Neuankömmling. Stóran kufl, „eine große Kutte“ habe er sich übergezogen und sich auf diese Weise allr loðinn gemacht, „ganz haarig“, „shaggy“, mit zwei Stäben in der Hand und einer Maske vor dem Gesicht (II stafi í hǫndum ok grímu fyrir andliti), auf dem Kopf einen riesigen Hut aus Fell (stóra skinnahúfu). Gebrechlich, „müde“, nach Art eines alten Mannes habe er geblickt (sér allhrumliga) (Frið, Kap. 11). Ingibjǫrg teilt indes ganz und gar nicht die Leutseligkeit ihres Gatten, verächtlich, ja in steigendem Maße hasserfüllt äußert sie sich, wie der König es wagen könne, einen jeden dahergelaufenen Bettler an ihren Tisch zu bitten: „A marvellous fashion of thine, that thou must needs talk so freely with every carle that cometh hither! Yea, what is the worth of him, then?“¹⁴⁵ Der aber bleibt liebenswürdig, keine Spur von Übellaune, und fragt nach dem Namen des Fremden, den Friðþjófr als Þjófr („Dieb“) nennt. Ingibjǫrg reagiert nunmehr beleidigend nicht nur Friðþjófr gegenüber („Go, Thief, get thee to some other harbour, or in to the guesthall“¹⁴⁶), sondern auch gegenüber ihrem Mann. Als Hringr sie (immer noch keines-
Larsson 1901, S. XX. Gould 1922, S. 225. Gould 1922, S. 226. Vgl. Gould 1922, S. 226. Interessant genug sieht Gould – wenn überhaupt – als „nearest resemblance“ einen Ort der Toten, eine Totenwohnstatt, Helgafell, wie sie in der Landnámabók, 32, 1 beschrieben werde (vgl. Gould 1922, S. 226, Anm. 16). Es ist der Ahnenhügel von Þórólfrs Familie, ein Paradebeispiel des tabuisierten Ortes im Nordischen: Niemand durfte diesen ungewaschen betrachten, weder Mensch noch Tier hier verletzt werden und niemand durfte hier seine Notdurft verrichten. Übers. Eiríkr Magnússon und Morris 2000. „Dróttning segir ϸatt undarligan hátt, ‚at ϸeir girniz svá frekt at tala við hverja ϸá karla, sem hér koma. Eða hvers er vert um hann?ʻ“ (Frið, Kap. 11). Far, Þjófr! til annarrar gistingar eða í gestaskála.
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wegs unfreundlich) zurechtweist: „‚I am old enow to know how to marshal guestsʻ“,¹⁴⁷ beschimpft sie ihn gar als „törichte[n] Alten“: Gamalœra geriz ϸú nú, at ϸú skipar hjá ϸér stafkǫrlum.¹⁴⁸ Man befürchtet spätestens jetzt einen Eklat, Ingibjǫrg stellt ja in jeder Hinsicht das Prestige, die soziale Position, die geistige Zurechnungsfähigkeit ihres Mannes infrage, der aber auf merkwürdige Weise nicht eintritt. So mochte man diesen Schlagabtausch als Burleske lesen, als ans Parodistische grenzenden Zwist unter Eheleuten, aber bei genauerem Betrachten zeigt sich, dass das ganze Setting sehr sorgfältig inszeniert ist – als mythisch existenzieller Übergang analog zur Dramaturgie im Baldershag. Auf gleiche Weise werden Transgressionen, Provokationen angehäuft, dem Hausherrn hier wie da zugemutet, zunächst von Friðþjófr, dann von Ingibjǫrg. Denn längst weiß der König um die wahre Identität des Besuchers, er weiß, wen er in seinem Hause duldet (Frið, Kap. 13), dass er es mit dem leibhaftigen Nebenbuhler und Rivalen um die Gunst seiner Frau zu tun hat, aber er bleibt ohne den geringsten Anflug von Eifersucht oder Missgunst oder Misstrauen. Als Friðþjófr schließlich bemerkt, dass der König ihn durchschaut hat, möchte er abreisen, aber jetzt drängt ihm Hringr buchstäblich Reich und Titel auf, inständig bittet er Friðþjófr, ihm noch zu Lebzeiten zuzusichern, dass er sein ganzes Hab und Gut, nicht zuletzt seine Ehefrau übernehmen möge¹⁴⁹ – in der Tat, für skandinavische (nicht einmal reale, sondern auch gegebenenfalls fiktive, literarische) Verhältnisse ist er ,zu gutʻ: „Kings in old Scandinavian romance are not in the habit of giving away their wives nor of allowing former suitors to remain in their vicinity. This is in violent contrast to every sentiment of Northern epic story.“¹⁵⁰ Ein Gebaren also, das auf keine Weise nordischen Gepflogenheiten entspricht, ja sich im nordischen Kontext nachhaltig fremd ausnimmt: „This is a contest of generosity and nobility of a sort unknown to the North.“¹⁵¹ So sah man kaum eine andere Möglichkeit, als sich außerhalb des nordischen Kulturkreises nach Vergleichbarkeiten umzusehen. Chester Gould glaubt, sie im Arabischen zu finden, etwa in den Märchen aus 1001 Nacht, in der Erzählsammlung Kitab el Agani des 10. Jhs. und einige mehr. All diese Elemente fänden sich dort als literarische Gemeinplätze, insbesondere das Motiv „of giving away a woman“¹⁵² aus reiner (meist nicht einmal näher begründeter) Generosität des Gebers. „[T]he story of the surrendered woman“ sei hier in ihrem gewissermaßen natürlichen Umfeld kei-
Ek em nú svá gamall, at ek kann hér gestum at skikka. „‚Wie ein thörichter Alter handelst Du da, dass du neben dich Bettlerkerle sitzen lässestʻ“ (Übers. Calaminus 1863, S. 23). „‚Yea, old, and over old,ʻ said the queen, ‚when thou settest staff-carles by thy sideʻ“ (Übers. Eiríkr Magnússon und Morris 2000). ,Gef ek frægum Friðþjóf konu / ok alla með eigu mínaʻ (Frið, Kap. 12). („‚Dem starken Frithjof geb’ ich mein Weib / Und alle meine Habe dazuʻ“ [Übers. Calaminus 1863, S. 26]). Gould 1922, S. 225. Gould 1922, S. 226. Gould 1922, S. 227.
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neswegs als bizarr betrachtet worden, sondern habe sich (im Gegensatz zum nordischen Kontext) harmonisch eingefügt.¹⁵³ Nun verwundert es kaum, dass Gould in der Literatur eines streng patriarchalisch strukturierten, polygamen Systems im Motivkomplex der ‚Frau als wertvolles Tauschobjektʻ reichlich fündig wird. Indes ist in der Vielzahl an Belegen, die er in der Folge (durchaus mit einer gewissen Redundanz) aufführt, kein einziger überzeugend in seiner Spezifik, in einem tertium comparationis, das über diesen Gemeinplatz hinausginge. Harun-al-Rashid und mit ihm viele weitere Gestalten der arabischen Literatur mögen ihre Frauen, Ehefrauen und Sklavinnen nach Gutdünken ausgewechselt oder vergeben haben,¹⁵⁴ aber die Generosität König Hrings beschränkt sich keineswegs auf das Anbieten seiner Ehefrau, es ist ja auch sein ganzes Hab und Gut, sein Reich, sein Titel, seine Kinder, buchstäblich alles, was er besitzt (wobei der arabische Kontext ausschließlich diese großzügige Weitergabe von ,Besitzʻ kennt). Es ist diese Ausschließlichkeit, die stutzig machen muss. Damit sollen die schon lange vorgeschlagenen Verbindungen in den Osten keineswegs in Abrede gestellt werden, aber wie es scheint, ist es gerade nicht (nur) die exotische Liebesgeschichte, der merkwürdige Liebeshandel, der in Europa Anklang fand und populär wurde (allen voran in Konrad Flecks Roman Flore und Blancheflur (1220), der als Motivgeber für die nordische Saga mehr als wahrscheinlich scheint¹⁵⁵), sondern mindestens ebenso ein damit eng verbundenes, prima facie kaum weniger exotisches Motiv: die erlogene Totenmemoria, das Changieren zwischen fiktiver und letztendlich doch auf tragische Weise notwendiger, ‚richtiger‘ Funeralpraxis, zwischen Scheingräbern, bizarren Leichen-Präparierungen, ‚täuschend‘ lebensechten Maschinenartefakten. Die Protagonisten bleiben dabei zunächst über den konkreten Belebtheitszustand oder Tod der Heldinnen, ihre Echtheit wie deren (gegebenenfalls) funeralen Substitute im Unklaren. So soll ein fantastisches sepulkrales Arrangement¹⁵⁶ den Protagonisten Flore täuschen und ihn den Tod seiner Geliebten Blanscheflur glauben machen, die ohne sein Wissen anderweitig verheiratet wurde. Mit viel Liebe zum Detail wird hier die „Täuschung durch ein Truggrab“ geschildert, mit zwitschernden Kunstvögeln, zwei Automatenstatuen, die, nach Art eines „Perpetuum mobile“, in endlosen Küssen sich Blumen überreichen, gar, mithilfe des Windes, einen Dialog zu führen vermögen.¹⁵⁷ Auf die ominöse Ekphrasis-Szene der Tristrams saga (Kap. 80), die in der Tristantra-
Vgl. Gould 1922, S. 230. Für Ingibjǫrgs erste ,Weitergabeʻ trifft das ohnehin nicht zu, sie wird aus politischer Raison von ihren Brüdern verheiratet, um eine drohende militärische Niederlage abzuwenden, an einen gegebenenfalls ungeliebten Mann, was indes auch im nordischen Kontext auf keine Weise eine Seltenheit darstellt, auch nicht das klaglose Sichdreinfügen der Ehefrau. Allerdings scheint die Art dieser Beeinflussungen bis heute keineswegs klar: „Scholars disagree as to whether Floris and Blauncheflur is an oriental tale that was adapted for Western audiences, or a tale whose European author simply supplied it with an oriental setting“ (Kelly 1994, S. 102). Vgl. Ernst 2003, S. 123. Siehe auch Kalinke 2009, S. 227. Vgl. Ernst 2003, S. 123 f.
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dition vollständig ohnehin nur in der norwegischen Fassung erscheint, wird in diesem Zusammenhang regelmäßig verwiesen: Tristan lässt bekanntlich eine tief im Wald verborgene, fantastische Bilderhalle errichten, die er mithilfe eines von ihm besiegten (und einbeinig gemachten!) Riesen mit einer Gruppe von Statuen bestückt, bizarre Automatenwesen, die durch ein ausgeklügeltes Arrangement akustischer und kinetischer Effekte, ja selbst „olfaktorischer Sinnesreize“ wie lebendig, belebt wirken.¹⁵⁸ Im Zentrum steht die Nachbildung seiner Geliebten Isolde, deren Kunstleib auf die Weise präpariert wird, dass ihr die Brust aufgebohrt und mit Goldstaub und Duftessenz befüllt wird, die bei jeder Berührung aus ihren Körperöffnungen strömt. Spätestens hier wird man sich an die üblichen Leichenmanipulationen in Sekundärbestattungen erinnern müssen, der Verwesungsgeruch durch ätherische Öle überdeckt, der optische Auflösungsprozess der Leiche mit Goldüberzug dem unmittelbaren Anblick entzogen. Siehe die in Heinrich von Veldekes Eneasroman ersonnenen fantastischen Grabkonstruktionen „mit ihren blutroten Lichtquellen“, „künstlichen Automaten“, „technologischen wie pharmakologischen Vorkehrungen zur Konservierung, Präparierung und Mumifizierung der Leichen“.¹⁵⁹ Die ins Außernatürliche erweiterten Eigenschaften dieser Essenzen wurden bereits erwähnt, seit Jahrtausenden sind es die Mittel der Wahl in (paganen) Beerdigungskontexten. Auf der literarisch narrativen Ebene mag der Bilderhallen-Komplex nicht zu Unrecht verstanden werden als eine Art Rezeptionshinweis, ein „exegetical device that conveys and clarifies the meaning of the entire text.“¹⁶⁰ Aber die Ähnlichkeiten zur Totenmemoria in einem konkret körperhaften, handlungspraktischen Sinn sind kaum zu übersehen: Die Szene trägt alle Kennzeichen einer ritualisierten Totenpräparation wie -interaktion.¹⁶¹ Im europäischen Mit-
Vgl. Ernst 2003, S. 122. Ernst 2003, S. 120 f. Als Beispiel eines solchen funeralen Duftarrangements führt Ernst die Vorrichtung einer Leichenpräparierung für die Amazone Camilla an. Schon zu Lebzeiten habe diese Vorsorge getragen, dass ihr Sarg mit Balsamgefäßen bestückt werde, „die verhindern sollen, daß der Leichnam fault oder riecht“ (Ernst 2003, S. 121). Kalinke 2009, S. 225. Noch näher am eigentlichen Bestattungskomplex sind die östlichen Erzählungen. So wird in der Erzählsammlung Kitab el Agani von Schicksal Mourakkishs berichtet, dem der Tod seiner Jugendliebe Asma glaubhaft gemacht werden soll (nachdem sie ohne sein Wissen anderweitig verheiratet worden war). Dazu töten seine Brüder einen Widder, essen das Fleisch und bestatten die Knochen an einem Ort, der Mourakkish schließlich als das Grab von Asma gezeigt wird. Allerdings bleibt zumindest ein Teil dieser Knochen sichtbar und wird, wenn man so will, wieder ‚lebendig‘ und damit ‚sprechend‘. Seine kleinen Neffen benutzen sie im Spiel als Würfel. Auf diese Weise erfährt Mourakkish vom Betrug und über das eigentliche Schicksal seiner Geliebten. Er bricht auf, um sie zu finden, wird krank und zieht sich in eine Höhle zurück. Und obwohl er letztendlich (mithilfe eines Hirten) von Asma gefunden wird, stirbt er. Auch in anderer Version erscheint (wenn auch eher unmotiviert) ein Knochen, der gewissen Präparierungen unterzogen wird. Hier indes scheint der liebeskranke Held nicht einmal willkommen. Nach einem zuvor ausgeklügelten Plan wird er von Asma in ein Gespräch verwickelt und festgehalten, bis die Brüder ihn erreichen und zur Rückkehr zwingen, dann stirbt er (vgl. Gould 1922, S. 235 f.). In The Tale of Urwa wird dem Helden Urwa (wiederum von einem engsten Angehörigen, seinem Vater) das falsche Grab seiner mittlerweile verheirateten Geliebten Afra gezeigt, er siecht dahin,
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telalter scheint sich die Begeisterung für künstlich hergestellte Apparaturen aller Art mit dem „adeligen Totenkult“, „der Sepulkralarchitektur“¹⁶² zu verbinden. So konstatiert Ernst eine Hinwendung zu einer bizarren Körperlichkeit in mittelalterlichen Begräbniskontexten, eine Art „verweltlichte[n] Körperkult“,¹⁶³ den er zu Recht in schierer Diametrie zur christlichen „transzendentistischen Orientierung der Seele auf das Jenseits“ sieht.¹⁶⁴ Man wird darin eine mittelalterliche Neumotivierung, eine literarische Aktualisierung der grundlegendsten Strukturmerkmale paganer ritueller Totenfürsorge sehen müssen: Die künstlichen Automaten schließen sich nahtlos an an die restituierten, substituierten, wiederbelebten Leichen eines paganen Beerdigungskultes. Auch diese Maschinenwelten, Automatenwesen sind vom Ursprung her östlicher, arabischer Natur. Im europäischen Mittelalter werden sie zunächst durchaus zwiespältig rezipiert. Thomas von Aquin gilt es als „bewundernswerte Leistung der Magie, leblose Statuen in Bewegung zu setzen“.¹⁶⁵ Andererseits aber kann „in der magischen Verfügung über Automatentechnik“ der Mensch nachgerade zum „Konkurrenten Gottes“ werden.¹⁶⁶ Hier findet der jüdische Golem seinen Platz, mehr noch aber die künstliche Fauna und Flora, die zierlichen Automatenvögel, der Wunderbaum des Rosengartens der Kriemhild zu Worms. Es sind „magisch wirksame[ ] Sonderräume“,¹⁶⁷ die auf diese Weise erschaffen werden. Und diese konkurrieren auf nicht unproblematische Weise mit „religiösen Heilsräumen“,¹⁶⁸ Anderwelten, Paradiesen, in unserem Sinne ‒ Totenwelten.¹⁶⁹
bis er die Wahrheit erfährt und sich auf die Suche macht. Der Ehemann macht ihm nun zwar das großzügige Angebot, Afra zurückzugeben, dann aber sterben beide (vgl. Gould 1922, S. 239). Ernst 2003, S. 119. Ernst 2003, S. 121. Ernst 2003, S. 121. Friedrich 2003, S. 96. Vgl. Friedrich 2003, S. 97. Friedrich 2003, S. 99. Friedrich 2003, S. 99. So mag gerade für den Rosengarten zu Worms, Austragungsort des berühmten Schaukampfs zwischen den Dietrichrecken und den Nibelungenhelden (siehe die Rosengarten-Dichtung des 13.Jh.) ,,eine „höfisch-repräsentative[ ] Konnotation“ ebenso wie ein „juristischer Verweisbezug“ nicht von der Hand zu weisen sein (vgl. Friedrich 2003, S. 155). In seinem ursprünglichen Sinne ist der Rosengarten freilich ein Ort der Toten, ein Friedhof, eine Bedeutung, die er bis in die jüngste Zeit im Volksmund behalten hat (siehe Ranke 1951). Die gerade hier auffallend abweichende Ausgestaltung der Kriemhild (vgl. de Boor 1959, S. 373) als valandîn, als unerbittlich grausame Herrscherin über diesen vordergründig so heiteren Ort trägt dem Rechnung: Sie ist die Herrscherin über ein Totenreich, über das Reich der toten (oder todgeweihten) Helden. Und bezeichnenderweise kann sie auch nur von einer anderen liminalen Gestalt, dem Mönch Ilsan, der sich eigens für diesen Zweck präpariert, in ihre Schranken verwiesen werden: Ihre blutig geriebenen Wangen von den allzu groben Küssen des bärtigen Mönchs mag man als Persiflage auf die höfische Minne lesen, dennoch geht es hier um mehr als lediglich eine Rügeaktion für ihre unerträgliche ,Hoffart‘. Ilsans merkwürdiger Aufzug ‒ er trägt gleichzeitig eine Mönchskutte und ein Kettenhemd (dô truoc er ob den ringen eine grâwe kutten an. / dô truoc er ob den beinen zwô dicke grâwe hosen [97, 2 f.]) ‒ macht sein Erscheinungsbild für Freund wie Feind irritierend uneindeutig. Der „Mönch-Held“ gibt sich damit nicht nur der Lächerlichkeit preis,
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Denn eine weitere Eigenschaft, mit der Hringr notorisch, ja epithetisch belegt wird, ist auffallend: In jedem Zusammenhang wird auf sein hohes Alter und die damit verbundene Gebrechlichkeit verwiesen. Als Friðþjófr ihn einmal allein in den Wald begleitet, schläft der König vor Erschöpfung ein (Frið, Kap. 12). In der Saga wird diese Szene als Loyalitätsprobe für Friðþjófr plausibel gemacht, allein im Wald hätte er schließlich den König ohne weiteres als unliebsamen Nebenbuhler töten können. Friðþjófr scheint mit dem Gedanken zu spielen, wirft aber dann sein Schwert weit von sich, was für Hringr, dem Friðþjófs Handeln – trotz seines tiefen Schlafs! – nicht verborgen blieb, Beweis genug ist.¹⁷⁰ Der Eigenschaft der Großzügigkeit wie der Eigenschaft der Betagtheit haftet somit etwas nahezu Übermenschliches an. Sie ist gerade nicht ein Zeichen der Schwäche und Handlungsunfähigkeit eines alten Mannes, vielmehr zeigt sich der König als gefährlich mächtig, dem sich die Brüder Ingibjǫrgs nicht einmal zum Kampf zu stellen wagten, er ist einflussreich und vor allem überaus gut informiert. Dem Motiv der Schwäche, des Schlafbedürfnisses sind wir in diesem Zusammenhang häufig genug begegnet, nahezu durchgehend in Ahnen- bzw. Begräbniskontexten. Es ist der Euphemismus der Totenfürsorge. Die Toten Frotho/Fróði/Freyr wie Balder(us) sind so ,schwachʻ, dass sie im Wagen herumgefahren, im Stuhl herum getragen werden müssen, was gleichermaßen mit Altersschwäche oder im Fall Balderus mit dessen Verwundung erklärt wird. Der verstorbene, eingesalze König Freyr/Frotho wird noch drei Jahre umhergefahren, und in dieser liminalen Übergangszeit zum endgültigen, ,richtigenʻ Tod pflegt er durchaus noch Umgang mit den Lebenden, nicht zuletzt erhält er nach wie vor Steuergelder, die ihm als Münzen ins Grab geschüttet werden. Und Hringr scheint es doch ebenso zu ergehen. Die abfälligen Bemerkungen der Brüder machen es deutlich, er kann nicht einmal mehr reiten wie ein richtiger Mann – und doch unterliegen ihm die Brüder schmählich. Nicht zuletzt sind die Silbermünzen, die Friðþjófr in das Balderheiligtum bringt, ja wirft, ausdrücklich ,Kompensationʻ, ,Brautgeldʻ für König Hringr. Bezeichnend genug trifft Friðþjófr, bevor er in die Halle eintritt, bei Sonnenuntergang, wie es heißt, auf zwei Hirtenjungen, die er befragt über deren Herrn. Sie geben sich verwundert über seine Unwissenheit, antworten aber merkwürdig ausweichend, er sei doch so alt, dass er eigentlich wissen müsse, in „welcher Lage“ (í hverju lægi) König Hringr „in jeder Beziehung“ (til allra hlutra) sei. In der Halle wird er sogleich vom König bemerkt und an dessen Tisch gebeten. Aber selbst als der fremde Gast einen Teil seiner Maskerade abgelegt hat, und sich als stattlicher junger Mann erweist, behält er ausgerechnet
vielmehr erzeugt er gezielt „Irritationen und Fehldeutungen“ (vgl. Hammer 2008, S. 46). Ilsan wirke dadurch „in höchstem Maße desintegrierend und destabilisierend“ (Hammer 2008, S. 49). Natürlich, es ist die zottige Präparierung der Monsterkämpfer, die härenen Eisen-Hosen finden ihre Entsprechung im waffenartigen stacheligen Bart ‒ Ilsan wäre nicht der erste, dem auf diese Weise eine schadlose Annäherung an eine Monsterfrau, die Ahnfrau im (nord)germanischen Kontext gelungen wäre. Auch für diese Szene sind die Übereinstimmungen zu einer Erzählung aus der östlichen, buddhistischen Literatur, dem Tripitaka, aufgezeigt worden, siehe Krappe 1941.
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seinen Fellhut auf, auch sein Gesicht bleibt weiterhin von jenem befremdlichen Aussehen, augndapr mjǫk, ok loðinn um andlitit allt, „triefäugig und rauh von Angesicht“. Friðþjófr gibt sich den Anschein der Gebrechlichkeit, des hohen Alters, „so ältlich wie möglich“ (sem elliligastan) macht er sich, allhrumliga meint im Besonderen die Gebrechlichkeit des Alters,¹⁷¹ geradewegs wie Ingibjǫrg ihren eigenen Ehemann bezeichnet, einen ‚schwachsinnigen kindischen Greisʻ. Friðþjófr gleicht sich an, er macht sich gemein mit seinem Gastgeber, er rüstet sich für den Eintritt in eine Sphäre der besonderen Art. Erkennbar in jedem einzelnen Element die stereotypen Charakteristika des (rituellen) Grenzgängers: eine besondere, auffallende Kopfbedeckung in Verbindung mit einer wie auch immer gearteten, im Kontext der Saga offenbar nicht mehr genau bestimmbaren ‚Augenschwächeʻ, eine Sehauffälligkeit, hinzu kommt das Bettlerhafte, das Verwahrloste, das Zottige: Symbole des Liminalen, der Uneindeutigkeit, wie sie uns nun am wenigsten fremd sind. Es sind Odin-Merkmale, es sind Hǫðr-Merkmale, es sind Loki-Merkmale, Merkmale der Mörder und Tabubrecher, der ‚Friedensdiebeʻ.¹⁷² Nicht zuletzt weist die merkwürdig unmotivierte (und narrativ unerklärte) Fellartigkeit seiner Bekleidung, der ‚Lottermantelʻ, der Fellhut, in eine eindeutige Richtung. Es ist die typische Kleidung des Monsterbekämpfers, Friðþjófr präpariert sich zum loðbrók, er wird zum sverðmerðlingr, zum ‚Mardermannʻ. Die Hirten als stereotype Bewohner der Grenze verrätseln, was dabei wieder einmal besser unausgesprochen bleibt: Es ist die Sphäre des Todes, Friðþjófr besucht die Toten. Selbst sein merkwürdiger Auftritt als ‚Salzbrennerʻ mag darin noch einen Platz finden. Natürlich wird die Wahl des Motivs prima facie dem niederen Rang, der Ärmlichkeit dieser Tätigkeit geschuldet sein. In einem sepulkralen Kontext evoziert diese Profession indes eine Vorstellung der ganz anderen Art: Friðþjófr wird zum ‚Einsalzerʻ, zum Konservator, zum Leichenpräparator, ein Bestattungsspezialist, der nicht zuletzt wohl auch bei Freyrs Begräbnis vonnöten war. Er sorgt auch und gerade auf der rein körperhaften Ebene für die Erhaltung einer Ganzheit, zumindest auf Zeit, eben so lange, bis die endgültige Transformation in den ‚guten Ahnenʻ abgeschlossen ist. Auch die Ausschweifungen im Baldrshag sind ritueller Natur. Die Verbindungen zu den Freyr-Feierlichkeiten in Uppsala sind zu Recht und früh gesehen worden, sie machen jedenfalls außerhalb eines rituellen Rahmens keinen Sinn, nicht einmal im banalen Erzählrahmen einer Liebesgeschichte. Es ist Substitution wie Surrogat für die bedürftigen Toten, und das sind Balder wie Hringr. Erinnert sei an das ungleiche Brüderpaar Alf und Yngvi der Ynglinga saga (Kap. 24), an eine ähnlich heikle Mission, bei der nicht zuletzt auch die Sorge um einen ungestörten Schlaf im Vordergrund steht, allerdings mit einem prima facie ganz anderen Ergebnis: Der ‚mürrischeʻ, menschenscheue Alf und sein lebenslustiger Bruder Yngvi töten sich gegenseitig. Durch Alfs andauernde ‚Schläfrigkeitʻ hatte sich dessen Frau Bera dem Bruder zu-
Siehe Frið, Kap.11. Vgl. Gould 1922, S. 245: „‚friðr and þjófrʻ, meaning ‚Peacethiefʻ“, einen Interpretationsansatz, den er allerdings zu Gunsten eines anderen verwirft.
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gewandt, und so kommt es schließlich zum tödlichen Zweikampf. Auch hier macht sich der lebende ‚Bruderʻ zum Erfüllungsgehilfen des Toten. Schließlich übernimmt er dessen eheliche Pflichten. Die anschließende Totennachfolge wird als tödliche Eifersucht narrativ plausibel gemacht. Balders ungestörtem Schlaf ist ein ganzes Eddalied gewidmet! Balder und Hringr sind analoge Gestalten, so wie sich Balder in seinem Hof Baldrshagi als großzügiger bóndi erwiesen hat, als „Hausherr“, und man wird nun getrost die Bedeutung „Ehemann“ hinzufügen können, so tut dies Hringr in seinem. Die menschlich verständliche Wut über diese Frevel bleibt nur deshalb aus, weil es sich um keinen Menschen mehr handelt. Hier wie da sind Friðþjófr und Ingibjǫrg Kulthelfer im Beerdigungsritual oder der Ahnenpflege, sie müssen für einen sicheren Übergang (und/oder Verbleib) des Toten Sorge tragen. Entsprechend sind sie es, denen grið gewährt werden muss, auch bei der ‚Thing-Versammlungʻ der Götter wie beim ‚Götterfestʻ Ægirs gelten die Friedenszusicherungen ausdrücklich dem Friedensbrecher und Mörder Loki, dem ungebetenen Gast. Grið ist die besondere, die rituelle Situation, wo natürliche, ‚normaleʻ Maßnahmen und Reaktionen auf Übertretungen außer Kraft gesetzt sind. Auch der ‚Friedensdiebʻ Friðþjófr, der ungebetene Gast, fordert im Baldershag diese Unantastbarkeit für sich ein, nicht etwa, dass er sie praktizieren oder gewähren müsste. Ingibjǫrgs kultische Rolle verwandelt sich auf der ,anderenʻ Seite in die einer Totenbraut, spröde, ablehnend wie ihre mythischen und rituellen Vorbilder. Sie ist die Stimme der missgünstigen Toten, advocata diaboli, schließlich auf verständliche Weise aufgebracht gegen die unverschämten Forderungen der Lebenden. Friðþjófr, der skrupellose Grenzgänger wird gleichermaßen auf der ,anderenʻ Seite zum fürsorglichen Helfer, der im Ritual, durch das Ritual, genau diese Gefahr abzuwenden weiß. Die nordische Sage kennt einen anderen hochbetagten König mit dem identischen Namen Hringr, es ist der König Sigurðr hringr der Skjǫldunga saga,¹⁷³ und mit diesem teilt der König Hringr der Friðþjófs saga nicht nur das spezifische Merkmal des hohen Alters, sondern viele weitere Motive und Eigenschaften. Hier sind es indes explizit die eines Bestattungskontextes. Von König Sigurðr hringr wird als Einzigem (neben dem Wikingerfürsten Haki und natürlich dem mythischen Balder) von einer ‚richtigenʻ‚ eben ‚eigentlichʻ ausagierten Schiffsbestattung nach seinem Tode berichtet (Kap. 27). Beim Opferfest in Skíringssalr erblickt Sigurðr hringr die schöne Alfsol und begehrt sie sogleich zur Frau, ihre zwei Brüder äußern sich nun auf gleiche Weise sehr verächtlich über dessen Alter, hier steht nicht seine (vermeintlich mangelnde) Kampfkraft oder Mobilität im Mittelpunkt, sondern seine Geeignetheit bzw. Ungeeignetheit als Ehemann. Ihre schöne Schwester wollen sie keinesfalls einem so alten und „zusammengeschrumpften Greise“¹⁷⁴ zur Frau geben. Alfsol will ausdrücklich lieber sterben als diesen heiraten. Und auch hier kommt es zur Niederlage der Brüder, die indes den Heldentod sterben, zuvor vergiften sie aber ihre Schwester, um ihr die Hochzeit zu
Bjarni Guðnason (Hg.) 1982. Mellin 1844, S. 55.
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ersparen. Allerdings ist auch der König tödlich verletzt, er lässt sich auf sein Schiff bringen mit vielen weiteren toten Männern und der toten Alfsol. Er gibt sich selbst den Todesstoß und lässt sich im brennenden Schiff aufs Meer treiben. Natürlich ist dies eine narrative Umformung eines Begräbnisbrauchs (wozu im Übrigen auch die Fiktion des mobilen Schiffs gehört). Alfsol, auf der sichtbaren, narrativen Ebene, wie Ingibjǫrg, auf der subkutanen, symbolischen Ebene, folgen als Tote ihrem toten Ehemann ins Grab. Und wie wir aus zahlreichen Beispielen wissen, genügt dies auch in einem ritualisierten Sinne, d. h., die Toten- bzw. Witwennachfolge kann sehr wohl real und damit endgültig durchgeführt worden sein, der Aufenthalt im Grab konnte aber genauso zu einem (temporären) Aufenthalt am oder auf dem Grab werden. Damit war aber der Aufenthalt im Reich der Toten umkehrbar, eine Rückkehr in die Welt der Lebenden möglich. So in der Friðþjófs saga, wo indes der Fokus ohnehin auf Nachfolge, Erbe, Fortbestand liegt. Es geht um die korrekte Ahnenpflege, Spezialwissen, Verhandlungsgeschick, das dies ermöglicht. Die Ähnlichkeiten zu den (romantisierenden) Erzählmodellen der riddarasǫgur, der altfranzösischen höfischen Literatur sind nicht von der Hand zu weisen. Für unsere Überlegungen ist es indes unerheblich, wie wir uns deren Übermittlungswege im Einzelnen, ob auf direktem Weg aus dem Osten oder indirekt über mittelalterliche Romanstoffe, vorstellen müssen, ausschlaggebend ist deren grundsätzliche Identifizierbarkeit als mittelalterliche populäre ,Erzählhülsenʻ einschließlich deren garantierter Funktion, einen Stoff zu ,narrativisierenʻ, erzählbar zu machen. Aber es sind ursprüngliche, nordische Elemente, die (mehr oder weniger geglückt) in diesen fremden Rahmen eingepasst worden sind. Die nämliche Technik erscheint bei Saxo, und auch Snorri formt auf diese Weise weite Teile der Bestattung Balders narrativ um und macht die pagane Orthopraxie mehr und mehr unsichtbar. Auch an den russischen Nestor-Chronikschreiber sei erinnert, der aus den Bestattungselementen einer Schiffsbestattung ein Rachedrama schuf. Man könnte also Gould zustimmen, wenn er unter „the bones and marrow of the Friðþjófssaga“ dermaßen narrative Plausibilisierungsstrategien verstünde, und diese (in diesem Fall) als letztendlich ,orientalischʻ einordnen möchte. Aber hier sollte kein arabischer Erzählstoff ,nordischʻ gemacht werden („a tale of the Arabic desert has been changed into a viking novel“¹⁷⁵). Dieser Motivkomplex hat am wenigsten mit einer nordischen Umsetzung einer exotischen Idee von Polygamie zu tun. Selbst die beeindruckende Ähnlichkeit der Episode des schlafenden Königs im Wald zu einem chinesischen, buddhistischen Text (Tripitaka), wie sie Alexander Krappe plausibel machen kann, wird auf diese Weise beurteilt werden müssen. Darin geht es um die außergewöhnliche, ja übermenschliche Vergebungsfähigkeit des Protagonisten, eines indischen Prinzen, der den Mörder seines Vaters am Leben lässt, Gould 1922, S. 245: „The original must have been a form of the far-flung tale of the two children who were brought up together, became lovers and were parted on account of their differences in condition, and after perils and adventures were again united. And this accounts for the exotic character of the Friðþjófssaga.“
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obschon er jede Möglichkeit gehabt hätte, diesen zu töten, schlafend, einsam im Wald, mit dessen Schwert griffbereit, der darüber hinaus in ihm nicht einmal die potentielle Gefahr ahnt, da der Prinz sich dessen Vertrauen in Verkleidung erschlichen hat.¹⁷⁶ Unwillkürlich wird man sich auch an die einsame Begegnung des Balderus und Hotherus im Wald vor seinem ‚Lagerʻ erinnert fühlen müssen, wie indes Hotherus, der gleichermaßen verkleidete Harfenspieler und Vagabund, ganz im Gegenteil, ohne zu zögern, seinen ahnungslosen ,Rivalenʻ Balderus niedersticht. Hier geht es tatsächlich ausschließlich um die gewaltsame Bannung des unversöhnlichen Toten als ultima ratio. Aber Friðþjófs Ziele gehen darüber hinaus. Der chinesische Text ist konzipiert worden als Propagandatext der buddhistischen Mission in China. Der wichtige Wert der Vergebung als Schlüsselbegriff des neuen Glaubens sollte mithilfe dieser Erzählung beispielhaft aufgezeigt werden.¹⁷⁷ Und es scheint in der Tat diese Vorstellung der außermenschlichen Duldsamkeit und Friedfertigkeit, die hier in den Rahmen nordischer Ahnenkonzeptualisierungen eingefügt wird. Es ist die nämliche Geisteshaltung, wie sie schon in der Hervarar saga ok Heiðreks an Angantýr beobachtet werden konnte, everybody’s darling, der, kaum verständlicher, die Attacken seines gewalttätigen, streitsüchtigen Bruders Heiðrekr klaglos erträgt, ja seinerseits immer wieder beschwichtigend eingreift, bis er tatsächlich von ihm erschlagen wird – dort so wenig banaler Bruderstreit wie hier ‚Geplänkelʻ unter Eheleuten. Dahinter steht letztendlich der Wunsch an Tote, ruhig zu halten gegenüber den Lebenden, sich großzügig zu erweisen, keine zweifelsohne berechtigten Ansprüche auf ihr früheres Besitztum, Frau, Hab und Gut, Nachkommen zu erheben. Es geht um die Befriedung und Beschwichtigung, um Zustimmung und Gewogenheit des Ahnen bezüglich seiner Nachfolge. Die heiklen Übergabemodi freilich, und dies mag in der Tat unser wie mittelalterliches christliches Befremden ausmachen, werden in der Friðþjófs saga vom Betroffenen selbst, dem Toten geregelt oder angewiesen. Der exotische Charakter der Saga ist also nicht nur einer kulturellen Dislozierung geschuldet, sondern mindestens ebenso einer Dislozierung oder Übertragung eines ursprünglich ritual-logischen, sepulkralen Denkrahmens.
Siehe Krappe 1941. Vgl. Krappe 1941, S. 454.
14 Tote Götter – ein Fazit Unser mythologisches Wissen über Balder ist das Wissen über einen Toten. Das ist der Grund, warum kein weiterer Gott im nordischen Pantheon mit dermaßen hymnischen Lobesbezeugungen überschüttet wird, warum man bei keinem weiteren Gott so eifrig darauf erpicht scheint, nur nichts auszulassen, in jeder Hinsicht dem Ideal des Kulturkreises, der Zeit zu entsprechen, dessen absolute „Unersetzlichkeit und Unvergleichlichkeit“¹ immer wieder zu betonen; eine perfekte Idealisierung, die vielleicht sogar für einen (göttlichen) Helden noch irgendwo angemessen gewesen wäre – aber Balder ist kein Held. Er vollbringt keine Heldentaten, keine einzige. In seiner „perfect normativity“² wirkt Balder auf merkwürdige Art ‚farblosʻ,³ vor allen Dingen aber „ever passive“.⁴ Er unternimmt nichts, nichts gegen die doch so offenbare tödliche Bedrohung, die sich in seinen Träumen andeutet. Still harrt er aus, wie König Hringr angesichts des gezückten Schwertes des Friðþjófr, angesichts der Gehässigkeiten seiner Ehefrau Ingibjǫrg, wie Angantýr gegenüber den Provokationen seines Bruders Heiðrekr. Das ehrlose Schießspiel lässt er über sich ergehen, klaglos, waffenlos, wehrlos. Das ist nicht der Stoff aus dem Helden gemacht sind, gewiss nicht in einer Kriegerwelt, und schon gar nicht im nordischen Götterhimmel. Immer wenn in kulturellen Diskursen symbolische Anhäufungen dieser Art erscheinen, Redundanzen in der Sprache, in der Ikonographie und vor allen Dingen im Ritual, geschieht das aus gutem Grund. Es sind „Semantisierungsmechanismen“, „kollektive Manipulationsstrategien“, „Normalisierungsprozeduren“,⁵ deren wichtigste Funktion die Systemerhaltung, die Stabilisierung eines Systemzustands im Hinblick auf andere Systeme und die Systemumwelt ist. Das heißt, es geht um Kompensation, es geht darum, ein wie auch immer oder warum auch immer empfundenes vorhandenes oder entstandenes Ungleichgewicht, eine Schieflage mithilfe symbolischer Mittel auszugleichen. Balders wunderbare Eigenschaften entstammen religiösen, nekro-logischen Vorgaben, rituellem, formalisiertem Sprechen über Tote. Balder ebenso wie sein in jeder Hinsicht mythisches wie ritual-logisches Pendant Freyr sind von Anfang an, spätestens mit Einsetzen der fatalen Albträume, mit Freyrs Siechtum, seinen hugsóttir, tot. Alle folgenden Ereignisse sind keine Erlebnisse dieser als Lebende, es sind rituelle Aktionen, die die Hinterbliebenen bzw. Kultteilnehmer ausführen für den Toten, den Ahnen, es sind Ritualsequenzen, die zum Beerdigungskult oder der Ahnenpflege gehören. Snorri verwendet den Referenzrahmen eines Trauerrituals als Erzählstruktur für seine Mythos-Version. Er erzählt nicht nur über oder von einem Bestattungsritual, sondern mithilfe.
Jahnow 1923, S. 97. Bragg 2004, S. 82. Vgl. Bragg 2004, S. 82. Lindow 1997, S. 41. Fleischer 1996, S. 21.
https://doi.org/10.1515/9783110789140-015
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Balder steht also vor dem Thing-Tribunal als Toter, dessen Ausgang gar nicht anders sein konnte als ein Schuldspruch: Wie lautet das Vergehen? Tot sein. Die Isländer kennen diese Form von Toten-Gericht auch an anderer Stelle: So wird ein so genanntes Türgericht, duradómr, in der Eyrbyggja saga (Kap. 55) geschildert, hier wird mit explizit weltlichen Rechtsmitteln ein Urteilsspruch gegen die toten Wiedergänger auf Froða erwirkt, die bekanntlich immer weiter, sei es aus Unkenntnis oder Unwillen über ihren eigenen Tod, ganz selbstverständlich ihr übliches Leben in der Gemeinschaft der Lebenden fortsetzen, sich am Feuer wärmen, an Festen teilnehmen usw. Es sind die nämlichen Sequenzen, auf die wir – nunmehr rituell kontrolliert – im Baldershag der Friðþjófs saga stoßen. Es wird zunächst auch noch, für eine gewisse Übergangszeit, toleriert. Erst der Richterspruch des Goden Snorri, sein Bannspruch, das letzte fehlende Ritualelement des Übergangsritus beendet endgültig, ab jetzt für immer den Spuk, stellt die ursprüngliche Ordnung, die ursprüngliche Trennung zwischen Lebenden und Toten wieder her (wenn auch in der weiteren Ahnenpflege Austausch und Teilhabe zumindest temporär denkbar sind und dann sogar gezielt gefördert werden können). Balder findet den Tod also nicht durch ein gründlich misslungenes Spiel, dem Toten muss durch ein sadistisches Spiel klargemacht werden, dass er tot ist. Unter Snorris Feder wird daraus gleichwohl die Geschichte vom wunderschönen Balder, seinem tragischen Tod und seiner so heiß ersehnten, indes leider gescheiterten Rückkehr. Die Logik des Bestattungsritus, die Ritualdramaturgie freilich ist eine grundsätzlich andere.Wohl wird auch hier zunächst der Tod „als ein vorübergehender Zustand betrachtet […], der eine gewisse Dauer hat,“⁶ aber niemals ist dabei eine Rückkehr intendiert, wenngleich der Eindruck gewahrt werden muss, dass man nichts unversucht lasse, den Verstorbenen wieder ins Leben zurückzubringen. Als wichtigste Aufgabe in dieser schwierigen Übergangszeit gilt es für die Lebenden, die Kommunikation nicht zu gefährden. Es geht um die Begütigung, die Beruhigung des tief verunsicherten Toten. Er ist nach wie vor Mitglied einer sozialen Gemeinschaft, ein nachgerade gefährlich handlungsfähiges Mitglied, dem nun Normalität, ja Hypernormalität suggeriert werden muss. Letztendlich aber muss er davon überzeugt werden, im Idealfall freiwillig, aber auch mittels Einsatzes brachialer Gewalt, den neuen Status quo anzuerkennen, und (etwa im metaphorisch mythischen Konzept der Reise gefasst) sich auf seinen Weggang vorzubereiten. Freilich kann der Tote nicht sogleich zu seinem neuen, endgültigen Bestimmungsort aufbrechen – mythische Denkmodelle und rituelle Handlungspraxis ergänzen bzw. plausibilisieren sich hier gegenseitig – dessen ‚Seeleʻ, sein ‚Selbstʻ ist an den Zerfallszustand des Leibes gebunden,⁷ und damit beginnt eine mitunter für beide Seiten (für die Lebenden und die Toten) „quälende Wartezeit“⁸: So gut wie immer muss der Körper des Verstorbenen auf eine
Hertz 2007 [1907], S. 159. Vgl. Hertz 2007 [1907], S. 76. Hertz 2007 [1907], S. 80.
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zweite Bestattung ‚wartenʻ, er wird „an einer von der endgültigen Grabstätte deutlich verschiedenen Stelle aufbewahrt“,⁹ derweil beginnt eine Zeit intensivsten Austausches und Verhandlungen mit dem Toten. Es ist die Eigenart der rituellen Zuwendungen, Ansprachen und Kommunikationsangebote an die Leiche in dieser schwierigen Übergangszeit, die gerade wegen ihrer Funktion als Transformationshilfen, als Katalysatoren für den guten, friedvollen Ahnen oft genug abartig, pervers, jedenfalls unverständlich erschienen, die Vorstellung des ,lebendigenʻ Toten, dem die Hinterbliebenen „alle Arten von aufmerksamer Behandlung“ nachgerade schuldeten.¹⁰ Aufmerksamkeiten freilich, die die christliche Kirche qua ihrer grundsätzlichsten Glaubensprinzipien nur als teuflisch verdammen konnte. Was anders als carmina diabolica können Lieder sein, die für einen ,bedürftigenʻ Toten gesungen werden, ob nun als sanftes Schlummerlied oder zotiges Trinklied? Es ist die Vorstellung einer rituellen und damit auch und gerade menschlichen Behandelbarkeit des Todes, die der christlichen Erlösungslehre, einer ausschließlich von Gott gewährten Gnade diametral gegenübersteht und es sei, so der Religionswissenschaftler und Theologe Heinrich Balz, gerade „dieses fehlende religiöse Verhältnis der Lebenden zu ihren Toten“,¹¹ die den Agnostiker wie den (europäischen) Christen gleichermaßen auszeichneten.¹² Viele Jahrhunderte setzt das Christentum alles daran, diese Heilsversprechen der menschlichen Totenfürsorge zu entmachten, die Vorstellung, dass es gerade das rituelle Handeln sei, „das Werk der menschlichen Kollektivität selber durch ihre zweckentsprechenden Riten,“¹³ das aus einem Menschen ein übernatürliches, gottgleiches Wesen macht. Schließlich gehört die Vergöttlichung der Toten im Ritual, durch das Ritual zu den üblichsten und gewöhnlichsten Vorstellungen in vor- und außerchristlichen Religionen, das gegenseitige Befremden im Hinblick auf diese Praktiken bzw. deren Unterlassung ist bis zum heutigen Tag entsprechend groß: Hier hat der Agnostiker Hertz das Verbindende und das Trennende zwischen allen Religionen und dem Christentum im Blick auf den Tod scharf und deutlich artikuliert. Alle versprechen sie ihren
Hertz 2007 [1907], S. 70. Vgl. Hertz 2007 [1907], S. 68. Balz 2014, S. 188. Balz 2014, S. 188. Übers. Balz 2014, S. 97 f. Siehe Hertz 2007 [1907], S. 154 f.: „Und wenn, näher für uns, die christliche Kirche ‚die Auferstehung und das Lebenʻ all jenen garantiert, die ihr vollkommen beigetreten sind, dann formuliert sie nur in einer aktuelleren Form jenes Versprechen, das implizit jede religiöse Gesellschaft ihren Mitgliedern macht. Lediglich [mit dem Unterschied, dass] das, was andernorts das durch spezielle Riten wirksame Werk der Gemeinschaft selbst war, hier zum Attribut einer göttlichen Person wird, eines Heilands, der durch seinen Opfertod über den Tod triumphiert und seine Gläubigen vom Tod befreit hat; anstatt die Wirkung einer bestimmten Zeremonie zu sein, ist die Auferstehung eine auf unbestimmte Zeit vertagte Wirkung der Gnade Gottes. Auf welche Stufe der religiösen Entwicklungen wir uns auch stellen, der Begriff des Todes verbindet sich folglich mit dem einer Auferstehung; auf die Exklusion folgt immer eine neue Integration.“
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Gläubigen die Auferstehung und das Leben, aber wo die anderen Religionen der menschlichen Trauer und Totensorge das Entscheidende zutrauen, entmachtet das Christentum die Wirksamkeit des menschlichen Kulthandelns und setzt die im Erlöser erschienene Gnade Gottes an ihre Stelle. Dies ist der eine grundlegende Unterschied. Aber Hertz benennt auch den zweiten, mit der Devaluation des menschlichen Kulthandelns innerlich verbundenen Unterschied: das Christentum verspricht weniger und Ferneres als die anderen Religionen, insofern es die Erfüllung der Auferstehung der Toten von der planbaren und übersehbaren nahen Gegenwart „auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschiebt“, wie dies schon bei Paulus und anderweitig im Neuen Testament belegt ist.¹⁴
Aus seinen Erfahrungen mit schwarzafrikanischen oder asiatischen Christen berichtet Balz, dass sich gerade Christen der ersten Generation befremdet und „irritiert [zeigten] über das bei agnostischen und bei christlichen Europäern gleichermaßen fehlende religiöse Verhältnis der Lebenden zu ihren Toten“.¹⁵ Das, was das Neue Testament „über den Tod, die Toten und den Umgang mit ihnen“ zu bieten habe, erscheine diesen „durchaus ungenügend, dürftig und ,trockenʻ.“¹⁶ Religion sei jedenfalls für Schwarzafrikaner wie für Asiaten „in hohem Maße der Umgang mit den Toten, nicht Reich Gottes und Auferstehung.“¹⁷ Und gerade in Religionen, die ein „intensives, rituell ausgebautes Verhältnis“ zu ihren Verstorbenen gehabt hätten, sei dies beim Glaubenswechsel als „besonders tief[er] und schmerzhaft[er]“ Bruch¹⁸ wahrgenommen worden: Von der Notwendigkeit und Macht der menschlichen Totensorge denken die Schwarzafrikaner im Grunde wie die alten Ägypter. […]. Hier bringt das alte koptische und äthiopische wie das moderne schwarzafrikanische Christentum mit seiner christlichen Lehre von Gott und Menschen eine Krise, einen Bruch in das gemeinschaftliche Selbstvertrauen: die Bruchstelle bleibt offen. Nicht mehr das menschliche, soziale Kulthandeln, wie von R. Hertz 1906 eindrücklich gedeutet, bringt die Toten zurück, sondern die im Erlöser erschienene Gnade Gottes, die aber die Auferstehung der Toten verschiebt „auf einen unbestimmten Zeitpunkt.“ Sie entmächtigt die menschliche Totensorge gerade in den Kulturen, die am festesten auf sie vertrauen; sie setzt Fernerwartung und Skepsis an die Stelle der Naherwartung des gemeinschaftlichen Kulthandelns.¹⁹
Vielleicht hat gerade diese Strategie der rigiden Abweisung und des Ungültigmachens menschlicher Totenfürsorge und Kompetenz einschließlich ihrer Ziele, ihrer eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung nicht wenig zu jenem in der religionsgeschichtlichen Forschung mittlerweile überwiegend als Fehllesung betrachteten Götterkonzept der dying and rising gods beigetragen. Nicht selten werden bis heute pagane Restituierungskonzepte (einschließlich ihrer ,Endprodukteʻ, die vergöttlichten, befriedeten
Balz 2014, S. 98. Balz 2014, S. 188. Balz 2014, S. 188. Balz 2014, S. 188. Balz 2014, S. 187. Balz 2014, S. 187 f.
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Toten) in dermaßen Denkmodellen verstanden und damit missverstanden. Nach wie vor wird in einem letztendlich christlich geprägten, religiösen Selbstverständnis von Tod und Toten gedacht, selbst wenn das Christentum als Glaubensinstanz davon ausgenommen bleibt.²⁰ Die christliche Logik fordert für einen gestorbenen Gott nicht nur zwingend eine Auferstehung, eine Rückkehr zu den Lebenden als Lebender, sondern das Christentum hat die leibliche Auferstehung für ihren Christengott monopolisiert und damit auch den Auferstehungsdiskurs samt seiner Terminologie und Begrifflichkeiten. Im Rahmen einer Offenbarungsreligion ist die Auferstehung Christi ein einmaliges, unteilbares, nicht wiederholbares Ereignis, an dem andere Religionen keinen Anteil haben können. Wie also mit Hinweisen umgehen, die bei paganen Gottheiten (zumindest nach christlichem Verständnis) in diese Richtung zu deuten schienen? Bereits in der christlichen Antike als teuflische Nachahmung oder gar (noch teuflischere) Vorwegnahme des christlichen Heilsplans polemisiert, schien immerhin eine Anbindung an ein zyklisches Modell, ein Fruchtbarkeitsmodell einen Ausweg zu bieten: Heidnische Gottheiten konnten auf diese Weise im Sinne einer zyklischen Wiederkehr behandelt werden, etwa als ein immer wieder aufs Neue Sterben und Auferstehen eines Fruchtbarkeitsgottes, im Rahmen wie auch immer gearteter Vegetationszyklen, Jahreszeitzyklen, Lichtzyklen. Aber selbst für den ägyptischen Osiris wird in neuerer Forschung eine Vorstellung einer periodischen Wiederkehr, überhaupt einer Wiederkehr nicht mehr angenommen, wohl eine gewisse Affinität zur Fruchtbarkeit, aber zunächst keine Anbindung an irgendwelche Vegetationszyklen. Die zentralen religiösen Vorstellungen sind der Tod und die besondere, aufwändige Bestattung, die dafür als notwendig erachtet wird: With no resurrection or rising for Osiris, a major cornerstone of Frazer’s theory fails in the face of primary evidence. […]. Indeed, Osiris has been understood fundamentally as a funerary deity. Frazer and many Egyptologists observed that the „mythology“ of Osiris was influenced by Egyptian mortuary cult. At many points Griffiths notes the conceptual relations between the presentation of Osiris and royal funerary practices and beliefs. He argues that it „is in the royal
Allerdings liegen postmortale Vorstellungen dieser Art auch dem christlichen Denken nicht einmal so fern, wie es qua seines Selbstverständnisses wohl annehmen möchte. Nicht nur der christliche ,volkstümlicheʻ Glaube, sondern gerade auch die christliche Kanonik kennt den in diesem Sinne tief anachronistischen ,lebenden Leichnamʻ, wobei die Wirksamkeit der Verstorbenen auf die Lebenden sorgfältig restringiert ist auf so genannte ,guteʻ Tote: Heilige. Mit diesen kann und soll nach wie vor Reziprozität aller Art gepflegt werden, Kommunikation bis hin zum Körperkontakt, zu Gabenaustausch und Substitutionsangeboten. Der Heilige ist häufig genug körperlich präsent, materiell manifestiert und konserviert in seinen leiblichen Hinterlassenschaften, den Reliquien. Auch Peter Bräunlein verweist auf den „historischen Wandel von Nähe und Ferne ‚unsererʻ Toten“, das Verhalten der Hinterbliebenen sei auch für deren jenseitiges Schicksal für lange Zeit nicht unerheblich gewesen: „[D]urch ihr Erinnern, durch Gebete und durch das Lesenlassen von Totenmessen“, „gegen Geld oder Immobilien“ habe „die Leidenszeit der Toten im Fegefeuer“ immerhin verkleinert werden können (vgl. Bräunlein 1996, S. 113).
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funerary rites that the cult of Osiris achieves an early ascendancy“. Of particular interest is Griffiths’ view that the „Osiris myth … grew out of the royal funerary ceremonial“.²¹
Nicht nur bei Osiris zeigt sich damit ein voragrarisch-vorvegetativer Zug besonders deutlich,²² sondern ebenso beim nordischen ,Fruchtbarkeitsgottʻ Freyr, wie wir im Grunde genommen überhaupt nur einen voragrarischen oder besser gesagt außeragrarischen Zug Balders kennen: Niemals hat sich Balder über jenen ursprünglicheren Toten- oder Ahnenstatus hinausentwickelt. Balder ist zunächst und zuallererst der menschliche Spitzenahn, der durch seinen Tod zu einer außernatürlichen, übernatürlichen Wesenheit wird. Und auch Freyr ist keine Gottheit, die stirbt, sondern ebenso ein Mensch, der durch seinen Tod und die korrekt ausgeführten Bestattungsriten zum Gott wird, zum vergöttlichten Ahnen, zum Vanen. Damit rückt er in die Nähe der Götter, aber auf welche Weise man sich dieses Verhältnis vorstellen sollte, scheint bis heute schwierig genug. Seine ,Entmenschlichungʻ schreitet in dem Maße fort, in dem sich die Ynglingar zum Herrscherhaus ganz Schwedens aufschwingen, in dem Maße wie der verehrungswürdige Ahn nicht nur im familiären Kreis zufrieden gestellt werden muss, sondern von einem ganzen Volk. Unsere nordischen Götter Freyr und Balder verbindet in diesem Sinne tatsächlich viel mit Osiris, mit Attis, mit Adonis, mit manchen Göttern jener überkommenen Frazer’schen Kategorie – freilich, die prototypischen Eigenschaften seiner ,sterbendenʻ und ,wiederauferstehendenʻ, ,fruchtbarkeitsförderndenʻ Gottheiten sind unversehens zusammengeschrumpft auf ein einziges Attribut: das Sterben. Entsprechend war es deren Tod, der kognitiv wirksam, erinnerbar, mythisch in Szene gesetzt werden musste: Er ist ja die wichtigste Voraussetzung, Ausgangspunkt für die Transformation in einen göttlichen Ahnen. Und hier wie da zeigen diese Ahnen-Konzepte eine tief ambivalente Mensch/Gott-Überlieferung. In Plutarchs gräzisierendem Osiris-Mythos ist Osiris zunächst menschlicher König der Urzeit und wird erst nach seinem Tod zum Gott, natürlich, es ist die übliche Vorstellung eines griechischen Heroenmodells. In ägyptischer Überlieferung werden Osiris wie seine Schwester Isis ‚schon immerʻ als göttliche Wesen aufgefasst.²³ Aber Osiris ist auch der prototypische Tote, zunächst Abbild des toten Pharaos, später „Vorbild für alle, die sterben sollten“.²⁴ Und auch hier zeigt sich, über ein Vorleben des Osiris, über den
Smith 2001, S. 111. Vgl. Balz 2014, S. 86. Vgl. Balz 2014, S. 74. Narrative Kohärenz bietet allerdings nur Plutarch (und Diodor). Erst Plutarch entwirft einen vollständigen, geschlossenen Mythos: De Iside et Osiride, durch und durch eine interpretatio graeca, „aber kein ägyptischer Text weiß ähnlich viel über Osiris und Isis“ (Balz 2014, S. 74), was wiederum seinen Preis hat: Um der Plausibilität der Geschichte willen scheinen sich gerade diese Autoren „besonders weit von der ägyptischen Form des Mythos zu entfernen“ (Assmann 2005, S. 72). Merkelbach 2001, S. 10.
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lebenden Osiris wird in den Ritualtexten recht eigentlich nichts verlautet, auch nicht über irgendeine Form „aktiven Handeln[s]“: Osiris wird im Lauf seiner weiteren Entwicklung zum Retter, zum saviour god, dies aber mehr durch sein erlittenes Schicksal als durch aktives Handeln: er selbst bleibt passiv; das wiederherstellende und rettende Handeln an ihm als Modell aller menschlichen Toten verteilt sich auf Isis und Horus, den Sohn und Rächer seines Vaters an Seth.²⁵
Die intimen Verbindungen zu Frauen, Ehefrauen, Müttern (und vice versa) stehen unter diesen Vorzeichen. Die prototypische soziale Austausch- und Kommunikationssituation findet – von Anfang an – zwischen Toten und Lebenden statt: Der Mythos beginnt nämlich eigentlich erst mit dem Tod des Osiris. Das Besondere dieser PaarBeziehung liegt darin, daß sie die Grenzen zwischen Leben und Tod überschreitet, daß sie sich zwischen einer lebenden Gattin und einem verstorbenen Gatten entfaltet. Die Liebe der Isis gilt einem Toten.²⁶
In vielen Variationen macht der Mythos letztendlich immer wieder dasselbe klar, ob Orpheus und Eurydike, Tristan und Isolde, ob das japanische Urgünderpaar Izanagi und Izanami, der nordische Helgi und Sigrún, sie etablieren und/oder bestätigen unwiederbringlich die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod. Eine Rückkehr ins Leben ist wohl häufig thematisiert, das mythische Denken spielt jede buchstäblich denkbare Möglichkeit des Paradoxons der Systemgrenze durch, es gehört auch und gerade zur stereotypen Rhetorik der Totenlieder, diese Grenzen infrage zu stellen, die Tatsache des Todes zunächst zu ignorieren. Gleichzeitig aber erzählt der Mythos in einer Fülle von narrativen Plausibilisierungskonzepten, wie eine Rückkehr (sei es von Seiten der Lebenden oder der Toten) abgelehnt und/oder durch einen Tabubruch verunmöglicht wird. In ägyptischen Vorstellungen ist indes von vornherein klar, alle Wiederbelebungsmaßnahmen gelten dem Heilwerden des Osiris im Totenreich: Es geht Isis nicht darum, Osiris wiederzubeleben, aufzuerwecken, so wie Jesus Lazarus auferweckt hat, und ihn ins Leben zurückzuholen, so wie Orpheus Eurydike ins Diesseits zurückholen wollte. Es geht darum, ihm im Jenseits zu einer neuen Lebendigkeit zu verhelfen, dadurch, daß seine Glieder in die Machtgestalt der Mumie gebracht werden und seine soziale Einbettung und Anerkennung in der Götterwelt erreicht wird. Was Isis erreicht, ist durchaus eine Art von Auferstehung, aber nicht zurück ins diesseitige Leben, sondern hinüber in ein neues Leben im Jenseits. Der Mythos von Isis und Osiris modelliert eine Ordnung, in der Unterwelt und Oberwelt, die Welt der Toten und die Welt der Lebenden, miteinander in Verbindung gesetzt werden.²⁷
Balz 2014, S. 79. Assmann 2002, S. 9. Assmann 2002, S. 10.
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Eine Rückkehr menschlicher Toter ins diesseitige Leben ist also nicht nur in christlichen, sondern auch in paganen Konzepten ausnahmslos unvorstellbar, so gut wie immer gefürchtet. So ist etwa im japanischen Mythos die Urmutter Izanami die ,erste Toteʻ. Sie stirbt bei der Geburt ihres letzten Kindes. Es ist die letzte Stufe ihrer Schöpfungsarbeit und die endgültige Systemkonsolidierung wird auch hier im Rahmen einer Jenseitsfahrt aufgezeigt: Izanagi, ihr Ehemann, akzeptiert deren Tod nicht und folgt ihr ins Reich der Finsternis, um sie zurückzuholen. Durch Übertretung verschiedener Tabus (auf beiden Seiten) verwandelt sich Izanami in eine wütende Furie und trachtet dem fliehenden Ehemann nach dem Leben. Um ein Eindringen der Unterweltdämonen in die Welt der Lebenden zu verhindern, spricht Izanagi am Jenseitsfluss, an der Schwelle zwischen Leben und Tod, endlich die Scheidungsformel aus. Gleichzeitig beginnen zähe Verhandlungen, bis es schließlich zu einer gegenseitigen Anerkennung des Status quo kommt²⁸: Die Konfrontation, in der die Gemeinschaft von Urmutter und Urvater schließlich ihr Ende findet, ist jedoch von existenzieller Bedeutung für die gesamte Menschheit. Nun, da der Grenzstein gesetzt, die Scheidungsformel gesprochen, bleiben Diesseits und Jenseits für immer geschieden.²⁹
Auch Naumann verweist auf die Ähnlichkeit zum Orpheusmythos, wie Assmann macht sie auch den Unterschied dazu klar: „Izanagis Gang in die Totenwelt ist jedoch mehr und anderes. Es ist mythisches Urgeschehen, das die Bedingungen des menschlichen Daseins für alle Zeiten festlegt.“³⁰ Ähnlich erbittert verhandelt Odin an der Schwelle zum Totenreich mit einer gewiss ebenbürtigen, weiblichen Toten, der Mutter dreier Riesen, vielleicht die mythische Ahnfrau, seine eigene Mutter, mit ähnlichem Ergebnis. Alles Ansinnen der Lebenden an die Toten wird rigoros zurückgewiesen. Der Tod ist ein unumkehrbarer Prozess der Überschreitung einer Grenze und der Eingliederung in eine neue, jenseitige Gemeinschaft, wobei die entscheidendsten Etappen in diesem Prozess auch in den paganen Kulturen als durchaus unterschiedlich behandlungswürdig erachtet und entsprechend fokussiert wurden: Die Furcht vor dem Wiedergänger, dem nordischen draugr oder dem mesopotamischen etemmu („Totengeist“) ist den Ägyptern fremd,³¹ ihre Ängste richten sich gewissermaßen in die andere Richtung. Für sie sei damit weniger die Vorstellung einer ruhelosen Seele, eines Untoten oder Ähnliches im Diesseits beängstigend, so Assmann, vielmehr der Gedanke, nach dem Tod keine Aufnahme in die ersehnte Götterwelt zu finden.³² Aber einmal dort buchstäblich heil angekommen, hat der Tote keine Veranlassung mehr zurückzukehren, die Toten- bzw. im Weiteren Ahnenfürsorge (auch
Vgl. Naumann 1996b, S. 72– 74. Naumann 1996b, S. 80. Naumann 1996b, S. 80 f. Vgl. Assmann 2001, S. 17. Vgl. Assmann 2001, S. 21.
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und gerade apotropäische Maßnahmen) können auf ein Minimum beschränkt werden. Die ‚Untatenʻ, die Seth seinem Bruder Osiris antut, Zerstückelung, Kastration, im Fluss versenken, Bannung in einem speziell versiegelten Holzsarg, sind übliche Abwehrmaßnahmen, um die Rückkehr, das Wiederaufleben des Toten zu verhindern. In manchen Ethnien müssen ausnahmslos alle Toten dieser Behandlung unterzogen werden. Beim philippinischen Stamm der Alangan-Mangyan stellt grundsätzlich jeder Mensch nach seinem Tod eine kaum beherrschbare, gerade auch nicht rituell beherrschbare Bedrohung für die Hinterbliebenen dar. Die rituellen Vorschriften seien damit keinerlei Rückversicherung für den endgültigen Übergang der Verstorbenen ins Totenreich, so Bräunlein, die Furcht vor den lebenden Leichnamen, kablag, entsprechend allerorten groß. Tote, die keine Ruhe im Grab fänden, seien entgegen europäischer Vorstellungen (und damit gerade auch als extreme Gegenposition zu altägyptischen Vorstellungen) der normale, erwartbare Zustand.³³ Hier ist das Ungleichgewicht zu den Lebenden und dementsprechend der Kompensationsbedarf besonders hoch und kann möglicherweise gar nicht geleistet werden. Nun liegt aber ein weiterer gravierender Fehlschluss der Frazer’schen Kategorienbildung darin, von diesen funktionell ähnlichen rituellen Handlungsvorgaben der Kompensation, der Begütigung, (einschließlich dem rituellen Gegenstück der Solidarisierung, der Selbsterniedrigung) auf die wesenhafte Ähnlichkeit der Kultempfänger zu schließen. Aber das tertium comparationis ist dann ein anderes. Es ist die vergleichbare Befindlichkeit. Aus irgendeinem Grund sind (nicht einmal zwangsläufig außernatürliche) mächtige Wesenheiten erzürnt, gekränkt, beleidigt. Ist der Grund für diese abträgliche Gemütslage der Tod, so ist der Ritus notwendig zur heilvollen Transformation des Verstorbenen, zur Herstellung eines heilvollen, ausgeglichenen Jenseitswesens. Das kann im Weiteren immer wieder notwendig sein im Umgang mit den nunmehr vergöttlichen Ahnen (als mehr denn je respektheischende Verhandlungspartner). Andererseits können auch Götter erzürnt sein und der nämlichen Behandlung bedürfen. Aber es ist nicht ihr Tod, der kompensiert und ungeschehen gemacht werden muss. Es sind nur die gleichen Bilder der Verdrossenheit, der Kränkung, der wütenden Reaktionen: Die Konsequenzen sind in jedem Fall verheerend. Die Götter verhalten sich wie tot und reagieren durch Weggehen, Verschwinden, Schlafen: „The putative category of dying and rising deities thus takes its place within the larger category of dying gods and the even larger category of disappearing deities.“³⁴ Siehe etwa den erzürnten hethitischen Sturmgott Telepinu, der im Ärger die Menschen verlässt.³⁵ Mithilfe eines rituellen Gebets und Kompensationsopfern gelingt es schließlich, den Zorn des Gottes zu beschwichtigen. Der Gott Baal wird mithilfe von
Vgl. Bräunlein 1996, S. 110 f. Smith 1987, S. 521. „[T]he storm-god departs in anger from the realm of human culture and agriculture and goes to the steppe and sleeps. As a result, vegetation and animals no longer produce. Desperate, Telepinus’s father the Storm-god sends out divine search parties to find the god, including the sun-god. Finally, the Bee finds him and wakes him from his sleep with a sting“ (Smith 2001, S. 121).
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Anleihen aus der Begräbnisritualsprache, der „language from the cult of deceased kings and ancestors“ behandelt,³⁶ zweifelsohne die sorgfältigsten, wirksamsten Begütigungssriten, die man kannte. Aber ausdrücklich bedeutet die Literarisierung dieser Motive gerade nicht, dass der Gott in diesem Fall auch tatsächlich Empfänger nämlicher Rituale, eines königlichen Totenfürsorgerituals gewesen sein muss: For decades the dominant paradigm for reading the Baal Cycle was to see it as the libretto for a cultic or ritual drama. There is, in fact, no evidence for such a ritual background for the Baal Cycle. Instead, this text was a literary achievement that incorporated motifs known from ritual, but it is itself not located against a ritual setting.³⁷
Andererseits können Götter in die Welt der Toten reisen und müssen dann zu diesem Zweck ebenso wie tot behandelt werden, allen voran die babylonische Ishtar bzw. ihr noch älteres, sumerisches Pendant Innana. Der Grund ihrer Reise in die Unterwelt scheint bis heute nicht ganz klar, aber es ist nicht einmal hier, wenn auch lange Zeit so angenommen, die ,Befreiungʻ des menschlichen Dumuzi/Tammuz aus dem Reich der Toten. Vielmehr scheint Ishtar den vergöttlichten Ahnenkönig im Rahmen eines Totenrituals zu erwecken, aber nur zu diesem Zweck und zeitlich begrenzt. Denn noch ein letzter wichtiger Unterschied zwischen den Göttern und den vergöttlichten Ahnen tut sich auf: Im Fall der Ahnen war zunächst einmal gar nicht deren Anwesenheit (oder selten genug) vonnöten, sondern gerade das Gegenteil: Es ist deren befriedete, friedvolle Abwesenheit, der gute Tod, das ‚richtige Totseinʻ, das mit Vorstellungen von Friede und Fruchtbarkeit verknüpft war. Götter können also auf die gleiche Weise rituell behandelt werden wie die notorisch missmutigen Toten. Zur Abwendung eines in jedem Fall außernatürlichen Zorns gab es etwa die sumerisch-akkadischen Eršaħunga-Gebete, Klagen zur „Herzberuhigung“.³⁸ Diese Art von Kultpraktik findet man im gesamten östlichen Mittelmeerraum institutionalisiert mit speziell dafür ausgebildeten Kultspezialisten, etwa die sumerischen Galapriester, professionelle Grenzüberschreiter (damit transgressiv in jeder Hinsicht, sei es Geschlecht, Sexualverhalten, Sprache, Aussehen), denen man entsprechend zutrauen konnte, die Grenze zwischen Lebenden und Jenseitsbewohnern zu überwinden und in Krisensituationen vermittelnd und beschwichtigend einzugreifen.³⁹ Auch die Galapriester verwenden dabei eine ursprünglich spezifische Trauersprache, das emesal, die so genannte „tongue of a woman“, es ist die übliche
Smith 1998, S. 313. Smith 2001, S. 129. Achenbach 2004, S. 373. Siehe Bachvarova 2008, S. 20 f. Von der altbabylonischen bis in die neuassyrische Zeit finden sich dazu Ritualtexte, die eingesetzt wurden in „kultischen Handlungen zur Besänftigung der Götter in Unheilssituationen, bei Beisetzungen, Beschwörungs- und Weiheriten verschiedener Art. Sie erflehten die Erhaltung des Lebens des Einzelnen, der Tempel, der Städte, der Welt“ (Achenbach 2004, S. 365). Als fester Bestandteil der Tempelliturgie waren sie „a constant vigil to prevent the anger of the gods over acts unknowingly committed by the city or king“ (Bachvarova 2008, S. 21 f.).
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sprachliche Vermeidungshaltung gegenüber dem hochtabuisierten Bereich des Todes: Euphemismen, indirekte Ausdrücke, Hüllworter bis hin zum endgültigen Namenverbot kennen hier die meisten Kulturen.⁴⁰ Im Norden ist es der Hotherus des Saxo Grammaticus, der als dermaßen transgressiver Kultspezialist erscheint, er beherrscht die Zaubersprache, die ,Herzberuhigungʻ der Toten (und dazu wird auch der Harfenspieler Heimir aus der Heldensage gerechnet werden müssen). Ähnlich versiert erscheinen Friðþjófr und Ragnarr im Reich des Todes, sie alle müssen totenähnlich werden, ungepflegte, abgerissene, zottige Vagabunden, gebrechliche Alte, betörend ‚gescheckteʻ, zauberbeinige Monsterbekämpfer. Man hat diese sehr alten Ahnenkonzeptualisierungen immer wieder mit dem jungen Euhemerismuskonzept verwechselt, dass rückwirkend aus polemischen, apologetischen Gründen pagane Götter zu Menschen degradiert worden seien, aber nun zeigt sich – das Umgekehrte ist der Fall: Als Menschen erfahren sie einen Statuswechsel durch den Tod. Und tatsächlich können dermaßen vergöttlichte Tote, etwa wenn sie von ihrem ursprünglichen Verehrungsort, dem Grabhügel, dem Heldengrab abgeschnitten werden, eine Entwicklung hin zu einer überregionalen Gottheit machen. Balder kennen wir (bis auf wenige Reste) nur in dieser Ausprägung, beim Ahnengott Freyr können wir dessen einzelne, mitunter paradoxe Entwicklungsschritte von der menschlichen Leiche zum Gott besonders gut nachvollziehen. Der gerade noch menschliche Heroe Wieland ist auf dem besten Weg dazu. Entsprechend unverstanden ist die nordische Ahnenverehrung in einem mittelalterlichen, aber auch noch modernen Verständnis als irgendwie defizitäre Götterverehrung aufgegangen, zusätzlich verdunkelt durch die spezifisch christliche Ausprägung dieses Euhemerismus-Konzepts: Auch Snorri wird mitunter zum Kreis jener mittelalterlichen Autoren gerechnet, die die paganen Götter als lediglich im Nachhinein vergöttlichte Menschen verstanden wissen wollten, als eben einer der vielen Irrtümer des Heidentums: Aus der Überzeugung, daß Snorri Sturluson und andere hochmittelalterliche Autoren die heidnischen Gottheiten als deifizierte historische Gestalten verstanden hätten, leitete die Forschung in der Nachfolge Walter Baetkes […] die Vorstellung ab, daß die allzu menschlichen Götter-Charakteristika in den altnordischen Quellen auf eine mittelalterliche Euhemerisierung zurückzuführen seien. Dem ‚echten, unverfälschten‘ Heidentum müßten diese irdisch-menschlichen Aspekte fremd gewesen sein.⁴¹
Wenn man so will eine Art ‚Skaldentechnikʻ (vgl. Honko 1977, S. 56 f.), wo in Kenningar gezielt die eigentliche Bedeutung von Konzepten verrätselt wird und so nur einem ganz spezifischen Kreis von Eingeweihten zugänglich wird. Indes sind die Effekte des Skaldengedichts eher literarisch ästhetisch denn religiös apotropäisch wie im Leichenlied. Ähnlichkeiten werden wir also zunächst nur in den kognitiven, sprachlichen Mitteln zur Erzeugung von Exklusivität sehen können, was über literarische Abhängigkeitsverhältnisse noch nichts aussagt. Krümpel 2013, S. 50.
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Nun ist die Einforderung einer unabdingbaren göttlichen Transzendenz, einer rigorosen Unterscheidbarkeit zwischen Göttern und Menschen ein wichtiges christliches Glaubensverdikt, wie anders sollte ein Gott, der christliche Gott, sonst ,denkbarʻ sein? Im Mittelalter ist es natürlicher und selbstverständlicher Ausgangspunkt bei der Beurteilung fremder Religionen, gewiss selbstredend zu Snorris Zeiten, aber ein schwerer methodischer Mangel in aktuellen, wissenschaftlichen Ansätzen. Vor dieser (oft genug unerkannten) religiösen Deutungsposition in der Beurteilung religiöser Konzepte warnt entsprechend zu Recht Jens Peter Schjødt: I would argue that the basic prerequisite of the traditional scholarly conception of euhemerism is the fact that most of these scholars, unconsciously, are influenced by Christianity itself, a religion in which the difference between gods and humans is of utmost importance.⁴²
Eine absolute Transzendenzvorstellung muss also für andere religiöse Denksysteme nicht auf gleiche Weise gelten. Schjødt verweist auf die Skalierbarkeit, auf die Möglichkeit von Skalierbarkeit von Transzendenz in anderen Gottesvorstellungen, und gerade hier haben nordischen Ahnen-Vorstellungen ihren Platz: Thus, in many archaic religions, the difference between gods and humans is blurred compared to the ideas of God’s relation to mankind in the great contemporary religions of our era, at least the so-called biblical religions. Here we face the idea that God is in all regards different from man. God is the creator, whereas man is created by God. God is eternal, he was not born and he will not die. This qualitative difference is, as mentioned, not typical for archaic religions, however. In these the differences between gods and humans are rather quantitative: the ancestors may achieve the status of gods, once they die; in the beginning of times, man and the gods lived close together under conditions that were different from the present situation. Man was immortal (like the gods), but then something happened which changed the situation dramatically and brought it closer to the present. […]. In many cultures, then, the borders between ancestors, ‚semi-deitiesʻ, and gods were never defined dogmatically […].⁴³
Schjødt lehnt damit eine radikale Trennung ab,⁴⁴ was indes häufig genug missverstanden wird als ein Akt der ,Gleichmachereiʻ, der zu einer fatalen Ununterscheidbarkeit führe. So unterstellt wohl auch Thomas Krümpel Schjødt ganz zu Unrecht, dass es in dessen Einschätzung des nordgermanischen Heidentums zwischen Göttern und Menschen „keinen nennenswerten Unterschied“ gegeben habe.⁴⁵ Aber Schjødt verweist lediglich darauf, dass dafür andere Unterscheidungs- und Definitionskriterien angelegt werden als im (dogmatischen) Christentum (oder anderen so genannten
Schjødt 2009, S. 570. Schjødt 2009, S. 572 f. Schjødt 2009, S. 578: „In all archaic religious world views, we see a fusion of these concepts in the earliest history of mankind, and the radical distinction between gods and humans only became an issue of discussion with the introduction of the great religions of the book.“ Vgl. Krümpel 2013, S. 52 f.
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Buchreligionen).⁴⁶ Eher missverständlich mag hier tatsächlich die Argumentation sein, für die paganen Menschen sei es wohl nicht von Bedeutung gewesen, ob Freyr letztendlich Gott oder Mensch gewesen sei: „I will not argue that the pagans reflected particularly about these matters, whether, for instance, Freyr was god or human; I am quite sure they did not. But the important point is that it was not of importance, either.“⁴⁷ Gewiss macht es wohl für den nordischen paganen Menschen keinen Unterschied, ob Freyr/Fróði zunächst Mensch war, aber es wäre ihm bestimmt als Letztes in den Sinn gekommen, einen Menschen rituell zu verehren und ihm Opfer zukommen zu lassen. Auch seine weitere Aussage dazu ist in gewisser Weise problematisch: „For in the distant past, in the beginning of the world, the difference between gods and humans was much less significant than it became later on.“⁴⁸ Anfangsmythen relativieren in der Tat übliche, ‚normaleʻ Unterschiede (etwa zwischen Menschlichem und Göttlichem), aber gerade um mithilfe dieser paradoxen Unentschiedenheit das Konzept von Anfang, eine Anfangssituation zu fassen, auf die zwangsläufig eine Differenzierung folgen muss. Am wenigsten aber möchte wohl Schjødt eine Definition liefern, „wie ,echteʻ Götter zu sein hätten“,⁴⁹ es geht ihm vielmehr um eine kritische Hinterfragung einer christozentrischen Position dazu. Eindeutig getrennte Kategorien (wie sie das Christentum verlangt) werden wir in paganen Vorstellungen nicht einfordern können. Jene spezifische Gefühlslage von Numinosität, jenes ,ehrfürchtige Entsetzenʻ stellt sich hier keineswegs nur im Angesicht von Transzendenz und damit (nach Krümpels Auffassung) ‚richtigerʻ, eben christlich definierter Göttlichkeit ein: Schjødt [akzeptiert] unvoreingenommen die menschlichen Züge der Götter in der Dichtung als heidnisches Gottesbild ganz allgemein, was seine Götter jedoch – wenn man diese These konsequent zu Ende denkt – nahezu jeden Anflug von Numinosität kostet.⁵⁰
Nun ist wohl keine einzige Vorstellung von außernatürlichen, übernatürlichen Wesenheiten „konsequent zu Ende gedacht“, auch nicht die eines christlichen, omnipotenten, allwissenden, transzendenten Gottes. Alle sind mehr oder weniger an Auch Schjødt macht auf die mehr oder weniger starken polytheistischen Tendenzen in der so genannten christlichen ,Volksreligionʻ aufmerksam. So mag die christliche Orthodoxie zwar eine verbindliche Kanonik anstreben, diese könne sich aber bis heute alles andere als eindeutig präsentieren, zumindest „not as clear as some theologians would like it to be. Beings such as the different groups of angels, saints, or the virgin mother (who is by the way very much celebrated in different cultic performances, something which used to be part of the definition of a god) cannot be clearly classified as belonging to one or the other category. I would maintain that popular Christianity, from a phenomenological and structural view point, is just as polytheistic as any other ‚folk religionʻ, whereas theologians during the last two thousands [sic] years have discussed these matters in order to differentiate ‚trueʻ Christianity from exactly these ‚folk religionsʻ“ (Schjødt 2009, S. 572 f., Anm. 13). Schjødt 2009, S. 577. Schjødt 2009, S. 577. So Krümpel 2013, S. 53. Krümpel 2013, S. 53.
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thropomorphen Vorstellungen angeglichen, körperhaften Vorstellungen, Potenzen, Bedürfnissen, Emotionen, Erwartungen über deren geistige Kapazitäten, Vorstellungen einer theory of mind. Diese Konzepte können dogmatisch bindend ausgearbeitet sein, nichtgöttliche Abstammung, Sterblichkeit, bestimmte (keineswegs alle!) Emotionen oder Affekte, gewisse Bedürfnisse, zumal sexuelle, Potenz aber nicht Omnipotenz gelten dann als defizient und ungöttlich. In der Tat, allzu viel „humanisation“ kann in christlicher Logik (und sei es nur in einem allgemein christlich abendländischen common sense) dann nur noch Quellenmanipulation bedeuten.⁵¹ Dem stellt sich Schjødt wie Krümpel zu Recht entgegen,⁵² aber gerade der Versuch einer gewissermaßen Ehrenrettung paganer Götter-Konzepte, sie müssten eben als Ergebnisse einer verständlichen und im gewissen Sinne entschuldbaren Schwäche und Unvermögen der Heiden betrachtet werden, die Erfahrung des Göttlichen, ,numinosʻ zum Ausdruck zu bringen, ist in nicht geringerer Weise eine christozentrische Deutungsposition. Wohl mögen archaische Gesellschaften noch keine „ausgeprägte metaphysische Spezial-Terminologie“ als Ausdruck für ihr religiöses Erleben zur Verfügung gehabt haben,⁵³ aber dieses vermeintliche „fachsprachliche[ ] Ausdrucksvermögen[ ]“⁵⁴ gehört ebenso einer religiösen Innenperspektive, der gläubigen Perspektive eines religiösen Systems an. Es ist ebenso ein religiöses Denkmodell, das auf seine Weise ,naivʻ ist. Christliches religiöses Sprechen ist auf keine Weise anderem religiösen Sprechen überlegen.⁵⁵ Tatsächlich hat in den religiösen Deutungshierarchien der Ahnenglaube neben dem (himmlischen olympischen) Pantheon-Glauben, ganz zu schweigen neben einem Hochgottglauben oft genug einen schweren ‚kanonischenʻ Stand. So scheint auch in manchen Regionen Schwarzafrikas mit dem Aufkommen polytheistischer Strukturen ein Konkurrenzverhältnis zu den zweifellos älteren Ahnenvorstellungen entstanden zu sein, was entsprechend auch hier die religiöse Bedeutsamkeit der menschlichen
Siehe Schjødt 2009, S. 574 f.: „[T]he mutually opposing views we meet in these sources must be due to mistakes or confusion on the hand of the authors. I am certainly not maintaining that this cannot be the case, but it is, nevertheless, worth noticing that nearly all scholars dealing with this subject have failed to acknowledge that there is a rather high a priori probability that a certain mythical being was conceived as a god as well as a historical figure.“ Siehe Krümpel 2013, S. 63: „Allein aus der vermenschlichten Zeichnung der Götter in der eddischen Dichtung (wie auch in Snorris vielfach aus der poetischen Überlieferung schöpfender Mythographie) kann nicht auf euhemerisierende bzw. sonstige christlich-theologische Absichten des Verfassers geschlossen werden.“ Vgl. Krümpel 2013, S. 62. Krümpel 2013, S. 59 f. Selbst die „strukturalistische[ ] Perspektive“ (Krümpel 2013, S. 61), die Krümpel in diesem Zusammenhang favorisiert, kann letztendlich nur die Perspektive des Komparatisten, der Komparatistin abbilden, dessen oder deren ureigenstes tertium comparationis. Auch hier kann am wenigsten auf eine Unverrückbarkeit, eine Eigentlichkeit, den „Genotext“ eines Mythologems referiert werden. Wer sollte dieses „Urbild“, diese „religiöse Denkfigur an sich“ (Krümpel 2013, S. 61) festlegen?
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Ahnen mehr und mehr einzuschränken begann.⁵⁶ Eine ähnliche Tendenz, zumindest in der literarischen Überlieferung, zeigt sich im Norden: Snorri has pictured his bright throng of gay mischievous gods and goddesses, as if to hide the horrors of the chthonic cults, and the inexorable claims of family ritual, and to present a more genial and lighthearted view of the old spiritual world to the cultured audience for whom he wrote.⁵⁷
Für die so genannten volkstümlichen Gläubigen des Nordens scheint sich aber dieses Bedürfnis nach Abgrenzung und ‚Eigentlichkeitʻ in ihren Überzeugungen (bzw. ehedem religiösen Überzeugungen) noch für lange Zeit kaum gestellt zu haben: It is only in the Fornaldar Sögur, and the poems of the Edda, and above all in the pages of Flateyjarbók, that great storehouse of the traditional entertainment of the farming class, that we can pick up the threads of an older mythology, and probe into the secrets of more conservative religious conceptions.⁵⁸
Mit Balz müssen wir also wohl nachhaltig dafür plädieren, „den Begriff von Religion so weit offen zu halten, dass er außer dem ,Umgang mit den Götternʻ auch den ,Umgang mit den Totenʻ mit umfasst.“⁵⁹ Und das bedeutet auch, dass wir eine Vorstellung davon bzw. eine Möglichkeit dazu auch im Norden immer mitlaufen lassen müssen und uns nicht von vornherein allzu sehr einschränken auf Konzepte ,richtigerʻ, ,eigentlicherʻ Göttlichkeit: Eine Entwicklung, ein rituell geschaffener Transformationsprozess, eine buchstäbliche ,Kultivierungʻ des ursprünglich Menschlichen ins Übermenschliche, Göttliche findet darin keinen Platz. Für die germanische, die nordische Religion gilt damit wohl ebenso, was Balz für die römische Religion als Zugang der ,goldenen Mitteʻ vorschlägt: Sie war „nie nur Kult der Götter, und Gaben an die Toten waren […] immer kompatibel mit der Götterreligion“,⁶⁰ was indes ein zähes Ringen um diese goldene Mitte auch in der Religionsgeschichte selbst nicht ausschließt: Wir hören vom (sehr vedischen) Streit um den Opferanteil,⁶¹ gar vom AsenVanenkrieg, aber nicht, wer die älteren Rechte hat. Wir hören von Geiselaustausch, rechtswirksamen Versippungen, Konnubien, Adoptionsverfahren zwischen Göttern und Toten. Und wie in Schwarzafrika sind die Ahnen „Götter“, „ohne doch darum einen höheren und höchsten einen Gott im Denken und in der Kosmologie auszuschließen.“⁶² Der mythische, göttliche Freyr ist zunächst einmal Vane, ,Unterirdischerʻ, der indes wie einige weitere Vertreter Eingang in die Welt der Asen gefunden
Vgl. Balz 2014, S. 103. Chadwick 1950, S. 417. Chadwick 1950, S. 417. Balz 2014, S. 137. Balz 2014, S. 137. Vgl. Reichert 2000, S. 414 f. Balz 2014, S. 103.
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hat (ähnlich wie Hera, wie Herakles in die Welt des Olymps). Freyr wird schließlich expressis verbis zum Asen, im Gegenzug werden einige Asen vanisch, chthonisch ‒ sie sterben. Balder ist nur einer, wenn auch vielleicht prominentester Gestorbener des Nordens, aber noch im fernen Island ist er – kaum anders als der ägyptische Mumiengott Osiris – „näher an Afrika als an Christus“.⁶³
Balz 2014, S. 99.
15 Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung hat ihren Ausgang genommen von einem bis heute populären Bild des nordischen Gottes Balder als Lichtgott, Sonnengott, Fruchtbarkeitsgott. Im Verlauf der Untersuchung wurde dieses Bild dekonstruiert, Vergleichbarkeiten, innerkulturelle wie transkulturelle, zu anderen Götterkonzepten hinterfragt, dabei nicht unbedingt verworfen, aber unter einem neuen tertium comparationis, innerhalb eines neuen Denkraums zueinander in Beziehung gesetzt. Damit eröffnete sich insgesamt ein neues Verständnis für den Gott. Der ,neueʻ Balder ist ein anderer, weil seine Vergleichskonzepte im Verlauf dieses Prozederes andere geworden sind. Diese Ergebnisse sind in weiten Teilen aus dem komparatistischen Verfahren gewonnen, was zunächst methodologische Fragen grundsätzlicher Natur aufwerfen musste. Die Anwendung des Vergleichs auf mythische, religiöse Sinnkonstruktionen hat seinerseits eine lange und schwierige Geschichte. Eng damit verbunden ist die Frage nach der Angemessenheit wie Legitimität wie Grenzen der religionswissenschaftlichen Komparatistik, die Frage nach dem technischen Prozedere, insbesondere aber auch nach der spezifischen Machart, den strukturellen Bedingtheiten dessen, was verglichen werden soll.¹ Als wichtigste Prämisse sollte dabei gelten: Religiöse wie nichtreligiöse Symbole schaffen auf gleiche Weise Bedeutung. Sie sind Ergebnis der gleichen kognitiven, mentalen Informationsverarbeitungsprozesse, von Vergleichsprozessen, Metaphorisierungsprozessen. Und diese nehmen ihren Ausgang stets im Körperhaften, Konkreten, Buchstäblichen. Damit sind sie in ihren Konstruktionsbedingungen, ihren Inferenzen wie Ergebnissen vergleichbar. Dieses grundsätzliche Postulat der Vergleichbarkeit wird indes aus den unterschiedlichsten Gründen bis heute infrage gestellt. Lange Zeit galt das Numinose als die religiöse Erfahrung schlechthin als nicht „lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar“² (entsprechend seiner Wirksamkeit als ‚heiliger Schreckenʻ, mysterium tremendum, bzw. als ‚Ergriffenheitʻ, mysterium fascinans, gefasst), eine methodisch verordnete Entzugsstrategie, die das religiöse Symbol grundsätzlich als unzugänglich und in dieser Konsequenz auch als unvergleichlich erscheinen ließ (siehe Kap. 2.1). Aber auch nach Wegfall jenes theologisierenden Zugangs zum (religiösen) Symbol blieb der Mangel an ausgearbeiteten Theorien des Vergleichs bestehen. Religiösem Vergleichen wurde weiterhin kaum mehr als eine Art impressionistisches, gar magisches Ähnlichkeitsempfinden zugebilligt³ (siehe Kap. 2.2), ein gefährlicher, weil unbeherrschbarer Wildwuchs⁴ vermutet und eine gewissermaßen ‚natürlicheʻ Selbstbeschränkung angeraten. Aber auch der vermeintliche Ausweg in strengsten Lokalismus, in emische Konzepte, konnte jene gefürchteten, expansiven ,Syntagmatismen‘ des Vergleichs kaum verhindern. So galt
Vgl. Jensen 2008, S. 150. Otto 1917, S. 7. Smith 2000. Vgl. Liberman 2004, S. 17
https://doi.org/10.1515/9783110789140-016
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es einerseits, diesem bis in jüngste Zeit konstatierten „widespread anti-theoretical view of religious symbolism“⁵ entgegenzutreten, die theologische wie postmoderne Propagierung einer grundsätzlichen Unvergleichlichkeit von Symbolen zu hinterfragen und die spezifische poiesis von Symbolen offenzulegen. Aus einem nicht selten bewusst unverfügbar gehaltenen Sinnblock religiösen Wissens wird somit das Produkt eines Bündels an Denkoperationen, die Schritt für Schritt nachvollzogen werden können (siehe Kap. 2.3). Diese Denkoperationen sind als Metaphorisierungsprozesse beschrieben worden. Die Metapher wird dabei weniger in ihrer literarischen als vielmehr kognitiven Funktion verstanden, als ihrerseits „picciola favoletta“⁶ (siehe Kap. 2.6), als „myth-inminiature or an abbreviated myth“.⁷ Sie ist Trägerin eines explizit mythischen Evokationspotenzials an epistemologischen Verweisen,⁸ aber gerade nicht im Sinne eines narrativen, mythischen Motivfundus, den sie bereitstellte, vielmehr dass im Sprechen, mittels Sprache, Realität mythisch rezipiert wird.⁹ Körperkonzepte, der menschliche Körper als unhintergehbares „Koordinatenzentrum in der Welt“,¹⁰ werden dabei zur transkulturellen Grundlage humaner Wirklichkeitserfahrungen. Die grundsätzlichste Vorstellung ist der Körper im Raum, der bewegte Körper, der schließlich willentlich bewegte Körper. Mythisches Denken, Metaphern-Denken ist also Körperdenken: „Thought is embodied“.¹¹ Abwesendes, aus welchen Gründen auch immer nicht unmittelbar Zugängliches kann so in der Logik des Körperhaften, Konkreten gedacht werden. Mythisches, prälogisches Denken bedeutet dann gerade nicht ‚Wildheitʻ, Beliebigkeit, Regellosigkeit oder kuriose Exotik. Die „Eigengesetzlichkeit einer archaisch-magischen Denkweise“¹² folgt vielmehr sehr genau den Gebrauchsregeln, Verkettungsregeln dieser Logik des Körperhaften. Alles menschliche Denken beginnt mit dieser Art von Denken, die kognitiven Bedingtheiten unserer Sprache referieren auf diese Architektur humaner Kognition und können diese nicht überschreiten (siehe Kap. 2.11.1).¹³ Die Linguisten George Lakoff und Mark Johnson beschreiben diese kaum mehr bewusst reflektierten (in unserem Sinne mythischen) Sprachbilder als ‚Alltagsmetaphernʻ, „metaphors we live by“.¹⁴ Aber schon Friedrich Max Müller macht die Metapher als „Bindeglied“, als Vehikel zwischen Sprache und Denken aus, die ein unsicheres, vorläufiges, explizit mythisches Universum entstehen lasse.¹⁵ Durch Übertragungen von Raum- und Körperkonzepten auf Penner 2004, S. 155. Ferrari (Hg.) 1836, S. 191. Daniel 1990, S. 10. Vgl. Konersmann 2011, S. 8. Vgl. Krämer 1990, S. 63. Wiseman 2008, S. 358. Lakoff 2008, S. XIV. Schulz 2000, S. 260 Vgl. Schulze 2001, S. 8. Lakoff und Johnson 2003. Vgl. Müller 1897, S. 38.
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die uns umgebende, chaotische Welt entsteht jene Blumenberg’sche Benennbarkeit, Ansprechbarkeit, schließlich Beschwörbarkeit von Phänomenen jeglicher Art (siehe Kap. 2.5). Und gerade das Unverfügbare par excellence, der Tod, erscheint dann denkbar, behandelbar, manipulierbar: Der Totenkult in diesem Sinne verstanden, bedeutet Austausch- und Kontaktsituation mit wenn auch gegebenenfalls schwer berechenbaren, aber trotz allem profitablen Sozialpartnern, auf die bekannte Strategien menschlichen Zusammenlebens angewendet werden können. Den dabei stets mitlaufenden Unsicherheitsfaktor, die unsichere Referenzierbarkeit repräsentiert die menschliche Kognition im Rahmen von decoupling systems (siehe Kap. 2.11), eine Art der Informationsverarbeitung ‚unter Vorbehaltʻ, zu der grundsätzlich nur der Mensch (trotz aller tierischen Vorläufer) in der Lage ist. Bis über Wahrheitswert (und damit Gefährdungspotenzial) einer Situation, eines Phänomens entschieden werden kann, werden Informationen darüber in einem abgesicherten, eingeschränkten Modus unter ganz bestimmten Bedingungen verarbeitet. Diese Kennzeichnung der Vorläufigkeit, Unsicherheit, einer lediglich Simulation von Wirklichkeitsrepräsentationen definiert so unterschiedliche kulturelle Erscheinungsformen wie Spiel, Kult und Lachen. Auch das Lachen markiert eine conditio, deren übliche, eigentliche Ordnung als aufgehoben gilt. In der nur dem Menschen vorbehaltenen Körperreaktion zeigt sich dann der – schockartige – Perspektivenwechsel (siehe Kap. 2.11.3). Das animal ridens, der homo ludens, der homo religiosus sind damit nicht voneinander zu trennen. Es sind unterschiedliche Wirklichkeitsentwürfe, die einzig der Mensch erschaffen, voneinander abkoppeln und hierarchisch staffeln kann. Entsprechend sind diese mentalen Perspektivierungen grundsätzlich gleich zu behandeln, nicht aber ihre Wertigkeiten, Gültigkeiten, spezifischen Wahrheitsansprüche, die sich nicht selten diametral gegenüberstehen. Symbolisches Verstehen,Verstehen von Symbolen einer Kultur verlangt also keine „Art Telepathie oder eine Form des Phantasierens“,¹⁶ kein religiöses ‚sich Einfindenʻ u. ä. Die Deskription wie Rekonstruktion dieses verstehensrelevanten Wissens im Baldermythos nimmt vielmehr ihren Ausgang vom Körperwissen, Wissen über den Körper, seinen mythischen Übertragungen und ,Syntagmatismen‘. Als Grundlage für deren Vergleichbarkeit gelten die epistemischen Wissensvorräte über (anthropomorphisierte) Entitäten, Lebewesen, über den funktionstüchtigen, den hypertrophen wie devianten Körper. Die Körperlichkeit Balders erscheint in jeder Hinsicht auffallend: Balder ist mit einem perfekten, vorzüglichen Körper ausgestattet, mit einer strahlenden Schönheit, einem besonderen Glanz. Seine Heimstatt selbst, Breiðablik, gilt expressis verbis als ,die weithin Glänzende‘. Aber schon für Friedrich Kauffmann scheint diese Ausgestaltung des Gottes keineswegs selbstverständlich, es sei doch ein „besondere[r] verdächtige[r] Akzent“, den der Isländer Snorri Sturluson und eben nur dieser in
Geertz 1987b, S. 21.
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seiner Mythenversion darauf verwende.¹⁷ Eine prima facie komplett unterschiedliche Version des Mythos (nicht nur in der Ausgestaltung der Charaktere der Protagonisten, sondern auch im Erzählfortgang selbst) bietet schließlich der Däne Saxo Grammaticus. Sie musste gleichwohl stets hintanstehen hinter der isländischen Fassung, der so tragisch berührenden Schilderung der Ereignisse um den Tod des jungen Lichtgottes Balder. Gustav Neckel wollte hinter Balders Eigenschaften das „Himmelslicht und [die] Wärme“, „die blonde, weißhäutige, also die germanische Rasseschönheit“¹⁸ eines Fruchtbarkeitsgottes vermuten, mit den für seine Zeit typischen ideologischen Implikationen. Dennoch sind es Eigenschaften, die er gerade nicht als ‚einheimischʻ ‚germanischʻ betrachten mochte, vielmehr einer östlichen, orientalischen Götterkategorie nachgebildet, den so genannten dying and rising gods, den ‚sterbenden und wiederauferstehenden Göttern des Ostensʻ. Diese religionswissenschaftliche Kategorie ist ihrerseits mit dem Religionshistoriker und Mythologen James George Frazer (1854– 1941) und seinem Opus magnum The Golden Bough verbunden¹⁹ (siehe Kap. 3.3). Dazu wurden traditionell gerechnet der ägyptische Osiris, der anatolische Attis, der östliche, griechische Adonis, der mesopotamische Dumuzi (Tammuz), der ugaritische Sturmgott Baal und noch einige mehr: Göttliche Wesen, verbunden nach Frazers Vorstellung durch einen grausamen, tragischen, ‚vorzeitigenʻ Tod, die aber gleichermaßen eine Restitution, eine Wiederbelebung zu erfahren scheinen und damit ins Leben zurückkehren können. In der religionsgeschichtlichen Forschung hat diese Kategorisierung indes starke Kritik erfahren und gilt heute überholt.²⁰ In der nordistischen Forschung hat Kurt Schier deren Anwendbarkeit auf nordische Götterkonzepte bereits Ende der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts erstmals kritisch hinterfragt,²¹ wenn auch zunächst weniger hinsichtlich ihrer bedenklichen Anwendung auf den Gott Balder, sondern auf dessen mutmaßlichen Verwandten aus den eigenen Reihen, den nordischen Fruchtbarkeitsgott par excellence, Freyr (siehe Kap. 3.3). Die Ähnlichkeiten zu Balder sind hier früh aufgefallen, so werden die Vanengötter ebenso als ‚schönʻ und ‚weißʻ und ‚strahlendʻ beschrieben, aber auch der ausdrücklich körperlich deviante Schmied Wieland zeichnet sich durch körperliche Weißheit (hvítan háls) aus. Nicht zuletzt wird der enigmatische Gott Heimdallr, der so genannte „Wächter der Götter“ (vǫrðr goða) mit diesem Epitheton belegt: hvíti Áss, „der weiße Ase“ (siehe Kap. 3.4). Und merkwürdigerweise scheint auch dieser mit einer körperlichen Auffälligkeit, einer Entstellung behaftet. Diese präsumtiven Widersprüchlichkeiten mussten wiederum auch auf Balders Konzipierung ein neues Licht werfen. Entsprechend wurde von einer Kollision unterschiedlicher Körperkonzepte ausgegangen, von einem bis dato unerkannten Wissensrahmen, der die Eigenschaften des
Kauffmann 1902, S. 58 f. Neckel 1920, S. 99 f. Vgl. Frazer 1922; Frazer 1935; Frazer 1989. Vgl. Smith 1987, S. 521. Vgl. Schier 1968; Schier 1995.
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Strahlens, der Weißheit, des Glanzes auch grundsätzlich jenseits einer Kategorie der Schönheit, der Ästhetik denkbar macht. Unter diesen neuen Voraussetzungen wurde der Gott Heimdallr erstmals als mythische Personifikation eines Flussgottes interpretiert (siehe Kap. 3.4 ‒ 3.7). Er ist der Brisingr, der ‚glänzende Containerʻ, der Anfang, der Ursprung der (nordischen) Gewässer. Den Kampf um fagrt hafnýra, „die schöne Meerniere“, jene dunkle Episode, die mit Heimdallrs ‚groteskemʻ Äußeren verknüpft zu sein scheint, wurde als primordiale Enthornung und damit Kastration verstanden. Im griechischen Mythos wird der stiergestaltige Flussgott Acheloos auf gleiche Weise verstümmelt, einhornig gemacht im Kampf mit Herkules. Es ist das Aition des antiken Füllhorns: Heimdallrs ,Weißheit‘, sein ,Strahlen‘ ist mit seiner Potenz als kosmischer wie genealogischer Gründer (vgl. Rigsþula) verbunden (siehe Kap. 3.7). Es ist dieser neue Denkraum von Anfang und Gründung, der in der Folge auch für Balder nutzbar gemacht werden konnte. Der Glanz des Körpers findet seine Entsprechung im Glanz des Ortes (siehe Kap. 4). So wie die perfekten Nachkommen Heimdallrs in einer silbernen, weißen, paradieshaften Welt leben, Balder im strahlenden Breiðablik, residiert dessen (wenn auch unsicher zugeeigneter) Sohn Forseti in der Glanzhalle Glítnir, die in zunächst widersprüchlicher Weise mit der Totengöttin Hel verbunden scheint. Für beide Anderweltorte konnte im Folgenden eine Entsprechung zu einem besonderen nordischen Jenseitskonzept, dem so genannten Ódáinsakr („Unsterblichkeitfeld“, „Feld des NichtGestorbenen“) bzw. Glæsisvellir („Glanzgefilde“) plausibel gemacht werden (siehe Kap. 4.1–4.5). Die Einschätzung, dass es sich bei dieser spezifischen Jenseitsvorstellung um ein randständiges, spätes Konzept im Nordischen handeln müsse und letztendlich fremder, irisch-keltischer Herkunft sei,²² musste unter diesem Aspekt zurückgewiesen werden. In der Tat kennt die keltische Tradition zahlreiche glänzende Anderweltinseln, „Glasinseln“ (vgl. kelt. inis gutrin/ynys wydrin, lat. insula vitrea). Avalon, der letzte Rückzugsort des Königs Arthur, erscheint ab einem gewissen Zeitpunkt in der Tradition in dieser Ausgestaltung. Als reale Entsprechungen wurden die glaesaria, die so genannten Bernsteininseln im nördlichen, wahrscheinlich eher östlichen Meer diskutiert. Aber kristalline, taghelle Totenwelten, Ahnenstätten erscheinen bereits im ältesten indoeuropäischen wie babylonischen kosmologischen Endzeit- wie Anfangswissen ebenso ein weiser Herrscher als Gründer mächtiger Königsgeschlechter (siehe Kap 4.4). In eben dieser Ausgestaltung zeigt sich der so genannte Herrscher von Glæsisvellir Guðmundr, Balder so ähnlich, dass eine Analogie vermutet werden kann. Es passt gut zu dem, was die Hervarar saga über Guðmundr berichtet, explizit weiß sie von einem Kult, den man ausdrücklich dem toten König zukommen habe lassen, erst nach seinem Tod habe man ihn als Gott verehrt. Die Ähnlichkeiten zum Kult des
Vgl. Egeler 2015a, S. 502.
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Königs Óláfr Guðrøðarson sind evident, er wird nach seinem Tod zu einem álfr, zu einem verehrten Toten. Eine gewisse (aquatische) Inselhaftigkeit dieser Anderwelt ist schon im Indogermanischen angelegt, innerhalb einer Art Lehmwall erscheint sie als sicheres Refugium für die Überlebenden der Apokalypse und bereits hier ist es gleichzeitig Hüllwort für die Grabstätte. Und auch ein irdisches (literarisches) Pendant für diese Glanzstätte findet sich im nordischen Kulturkreis. Es ist die weithin strahlende ,Hirschhalleʻ Heorot des Beowulf-Epos. Auch diese befindet sich im Zentrum einer Nekropole, einer gigantischen Totenstadt, im dänischen Zentralort Lejre (siehe Kap. 4.5; 7.3). In diesem Zusammenhang musste auch eine weitere, auf gleiche Weise eher befremdliche körperliche Eigenart Balders neu beurteilt werden. Die ihm zugesprochene ‚Blumenhaftigkeitʻ ist olfaktorisches wie ästhetisches Antidot des Todes. In der christlichen Symbolik ist die Blumenmotivik (und hier nahezu durchgehend verbunden mit dem Glanzmotiv) tief verankert im Beschreibungsmodus (privilegierter) Verstorbener, der Märtyrer. Der Gott Balder trägt also die Merkmale eines Jenseitsbewohners, die tatsächlich nahe an christlichen Märtyrervorstellungen liegen, auch wenn sie dort nicht ihren Ursprung haben. Schon Albrecht Dieterich vermutet in der äußeren Erscheinung der Seligen, wie sie die biblische Apokalypse schildert, die typische Ausgestaltung des griechischen Lichtgottes. Helios selbst sei am „Geflimmer der Augen“ zu erkennen, „das ihm wie ein goldener Strahl aus dem Gesichte drang.“²³ Ausdrücklich aber geht es hier nicht um die Beschreibung von Licht- oder Sonnengöttern, sondern um Jenseitsbewohner, um Tote. Es sind damit Kompensierungsstrategien, Ausgleichsbestrebungen zum Ersatz von etwas, was am wenigsten im Konzept vom Tod, Zerfall und Dekomposition vorhanden ist: der integre, heile, schöne Körper. Entsprechend werden die Aufenthaltsorte dieser Körper, ganz im Gegensatz zu den real existierenden Bedingungen der Totenwelten, als licht und glänzend, duftend und luftig, weithin sichtbar beschrieben. Und nicht nur im antiken Mythos ist die fragile Ästhetik der Blumen nahezu durchgehend assoziiert mit dem gefährlichen Umschlag, auch in der nordischen Saga wird diese Semantik aufgerufen zur Kennzeichnung der Todesverfallenheit des Helden (vgl. das ‚Wiesenmotivʻ des Gunnarr von Hlíðarendi der Njáls saga) (siehe Kap. 4.6). Nach der körperlichen Eigenart Balders rückt im Weiteren die einzige Aktivität, die mit Balder in Verbindung gebracht wird, in den näheren Fokus: ein Spiel. Aber gerade hier erscheint er am wenigsten als Handelnder, vielmehr in befremdlicher, ja ‚unmännlicherʻ Passivität (siehe Kap. 5). Als nachgerade Barbarenstereotyp galt dem christlichen Mittelalter ein ähnlich grausam anmutendes Spiel, das so genannte Wikinger-Spiel knútukast („Knochenwerfen“) (siehe Kap. 5.2). Der Bauernjunge Hǫttr in der Halle des Hrólfr kraki, der angelsächsische Märtyrer Ælfheah, nicht zuletzt Odysseus am Tisch der Penelope-Freier werden (beinahe) Opfer dieses tödlich ge-
Dieterich 1893, S. 38.
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fährlichen ‚Sportsʻ. Fern lediglich unflätiger Tischmanieren war es Rügebrauch, Bestrafung, ja sogar Hinrichtungsart. Entsprechend wurde im Folgenden der juristische Wissensrahmen, der im Baldermythos explizit durch den Hinweis auf die Örtlichkeit, eine Thingveranstaltung, aufgerufen wird, genauer untersucht. Üblicherweise wird in diesem juristischen Bezugsmodell auf das (nordische) Dilemma der Racheunfähigkeit innerhalb der Familie verwiesen, ein Ansatz, den insbesondere John Lindow für den Baldermythos fruchtbar gemacht hat.²⁴ An diese Überlegungen schließt sich Merrill Kaplan an und verweist auf ein weiteres juristisches Dilemma der altnordischen Gesellschaft: die Unmöglichkeit des Gewaltverzichts aufgrund der Eidunfähigkeit gewisser sozialer Gruppen (siehe Kap. 5.4).²⁵ Vorliegende Untersuchung geht von einem weiteren Ansatz aus: In einem Gerichtskontext kann die Thing-Aktion kaum anders als die (meist tödliche) Strafe der Steinigung aufgefasst werden, mit dem Ziel der Abwehr eines μίασμα, einer Verunreinigung, die die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit bedroht.²⁶ Die Kategorienlosigkeit als beständige Bedrohung binärer Systeme erhält dann mythisch wie rituell eine bedeutsame apotropäische Funktion. Im altindischen Rigveda ist es Meerschaum, der damit einzig zur tödlichen Waffe gegen den gefährlichen, durchtriebenen Feind Vṛtra werden kann, beim ‚bösen Zaubererʻ Jesus im apokryphen jüdischen Schrifttum Toledot Jeschu (siehe Kap. 5.4; Kap. 5.5) ist es wie im Baldermythos ein Pflanzenkonzept. In dieser Konsequenz sind Balders schlimme, lebensbedrohliche Träume gerade nicht als Zukunftsschau verstanden worden, vielmehr als unmittelbarer Ausdruck seines ad-hoc-Zustandes, als seine Realität im Vollzug. Die Aktionen der Asen, Friggs Eideinholung, Odins Reise in die Welt der Toten, die Erprobung Balders vorgeblicher Unverwundbarkeit im Schießspiel sind längst keinem Lebenden mehr geschuldet. Der Geschosshagel am Thing trifft einen Toten. Gerade das exorbitante Lob, die öffentliche Exponierung seiner Vorzüge kennzeichnen ihn in diesem Sinne unmissverständlich: Der Gelobte erweckt tödlich gefährlichen Neid. Richtig loben, selig preisen darf man einen Menschen entsprechend nur dann, wenn das Lob keinen Schaden (mehr) anrichten kann,²⁷ was im Umkehrschluss bedeuten muss, es kann nur ein Toter sein, über den hier ‚nur Gutesʻ gesagt wird. Balders Charakterisierung ist ein Nekrolog, ein typisierter, formalisierter Lobpreis auf einen Toten (siehe Kap. 5.6). Nach dieser Zwischenbilanz haben wir uns zunächst der Konzipierung Freyrs zugewandt (siehe Kap. 6), der in weiten Teilen der nordistischen Forschung Balder als nächstverwandt gilt. Zahlreiche Unstimmigkeiten blieben dabei in der Vergangenheit ungelöst, erst im neuen Denkraum eines Ahnenkonzepts finden diese eine plausible Erklärung. Freyr erscheint in der Überlieferung als Stammvater der schwedischen Ynglingar in einer merkwürdigen Unentschiedenheit zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit.Von einem als menschlich gedachten Freyr wird von einem aufwändig
Vgl. Lindow 1997. Vgl. Kaplan 2012. Vgl. Hirzel 1909, S. 245. Vgl. Rakoczy 1996, S. 76 f. Anm. 172.
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gestalteten, mehrere Jahre andauernden Umzug nach seinem Tod berichtet, von zahlreichen weiteren, menschlichen Pendants, ,Fróðis‘, ist die Rede. Einer von ihnen soll eine geheimnisvolle Wunschmühle, Grotti, besessen haben, die Gold, aber auch den berühmten Fróði-Frieden, eine sagenhafte Friedenszeit ermahlen konnte. Dieser so genannte Friedensfürst ist in vorliegender Untersuchung nicht als der Gewährer eines himmlischen Friedens verstanden worden, sein tyrannisches, ruheloses Wesen ist vielmehr das eines Toten, dessen Totenruhe ungestört bleiben muss. Das Mühlenlied (Grottasǫngr), das diese Ereignisse beschreibt, entspricht in Form und Inhalt einem Schlaflied, das wiederum mit dem Totenklagelied die meisten strukturellen Merkmale teilt (siehe Kap. 6.2). Auch Fróði ist (in einem modernen Sinne) bereits tot. Er befindet sich wie Balder in seinem tödlichen Übergang. Hier wie da sind die rituellen Mittel der Wahl zunächst die Befriedung, die Kompensation, schließlich der (abrupte) Abbruch, die endgültige Abweisung. Psychische Bewältigungsstrategien des Todes beschreibt auch das so genannte ‚Stadienmodell der Trauerʻ der Schweizer Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Die Psychologin unterscheidet fünf aufeinanderfolgende Trauerphasen des sterbenden Menschen bzw. der Hinterbliebenen, die sie als überkulturell wirksame, psychische Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Trauerbewältigung plausibel machen möchte. In wissenschaftlicher Rezeption werden indes ihre Ergebnisse, etwa die von ihr postulierte lineare Abfolge auf ein ‚gutes Endeʻ hin, als letztendlich nicht verifizierbar zurückgewiesen.²⁸ Es konnte aber gezeigt werden, dass Kübler-Ross unbewusst auf ein mythisches Modell eines tödlichen Übergangs referiert, eben jenes Modell, das auch der vormoderne Mensch seiner funeralen Ritualdramaturgie zu Grunde legte (siehe Kap. 6.3). Einen Unterschied galt es dabei zu berücksichtigen: In einem mythisch rituellen Modell des Übergangs muss vorrangiges Ziel stets die Begütigung des Toten selbst sein, dessen maßlose Wut und Enttäuschung, verbunden mit einer nunmehr außernatürlichen Wirkmächtigkeit, durfte auf keine Weise rituell unbehandelt bleiben. In der Funeral-Praxis kommt entsprechend der Kompensation auf einer rein körperhaften, gerade primitiven Stufe frühkindlichen Austauschs große Bedeutung zu. Dazu gehört insbesondere das ,zur Verfügung Stellenʻ von ‚Lebenssäftenʻ in Form von Körpersekreten aller Art: Blut, Tränen, Milch. Im Folgenden wurden einige Beispiele dieser Funeral-Praxen aufgezeigt. Dabei musste auch die Frage nach der Art der Feierlichkeiten des germanischen Nerthusfestes neu gestellt werden (siehe Kap. 6.4), das traditionell unter der Rubrik Fruchtbarkeitsfest abgehandelt wird. Nerthus, die so genannte Terra Mater des Tacitus, entspricht im römischen Kontext der Genita Mana, ausdrücklich eine Totengöttin. Die spezifische Ritualvorgabe der unbedingten Waffenruhe wurde analog zu den Vorgaben im individuellen Totenbrauchtum gelesen. Es ist Voraussetzung für das Erscheinen der Göttin und nicht Effekt. Die mutmaßlich damit verbundene Vorschrift zur Meidung von Eisen wurde als apotropäische Vorgabe gedeutet. Das Nerthusfest ist ein
Vgl. Sánchez 2007.
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Ahnenfest. Nerthus ist keine Frühlingsgöttin, sondern Stammmutter, der – als üblichste Vorgabe in der Ahnenpflege – zu einer gewissen Zeit Mobilität, Kommunikation und Austausch mit den Lebenden zugestanden wird (siehe Kap. 6.4–6.6; Kap. 7.2). Als weiteres Beispiel wurde das bizarre Ende Frothos III. gewählt, so wie es Saxo Grammaticus zu berichten weiß. Auch hier wird ein ursprünglich ritueller, funeraler Kontext erzählbar gemacht: Die Deponierung einer Goldkette an einem Kreuzweg entspricht in Art und Örtlichkeit den römischen compitalia-Opfern, die wiederum explizit Totenopfer, Opfer an die Laren, die vergöttlichten Ahnen sind. Frothos eigentümliche Gebrechlichkeit, das Herumtragen auf einem Stuhl, sind Teil des Ritualkomplexes um den verstorbenen Frotho (siehe Kap. 6.1–6.3; 6.6). Álfar wie Vanir gehören auf gleiche Weise in diesen Kontext. Es sind synonymische Kategorien,²⁹ die Art ihrer rituellen Zuwendungen ist identisch (siehe Kap. 6.7; Kap 6.8). Das álfarblót ist ein Familienfest, ein Opfer an die verstorbenen Ahnen. Daneben tauchen die Alben individualisiert, namentlich in den Genealogien norwegischer Könige auf, und auch hier sind eindeutig Verstorbene gemeint. Entsprechend wurde unter dem so genannten ‚Asen-Vanen-Kriegʻ der mythische Entwurf einer Systemkonsolidierung verstanden, einer Anerkennung des Status quo zwischen den Lebenden und den Toten. Damit gehören auch die Maßnahmen, die in der Ynglinga saga als Geiselaustausch beschrieben werden, in den Totenkult. Die Götter tauschen ihre Toten aus. Sie inkorporieren ihre Ahnen, eine der wichtigsten Stationen in Akkulturations-Prozessen von Gemeinschaften. Tatsächlich müssen für diesen vertraglich beschlossenen Austausch die Geiseln erst ‚hergestelltʻ werden. Jede einzelne wird aus Unbelebtem belebt, künstlich, zauberisch ins Leben gebracht. Nerthus wie Njǫrðr, Freyja wie Freyr sind die νέρτεροι „die Unterirdischen, die Unteren“, die neorxnawang bewohnen (siehe Kap. 6.11). Der nordische Gott Freyr ist die göttliche Ausprägung des verstorbenen Ahns, nie hat sein Opferkult diese spezifische Ausrichtung verloren, auch als er sich vom zunächst ausschließlich lokal verehrten Familien- oder Stammesahnen zum überregionalen Schirmherrn von Schweden entwickelte. Die viel beschriebenen obszönen Umtriebe am Freyrfest zu Uppsala sind damit nicht Ritualgebaren für einen Fruchtbarkeitsgott, sondern Teil des Ahnenkults. Ein in hohem Maße sexualisiertes Verhalten ist weltweites, notorisches Element von Bestattungsritualen. Bis in die jüngste Zeit sind hier Spiele mit explizit sexuellem, gerade auch gewalttätigem, transgressivem Charakter bekannt. Sie sind im Angesicht des Leichnams, für den Leichnam nicht zuletzt mit dem Leichnam aufgeführt worden. Nichts anderes sind die carmina diabolica, saltationes, ioca, cachinni der mittelalterlichen Missionsliteratur, phallische Spiele, aber auch nicht selten blutige, tödlich endende (Wurf)spiele. Gerade hier erscheint das Spiel in seiner ureigensten Funktion zur Herstellung wie Kennzeichnung eines Bruchs gültiger Wirklichkeitskonzepte (siehe Kap. 7.2).
Vgl. Hall 2007, S. 27.
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Lejre ist der Ort dieser Umbrüche: Im Namen Lejre selbst („Buden an einem Versammlungsort“, „Scheunen“) zeigt sich jene Art von Vorläufigkeit, von Provisorium, das so bezeichnend ist für den Umgang mit den Toten (siehe Kap. 7.2–7.4). In jener uralten Rituallandschaft der Toten findet die mythische Halle Heorot ihren Platz. Die Lejrehalle wurde als Ort beschrieben, wo über, mit und um die Toten herum gefeiert wurde. Der vormoderne Trauerritus verlangt öffentlich demonstrierte Nähe, Gastmähler und Spiele, im kulturell festgelegten Trauerverhalten bleibt wenig Raum für Individuelles. Manche rituellen Sprechakte werden später literarisiert und damit neu motiviert, mit neuen Gültigkeiten versehen. Damit entstehen unterschiedliche Bezogenheiten, die nicht immer so verstanden wurden. So wurde die klagende, empfindsame Grundstimmung der eddischen Elegien als fremd und spät betrachtet. Sie ist aber wohl eher ihrer Herkunft aus einem ursprünglicheren, einheimischen Trauerkontext geschuldet. Bereits Snorri scheint gewisse Traditionslinien der Ahnenverehrung gezielt ausgeschlossen zu haben.³⁰ In seinem Entwurf einer paganen ‚Hochreligionʻ finden chthonische Kulte, Gräberkult keinen Platz. Er berichtet wohl von Hǫlgi, dem eponymen Stammvater von Halogaland, und seiner Tochter Þorgerðr Hǫlgabrúðr als zweifellos tote Kultempfänger in einem Grabhügel (Skáldsk 44/45), daneben kennt er eine menschliche Þorgerðr, Ehefrau von Hákon. Er selbst wollte diese aber offenbar nicht mehr (oder noch nicht) als göttlich einstufen. So werden auch Jarl Hákons Todesbzw. Bestattungsumstände ,narrativisiertʻ, Ritualelemente neu motiviert (Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 49). Im Bericht über eine (Schein)hochzeit zwischen zwei Holzstatuen, Freyr und Þorgerðr, eine Art Brautversteigerung zum Amüsement König Olafs und seiner Männer, muss Ähnliches vermutet werden (Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 326, Flateyjarbók I). Selbst die Spaßelemente gehören wohl schon zu einer ursprünglicheren, paganen Ritualdramaturgie und ebenso die Zerstörung der Kultanlagen bzw. Götterstatuen im Sinne einer „ritual cremation“.³¹ Entsprechend ist das Setting in Analogie zum griechischen Hera-Fest der Daidala verstanden worden (siehe Kap. 7.6.2). Im griechischen Kontext erscheint eine auffallend ähnliche Motivkombination als Aition: Zeus präsentiert eine verhüllte Holzstatue als seine Braut, von einer erbosten Hera werden deren Kleider und Brautschleier zerrissen, die ‚hölzerne Brautʻ unter allgemeiner Ausgelassenheit verbrannt. Dieser Ritus scheint mit dem späteren Status der Hera als so genannte Ehegöttin kaum vereinbar. Aber es ist Hera selbst, die in ihrer frühesten Ausprägung als Baumstrunk erscheint, als πρέμνον, die primitive Verkörperung der Stammmutter der Argiver. Damit wird auch der eigentümliche, letztendlich paradoxe Status Freyrs im Eddalied Skírnismál als Vergöttlichung eines Toten erklärlich (siehe Kap. 7.6.3). Im seinem einzigen (überlieferten) Mythos erscheint Freyr als schwacher, kraftloser Bräu-
Vgl. Chadwick 1950, S. 404. McKinnell 2014d, S. 279.
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tigam, der für ein sexuelles Stelldichein mit der wenig geneigten Riesin Gerðr ganz auf die Hilfe seines Dieners Skírnir angewiesen ist. Einen heidnischen Fruchtbarkeitsgott mochte man sich auf diese Weise nicht vorstellen, entsprechend wurde versucht, Freyrs vermeintlich untypische Befindlichkeit in einer vorwissenschaftlichen, mittelalterlichen Medizingeschichte zu verankern. Aber auch im paganen Umfeld tritt Freyr niemals als Liebhaber, als Kämpfer, als „Anführer der Heerscharen der Götter“ (fólkvaldi goða [Skm 3]) in Aktion, umso mehr sind die Sprechakte, die sehr vorsichtigen Zuwendungen an ihn auffallend. Sie machen den Eindruck feststehender, formelhafter Ausdrücke. Die ungewöhnliche Machtbefugnis des Skírnir findet eine Erklärung in seiner Rolle als kultischer Hauptarrangeur in den Angelegenheiten seines toten Herrn. Die Kultrealität findet sich im berühmten Reisebericht des arabischen Gesandten Ibn Faḍlān (10. Jh.) (siehe Kap. 7.6.4), in der Beschreibung eines Schiffsbegräbnisses eines Warägerfürsten. Die Wartezeit von 9 Nächten, über die Freyr in den Skírnismál klagt, entspricht hier der provisorischen Grabruhe des Toten 10 Tage lang (ebenso im Balder-Mythos der Reisedauer des Hermoðr in die Unterwelt von exakt 9 Nächten). Es ist hier wie da die Vorbereitungszeit für das Begräbnis, die Sekundärbestattung: Ein Schiff wird auf einem Scheiterhaufen positioniert, Grabbeigaben einschließlich einer (weiblichen) Totennachfolge sichergestellt. Die Bestattung erscheint ausdrücklich als Totenhochzeit, sie wird mit Ritualelementen einer Hochzeit arrangiert. Einen weiteren zeitgleichen, literarischen Niederschlag dieses Ritus konnte in einem Eintrag der altrussischen Nestorchronik (945/46)³² aufgezeigt werden, vordergründig dargestellt als grausamer Racheakt der russischen Fürstin Olga am Volk der Derevljanen für die Erschlagung ihres Ehemanns, Fürst Igor. Und auch hier erscheinen in einem Traum die rituellen, mythischen wie narrativen Bezugsebenen ineinander verwoben: Der bereits tote russische Fürst träumt seine eigene Beerdigung als Hochzeit. Entsprechend wurden auch Balders Träume als die Realität seiner eigenen Bestattungsvorbereitungen gedeutet, wie Freyr, wie der Waräger-Fürst liegt er bereits in einem Traum ohne Erwachen. Denn auch für Balder werden ungewöhnliche Hochzeitsvorbereitungen getätigt. In den Skáldskaparmál (1) bekommt die Riesentochter Skaði von den Asen ein Ehemann angeboten als Kompensation für den Totschlag ihres Vaters Þjazi. Aber weder ihr Wunschkandidat (Balder) noch ihre buchstäblich zweite Wahl (Njǫrðr) sind Lebende. Nicht einmal der Dritte im Bunde, Loki, gehört mehr dazu. Durch den Zeigegestus des Schoßwurfs, den Loki an Skaði praktiziert, wird auf ein formalisiertes Adoptionsverfahren verwiesen. Adoption wie Einheirat zielen im Konfliktfall auf eine rechtswirksame Versippung von Kontrahenten ab, hier sind es Rechtsbündnisse zwischen den Lebenden und den Toten. Auch die berühmten Äpfel der Göttin Iðunn bzw. deren Gewährung (die in der Vorgeschichte dieser Ereignisse eine wichtige Rolle spielen) gehören in diesen Zusammenhang. Hier konnte eine ur-
Vgl. Müller 2001, S. 67–70.
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sprünglichere Stillmotivik aufgezeigt werden, die wiederum in gleicher Weise als formalisierter Adoptions-Gestus im Rechtswesen wie im Bestattungskontext erscheint (siehe Kap. 7.7.1). Die symbolische wie reale Milchgabe ist als Symbol des Übergangs, als Ritualelement häufig anzutreffen. Skaði und Iðunn sind die nordischen Verkörperungen von Ur- bzw. Totenflüssen. Sie sind die nordischen Pendants zum indischen ,heiligenʻ Fluss Ganges/Ganga. Im nordischen Brüdertrio Þjazi, Iði, Gangr ist diese Verbindung auch etymologisch noch erhalten, aber auch mythologisch lässt sich deren Flussgottheit-Natur wahrscheinlich machen. In einem funeralen Wissensrahmen findet auch die in der Forschung bis heute kontrovers diskutierte ‚Fesselung Lokisʻ neue Plausibilität. Loki erfährt hier keine Bestrafung so wenig wie Balder durch seine ‚Steinigungʻ. Als Skaðis Adoptivsohn und/oder Ehemann ist er nun selbst der Tote (siehe Kap. 7.7.2). Balder wie Loki erfahren die Behandlung des (noch) unbefriedeten Toten, des potentiellen draugr. Hier haben auch die Tränen der Asen ihren angestammten Platz, auch wenn das Axiom des nicht weinenden germanischen Mannes zunächst mit dem Tränen-Gebot der Hel zu kollidieren scheint. Die Tränengabe bzw. Verweigerung hat nichts mit höfischer Ideologie, dem Habitus skandinavischer Eliten u. ä. zu tun (im Gegenentwurf zum Isländisch-Bäuerlichen), wie etwa Kristen Mills annehmen möchte.³³ Der Kontext der ,positivenʻ, der möglichen männlichen Tränen ist ausschließlich der einer Totenklage, ob im bäuerlichen Island oder am Hof des Königs (siehe Kap. 7.7.3). Damit konnte auch der Tränenabbruch bzw. Verweigerung der Riesin Þǫkk als ein rituell geforderter identifiziert werden. Er leitet die Separierungsphase, den Abschluss im Übergangsritual ein. Þǫkk (etymologisch zu ir. Nemthenga „Giftzunge“) spricht einen Fluch- und Bannspruch gegen den nunmehr unerwünschten Toten aus (siehe Kap. 7.7.4). Auch das ,Flüsternʻ als besondere Art des rituellen Sprechens gehört dazu. Odin wendet es nicht nur auf seinen toten Sohn Balder (auf dem Scheiterhaufen) an, sondern auch auf seinen Ziehsohn Geirrøðr (Grímnismál). Hier ist es indes der Bruder Agnarr, der abgewiesen wird und wie Balder in eine jenseitige Welt verbannt wird.³⁴ Die Þǫkk-Episode scheint zu Snorris Zeiten nurmehr in populären, balladesken Liedversionen zu existieren (worauf das Spottgedicht Málsháttakvæði anspielen könnte). Ursprünglicher werden aber Totenlieder, Totenklagen vermutet werden können, die ihren rituellen Zusammenhang längst verloren haben. Insofern wird in der Gestalt der Þǫkk nicht nur eine reine Fiktion Snorris angenommen werden dürfen, auch wenn hier das antisemitische Motiv der nicht weinenden Juden mit einigem Recht in Anschlag gebracht wurde.³⁵ Diese postulierte Referenz auf einen antijüdischen Diffamierungsdiskurs wurde im Folgenden mit der noch grundsätzlicheren Frage nach einer gegebenenfalls theologischen, theologisierenden Ausrichtung von Snorris Werk verbunden. Tatsächlich bieten sich im Symbolsystem Literatur erstmals
Vgl. Mills 2013, S. 75–77. Vgl. Frog 2010, S. 283. Vgl. Abram 2011, S. 218 f.
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Möglichkeiten zur Distanzierung vom absoluten Wahrheitsabbildungsanspruch von Religion. So können auch im Norden des 13. Jhs. bereits legitime Alternativen zum christlich theologischen Deutungsmonopolanspruch von Wahrheit entstehen. Ein Ähnlichkeitsempfinden zu mittelalterlichen christlichen Symbolen ist damit nicht ausgeschlossen, dennoch müssen sie in Snorris Werk nicht zwangsläufig als ideologische bzw. theologische Aussagen verstanden werden. Gerade die Konzipierung des mittelalterlichen Judenbilds selbst ist in wesentlich älteren, mythischen Traditionen gegründet, es sind gut identifizierbare Wissensmodelle körperbasierter, überkultureller Liminalitätskonzepte. Im Anschluss setzt sich die Untersuchung mit der religiösen Vorstellung der Todesheilung auseinander (siehe Kap. 8.1), ihren grundsätzlichen, paganen Denkvoraussetzungen und gegebenenfalls daraus resultierenden Missverständnissen. Das Phänomen des Todes gilt als Grenze der Erkenntnis.³⁶ Dennoch nutzt der Mensch gewisse „sinnliche[ ] Qualitäten“,³⁷ Metaphorisierungen zur Sinnbildung. Das ist zuvorderst die paradoxe Materialität der Leiche, ihr Zerfall, ihr Verschwinden. Die frühesten Postmortalitätskonzepte sind daran geknüpft, die Vorstellung eines konkreten Weiterbestehens oder Wiederentstehens des Körpers (gegebenenfalls an einem anderen, unbekannten Ort). Die Logik sämtlicher Bestattungsrituale gründet darin: Wie konkret oder symbolisch auch immer diese ,Todesheilungʻ verstanden wird, ist sie doch niemals eine Rückgängigmachung des Todes, vielmehr (rituelle) Unterstützung einer unumkehrbaren Transformation. Die Totenerweckung, Wiedererweckung ins Diesseits bleibt die Ausnahme, sie ist unter gewissen Umständen möglich, sie bleibt aber unvollständig und/oder temporär, so gut wie immer gefürchtet. Ihre rituelle Ausformung erhalten jene Wissenskonzepte in den rites de passage, so erstmals gefasst von Arnold van Gennep und später von Victor Turner.³⁸ Die einzelnen Elemente der rituellen Grobstruktur (Separation, Liminalität, Reintegration) können dabei unterschiedlich fokussiert werden. Der Tote bedarf zunächst einer (körperlichen) Restituierung seiner Todeszerrissenheit, und auf gleiche Weise bedarf er einer sozialen Reintegration. Als Reisemetapher konzipiert geht es um dessen erfolgreiche Ankunft. Entsprechend gibt es Reisen, die eine wie auch immer geartete Umkehrbarkeit miteinschließen, eine (zyklische) Rückkehr in einen Ausgangszustand. Andere Reisen sind linear, eine auf ein Ziel hin gerichtete Klimax, eine nicht umkehrbare Entwicklung. In den einzelnen Kulturen gibt es unterschiedliche Bewertungen jener bildgebenden Schemata von Zyklizität versus Linearität. So erscheint im christlichen Denken Zyklizität nicht selten als primitive, magische Denkform vormoderner Stammesgesellschaften, teleologisches Denken als buchstäblich fortschrittliches Entwicklungsmodell. Es konnte gezeigt werden, dass Präsuppositionen dieser Art nicht etwa mehr oder weniger abstrakte Gedankenspiele sind, sondern
Vgl. Macho 2000, S. 91. Wiseman 2008, S. 348. Vgl. van Gennep 1909; Turner 1967.
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nachhaltige Auswirkungen auf die Beurteilung religiös gegründeter Restitutionsbemühungen haben können. Entsprechend ,aufrichtigʻ, ,legitimʻ oder ,geglücktʻ, aber auch ,unaufrichtigʻ, ,betrügerischʻ oder ,gescheitertʻ erscheinen diese (siehe Kap. 8.1.4; Kap. 8.1.5). In diesen Referenzrahmen der (Des)integration gehören auch die auffallenden Verletzungen der Reittiere Balders und Freyrs. In Freyrs Pferd Blóðughófi („mit den blutigen Hufen“) ist ein (unbekannter) Freyr-Mythos vermutet worden (siehe Kap. 8.1.3). Eine mögliche literarisierte Entsprechung konnte im todbringenden Ritt auf dem Freyr-Pferd Freyrfaxi der Hrafnkels saga Freysgoða aufgezeigt werden. Balder besitzt ebenso ein verletztes Pferd in denkwürdiger Übereinstimmung mit der Fußverletzung Blóðughófis. Es ist überliefert an prominenter Stelle, im Zweiten Merseburger Zauberspruch. Vergleichbare altindische Heilsprüche entfalten ihre Wirksamkeit allerdings nicht nur im medizinischen Bereich, sondern gerade auch im Begräbniskontext. Die Heilmaßnahmen am Balder-Fohlen gehören wohl zu Letzterem, das finnische Nationalepos Kalevala ist dabei wertvolle Referenz. Hier ist der jugendliche Held Lemminkäinen der Jenseitsreisende par excellence, seine engen Verbindungen zum germanischen Balder-Komplex sind früh gesehen worden. Nach einem Zweikampf mit Ukko, dem finnischen Donnergott, stirbt er (durch ihn) den Zerstückelungstod. Die zauberkundige Mutter bemüht sich um Restituierung, aber ganz offensichtlich kollidiert gerade hier die spezifisch finnische Ausgestaltung des Grenzgängers Lemminkäinen als der schamanische Initiand mit dem ursprünglichen Modell des tödlichen (unumkehrbaren) Übergangs. Auch der finnische Anfangsheld und Demiurg Väinämöinen ist mit diesem Motivkomplex verschränkt, im Rahmen seiner kosmischen Schöpfungstätigkeit erscheint das Motiv der Unumkehrbarkeit jedoch noch stimmig. Auf dieser Grundlage wurden nun im Weiteren klassische Erklärungsmodelle von religiöser Gewalt neu evaluiert. Dabei ging es nicht nur um die Frage, inwiefern diese auf den Baldermythos übertragbar wären, sondern überhaupt um eine grundsätzliche Neubewertung der These der Gewalt als Grunderlebnis des Religiösen schlechthin. So konstatiert Walter Burkert in seinem zum locus classicus gewordenen Werk Homo necans³⁹ eine untrennbare Verquickung von Gewalt(erfahrung) und Religiosität. Die Opfertötung (die wiederum ihren Ursprung habe im menschlichen Jagdverhalten) werde dabei zum Erleben des ‚Heiligenʻ schlechthin. Da dieser Zerstörungswille moralisch kaum gerechtfertigt werden könnte, würde er verdrängt durch (rituelle) Wiedergutmachungsbestrebungen der frühen Jäger, die schließlich in göttlicher Überhöhung, der Sakralisierung des Mordopfers mündeten. Karl Meuli prägte dafür den eingängigen Begriff „Unschuldskomödien“⁴⁰ (siehe Kap. 8.1.5). Von ähnlichen Voraussetzungen geht auch René Girard mit seiner fast zeitgleich erschienenen ,Sündenbocktheorie‘ aus (mit Modifikationen auch der amerikanische
Vgl. Burkert 1972. Vgl. Meuli 1975b.
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Judaist Hyam Maccoby).⁴¹ Wenn auch aus anderen Ursachen, kommt es ebenso zu Gewaltexzessen, die in der Ermordung eines Opfers gipfeln, die Girard als vertuschten, „getarnten Gründungslynchmord“⁴² sehen möchte. Nicht nur Girards Überlegungen gehen von Bedingtheiten in frühen menschlichen Gesellschaften aus, die inzwischen kaum mehr Rückhalt in der modernen Anthropologie finden. Im Ergebnis hat sich entsprechend gezeigt, dass die automatische Verquickung von Schuld und Gewalt, eine selbstverständlich angenommene moralische Dimension, überhaupt die Postulierung einer allgemeingültigen, überkulturellen Definition von Gewalt nicht mehr haltbar ist. Im Gegensatz dazu wurde der Auflösungsprozess der Leiche selbst als prototypischer Wissensrahmen verstanden, als Vorlage wie Handlungsaufforderung zu Gewalttaten aller Art: Zerstückelung, Blutvergießen, Opferungen geschehen am wenigsten aus einem Aggressionstrieb des frühen Menschen heraus so wenig wie die daran anschließenden Neuarrangements und/oder Substitutionen aus Schuldgefühlen, sie dienen der Herstellung einer neuen, rituellen Ganzheit. Diese Behandlung der Grenze als Ort ,logischer Notʻ musste schließlich zu einer weiteren Überlegung führen: Wenn also ein System sein Ende, seine Grenze nicht zu denken vermag und in paradoxen Denkoperationen sein Ende vorwegnehmend in sich selbst integrieren muss, so stellt die Denkfigur des Anfangs den Menschen vor dieselben Probleme. Und auch hier behilft sich die menschliche Kognition mit dem nämlichen Denkmodell: Auch der Anfang ist das ‚ganz Andereʻ, das ‚nicht Ableitbareʻ.⁴³ Deshalb werden aus Spitzenahnen unvollständige, monströse Mischwesen, körperlich wie moralisch defizitär. Es ist das discrimen des Anfangs schlechthin. Die so genannte Gewaltsamkeit des Anfangs ist der mythische Wissensrahmen des epistemischen Bruchs. Er findet seine unmittelbare Entsprechung in der Gewaltsamkeit des Endes, der Unmenschlichkeit und Defizienz der Leiche. Im genealogischen Gedicht Ynglingatal (bzw. Ynglinga saga) wird eine gleichwohl stets als befremdlich empfundene, aber in diesem Sinne klassische ‚Anfängersituationʻ dargestellt. Hier treffen wir auf eine dermaßen Kodierung der Ahnen, der Ersten, die, wenn auch in einer langen Reihe von abgewiesenen Alternativen, gerade dadurch ihr Geschlecht legitimieren. Gro Steinsland kann entsprechend kaum zugestimmt werden, wenn sie die bizarren, unnatürlichen Tode, die pervertierten Eheschließungen, das ganz offensichtliche Herrscherunglück als Grundlage paganer Herrscherideologie sieht.⁴⁴ Die nordischen Heiraten mit outgroup-Mitgliedern entsprechen in jeder Hinsicht dem mythischen Modell der ‚gestörten Mahrteneheʻ, siehe etwa das Abstammungskonstrukt der berühmten französischen Adelsfamilie Lusignan mit der Erzahnin als Schlangenfrau: der Anfang als buchstäbliche, monströse Verkörperung der abgewiesenen Alternative.
Vgl. Maccoby 1999. Vgl. Girard 2009, S. 137–160. Vgl. Angehrn 2007, S. 23 f. Vgl. Steinsland 1991.
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Beispielhaft für eine Ritualisierung des Anfangs ist Tacitus berühmte Schilderung des so genannten Opfers im Semnonenhain (Germ. Kap. 39): die horrenda primordia, die „schrecklichen Anfänge“ der Suebenstämme (siehe Kap. 8.2). Zu Recht wird dieses Kultgeschehen in einem weitaus größeren Rahmen als dem eines „ländlichen Erntefestes“⁴⁵ vermutet. Das Wesen des enigmatischen Kultempfängers (regnator omnium deus) musste dabei bis dato offenbleiben, aber die Tabubestimmungen, die für das rituelle Handeln in diesem Hain auferlegt sind, sind in jeder Hinsicht einschlägig. Die rituellen Präparierungen sind Vorsichtsmaßnahmen wie Solidaritätsbekundungen für eine ganz besondere Art von Kultempfängern: Es sind die Toten. Der Kultempfänger im Semnonenhain ist der Urahn, der Stammvater. Die germanischen Stämme betreiben Ahnenpflege, die hier wie überall ins Überregionale, in jene Art fictive kinship strebt, wie sie bereits im Nerthuskult und Freyrkult vermutet wurde. Mit einer rituellen Tötung möchte auch Jan de Vries den nordischen Baldertod zusammenbringen.⁴⁶ Als Vergleichsobjekt wählt er einen indonesischen Mythos, in dem die rituelle Tötung des Mädchens Hainuwele auf der Insel Ceram beschrieben wird (siehe Kap. 8.2.4). Die Mythen sieht er vergleichbar im Sinne eines Erklärungsmodells für den Ursprung des Todes. Der Mythos gehört zu einer Gruppe neolithischer Pflanzermythen, in deren Mittelpunkt eine „getötete Gottheit“,⁴⁷ die so genannte Dema-Gottheit steht. Er oder sie ist die oder der grausam ums Leben gebrachte ‚Ersteʻ, der/die in der Folge als Gründergestalt und Ahnengott/göttin verehrt wird. Aber gerade im Zusammenhang mit den Dema-Mythen konnte deutlich gemacht werden: Mittels des unerhörten, grausamen Todes des Anfängers, der Anfängerin wird der Anfang einer Kultur erklärlich gemacht. In seiner anthropomorphen Ausgestaltung wird auch der vedische Gott Soma von den Göttern gemeinschaftlich erschlagen, um an dessen kostbare Essenz, das amṛtam (das vedisch iranische Soma/Hauma) zu gelangen. Dieser Unsterblichkeitstrank wird auch im Mond vermutet, verstanden als ein wunderbarer, magischer Flüssigkeitsbehälter, der zyklisch diesen ‚Lebenssaftʻ abgibt. Auch die Dema-Wesen finden ihre astrologische Entsprechung im Mond. Und schließlich ist auch der nordische Balder durchaus mondaffin: Sein Ring Draupnir („Tropfer“) schafft durch stetiges ‚Abtropfenʻ sich immer wieder erneuernde Goldvorräte in einem mondnumerischen Zyklus. Im Nordischen erscheinen Mondmythen nur in den großen eschatologischen, apokalyptischen Vorstellungen (siehe Kap. 8.3). Aber auch wenn das volkstümliche, das magische Wissen bei Snorri kaum eine Rolle zu spielen scheint, so finden doch seine apokalyptischen Bilder allesamt Entsprechungen in jenen mondmythologischen Vorstellungen, wie sie wiederum aus der christlichen Missionsliteratur bekannt sind. Mond- oder Sonnenfinsternisse werden imaginiert als Angriffe von Untieren, die drohen, die Himmelskörper zu verschlingen, es ist gleichzeitig auch die Markierung
Höfler 1952, S. 59 f. Vgl. de Vries 1955. Jensen 1966, S. 9.
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des systemischen Endes. In der nordischen Sagawelt erscheint der Mond selbst als blutgefüllter Todesbote. Vielleicht gehört auch Balder, der ‚blutigeʻ oder ‚blutendeʻ Gott (blóðugr tívurr) hierher. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der (mythischen) Welt der Pflanzen (siehe Kap. 9), zuvorderst mit der Mistelpflanze (siehe Kap. 9.1), der Mordwaffe Balders. Vielen gilt sie als wesentlich zum Verständnis des Mythos überhaupt, andererseits wurde die Signifikanz der Pflanze als solche auch infrage gestellt (Kurt Schier).⁴⁸ Dabei musste zunächst der auffallende Umstand geklärt werden, warum ausgerechnet im Baldermythos aus einem bis dato positiven, nahezu sakralen Pflanzenkonzept die ‚böseʻ, schadenbringende Pflanze wird. Als magisch wirkmächtiger Epiphyt erscheint sie früh als Apotropäum an liminalen Orten, in Bannsprüchen, etwa um Verstorbene im Grab zu halten. In der Art ihrer Beschreibung ähnelt sie auf merkwürdige Weise den Eigenschaften des Weltenbaums selbst. Daneben zeigt sich eine Idee des ‚Geschmiedetenʻ, ein Konzept der Künstlichkeit, das ausdrücklich auch zu einer mutmaßlichen antiken Entsprechung, dem „goldenen Zweig“ (ramus aureus) der Äneis Vergils (1. Jh. v.Chr.) gehört (siehe Kap. 9.2). Im Weiteren konnte auf auffallende Ähnlichkeiten zwischen dem altfranzösischen anonymen Roman d’Eneas (ca. 1160), dem mittelhochdeutschen Eneasroman des Heinrich von Veldeke und der Gylfaginning verwiesen werden. Die botanische Diskrepanz der Vǫluspá wie Gylfaginning (Loki zieht bekanntlich die Mistel direkt aus dem Boden) findet im Eneasroman eine unmittelbare Parallele. Entsprechend wurde als ursprünglicheres Pflanzenkonzept ein Baum, eine Eberesche vermutet (siehe Kap. 9.4), die im nordischen mythischen Denken die bei weitem bedeutsamere Stellung innehat und nahezu funktionsgleich ist. In der Folge wurden einige mythische Erscheinungsformen der Eberesche dargestellt. In Irpa, der Baumschwester von Þorgerðr Hǫlgabrúðr, der ,Bräunlichen‘, muss eine Ebereschengestalt angenommen werden ebenso im hornungr („Bastard“) Erpr des Eddalieds Hamðismál. Auch die tiefdunkle ,Höllenhaut‘ der Zwillinge Geirmundr und Hámundr (Geirmundar þáttr heljarskinns) konnte als die Schwärze der Eberesche identifiziert werden. Hier zeigt sich auf besondere Weise, wie die Eberesche in ihrem ureigensten paganen Evokationspotenzial die absolute Grenze, die Grenze des Lebens im Anfang wie im Ende markiert.⁴⁹ Auch Thors Ehefrau Sif gehört in diesen Zusammenhang (siehe Kap. 9.5). In Sif, in Sifs Haar ist eine mythische Ausgestaltung der Mistel zu sehen in analoger Funktion zur gefährlichen, aber auch schützenden Wirkmacht der Eberesche. In finnischer Tradition wird die Eberesche Thor als Ehefrau zugesprochen, im Nordischen weiß ein Mythos von ihrer Schutzfunktion zu berichten. Der Haarraub Sifs wurde als alternatives mythisches Narrativ der missbräuchlichen Aneignung der Mistel durch Loki verstanden. Auch Ullr, Sifs Sohn, konnte in diesem Pflanzen- bzw. Baumkonzept
Vgl. Schier 1995, 126f. Vgl. Krömmelbein 1994, S. 42.
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plausibel gemacht werden (siehe Kap. 9.7). Er gilt nach allgemeiner Übereinkunft als Jagdgott nach finnischem Vorbild, allerdings passt dazu gerade nicht jenes Objekt, das mit Ullr notorisch in Verbindung gebracht wird: ,Ullrs Schiff‘ (Ullar skip, Ullar kjóll, Ullar askr). Auch Saxo Grammaticus berichtet von einer Schifffahrt, die Ollerus/Ullr bewerkstelligt habe. Diese disparaten Informationen wurden neu geordnet und als ursprünglich zusammenhängende Elemente eines sehr alten kosmogonischen Mythos gelesen: der Sturz des Weltenbaums und seine Folgen. Dieses Metamythologem wurde im Anschluss ausführlich vorgestellt ebenso die Verbindungspunkte mit dem Baldermythos, Balders Tod aufgezeigt: Gerade in der jungen, balladesken Dichtung der Fjǫlsvinnsmál scheint dieses sehr alte kosmologische Endzeit- wie Anfangswissen, wenn auch stark trümmerhaft, noch vorhanden. Und selbst wenn Saxo von Pflanzenkonzepten nichts zu wissen scheint, beschreibt auch er das Schwert, das einzig Balder zu töten vermag, als Schwert eines silvarum satyrus, des mythischen Waldbewohners Mimingus. Eine wie auch immer geartete Nähe zum altnordischen Mímir, dem „obersten Ratgeber Odins“ wurde erwogen, ebenso zum Mime der deutschen Heldensage. Und schon aus formalen Gründen musste an Mimameiðr, den Sitz des „Baumfunklers“ Viðofnir, gedacht werden. Die Versuche, alle diese Erscheinungsformen in einer mythischen Person oder Wesenheit zu vereinen, blieben bisher erfolglos. Mithilfe eines neuen tertium comparationis konnte diese Möglichkeit aber wieder plausibel gemacht werden. Mímameiðr ist nicht der Baum eines imaginären ,Mímiʻ (Mímir), er ist der Baum ‚nach Art eines Mímiʻ. Der Name wurde zur Wurzel *mein- gestellt, an. mein, „Schaden, Verletzung“, meina „beschädigen“ u. ä. (siehe die gleiche Sippe an. meiða „schaden, verletzen“) (siehe Kap. 9.6). Zu dieser Semantik gehört die Vorstellung des ‚Biegensʻ, ‚Verändernsʻ, ‚Transformierensʻ (das typische Evokationspotenzial des mythischen Schmieds) (siehe Kap. 12.1). Mimameiðr ist der Weltenbaum in seinem unguten, ‚bösenʻ Urzustand. Er lässt den Lebewesen der ersten Schöpfungstage keinen Raum zur Entfaltung. Dessen Fällung erscheint entsprechend in vielen Kosmologien als notwendige Etappe der Schöpfungsgeschichte. Das finnische Kalevala, aber ebenso die bisher kaum verstandene Strophe der Grímnismál 42 wissen noch die Einzelheiten dazu zu berichten. Ullr ist in seiner ursprünglichen Ausgestaltung der Weltenbaumsplitter, magisches Holzmaterial für Zaubergegenstände aller Art. Zusammen mit seiner Mutter Sif und der Ebereschenfrau Rauni ist er die Verkörperung des Weltenbaums in seiner magischen Wirksamkeit. Deshalb werden sie zu (austauschbaren) Variationen der Mordwaffe Balders. Von der Welt der Pflanzen wurde ein unmittelbarer Bogen geschlagen zu vorchristlichen Seelenvorstellungen, Konzepten von Beseeltheit (siehe Kap. 10). Der schwierige Weg der Seelenvorstellung im indoeuropäischen Kulturraum wurde schon zuvor kurz nachgezeichnet, von der (zunächst ausschließlich denkbaren) körperlichen Einheit als grundsätzlichste Voraussetzung und Interpretationsmodell für Selbst und Identität (‚Seeleʻ) hin zu metonymischen, prototypischen Körperrepräsentationen (vgl. die ,Knochenseeleʻ). Die Vorstellung der sich vom Leib ablösenden Seele wird
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jedenfalls erst spät, in einem letzten Schritt, dann aber am repräsentativsten empfunden.⁵⁰ Ahnenkonzeptualisierungen bzw. die rituellen Strategien der Ahnenkommunikation sind nach diesen unterschiedlichen Plausibilisierungsmodellen von Körperlichkeit, ,Materialitätʻ von Seele ausgerichtet. Hier spielen sie naturgemäß die bedeutsamste Rolle. Zu den frühesten Vorstellungen dieser Vergegenwärtigung gehört im Nordischen (neben der präparierten Leiche bzw. Leichenteile) der beseelte Holzkörper, der Ahnenpflock. Aber der Norden kennt noch weitere Beseeltheitskonzepte, die indes so gut wie immer neu plausibilisiert sind und kaum mehr als solche erkannt werden. Auf der Suche nach einer ursprünglicheren Vorstellung solcher Verkörperungen konnte der finnische Mythos wiederum weiterhelfen. So weiß das finnische Kalevala von ganz besonderen Schöpferwesen, die zur Weltschöpfungsarbeit herbeizitiert werden, winzige Erfüllungsgehilfen, etwa Sampsa (Sämpsä) Pellervoinen, der das Land zum Sprießen bringen muss (siehe Kap. 10.1; Kap. 10.2). Sein Kult ist von exzessivem Alkoholkonsum und sexuellen Ausschweifungen geprägt und aus gutem Grund mit den Kultumtrieben zu Ehren Freyrs in Uppsala zusammengebracht worden. So schien es bis dato folgerichtig, in der Sampsa-Sage (wie bei Freyr und Nerthus) einen Vegetationskult zu vermuten. Aber auch Sampsa kommt expressis verbis aus dem Land der Toten. Die Erweckung der Pflanzkraft wird analog zur Belebung der Totengeister gedacht. Sie plausibilisieren sich gegenseitig als ,Beseelungenʻ und bewirken sie vice versa. Auch der ägyptische Gott Osiris schwankt in seiner ursprünglichsten Wesenheit zwischen diesen beiden mythischen Modellen: Totengott oder Vegetationsgott. Im kultischen Handeln ist der Unterschied zwischen Saatkult und Totenkult ohnehin gering genug. In weiten Teilen Afrikas steht im Zentrum von Agrarkulten der intensive Austausch, die Kommunion mit den Ahnen, nicht etwa mit einem Fruchtbarkeitsgott. Nicht zufällig ähneln die entsprechenden afrikanischen Tabu- und Meidungsvorschriften den nordischen Ritualvorgaben (siehe Kap. 10.1). Diese Vorstellung von Lebendigkeit (‚Beseeltheitʻ) findet einen weiteren Ausdruck in der Herstellung bzw. Entstehung von Alkohol (siehe Kap. 10.2). Der finnische PellonPekko ist nicht nur das (personifizierte) Korn, sondern ebenso die Verkörperung eines Rauschgetränks. Verbindungen zum nordischen Byggvir (siehe *bygg < beggwu „Gerste“), dem winzigen Diener des Gottes Freyr, sind immer wieder gesehen worden, aber auch zum angelsächsischen Helden Beow. Letzterer ist der Abkömmling des eponymen Dynastiegründers Scyld Scéfing, des ‚Garbenkindsʻ, mit dem seinerseits eine Aussetzungsgeschichte verbunden ist. Auf keine Weise erscheinen diese indes als agrarische Kulturbringer, sie gehören vielmehr in den Kontext von Abstammung, Ursprung, Dynastienbildung. Um diese Vorstellung zu exemplifizieren, wurde auf ein sehr ähnliches Konzept in der japanischen Kosmogonie verwiesen: die Ausgestaltung der Kulturheroen und Demiurgen Sukunabikona und Ōkuninushi. Beide sind ‚Geistwesenʻ oder ‚Lichterscheinungenʻ, sie erscheinen in einer transzendenten, körperlosen Daseinsform,
Vgl. Gladigow 2002a, S. 94.
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wofür im Japanischen der Begriff kushi verwendet wird, wörtlich „alkoholisches Getränk“. Die japanischen Kulturheroen materialisieren sich als Alkohol: Wie die Vanen, wie Kvasir, Gullveig oder Fjǫlnir (der Sohn des Yngvi-Freyr) ‚sterbenʻ sie, setzten aber in einer erneuerten, transzendenten Form ihr Wirken fort. Die vermeintlich niederen Diener Freyrs, Byggvir und Beyla (Lokasenna), mussten im Rahmen dieses Interpretationsansatzes neu überdacht werden. Byggvir wird wohl mit Korn assoziiert, ausdrücklich aber ist er für den Alkoholausschank zuständig, und er erscheint, kaum beachtet, im Habitus eines Vogels (siehe Kap. 10.3). Diese spezifische Motivkombination findet sich auch beim japanischen Schöpfergott Sukunabikona: Er ist nicht nur ein Alkoholwesen, sondern ebenso die Verkörperung eines winzigen Vogels, eines Zaunkönigs (siehe Kap. 11.1). Vögel erscheinen häufig genug als Beseeltheitskonzepte, als Verkörperungen von Toten. Gerade aber der Zaunkönig ist offenbar nicht nur im östlichen, sondern auch im nord- und mitteleuropäischen Raum als Totenvogel, als Seelenvogel bekannt. Bis in jüngste Zeit stand er im Mittelpunkt eines volkstümlichen Brauchs, dem so genannten wren day. Die Elemente eines Bestattungsrituals sind hier noch gut erkennbar. Für den nordischen Kontext stellte sich dabei eine besondere Problematik: Der Vogelnamen rindill, ursprünglich „Zaunkönig“, erscheint im Altnordischen als Bezeichnung für den Vogel „Bachstelze“. Die auffallende Namensähnlichkeit zu einer wichtigen Gestalt des Baldermythos, Rindr, die Mutter des ‚Balderrächersʻ Bous/Váli, konnte dabei kaum unberücksichtigt bleiben (siehe Kap. 11.2; Kap. 11.3). Tatsächlich hat auch die Bachstelze („Steißwipper“) in den östlichen Kosmologien, vor allem in der japanischen Schöpfungsgeschichte eine bedeutsame Funktion. Sie bewirkt die ‚Festigungʻ des schlammigen Urozeans und damit die Entstehung von Land, sie gilt aber gleichermaßen als Lehrmeisterin des ersten Menschenpaares in der Ausübung des Geschlechtsakts. Die Bachstelze ist damit die vogelhafte Verkörperung des individuellen wie kosmischen Anfangs. In Beyla wie in Rindr konnte die nordische Ausprägung wie mythische Funktion der Bachstelze aufgezeigt werden. Zaunkönig und Bachstelze sind in der Gestalt des Vogelpaars Byggvir/Beyla (Rindr) einander angesippt worden, ihre feste Verbindung mit den nordischen Ahnengestalten Freyr und Balder stützt diese Annahme. Die Odin/Rindr-Episode wurde in diesem Sinne als typisches, pervertiertes Anfangskonnubium wie apokalyptisches Endzeitgeschehen interpretiert (siehe Kap. 11). Im Weiteren konnte auch für Nanna Nepsdóttir, Balders Frau, eine ursprüngliche Verbindung zum Wasser wie zu dessen (mythischen) Bewohnern aufgezeigt werden (siehe Kap. 11.5). In der Begegnungssituation zwischen Balderus und Nanna wird der eurasische Motivkomplex der Schwanenmädchenfabeln anzitiert, so wie sie in der Prosaeinleitung der Vǫlundarkviða ausgearbeitet erscheint. Um die Art der Ähnlichkeit zum Baldermythos beurteilen zu können, musste entsprechend zunächst Art und Funktion des Schwanenmädchenmythologems innerhalb des nordischen Schmiedemythos untersucht werden (siehe Kap. 11.5.1; Kap. 11.5.2). Damit rückte die Gestalt des Wieland, des mythischen Schmieds (ausdrücklich mit der Baldereigenschaft der ‚Weißheitʻ charakterisiert), wieder in den Mittelpunkt. Schon
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zu Beginn der Untersuchung wurde Wieland zusammen mit dem Flussgott Heimdallr im umfassenden Komplex von Gründung und Ursprung vermutet. Im übergeordneten eurasischen Mythenkontext sind Schwanenmythen durchgehend Gründungsmythen, Abstammungsaitiologien von Völkern wie einzelnen Helden. So konnte eine bedeutend engere Verbindung zwischen Eingangsmythologem und Hauptteil aufgezeigt werden. Im heroischen Kontext wird Wieland konsequent zu einer Rächergestalt umgeformt, in seinen magischen Transformationen gleich er aber den östlichen Gründergestalten, die sich noch im Diesseits in eine Art ‚materielle Unsterblichkeitʻ zu versetzen vermögen. Viele weitere (auch blinde) Einzelmotive sind dabei noch erhalten. Die Kombination magischer Flugfähigkeit mit dramatischen Rettungsaktionen wie verhängnisvollen Abstürzen (das so genannte Dädalus-Motiv) ist im eurasischen Mythenkomplex gut bekannt ebenso der Pfeilschuss des Meisterschützen (einschließlich der Simulation eines Treffers mittels einer Blutblase). Daran anschließend wurde die Darstellungsform der Körperdevianz Wielands, die Lahmheit, die Beinasymmetrie genauer untersucht (siehe Kap. 12). In einem mythischen Zusammenhang ist dabei stets auszugehen von einem mythisch gegründeten embodiment: In einer Logik des Konkreten erzeugen ‚schiefeʻ Gestalten ein buchstäblich ,schiefesʻ, ,wackeligesʻ Bild von Wirklichkeit. Das ist gefährlich für Wirklichkeitskonstruktionen aller Art, ist aber auch die wichtigste Voraussetzung für den (absoluten) Anfang, der stets Umsturz, Bruch des Vorherigen voraussetzen muss. In diesem Sinne ist auch Odin der Býleistr (der ,Unstete oder Schwankende im Gehenʻ) wie der Bileygr (der ,Unstete, Schwankende, Schillernde im Sehenʻ). Hœnir ist der fetMeili, der ,Schritt-Tölpelʻ, bei Snorri neu aktualisiert als mittelalterlicher Golem. Dem magischen Denken ist dabei ,gleich-gültigʻ, ob es sich um ,richtigeʻ Behinderungen handelt, temporäre, rituell erzeugte oder unabsichtliche. Die legendären (‚einschuhigenʻ) Monosandalos-Gestalten gehören dazu (siehe Kap. 12.2.2), der kultisch präparierte Jason, aber auch die synir Loðbrókar oder sverðmerðlingar, die bösartigen Marderleute in ihren bizarren, fellartigen ‚Lotterhosenʻ, nicht zuletzt der ‚gestiefelteʻ Sinfjǫtli und der mythische Wolfsjäger Víðarr. Im Ritus kann die Grenzüberschreitung, die Erschütterung bis hin zur Auflösung von Ordnung und Wirklichkeit immer wieder aufs Neue hergestellt werden, im nordischen Kontext etwa im berserksgangr (siehe Kap. 12.2.1). Die berüchtigte ,Berserkerwutʻ wurde in diesem Sinne als Zauberhandlung interpretiert, als erlernbare, „typische Form der Bewegung“,⁵¹ gerade um sich in einen außergewöhnlichen Kampfmodus versetzen zu können,⁵² gerade um zum Monster wie Monsterbekämpfer zu werden. Dieser spezifische, liminale, schwankende Zustand ist Kennzeichen des Männerbunds. Die historischen Kriegerbünde der Völkerwanderungszeit, buchstäblich im Zentrum der Macht angekommen, mussten indes ihre war magic, ihr antiso-
Hiltmann 2011, S. 149. Vgl. Dale 2014, S. 96.
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ziales, transgressives Verhalten ablegen. Die Aktualisierung ihrer religiösen Denkmodelle ist damit einhergegangen. Neben Odin ist Loki der typische Männerbundgott (siehe Kap. 12.2.3), auch in seinem Namen findet sich entsprechend das Betrügerische, Unberechenbare seines Wesens, weniger nach Art einer Körperdefizienz, vielmehr als deviantes, unberechenbares Verhalten. Er ist der logaþore der Nordendorfer Fibel, entsprechend wird vorgeschlagen, seinen Beinamen loptr nicht zu nhd. „Luft“, vielmehr zu me. leoft, luft „links“ zu stellen. Damit ist das semantische Feld der Linkshändigkeit mit all seinen magisch religiösen Konnotationen gemeint, das ‚Linkischeʻ im Sinne des ‚Verkehrtenʻ, ‚Pervertiertenʻ. In den Gründungsmythen dieser Welt ist der Linkshänder häufig anzutreffen (siehe Kap. 12.3), die legendäre Gründergestalt des Gaius Mucius Scaevola aus der römischen Frühzeit gehört ebenso dazu wie der nordische Gott Týr. An den römischen Gründungsgestalten Gaius Mucius Scaevola („Linkshänder“), Horatius Cocles („Einäugiger“) und Cloelia („die Reinigende“) (siehe Kap. 12.4) wurde die Art dieses Gedankenmodells, die römische Verkörperung der ,Anfängerʻ, exemplifiziert. Nach diesen Vorüberlegungen rückt der eigentliche Baldermörder Hǫðr in den Mittelpunkt. Seine vorgebliche Kämpfernatur schien immer in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu seiner Sehunfähigkeit zu stehen. In der mythischen Welt sind indes blinde Schützen, die erstaunlich zielgenau ihre Opfer auszuschalten vermögen, überaus zahlreich (siehe Kap. 12.5). Hǫðr teilt seine Sehbehinderung aus gutem Grund mit dem nordischen Göttervater selbst. Beide Körperdefizienzen müssen zusammen gesehen werden. Der unheile Körper, die Blindheit Hǫðrs bewirkt Heillosigkeit, Auflösung, ist grundsätzlich systemschädigend. Noch weniger als bei den so genannten ‚Hochgötternʻ Odin und Týr konnte diese Konzeptualisierung allerdings positiv anschlussfähig gemacht werden. Sophus Bugge fand das Vorbild Hǫðrs in einer mittelalterlichen Christus-Legende in Gestalt des blinden Centurio Longinus.⁵³ Auch der Kainmörder Lamech ist blind, schließlich wird dem ganzen Volk der Juden dieses Gebrechen zugeschrieben. Entsprechend wird von einem Teil der Forschung die Blindheit als Element einer mittelalterlichen antijüdischen Diffamierungsstrategie gesehen.⁵⁴ Es ist nicht unbedingt ausgeschlossen, dass Hǫðr damit in Verbindung gebracht wurde, aber ausdrücklich hat auch dieses Körperkonzept hier nicht seinen Ursprung. Um dies zu verifizieren, wurde die lange (vormittelalterliche, vorchristliche) Tradition des mythischen ‚blind shooter-Motivsʻ an einschlägigen Beispielen aufgezeigt (siehe Kap. 12.5.1–12.5.5). Dabei scheinen gerade Gründungskontexte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit blindshooter-Gestalten anzuziehen: Schon in biblischer Tradition galt Lamech als ‚Übergangsfigurʻ,⁵⁵ als genealogisches End- wie Bindeglied. In antiker Überlieferung ist der missglückte Schuss Attis zugedacht. Aber auch Attis/Atys ist der eponyme Gründer
Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 37. Vgl. Cole 2013, S. 3; Cole 2017, S. 248–252. Vgl. Hess 1991, S. 22.
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einer königlichen Genealogie, von dem zunächst nur (kaum anders als vom nordischen Balder) dessen Tod, die Begräbnisfeierlichkeiten, der etablierte Kult berichtet werden. In seiner frühesten Ausgestaltung ist er der Tote, der Ahne. Darauf deutet auch die Namensgebung hin. Sein Name wie Beiname gehören zu einem Lallwortkomplex, primitive Wortschöpfungen aus der Kindersprache mit einer in diesem Sinne einschlägigen Bedeutungserweiterung: als generalisierender Ehrenname für den Herrn, den Ahn, den Vorfahr schlechthin. Dies ist eine exakte semantische Entsprechung zu den Namen Balder und Freyr. Die Anrede als ‚Herr‘ ist der germanischen Götterverehrung fremd⁵⁶ (siehe Kap. 3.3), sie passt aber zur rituellen Ansprache an die Toten. Es sind tabuisierende, euphemistische Vorsichtsmaßnahmen. Der tödliche blinde Schütze im keltischen Bereich ist Lugaid Dalléces (siehe Kap. 12.5.4), er tötet, ebenso unabsichtlich, seinen Ziehbruder Fergus mac Róich, den Liebhaber der Königin Medb. Auch in der irischen Sagentradition erscheint in der Gestalt des Fergus ein Kastrationsmotiv mit eindeutigen kosmologischen Konnotationen. Und auch hier findet sich die Funktion des Fergus als Stammvater mehrerer bedeutsamer Genealogien. Die Gestalt der mythischen Königin Medb ist früh in Verbindung gebracht worden mit den so genannten ‚göttlichen Prostituiertenʻ des Ostens. Venus, Aphrodite gehören genauso dazu wie die sumerische Inanna oder ihr babylonisches Pendant Ishtar. Die Liebesvereinigungen mit diesen Göttinnen enden auffallend häufig tödlich für deren männliche Partner, gleichzeitig gilt aber im Irischen der rechtmäßige König immer auch als ‚Ehemann der Medbʻ. Auch in Freyrs Beziehung zu Gerðr mochte man entsprechend eine nordische Königsinauguration sehen, kaum zu Recht, denn diese so genannte Heilige Hochzeit geschieht keinesfalls unter Zwang. Es ist Ausdruck der tiefen Verbundenheit des Souveräns zur göttlichen Sphäre. Bezeichnenderweise wird der Name der Medb selbst als „alkoholisches Getränk“, „Alkohol“ etymologisiert, hier ist ein spirituelles, abstraktes Konzept von Herrschaft gefasst, eine jenseitige körperlose Natur scheint dabei ebenso mitgedacht wie bei ihren japanischen (männlichen) Pendants. In der nordischen Sagawelt erscheint der ‚blinde Schussʻ in der Hervarar saga ok Heiðreks (siehe Kap. 12.5.5). Der Antiheld Heiðrekr tötet seinen Bruder Angantýr auf bizarre Weise mit einem Steinwurf (in anderer Version mit dem Wunderschwert Tyrfingr). So ist die Saga schon früh als eine Art „Ableger“⁵⁷ zum Baldermythos interpretiert worden. Die Schilderung der Jenseitswelt Glaesisvellir, die hier eingangs erscheint, mit seinen Herrschern Guðmundr und Hǫfunðr als die mythischen Ahnherren der Familie findet gerade dadurch eine gute Erklärung. Im Namensbestandteil angandes Angantýr (siehe auch Vsp 22) wurde entsprechend die Fassung eines Seelenwesens vermutet: angan, angi „Duft“, „Aroma“, „Essenz“, in Entsprechung zum ähnlich gefassten Beseeltheitskonzept Heiðr (< *haiðu-, *haiði‐) in seiner ursprünglichen Bedeutung ,ephemere, lichte Erscheinungʻ. Auch Verbindungen zum kosmogonischen
Vgl. Neckel 1920, S. 132 Much 1924, S. 97.
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Bruderstreit der Grímnismál wie zum Totschlag, der die Lokasenna einleitet, sind aufgezeigt worden.⁵⁸ Die nächsten Kapitel beschäftigen sich mit weiteren Gestalten des Figureninventars des Baldermythos. Die auffallend diametrale Personenkonstellation im dänischen Baldermythos, die Ausgestaltung des Balderus und seines Antagonisten Hotherus, stand dabei am Anfang. Die Gründe dafür konnten zunächst in der Erzählstruktur selbst ausfindig gemacht werden, die ihrerseits kaum organisch mit dem Mythos verbunden scheint. Schon Bugge vermutete dahinter den Erzählstoff der mittelalterlichen Troja-Romane⁵⁹ (vgl. Dictys Cretensis, Ephemeris belli Trojani oder Dares Phrygius, De excidio belli Troiani)⁶⁰. Hotherus sei damit dem trojanischen Helden Paris, Balderus dem griechischen Heroen Achill nachgebildet. Bugge hat mit dieser Idee wenig Zustimmung geerntet, tatsächlich aber konnten Bugges Überlegungen in diesem Punkt unterstützt werden: Das narrative Grundgerüst der dänischen Mythosversion einschließlich seiner Figurenkonstellationen ist auf weite Strecken angelehnt an den Antikenroman. Auch beim prima facie positiv angelegten Hotherus der dänischen Fassung sind noch eine Reihe eigentümlich ambivalenter Eigenschaften identifizierbar (siehe Kap. 12.6.1). Saxo muss sie bereits in der nordischen Tradition vorgefunden haben, selbst wenn er sie sorgfältig zu verwischen sucht. Dies warf verschiedene Fragen auf, etwa was Saxo zu dieser Änderung veranlasst haben könnte, warum er den lichten, guten Balder dem (spätestens in frühmittelalterlicher Version) unsympathischen, ‚zornigenʻ Achill nachbildete. Allerdings ist auch Achills sprichwörtliche Wut im Grunde genommen befremdlich, selten verstanden, so wenig wie das Motiv seiner untröstlichen Liebeskrankheit, das mit ihm besonders in der mittelalterlichen Troja-Rezeption verknüpft erscheint. Auch hier konnte gezeigt werden, dass dessen Gefühlswallungen nicht als die Begierden eines menschlichen Liebhabers zu verstehen sind, so wenig wie sein buchstäblich ‚unmenschlicherʻ Zorn, es sind die des unbefriedeten Toten (siehe Kap. 12.6). Die nämlichen Elemente erscheinen in den nordischen Totenhochzeiten des Freyr und der Gerðr, des Balderus und der Nanna, auch hier neu plausibilisiert als exorbitante Gefühlslage eines Lebenden. Hotherus (wie Paris) ist damit der ambivalente wie potente Grenzgänger, hermesgleich vermag er natürliche wie außernatürliche Grenzen zu überwinden. In vielem trifft sich hier der dänische Hotherus mit dem nordischen ‚Tricksterʻ Loki, persona inhonesta, aber gleichzeitig unentbehrlicher Mediator zwischen den Lebenden und den Toten. Auch die Position des Váli konnte damit als rituelle Position in einem Bestattungsgeschehen verständlich gemacht werden (siehe Kap. 12.6.2). Durch den so genannten Haareid scheint er mit dem norwegischen König Harald Schönhaar verbunden, der sich gleichermaßen das Haar nicht schneiden lassen wollte, bis sein Ziel,
Vgl. Frog 2010, S. 283. Vgl. Bugge 2012 [1889], S. 93. Siehe Hradský 2005.
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die Reichseinigung, erreicht sei. Das Haarmotiv semiotisiert hier wie da die abstoßenden wie abzustoßenden Elemente eines Übergangs, die Verwahrlosung, die Selbsterniedrigung gehört dazu, es ist die liminale Angleichung an das Außersystemische. Vális körperliche Vernachlässigung ist aber, im Gegensatz zum König, Teil der rituellen Vorschriften im Totenkult. In dessen übermenschlich rascher Geburt wie Heranwachsen ist entsprechend auch ein Element der Rituallogik zu vermuten zur Kennzeichnung eines formellen Adoptionsverfahrens, wie es sich schon im SkaðiMythologem zeigt. Der Jenseitsbote Hermóðr schließlich erscheint im Baldermythos im bekannten mythologischen, auch christlichen Typus des Unterweltreisenden, aber von einer ausschließlich narrativen Fiktion Snorris ist auch bei ihm nicht auszugehen.⁶¹ Als besonders auffällig zeigten sich zunächst die durchgehend negativen Konnotationen, die offenbar ausschließlich die angelsächsische Überlieferung mit Hermóðr verbindet. Das Beowulf-Epos weiß von einem dänischen König Heremōd als abschreckendes Beispiel eines tyrannischen, habgierigen Herrschers mit starken, ja draugrhaften Jenseitszügen; in der Gylfaginning indes keine Spur davon. Umgekehrt erscheint wiederum in der angelsächsischen Tradition der Erzahne Hygelac durch und durch positiv gezeichnet, wo die nordischen Quellen nur das (wenngleich schon stark verrätselte) Bild des gefährlichen Toten kennen. Hermóðr bietet sich nun als Einziger an, die Bedingungen für Balders Auslöse bei Hel zu verhandeln. Die Form, in der Frigg ihr Anliegen vorbringt, Verhandlungen mit Hel zu führen, gleicht dem rituell geforderten Verhalten schwierigen, unberechenbaren Verhandlungspartnern gegenüber. Eine sehr ähnliche Ausgangssituation ist in der Njáls saga zu beobachten im Zusammentreffen zwischen Hildigunnr und Flosi nach dem Tod ihres Mannes Hǫskuldr Hvítanessgoði. In einem sorgfältig arrangierten Setting verhandelt Hildigunnr letztendlich die Forderungen ihres toten Ehemanns (siehe Kap. 12.6.3). Schließlich haben wir uns Snorris Schilderung von Balders Bestattungsritual zugewandt. Dabei stellte sich zunächst die Frage nach der Einordnung der auffallenden Weihehandlung Thors. Hier konnte gezeigt werden, dass diese keineswegs als christliche Nachahmung verstanden werden muss, wie manches Mal vermutet, sie gehört vielmehr zu Thors ureigenster mythischer Funktion. Thor sichert und bestätigt Grenzen. Er vollzieht an dieser Stelle auf ritueller Ebene, was die Riesin Hyrrokkin auf mythischer ausagiert: die Entzweiung, die Abweisung, die Scheidung des toten Balder (siehe Kap. 13.1). Für die Gestalt der Hyrrokkin, die Snorri mit einem monströsen Reittier ausrüstet, gibt es bildliche Parallelen, es wurde versucht, eine weitere literarische (neben dem Skalden-Gedicht Húsdrápa) plausibel zu machen: das Hyndluljóð. Spät und stark trümmerhaft überliefert, scheint es im Lied um einen Rechtsstreit zwischen Óttarr und dessen Widersacher Angantýr zu gehen. Diese Szenerie wurde als ein nicht mehr erkannter Bestattungskontext interpretiert, als eine ähnliche rituelle Inszenierung wie
Vgl. Abram 2006, S. 22 f.
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die Balderbestattung (siehe Kap. 13.2). Der vorgebliche ‚Rechtsuchendeʻ Óttarr (wie der ‚Thing-Teilnehmerʻ Balder) ist bereits tot, er befindet sich auf dem Helweg, und Hyndla wie Freyja müssen für dessen Übergang sorgen. Dabei ergaben sich strukturelle wie motivliche Parallelen zum homerischen Mythos. Die berühmte Episode der Schweineverwandlung der Kirke (Odyssee) kann damit in Beziehung gesetzt werden, die ihrerseits als narrative Analogie bzw. Denkmodell einer Jenseitsreise verstanden werden kann. In der Homerforschung wird die Kirke-Episode mit der Auslösung des unbestatteten Leichnams Hektors durch seinen Vater Priamos (Ilias) in Verbindung gebracht. Auf ähnliche Weise scheint auch in der Gylfaginning versucht, die unterschiedlichen Rezeptionsebenen, die rituellen, mythischen wie narrativen Wirklichkeiten des tödlichen Übergangs Balders zu koordinieren (siehe Kap. 13.3). Das vorletzte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit der einzigen Saga, in der Balder expressis verbis eine nennenswerte Rolle spielt, in der Fornaldarsaga Friðþjófs saga frækna (siehe Kap. 13.4). Nur hier erscheint ein Kultort Baldrshagi, wird ein Kultgeschehen um Balder greifbar (wenn man freilich vom mythischen Bestattungsritual absieht). Die Forschung mochte der Saga kaum mythologischen Quellenwert zusprechen, allzu offenkundig seien die zahlreichen Fremdeinflüsse (etwa Erzählmodelle der riddarasǫgur, der altfranzösischen höfischen Literatur bis hin zu Entlehnungen aus der östlichen, arabischen Literatur). Diese ‚fremdenʻ Erzählrahmen sollten nicht in Abrede gestellt werden, dennoch konnte gezeigt werden, dass die Erzählstruktur der Friðþjófs saga als solche, Schauplätze wie Personenkonstellationen, auf eine spezifische Balder-Agenda ausgerichtet ist und sehr genau – wenn auch auf einer strukturalen, subkutanen Ebene – dessen ursprüngliche mythische Konzeption widerspiegelt. Freilich verarbeiten schon die höfischen Romanvorlagen (siehe etwa die Tristan-Traditionen) wesentlich älteres paganes, funerales Ritualwissen. Zum Schluss wurde noch einmal grundsätzlich die Frage nach Art und Wesen nordischer Götter-Konzeptualisierungen gestellt und inwiefern der Gott Balder in seiner typischen Ausgestaltung eines nordischen Toten, eines Ahnen darin Platz findet (siehe Kap. 14). Diese Ausgestaltung kollidiert nachhaltig mit christlich gegründeten Transzendenzansprüchen an Götter, dem Postulat einer klaren Geschiedenheit zwischen Menschen und Göttern. Entwicklungen, Transformationsprozesse können hier bestenfalls im Rahmen eines Euhemerismuskonzepts begreifbar gemacht werden, als irrtümliche Einschätzung oder Anmaßung von Göttlichkeit. Diese Position verstellt freilich nicht nur den (christlichen) Mythenschreibern des Mittelalters, sondern auch mitunter der modernen Forschung den Blick für die spezifischen, paganen Denkvoraussetzungen von Ahnenkonzepten, deren mitunter paradoxe, ambige Andersheit. Entsprechend schließt die Untersuchung mit dem Desiderat eines grundsätzlichen Offenhaltens bzw. einer Erweiterung des Begriffs nordischer Götterverehrung im Rahmen des Totenkultes.
16 Literaturverzeichnis Abkürzungen Eddalieder Am Bdr Fjm Fm Grm Grt Gðr I Gðr II Gðr III Haustl Háv Hdl Hm HH I HH II Hrbl Hym Ls Rm Rþ Skm Þrkv Vkv Vm Vsp
Atlamál in grœnlenzku Baldrs draumar Fjǫlsvinnsmál Fáfnismál Grímnismál Grottasǫngr Guðrúnarkviða in fyrsta Guðrúnarkviða ǫnnur Guðrúnarkviða in þriðja Haustlǫng Hávamál Hyndluljóð Hamðismál Helgakviða Hundingsbana in fyrri Helgakviða Hundingsbana ǫnnur Hárbarðsljóð Hymiskviða Lokasenna Reginsmál Rígsþula Skírnismál Þrymskviða Vǫlundarkviða Vafþrúðnismál Vǫluspá
Snorra-Edda Gylf Gylfaginning (Snorri Sturluson) Skáldsk Skáldskaparmál (Snorri Sturluson)
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17 Namen- und Sachregister Aasfresser 373, 499, 659 Abalus Siehe Insel Abel 236, 715, 774 Abstammung 6, 29, 114, 120, 181, 187, 333, 336, 407, 439, 504, 511, 579, 598, 639 f., 642, 655, 731, 835, 867, 888 Acheloos 138 f., 671, 874 Achill 143, 211, 423, 553, 560, 671, 778, 780 – 786, 827, 829 f., 832, 893 – Achilles 137, 139, 311, 547, 778 f., 782, 786, 795, 829 – Achilleus 782 f. act-as-if 78, 455, 635, 840 Adam 195, 236, 307 f., 310, 715 Adam von Bremen 116, 171, 212, 214, 336 f., 353, 590, 839 Adler 148, 401, 428, 602, 605, 610, 722 Adonis 23, 101 – 103, 247, 460, 748, 754 f., 757, 760, 859, 873 Adoption 403, 410, 413, 427, 797, 868, 880 f., 894 Adrastos 748, 751 Adynaton Siehe Unmöglichkeitsmotiv Ægir 130, 161, 269, 420, 422 f., 453, 595, 619, 656, 790, 814, 839 Aeneis 207, 290, 542 áer 462 Affatomie Siehe Schoßwurf Agamemnon 211, 258 f., 672 Agdistis 748 Agnarr (Grm) 463 f. Ahne(n) 1, 74, 207, 289, 333, 336, 367, 510, 512, 523, 600, 632, 642, 650, 752 f., 763, 765, 797, 805, 808, 835, 863, 865, 892 Ahnenfest 513 Ahnengeister 278, 290, 299, 331, 591 Ahnenkult 210, 289 f., 318 f., 321, 331, 338, 347, 412, 592 f., 650, 700, 755, 782, 789 f., 878 Ahnenpfahl 366 Ahnenpflege 10, 336, 420, 507, 526, 729, 763, 805, 841, 851 f., 854 f., 878, 885 Ahnenverehrung 264, 290, 332, 336, 366 f., 369, 565, 755, 864, 879 Ahnherr 142, 183, 187, 198, 200, 202, 260, 262, 332, 465, 519, 544, 556, 565, 641, 765, 892 https://doi.org/10.1515/9783110789140-018
Aided Fergusa maic Róich 757 Aigis 552, 829 Ailill 757 – 759, 761, 764, 775 Ainu 577, 617, 632 – 635 Aischrologie 344 Alanen 264, 723 Albastï 639 Alben 106, 299 – 302, 368, 377, 537, 601, 878 Albenheim 302 álfarblót 300, 878 Álfheimr Siehe Albenheim Alfsol 851 Alkmäne 272 Alkohol 305, 315, 359, 389 f., 594, 599, 601 – 603, 608, 619, 765, 774 f., 796, 888 f., 892 Allan-a-Maut 602 Allegorese 51, 452, 741 Allvater 714 Alvíssmál 619 Amaterasu (Göttin) 90, 344, 637, 795 Amlethus 134, 162 f., 167, 444 Amlóði 133, 167, 269 amṛtam 523, 885 Amulett 155, 321, 384, 711 Analogie (Konzept) 28 f. Androgynie 197, 749 Äneas 501, 542 – 545, 558, 563 f., 568, 578, 667 Anfänger 115, 598, 752, 760, 891 Anfangsgestalt 316, 507, 669 f., 674, 676 Angantýr (Hervarar saga) 765, 767, 773, 821, 853 f., 892, 894 Angrboða 229, 241 animal ridens 89, 872 Animierung 315 Anthesterien 291 f., 462, 699 Anthropogonie 111, 113 Anthropomorph(isierung) 61, 73, 76, 285, 367, 484, 487, 499, 526, 559, 591, 659, 700, 885 antijüdisch 246, 309, 432, 447 f., 457, 825, 881, 891 antisemitisch 246, 448, 881 Antisemitismus 456 f., 497, 741 Anubis 522 f. Äpfel 34 – 36, 121, 174, 177, 180, 182 – 185, 187, 192, 400 f., 414, 646, 762, 880
17 Namen- und Sachregister
Apfelinsel 180 – 183 Apfelschuss 646 f. Aphrodite 140, 143, 241, 543, 558, 567, 628, 761, 892 Apokalypse 2, 5, 217, 424, 875 apokalyptisch 217, 219, 288, 310, 383, 526 f., 529, 533, 575, 588, 710, 768, 796, 885, 889 Apoll(on) 185 – 187, 219, 222, 266, 293, 553, 716 Apotropaion 55, 312, 433, 886 apotropäisch 8, 38, 52, 118, 147, 151, 155, 166, 216, 225, 238 f., 247 f., 252, 254, 285, 287, 292, 329, 379, 433, 461, 537, 539 – 541, 612, 623, 674, 685, 696 f., 719, 735, 737, 762, 807, 819, 862, 864, 876 f. Aquilius Regulus 665 ár ok friðr 267, 282, 335, 877 Archäologie des Wissens 47 Archetypen 17, 30, 516, 638, 641 Aristoteles 57, 139, 610 Ärmel 378, 656 Arnkell Þórólfsson 504 – 507 ars moriendi 280, 659 Arthur 180, 182 f., 188 f., 191, 764 f., 874 Arthus(legende) 181, 189, 264 Áslaugr 115, 118, 121, 659, 726 f., 730, 789, 806 Asymmetrie 126 f., 134, 661, 663 f., 672, 675, 694, 706, 709, 720, 722, 731, 738 Atharvaveda 388, 480, 482 Attis 23, 101 f., 187, 748 – 751, 753, 755 f., 758, 760, 859, 873, 891 Atys 748, 750, 891 Auferstehung 101 f., 104, 261, 283, 448 f., 481, 488, 513, 756, 763, 856 – 858, 860 Auge 4, 120 f., 123 f., 127 – 129, 211, 217, 224, 444, 463, 538, 599, 647, 665, 669, 671 f., 674, 727, 734, 740 Augenbrauen 95 f., 119, 123, 688, 788 Augenpfand 110, 127, 669 Augustinus 345, 358 Aun (König) 176, 181, 412 aurkonungr 108, 307 f. Aurvandill 163 f. Austrfararvísur 300 autopoietische Operation 466 – 468 Auzon (Runenkästchen) 642, 648 – Franks Casket 642
959
Avalon 179, 180 – 184, 186, 188 f., 201, 204, 728 f., 874 Baal 102, 862 f., 873 Bachstelze 610, 615 – 617, 619 f., 629, 632 – 634, 889 Badynoko 722 Bældæg (Beldeg) 212 Bakossi 592 Balder 1 – 3, 5 – 9, 93, 95 – 98, 100 f., 103 – 106, 109, 122, 168 – 171, 173, 202, 209, 211, 213 – 216, 223, 226 – 230, 232, 234, 238 f., 242, 249, 255, 257, 259 – 262, 265 f., 298, 322, 327, 333, 343, 360, 369, 371, 376, 386, 398 f., 417 f., 420, 423, 425, 428 f., 434 f., 440 – 442, 445 – 447, 458, 460, 463, 465, 479, 481 f., 506, 509, 513 – 515, 520 f., 528, 533, 537 f., 553, 566, 568, 570, 576, 593, 620 f., 633, 635, 656 f., 660, 739 f., 745, 750, 752 f., 755 – 758, 762, 767 f., 773, 777 f., 780, 786, 789 f., 792 f., 796, 798, 802 f., 808 f., 811 f., 814 f., 817, 830, 834 – 837, 839 f., 842 – 844, 849 – 851, 854 f., 859, 864, 869 f., 872, 874 – 876, 880 f., 883, 885, 887, 889, 892 – 895 Balder-Fohlen 8, 481, 883 Balderforschung 9, 448 Baldermythos 1 – 3, 6 – 8, 12, 18 f., 22, 24, 82, 93, 97, 104, 170, 204, 243, 245, 282, 342, 353, 419, 433, 436 – 440, 443, 447 f., 461, 463, 479, 482 f., 488, 491, 506 f., 513 f., 520 f., 538, 542, 545, 549, 620, 631, 740 f., 756, 765 – 767, 777, 783, 798, 809, 835, 838, 872, 876, 883, 886 f., 889, 892 – 894 Baldersbrá 96 Baldershag 282, 372, 843, 845, 851, 855 – Baldrshagi 8, 838, 851, 895 Balderus 2, 6, 122, 209, 379, 398, 429, 442, 445, 569 – 571, 587, 621, 635, 656, 760, 777 – 780, 782, 785 f., 788 – 791, 794, 824, 849, 853, 889, 893 Baldrs draumar 7, 226, 228, 399, 423, 800, 822, 830, 896 báleygr 124 Ballade 154, 226, 364, 431, 556, 602 Bannung 122, 255, 284 f., 292, 313, 344, 379, 432, 544, 622, 818 f., 853, 862 Bär 528, 685, 693, 700, 730 Bárðar saga Snæfellsáss 224, 233 Bärenkult 686
960
17 Namen- und Sachregister
Baron 694 Barri (Hain) 397 Bart 156 – 158, 400, 409, 417, 710, 849 Barthes, Roland 51 Baubo 343, 345 Bäume 180, 184 f., 223, 246, 291, 293, 372, 374, 460, 537, 543, 546, 550, 568 f., 571, 574, 579, 585, 587 f., 590, 600, 749 Baumkult 293 Baumstamm (‐strunk) 276, 314, 374, 546, 550, 599, 601 bealdor 753 Beerdigungsritual 293, 553, 851 Begräbnis 7, 163, 218, 252, 325, 333, 339, 392 – 394, 396 f., 464, 481, 489, 522, 682, 699, 807, 819 f., 823, 850, 880 Begräbnisplatz 203, 278, 352 Begräbnisritual 264, 318, 359, 823, 863 Begräbnisschiff 330, 836 Begräbnisspiele 216 Behinderung 98, 115, 123, 316, 475, 646, 661, 668, 670, 739, 741, 743 f. Beigaðr 477 f. Beine 113, 224, 265 f., 484, 550, 638, 661, 663, 666, 672 f., 675, 694 f., 705 Beow 595, 598, 656, 888 Beowulf (Held) 143, 155, 158, 160, 187, 211 f., 353 – 356, 477, 485, 595 – 597, 745 f., 756 f., 765, 800 f., 804 – 808, 875, 894 Bernstein 168, 177, 184, 186 f., 192, 772 Bernsteinbäume 186 Bernsteininseln Siehe Insel Berserker 540, 575, 682, 684 – 687, 690, 692 – 694, 696 f., 701 f., 706, 709, 730, 744, 768 – berserk(i)r 683 f., 687, 697, 703, 705 Berserkergang 576, 682 f., 686 f., 690, 701 f., 767, 890 Beseeltheit 308, 593, 887 Bestattung 5, 7, 109, 202, 247, 252 f., 261, 263, 281, 335, 339, 355, 358, 364, 389 – 391, 397, 420, 428, 435, 439 f., 444, 474, 500, 543, 592, 790, 795, 802, 808, 817, 819, 827, 830, 834 – 836, 852, 856, 858, 880 Bestattungskult 166, 319, 349, 367, 410, 412, 424, 789, 840 Bestattungsort 353, 836 Bestattungsritual 203, 263, 277, 281 f., 345, 361, 365, 382, 412 f., 417, 439, 441, 461,
465, 481, 543, 566, 568, 570, 609, 612, 738, 748, 782, 784, 814, 854 f., 889, 894 f. Bestattungsschiff 203, 322, 804, 836 Bettler 238, 252, 664, 706 – 708, 717 f., 744, 788, 832, 844 betwixt and between 561, 623 Beyla 565, 595, 604, 607, 617 – 619, 633, 889 Bhagīratha 407 f., 417 Bier 398, 422, 594, 604, 606, 609, 619, 638, 822 f., 836 Bier brauen 389, 602, 619 Bil 524, 664 bileygr 664, 738, 890 Billings mey 624, 627, 629 f. Binse 131, 541, 561, 564, 567, 590, 598 blend 32 f., 68 f., 113, 471 Blicktabu 656 Blickzauber 380, 670 blind shooter 457, 488, 748, 758, 767, 891 Blindheit 124 – 126, 456, 738 – 741, 743 f., 746, 891 Blóðughófi 476, 482, 883 Blumen 96, 103, 214 f., 218, 271, 712, 846, 875 Blumenpflücken 190, 215, 272 Blut 137, 182, 199, 214, 304, 306, 337, 356, 358, 411, 430 f., 436, 479 f., 484, 534, 536, 602, 647 – 649, 745, 749, 781, 789, 812, 877 Blutblase 647 f., 890 Blutegelkind 114, 599 – Hiruko 114, 599 blutig 179, 234, 337, 348, 411, 490, 536, 878, 886 Blutmond 534 Blutregen 534 Boann 128 f. Bocca della Verità 733, 737 bod Fhergais 759 Bodb 672 Bǫðvarr bjarki 118, 233 f., 686 Bǫðvildr 622, 638, 641 f. Böser Blick 125, 258 f., 528, 533, 663, 665, 672, 674, 688, 708 Bous 442, 620, 791, 796, 889 Bragi (Gott) 450, 453, 564 f., 801 Bragi (Skalde) 553 f., 564 Braut 114, 118, 153, 225, 366, 372, 374, 376, 391, 394, 396 f., 399, 405, 416, 460, 556,
17 Namen- und Sachregister
634, 696, 722, 731, 782, 785, 789, 823, 836, 879 Brautschleier 372, 812, 879 Brautwerbung 229, 376, 378, 383, 388, 400, 409, 556 breast-biting 414 Bredebliche 208, 213 Breiðablik 95, 100, 170, 208, 210 f., 213 f., 399, 766, 872, 874 Bricriu 461 Brísingamen 131 f., 143, 153 f., 156 f., 159, 397, 679 brísingr 143 Brosinga mene 143 f. Bruderkampf 766 Brudermord 501, 751, 767, 773 Bundahišn 219, 536 Byggvir 594 f., 597, 604 – 609, 617, 619, 635, 796, 888 f. býleistr 664, 671, 675, 693, 713, 720, 890 C-Brakteaten 8 Cain’s jawbone 236 Caladbolg 758 Caritas romana 412 carmina diabolica 346, 856, 878 Cerberus 544 Ceres 283 f. Charon 544, 562 Chlochilaicius 807 christozentrisch 2, 448, 867 Christus 1, 91, 97, 103, 217, 244 – 247, 253, 269, 274 f., 351, 481, 568, 706, 710, 745, 753, 756, 800, 831, 860, 869, 876, 891 Chronicon Æthelweardi 9 Cloaca maxima 736 f. Cloelia 735, 737, 891 common sense 5, 176, 323, 455, 460, 741, 867 comparison 17 f., 23, 28, 31, 35 – 37, 39, 213, 437, 773, 790 Compitalia 290, 295, 299, 301, 337, 505, 878 compitalis Siehe Kreuzweg contagion 28 f., 70, 318, 474, 500 Container 67, 120, 124, 139, 144, 168, 524, 536, 681, 754 Cronicon terre Prussie 768 Cú Chulainn 348, 379, 427 Cuso 368, 785
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dadsisas 277, 358 Dagr (Ynglinga saga) 605, 610, 612 Daidala 372, 650, 879 Daidalus 512 f., 643, 647, 890 Danae 272, 727 Danpr 142 Danr 142 Dares Phrygius 778 f., 893 Darimo-Haus 518 Darraðarljóð 580 De excidio belli Troiani 778, 893 decoupling systems 76, 872 Default-Wert 45 f. Defizienz 52, 54, 62, 100, 113, 117, 134, 308, 316, 319, 457, 662, 719, 722, 739, 884 deigja 618 f. déjà vu 28, 30, 33 Dema 515 – 519, 825, 885 Demeter 90, 215, 343 – 345 Denken, mythisches 51, 53, 74, 79, 176, 254, 351, 422, 559, 617, 860 Denken, wildes 254 Derevljanen 392 – 394, 441, 880 Derrida, Jacques 43 Descensus Christi ad Inferos 799 désir mimétique, le 492 Deutungshoheit 3, 44, 70 Deutungsmonopol 43, 61, 177, 490 Devianz 118, 394, 564, 576, 586, 591, 599, 688, 708, 717, 722, 731, 738, 743 f. di manes 277, 284, 338 Dichtermet 304, 317, 602 Dictys Cretensis 778, 781, 893 Dieb 133, 144, 158, 219, 253, 255, 269, 534, 844 Diebstahl 295 f., 709 Dindshenchas 128, 201 Dis pater 181, 201 f., 222 dísablót 2898 f., 840 Disen 283, 289 Dislozierung 332, 376, 853 dissémination 43 Disticha Catonis 626 Djed-Pfeiler 350 Dnjepr 142, 264, 654 Dofri 794 domains of comparability 37 Donn 201 f., 222, 519 Doppelgänger 371, 386
962
17 Namen- und Sachregister
Drache 121, 220, 529, 534 f., 725 – 727, 730, 774, 804 – 806 – Drachenfrau 659 – Drachenkind 727 Drachenkampf 116, 121, 711, 724 – 726, 730, 756 f., 804 Dragon-King 805 draugr Siehe Wiedergänger(tum) Draupnir 168, 521 f., 585, 803, 812, 820, 885 Drífa 224, 509 dying and rising gods 23, 101 f., 103, 857, 862, 873 dysja 252 Eberesche 545 – 550, 554 f., 559 – 561, 563 f., 566 f., 581, 587, 886 Ebereschenzweig 541, 548, 560, 566 Edda – Gylfaginning 2, 7, 97, 202, 209, 320, 446, 448 – 450, 453, 458, 485, 539, 545, 580 f., 586, 652, 758, 778, 792, 799 f., 802 f., 816, 839, 886, 894 – 896 – Skáldskaparmál 149, 307, 319 f., 399, 453, 580 Edige (Held) 639, 643 Egenolf von Staufenberg 658 Egill (Meisterschütze) 587, 636, 646 Egils saga Skalla-Grímssonar 288, 413, 682, 687, 690, 775, 792 Ehud 734 Eibe 542, 547, 580 f. Eiche 252, 427, 538, 541, 544, 568, 577 – 579, 586 f., 589 f. Eid 137, 223, 226, 230, 239, 242 – 244, 259, 291, 572, 603, 623, 701, 732 f., 758, 792 f., 823, 893 Einarmigkeit 665 f., 670, 742 Einäugigkeit 110, 129, 586, 663, 665 f., 668, 670, 672, 734, 742 Einbeinigkeit 533, 662 f., 670, 672 Einhändigkeit 663, 734, 737 Einschuhigkeit 706, 708 – 710 Eiríkr blóðøx 150, 801 Eiriksmál 608 Eisen 223, 257, 284 f., 384, 537, 543, 569, 576, 750 f., 849, 877 electrides Siehe Insel Elegien 361, 879 Elfen 300 Eligius 291, 711
Elitekrieger 697, 699, 703 ellilyf ása 401, 404 Elpenor 828, 830 embodiment 62, 91, 119, 439, 475, 557, 670, 731, 741, 890 Emer 348, 427 emesal 863 Eneasroman 545, 847, 886 Enkidu 206, 588 Ephedra 523 Ephemeris belli Trojani 778, 893 Epiphyt 541, 545 f., 550 f., 563, 587, 886 Erec et Enide 189 erfi(drápa) 360, 824 erfikvæði 360, 364 erfiǫl 360, 824 ergi 149, 382, 689 Erle 577, 580 f. Ernte 100, 216 f., 269, 282, 568, 602 Erntegott 100 Eros 510, 627 Erpr 549 – 551, 579, 886 Erzahne(n) 10, 111, 118, 173, 181, 188, 322, 557, 651, 660, 670, 715, 788, 807, 894 eschatologisch 93, 110, 136, 262, 377, 506, 526, 528 – 530, 560, 757, 885 Euhemerismus 864 Eumaios 832 Euphemismus 327, 773, 864 eurozentrisch 14 Eurykleia 833 Evalac 181, 189 evil eye Siehe Böser Blick evisceratio (Entdärmung) 248, 251 f., 432 Eyrbyggja saga 151, 165, 167, 252, 478, 504, 533, 551, 855 Fáfnir 791, 774, 806 Fagrskinna 440 fagrt hafnýra Siehe Meerniere faldr 372, 812, 842 fascinus 125, 298 – βαςκάνια 294, 298 Fee 501, 658 feigr 210, 259, 835 feiknstafi(r) 95, 210 fengari Siehe Mond Fenriswolf (Fenrir) 229, 526 – 528, 530, 578, 710, 732 f., 808, 839
17 Namen- und Sachregister
Fergus mac Róich 757 – 760, 762, 765, 768, 892 Ferse 113, 225, 530, 677, 698, 724, 732 Fesselhain 512, 593 Fesselung (Fesseln) 145, 167, 229, 341, 382, 388, 418 f., 426 f., 432, 434, 512, 527 f., 624 – 627, 684, 816, 881 Fiacha Fer Mara 598 fían 709 fictive kinship 336, 885 Fiktionalität 453, 460, 779 Fiktionalitätsvertrag 455 Findabair 764, 776 Fingal Rónáin 432 Fingernägel 796 Fjǫlnir 267, 507, 603 f., 609, 796, 828, 889 Fjǫlsvinnr 543, 556 Fjǫlsvinnsmál 205, 543, 555 f., 571, 576 f., 887, 896 flashbulb memories 489 Flateyjarbók 150, 160, 318, 368, 371, 821, 868 flǫkkunarmaðr 112, 677, 679, 717 flogrogn 546 Flore und Bla(u)ncheflur 846 Flosi (Njáls saga) 810 – 812, 894 Fluch 109, 176, 181, 288, 293, 329, 362 f., 388, 417, 422, 462, 464, 479, 540 f., 758, 767, 816, 881 Fluchrunen Siehe feiknstafi(r) Flussgold 567 Flussgott(heit) 137 f., 139, 140 f., 143, 152, 159 f., 164, 168 f., 307, 409, 423, 547, 608, 654, 671, 874, 890 Flussgöttin 408, 410, 416, 427 Flüstern 463, 756, 881 fluxus quo 22, 465 Fólkvangr 323 f. Forseti 170 – 172, 208 – 210, 652 f., 766, 874 – Fos(i)te 170 f., 653 f. Forsetlund 171 Fosetesland 171 – 173 Fóstbræðra saga 146, 224 Foucault, Michel 47 frame 26, 36, 45, 65, 83, 243, 424, 446, 456, 465 frame-based categorization 36, 65 Franks Casket Siehe Auzon (Runenkästchen) Freyfaxi 477 – 479, 513, 700, 754 Freyja 132, 144, 148 – 150, 152 – 155, 158 f., 162, 164, 166, 168 f., 209, 303 f., 317, 323,
963
327 f., 341, 360, 369, 378, 397, 425, 518 f., 534, 618, 679, 753, 755, 762, 775 – 777, 820 – 824, 831, 833 f., 878, 895 Freyr 9, 95, 100 f., 103 – 105, 111, 114, 122, 141, 204, 211, 214, 260 – 263, 266, 295, 302 – 304, 318, 320 – 323, 326 f., 332 f., 335, 337, 351, 353, 360, 368 f., 371, 376 – 378, 380 f., 383 f., 386, 392, 397 – 399, 417, 420, 476 f., 513, 518 f., 544, 557, 565, 582, 590 f., 593, 595, 597, 603 – 605, 608 f., 633 – 635, 656 f., 700, 712, 750, 753 – 755, 758, 760 f., 765, 782, 789, 794, 797, 800, 820 f., 823 f., 831, 839 f., 849 f., 854, 859, 864, 866, 868, 873, 876, 878 – 880, 883, 888 f., 892 f. Fridlevus 701 Friðþjófr 837 – 841, 843 – 845, 849, 851, 854, 864 Friðþjófs saga frækna 8, 282, 838 – 840, 895 Frigg 223, 230 f., 234, 241 f., 257, 329, 341, 425, 460, 464, 537, 539, 543, 566, 738, 742, 792, 802 f., 809, 811, 820, 894 Fróði 211, 260 f., 263, 266 f., 269, 271, 275, 282, 295, 297, 332, 335, 360, 369, 371, 381, 388, 603, 611, 800, 804 f., 849, 866, 877 Fróði-Frieden Siehe ár ok friðr Frotho 260 f., 270, 280 f., 294 – 298, 368, 804, 849, 878 Fruchtbarkeitsdämon 300, 796 Fruchtbarkeitsgott 101 f., 103, 105 f., 107, 260, 286, 321 f., 337, 376 – 378, 592, 666, 754, 756, 858, 870, 873, 878, 880, 888 Fruchtbarkeitsgöttin 284, 286, 374, 559, 712, 715 Fruchtbarkeitsopfer 338, 517 Frühlingsgöttin 713, 878 Füllhorn 138, 144 Funeralkultur 202, 353 Füße 122, 129, 190, 225, 319, 326, 400, 415, 417, 530, 538, 622, 658, 672, 674 f., 677, 693, 699, 708 – 710, 724, 833 f. – Fußwaschung 390 – 392 Fußverletzung 478 f. Gaia 531 Galgen 246, 551, 574 f. Galli (Priester) 287, 749 f. gand-flue 148, 162 Gangavia 406, 409
964
17 Namen- und Sachregister
Ganges 136, 386, 406, 409, 881 – Gaṅgā 406, 408 – 410, 416 f. Gangleri 383 Gangr 169, 404, 406 f., 409 gap-filling 59 Garbe 596 f. Garten 177, 185 f., 199, 206, 208, 245, 247, 584 Gäste 341, 356, 695 Gastfreundschaft 301, 357, 609 Gastmahl 357, 359, 475, 485 f., 879 Gaukler 91, 572, 696, 718, 787 f., 791, 807 Gede (Totengeister) 347 Gefjon 159 – 162, 166, 303, 341, 655, 742 Gefolgschaft 623, 701, 703 Gehauffälligkeit 316 Geigaðr 477, 575 Geiguðr 477, 575, 677, 711 Geirmundar þáttr heljarskinns 553, 564, 886 Geirmundr heljarskinn 553, 555 Geirrøðr (Grm) 463 f., 772, 795, 881 Geirrøðr (Riese) 161, 410, 547 f., 843 Geiselaustausch 675, 737, 868 Gelderus 569 f., 784 Genealogie 9, 29, 137, 181, 301, 503 f., 597, 652, 715, 759, 835, 878, 892 genealogisch 9, 222, 265, 504, 874 Genita Mana 283, 877 Genitalweisen 379 – Sheila-na-gig 344, 379 Geoffrey von Monmouth 180 f. Gerðr 109, 122, 141, 371, 376 – 380, 382, 385 f., 388 f., 391, 397, 479, 518, 541, 603, 635, 656, 730, 760 f., 782, 880, 892 f. Gerichtsverhandlung 170, 242, 255 Gerste 594, 597, 602, 888 Gervasius von Tilbury 502, 652 Geschlechtsverkehr 118, 140, 146, 162, 347, 350 f., 373, 377, 390, 576, 617, 619, 660, 757 f., 760 f. Gesta Danorum 2, 269, 352, 437, 571, 700 Gestaltenwandler 138, 152, 690, 713 Gestumblindi 463, 740, 767 Gevarus 569, 655 Gilgamesch 205 f., 588 Gilgamesch-Epos 118, 208 Ginnungagap 398 Giraldus Cambrensis 181 Gísla saga 203, 252, 807 gizki 147, 152, 552
Gjallarhorn 106 f., 110, 135 Gjálp 161, 547 Glæsisvellir 170, 172 f., 175, 177 f., 180, 204, 324, 459, 700, 766, 772, 874 Glas 177, 179, 182 – 184, 187, 347, 372 Glasinsel Siehe Insel Glasir 206 Glastonbury 179 – 182, 188 – 190, 192, 204, 353, 765 Glitnir 170, 208 – 210, 214 Gná 329 Golem 307 – 309, 314 – 316, 675, 848, 890 Gómsparri 529 Göndler 146 göndull (gǫndull) 145 f., 552 Gǫngu-Hrólfs saga 233, 317, 359 Göttervater 375, 529, 714, 740, 744, 891 Goldbrakteaten 8 Gottesurteil 240, 733 Grabhügel 163, 187, 203 – 205, 226, 229, 253, 261, 263, 318, 330, 335, 352 f., 355, 359, 367, 370 f., 386, 390, 398 f., 410, 430, 442 f., 477, 513, 518, 540, 570, 713, 751, 768 f., 774, 786, 789 f., 805, 864, 879 Grágás 676 Gregor der Große 218, 447, 460 Grendel 337, 355, 357, 485, 596, 805, 808 Grenzgänger 125, 227, 433, 476, 639, 643, 688, 696, 801, 851, 893 Grenzpassage 500, 556, 568 Grenzüberschreitung 255, 342, 345, 394, 499, 545, 548, 564, 636, 646, 839, 890 Grettis saga 394, 533, 685, 696 grið 282, 420, 839, 841, 851 Gríðarvǫlr 548, 843 griðastaðr 282, 420, 426, 838 f. Grímnismál 140, 170, 195, 209 f., 213, 261, 302, 463, 465, 576, 579 f., 583, 586, 655, 766, 772 f., 795, 881, 887, 893, 896 Gríms saga loðinkinna 731 Groá 229 Grógaldr 555, 623 Grottasǫngr 267, 269 f., 273 – 276, 281, 298, 611, 896 Gründergestalt 117, 222, 488, 520, 642, 688, 728, 890 Gründungsereignis 465, 492, 495, 588, 596 Gründungsmythos 117, 207, 215, 331, 405, 412, 732, 778, 890 f. Gudmund, hölzerner 173 f., 366
17 Namen- und Sachregister
Guðmundar saga 166 Guðmundr (Jenseitsherrscher) 173 – 175, 207, 700, 766, 874, 892 Guðrǫðr ljómi 673 Gudrun (Laxdœla saga) 431, 812 Gudrun (Hm, Gðr) 254, 343 f., 348, 362, 445, 540, 549 f., Guinevere 181, 188 – 190, 215 – Gwenhwyfar 764 f., 776 guldgubber 321, 360, 649 Gullintanni 106, 130, 133 Gulllinborsti 585 Gulltoppr 106, 130, 140, 820 Gullveig 303, 305, 317, 319, 372, 774 f., 889 Gültigkeitshierarchien 42, 82 Gunnars þáttr (Ǫgmundar þáttr dytts ok Gunnars helmings) 351 f. Gunnhildr konungamóðir 150 f., 158, 288 Gustr 774 Gutasaga 285 Gwenhwyfar Siehe Guinevere Gyda 794 Gymir 383, 656 Haarknoten Siehe Knoten Haaropfer 411, 795 Hades 190, 215, 783, 828, 832 Hadingus 414 – 417, 804 Hæðcyn 809 Hahn 466, 556 – 558, 676 Hainuwele 513 – 515, 520 f., 885 Hákonarmál 801, 808 Hálfdan háleggr 673 Hálfdanar saga svarta 831 Halogaland 150, 367, 713, 879 Hamðir und Sǫrli 254, 257, 549, 551, 553 Hamðismál 254, 549 – 551, 555, 886, 896 Hamlet 133, 168, 236, 269 Hammer 118, 153 – 156, 158, 312, 476, 585, 758, 788, 814, 817, 834 handbani 656, 740 Händeklatschen 461 – höndum slá 362, 462 Hängeopfer 293 Harald Schönhaar 262, 301, 321, 386, 509, 673, 792 f., 893 – Haraldr lufa 792, 794 Haraldr hárfagri Siehe Harald Schönhaar Haraldskvæði 654, 684, 697 Hárbarðslióð 562, 564 f., 682
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Harfe 727 f., 785 Harfenspieler 671, 713, 728, 785 f., 853, 864 Harthgrepa 414 – 416 Hati 526 Haustlǫng 144, 158, 310, 401, 406 Hávamál 382, 624 f., 703, 742, 896 Havel 186 Hawila 186 Hayato 698 f., 709 Hedingskrieger 319 Heiðr 304 f., 775, 892 Heiðrekr 227 f., 463, 700, 765, 767, 772 f., 775, 853 f., 892 Heilige, das 13, 15, 80, 83, 89, 489, 818, 883 Heilige Hochzeit 374, 508, 762 – hieros gamos 286, 513, 591 Heiligenverehrung 174, 366 Heiliger Henker 492 Heiligkeit 79, 89, 417, 503, 593, 645, 818 f. Heimdallar galdr 159 Heimdallr 10, 105 f., 109 – 112, 118 f., 122, 127, 129 – 135, 137 – 140, 143 f., 153 f., 159, 161 f., 164, 169, 307, 404 – 406, 409, 423, 607 f., 654, 671, 820, 873 f., 890 Heimir 144, 727 f., 806, 864 Heimskringla 150, 224, 368 – 370, 381, 387, 440, 443, 507, 690, 792, 884 Heinrich von Veldeke 545, 886 Hekate 291 f., 833 f. Hektor 553, 780, 827, 829, 895 Hel 168, 172, 206, 208 – 210, 227 – 229, 320, 398 f., 418 f., 424, 426, 434 f., 441, 446, 458 f., 463 f., 553, 609, 657, 783, 786, 799, 802 f., 811, 874, 881, 894 Held 118, 121, 187, 206, 233, 257, 266, 268, 311 f., 375, 380, 398, 415 f., 419, 487, 511, 532, 547, 556, 589, 597, 610, 642, 695, 720, 731, 756 f., 800, 815, 847 f., 854, 883 Heldenepos 265 f., 505, 722, 793 Heldengrab 211, 864 Heldensage 6, 10, 114, 414, 419, 553, 570, 732, 864, 887 Helfahrt 385, 799, 800 Helgafell 131, 179, 844 Helgakviða Hjǫrvarðssonar 206, 318 Helgakviða Hundingsbana II 318, 348, 391, 398, 512, 740 Helgo (Halogaland) Siehe Hǫlgi (Halogaland) Helgo (Starcatherus) 695 f. Heliand 160, 231, 324, 656
966
17 Namen- und Sachregister
Helweg 802, 823, 833, 895 Heorot 208, 211 – 214, 337, 352 – 354, 357, 368, 485, 875, 879 Hephaistos 90, 241, 512, 646 Hera 143, 344, 372 – 375, 402, 410, 512, 646, 650, 661, 842, 869, 879 Herbeiziehungszauber 628 Herebeald 745, 756, 766, 809 Heremōd 799, 801 – 805, 808, 894 Herkules 138 f., 211, 375, 410, 874 – Herakles 272, 333, 869 Hermes 252, 291, 827, 829, 833 Hermóðr 204, 434, 446, 458, 798 – 800, 802 f., 805, 809, 811, 813, 837, 842, 894 Herodot 142, 263, 333, 552, 725, 750 Heroenkult 297, 301, 318, 332 f., 783 Heros 1, 10, 121, 210, 273, 290, 333 – 336, 375, 565, 595, 783 f., 864, 893 Hervarar saga ok Heiðreks 173, 463, 765 – 767, 774, 818, 853, 874, 892 Hervararkviða 818 Hervǫr 229, 766, 772 Hesperiden-Mythos 402 Hesperidenäpfel Siehe Äpfel Hexagramm 314 Hexe 113, 224, 296, 613 f., 633, 672, 831, 836 Hierophanie 16 Hiitola 485 Hildebrandslied 551 Hildigunnr (Njáls saga) 810 – 813, 842, 894 Hildisvíni 821, 825 Himalaja 407, 409 Himmelsberg 130 hinkend 90, 477, 662, 668, 670, 675, 695, 732 Hinrichtung 151, 250, 252, 434 Hirsch 133, 354, 384, 577, 725 Hirschgeweih 354, 383, 762 Hiruko Siehe Blutegel Historia Francorum 807 hit óarga dýr 689 Hjaðningavíg 144, 148, 153, 317, 429, 566 Hjálmðérs saga og Ǫlvérs 359, 443 Hjuki 524 hlautviðr 320 hljóð 110, 135 f., 320 Hludana 137 hlutr 320 f., 544 Hochsitz 321 f., 360, 376, 384, 762 Hochsitzpfeiler 321
Hochzeit 140, 364, 366, 373, 376, 388, 390 – 392, 395 f., 402, 410, 415, 658, 695, 761, 777, 781, 844, 851, 880 Hochzeitslied 394 – 397 Hoden 124, 134, 400, 409, 428, 432, 749 Hoderi no mikoto (Prinz) 405, 465, 699 Hǫðr 2 f., 5, 104 f., 232, 447, 456, 514, 538, 620, 713, 738 – 740, 743, 777, 788, 791 f., 812, 850, 891 Hœnir 108, 304 f., 308, 311, 315, 320, 401, 675 – 677, 702, 705, 714, 890 Hœnsa-Þórir 676 Hǫfunðr 173, 765 f., 892 Hófvarpnir 329 Hǫlgi (Halogaland) 367 – 369, 713, 785, 788, 879 Holmgang 109, 163 f., 239, 682, 704 Holzidol 173 f., 371 f., 391, 700, 712, 841, 879 Holzschwert 758, 762, 768 Holzspäne (‐splitter) 578, 584 f., 698, 768 Holzstatue Siehe Holzidol Homer 139, 183, 193, 216, 552, 622, 672, 725, 778, 780, 782, 826, 897 homo ludens 89, 872 homo necans 489 f., 883 homo religiosus 16, 89, 489 f., 872 Homosexualität 149, 197, 425 Horatius Cocles 457, 667 – 669, 672, 674, 732, 891 Horus 350, 860 Hosen 117, 706, 717, 719, 724, 796, 849 – Hǫskuldr (Njáls saga) 810, 812, 894 Hotherus 2 f., 6, 359, 569 f., 656 f., 713, 739, 775, 777 – 780, 784 – 791, 853, 864, 893 – Hǫttr 233, 238, 249, 253, 875 Howori no mikoto (Prinz) 405, 465, 699 Hrafnkels saga Freysgoða 477, 754, 883 Hrafns saga Sveinbjarnarsonar 459 Hreþel 765 f. Hringhorni 322, 583, 814, 842 Hringr (Friðþjófs saga) 838, 844 – 846, 850 f. Hroðgar 801, 805 Hrólfr kraki 233, 703, 875 Hrólfs saga kraka 118, 149, 233, 317 Hrungnir 308 – 311, 314 Hrungnis hjarta 309, 312, 314 Hugleikr 807 Hugletus (Huglecus) 807 hugsóttir 377, 854 Hugsvinnsmál 626
17 Namen- und Sachregister
Huhn 605, 676, 732 Humblus 142 f., 162 f. Hund 84 f., 156, 162, 213 f., 283, 340, 527 f., 628, 683, 685, 691, 695 – 701, 709, 722, 730, 749, 824, 832 – 834 Hündchen 728 f., 833 Hundekrieger 698, 700 Hündin 160, 162, 625, 627, 701, 833 f. hunting ape 493 Húsdrápa 7 f., 109, 131, 140, 143, 159, 164, 354, 819, 821, 835, 894 husting 236 Hvanndalir 175, 177, 770, 772 Hvergelmir 137, 384, 529, 534 Hvíta-Kristr 97 Hvítramannaland 178, 221 f. hvǫt 363, 445, 810 Hygd 807 Hygelac 806, 894 Hymir 404, 409 Hymiskviða 122, 619, 896 Hyndla 777, 821, 823 f., 833, 836, 895 Hyndluljóð 111, 161, 821 f., 836, 894, 896 Hyperboräer 185, 219 Hyrrokkin 701, 814, 819, 821, 823 f., 833 f., 836, 894 Ibn Faḍlān 388 – 390, 392 f., 478, 880 idéologie tripartite 665 Iði 169, 404, 406, 409, 881 Iðunn 183, 341, 400, 404, 406, 409, 414, 417, 427, 776, 880 Igor (Fürst) 392 – 394, 397, 441, 880 Igorlied 689 Ikarus 646 f. Ilias 311, 375, 560, 782, 784, 827, 829, 837, 895, 897 Ilsan 848 Inanna 761, 763, 892 incantatio 462, 481 Indiculus superstitionum et paganiarum 277, 358, 525 Indra 243 f., 326, 523, 531, 535, 790 Ingibjǫrg (Friðþjófs saga) 838 – 841, 843 f., 850 – 852, 854 Ingimundr 321, 477, 544 Initiand 1, 489, 496, 514, 718, 883 Initiation 310, 486, 489, 514, 726 – initiiert 696, 701, 709, 718, 722, 726
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Insel
115, 132, 141, 163, 171, 177, 180 – 185, 187, 189, 201 f., 204, 206, 229, 285, 319, 367, 397, 406, 460, 464, 514, 590, 602, 612 – 614, 629, 700, 708, 712, 729, 768, 771, 783, 832 – Abalus 184 – 186, 191 – Bernsteininseln 184, 191, 204, 874 – electrides 185 – Glasinsel 182 f., 189 – Jenseitsinsel 172, 204, 210 – Tech Duinn 201 – Toteninsel 173, 201, 772 Inzest 114, 197, 415 f., 598 f. Irpa 314, 367, 369, 549, 559, 842, 886 Ishtar 761 – 763, 863, 892 Isidor von Sevilla 787 Isis 103, 225, 349 f., 522, 660, 859 f. Isle of Man 611, 613, 615, 633 Isolde Siehe Tristan Isthmische Spiele 216 ithyphallisch 158, 380 ius primae noctis 118, 140, 696 Ívalda synir 584 f. Ívarr inn beinlausi 115 f., 118, 121, 599, 675, 723 Izanagi (Urvater) 114, 465, 599 f., 616, 860 f. Izanami (Urmutter) 114, 465, 599 f., 616, 860 f. Jagd
52 f., 88, 142, 150, 177, 265, 405, 408, 489 f., 492 f., 495, 499, 509, 581, 636, 639, 648, 686, 745, 748, 750, 756, 758 Jakob und Esau 670 f. Jarl Hákon 225, 253, 314, 368 f., 371, 386 f., 730, 762, 822, 831, 842 Jason 628, 706, 708, 711, 890 Jenseitsfluss 483, 829, 861 Jesus Siehe Christus John Barleycorn 602 f. Jordanes 142, 332, 411, 436, 642, 808 – Jǫrmunrekr 549 – 551 Joukahäinen 457, 486 Judas 244 – 247 Juden 231, 309, 447, 456 f., 741, 744, 788, 825, 881, 891 – Judenbild 456, 882 Jynx (Iynx) 626, 628 f. Kacha 316 f. Kain 236 f., 715, 745 – 747
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17 Namen- und Sachregister
Kalevala 268, 482, 484, 486, 577 – 579, 583, 586, 594, 883, 887 f. Kamille 96 Kant, Immanuel 26, 42, 60 kappar 702, 704 f. Kastration 124, 135, 138, 149, 164, 167, 197, 224, 409, 748 f., 758, 760, 762, 862, 874 Kategorienlosigkeit 244, 541, 728, 876 Khons Siehe Mondgott Kirke 658, 825 – 827, 830 f., 833, 895 Kitab el Agani 845, 847 Klagefrauen 225, 278, 342 Klagelieder 336, 346, 390, 395, 460 f., 835 Knjaz Mal 392, 394 Knoblauch 216, 727 Knochen 166, 233, 237, 366, 397, 474 – 476, 479 f., 482 – 484, 511, 581, 585, 632, 723, 817, 847 knochenlos 114 f., 121, 723 Knochenwerfen 234 – knútukast 233 f., 875 Knoten(zauber) 147, 152, 157 f., 309, 312 f., 409, 417 knútukast Siehe Knochenwerfen Kognitionswissenschaften 30 kognitive Nische 76 kognitiver Imperativ 81 Kohlstrunk (‐stängel) 244 – 247, 568 Kojiki 114, 600 Kollr 163 f. Komparatistik 12, 14, 19, 22, 27, 30, 34 f., 37, 102, 870 komparatistisches Verfahren, überkulturelles 12 Kompensation 203, 239, 248, 297, 334, 363, 391, 400, 440, 513, 612, 781, 794 f., 810, 840, 854, 862, 877, 880 kona farandi 159 Königsideologie 509, 794 – kongeideologi 507, 510 Konjaku Monogatarishū 645 Konkreszenz 38, 58, 627, 669 – Kontagion Siehe contagion Kontamination 327, 498 f., 544, 615, 626, 685 Korndämon 595, 604 f. Korngeister 102 Korngötter 103, 595, 603 Körperseele 473, 475
Kosmogonie 114, 130, 132, 143, 193, 195 f., 199, 306, 331, 354, 406, 465, 487, 530, 535, 586, 599 f., 611, 616, 888 Kosmologie 193, 195, 201, 331, 589, 868 Kot 520, 548, 618 – 620 Kráka 659 f. Krankheit der Sprache 54 Kreuzesholzlegende 244, 247, 568 Kreuzweg 290 f., 294 f., 299, 505, 878 Kriegsgott 241, 512, 666, 705 Kriemhild 241, 848 Krisenkult 592 Kristall 177, 206, 208 Kroisos 750 Kultempfänger 283, 288, 291, 335, 367, 428, 513, 788, 862, 879, 885 Kulturpflanzen 591 Kultwagen von Trondheim 522 Kume (Sennin) 645 Kurgan 263 kushi (Alkohol) 600 – 602, 765, 889 Kvasir 304, 315, 317, 319, 601 – 603, 774, 889 Kveld-Úlfr 687 Kybele 283, 311, 748 Labdakiden 675 Lachen 89 – 93, 241 f., 341, 343 – 346, 371 – 373, 400, 403, 409, 422, 463, 672, 872 Lachgemeinschaft 92, 606 Lærir 160, 162, 166 Lævateinn 557, 559 Lahmheit 457, 586, 661 – 663, 669, 890 Lähmung 599, 640, 661 Lallwort 400, 655, 752 f., 755 Lamech 457, 744 – 748, 891 Lancelot 189 Landnámabók 108, 137, 175, 179, 221, 288, 299, 477, 844 Landstreicher 676, 679, 702, 717, 744 landvættir 285, 287 – 289, 299 f., 328 lappskott 585 Lar familiaris 290 Laren 290, 292 f., 300, 336, 657, 878 Larenkult 289 Larentalia 290 Lathgertha 726, 730 Lattich 247 Lauch 540, 727 Laxdœla saga 122, 354, 431, 812 Lebor Gabála Érenn 201, 566
17 Namen- und Sachregister
Leiche 88, 225, 252, 261, 297 – 299, 321, 325, 346, 363, 366, 397, 399, 428, 436, 463, 466, 470 f., 488, 499, 504, 591, 657, 659, 701, 780, 840, 847, 856, 864, 882, 884, 888 Leichenfeier 333, 339, 424, 514 Leichenlied 277, 281, 346, 349, 363, 431, 460, 463, 755, 830, 864 Leichenrede 277, 302, 340 Leichenspiele 336, 342, 350, 425 Leichenteile 366, 727, 888 leikari 698 leikr 424, 698 Leirbrimir 205 Lejre 6, 211 – 214, 233, 267, 294, 337, 352 f., 355 – 357, 603, 834, 843, 875, 879 – Hlethra 6 Lemminkäinen 483 – 489, 539, 567, 594, 790, 883 Lévi-Strauss, Claude 40, 63, 661 Lex Castrensis 237 Lichtalben 300, 302 Lichtgott 1, 581, 870 Liebeskrankheit 377 f., 635, 893 Liebeszauber 143, 152, 626, 629, 789 Liminalität 193, 238, 433, 445, 457, 465, 496, 499, 677, 702, 707, 744, 748, 882 Linkshänder 730, 732, 734, 739, 891 Literarisierung 237, 361, 363 f., 823, 863 Litr 814 f., 834 ljutyj zver’ 689 locus amoenus 183, 204, 207, 397, 399, 584 Loðurr 162, 305, 315, 714, 834 Logafjǫll 131 logaþore 714, 716, 818, 891 Lokasenna 7, 107, 141, 341, 377, 381, 383, 418, 420 f., 423 f., 426, 485, 531 f., 564 – 566, 594 f., 604 – 608, 618, 773, 822, 839, 889, 893, 896 Loki 5, 90, 107, 109 f., 127, 131 f., 135, 141, 143 f., 148, 153, 155, 158 f., 162, 164, 209, 229 – 232, 238, 240 – 242, 265 f., 282, 306, 315, 322, 341, 376, 381, 383 – 385, 399 f., 403 f., 406, 409, 418 – 425, 427 f., 430, 432 – 434, 440, 445 – 447, 449, 457 f., 461 f., 465, 485, 487, 498, 509, 531 f., 534, 539, 543, 545, 548, 557, 559, 561 f., 564 – 566, 584 – 586, 603, 605 – 607, 618 – 620, 635, 679, 681, 702, 705, 711, 713 – 717, 730, 738, 740, 743, 757, 773, 788, 791,
969
797, 815, 817, 819, 834, 850 f., 880 f., 886, 891, 893 Longinus 457, 745, 891 Loptr 557, 713, 715, 730 Loszweig Siehe hlautviðr Lotherus 143, 162 Loþkona 367, 715 Lottersprache 718, 791 Lug 667, 671 f., 709, 716 lundr lognfara 204, 397 f., 708 Lusignan 113, 502, 731, 884 Lutrophoros 391 Lynchmord 491, 497 f. Magen David 314 Magni 310 Mahābhārata 243, 316, 409, 536, 566 Mahre 165 f., 509 – Mahrtenehe, gestörte 501, 509, 651 f., 658 f., 884 Maische 618 f. male suttee 370, 751, 805 Málsháttakvæði 7, 458 f., 800, 881 Managarmr 534 Manes 290 Mängelwesen 55, 308, 315, 675 Máni 524, 535 Männerbund 692, 700, 702 – 704, 710 männerbündisch 648, 683 f., 691, 700, 705, 714, 718, 722 Männervergleich 154, 562 – mannjafnaðr 382, 562 Mannus 198, 201 Marder 712, 720, 722, 725, 729 – Marderfell 712, 720, 724 Mardǫll 166 Maskenumzüge 512, 691 Medb 757 – 760, 763 – 765, 774 f., 892 Medea 211 Meer(jung)frau 651 Meermann 409 Meerniere 110, 131, 134, 874 – fagrt hafnýra 110, 132, 135, 874 meiðr 573 – 576 Meisterschmied Siehe Schmied Meisterschütze 646, 648, 890 Melusine 113, 501 f., 651 f. Melwas (Melvas) 188 – 191, 215, 353, 765 Menglǫð 556
970
17 Namen- und Sachregister
Menschenopfer 213, 249 f., 287, 292, 411 f., 490, 496, 498, 503, 517, 559, 781, 783, 789 Merowinger 139, 654, 684 Mesopotamien 207, 762 Metamorphosen 136, 639, 643, 781 Metapher 43, 48, 51, 54 – 60, 68 f., 73, 83, 193, 266, 384, 468, 472, 499, 521, 525, 681, 871 – ontological metaphor 67, 73 – orientational metaphor 68 Metaphernhoheit 60 Metonymie 69 f., 193, 473, 664 Midgard-Schlange 109, 122, 229, 238, 658, 725, 757, 816 f., 819 Milch 176, 409 f., 412 f., 415, 430, 554, 599, 877 Milchgabe 411, 413, 415, 417, 430 Milchstraße 406, 408, 410 Mímameiðr 557, 568, 571 f., 574, 576, 663, 887 Mime 570 – 573, 887 Mimesis 495 mimetisch 491 f., 495 Miming 569 Mimingus 569 – 571, 768, 777, 887 Mímir 127, 130, 304, 306, 315, 570 – 573, 727, 887 Mímirbrunnen 130, 137 Mimung 571 mininarration 144 Minnetrinken 360 minnisǫl 822, 824 Mischwesen 113, 131, 138, 299, 501, 629, 644, 652, 730, 825, 884 Miskorblindi 619 Misogynie 613, 629 Mistel 242, 256, 434, 537 f., 540 – 545, 548, 555, 557 – 559, 563, 566 – 568, 571, 587, 738, 886 Mistelzweig 230, 242, 514, 538, 738, 792 – Mistilteinn 231, 243, 540, 571, 768 Mithras 311, 532, 586, 749, 751 Mjǫllnir Siehe Hammer Mǫkkurkálfi 308 f., 314 Moly 827 Mond 121, 220, 410, 460, 517, 519, 522 – 527, 533 – 536, 601 f., 749, 885 – fengari 535 Mondfinsternis 528, 534, 578, 808, 885
Mondgott 522, 524, 526 Mondverschlingung 527 Monosandalos 705 f., 708 f., 720, 890 Moräne 161 mǫrðr 712 Mǫrnir 160 f. Mucius Scaevola 667, 732, 734, 891 Mühle 267, 295, 574 Mühlstein 605 Mumie 350, 522, 860 músar-rindill 610 Muttermilch Siehe Milch Mýsingr 267, 275, 296, 611 mysterium fascinans 15, 870 mysterium fascinosum 34 mysterium tremendum 15, 34, 870 nábjargir 478 Nachtmahr 224 f., 656 Nacktheit 122, 125, 345, 378 f., 411, 656, 685, 692 f. Nahrungspflanze 514 f., 518, 520 Namentabu 38, 52 Namuci 243 f. Nanna 3, 122, 170, 209, 327, 369, 379, 399, 418, 445, 635, 652, 654 – 657, 660, 753, 755, 760, 777, 782 f., 785, 789, 802 f., 812, 814 f., 842, 889, 893 Narten 265 f., 312, 505, 722, 725 – native’s point of view 25, 49 naturalness of religious ideas 31, 71 Naturmythologie 101, 104, 119, 156 f., 568, 639, 678 Ndie 592 Nechtan 128 f., 386, 654 Neid 232, 258, 294, 362, 388, 423, 506, 587 f., 876 – φϑόνος θεῶν 232 Neidstange 288, 328 f. Nekrolog 302, 365, 876 Nekromantie 127, 226, 347, 703, 830 Nekropole 769, 875 Nekyja 826, 837 Nemäische Spiele 215 f., 335 Nemthenga 461, 881 nenia 277, 718 Neorxnawang 324, 326 Nephtys 349 f. Nepr 652, 654 Nepsdóttir 651 f., 814, 889
17 Namen- und Sachregister
Nereiden 423, 655, 671 Nerthus 282 f., 285 – 287, 291, 319, 324 f., 327 f., 338, 351, 360, 367, 384, 420, 590, 712, 877, 888 Nestelknüpfen 147, 152 Nestorchronik 392, 396, 880 Neurose 86, 492, 505 Nibelungen 231, 419 Nibelungenlied 231, 241, 562, 724 Níðhǫggr 529, 534 Níðuðr 638 f. Nihon shoki Siehe Nihongi Nihongi 114, 600, 616, 700, 796 Nikodemus-Evangelium 799 Nivaši 121, 655, 723 Nixe 417, 614, 635 Njáls saga 216, 367, 372, 438, 534, 552, 580, 712 f., 810, 842, 875, 894, 897 Njǫrðr 260, 285, 303 f., 319, 322, 324, 326 – 328, 400, 402, 405, 409, 415, 417, 440, 509, 591, 880 – νέρτεροι 325, 327 f. Nǫkkvi 652, 654 Nǫnn 655 noaidi 146, 149, 152 Nóatún 322 f., 400, 410 Nordendorfer Fibel 714, 716, 818, 891 Nymphe 136, 623, 627, 629, 786, 791, 826 obsessive-compulsive disorder 85 f. obszön 90, 160, 241, 338, 340 f., 344 – 347, 349 f., 381 f., 389, 394, 787, 791 Ochsenhaut 151, 239, 434, 719 Ochsenschädel 236, 238 Ódáinsakr 170, 172 f., 175 – 178, 210, 874 Oddrúnargrátr 317, 330 Odin 8, 38, 95, 110, 115 f., 125, 127, 129, 135, 137, 144, 146, 148, 150, 167, 187, 194, 226 – 229, 241 f., 251, 257, 259, 262, 303 – 306, 309, 315, 317, 329, 376, 384, 398, 400 f., 405, 418, 423 – 425, 442, 457, 463 – 465, 477, 511, 514, 524, 528 – 530, 532 f., 536, 549, 558, 562, 566, 570, 572, 574 f., 581, 585 f., 607 f., 612, 620 f., 623 – 625, 627, 630 f., 633, 635, 652, 664, 666, 669 – 672, 675, 677 – 682, 690, 693, 701 – 703, 705, 709, 711, 714, 720, 730, 734, 738, 740 – 744, 767, 772, 777, 792 – 795, 800 f., 803, 812, 814, 816 f., 820, 823 f., 830, 839, 850, 861, 876, 881, 887, 889 – 891
971
– Óðinn 19, 38, 111, 135, 226, 228, 381, 433, 464, 571, 585, 608, 679, 682, 714, 738, 740, 814, 820 – Othinus 620 f., 626, 631, 656, 793 f. – Wodan 251, 337, 479, 678, 818 Ödipus 675, 744 Ödipuskomplex 495 Odjuge (Schamane) 640, 662 Óðr 167, 679, 775 óðr 167, 315, 680 f., 815 Odyssee 234, 238, 782, 825 – 828, 831, 837, 895, 897 Odysseus 90, 234, 238, 672, 746, 825 – 827, 830, 832, 875 Offenbarung 33, 449 f., 454 Ohrenpfand 110 Okikurumi 633 f. Ōkuninushi 599 – 601, 609, 611, 765, 888 Óláfr Geirstaðaálfr 317 f., 367 Óláfr Haraldsson 160, 318 Ólafr pá 8, 109, 819 Óláfs saga helga 126, 697 Óláfs saga Tryggvasonar 126, 360, 371, 673 Olga (Fürstin) 392 – 394, 441, 880 Ollerus Siehe Ullr olympische Götter 90, 333, 336 Ōmononushi (Ōkuninushi) 599 – Ǫnduráss 408, 579 Ontologisierung 76 Opferhain 337 Opferung 8, 433, 672, 783 Opheltes 215 Ortsnamenkunde 19 – 21, 23, 165 Oseberg Schiff 203 Osiris 101 f., 104, 225, 349 – 351, 486, 522 f., 591, 593, 660, 700, 748, 750, 756, 858 – 860, 862, 869, 873, 888 Oskoreiden 700 Osseten 264 ossetisch 265 f., 311 f., 505, 722, 793 Ostgoten 264 f. Oszillieren 42, 92, 347, 465, 552, 558, 817 Óttarr heimski 821 – 823, 835 – 837 Outcast 575, 715, 794 Päivölä 485, 594 Palingenese 8 Paradies 168, 180, 185 f., 188, 199, 202, 204, 208, 217, 324, 328, 535, 715, 770 f.
972
17 Namen- und Sachregister
paradox 126, 221, 271, 273, 291, 331, 468 – 470, 476, 495 f., 500, 503 f., 521, 728, 746, 748, 787, 816, 864, 866, 879, 882, 884, 895 Paradoxon 9, 34, 55, 88, 420, 466, 713 Parasit 357, 422 Paris 140, 778 f., 781, 784 – 786, 788, 893 Parthenogenese 579 Passio S. Eadmundi 234 Pellon Pekko 594 f., 603 f., 796 Penaten 290, 299, 544 Penelope 238, 746, 832, 875 Pentagramm 313 Peri 639 f., 644 Persephone 215, 325, 343, 375 Perseus 272, 727 Peter von Staufenberg 658 Petitcreiu 728 f., 834 Pferd 106, 130, 168, 189, 239, 268, 303, 329, 369, 371, 377, 382, 398, 460, 476 – 479, 481 f., 486, 639, 654, 675, 700, 721 f., 725, 735, 754, 803, 820 f., 823, 841, 883 – Fußfessel 720 f. – Hermelinfüße 722 – Fußverletzung 883 Pflanzerkultur 516, 825 Phaeton 136, 168, 185 phallisch 159, 162, 341, 350, 384, 698, 759 Phallus (Phallos) 125, 154, 159 – 161, 166, 187, 266, 341, 349 f., 384, 394, 748 Phänomenologie 15, 18 Philostratos 252, 707 Phthia 784 Pindar 185 f., 210, 628 f. Pohjola 268, 548, 590 poiesis 33, 68, 871 – mythopoiesis 50 – physiopoiesis 305, 312, 682 Pólisríki 729 Polyxene 778, 781 – 784, 789 praefica 278, 411, 430 Priamos 781, 784, 827, 830, 895 Prometheus 426, 428, 475, 512 Promiskuität 166, 564, 717, 744, 765 Prosenna 735 Proserpina 190, 201, 209, 375, 398 f., 542, 544, 563, 657, 783, 786 Prototypen 26, 69 f. Provisorium 321, 352, 357, 389, 879 f. Psyche 627
Psychopompos 385, 499 – Seelenführer 809, 833 Puppen 292, 299, 338, 366 Rache 253, 295, 335, 361, 363, 393, 396, 400, 419, 442 f., 445, 503, 528, 620, 623, 630, 635, 766, 792 f., 802, 810, 812 f. – Blutrache 282, 363, 419 Rachegeister 334 ráðbani 740, 773 Ragnarǫk (Ragnarök) 2, 107, 110, 219, 229, 319 f., 376, 414, 418, 423 f., 426, 531 f., 534 f., 557, 570, 631, 816, 822 Ragnarr loðbrók 599, 659, 711, 719, 806 Ragnars saga loðbrókar 115 f., 119, 315, 367, 660, 897 Ragnarsdrápa 145, 149, 310, 317, 550 Rāmāyaṇa 723 Rán 423, 615 Rätsel 144, 227 – 229, 423, 434, 555, 605, 767, 835 Rauni 548, 559, 561, 566, 587, 887 Reanimierung 315 Rechtsgott 96, 170, 653, 666 Redegewohnheitsnotwendigkeiten 6, 48, 449 Reginsmál 774, 896 Regnilda (Hadingus) 414 reikunarmaðr 112 f., 677, 679 Reinheit 96, 100, 196, 210 f., 251 Reinigungsopfer 292 Restitution 349, 364, 873 rex iustus 510 reynir 546 – 548, 561 reyrsproti Siehe Rohrstängel Rǫgnvaldr réttilbeini 673, 691 Rǫgnvalds þáttr ok Rauðs 157 riddarasǫgur 852, 895 Riesin 90, 161, 229, 326, 376, 399, 401, 415, 446 f., 464, 531, 548, 608, 701, 762, 814, 821, 823 f., 833, 836, 880 f., 894 Rígr 111 f., 118 f., 140, 164, 654 Rígsþula 111 – 113, 115 – 119, 142, 164, 896 Rigveda 205, 243, 325, 531 f., 759, 876 rindill 610 f., 615, 620, 889 Rindr 620 – 624, 629 – 631, 633, 635, 642, 742, 792, 889 – Rinda 442, 581, 620 – 622, 625 f. Ring 168, 310, 521, 585, 622, 762, 803, 812, 841 f., 885 rites de passage 280, 504, 722, 882
17 Namen- und Sachregister
Rituallogik 257, 282, 298, 797, 894 Rohrstängel 256, 433, 541, 554 – reyrsproti 256, 541, 553 f., 564, 598 Roman d’Eneas 545, 886 Romulus und Remus 197, 498, 501 f., 642, 670, 737 Rosengarten 241, 848 Rotation 145 f., 552, 628 f., 682 Rügebrauch 238, 561, 876 Ruho, Sampa, Perisokia 585 Saatkult 592, 888 Saatprobe 592 Sake 601 f. Sakraltheorie 255 Salomon 314 Sambia 768 Sami 147, 149 – 151, 246, 405, 407 f., 508 f., 534, 544, 673, 731, 794 f. Samland 186, 712, 729, 768, 770 – 772 Sampo 268 f., 611, 616 Sampsa 590 f., 594, 598, 600, 603, 888 Sámsey 229, 367, 712, 729, 768, 772 Samson 237 Saturn 236, 706 Scadinavia 405 f. Schadenfreude 403, 460 f. Schadenszauber 123, 143, 147 f., 164, 379, 504, 702, 731, 776 Schah Nameh 725 Schamane 38, 148 f., 151 f., 482, 488, 498, 640, 643, 662, 695 Schamanismus 147 f. schamanistisch 487, 504, 683, 686 Schamgrenzen 345 f. Schaukeln 293 Schauspieler 695 f., 698 f., 787 f., 807 Scheinhochzeit 371, 391, 402 Scheiterhaufen 203, 227, 330, 389 f., 463, 474, 570, 578, 783, 793, 814 f., 817, 820, 834, 842, 880 f. Schenkel 159, 162, 166, 624, 677, 693 f., 699 Schienbein 693, 710 Schießspiel Siehe Spiel Schiffsbegräbnis 388 f., 393, 570, 578, 802, 808, 880 Schiffssetzung 353, 360 Schiffsumzüge 834
973
Schlaf 106, 150, 215, 218, 224 f., 270 – 272, 275 – 277, 280 f., 295, 356, 371, 388, 390, 564, 726 f., 805, 849 f. Schlaflied Siehe Wiegenlied Schlange 115, 120 – 122, 139, 215, 426 f., 432, 535 f., 722, 749, 790 f. Schlangenblick 119 – 121 Schlangenfrau 113, 501, 509, 884 Schlangengift 429 f., 786, 790 Schmied 10, 106 f., 301, 434, 571, 573 f., 621, 635, 638 f., 642 f., 646, 649, 662 – 664, 671, 674, 873, 887, 889 Schneeschuhe 400, 405, 582 Schnurzauber 158 Schöpfungsmythen 194, 220, 492, 617 Schoßwurf 403, 410, 417, 797, 880 Schuh 530, 670, 706 – 710, 807 Schwan 639 f., 661, 676 Schwanenfrau 164, 509, 636 – 641, 646, 660, 889 Schwanenmädchen Siehe Schwanenfrau Schwarzalben 300, 559 Schwein 137, 247, 303, 477 f., 516, 518 f., 548, 585, 601, 605, 748, 819 – 821, 823 – 826, 831 – 833, 837 Schweinehirt 832 Schweinekobel Siehe Schweinestall Schweinestall 253, 369 f., 518, 825, 831 – svínabœli 369 scope syntax 78 Scyld Scéfing 596 – 598, 603, 799, 808, 888 Sebelja 117, 723 Seehund 131, 164 f. Seehundfrau 163 f., 166 Seeland 159, 211, 213, 297 f., 719 Seelenführer Siehe Psychopompos Seetang 153, 413, 430, 775 Sefafjǫll 131 Sehne 480, 482 – 484 seiðr 145 f., 148 f., 152, 158, 313, 317, 319, 424, 552, 673, 675, 682, 698, 774 Seifengold 567 Sekundärbestattung 262, 322, 366, 389, 397, 428, 475, 795, 840, 847, 880 Sela Siehe Seehundfrau Selbstverletzungen 363, 411 Selkolla 164 f. Sellerie 216, 335 Semnonenhain 511, 885 senna 227, 383, 424, 564, 700
974
17 Namen- und Sachregister
Sennin 643, 645 Sessrúmnir 323, 360 Seth 349, 498, 860, 862 Sexbesessenheit 149, 347, 777 Sexualität 124, 177, 207 f., 303, 338, 345, 384, 520, 658, 673, 689, 742, 747, 759 f., 763 Sheila-na-gig Siehe Genitalweisen Sibýlja (Sebelja) 117 Sibylle (Seherin) 543, 545, 564, 567 Sichel 312, 557 Siegfried 187, 231, 241, 725, 801 – Sigfrid 419 – Sigurd 115 f., 540 – Sigurðr 115, 121, 343, 345, 348, 540, 806 – Sîvrit 724 Sif 559 – 567, 579, 581, 584 f., 587, 618, 886 f. Sifs Haar 560, 584 f., 886 Sigi 715 Sigmund 187, 562, 684, 722, 801, 804, 808 Sigrdrífumál 565, 777 Sigrún 131, 348, 370, 427, 430, 860 Sigurðardrápa 620 Sigurðr hringr 851 Sigurðr hrísi 673 Sigurðr ormr-í-auga 122, 726 Sigyn 426 – 428, 430, 432, 445 Simulationsprogramm 84, 89, 93, 515 Sinfjǫtli 382, 562, 684, 700, 720, 722, 801, 804, 890 Singasteinn 130 – 132, 428 Sinhtgunt 484, 557 Sinmara 557 f. Sintflut 199 sisesang 277, 755 sitja yfir 358, 362, 790 Śiva 407 f., 417 sjónhverfingar 450 f., 454, 816 Skaði 90, 326, 341, 399 – 406, 408 – 410, 415 – 418, 426 – 429, 432, 509, 564, 580 f., 608, 658, 762, 797, 880 f., 894 Skalla-Grímr 687 Skamandros 139 f., 143, 547, 560 Skatologie 433, 734 skatologisch 424, 432, 521, 560, 825 Skíðblaðnir 322 f., 583 f., 768 Skier 408, 580, 582 Skírnir 101, 109, 141, 204, 376 f., 379, 382, 385 f., 392, 476 f., 479, 481, 541, 634, 762, 789, 794, 800, 880
Skírnismál 109, 376 – 378, 380 f., 384 – 387, 634, 762, 879 f., 896 Skjǫldungen 6, 211, 596, 598 Skoll 526 Skythen 263 f., 266, 355, 725 skythisch 263 f., 266, 297, 462, 725 Snæfriðr 262, 509, 673, 795 Soma 317, 523, 536, 885 Somerset 191 f. Sonatorrek 360, 362, 550 Sonnengott 186, 251, 599, 870 Sonnenrad 628 f. Sonnenwirbel 313 Soslan 265 f., 312, 722 Sosryko 265 f., 311 f. source domain 59, 61, 72 Spaß 89, 233, 340, 343, 349, 359, 425, 556 Speichel 528, 601 Spiel 82 – 85, 88 – 90, 135 f., 151, 190, 207, 230, 233 f., 238, 242, 255, 259, 299, 341 f., 359, 409, 415, 421, 424, 428, 442, 464, 509, 515, 647 f., 687, 695, 698, 738, 757 f., 767, 798, 807 f., 832, 847, 855, 872, 875, 878 – Schießspiel 93, 230, 234, 491, 647, 854, 876 – Wurfspiel 342, 515, 545, 548 f. Spielgesicht 84 f. Spielleute 698, 707, 787, 807 Spießrutenlauf 255 Spinnen 145, 637 Spirale 313, 500, 514 spirits 167, 264, 293 f., 347, 408, 699 Spitzenahn 9, 351, 366, 507, 519, 598 f., 633, 652, 753, 859, 884 Spracharchitektur 52 Sprachtabu 674, 689 Sǫrlaþáttr 144, 148 f., 679 St. Kümmernis 710 – Wilgefortis 710 Stammvater 9, 111, 116, 140, 169, 196 f., 202, 222, 261, 266, 367, 670, 699, 759 f., 876, 879, 885, 892 Starcatherus 622, 695 f. Starkaðr 433, 622 Steingeburt 311 Steinigung 248 – 250, 252 – 255, 257, 426, 549, 570, 611, 707, 767, 876 Steinriese 310 Steißwipper 616, 889
17 Namen- und Sachregister
Sternbild 400, 406 stillen Siehe Milchgabe Strudel 138, 267, 401, 411, 587, 611, 616, 654, 700 Sturla Sighvatsson 383 Sturlunga saga 253, 383, 553 f., 565 Sturmgott 102, 250, 795, 862, 873 Sühneopfer 284, 338, 417 sui generis 15 f., 756 Sukra 316 f. Sukunabikona 599 – 603, 608, 611, 765, 888 f. Sündenbock 424, 491 f., 499, 707 Sündenbocktheorie 252, 491, 506, 883 Suonetar 483 f. Surrogat 97, 350, 366, 383, 629, 634, 755, 850 Surtr 261, 376, 557 Susanoo (Susa no Wo no mikoto) 344, 599, 795 Suttungs synir 602, 619 Svanhildr 121, 550 f. sverðmerðlingar 367, 712, 720, 722, 729, 890 Svipdagr 123, 229, 543, 556 f., 578, 623 Svipdagsmál 364, 555 f. Svjatoslav (Fürst) 395 f. Sybille 542, 567 Symbolforschung 11, 39 – 41 Symbolsystem 4, 18, 22, 40, 44, 50 f., 82, 202, 412, 439, 448, 450, 470, 683, 702, 779, 881 symbolum castitatis 118, 696 Symbolwanderung 460 synir Loðbrókar 367, 712, 722, 729, 890 Synkretismus 23, 29, 196, 448, 622, 711 Syrdon 265 f. Tabu
120, 171, 293, 346, 465, 512, 593, 621, 699, 861 Tabubenennung 327, 334, 369, 375, 691 Tabubruch 114, 295, 477, 538, 591, 624, 635, 660, 737, 795, 839, 860 tacit knowledge 32 Táin Bó Cuailnge 193, 761 Talisman 322, 537, 544, 614 Tammuz 23, 102, 760, 763, 863, 873 Tänzer 325 f., 346 Tanzschritt 698, 709 target domain 59, 74 Targum Sheni 246 Tarquinius Superbus 667
975
Tech Duinn Siehe Insel Tehi-Tegi 613 f., 629, 633 Tellus 283 f. Terra Mater 283, 877 tertium comparationis 36, 47, 59, 102, 109, 162, 168, 515, 560, 573, 575, 580, 694, 706, 723, 757, 846, 862, 867, 870, 887 Tešub 311 The Golden Bough 101, 873 Theoderich 294, 436 theory of mind 73, 87 f., 867 Thersites 672 Thietmar von Merseburg 213 f., 235, 338 Thing 230, 234, 239 – 241, 257, 352, 418, 515, 545, 738, 839, 851, 855, 876, 895 Thor 95, 109, 118, 138, 153 – 158, 161, 223, 238, 303, 308, 310, 312, 337, 367, 369, 399, 409 f., 417 f., 426, 476, 485, 531, 547 – 550, 554, 559 – 561, 564 – 567, 578 f., 585, 618 f., 658, 666, 682, 716, 731, 757 f., 788, 809, 814 – 819, 823 f., 834, 842 f., 886, 894 Thora (Gest. Dan.) 368, 785, 788 f. Threni 460 f. Tierkrieger 683, 687, 691, 697 Tierverwandlung 684 Tithonos 176, 181 Todesgöttin 209, 783, 824 Todesheilung 472, 722, 882 Todesschlaf 226, 282, 398 f., 431, 824 Todesstrafe 249 – 251, 253, 255, 270, 477 Togail Bruidne Da Derga 672 Tokoyo no kuni 600 Toledot Jeschu 244 f., 247, 568 Torslunda 684, 691, 719 Totenauferstehung 148 Totenbannung 248 Totenbeschwörer 763 Totenbraut 375, 509, 634, 656, 658, 783, 851 Totenerweckung 316 f., 826, 882 Totenfest 290, 345, 462, 522, 763, 840 Totenfluss 408, 416 Totenfürsorge 338, 385, 408, 428, 478, 525, 842, 848 f., 856 f. Totengeister 103, 281, 288, 290 – 292, 327, 331, 461 – 463, 543, 589, 591, 661, 782, 888 Totengott 202, 350, 389, 473, 519, 591, 593, 751, 784, 888 Totengöttin 283, 398, 783, 786, 874, 877
976
17 Namen- und Sachregister
Totenhochzeit 350, 360, 365, 375, 390 f., 402, 657, 729 f., 782, 789, 880 Totenklage 348 f., 366, 441, 443 f., 460, 592, 612, 718, 801, 881 Totenklagelied 277, 459, 877 Totenkult 210, 239, 264, 282, 284, 289, 291, 293, 309, 333, 344, 347, 364, 366 f., 592 f., 692, 696, 755, 788, 797, 848, 872, 878, 888, 894 Totenland 198, 200, 519, 713 Totenmahl 358, 366 Totennachfolge 349, 389, 391, 851, 880 Totenopfer 292, 295, 333, 417, 485, 878 Totenpflege 10, 289 f., 318, 335, 338, 347, 359 f., 375, 428, 513, 526, 593, 612, 647, 662, 700, 852, 859, 861 Totenreich 189, 193, 202, 331, 389, 410, 423, 430, 434, 471, 516, 518 f., 527, 535 f., 542, 553, 565, 591 f., 715, 790, 804, 830, 848, 860 – 862 Totenrichter 173, 198, 201 Totenruhe 430 f., 877 Totenschiff 203, 322 f., 583 Totenspeise 247, 429, 790 Totenstadt 356, 410, 769, 829, 875 Totenwache 339, 342, 349, 397 Totenzauber 144, 149, 152, 424, 540, 703, 755, 774 Tränen 167 f., 185, 342 f., 361 f., 372, 383, 396 f., 412, 430 – 432, 434 – 440, 442, 444 – 447, 791, 828, 877, 881 Tränenverweigerer 440, 445 Transformation 151, 197, 268, 281, 312, 318, 338, 345, 350, 369, 391, 409, 428 f., 433, 445, 472, 507, 517, 519, 594, 623, 639, 643, 663, 684, 686, 726, 774, 796, 805 f., 829, 831 f., 835, 850, 859, 862, 882 Transformator 267, 681 Transgression 149, 160, 224, 344, 347, 394, 411 f., 464, 504, 560, 581, 645, 711, 715, 845 Transgressivität 342, 347, 433, 477 Transzendenz 176, 254, 643, 865 f. Transzendierung 332 Trauergesten 342, 358, 362, 445 Trauerphasen 278, 877 Träume 51, 209, 223 – 226, 240, 257, 318, 370, 392, 394 – 396, 398 f., 431, 485, 657, 750, 854, 876, 880 Travestie 153, 197
trémaðr 367, 546, 582, 591, 712 trémann 314, 332, 351 Trennung von Himmel und Erde 530 Trennungsheld 531 – 533 Trickster 265, 458, 461, 788, 893 Tripitaka 849, 852 Triskele 313 Tristan 455, 584, 728 f., 834, 847, 860, 895 – Isolde 345, 584, 728, 847, 860 Tristansage 728 Tristrams saga 728, 846 Troilus 781 Troja 193, 253, 544, 567, 771, 778, 780 f., 783, 893 Trojanisches Pferd 701 Trojasage 779 Trójumanna saga 779 trompe-l’œil 313 truth-value-Status 78, 83 Tuatha Dé Danann 201, 566, 670 Tuisto 196, 198, 201 Týr 377, 381 – 383, 528, 607, 619, 666, 672, 732 – 734, 742 f., 891 Tyrfingr 765, 767 f., 892 Þiðreks saga 144, 146, 642, 646, 648 f., 651 Þjalfi 312 Þjazi 169, 399 f., 404, 406, 409, 429, 487, 880 Þǫkk 229, 440, 446 f., 449, 456, 458 f., 461 – 464, 881 Þóra (Ragnarr) 726 f., 806 Þóra von Rímul 368, 879 Þorgerðr Hǫlgabrúðr (Hǫrðabrúðr) 314 f., 333, 367, 370 f., 549, 559, 713, 762, 788, 822, 842, 879, 886 Þorleifs þáttr jarlsskálds 314 Þormóðr Karkr 225, 253, 369 f., 371, 387 Þórólfr bægifótr 478, 504, 507, 744 Þórr Siehe Thor Þrymr 153, 155 – 157, 809 Þrymskviða 97, 138, 153 – 157, 409, 809, 896 Übergangsritual 277, 322, 339, 390, 424, 445, 657, 784, 795, 855 Übermut 128, 230 f., 561, 646 Überregionalisierung 332, 336, 376 Ukko 485, 548, 590, 883 úlfheðinn 684 Úlfr inn óargi 687 f.
17 Namen- und Sachregister
Ullikummi 311 f. Ullr 580 – 582, 585, 768, 887 – Ollerus 581 – 583, 585, 631, 887 Ullrs Schiff 579, 582, 887 Umweltreiz 55 Unmöglichkeitsmotiv 526 f., 733, 808 Unpaarigkeit 110, 129 Unreinheit 95, 210, 249, 292 f., 876 – μίασμα 249, 876 Unschuldskomödien 489, 491, 883 Unsterblichkeit 176 f., 181, 208, 222, 375, 401, 523, 602, 643, 722 Untote 153, 315, 371, 533, 540, 566, 596, 805 f., 861 Unverwundbarkeit 230, 254, 485, 549, 553, 568, 623, 682, 786, 876 Uppåkra 649, 843 Uppsala 9, 212 – 214, 260, 262, 267, 283, 295, 336 f., 353, 368, 380, 382, 541, 590, 834, 839, 850, 878, 888 Uranos 531 Urelternpaar 112, 114, 531, 599, 616 Urfluss 129, 139, 168, 405, 428, 608 Urhorde 495 Urin 161, 410, 560 Urmord 494 f. Urwesen 193, 196 – 198, 488 Uṣas 325 Útgarðaloki 426, 548, 716, 815 – 817 Útgarðr 508, 815 Utgarthilocus 174 Utnapischtim 206 f. Vaði 651, 662 Vafþrúðnismál 194, 227 f., 319, 322, 463, 896 Väinämöinen 268, 486 – 488, 578, 583, 589 f., 600, 883 Váli 310, 313, 514, 620, 791 f., 796, 798, 809, 889, 893 valknútr 312 f. Vanen 10, 107, 114, 149, 154, 302 – 305, 315 – 317, 319 f., 322 f., 327 – 331, 335, 347, 368 f., 402, 404, 410, 416, 518 f., 565, 601, 603, 666, 675, 774, 800, 824, 831, 859, 868, 878, 889 vaningi 380, 518, 797, 831 Vanlandi 224 f., 509 vargr 206, 575, 689, 715 Vates 679 Vatnsdœla saga 123, 320 f., 477, 544, 684
977
Vegetationsgott(heit) 1, 104, 514, 568, 591, 888 Velent 571, 574 Ventilfunktion 342, 344 f., 424 Venus 328, 525, 735 f., 761, 892 veraldar goð 800, 823 Vergewaltigung 493, 581, 624, 629 Vergil 207, 219, 290, 375, 385, 528, 542 f., 545, 555, 558, 562 f., 567 f., 570, 706, 709, 780, 886 Vergleich 11 – 17, 19 f., 22 f., 25 – 28, 34 – 38, 96, 104, 107, 111, 215, 259, 351, 354, 437, 483, 486, 514, 517, 522, 564, 593, 783, 803 Vergleichbarkeit 18, 24, 35, 266, 580, 604, 636, 666, 732, 845, 870, 872 Verkrüppelung 115, 163, 586 Verstümmelung 127, 129, 138, 163 f., 167, 528, 538, 586, 638, 661, 665 – 667, 670, 709, 733, 749 f. Verwahrlosung 793, 811, 894 Víðarr 529 – 532, 548, 578, 707, 710 Viðofnir 555 – 557, 559, 571, 887 Víkarr 256, 433, 541 Víli und Vé 194, 229, 305, 511, 714 Vilkinus 651 vílmegir 715 Vimur 547, 560 Visio Tnugdali 799 Vita Gildae 188 Vita Sancti Liudgeri 171 Vita Sancti Willibrordi 171 Vǫlsaþáttr 166 Vǫlsi 160, 187, 727 Vǫlsunga saga 115 f., 254, 382, 419, 549, 684, 715, 720, 722, 806, 813 Vǫlsungen 119, 123, 187, 257 Vǫlsungr 187 Vǫlundarkviða 635, 641, 659, 889, 896 Vǫlundr 107, 574, 622, 635 f., 638, 674, 744 Vǫluspá 7, 110 f., 127 f., 135, 146, 150, 228, 234, 242, 303, 305, 329 – 331, 353, 418, 459, 534 – 536, 538, 540, 542, 545, 575, 608, 621, 689, 714, 745, 773, 792, 799, 839, 886, 896 vǫlva 111, 226 – 229, 241, 398, 423, 459, 465, 776, 816, 824, 830 Völkerwanderungszeit 8, 262, 703, 890 Volksetymologie 19, 137, 182, 191 Voodoo(kult) 347, 462, 628, 777
978
17 Namen- und Sachregister
vǫrðr goða 106 f., 140, 873 Vṛtra 243 f., 523, 536, 790, 876 Vulva 343, 346, 379, 381 f., 576, 599, 645, 760 f. Wælsing 187 Waffenruhe 282, 284, 420, 877 Waffentänzer 691 Wagenfahrt 203, 283, 296 f., 303, 323, 338, 360, 369, 373, 399, 657, 780, 820 f., 842, 849 wake amusements (games) 339, 835 Walhall 172, 230, 318, 370, 398, 429, 608, 776, 801, 822 Walküren 131, 187, 209, 636, 659 f., 820 Walter Map 502, 651 war magic 696, 890 Waräger 389, 397, 399, 880 Wasserfrau 113, 651, 656, 658, 660 Wassergeist 121, 250 Wassergott 160, 386, 405, 422 Wassermann 635, 655 f. Wasservogel 635 Weißheit (Farbe) 95, 98, 106, 119, 121 f., 134, 176, 208, 210, 217, 222, 301, 379, 873 f. Wellenmädchen 655, 791 Wellentöchter 130 Weltenbaum 108, 139, 541, 558, 571, 576 – 578, 583 – 587, 619, 631, 768, 776, 836, 886 f. Weltenbrand 136, 219, 423 Weltenende 7, 148, 533, 793 Weltschöpfung 193, 353, 487 f., 600 Weltschöpfungsmythos 132, 331, 577, 608 Weltuntergang 320, 526 f., 822 Wendehals 628 f. Wep-wawet 697, 700 White, Hayden 25 Widerthon 560, 566 Wiederbelebung 315, 350, 356, 476, 488, 681, 860, 873 Wiedergänger(tum) 315, 334, 356 f., 371, 426, 432, 434, 505, 805, 807, 809, 861, 881 Wiedergeburt 103, 261, 317 f., 329, 514, 599, 774 Wiegenlied 216, 267, 271 – 273, 276, 282, 298, 337, 727 Wieland 10, 106, 301, 434, 571, 574, 621 f., 635 f., 639, 642 – 644, 646 f., 649 – 651, 662, 864, 873, 889 f.
Wiese 176, 190, 192 f., 199, 215 f., 247, 323, 327 f., 519, 546, 722, 875 wigiþonar 714, 817 Wilde Jagd 648, 691, 718 Wilgefortis Siehe St. Kümmernis willing suspension of disbelief 460 Windknoten Siehe Knoten(zauber) Wiskiauten 770, 772 Wittich 642 Witwennachfolge 349, 394, 441, 751, 789, 852 Wodan Siehe Odin Wolf 146 f., 252, 393, 526 – 530, 534 f., 575, 683, 685, 687 – 689, 691, 700 f., 709, 715, 720, 814, 821, 823, 839 wopes hring 168 Wörter-und-Sachen-Bewegung 62, 326, 575 wren day 611, 889 wren-hunt 613 wrendilo 610, 620 Wunderkessel 566 Wunderpflanze 538, 541 Wuotanestag 678 Wurfgeschoss 234, 236, 576 Wurfspiel Siehe Spiel Xanthos
136, 547, 567, 829
Yama 196 – 200, 202, 388 f., 473, 519, 723 Yama no kami 647, 661 Yamato-takeru 661 Yggdrasill 529, 541 f., 571, 576 f., 587 Yi 587, 648 Ymir 139, 194 – 196, 198 – 200, 317, 511, 583, 714, 843 Ynglinga saga 104, 150, 176, 181, 226, 261 f., 269, 301, 304, 306 f., 315 f., 320, 323, 331, 337, 360, 387, 405, 412, 438, 503, 603, 605, 682, 684, 690, 807, 850, 878 Ynglingar 9, 261, 267, 507 f., 610, 612, 828, 859, 876 Ynglingatal 208 f., 507 f., 510, 884 Yngvi 209, 260, 266 f., 380, 387, 390, 850 Ynys Afallach 180 f. Zähnefletschen 461, 690, 696 Zähneknirschen 461, 685 Zauberer 125, 129, 150, 244, 252, 255, 315, 552, 568, 574, 582, 584, 614, 667, 671, 673, 716, 807 Zauberrad Siehe Jynx (Iunx)
17 Namen- und Sachregister
Zaunkönig 601, 608, 610 – 616, 620, 629, 632 f., 889 Zeder 207, 246, 587 f. Zentralort 211, 649, 770, 875 Zerstückelung 193, 197, 428, 488, 496, 502, 520, 522, 583, 749, 862, 884 Zerteilung 193, 488, 511, 758 Zeus 143, 176, 185, 344, 372 – 375, 402, 410, 418, 476, 512, 552, 629, 650, 742, 832 Ziege 400, 409, 432, 548, 552, 776 Zielscheibe 233, 647
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270, 281, 338 f., 375, 381, 384, 391, 780 – 782, 789 – μῆνις 782 f. Zwangsneurose Siehe obsessive-compulsive disorder Zweiter Merseburger Zauberspruch 8, 389, 479, 481 f., 488, 557, 883 Zwerg 144, 150, 159, 300 f., 585, 594, 600 – 602, 814 f., 818, 823, 834 Zwilling 196 f., 553, 579, 664, 670, 886 Zwitter(wesen) 196, 551, 553, 629, 664 Zorn